Kritische Gesamtausgabe: Band 2 Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799 9783110848748, 9783110102666


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German Pages 520 [524] Year 1984

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Table of contents :
Vorwort der Herausgeber
Einleitung des Bandherausgebers
I. Historische Einführung
Schleiermachers literarische Pläne und Unternehmungen 1796–1799
Schleiermachers Manuskripte und Schriften der Jahre 1796 bis 1799
II. Editorischer Bericht
Vermischte Gedanken und Einfälle (Gedanken I) (1796–1799)
Notizen und Exzerpte zur Vertragslehre (1796/97)
Entwurf zur Abhandlung über die Vertragslehre (1796/97)
Leibniz I (1797/98)
Leibniz II (1797/98)
Gedanken II (1798)
Gedanken III (1798–1801)
Fragmente (1798)
Zum Armenwesen (Vermutlich 1798)
Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799)
Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799)
Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter (1799)
Rezension von Immanuel Kant: Anthropologie (1799)
Anhang
Politisch-theologische Aufgabe über die Behandlung der jüdischen Täuflinge (1799)
[Friedländer:] Sendschreiben an Seine Hochwürden, Herrn Oberconsistorialrath und Probst Teller zu Berlin, von einigen Hausvätern jüdischer Religion (1799)
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Namensregister
Register der Bibelstellen
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Kritische Gesamtausgabe: Band 2 Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799
 9783110848748, 9783110102666

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Friedrich Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe I. Abt. Band 2

W G DE

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe Herausgegeben von Hans-Joachim Birkner und Gerhard Ebeling, Hermann Fischer, Heinz Kimmerle, Kurt-Victor Selge

Erste Abteilung Schriften und Entwürfe Band 2

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1984

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799

Herausgegeben von Günter Meckenstock

Walter de Gruyter • Berlin · New York 1984

CIP-Kurztitelaufnabme

der Deutschen

Bibliothek

Schleiermacher, Friedrich: Kritische Gesamtausgabe / Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Hrsg. von Hans-Joachim Birkner . . . — Berlin ; New York ; de Gruyter N E : Schleiermacher, Friedrich: [Sammlung] Abt. 1, Schriften und Entwürfe. Bd. 2. Schriften aus der Berliner Zeit 1796—1799 / hrsg. von Günter Meckenstock. — 1984. ISBN 3-11-010266-8

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei = ph 7, neutral) © Copyright 1984 by Walter de Gruyter & Co., Berlin — Printed in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon G m b H , Berlin · Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin Gefördert mit Mitteln des Akademienprogramms der Bund-Länder-Kommission unter Aufsicht der Akademie der Wissenschaften in Göttingen

Inhaltsverzeichnis Vorwort der Herausgeber

VII

Einleitung des Bandherausgebers

IX

I. Historische Einführung Schleiermachers literarische Pläne und Unternehmungen 1796-1799 Schleiermachers Manuskripte und Schriften der Jahre 1796 bis 1799 1. Vermischte Gedanken und Einfalle (Gedanken I) . . 2. und 3. Notizen und Exzerpte zur Vertragslehre sowie Entwurf zur Abhandlung über die Vertragslehre . . 4. und 5. Leibniz I und Leibniz II 6. Gedanken II 7. Gedanken III 8. Fragmente 9. Zum Armenwesen 10. Versuch einer Theorie des geselligen Betragens . . . . 11. Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern 12. Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter . . 13. Rezension von Immanuel Kant: Anthropologie . . . II. Editorischer Bericht

IX IX XVIII XVIII XXII XXV XXVII XXIX XXXI XXXVIII L LIII LXXVIII LXXXVI LXXXVIII

Schriften aus der Berliner Zeit 1796—1799 Vermischte Gedanken und Ε in fälle (Gedanken I) (1796—1799) . . . . Notizen und Exzerpte zur Vertragslehre (1796/97) Entwurf zur Abhandlung über die Vertragslehre (1796/97) Leibniz I (1797/98) Leibniz II (1797/98)

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VI

Inhaltsverzeichnis

Gedanken II (1798) Gedanken III (1798-1801) Fragmente (1798) Zum Armenwesen (Vermutlich 1798) Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799) Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter (1799) Rezension von Immanuel Kant: Anthropologie (1799)

105 117 141 157 163 185 327 363

Anhang Politisch-theologische Aufgabe über die Behandlung der jüdischen Täuflinge (1799) 373 [Friedländer:] Sendschreiben an Seine Hochwürden, Herrn Oberconsistorialrath und Probst Teller zu Berlin, von einigen Hausvätern jüdischer Religion (1799) 381 Abkürzungsverzeichnis Literaturverzeichnis Namensregister Register der Bibelstellen

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Vorwort Die Arbeit an der Kritischen Schleiermacher-Gesamtausgabe, die an der Schleiermacher-Forschungsstelle der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel betrieben wird, ist seit dem 1. Januar 1984 von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen in ihre Obhut genommen worden. Für diese Betreuung und für die Förderung im Rahmen des Akademienprogramms der Β und-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung ist herzlich zu danken. Zugleich ist dankend derjenigen Förderung zu gedenken, welche der Kritischen Schleiermacher-Gesamtausgabe in den Jahren davor von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zuteil geworden ist. Mit einer Konsultation, die am 15. Dezember 1972 im Haus der Forschungsgemeinschaft stattfand, ist dieses Editionsvorhaben eingeleitet worden. Nach einer Phase vorbereitender Recherchen und Beratungen wurde die Editionsarbeit am 1. September 1975 an der Kieler Forschungsstelle begonnen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat von da an bis zum 31. Dezember 1983 diese Arbeit durch die Gewährung von Personal- und Sachmitteln unterstützt, insbesondere durch Mittel zunächst für eine Editorenstelle, seit 1978 für zwei Stellen. In der Zeit der Förderung durch die DFG konnten vier Bände aus der I. Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe im Druck vorgelegt werden (Band 1, 1983; Band 7, Teilbände 1 und 2, 1980, Teilband 3, 1983). Auch der jetzt vorgelegte Band 2 ist zu einem wesentlichen Teil bereits in dieser Förderungsphase bearbeitet worden. Die Arbeit der Kieler Forschungsstelle, die sich vorerst auf die I. Abteilung „Schriften und Entwürfe" konzentriert, hat seit 1979 eine bedeutsame Ergänzung dadurch erfahren, daß bei der Kirchlichen Hochschule Berlin eine zweite Schleiermacher-Forschungsstelle eingerichtet wurde, die sich seither der Arbeit an der V. Abteilung „Briefwechsel und biographische Dokumente" widmet. Die Arbeit der Berliner Stelle wird von der Schleiermacherschen Stiftung im Zusammenwirken mit der Evangelischen Kirche der Union und mit dem Land Berlin unterstützt. Auch für diese Förderung ist herzlich zu danken. Im Namen der Herausgeber Hans-Joachim Birkner

Einleitung

des

Bandherausgebers

Der vorliegende Band „Schriften aus der Berliner Zeit 1796—1799" enthält fünf Druckschriften sowie acht Manuskripte Schleiermachers1, die bisher nur teilweise aus dem Nachlaß bekannt gemacht worden waren. Fünf dieser Nachlaßstücke hatte Wilhelm Dilthey auszugsweise publiziert und eines erwähnt.2 Zwei Manuskripte waren bisher gänzlich unbekannt.

I. Historische Einführung Der Einführung in die Schleiermachers verschiedene ren 1796—1799 vorausgehen. seine literarische Biographie

einzelnen Schriften soll eine Übersicht über literarische Arbeiten in seinen Berliner JahDadurch sollen die vorliegenden Schriften in eingeordnet werden.

Schleiermachers literarische Pläne und Unternehmungen

1796—1799

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768—1834) hatte vom September 1796 bis zum April 1802 das Amt des reformierten Predigers an der Berliner Char it έ inne, die dem Armendirektorium unterstand und in diesen Jahren sowohl baulich als auch organisatorisch im großen Stil erneuert wurde. Zunächst hatte Schleiermacher auch seine Dienstwohnung in der Charte bezogen, doch infolge des großen Um- und Ausbaus mußte er 1797 sich eine Wohnung vor dem Oranienburger Tor nehmen. Der heftige Streit um die Mißstände in der Charite und deren geforderte Reorganisation, der 1798 zwischen dem Satiriker Johannes Daniel Falk (1768—1826) und dem lutherischen Charite-Prediger Johann Georg Wilhelm Prahmer (1770—1812) einerseits und dem Direktor der königlichen Bibliothek Johann Erich Biester (1749—1816) andererseits öffentlich ausgetragen wurde, war offensichtlich für Schleiermacher ein Anlaß, sich zu diesen Fragen eine eigene Stellung zu erarbeiten. Davon legt das 1798 entstandene Manuskript „Zum Armenwesen" Zeugnis ab.3 1

2

3

Zitatnachweise und Belegverweise ohne Angabe des Autors beziehen sich auf Friedrich Schleiermacher. Dilthey: Leben Schleiermachers, 1. [einzigerJ Band, Berlin 1870; Anhang: Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers, erläutert durch kritische Untersuchungen, S. 69-113.115-123 Vgl. unten XXXVIII- L

χ

Einleitung des

Bandherausgebers

In Berlin führte Schleiermacher seine Übersetzertätigkeit englischer Predigten fort, die er in Landsberg auf Anregung und Vermittlung Friedrich Samuel Gottfried Sacks aufgenommen hatte. So übersetzte er zwei Bände Predigten von Joseph Fawcett4, die er im Herbst 1797 in Druck gab5 und die im Juni 1798 erschienen. Schleiermacher schrieb darüber an seine Schwester Charlotte: „Wäre der Weg nicht so weit und die Post nicht so theuer und meine Verlegerin zu Hause, so hätte ich Dir mit dem Briefe ein Exemplar von den englischen Predigten geschickt, die ich tn's Deutsche übersezt habe und die nun endlich erschienen sind. Sie werden Dir zwar schwerlich sehr gefallen, als Predigten wohl gar nicht, als schöne Reden vielleicht, als ein Werk meines Fleißes und als eine Probe, wie viel Mühe ich mir mit so etwas geben kann, werden sie Dir aber doch interessant sein. Mir haben sie — sonst würde ich sie gewiß nicht übersezt haben — sehr behagt, nicht nur als Produkte eines originellen Kopfes und als Meisterstücke einer gewissen Art von Beredsamkeit, sondern mehr noch als Beweise, wie viel man leisten und um wie viel eindringlicher und gewichtiger man reden kann, wenn man vor einer gleichartigen nicht allzugemischten Versammlung redet und gewiß weiß, daß jeder der da ist, gewiß nur deswegen da ist, weil er an der Sache Geschmack findet und von den persönlichen Vorzügen des Vortragenden überzeugt ist."6 Zu Beginn dieser Berliner Zeit, in der Schleiermacher gesellschaftlichen Umgang mit den Familien Sack und Spalding sowie mit seinem alten Freund Karl Gustav von Brinckmann (1764—1847) pflegte, beschäftigte er sich mit naturrechtlichen Studien und Überlegungen. So exzerpierte und kritisierte er in seinem Manuskript „Notizen und Exzerpte zur Vertragslehre" die damals gängigen und markanten Vertragstheorien von Gottlieb Hufeland, Mendelssohn und Schmalz und skizzierte im Gegenzug seine eigene Position. Im Manuskript „Entwurf zur Abhandlung über die Vertragslehre" wollte er seine Überlegungen zusammenfassen.7 Ebenfalls mit naturrechtlichen Überlegungen begann Schleiermacher sein erstes Aphorismen-Heft (Gedanken I) „Vermischte Gedanken und Einfalle" im September 1796* Diese aphoristische Form ist in seiner gesamten Charite-Zeit die bevorzugte literarische Gattung, durch die er zu den verschiedensten Themen und bei der unterschiedlichsten Lektüre kritische und konstruktive Gedanken sammelt und sich vor größeren Ausarbeitungen Orientierungslinien verschafft. Diese Gattung wurde besonders durch seine

4

Fawcett: Predigten, aus dem Englischen übersetzt von F. Schleiermacher, 2 Bde, Berlin 1798 Vgl. Stubenrauchs Brief vom 30. November 1797 an Schleiermacher: „Sehr lieb ist mir, zu sehen, daß nun Ihre Übersetzung doch bereits im Druck ist". (SN 397, Bl. 63r) 6 Briefe 1,177 7 Vgl. unten XXII-XXV 8 Vgl. unten XVIII-XXII 5

Historische

Einführung

XI

Freundschaft mit Friedrich Schlegel angeregt und weiterentwickelt, sie wurde aber schon vor dieser Freundschaft geübt. Die ersten sechs Aphorismen bis Januar 1797 behandeln staats-, kirchen- und eherechtliche Themen. Das Jahr 1797 brachte für Schleiermacher wichtige neue Impulse. Durch die Vermittlung Alexanders zu Dohna (1771—1831), des ältesten Bruders seiner Schlobittener Zöglinge Ludwig (1776—1814), Fabian (1781—1850) und Friedrich (1784—1859) zu Dohna, gewann er Zugang zu dem Salon von Markus (1747—1803) und Henriette Herz geb. de Lemos (1764—1847). Mit Henriette Herz verband ihn bald eine innige Freundschaft. In der von dem Schriftsteller und Freimaurer Ignatius Aurelius Feßler (1756—1839) gegründeten „Mittwochsgesellschaft" lernte Schleiermacher im August 1797 Friedrich Schlegel (1772—1829) kennen. Zwischen ihnen entwickelte sich schnell eine herzliche und ungemein anregende, literarisch produktive Freundschaft. Schleiermacher berichtete am 22. Oktober 1797 an seine Schwester Charlotte über Schlegel: „Ich lernte ihn zuerst in einer geschlossenen Gesellschaft kennen, von der ich ein Mitglied bin, wo man zusammenkommt, um sich Aufsäze vorzulesen, schöne schriftstellerische Werke zu beherzigen, literarische Neuigkeiten mitzutheilen u.s.w. Ich weiß nicht, ob ich Dir von dieser Gesellschaft, unter dem Namen der Mittwochsgesellschaft, schon etwas geschrieben habe; wo nicht, so soll Dir nächstens eine nähere Nachricht davon zu Diensten stehn. Hier lernte ich Schlegel zuerst kennen, dann sah ich ihn öfters bei Herz, und Brinkmann, der seine Bekanntschaft schon vor einigen Jahren gemacht hatte, brachte uns näher zusammen. Er ist ein junger Mann von 25 Jahren, von so ausgebreiteten Kenntnissen, daß man nicht begreifen kann, wie es möglich ist, bei solcher Jugend so viel zu wissen, von einem originellen Geist, der hier, wo es doch viel Geist und Talente giebt, alles sehr weit überragt, und in seinen Sitten von einer Natürlichkeit, Offenheit und kindlichen Jugendlichkeit, deren Vereinigung mit jenem allen vielleicht das wunderbarste ist. Er ist überall, wo er hin kommt, wegen seines Wizes sowohl, als wegen seiner Unbefangenheit der angenehmste Gesellschafter, mir aber ist er mehr als das, er ist mir von sehr großem, wesentlichem Ν uzen. Ich bin zwar hier nie ohne gelehrten Umgang gewesen, und für jede einzelne Wissenschaft, die mich interessirt, hatte ich einen Mann, mit dem ich darüber reden konnte. Aber doch fehlte es mir gänzlich an einem, dem ich meine philosophischen Ideen so recht mittheilen konnte, und der in die tiefsten Abstractionen mit mir hineinging. Diese große Lücke füllt er nun aufs herrlichste aus; ich kann ihm nicht nur, was schon in mir ist, ausschütten, sondern durch den unversiegbaren Strom neuer Ansichten und Ideen, der ihm unaufhörlich zufließt, wird auch in mir manches in Bewegung gesezt, was geschlummert hatte. Kurz für mein Dasein in der philosophischen und literarischen Welt geht seit meiner näheren Bekanntschaft mit ihm gleichsam eine neue Periode an. Ich sage: seit meiner näheren Bekanntschaft, denn obgleich ich seine Philoso-

XII

Einleitung des

Bandherausgebers

phie und seine Talente weit eher bewundern lernte, so ist es doch eine Eigenheit von mir, daß ich auch in das innere meines Verstandes niemand hineinführen kann, wenn ich nicht zugleich von der Unverdorhenheit und Rechtschaffenheit seines Gemüths überzeugt bin. Ich kann mit niemand philosophiren, dessen Gesinnungen mir nicht gefallen. Nur erst, nachdem ich hievon soviel Gewißheit hatte, als man mit gesunden Sinnen aus dem Umgang und den kleinen Aeußerungen eines Menschen schöpfen kann, gab ich mich ihm näher und bin jezt sehr viel mit ihm. Er hat keine sogenannte Brodwissenschaft studirt, will auch kein Amt bekleiden, sondern, so lange es geht, spärlich aber unabhängig von dem Ertrag seiner Schriftstellerei leben, die lauter wichtige Gegenstände umfaßt und sich nicht so weit erniedrigt, um des Brodes willen etwas mittelmäßiges zu Markte zu bringen. An mir rupft er beständig, ich müßte auch schreiben, es gäbe tausend Dinge, die gesagt werden müßten und die gerade ich sagen könnte."9 Friedrich Schlegel hatte mit sicherem Blick die moralisch-intellektuellen Vorzüge und die schriftstellerisch-kritischen Talente Schleiermachers erkannt. 10 Deshalb war ihm sehr daran gelegen, den interessierten Schleier9 10

Briefe l,161f Vgl. Friedrich Schlegels Charakterisierung vom 28. November 1797: „Von Schleyermacher kannst Du Dir leicht eine unrichtige Vorstellung aus den hingeworfenen Worten von mir gebildet haben. Was aber das Paradoxe betrifft, bin ich nicht Deiner Meynung, und ich glaube die Erfahrung setzt es außer Zweifel, daß nur die mittlem Grade der Paradoxie unpopulär sind, die höchsten aber wieder absolut populär. Siehst Du nicht, daß schon Fichte wieder populär wird? Daß seine Paradoxie und seine Popularität in gleichem Verhältnisse zunehmen? — Daß Schleyermacher Popularität haben kann, ist ein Faktum. So haben mir viele Philister ihn, als einen sehr guten Prediger gerühmt. Denke Dir ja nicht, daß seine Paradoxie so mit der Thüre ins Haus fällt, wie meistens meine. Es ist ihm überall ein gewißer leiser Gang eigen, worin er mit Hülsen große Aehnlichkeit hat, den er aber an dialektischer Kraft weit übertrifft, die recht Fichtisch bey ihm ist. — Er liebt auch die kühnen Kombinazionen, worin er aber weit mehr Hardenberg als mir gleicht. Vor der Hand kann er wohl nichts schreiben als Rhapsodien; aber in diesen hat er auch, was mir in dieser Gattung eigentlich das Höchste zu seyn scheint, den großen Wurf, und den unaufhaltsamen Ström. — Aber schreiben! Ach lieber Freund, Du darfst leider nicht besorgen, daß er zu viel thätigen Antheil an unsrer Sache nehmen würde! Denn das ist sein Hauptfehler, daß er kein rechtes Interesse hat, etwas zu machen, obgleich ers kann: aber hier gilts: denken ist leichter als machen. Ich treibe und martre ihn alle Tage, wo ich ihn sehe. — Was er uns geben kann, ist freylieh sehr beschränkt; aber ich weiß, daß es auch in seiner Art vortreflich seyn wird. Was ich von ihm außer den Beyträgen zu meinen Annaleη der Philosophie vor der Hand erwarte, ist bloß eine Recension von Kants Metaphysik der Sitten. Sie wird gewiß an Gründlichkeit und Strenge ihres Gleichen suchen, und gewiß eine ungemeine Popularität haben, d. h. großen und allgemeinen Effekt. Daher wünschte ich sehr, daß ich sie noch zeitig genung erhielte zu den beyden ersten Stücken, da sie allerdings zu dem eclat, mit dem wir auftreten müssen, auch das ihrige beyträgen könnte. Da ich sehr viel mit ihm darüber gesprochen und auch ein bedeutendes Stück, was dazu gehört, geschrieben gelesen habe; so wirst Du meinem Ortheil wohl etwas trauen dürfen. Schleyermacher ist ein Mensch, in dem der Mensch gebildet ist, und darum gehört er freylich für mich in eine höhere Kaste. (Tieck ζ. B. ist doch nur ein ganz gewöhnlicher und

Historische

Einführung

XIII

macherfür die Mitarbeit an der projektierten Zeitschrift „Athenaeum"n zu gewinnen: zum aufsehenerregenden Start des „Athenaeum" sollte Schleiermacher „eine Recension von Kants Metaphysik der Sitten"12 liefern. Die Ausarbeitung zu dieser Rezension, zu der sich Vorüberlegungen im ersten „Gedanken-Heft" finden*3, ist leider verlorengegangen. Ebenso ist die „wirklich große Skizze über die Immoralität aller Moral"14 nicht mehr vorhanden, durch die Schleiermacher im Oktober 1797 F. Schlegel überraschte und die wohl die „kleine Abhandlung"1S ist, die Schleiermacher damals in der Feßlerschen „Mittwochsgesellschaft" vorgelesen hat. Von Friedrich Schlegels Schwung angesteckt trat Schleiermacher ab 1798 erstmals mit eigenen Veröffentlichungen hervor, die allerdings alle anonympubliziert wurden. Friedrich Schlegel war am 21. Dezember 1797 in Schleiermachers Wohnung eingezogen.16 Sie wohnten bis Anfang September 1799 zusammen, unterbrochen von Schlegels Sommer auf enthalt in Dresden 1798.17 Hier wurden im regsten Gedankenaustausch die literarischen Arbeiten vorangetrieben.18 Schleiermacher steuerte zunächst (1798) zum „Athenaeum" eine Reihe von „Fragmenten" bei19, später im August 1799 dann die Rezension von Kants „Anthropologie"20; 1800folgten weitere Rezensionen. Zu den „Fragmenten" und ihrer geplanten, aber nicht zustande gekommenen Fortsetzung finden sich Schleiermachers Vorarbeiten in seinen Manuskripten „Gedanken 1—111" und „Leibniz 1—11", deren Hauptteile

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roher Mensch, der ein seltnes und sehr ausgebildetes Talent hat). Er ist nur drey Jahr älter wie ich, aber an moralischem Verstand übertrifft er mich unendlich weit. Ich hoffe noch viel von ihm zu lernen. — Sein ganzes Wesen ist moralisch, und eigentlich überwiegt unter allen ausgezeichneten Menschen, die ich kenne, bey ihm am meisten die Moralität allem andren." (Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm, ed. O. Walzel, Berlin 1890, S. 321 f ) Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, 3 Bde, Berlin 1798—1800 (Nachdruck Darmstadt 1973). Schleiermacher hatte als Zeitschriftennamen erst „Herkules" und dann ,,Parzen" vorgeschlagen (vgl. Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm 302 und 319). Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm 322 Vgl. Gedanken I, Nr. 9. Ii. 23-27. 59. 61f (unten 8,11-14. 9,9-10,20. 12,5-13,8. 19,15-19. 20,1-9) Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm 301. In diesem Brief vom 31. Oktober 1797, in dem Friedrich Schlegel seinen neuen Freund Schleiermacher erstmals erwähnte und seine Überraschung über dessen Moralabhandlung ausdrückte, berichtete er seinem Bruder weiter, Schleiermacher habe „einige kritische Sachen vor, die glaube ich meisterhaft ausfallen dürften, aber viel zu sehr für Fichte's Journal. Er nimmt überhaupt enthusiastischen Antheil an meinem Projekt [sc. des Athenaeum]." (Ebd.) Briefe 1,162 Vgl. Briefe 1,167 Vgl. Briefe 1,181 Vgl. Briefe 1,168-170 Vgl. unten XXXI-XXXVIII Vgl. unten LXXXVI

XIV

Einleitung des

Bandherausgebers

im Jahr 1798 entstanden sein dürften.21 In den Sommer 1798 datieren auch die Pläne zu zwei Essais.22 Schleiermacher wollte darin die Themen der Treue und der Scham behandeln. Die Überlegungen zum zweiten Thema gingen im Jahr 1800 in seine anonyme Schrift,, Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde" (Lübeck/Leipzig 1800) ein. Zum ersten Thema sind keine eigenständigen Ausarbeitungen erhalten.22. Die Abhandlung „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens", die er anonym im Januar und Februar 1799 zweiteilig in der Zeitschrift „Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks" erscheinen ließ, blieb Fragment24, hauptsächlich wohl wegen des mehrmonatigen Ortswechsels nach Potsdam25, wo Schleiermacher von Mitte Februar bis Mitte Mai 1799 vertretungsweise Hofpredigerdienste leisten mußte, und wegen der Arbeit an den Reden „Über die Religion". Mit diesem Aufsatz über die gute Lebensart, an dessen Zustandekommen Henriette Herz eifrig Anteil genommen hat, wollte Schleiermacher der von ihm als egoistisch-individualistisch und philosophisch naiv beurteilten Geselligkeitslehre Knigges, dessen dreibändiges Werk „ Ueber den Umgang mit Menschen" damals von Auflage zu Auflage und von Raubdruck zu Raubdruck eilte, eine Individualität und Sozialität, ego und alter ego zugleich entwickelnde und fördernde Geselligkeitstheorie entgegensetzen, die auch die spekulativen Begründungsbedürfnisse befriedigte. Im Winter und Frühjahr 1799 schrieb Schleiermacher das erste Hauptwerk dieses Lebensabschnittes, seine Reden „Über die Religion"26. In der Einsamkeit von Potsdam, aber im regen, fast täglichen Briefwechsel mit Henriette Herz entstand dieses Werk bis Mitte April in erstaunlich kurzer Zeit. Im Juni war der Druck abgeschlossen. Seit Februar 1799 war Schleiermacher mit einem literarischen Projekt beschäftigt, das er mit Unterbrechungen bis ins Jahr 1802 betrieb, das auch ziemlich weit gedieh, aber nie zum Abschluß kam: er wollte eine Siedlungsgeschichte des australischen Landstreifens Neuholland alias Neusüdwales schreiben. Es war eine Veröffentlichung in der Reihe „Historisch-genealogischer Calender" geplant, die der Verleger Johann Karl Philipp Spener (1749—1827) herausgab. Da Schleiermacher nicht so schnell wie ursprünglich gehofft vorankam und Spener diese Kalenderreihe 1800 einstellte, so versandete schließlich dieses Projekt, obwohl Schleiermacher viel Arbeit darin investiert hatte 21 21 23 24 25 26 27

Vgl. unten XVII!-XXII. XXV-XXXI " Vgl. Briefe 3,97 Vgl. Briefe 3,79 Vgl. unten L-LIII Vgl. Briefe 1,196 Vgl. unten LIII-LXXVIII Die Anfänge dieses Projektes liegen im Dunkeln. Besonders ist unklar, ob der Anstoß von Schleiermacher oder vom Verleger Johann Karl Philipp Spener ausging, ferner oh ein eigen-

Historische Einführung

XV

Im Frühjahr 1799 wurde auch erstmals eine Predigt Schleiermachers veröffentlicht. Der Potsdamer Hofprediger Johann Peter Bamberger nahm Schleiermachers Predigt über das Thema „Die Gerechtigkeit ist die Grundlage des allgemeinen Wohlergehens" in den von ihm anonym herausgegebenen siebten Band der Sammlung ,,Predigten von protestantischen Gottesge-

ständiger Bericht oder zunächst eine freie Übersetzung der Schrift „An account of the English colony in New South Wales" (London 1798) von David Collins geplant war. Am 19. Februar 1799 berichtete Schleiermacher entschuldigend aus Potsdam an Spener, daß er ,,erst hier in diesen Tagen dazu gekommen" sei, „den Collins recht ordentlich durchzulesen" (SN 771,Bl. 4r). Am 22. Februar präzisierte er: „Daß der Collins nicht nur in sich zusammen gezogen sondern auch aus Andren ergänzt werden müßte, und lieber umgearbeitet als nur ausgezogen, das war mir bei der Lektüre klar geworden" (Uniwersytet Jagiellonski, Biblioteka Jagiellonska, Krakow, Sammlung Varnhagen). Spener hatte offensichtlich den Juni als Drucklegungstermin genannt. Dazu sah sich Schleiermacher wegen seiner Arbeit an den „Reden" nicht in der Lage, er führte deshalb am 22. Februar zur Zeitplanung aus: „Mit aller Anstrengung und dem besten Willen an dem es mir nicht fehlt würde ich also in dieser Zeit nichts thun können als nebenbei alles durchlesen was uns nöthig ist über die Art der Bearbeitung ganz einig werden, und einige Vorarbeiten machen. Bedenken Sie nun selbst, ob es mir, der sichs zum heiligen Gesetz gemacht hat um keiner schriftstellerischen Arbeit willen seine übrigen Studien ganz liegen zu laßen, ja ob es auch ohne RUksicht hierauf irgend Jemand andrem möglich wäre ein solches Werk hernach in zwei Monaten anders als höchst übereilt zu bearbeiten! Ich bekenne mich gern unfähig dazu. Ist es also unumgänglich nothwendig daß die Arbeit Ende Junius beendigt sei so muß ich lieber — so ungemein leid es mir thut, und so schwer es mir wird — die ganze Sache gleich aufgeben, als Ihnen etwas versprechen was ich gar nicht, oder nur schlecht halten könnte. Aber warum sollte denn das so nothwendig sein? Könnten Sie es mir nicht gönnen dem Collins meine ganze Sommermuße zu schenken, und sich damit begnügen daß im August alles fertig wird und also zur Herbstmesse auf jeden Fall zurecht kommt?" (Biblioteka Jagiellonska, Krakow, Sammlung Varnhagen) Spener scheint diesem Terminvorschlag zugestimmt zu haben, denn die zweite Aprilhälfte sah Schleiermacher ganz mit dem Neuholland-Projekt beschäftigt. Am 19. April schrieb er an Spener: ,, Unser Geschäft betrefend werden Sie Sich mit mir darüber freuen, daß die Zeit meiner getheilten Existenz vorüber ist, und ich nun ganz und gar darin untergetaucht bin." (SN 771, Bl. 8v) Doch währte dies nicht lange. Schon im Mai mußte Schleiermacher für Ludwig Tieck, zu dessen Unterstützung er am 27. April die ungenannt bleibende Henriette Herz vermittelt hatte (vgl. SN 771, Bl. lOr), als Übersetzer von Mungo Parks Afrika-Reisebericht einspringen, weil Tieck ausfiel und H. Herz auf Reisen ging (vgl. SN 771, Bl. 5r). Im blühenden Markt der Reiseberichte ging es damals nämlich entscheidend um Publikationsschnelligkeit. Vom Spätsommer 1799 bis Herbst 1800 arbeitete Schleiermacher dann intensiv an seinem australischen Siedlungsbericht, allerdings immer wieder unterbrochen von anderen literarischen Unternehmungen. Zweimal, im November 1799 (vgl. SN 771,Bl. 25r) und im August 1800 (vgl. SN 771, Bl.28r—29v), lieferte Schleiermacher Auszüge dieses im Werden begriffenen Werkes an Spener mit der Bitte um Begutachtung. Das zweite Manuskript ist teilweise erhalten und wird in KGA 1/3 veröffentlicht. Unmittelbar vor seinem Umzug nach Stolpe schrieb Schleiermacher am 30. Mai 1802 an Spener: „Sie erhalten nun hierbei die Neu-Hollandica vorläufig zurük. Ich weiß nicht, und will nicht entscheiden, ob ich bei Ihrem langen gänzlichen Stillschweigen die ganze Unternehmung für gescheitert ansehen soll; oder ob Sie sie einmal wieder hervorsuchen wollen. Gem werde ich dann die Hand dazu bieten." (Biblioteka Jagiellonska, Krakow, Sammlung Varnhagen)

XVI

Einleitung

des

Bandherausgebers

lehrten" auf28 und empfahl Schleiermacher warm: „Auch Herr Schleiermacher, ev. reformirter Prediger bei der hiesigen Charitekirche, ist dem größeren Publikum durch die von dem Herrn Hofprediger Sack empfohlene Uebersetzung der Predigten von J. Fawcett rühmlichst bekannt und in Berlin wegen seiner Talente und Einsichten so geschäzt, daß er auch in einer solchen Gesellschaft von ihr wie vom Publikum nicht ungern wird gesehen werden. "29 Schleiermacher schrieb über diese erste Predigtpublikation am 16. April 1799 an Henriette Herz: „Daß zugleich mit der Religion auch eine Predigt von mir erscheint, ist wunderlich genug. Mein Name steht da zwischen lauter großen Theologen und Kanzelrednern und der B. hat sich, um das zu entschuldigen, erdreistet, in der Vorrede zu sagen, ich sei in Berlin meiner Talente und Kenntnisse wegen allgemein geschäzt. Die Fragmente, die Predigt, die Religion und der Kalender machen zusammen eine wunderliche Entree in die literarische Welt. Was doch noch aus mir werden wird in diesem zeitlichen Leben."30 Im Mai 1799 mußte Schleiermacher bei einer Übersetzung einspringen.31 Zusammen mit Henriette Herz verdeutschte er anonym für den Verlag Haude und Spener den Reisebericht von Mungo Park „Travels in the interior districts of Africa, performed under the direction and patronage of the African Association in the years 1795, 1796 and 1797" (London 1799).32

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Auswahl noch ungedruckter Predigten von Amman, Bartels, Dietrich, Löffler, Marezoll, Sack etc. (Predigten von protestantischen Gottesgelehrten, Bd 7) Berlin 1799 Auswahl noch ungedruckter Predigten (Predigten von protestantischen Gottesgelehrten, Bd 7) zitiert nach Briefe 3,116 Briefe l,219f Vgl. Schleiermachers Brief vom 4. Mai (nicht April) 1799 an Spener: „Das ist mir etwas unerwartet gekommen. Herr Tieck, der gewiß Englisch und Deutsch genug weiß, und das Uebersezen auch genug und sehr gut getrieben hat, muß es nicht tanti gehalten haben, sich einige Mühe zu gehen. Ich hoffe mein Unbekannter [sc. Henriette Herz] wird Ihnen beßer genügen, obgleich Reisen ihm auch etwas fremdes sind. Was mich betrift, so gestehe ich, daß ich mich ungern dem Collins entziehe, der zugleich ein Studium für mich ist. Ja wenn ich so eine Afrikanische Bibliothek dabei hätte wie ich eine Neuholländische habe, und es so recht genießen könnte. Indeßen als Substitut, um die Lücke auszufüllen, welche die Reise [sc. von Henriette Herz] macht, und weil es Sie doch in der Zeit sehr zurüksezen würde, noch neue Versuche zu machen, recht gern. Aber theilen Sie mir nicht mehr zu als nöthig ist; denn es entgeht doch größtentheils dem Collins. Von meiner Verschwiegenheit gebe ich Ihnen nicht erst eine Versicherung." (SN 771, Bl. }r-v) Am 11. Mai berichtete Schleiermacher mit Blick auf die Druckbögen des englischen Originals an Spener: „Ich bringe Ihnen den Mittwoch Alles mit; ich kann wol sagen Alles; denn ich habe 2 — Hh übersezt, und würde es Ihnen schon geschickt haben, wenn es mir nicht in diesen Tagen an Zeit zur lezten Durchsicht gefehlt hätte, die ich wol erst Uebermorgen gewinnen werde." (SN 771, Bl. 12r—v) Park: Reisen im Innem von Afrika auf Veranstaltung der Afrikanischen Gesellschaft in den Jahren 1793 bis 1797, übersetzt aus dem Englischen, Berlin 1799

Historische

Einführung

XVII

In den Frühsommer datiert eine Gelegenheitsschrift. Das von David Friedländer im April 1799 anonym veröffentlichte ,,Sendschreiben an Seine Hochwürden, Herrn Oberconsistorialrath und Probst Teller zu Berlin, von einigen Hausvätern jüdischer Religion" schlug hohe Wogen und löste eine Flut von Flugschriften aus. Das Thema der bürgerlichen Judenemanzipation war damals virulent. Neue Hoffnungen auf bürgerliche Reformmaßnahmen hatte es besonders nach dem Regierungswechsel 1797 gegeben. Die bürgerliche Gleichstellung der Juden zu erreichen, war ein schon lange andauerndes Bemühen besonders der aufgeklärten Berliner Judenschaft. In diese Diskussion griff Schleiermacher im Juli 1799 durch seine anonyme Flugschrift „Briefe bei Gelegenheit der politisch-theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter" ein.33 Ab Ende September 1799 verdeutschte Henriette Herz anonym für den Verlag Haude und Spener den Reisebericht von Isaac Weld „Travels through the states of North America, and the provinces of Upper and Lower Canada, during the years 1795, 1796, and 1797" (London 1799). 34 An dieser Übersetzung war Schleiermacher wohl nur beratend beteiligt. Vielleicht überarbeitete er sie stilistisch, oder er unterstützte Henriette Herz auch dadurch, daß er in den ersten Monaten des Jahres 1800 einige Partien eigenständig übernahm.35 Im Herbst 1799 schließlich verfaßte Schleiermacher die zweite Hauptschrift dieses Lebensabschnittes, die ethischen „Monologen". Sie erschien, wie der Untertitel sagt, als „Eine Neujahrsgabe" Anfang Januar 1800 beim Berliner Verleger Christian Sigismund Spener. 33 34 35

Vgl. unten LXXVIII-LXXXV Weld: Reise durch die nordamerikanischen Freistaaten und durch Ober- und Unter-Canada in den Jahren 1795, 1796 und 1797, aus dem Englischen frei übersetzt, Berlin 1800 Ende September 1799 vermittelte Schleiermacher den Übersetzungsauf trag für Welds Nordamerika-Reisebericht an die wiederum auch für den Verleger Johann Karl Philipp Spener namenlos bleibende Henriette Herz. „Der Ungenannte [sc. Henriette Herz] hat auch Lust sich angenehm zu beschäftigen und ich schicke ihm heute den Weld zur Durchsicht. " (Biblioteka Jagiellonska, Krakow, Sammlung Vamhagen) Schleiermacher war (wie schon bei Parks Afrika-Reisebericht) der Mittler zwischen Verleger und Übersetzerin, zugleich aber auch der Ratgeber der Übersetzerin. Wohl am 1. Dezember 1799 schrieb er an Spener: „Was Sie hier vom Weld bekommen, sind 80 von den großen Quartseiten des Originals, und an der Art ihn zusammenzuwerfen, weiß ich nichts auszusezen. Einige Kleinigkeiten wird Ν. N. wol bei der lezten Durchsicht ändern, manches mag die fremde Feder verschuldet haben. Die Briefform ist freilich schlecht genug gehalten; aber um sie wegzubringen, müßte man die Anordnung des Ganzen völlig verändern; ich habe also nicht dazu gerathen." (SN 771, Bl.l6r) Im Brief vom 30. Mai 1802 zählt Schleiermacher allerdings rückblickend die Weld-Übersetzung mit zu seinen „Arbeiten" (Biblioteka Jagiellonska, Krakow, Sammlung Varnhagen). Diese knappe Wendung kann sowohl auf seine Vermittlerrolle als auch auf seine Beratung und stilistische Unterstützung gedeutet werden, aber auch auf eine eigenständige Teilnahme am Übersetzungsgeschäft (wohl der Schlußpartien) in den ersten Monaten des Jahres 1800.

XVIII

Einleitung des

Bandherausgebers

Johann Gottlieb Fichtes Schrift „Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre" (Jena/Leipzig 1798) ist im Januar 1799 in der „Oberdeutschen allgemeinen Litteraturzeitung" (12. Jahrgang, 7.-9. Stück, Salzburg 1799, Sp. 97—126 und 129—132) ausführlich rezensiert worden; der Rezensent hat seinen Beitrag mit „Sch. . .r" gezeichnet. Manfred Zahn hat in der 2. Auflage seiner Edition von Fichtes „Sittenlehre" diese Rezension anhangsweise abgedruckt und Friedrich Schleiermacher als deren Verfasser behauptet; Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky sind in der kritischen Fichte-Gesamtausgabe dieser Zuweisung gefolgt.36 Diese Rezension kann jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit Schleiermacher nicht zugeschrieben werden. Dieses Urteil stützt sich auf drei Gründe. Zum einen findet sich im gesamten Briefwechsel Schleiermachers kein Hinweis auf ein solches Rezensionsunternehmen. Zum andern läßt sich keine der Notizen in den nun vollständig publizierten Manuskripten, die Schleiermacher als Vorarbeiten zu seinen literarischen Projekten dienten, auf die fragliche Rezension deuten. Schließlich fiele diese Rezension nach Inhalt und Stil aus dem Korpus der damals von Schleiermacher verfaßten Rezensionen völlig heraus.

Schleiermachers Manuskripte und Schriften der Jahre 1796—1799 1. Vermischte Gedanken

und Einfalle (Gedanken

I)

Schleiermachers eigenhändiges Manuskript „Vermischte Gedanken und Einfalle" wird im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR unter der Nachlaß-Nummer 142 aufbewahrt. Es umfaßt insgesamt 17 Blätter von unterschiedlichem Format. Die Blätter 1—12 sind geheftet und beschrieben. Es folgen drei beschriebene, ungeheftete Einzelblätter. Alle diese 15 Blätter sind 17,3 cm breit und 21,1 cm hoch. Zu den gehefteten Lagen gehören noch zwei weitere unbeschriebene Blätter, die bei gleicher Höhe deutlich schmaler als die anderen Blätter sind; sie sind 10,5 cm bzw. 14,5 cm breit. Der obere Rand ist glatt, die anderen leicht gezahnt. Das jetzt stockfleckige Papier hat ein Wasserzeichen und ist mit Sepia-Tinte beschrieben. Durch Faltung ist ein Außenrand von 4 cm Breite abgeteilt. Auf diesem Rand finden sich mit Bleistift Striche und Bemerkungen von Diltheys Hand. Einzelne Aphorismen hat Schleiermacher mit Tinte schräg gestrichen: es sind Nr. 5. 7. 10f. 13f . 16f. 23 -28. 31-33. 54. 112a.b. 121. 36

Fichte: Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre (1798), ed. M. Zahn, 2. Aufl., Hamburg 1969, S. 363—395; — J. G. Fichte — Gesamtausgahe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, edd. R. Lauth!Η. Gliwitzky, Bd 1/5, Werke 1798-1799, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 12

Historische Einführung

XIX

139—141. 189. Neben anderen Aphorismen hat er auf dem Rand senkrechte Tintenstriche gemacht: hei Nr. 18. 21-25. 28-33. 36f. 40-42. 44f. 47f. 51-55. 67f. 86. 122-135. 138. 152. Beide Sachverhalte sind wohl darauf zurückzuführen, daß er sein Gedanken-Heft für verschiedene literarische Vorhaben auswertete und die ,,verbrauchten" Aphorismen kennzeichnete. Neben Aphorismus Nr. 44 hat Schleiermacher ein großes Fragezeichen gemalt. Neben einer Reihe von Aphorismen (Nr. 92. 95. 98. 103. 108f. 116f) notierte er sich auf dem Rand „zu III". Da alle diese Aphorismen Überlegungen zur guten Lebensart sind (zumeist in Auseinandersetzung mit Knigge), wollte Schleiermacher durch diese Randnotiz wohl Gedanken zu dem Teil seines Aufsatzes „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens" sammeln, der das dritte Geselligkeitsgesetz behandeln sollte. Schleiermacher hat dieses Manuskript auf der Titelseite mit Überschrift und Datum („Sept. 1796") versehen, außerdem mit seinem Namen und der Zählung „No. 2". Diese Zählung „No. 2." in der oberen rechten Ecke der Titelseite muß wohl so gedeutet werden, daß das vorliegende Manuskript das zweite neben anderen literarischen Projekten ist, die er zu Beginn der Charite-Zeit verfolgte. Ein Manuskript aus dieser Zeit mit der Zählung „No. 1." ist nicht erhalten. Wegen ihrer Plazierung über der Überschrift kann die Zählung sich schwerlich auf den Titel und Inhalt beziehen. Das vorliegende Manuskript ist also Schleiermachers erstes Gedanken-Heft. Von seiner Hand ist die Paginierung 3—7 auf dem zweiten und dritten Blatt und der Vorderseite des vierten Blattes. Damit konkurrierend findet sich eine mit Bleistift vorgenommene Paginierung, bei der ausschließlich die beschriebenen Seiten gezählt sind. Die nicht gezählte Rückseite des Titelblattes ist unbeschrieben, ebenso die Seiten 29—33 (also die Rückseite von Blatt 15 und die Blätter 16—17). Auf Seite 28 ist nur die obere Hälfte beschrieben. Die Aphorismen Nr. 1—210 hat Schleiermacher selber durchnummeriert. Dabei sind ihm zweimal Doppelungen unterlaufen, die er aber bemerkt und durch Hinzufügen kleiner römischer Buchstaben aufgefangen hat: 55 a/55 b und 112a/112b. Ein Zählfehler hat sich unbemerkt eingeschlichen: Schleiermacher springt von Nr. 122 auf 133. Das Manuskript umfaßt insgesamt 211 Aphorismen. Die Zählung ab Nr. 61 hat Schleiermacher offensichtlich nachträglich mit Tinte vorgenommen, da die Ziffern zumeist halb über die Zeile oder sehr gequetscht oder etwas auf den Rand, geschrieben sind. Ab Nr. 149 sind alle Zahlen nur noch auf dem Rand. Die Nummern 211—219 sind vom Bandherausgeber ergänzt worden. Die Aphorismen Nr. 1—70. 76. 82—84 sind in deutscher Schrift, Nr. 71—75. 77— 81. 85 — 219 in lateinischer Schrift geschrieben. Schleiermacher hat sich in diesem ersten Gedanken-Heft über einen längeren Zeitraum seine Einfälle notiert. Seine Aufzeichnungen beginnen im September 1796 und reichen bis zum Mai 1799. Im Text finden sich sechs Einzeldatierungen (bei Nr. 2. 3. 6. 7. 10. 20). Die letzte stammt vom 29.

XX

Einleitung des

Bandherausgebers

September 1797. Es war dies die Zeit, als Schleiermacher in der Feßlerschen „Mittwochsgesellschaft" Friedrich Schlegel kennengelernt hatte (August 1797), mit dem ihn alsbald eine innige Freundschaft verband. Während die Niederschrift der ersten 10 Aphorismen über ein ganzes Jahr verteilt war und sich Schleiermacher also in dieser literarischen Gattung nur vereinzelt äußerte, gewann sie ab Spätsommer 1797für ihn ein großes Gewicht. Schon die Aphorismen Nr. 10—20 sind in knapp drei Wochen entstanden. Die folgenden Aphorismen dürften im Herbst 1797 und im Winter 1798 geschrieben worden sein. Sie stehen im Zusammenhang mit dem Plan der Schlegels, ihre Zeitschrift „Athenaeum" als Organ des Frühromantikerkreises zu etablieren. Für den Start sollte Schleiermacher Kants druckfrische Ethik „Metaphysik der Sitten" (2 Teile, Königsberg 1797) rezensieren37 (von seinen Vorüberlegungen dazu zeugen die Aphorismen Nr. 9. 15. 23—27. 59. 61 f ) und sich an dem von Friedrich Schlegel betriebenen symphilosophischen Unternehmen beteiligen, gemeinsam mit ihm, August Wilhelm Schlegel und Novalis eine große Sammlung von „Fragmenten" zu veröffentlichen. In seinem ersten Gedanken-Heft hat Schleiermacher seine Einfälle gesammelt, die dann auf ihre literarische Verwertbarkeit überprüft wurden. Aus ihnen wurde ausgewählt, sie wurden überarbeitet, geschärft, zusammengefügt, erweitert oder auch einfach übernommen. So dokumentieren viele dieser Aphorismen Vorstufen der späteren Druckfassungen. Doch nicht nur wurde eine Anzahl von Aphorismen ins „Athenaeum" aufgenommen, sondern hier finden sich auch Notizen, VorÜberlegungen und Einzelthesen zu den anderen Publikationen dieser Jahre 1798/99: „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens" Aphorismen-Nr. 84. 90. 92. 95-106. 108-110. 112b-119. 136f. 142-151. 156-169. 171. 188-191. 193f; „Über die Religion" Aphorismen Nr. 5. 85-89. 112a. 121. 139-141. 153-155; „Briefe bei Gelegenheit" Aphorismen Nr. 200—211; Rezension von Kants „Anthropologie" Aphorismen Nr. 172-178. 189; „Monologen" Aphorismen Nr. 3. 7. 134. 170. Die Datierung der letzten Eintragungen dieses ersten Gedanken-Heftes ist dadurch gesichert, daß sich die Aphorismen Nr. 212—219 auf die Schrift „Ueber meine gelehrte Bildung" von Friedrich Nicolai beziehen, die Schleiermacher druckfrisch im April/Mai 1799 gelesen hat.38

37 38

Vgl. Friedrieb Schlegels Brwjc an seinen Bruder August Wilhelm 322 Vgl. Schleiermachers Brief vom 3. Mai 1799 aus Potsdam an Henriette Herz in Berlin: „Ach denken Sie, was ich gethan habe, und was ich eigentlich noch thue! ich lese Nicolai's Buch über seine gelehrte Bildung und sein Verhältniß zur kritischen Philosophie. Es ist ein starkes Stück und sagen kann man eigentlich gar nichts darüber. Im Grunde ist es, wenn man erst den rechten Standpunkt gefunden hat, erstaunlich naiv. Der vornehm-mitleidige Ton über Fichte, den ich prophezeihte, ist schon darin, obgleich damals nur erst von der Confiscation die Rede war. Gegen den Kant hat er allerdings einiges getroffen, was so recht

Historische Einführung

XXI

Das vorliegende Gedanken-Heft steht nicht allein da. Es ist das erste in einer Reihe von Heften derselben literarischen Gattung. Schleiermacher hat seine Gedanken-Hefte immer wieder durchgeschaut und die ihm geeignet erscheinenden Aphorismen dann in andere Hefte übertragen. 1798/99 war nämlich eine Fortsetzung der „Fragmente" geplant, die dann aber nicht zustande kam. Nicht leicht ist es, dieses literarische Geflecht offenzulegen. Das erste (SN 142) und das zweite (SN 146) Gedanken-Heft sowie das Leibniz-Heft (SN 141/1) dienten Schleiermacher als direkte Quellen für die gedruckten Athenaeums-Fragmente. Für die geplante Fortsetzung der AthenaeumsFragmente formulierte er in der zweiten Jahreshälfte 1798 zunächst einige Aphorismen im zweiten Gedanken-Heft (Nr. 14—20), dann durchforstete er das erste Gedanken-Heft nach weiteren brauchbaren Einfällen und schrieb diese ab (Nr. 21—35), wobei er weitgehend die Formulierungen, nicht aber immer die Reihenfolge beibehielt. Da die im zweiten GedankenHeft zusammengetragenen Gedanken offensichtlich weder stilistisch noch thematisch ganz Schleiermachers Ansprüchen genügten, legte er im Rahmen des Fortsetzungsplanes ein neues (drittes) Gedanken-Heft (SN 143) an (Nr. 1—16) und ging das erste (bis Nr. 68) noch einmal durch. Diesmal hielt er sich genau an dessen Abfolge. Er entnahm mehr Einfalle als fürs zweite Gedanken-Heft und überformte diesmal auch sprachlich viel stärker. Zum Thema „Poesie" (ab Nr. 17) stellte Schleiermacher dann Aphorismen des ersten Gedanken-Heftes (bis Nr. 152) mit neuen Einfällen zusammen. Das dritte Gedanken-Heft, obwohl es zeitlich nach dem zweiten entstanden sein dürfte, geht unmittelbar auf das erste Gedanken-Heft als Quelle zurück. Im zweiten und dritten Gedanken-Heft liegen also die Ergebnisse zweier unabhängiger Auswahlgänge vor, die jeweils durch neue Einfälle angereichert sind. Schleiermach er führte das erste und das dritte Gedanken-Heft jeweils getrennt auch nach dem Scheitern des Fragmenten-Projektes selbständig fort. Das 1800 entstandene vierte Gedanken-Heft (SN 145) und das 1801-1803 abgefaßte fünfte Gedanken-Heft (SN 144) haben mit den ersten drei Heften keine literarische Verbindung. Wohl aber lassen sich solche literarische Abhängigkeiten beim sechsten Gedanken-Heft feststellen.29 Das sechste Gedanken-Heft legte Schleiermacher zur Vorbereitung seiner ersten Ethik-Vorlesung nach Übernahme der Hallenser Professur 1804/05 an. Wilhelm Dilthey hat 1870 in den ,,Denkmalen der inneren Entwicklung Schleiermachers" die meisten Aphorismen des ersten Gedanken-Heftes

39

grob vor Augen liegt; aber sein gänzliches Nichtwissen, wovon die Rede ist, geht, ob er es gleich tausendmal leugnet, von der ersten Seite bis zur lezten." (Briefe l,222f) Das sechste Gedanken-Heft „Zur Ethik I. II." wurde von meinen beiden Berliner Kollegen Drs. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond entdeckt. Sie bereiten seine Veröffentlichung in KGA 7/5 vor.

XXII

Einleitung des

Bandherausgebers

veröffentlicht.40 Er ließ nur die Nr. 1—6 sowie 22. 60. 65. 66. 70. 107 aus. Er bezeichnete das vorliegende Manuskript als erstes „wissenschaftliches Tagebuch" und gab ihm zur Unterscheidung von den anderen GedankenHeften das Sigel „A".41 Bei den Auslassungen machte sich wohl bei mehreren Aphorismen Diltheys Bemühen geltend, anstößige Seiten in Schleiermachers Erscheinungsbild abzumildern.

2. und 3. Notizen und Exzerpte zur Vertragslehre sowie Entwurf zur Abhandlung über die Vertragslehre Schleiermachers eigenhändige Manuskripte zur Vertragslehre (Nachlaß-Nr. 132 im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR) werden hier erstmals vollständig publiziert. Sie umfassen insgesamt 14 Blätter, die als zwei verschiedene Manuskripte behandelt werden müssen: das Einzelblatt 1 und die Blätter 2—14. Die Blätter 2—14 (das erste Manuskript) sind bei einer Breite von 10,5 cm und einer Höhe von 17,5 cm ohne Rand mit Sepia-Tinte beschrieben. Das Papier mit Wasserzeichen ist jetzt bräunlich nachgedunkelt. Das Manuskript beginnt jetzt mit dem Doppelblatt 213. Blatt 4 ist ein Einzelblatt, es folgen zwei ineinander gelegte Doppelblätter (5—8), dann schließen sich noch drei einzelne Doppelblätter an (9/10, 11/12, 13/14). Die Foliierung ist mit Bleistift von fremder Hand vorgenommen worden. Dabei sind Fehler unterlaufen. Nach Blatt 8 müssen die beiden Doppelblätter 11/12 und 13/14 angeschlossen werden, auf die dann das Doppelblatt 9/10 folgt. Für diese Umstellung müssen unter Berücksichtigung der Papiereinheiten inhaltliche Gründe geltend gemacht werden. Blatt 11 muß hinter Blatt 8 gesetzt werden, denn Blatt 11 führt die Notizen zu Hufeland, mit dessen Vertragstheorie sich Schleiermacher auf Bl. 4—7 beschäftigt hat, zu Ende. Bl. 11—14 bilden eine Texteinheit: hier wendet sich Schleiermacher Mendelssohn zu. Doppelblatt 9/10 hat einen Mischcharakter: hier notiert Schleiermacher sowohl eigene Überlegungen als auch die Schmalzschen Thesen, konfrontiert mit seinen eigenen Anfragen und Anmerkungen dazu. Den Abschluß muß das Doppelblatt 2/3 bilden, auf dem Schleiermacher als Auswertung seiner Studien die Hauptpunkte seiner eigenen Theorie formuliert. Insgesamt hat dieses erste Manuskript den Charakter von Vorarbeiten zu einer eigenen Abhandlung. Schleiermacher macht sich hier mit den damals wichtigen und typischen naturrechtlichen Theorien zum Vertragsrecht vertraut und begleitet diese Sammeltätigkeit mit kritischen Notizen, in denen er jeweils die Schwach stellen dieser Theorien bloßlegt und ihre Grundpositionen kritisch beleuchtet. Er skizziert 40 41

Vgl. Denkmale 89-113 Vgl. Denkmale 88

Historische

Einführung

XXIII

schließlich seine eigene Theorie in der Spannung zwischen Erwartungs- und Akzeptationstheorie. Einen ganz anderen Charakter hat das zweite Manuskript. Es umfaßt nur ein Einzelblatt, das 17,3 cm breit und 21,5 cm hoch ist. Hier entwirft Schleiermacher die Gliederung seiner Abhandlung. Durch Faltung sind 5 cm unbeschriebener Außenrand abgeteilt. Die Blattunterkante ist zerfleddert; dadurch sind einige Wörter unleserlich bzw. durch abgerissene Papierfetzen verlorengegangen. Dieses Entwurfsblatt ist fragmentarisch; Schleiermacher führt seine eigene Theorie hier nicht aus. Jetzt ist noch kurz von einer Eigentümlichkeit des ersten Manuskripts zu berichten. Und zwar hat sich Schleiermacher bei der Niederschrift vermutlich zweier amtlicher Schreiben bedient, die er für seine Exzerpte und Notizen wiederverwendet hat. Am oberen Rand von Blatt 5r steht die Anschrift „An den Herr Prediger Schleiermacher HochEhrwürden.", wobei nur der Name in lateinischer, die anderen Wörter in deutscher Schrift geschrieben sind. Auf derselben Seite ist in der Mitte ein Siegel erkennbar. Auf Blatt lOr, das von Schleiermacher nicht beschrieben ist, findet sich die Adresse „An den Prediger Schleyermacher. Hocherwürden. in der Charite", zudem ein Behördensiegel. Auf der von fremder Hand beschriebenen Rückseite des Einzelblattes 4 sind Ausschnitte einer Besoldungsquittung zu lesen: „Sechs Thaler [. . .] für die Monate [. . .] 1796 sind mir auf [. . .] Hochpreißl. Königl. Ob [. . .] vom 4. Nov. 1796 an [. . .] kasse dato ausgez [. . .] quittire. Berlin [. . .]". Zur Datierung fehlen eindeutige Brief Zeugnisse. Im Briefwechsel mit seinem Onkel Stubenrauch dürften Spuren von Schleiermachers Plan zu finden sein. Stubenrauch schrieb am 30. Oktober 1796 an Schleiermacher: „Daß aber durch Endigung der Berlinischen] MonfatsJ Schrift Ihnen ein solcher Querstrich gemacht worden, bedaure ich sehr, dächte aber doch, daß — um in Ihrem Bilde fortzufahren — es ein unbehagliches Nest seyn müßte, wo nur ein Wirthshaus anzutreffen — Sie also gewiß auch leicht Gelegenheit finden werden, Ihre Ausarbeitung in einer andern Zeitschrift einrücken zu lassen — ich hoffe daher auch sehr stark, daß Sie sich durch jenes kleine Hinderniß nicht sogleich werden haben abschrecken lassen. "42 Am 7. März 1797 erinnerte Stubenrauch Schleiermacher an dessen Bericht, er habe „jetzt wirklich ein Bändchen philosophischer Abhandlungen unter Händen"™. Die literarischen Bezüge des Textes erlauben eine ziemlich präzise Eingrenzung des Entstehungszeitraums. Eine erste Orientierung, auf die auch schon Dilthey in der „kritischen Vorbemerkung"44 zu seiner Teiledition 42 43 44

SN 397, Bl. 16r Briefe 3,68 Denkmale 69

XXIV

Einleitung

des

Bandherausgebers

aufmerksam gemacht hat, ergibt sich durch die ausführliche Untersuchung, der Schleiermacher das Werk „Lehrsätze des Naturrechts und der damit verbundenen Wissenschaften" von Gottlieb Hufeland unterzieht. Diese Schrift lag ihm, wie sich auf Grund der von Schleiermacher besprochenen Paragraphen zeigen läßt, in der 2. Auflage Jena 1795 vor. 1795 ist also der terminus post quem. Doch zwei andere literarische Bezüge erlauben noch eine präzisere Datierung. Zum einen bezieht sich Schleiermacher auf Immanuel Kant45; dabei kann es sich nur um Kants „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre" als dem ersten Teil der „Metaphysik der Sitten" handeln. Kants „Rechtslehre", deren Erscheinen zu Michaelis 1796 gemeldet war, wurde erst im Januar 1797 ausgeliefert.46 Zum anderen bezieht sich Schleiermacher auf Johann Gottlieb Fichte.47 Die von Schleiermacher diskutierte These Fichtes stammt aus dessen anonym publizierten „Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution" (1793), den er jedoch selbst nicht gelesen4*, sondern von dem er wohl durch den Bericht Hufelands Kenntnis hat. Das bedeutet aber, daß Schleiermacher Fichtes stark beachtetes Werk „Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre", dessen zweiter Teil „Angewandtes Naturrecht" mit der Fichteschen Vertragstheorie49 zu Michaelis 1797 erschien, noch nicht kannte. So kann mit hoher Wahrscheinlichkeit der Herbst 1797 als terminus post quem non eingeschätzt werden. Alle diese Beobachtungen und Überlegungen führen zu dem Ergebnis, daß diese naturrechtlichen Notizen vermutlich im Winterhalbjahr 1796/97 entstanden sind. Dabei kann sehr wohl mit einem längeren Wachstum gerechnet werden. Da Schleiermacher weitgehend auf lose Einzel- oder Doppelblätter geschrieben hat, können durchaus zwischen diesen Niederschriftblöcken gewisse zeitliche Abstände und Unterbrechungen liegen. Die Datierung wird durch die Quittung erhärtet, die sich auf der Rückseite von Blatt 4 findet. Die Quittung datiert ins Ende des Jahres 1796. Das darauf erhaltene Datum „4. Nov. 1796" meint wohl den Tag der Zahlungsanweisung, nicht den der Geldauszahlung. Diese dürfte Tage oder Wochen später erfolgt sein. Diesen Beleg (Quittungsdoppel) kann Schleiermacher schwerlich sofort als Schreibpapier verwendet haben. Diese Datierung stimmt auch zu der einzigen vorhandenen literarischen Querverbindung im Manuskriptenkorpus. Die zwischen September 1796 und Januar 1797 entstandenen ersten sechs Aphorismen des ersten Gedanken-Heftes50 behandeln politisch-naturrechtliche Fragen, die zumeist 45 46 47 48 49 50

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

unten 56,19f Kant: Ak 6,517 unten 58,17-59,7 unten 59,7 Fichte: Naturrecht 2, 1-6; unten 3,6-7,24

Ak

1/4,5-7

Historische

Einführung

XXV

einen thematischen Bezug auf eine sie begründende Vertragstheorie auf weisen. So wäre es gut erklärlich, daß Schleiermacher seinen sporadischen Überlegungen zu konkreten rechtlich-politischen Einzelphänomenen eine Grundlegung in einer allgemeinen Vertragstheorie — als dem Kernstück einer Naturrechtslehre — geben wollte. Dilthey hat in den „Denkmalen" unter dem Titel „Studien zum Naturrecht" Schleiermachers Notizen zur Vertragslehre kurz beschrieben51 und auszugsweise veröffentlicht52. Dilthey übergeht bei der Publikation alle kritischen Überlegungen Schleiermachers zu anderen Vertragstheorien (Hufeland, Mendelssohn, Feder usw.); er bietet nur die zwei Thesenreihen Nr. 1—753 bzw. 1—954, in denen Schleiermacher seine eigene Theorie zusammenzufassen sucht. Dilthey datiert in den „Spätherbst 1796" auf Grund des Quittungsdatums und nimmt eine simultane Arbeit an der Abhandlung zum Vertragsrecht und an den sechs Aphorismen an. Dabei führt er zur Bestimmung des terminus a quo auch Fichtes „Naturrecht" an, als dessen Erscheinungstermin er 1796 nennt.55 Da der für die Vertragstheorie einschlägige zweite Teil der „Grundlage des Naturrechts" erst im Herbst 1797 in den Buchhandel kam, spricht meines Erachtens vieles für eine längere Niederschriftsdauer bis in den Sommer 1797.

4. und 5. Leibniz I und Leibniz II Schleiermachers eigenhändige Manuskripte „Leibniz. 1." und „Leibniz II." sind im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR unter den Νachlaß-Nummern 141/1 und 141/2 archiviert. Beide haben eine Überschrift, sind aber ohne Datum. Bei beiden stammt die mit Bleistift vorgenommene Paginierung der beschriebenen Seiten nicht von Schleiermachers Hand. Das jetzt nachgedunkelte Papier mit Wasserzeichen hat Schleiermacher jeweils mit Sepia-Tinte beschrieben. Das erste Manuskript zu Leibniz, das hier erstmals vollständig veröffentlicht wird, umfaßt vier ineinander gelegte Doppelblätter. Die Blätter sind 17,3 cm breit und 21 cm hoch. Die obere Kante ist glatt geschnitten, die untere und die Außenkante sind leicht gezahnt. Durch Faltung ist ein Außenrand von 5,5 cm Breite abgeteilt, auf dem sich Bleistiftnotizen von Diltheys Hand finden. Die Rückseite des Titelblattes und die der letzten, nur zu einem Zehntel beschriebenen Seite 12 sind unbeschrieben und unpagi51 52 53 54 55

Vgl. Vgl. Vgl Vgl. Vgl.

Denkmale 69 Denkmale 70f unten 65,2-24 unten 68,5 - 69,15 Denkmale 69

XXVI

Einleitung

des

Bandberausgebers

niert, ebenso das letzte Blatt. Das Manuskript umfaßt 74 Aphorismen zu Leibniz, die Schleiermacher allerdings nur bis Nr. 49 selbst gezählt hat; bei den folgenden Aphorismen Nr. 50—74 wurde die Zählung nach Schleiermacherschem Vorbild vom Bandherausgeber ergänzt. Als Quellen benutzte Schleiermacher die von Louis Outens besorgte sechsbändige Leibniz-Ausgabe (Genf 1768), die zweibändige Ausgabe des Briefwechsels zwischen Leibniz und Bernoulli sowie die von Louis de Jaucourt gegebene Leibniz-Biographie und die damit verbundene zweibändige Ausgabe der Leibnizschen „Theodicee" (Amsterdam 1747). Das zweite Manuskript zu Leibniz, das hier erstmals publiziert wird, umfaßt ebenfalls vier ineinandergelegte Doppelblätter. Schleiermacher hat nur wenige Seiten beschrieben: die Titelseite mit der Überschrift „Leibniz II.die Vorderseite von Blatt 2 und das obere Siebtel der Rückseite mit Leibniz-Zitaten und seinen eigenen Kommentaren dazu. Nur diese beschriebenen Seiten sind mit Bleistift von fremder Hand paginiert. Die Rückseite des Titelblattes und die Blätter 3—8 sind unbeschrieben. Die Blattgröße beträgt 17,5 cm Breite und 21,1 cm Höhe. Die von Schleiermacher notierten und kommentierten Leibniz-Zitate stammen sämtlich aus der von Louis Dutens veranstalteten sechsbändigen Leibniz-Ausgabe (Genf 1768). Für die Datierung gibt es keine direkten Zeugnisse. Nur der terminus post quem non läßt sich eindeutig festmachen: es ist Juni 1798, als viele dieser Leibniz-Aphorismen in den Athenaeums-Fragmenten publiziert wurden.56 Doch läßt sich der Zeitraum der Niederschrift noch genauer eingrenzen, wenn man von der Annahme ausgeht, daß die beiden Hefte etwa gleichzeitig während eines Studiendurchganges durch Leibniz entstanden sind, und dafür sprechen die von Schleiermacher angezogenen Belegstellen. Kann also diese Annahme als sehr wahrscheinlich gelten, so muß der Spätsommer 1797 als frühester Niederschriftstermin angesetzt werden. Schleiermachers Leibniz-Studien sind nämlich offensichtlich in enger Zusammenarbeit und intensivem Gedankenaustausch mit Friedrich Schlegel entstanden, den er im August 1797 kennenlernte. Dafür gibt es ein (wenn auch spätes) Briefzeugnis. Friedrich Schlegel erinnerte Schleiermacher am 10. März 1800 brieflich an das alte gemeinsame Polemisieren „über Leibnitz"57. Dabei ging die damalige gemeinsame Arbeit wohl ursprünglich auf ein größeres Unternehmen: man wollte gemeinsam Leibniz einer großangelegten Kritik unterziehen.58 Die beiden Studienhefte Schleiermachers sind Zeugnisse davon. Da der große Plan zunächst aufgegeben oder aufgeschoben wurde, fanden diese Vorarbeiten Eingang in die Athenaeums-Fragmente. Sie wurden also für eine andere Publikation ausgewertet, als ursprünglich beabsich56 57 58

Vgl. unten XXXI-XXXVIII Briefe 3,158 Vgl. Briefe 3,li7

Historische

Einführung

XXVII

tigt war. Dafür spricht auch Schleiermachers Studium der Leibnizschen Biographie, über die er sich durch die Lebensbeschreibung von Louis de Jaucourt informieren ließ. Er kommentierte sie zum Teil bissig in seinen Aphorismen Nr. 7—17, die aber für die Veröffentlichung im „Athenaeum" nicht berücksichtigt wurden, weil sie im dortigen Kontext fehl am Platze gewesen wären. Dieser gewisse Abstand von der Publikation im „Athenaeum" einerseits und F. Schlegels wohl im August 1798 brieflich geäußerte Erinnerung an den „schönen Uebermuth des vorigen Herbstes"59 andererseits sprechen meines Erachtens für eine Datierung auf den Herbst 1797. Eine solche Datierung hat auch schon Dilthey vorgenommen.60 Dilthey hat das zweite Leibniz-Manuskript nur erwähnt, während er aus dem ersten Auszüge veröffentlichte. Er hat die Schleiermacherschen Aphorismen allerdings nach Themen gruppiert und mit eigenen Überschriften versehen61, statt sie einfach in der originalen Abfolge zu präsentieren. Dilthey läßt Schleiermachers eigene Gliederung durch den Quellenbezug aufJaucourts Lebensbeschreibung, auf die „Principia Philosophiae" und auf die „Theodicee" von Leibniz völlig außer Acht. Von den 74 Aphorismen bietet Dilthey 35. Bei deren Zählung unterlaufen ihm zwei Fehler: statt 52 muß es 32 und statt 48 muß es 46 heißen.

6. Gedanken II Schleiermachers eigenhändiges Manuskript mit seiner zweiten Gedankensammlung (Nachlaß-Nummer 146 im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR) wird hier erstmals vollständig veröffentlicht. Es ist ohne Datum und ohne Überschrift. Es beginnt „Was oft Liebe genannt wird [. . .]". Es umfaßt 12 geheftete Blätter von 10,5 cm Breite und 16,5 cm Höhe. Schleiermacher hat nur die Blätter 2—7 beschrieben; die Blätter 8—12 hat er selbst unbeschrieben gelassen, ebenso das Deckblatt. Eine fremde Hand notierte mit Tinte in lateinischer Schrift den Titel „Schleiermachers Fragmente." auf dem Deckblatt. Nur die (von Schleiermacher und anderen) beschriebenen Seiten sind von fremder Hand mit Bleistift paginiert worden (Seite 1 — 13). Das nachgedunkelte gelbliche Papier hat ein Wasserzeichen und ist von Schleiermacher mit Sepia-Tinte teilweise in lateinischer Schrift (Nr. 1—14) und teilweise in deutscher Schrift (Nr. 15—35) beschrieben. Durch Faltung ist ein Außenrand von ca. 4 cm Breite abgeteilt. Auf diesem Rand ebenso wie auf Seite 13 finden sich Bleistiftnotizen von Dilthey. 59 Briefe 3,90 60 Vgl. Denkmale 61 Vgl. Denkmale

71 72-74

XXVIII

Einleitung

des

Bandherausgebers

Die Kanten sind glatt geschnitten, aber bei einzelnen Blättern etwas eingerissen. Die Zahlung der Aphorismen stammt nicht von Schleiermacher; Dilthey hat sie mit Bleistift im Text nachgetragen. Die vorliegende Ausgabe übernimmt diese nachträgliche Nummerierung aus Analogiegründen zu den anderen Gedanken-Heften. Die Aphorismen Nr. 1 — 13 sind von Schleiermacher schräg gestrichen. Zu den Aphorismen Nr. 1—20 gibt es (abgesehen von Motiv anklängen zu Nr. 4 und 10) keine Parallelen in den anderen Gedanken-Heften. Die Aphorismen Nr. 21—35 haben alle eine Parallele im ersten Gedanken-Heft, viele eine weitere im dritten (keine aber allein im dritten Heft), wenige eine im sechsten Gedanken-Heft. Die Datierung kann durch die Kombination mehrerer Feststellungen vorgenommen werden. Zum einen sind die Aphorismen Nr. 1—13 unmittelbare Vorarbeiten für die gedruckten Schleiermacherschen AthenaeumsFragmente.62 Deren Erscheinen im Juni 1798 ist also der terminus post quem non für die erste Hälfte des zweiten Gedanken-Heftes. Zum anderen verdanken sich die Aphorismen Nr. 21—35 der Durchsicht und auswählenden Überarbeitung des ersten Gedanken-Heftes (Nr. 12—58). Offensichtlich waren also die höheren Nummern des ersten Gedanken-Heftes, die ja bis zum Mai 1799 reichen, zum Zeitpunkt der auswählenden Übertragung noch nicht geschrieben. Das spräche für eine Datierung auf den Herbst 1798. Diese Vermutung stimmt gut mit der dritten Feststellung zusammen, daß offensichtlich die Aphorismen Nr. 14—20 ebenso wie die darauf folgenden bis Nr. 35 für eine geplante Fortsetzung der Athenaeums-Fragmente von Schleiermacher notiert worden sind,63 So weisen alle Indizien in das Jahr 1798, genauer in den Zeitraum vor und nach dem Erscheinen der Athenaeums-Fragmente im Juni 1798. Dilthey hat dieses zweite Gedanken-Heft mit dem Sigel „B" bezeichnet. 64 Bei seiner Publikation des ersten Gedanken-Heftes hat er jeweils die Nummern der Parallelaphorismen des zweiten Gedanken-Heftes in eckigen Klammern zugefügt. Auf die Aphorismen Nr. 1. 2. 5—7. 9—13 des zweiten Gedanken-Heftes hat Dilthey in Klammern bei seiner Präsentation der Athenaeums-Fragmente hingewiesen, denen er (für den Leser etwas verwirrend) den Titel „Ethische Rhapsodien" gab. Warum er die Aphorismen Nr. 4 und 8 nicht nachweist, obwohl er die entsprechenden Druckfassungen der „Fragmente" wiedergibt6S, ist unerfindlich. Die Aphorismen Nr. 14—20, die dem zweiten Gedanken-Heft eigentümlich sind, schachtelte Dilthey in die Edition des ersten Gedanken-Heftes ein.66 Da er diese Aphorismen in 62 63 64 65 66

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

unten XXXI-XXXVIII Briefe 3,90 Denkmale 88 Denkmale 86 und 80 Denkmale 98-100

Historische Einführung

XXIX

den gleichen Zeitraum ansetzt wie die Aphorismen Nr. 7 I f f des ersten Gedanken-Heftes, so hat er die Aphorismen Nr. 15—20 jeweils auf dem unteren Seitendrittel parallel zu den simultan entstandenen Aphorismen des ersten Gedanken-Heftes drucken lassen. Aphorismus Nr. 14 hat Dilthey nicht veröffentlicht, vermutlich weil er ihn einem früheren Entstehungszeitraum, nämlich der Konzipierung der dann gedruckten Fragmente, zurechnete.67

7. Gedanken

III

Schleiermachers eigenhändiges Manuskript mit seiner dritten Gedankensammlung (Nachlaß-Nummer 143 im Zentralen Archiv der Wissenschaften der DDR) umfaßt 6 geheftete Blätter von 17,3 cm Breite und 21 cm Höhe. Es hat weder Uberschrift noch Datum. Es beginnt „1. Jede Aeußerung eines Menschen ist ein Akkord [. . .]". Auf den mit Sepia-Tinte beschriebenen Blättern ist durch Faltung ein Außenrand von 5 cm Breite abgeteilt. Das jetzt vergilbte, stockfleckige Papier hat ein Wasserzeichen. Die oberen Blattkanten sind glatt geschnitten, während die äußeren leicht und die unteren stark gezahnt sind. Die Paginierung mit Bleistift stammt von fremder Hand. Schleiermacher hat einige Aphorismen mit Tinte schräg gestrichen: Nr. 6f. 10. 12. 26. 46f. 66. 69; andere sind durchgekreuzt: Nr. 1. 29. 31—33. 36f. 39f. Schleiermacher hat in deutscher Schrift geschrieben. Von Dilthey finden sich auf dem Rand Bleistiftnotizen und -striche. Das dritte Gedanken-Heft enthält 83 Aphorismen. Nr. 1—61 hat Schleiermacher durchgezählt; bei Nr. 62—83 ist die Zählung vom Bandherausgeber ergänzt worden. Das dritte Gedanken-Heft hat literarische Querverbindungen zum ersten, zweiten und sechsten Gedanken-Heft. Es ist äußerlich nur einmal, nämlich durch die Überschrift „Poesie" vor Aphorismus Nr. 17, gegliedert. Zur Datierung können verschiedene Beobachtungen zum Text, zu literarischen Querverbindungen und zu biographischen Bezügen miteinander verknüpft werden. Schleiermacher hat offensichtlich über einen längeren Zeitraum an diesem dritten Gedanken-Heft geschrieben. Einen sicheren Anhaltspunkt gibt es für das Ende der Niederschrift. In seinen Aphorismen Nr. 79 und 80 kommentiert Schleiermacher nämlich zwei Sachverhalte aus der 1801 posthum erschienenen Autobiographie Theodor Gottlieb von Hippels. Da mit keinem großen Abstand zwischen Publikationstermin und Kommentar gerechnet werden muß, da zudem die Aphorismen Nr. 65 f f mit ihren Überlegungen zu Piaton und Aristoteles gut zu Schleiermachers Über-

67

Vgl. Denkmale

88

XXX

Einleitung des

Bandherausgebers

setzungstätigkeit 1800/01 passen, so dürfte das Jahr 1801 als terminus post quem non höchst wahrscheinlich sein. Einen markanten Datierungshinweis gibt es auch in der Mitte des Heftes. Aphorismus Nr. 41 bezieht sich nämlich auf den um Johann Gottlieb Fichte entbrannten Atheismusstreit und dürfte somit in das Jahr 1799 gehören. Anders steht es mit dem Anfang. Hier weist die Beobachtung, daß die Aphorismen Nr. 1—16 allesamt eine überarbeitete Auswahl der Aphorismen des ersten Gedanken-Heftes (Nr. 7—68) in derselben Abfolge darstellen, der Vermutung den Weg, daß Schleiermacher für die Fortsetzung der Athenaeums-Fragmente im Sommer/Herbst 1798 das erste Gedanken-Heft erneut durchgesehen und sich die publikationswürdigen Aphorismen erneut herausgeschrieben hat. Dabei sind 8 Aphorismen Neuzugänge gegenüber der Auswahl im zweiten Gedanken-Heft. Da sich sprachlich-stilistische Weiterentwicklungen gegenüber den Fassungen zeigen, die die Aphorismen im zweiten Gedanken-Heft bekommen hatten, so kann die relative Chronologie der Gedanken-Hefte nicht fraglich sein. Sie ist in der vom Bandherausgeber vorgenommenen Zählung ausgedrückt. Die Unterschiede in Abfolge, Anzahl und Formulierung machen es offenkundig, daß Schleiermacher die Aphorismen Nr. 1 — 16 unmittelbar aus dem ersten Gedanken-Heft geschöpft und dabei die schon vorhandene Auswahl des zweiten Gedanken-Heftes übergangen hat. Vor dem Aphorismus Nr. 17 findet sich die Überschrift „Poesie" — und tatsächlich sind viele der folgenden Aphorismen bis Nr. 64 diesem Thema gewidmet. Auch hier greift Schleiermacher noch viermal (Nr. 17. 22. 25. 26) auf das erste GedankenHeft zurück, aber auf Aphorismen mit viel höheren Nummern (Nr. 122—152) und nicht mehr in fortlaufender Auswahl. Auch dieser Sachverhalt bestätigt die Vermutung, daß Schleiermacher mit Aphorismus Nr. 17 nach einer gewissen Pause mit der Sammlung und Neukonzeption seiner Aphorismen unter einem neuen Leitgesichtspunkt, zu einem neuen Zweck erneut eingesetzt hat. Durch den Bezug auf die höheren Nummern des ersten Gedanken-Heftes und unter Berücksichtigung von Aphorismus Nr. 41 ist es wahrscheinlich, daß dieser Neuansatz in die erste Jahreshälfte 1799 gesetzt werden muß. So finden sich in diesem zweiten Manuskriptteil auch Überlegungen (Nr. 26. 29. 31—33. 36. 38—40), die Eingang in Schleiermachers am Jahresanfang 1800 erschienene Schrift „ Monologen " gefunden haben. Schließlich bündelt der Aphorismus Nr. 60 mit seinen verschiedenen Nachträgen die Vorüberlegungen zu Schleiermachers „ Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde" (Lübeck/Leipzig 1800). Alle diese Beobachtungen unterstützen eine Datierung des dritten Gedanken-Heftes in den Zeitraum von 1798 bis 1801. Eine Besonderheit gibt es noch bei Schleiermachers Bezugnahme (Nr. 73. 75. 77f. 81—83) auf die „Nikomachische Ethik" des Aristoteles. Die unterschiedlichen Traditionen der Kapiteleinteilung weichen an den in Nr. 73 bzw. Nr. 82 herangezogenen Stellen 11,3 bzw. VII,2 auf bedeutsame Weise

Historische

Einführung

XXXI

voneinander ab, so daß die Traditionslinie der Quelle und damit die von Schleiermacher benutzte Ausgabe erschlossen werden kann: es handelt sich wahrscheinlich um die von A. Turnebus besorgte Ausgabe, Basel 155668, die sich bei Schleiermachers Tod in seinem Besitz befand. Dilthey hat das dritte Gedanken-Heft als „Zweites Tagebuch"69 bezeichnet und mit dem Sigel „C" versehen70. Die Aphorismen Nr. 1—16 hat er indirekt dadurch veröffentlicht, daß er bei den jeweils analog lautenden Aphorismen des ersten Gedanken-Heftes einen entsprechenden Nachweis in eckigen Klammern gegeben hat. Die Aphorismen Nr. 17—83 bietet Dilthey fast vollständig,71 Er läßt Nr. 59. 63. 73-75. 77f. 81-83 weg12; alle diese Aphorismen enthalten Beobachtungen und Überlegungen zu antiken Autoren und Schriften, die zumeist schwer lesbar sind. Außerdem hat Dilthey den Aphorismus Nr. 60 mit Nachträgen (d.h. Schleiermachers Vorüberlegungen zu seinen Lucinde-Briefen) zusammengezogen und etwas gekürzt. Das dritte Gedanken-Heft wird hier erstmals vollständig publiziert. Es ist in diesen Band KGA 1/2 aufgenommen worden, obwohl es in den Zeitraum der in KGA 1/3 zu veröffentlichenden Schriften weit hineinreicht, weil Schleiermacher seine Niederschrift im Jahr 1798 begonnen hat und weil es im ersten Textviertel mannigfaltige Querverbindungen zum ersten und zweiten Gedanken-Heft aufweist, die durch die Aufnahme in einen Band übersichtlicher dokumentiert werden können.

8. Fragmente Das zweite Stück des ersten Bandes der von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel herausgegebenen Zeitschrift „Athenaeum", das im Juni 1798 beim Berliner Verleger Friedrich Vieweg erschien, enthält auf den Seiten 3 — 146 insgesamt 451 Fragmente, die von vier verschiedenen Autoren stammen: Friedrich Schlegel, August Wilhelm Schlegel, Friedrich von Hardenberg (Novalis) und Schleiermacher. Die Autoren sind bei den unnumerierten Fragmenten, die im vorliegenden Band nach dem Vorbild der F. Schlegel-Ausgaben numeriert worden sind, selbst nicht angegeben, aber sie lassen sich auf Grund noch vorhandener handschriftlicher Vorarbeiten und einschlägiger Briefzeugnisse weitestgehend ermitteln. Friedrich Schlegel warb nachdrücklich für den Plan, eine Sammlung von Fragmenten zu ver-

68 69 70 71 72

Vgl. Rauch 70,511 Denkmale 115 Vgl. Denkmale 88 und 115 Vgl. Denkmale 116-123 Dilthey zählt in den „Denkmalen"

ab Aphorismus Nr. 63 anders.

XXXII

Einleitung des Bandherausgebers

öffentlichen73; er entwickelte die Konzeption74, trieb die Mitarbeiter an75 und übernahm die Redaktion76. Von Schleiermacher stammen sicherlich 31 Fragmente. Nicht alles, was Schleiermacher von verschiedenen Interpreten anvermutet oder von verschiedenen Herausgebern zugeschrieben worden ist, ist hier aufgenommen oder auch nur diskutiert worden. Da manche besonders der kürzeren Fragmente gesprächsweise entstanden sein dürften, läßt sich bei ihnen eine Zuordnung weder aus dokumentarischen noch stilistischen Gründen vornehmen. Sie sind eben Produkte eines echten Symphilosophierens77, sind die Ergebnisse wechselseitiger Anregung und inniger geistiger Durchdringung78. 73 74

75

76 77

78

Vgl. Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm 302.340 Vgl. Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm: „Ferner kann ich an die 6 Bogen voll Fragmente geben, die noch ein wenig aus anderm Auge sehn sollen, als die im Lyceum. — Doch eigentlich wirds eine ganz neue Gattung seyn 1) denke ich größten Theils (nicht einzelne Sentenzen und Einfalle) kondensirte Abhandlung und Charakteristik, Recensionen zu geben 2) werde ich dabey Universalität ordentlich suchen, nicht philosophische und kritische Fragmente trennen, wie im Lyceum und in denen die ich Fichte und Niethammer schicken werde, sondern mischen; dazu auch moralische nehmen."(315) „Ich kann von mir, von meinem ganzen Ich gar kein andres echantillon geben, als so ein System von Fragmenten, weil ich selbst dergleichen bin." (336) Außerdem 360f. 369 Vgl. Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm 307. 310. 324. 327. 333. 335f. 364. 367 Vgl. Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm 321.348—352.363—366 Schon Anfang Dezember 1797 hatte F. Schlegel dies als seine Lieblingsidee gerade im Bezug auf das Athenaeum-Projekt seinem Bruder gegenüber geäußert: „Was mich besonders dabei interessiren würde, wäre die Symphilosophie, το οννκριτιζειν." (Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm 326) Diese Lieblingsidee taucht auch in seiner Zwecksetzung für die Fragmente auf: „1) die größte Masse von Gedanken in dem kleinsten Raum 2) επιόειξις von Universalität f . . .] 3) Ouvertüre des Athenaeums, fraternaler Potenzismus und gigantische Synfonirung." (Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm 376) Sie wird schließlich im Fragment Nr. 125 thematisiert: ,, Vielleicht würde eine ganz neue Epoche der Wissenschaften und Künste beginnen, wenn die Symphilosophie und Sympoesie so allgemein und so innig würde, daß es nichts seltnes mehr wäre, wenn mehre sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten. Oft kann man sich des Gedankens nicht erwehren, zwey Geister möchten eigentlich zusammengehören, wie getrennte Hälften, und nur verbunden alles seyn, was sie könnten. Gäbe es eine Kunst, Individuen zu verschmelzen, oder könnte die wünschende Kritik etwas mehr als wünschen, wozu sie überall so viel Veranlassung findet, so möchte ich Jean Paul und Peter Leberecht kombinirt sehen. Grade alles, was jenem fehlt, hat dieser. Jean Pauls groteskes Talent und Peter Leberechts fantastische Bildung vereinigt, würden einen vortrefflichen romantischen Dichter hervorbringen." (Athenaeum 112,33f; F. Schlegel: Kritische Ausgabe, Bd 2. Charakteristiken und Kritiken I [1796—1801], ed. H. Eichner, Paderborn 1967, S. 185f) Am 31. Dezember 1797 schrieb Schleiermacher an seine Schwester Charlotte: „Eine herrliche Veränderung in meiner Existenz macht Schlegels wohnen bei mir. Wie neu ist mir das, daß ich nur die Thüre zu öffnen brauche, um mit einer vernünftigen Seele zu reden, daß ich einen guten Morgen austheilen und empfangen kann, sobald ich erwache, daß mir Jemand gegenüber sizt bei Tische, und daß ich die gute Laune, die ich Abends mitzubringen

Historische

Einführung

XXXIII

Diese Ausgabe läßt sich deshalb von dem restriktiven Grundsatz leiten, nur solche Fragmente Schleiermacher zuzuschreiben, bei denen seine Autorpflege, noch früh Jemand mittheilen kann. Schlegel steht gewöhnlich eine Stunde eher auf als ich, weil ich meiner Augen wegen des Morgens kein Licht brennen darf, und mich also so einrichte, daß ich vor1 Ii 9 Uhr nicht ausgeschlafen habe. Er liegt aber auch im Bette und liest, ich erwache gewöhnlich durch das Klirren seiner Kaffeetasse. Dann kann er von seinem Bett aus die Thüre, die meine Schlafkammer von seiner Stube trennt, öffnen, und so fangen wir unser Morgengespräch an. Wenn ich gefrühstückt habe, arbeiten wir einige Stunden, ohne daß einer vom andern weiß; gewöhnlich wird aber vor Tisch noch eine kleine Pause gemacht, um einen Apfel zu essen, wovon wir einen gemeinschaftlichen schönen Vorrath der auserlesensten Arten haben; dabei sprechen wir gewöhnlich über die Gegenstände unsrer Studien. Dann geht die zweite Arbeitsperiode an bis zu Tisch, d. h. bis halb zwei. Ich bekomme mein Essen, wie Du weißt, aus der Charite, Schlegel läßt sich seines aus einem Gasthause holen. Welches nun zuerst kommt, das wird gemeinschaftlich verzehrt, dann das andere, dann ein paar Gläser Wein getrunken, so daß wir beinah ein Stündchen bei unserm Diner zubringen. Lieber den Nachmittag läßt sich nicht so bestimmt sprechen; leider aber muß ich gestehn, daß ich gewöhnlich der erste bin, der ausfliegt, und der lezte, der nach Hause kommt. Doch ist nicht die ganze Hälfte des Tages dem gesellschaftlichen Genuß gewidmet; ich höre einige mal die Woche Collegia und lese einigemal welche — versteht sich privatissime, nur einem oder dem andern guten Freunde, und dann erst gehe ich, wohin meine Lust mich treibt. Wenn ich Abends zwischen 10 und 11 nach Hause komme, finde ich Schlegel noch auf, der aber nur darauf gewartet zu haben scheint, mir gute Nacht zu geben und dann bald zu Bette geht. Ich aber seze mich dann hin und arbeite gewöhnlich noch bis gegen 2 Uhr, denn von da bis halb 9 kann man noch vollkommen ausschlafen. Unsre Freunde haben sich das Vergnügen gemacht, unser Zusammenleben eine Ehe zu nennen und stimmen allgemein darin überein, daß ich die Frau sein müßte, und Scherz und Emst wird darüber genug gemacht. Seit Schlegel hier ist, ist es doch schon ein paar mal geschehn, daß ich einen ganzen Abend zu Hause geblieben bin und daß wir zusammen von 7—10 einen traulichen Thee getrunken und uns dabei recht ausgeplaudert haben. Wahrscheinlich aber wirst Du auch wissen wollen, wie ich nun bei dieser nächsten aller Bekanntschaften den Mann selbst finde? Ich weiß wirklich nicht, wie viel ich Dir schon von ihm gesagt habe, und so stehe denn ein für alle mal eine kleine Schilderung von ihm hier. Was seinen Geist anbetrifft, so ist er mir so durchaus superieur, daß ich nur mit vieler Ehrfurcht davon sprechen kann. Wie schnell und tief er eindringt in den Geist jeder Wissenschaft, jedes Systems, jedes Schriftstellers, mit welcher hohen und unparteiischen Kritik er jedem seine Stelle anweist, wie seine Kenntnisse alle in einem herrlichen System geordnet dastehn und alle seine Arbeiten nicht von ungefähr, sondern nach einem großen Plan aufeinander folgen, mit welcher Beharrlichkeit er alles verfolgt, was er einmal angefangen hat — das weiß ich alles erst seit dieser kurzen Zeit völlig zu schäzen, da ich seine Ideen gleichsam entstehn und wachsen sehe. Aber nach seinem Gemüth wirst Du unstreitig mehr fragen, als nach seinem Geist und Genie. Es ist äußerst kindlich, das ist gewiß der Hauptzug darin; offen und froh, naiv in allen seinen Aeußerungen, etwas leichtfertig, ein tödtlicher Feind aller Formen und Plackereien, heftig in seinen Wünschen und Neigungen, allgemein wohlwollend, aber auch, wie Kinder oft zu sein pflegen, etwas argwöhnisch und von mancherlei Antipathien. Sein Charakter ist noch nicht so fest und seine Meinungen über Menschen und Verhältnisse noch nicht so bestimmt, daß er nicht leicht sollte zu regieren sein, wenn er einmal jemand sein Vertrauen geschenkt hat. Was ich aber doch vermisse, ist das zarte Gefühl und der feine Sinn für die lieblichen Kleinigkeiten des Lebens und für die feinen Aeußerungen schöner Gesinnungen, die oft in kleinen Dingen unwillkürlich das ganze Gemüth enthüllen. So wie er Bücher am liebsten mit großer Schrift mag, so auch an

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Einleitung des

Bandherausgebers

schaft entweder durch briefliches Zeugnis79 oder durch Vorstufen in den nachgelassenen Manuskripten zweifelsfrei ist. Diese Entwürfe der „Fragmente" finden sich im ersten und zweiten Gedanken-Heft sowie im ersten Leibniz-Heft. Sie sind — nach Schleiermachers brieflicher Mitteilung an Henriette Herz vom 3. September 1798 — teilweise von Friedrich „Schlegel aus meinen andern Rhapsodien herausgezogen"80 worden. Dilthey unternahm es, durch umfängliche, materialreiche kritische Überlegungen den Anteil Schleiermachers an den „Fragmenten" herauszufiltern81; die von ihm ermittelten 27 Fragmente hat er unter dem Titel „Ethische Rhapsodien"82 zusammengestellt83. Dabei ging Dilthey so vor84, daß er zunächst diejenigen Fragmente herausfand, die er sicher einem der drei anderen Autoren Friedrich und August Wilhelm Schlegel sowie Novalis zuweisen konnte. Den verbliebenen Rest der Fragmente prüfte er anhand der Schleiermacherschen Manuskripte und Briefe.85 Die auf diese Weise festgelegten Fragmente Schleiermachers ordnete Dilthey nach seiner eigenen Behauptung „in ihrem wahren Zusammenhang".86 Dieser vermeintlich wahre Zusammenhang ist schwer zu erkennen, denn er ist weder chronologischer noch textlicher Art, aber auch eine inhaltliche Ordnung läßt sich nicht ermitteln. Dilthey bietet nicht die Fragmente Nr. 276. 279. 333. 358. 361, die sämtlich polemische Bemerkungen und Gedankenbruchstücke zu Leibniz sind. Dagegen hat Dilthey das Fragment Nr. 407 abgedruckt, das in diesem Band nicht aufgenommen ist.

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85 86

den Menschen große und starke Züge. Das bloß sanfte und schöne fesselt ihn nicht sehr, weil er zu sehr nach der Analogie seines eignen Gemüths alles für schwach hält, was nicht feurig und stark erscheint. So wenig dieser eigenthümliche Mangel meine Liebe zu ihm mindert, so macht er es ihm doch unmöglich, ihm manche Seite meines Gemüths ganz zu enthüllen und verständlich zu machen. Er wird immer mehr sein als ich, aber ich werde ihn vollständiger fassen und kennen lernen als er mich. Sein äußeres ist mehr Aufmerksamkeit erregend als schön. Eine nicht eben zierlich und voll, aber doch stark und gesund gebaute Figur, ein sehr charakteristischer Kopf, ein blasses Gesicht, sehr dunkles rund um den Kopf kurz abgeschnittenes ungepudertes und ungekräuseltes Haar und ein ziemlich uneleganter aber doch feiner und gentlemanmäßiger Anzug — das giebt die äußere Erscheinung meiner dermaligen Ehehälfte." (Briefe 1,168-170) Vgl. Briefe 3,74.80.97 Briefe 3,97 Vgl. Denkmale 74-79 Denkmale 74 Vgl. Denkmale 79-87 Vgl. dazu: ,,Es ist nun weder möglich den ganzen Antheil Schleiermacher's aus den Papieren zu bestimmen, noch indirekt durch Feststellung des den Andren Zugehörigen ihn auszuscheiden. So bleibt nur übrig von beiden Seiten auszugehen, soviel Fragmente der Hauptmitarbeiter als möglich durch äußeres Zeugniß zu bestimmen und aus Stoff und Form derselben auf die übrigen Schlüsse zu ziehen." (Denkmale 74f) Vgl. Denkmale 78 Denkmale 79

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Einführung

XXXV

Näher zu erörtern ist die Verfasserschaft bei vier Fragmenten: Nr. 35. 86. 378 und 407. Fragment Nr. 35ΆΊ wird von Dilthey für Schleiermacher reklamiert, und J. Minor88 hat dieser Zuweisung in leichter Modifikation zugestimmt. Doch gehört der erste Satz dieses Fragments zweifelsfrei Friedrich Schlegel zu.*9 Die folgenden beiden Sätze stammen nach dem Briefzeugnis Schlegels von Schleiermacher. Hans Eichner hat deshalb dieses Fragment geteilt zwischen Friedrich Schlegel und Schleiermacher.90 Diese Ausgabe folgt ihm darin. Das von Dilthey nicht aufgenommene Fragment Nr. 8691 hat J. Minor ohne besonderen Nachweis aus inhaltlichen und stilistischen Erwägungen 9 1 Schleiermacher zugewiesen. ' Gegen diese Zuordnung dürfte das gerade erwähnte Briefzeugnis F. Schlegels93 sprechen, wonach auf den ersten vier Druckbögen nur zwei Fragmente (nämlich Nr. 35 und 38) von Schleiermacher stammen 94 Da keine positiven literarischen Belege vorhanden sind, ist Nr. 86 gemäß unserem restriktiven Zuordnungsgrundsatz hier nicht abgedruckt worden. Fragment Nr. 3789S ist von Dilthey nicht in die „Denkmale" aufgenommen worden; Minor hat es Schleiermacher ohne besonderen Nachweis zugeschrieben96> und Eichner ist ihm in dieser Zuordnung gefolgt, wieder87 88

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Vgl. unten 143,1-5 Vgl. F. Schlegel: Seine prosaischen Jugendschriften (1794—1802), ed.J. Minor, Bd2, Wien 1882, S. 209,11-15 Im März 1798 berichtete Friedrich Schlegel hinsichtlich der damals bereits gesetzten ersten vier Druckbogen von Fragmenten: „Die beiden Fragmente von Schleyermacher sind das von der Geduld, und das cynische vom Haben und Nichthaben, wo nur der Anfang von mir ist, dessen Verdienst nur darin besteht, daß er das weitere veranlaßt hat." (Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm 369f) Diese beiden Fragmente hatte A. W. Schlegel ohne Wissen von Schleiermachers Verfasserschaft „eins mit einem und eins zwey Beyfallszeichen beehrt" (Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm 365f). Vgl. F. Schlegel: KA 2,171; auch CXI „Achtes Wohlwollen geht auf Beförderung fremder Freyheit, nicht auf Gewährung thierischer Genüsse." (Athenaeum 1/2,22) Vgl. F. Schlegel: Seine prosaischen Jugendschriften 2,216,9f Vgl. oben Anm. 89 In seiner Einleitung argumentiert und urteilt Eichner genauso (vgl. F. Schlegel: KA 2,CXI), doch im Textteil gibt er Schleiermacher als mutmaßlichen Verfasser an (vgl. F. Schlegel: KA 2,178). „Es ist nicht selten, daß jemand lange kalt scheint und heißt, der nachher bey außerordentlichen Veranlassungen durch die gewaltigsten Explosionen von Leidenschaft alles in Erstaunen setzt. Das ist der wahrhaft gefühlvolle Mensch, bey dem die ersten Eindrücke nicht stark sind, aber lange nachwirken, tief ins Innre dringen, und im Stillen durch ihre eigne Kraft wachsen. Immer gleich zu reagiren ist das Kennzeichen der Schwäche, jenes innre Crescendo der Empfindungen ist die Eigenheit energischer Naturen." (Athenaeum 1/ 2,115) Vgl. F. Schlegel: Seine prosaischen Jugendschriften 2,270,16—22

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Einleitung des Bandherausgebers

um ohne Beleg.91 Da es für Schleiermachers Verfasserschaft kein literarisches Zeugnis gibt, ist es hier gemäß dem allgemeinen Zuordnungsgrundsatz nicht aufgenommen worden. Dasselbe gilt für Fragment Nr. 407.98 Dilthey", Minor100 und Eichner101 weisen es Schleiermacher zu aus dem inhaltlichen Grund, daß es sich mit der guten Lebensart beschäftigt. Da sich weder in Schleiermachers „ Versuch einer Theorie des geselligen Betragens" noch im Vorfeld der Vorarbeiten dazu (auch nicht in Gedanken II, Nr. 19, wie Dilthey meint102) eine echte Parallele findet, tritt mangels literarischer Zeugnisse der Grundsatz der Nichtaufnahme in Kraft. Die Entstehung und Drucklegung der Fragmente ist durch eine Reihe von Briefzeugnissen recht anschaulich zu machen, zumeist aus der Korrespondenz zwischen den Brüdern Schlegel.103 In Schleiermachers Briefen finden sich nur wenige Hinweise. Am 1. Januar 1798 schickte er ein Fragment (vermutlich den „Katechismus der Vernunft für edle Frauen") an Henriette Herz: „Hier haben Sie Ihr Fragment, liebe Freundin, die Ueberzeugungen, die es enthält, stehen für sich, aber die Aussichten für mich mag Ihre fortdauernde Güte wahr machen."104 Schleiermacher schrieb am 16. Juni 1798 an seine Schwester Charlotte: „Deinen Wunsch, etwas von mir gedruckt zu sehn, kannst du jezt noch auf eine andre Art erfüllen; aber freilich nur sehr im Kleinen. Die beiden Schlegel's nämlich geben zusammen ein neues Journal heraus unter dem Titel: Athenäum. In dem zweiten Stück desselben steht unter der Rubrik: Fragmente, eine große Menge einzelner Gedanken, von denen freilich viele, welche sich bloß auf die abstracte Philosophie beziehn, Dich eben nicht interessiren können; andere aber wirst Du gewiß gern lesen. Unter diesen nun sind mehrere von mir, und ich überlasse Dir, wenn Dir dies Journal zu Gesicht kommt, herauszufinden, wo Du etwas von meiner Art witterst; ich dächte es sollte Dir nicht schwer werden, mich zu entdecken. Schicken kann Vgl. F. Schlegel: KA 2,235 „Das wichtigste Stück der guten Lebensart ist die Dreistigkeit, sie denen absichtlich andichten zu können, von denen man weiß, daß sie sie nicht haben: das schwerste ist, unter der Hülle der allgemeinen guten Sitte die eigenthümliche Gemeinheit zu ahnden und zu errathen." (Athenaeum 112,125f) 99 Vgl. Denkmale 87, auch 89 100 Ygi f Schlegel: Seine prosaischen Jugendschriften 2,276,35—38 101 Vgl. F. Schlegel: KA 2,242 102 Vgl. Denkmale 89.99f 103 Vgl. Denkmale 77f und Behler: Athenaeum. Die Geschichte einer Zeitschrift; selbständig paginierter Anhang zu: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, Bd 3, Nachdruck Darmstadt 1973 sowie als Quelle vornehmlich Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm, ed. O. F. Walzel, Berlin 1890, S. 348-391 104 Briefe 1,172 97 98

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Einführung

XXXVII

ich Dir es nicht, weil man einzelne Stücke nicht bekommt; auch wird das zweite Stück nur eben erst gedruckt. So weit hat mich nun Schlegel gebracht, aber daß ich etwas größeres schreiben sollte, daraus wird nun nichts. Ich kann meine Zeit besser brauchen und überdies macht es mir eine höchst unangenehme Empfindung, etwas von mir gedruckt zu sehn. Kaum habe ich es bei diesen paar Gedanken ausgehalten, die zusammen wohl schwerlich einen Bogen ausmachen."105 Am 3. September berichtete Schleiermacher aus Landsberg (Warthe) an Henriette Herz: „Die Offenheit habe ich der Cousine vorgelesen, sie hat aber keinen besonderen Eindruck auf sie gemacht, einige von meinen kleinen haben ihr weit besser gefallen, und gegen den Katechismus verschwindet ihr alles. Leider habe ich auch die , welche Schlegel aus meinen andern Rhapsodien herausgezogen hat, noch einmal gelesen. Nun, fragmentarischeres giebt es wohl nicht. Ich wollte er hätte es mir überlassen, so hätte die Fragmentenmasse einen großen Fleck weniger. "106 F. Schlegel machte Schleiermacher im März Vorschläge zur Anordnung und Formulierung: „Die Gemüthsfragmente sollen zwischen Deine großen — die Klugheit — der Katechismus — die cyklische Praxis u.s.w. — Nun hab' ich aber auch noch verschiedne große, die auch mit welchen von Dir fraternisiren möchten. In die Glaubensartikel hab' ich die Willkühr herein gebracht der Veit zum Possen. - Der erste soll heißen: ,Ich glaube an die unendliche Menschheit die sich selbst erschuf, ehe sie die Hülle der Männlichkeit oder der Weiblichkeit annahm'."107 Diesen Schlegelschen Änderungsvorschlag zum „Katechismus der Vernunft für edle Frauen" (Fragment Nr. 364) lehnte Schleiermacher ab. Die Athenaeums-Fragmente, die anonym und unnumeriert in einem Oktavband von 12,9 cm Breite und 21,8 cm Höhe erschienen, haben verschiedene Nachdrucke erfahren. Besonders hervorzuheben sind drei Ausgaben: die von J. Minor vorgenommene erste kritische Zuordnung der Fragmente zu den Verfassern (sowie ihre Numerierung)108, die von H. Eichner besorgte kritische Neuedition109 und die fotomechanischen Nachdrucke der Zeitschrift „Athenaeum"110. Außerdem hat es immer wieder unkritische Wiederabdrucke gegeben111, von Auswahlausgaben ganz zu schweigen.

105

Briefe l,177f Briefe 3,97 107 Briefe 3,74 los \/gi ρ Schlegel: Seine prosaischen Jugendschriften 2,203 — 288 109 Vgl. F. Schlegel: KA 2,165-255 110 Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, 3 Bde, Nachdruck München 1924 und Nachdruck Darmstadt I960 bzw. 1973 106

111

Vg/. ζ. B. Athenaeum, ausgewählt 1969; hier Bd 1, S. 100-201

und bearbeitet

von C. Grützmacher,

2 Bde,

Reinbek

XXXVIII

Einleitung des

Bandherausgebers

Schleiermachers Fragment „Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen" ist sehr häufig einzeln gedruckt worden. Die Athenaeums-Fragmente sind so etwas wie die Programmschrift der romantischen Poesie und Weltanschauung; das macht ihre literaturgeschichtliche Bedeutung aus. Die Aufnahme unter den Zeitgenossen war eher ablehnend: man bemängelte die aggressive Polemik und die schwierige Diktion112; aber man sah auch das Neue und Belebende. Schleiermachers Mitarbeit an den Fragmenten wurde mit einer gewissen Verzögerung bekannt, doch wurden seine Beiträge nicht besonders gewürdigt. Er war hier nur ein Glied der Schlegel-Gruppe. 9. Zum Armenwesen Schleiermachers eigenhändiges Manuskript ,,Zum Armen Wesen" (Nachlaß-Nr. 227 im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR) umfaßt zwei ineinandergelegte Doppelblätter von 17,9 cm Breite und 21,5 cm Höhe. Das jetzt stockfleckige Papier mit Wasserzeichen ist mit Sepia-Tinte beschrieben. Das Manuskript ist ohne Datum. Auf der Vorderseite von Blatt 1 steht nur die Überschrift; seine Rückseite ist unbeschrieben. Auf Blatt 2 hat Schleiermacher nur die Vorderseite und das obere Drittel der Rückseite beschrieben; die Blätter 3 und 4 sind leer. Die Foliierung mit Bleistift stammt nicht von Schleiermachers Hand. Das Manuskript enthält 17 Notizen Schleiermachers, in denen er sich den Plan und einzelne Gedanken bzw. Informationen für eine Abhandlung über das Armenwesen, speziell wohl über die Einrichtung der Berliner Charite notiert hat. Das Manuskript ist weitgehend in lateinischer Schrift geschrieben. Es wird hier erstmals veröffentlicht. Die Datierung läßt sich auf Grund verschiedener Indizien ermitteln. Ein erster, allerdings ziemlich vieldeutiger Anhaltspunkt ist die lateinische Schrift. Es läßt sich nämlich beobachten, daß Schleiermacher deutsche Texte nur im Umkreis der Athenaeums-Fragmente in lateinischen Buchstaben schrieb. Das ergäbe eine Datierung ins Jahr 1798. Diese Datierung wird durch inhaltliche Überlegungen gestützt und präzisiert. Die Frage nämlich nach dem situativen Kontext dieses Manuskripts führt ebenfalls ins Jahr 1798, als der Streit um Mißstände an der Berliner Charite in aller Schärfe entbrannt war. Da die Quellenstücke zu diesen literarischen Auseinandersetzungen nur schwer zugänglich, aber für das historisch-genetische Verständnis und die Einordnung des bisher unbekannten Schleiermach ersehen Manuskripts unerläßlich sind, so werden sie im folgenden ausführlich darge-

112

Vgl. F. Schlegel: KA 2,XLVf

Historische

Einführung

XXXIX

stellt, zumal sie ein anschauliches und farbenreiches Bild der Lebenswelt und des biographischen Umfeldes Schleiermachers vermitteln. In seinem „Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire" (Leipzig 1798) hatte Johannes Daniel Falk (1768—1826) als fünften Beitrag die Satire „Reisen zu Wasser und zu Lande von Scaramuz"113 veröffentlicht, in der er auch Eigentümlichkeiten von Berlin anprangerte. Dabei stellte Falk die Charite neben den Destillateurläden als spezifisch Berlinisches „Entvölkerungsinstitut"114 vor und gab von ihr folgende Schilderung: Die Charite ,,liegt sehr gesund, mitten unter Wiesen, die jeden Frühling — überschwemmt sind. Die kranken Personen haben mit den genesenden ein Wohnzimmer gemein, so daß die Unterhaltung nie ausgehen kann. Der dirigirende Arzt kommt zwey Mahl die Woche hinaus. [Anm.: Der vortreffliche Seile.] Doch ist man auch in der Zwischenzeit, unter der Aufsicht junger Doctoren und Chirurgen, die hier aus allen Gegenden Deutschlands herzuströmen, sehr wohl aufgehoben. Diese liegen ihren Uebungsversuchen mit der sorgsamsten Gewissenhaftigkeit ob, und nicht leicht wird irgend ein Patient, ist er einmahl unter ihre Hände gefallen, aufstehen, sich über sie zu beklagen. Eben fing ich wieder an mit ein Paar Krücken zwischen Tisch und Stühlen fortzurutschen, als ein epidemisches Lazarethfieber [Anm.: Dieß geschieht beynahe jährlich.] ausbrach. Die Leichen wurden zu hunderten hinaus getragen; alle Communicaton zwischen Berlin und der Charitee war gleichsam abgeschnitten: die Sterblichkeit unter den Officianten und Aufwärtern ungeheuer. Nach einer Abwesenheit von wenigen Tagen ging es, zwischen dem Thürpförtner und dem dirigirenden Arzt, nie ohne Schwierigkeit ab, bevor jener ihn einließ. Solche kleine Unannehmlichkeiten, wie die Verunreinigung der engen Wohnstuben, die von lauwarmem Pestdampf geschwängerte Atmosphäre, und die durch Ausdünstungen aller Art herbeygeführten Fieber und Seuchen sind beynahe von allen Armenanstalten unzertrennbar. Davon also kein Wort! Durch Erweiterung des Gebäudes, die, wie man versichert, im Werk ist, wird dem Allen in Zukunft vorgebeugt. — Wie viel aber die leidende Menschhheit von dieser vorhabenden Reform erwarten darf, ist jedem einleuchtend, der die unendlich prachtvolle Ecole veterinaire mit ihren kostbaren Dampfbädern und angestellten Professoren für kranke — Pferde und Schooßhunde in Augenschein genommen hat."115

113

114 115

V?J· Falk: Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire. Calender für das Jahr 1798, Leipzig 1798, S. ii-112 Falk: Taschenbuch 98 Falk: Taschenbuch 107-110

XL

Einleitung

des

Bandherausgebers

Dieser Angriff auf den guten Ruf Berlins rief den Widerspruch Johann Erich Biesters (1749—1816) hervor, der als Bibliothekar der Königlichen Bibliothek (seit 1784), Mitherausgeber der „Berlinischen Monatsschrift" (1783 bis 1796) und als Herausgeber der „Berlinischen Blätter" (Juni 1797—Juni 1798) sowie der „Neuen Berlinischen Monatsschrift" (1799—1811) am kulturellen und öffentlichen Leben Berlins in bedeutender Weise beteiligt war. Er war als Mitglied des Kreises um Friedrich Nicolai (1733 — 1811) einer der wichtigen Vertreter der Berliner Aufklärung. Biester fand den Falkschen Tadel „ungerecht, voreilig, gehässig, schmähsüchtig"116 und rügte ihn dementsprechend. Auf eine knappe Erwähnung und Zurückweisung der Falkschen Vorwürfe im Februarheft 1798 der „Berlinischen Blätter"111 ließ er im Aprilheft seinen ausführlichen Aufsatz folgen: „Nachrichten von der hiesigen Charite, etwas richtiger als Hr Falk sie hat"118. Darin gibt er einen Überblick über Lage, Gebäude, medizinische Einrichtungen, Organisation, Finanzierung. Insgesamt ist Biesters Darstellung von der Wertung geprägt: „Nein! wer nicht mit völlig überspannten Begriffen in unsre Charite kömmt, wird sehr viel zu loben, und nur sehr wenig auszusetzen finden."119 Die Mängel in der medizinischen Versorgung, die auch Biester sieht und zugesteht, rühren nach dieser Schilderung nicht aus Nachlässigkeit oder Böswilligkeit des Personals und der Behörden, sondern aus Mangel an Geld und Gebäuden120; dem sei aber besser durch lobend-erhebenden Appell an die Spendenfreudigkeit als durch verleumderische Überzeichnungen der Mängel abzuhelfen121. „Die Charite besteht aus 1) einem Krankenhause oder sogenannten Lazareth, wo kranke Leute völlige Kur erhalten; 2) einem Hospital, zur Verpflegung schwacher und abgelebter Personen; 3) einer Anstalt wo schwangere Frauenzimmer aufgenommen und entbunden werden; 4) ganz abgesonderten Zimmern, Pavillons genannt, für 122 krätzige und venerische Personen." In den Jahren 1792—1797 wurden 116 117

118

119 120 121

122

Biester: Berlinische Blätter 2/2,49 Vgl· Biester: Über die Berechnung der Moralität eines Volks, in: Berlinische Blätter 2 (Berlin 1798), 1. Vierteljahr (Januar-März), S. 217-224; hier 218-221 Biester: Nachrichten von der hiesigen Chariti, etwas richtiger als Hr Falk sie hat, in: Berlinische Blätter 2 (Berlin 1798), 2. Vierteljahr (April—Juni), S. 7—54. Eine Schilderung der Charite gibt auch Formey: Versuch einer medicinischen Topographie von Berlin, Berlin 1796, S. 265-274 Biester: Blätter 2/2,12 Vgl. ζ. B. Biester: Blätter 2/2,21f.·40-43 Vgl- dazu:,,[. . .] und so bleibt das dringendste Bedürfniß die Vergrößerung der Einkünfte. Diese hängen zum Thetl, weil die feststehenden Einnahmen schwach sind, von der Gnade unsrer Könige, von den Schenkungen edelmiithiger Reicher, und von der jährlichen wohlthätigen Gesinnung des Publikums ab. Desto unverzeihlicher ist es, eine große und gemeinnützige Anstalt, welche Unterstützung verdient, und ihrer bedarf, öffentlich in schlechten Ruf zu bringen." (Biester: Blätter 2/2,40f) Biester: Blätter 2/2,10

Historische

XLI

Einführung

durchschnittlich etwa 3300 Personen jährlich behandelt, bei einem jährlichen Kostenaufwand von etwa 50000 Talern. Etwa 120 männliche und weibliche Krankenwärter, zumeist ehemalige Kranke, arbeiteten dort. Im Hospital lebten etwas über 200 Personen.123 Im Verfolg seiner Hauptfrage: „Wie diese Menschen behandelt, und wie viele derselben geheilt werden?"124 widerlegt Biester im einzelnen die vier Kritikpunkte, in die er sachlich die Falkschen Angriffe zusammenfaßt. Den ersten Vorwurf Falks, die Charite liege in einem ungesunden Überschwemmungsgebiet125, weist Biester durch eine genaue topographische Schilderung zurück. Die Überschwemmungen beträfen nur abseitige Wiesenpartien und seien auch nur von kurzer Dauer, der Großteil des kultivierten Gartens und die Gebäude selbst seien trocken und bestens geeignet.126 Den zweiten Falkschen Vorwurf einer mangelhaften Trennung der Kranken und Genesenden121 akzeptiert Biester mit Einschränkungen; allein dieser Mangel gründe in den Umständen, nämlich Raummangel bei gleichzeitigem Andrang der Kranken, und könne nicht dem Personal zur Last gelegt werden.128 „Sämmtliche Pazienten sind auf folgende Weise von einander getrennt. Es giebt Zimmer 1) für die innern Krankheiten, 2) für die Melancholischen, 3) für die äussern Krankheiten (Wunden, Schäden zu Operazionen), 4) für die Krätze, 5) für das venensche Übel: Alles, wie sich versteht, in doppelter Anzahl, nach den beiden Geschlechtern, die durch ganze Geschosse von einander gesondert sind; dann 6) für Schwangere, 7) für Wöchnerinnen. "129 Die geräumigen Zimmer seien leider teilweise überbelegt, doch sei hier durch den Neubau des Hauptgebäudes eine starke Verbesserung zu erwarten. Dieser Neubau, der die beiden unter Friedrich II. und Friedrich Wilhelm II. erbauten Flügel verbinden solle, trete an die Stelle des alten Hauptgebäudes, das 1797 abgerissen worden sei, und werde das Raumangebot um ein Drittel steigern. Falk habe die Charite im Zustand besonderer aber vorübergehender Beengung nach dem Abriß des alten Hauptgebäudes, durch den auch die Prediger ihre Dienstwohnungen verloren hätten, kennengelernt. Die Erweiterung des Raumes werde künftig auch zu mehr Reinlichkeit führen.130 Dem dritten Falkschen Vorwurf einer verantwortungslosen Krankenbehandlung 131 durch junge Ärzte begegnet Biester mit einer detaillierten (aber etwas verwirrenden) Schilderung der ärztlichen Zuständigkeiten.132 Die Kran123 124 125 126 127 128 129 130 131

Vgl. Biester: Blätter 2/2,32f Biester: Blätter 2/2,11 Vgl. Falk: Taschenbuch 107 Vgl. Biester: Blatter 2/2,16-19 Vgl. Falk: Taschenbuch 107f Vgl. Biester: Blätter 2/2,19-22 Biester: Blätter 2/2,19f Vgl. Biester: Blätter 2/2,22 Vgl. Falk: Taschenbuch 108

132

Vgl. Biester: Blätter

2/2,22-28

XLII

Einleitung des

Bandherausgebers

kenbehandlung obliege zwei, neuerdings drei Pensionär-Chirurgen, denen neun Unterchirurgen zur Seite ständen, alle wohnten in der Charite; außerdem habe die Charite seit Anfang 1798 einen eigenen Arzt. Die Charite sei immer schon medizinische Ausbildungsstätte gewesen. Seit 1798 müßten die angehenden Ärzte hier einen vierwöchigen klinischen Kurs ableisten, währenddessen sie unter Anleitung des ebenfalls neuen eigenen Charite-Arztes Fritze mitgehende Krankenbesuche machen und außerdem zwei Kranke unter Aufsicht eigenständig behandeln müßten.133 Dem letzten und gewichtigsten Vorwurf Falks, die Charite habe eine zu hohe Mortalitätsrate134, setzt Biester überzeugende tabellarische Informationen und etwas schiefe Berechnungen entgegen "5. Die Falkschen Angaben sind sowohl absolut als auch proportional zu hoch. Die Zahl der Behandelten betrug jeweils zwischen 3000 und 4000 (nicht 6000), die Zahl der Verstorbenen etwa ein Viertel. Falk behauptet eine Mortalitätsrate von 1:2, Biester errechnet 1:6. Doch ist die Biestersche Rechnung unübersichtlich und enthält einige irrige Einzelannahmen. Gegen die Falksche Behauptung, in der Charite grassierten des öfteren Fieberepidemien, die zu einer Isolierung des Lazaretts und zu einer hohen Sterblichkeit des Personals führten136, bietet Biester das unverabredete Zeugnis zweier prominenter Charite-Prediger, nämlich Zöllners und Schleiermachers auf.131 Diese namentliche Berufung auf ihn selbst könnte für Schleiermacher gut der Anlaß gewesen sein, sich näher mit den Zuständen der Charite und mit den Erfordernissen der medizinischen und sozialen Versorgung zu befassen. Dann läge hier der Quellpunkt für das Schleiermach ersehe Manuskript. Der aggressive Spaß Falks, wonach man „die vortreffliche Ε cole vetennaire zu Berlin den Ort zu nennen pflegte, wo sie die Hunde wie Menschen, und die Charitee, wo sie die Menschen wie Hunde behandeln"138 macht Biester etwas hilflos. Außer der korrigierenden Feststellung, an der Vieharzneischule würden Pferde und nicht Hunde behandelt (das wußte Falk selbst), und der bestätigenden Feststellung, daß dieses der ChaVgl. auch Biester: Blätter 2/2,50-54 134 Ygl palk; t j n der Charitee sterben jährlich von 6000 Personen drater 3000." (Taschenbuch 98) 135 Vgl. Biester: Blätter 2/2,28-40 136 Vgl. Falk: Taschenbuch 109 137 Vgl. Biester: „Ich appellire an die Offizianten des Charitehauses selbst, worunter berühmte und in der Literatur wohlbekannte Namen sind, ζ. B. der luthersche Prediger Hr Zöllner vor 20 Jahren, und der reformirte Prediger Hr Schleiermacher itzt, welche natürlicherweise nichts davon wissen daß ich mich hier auf sie berufe; alle diese Offizianten mögen (ein Jeder kann sie ja befragen) Nachricht davon geben — nicht, ob zuweilen in der Stadt von Epidemieen der Charite die Rede war, sondern — ob dergleichen dort je in dem Maaße herrschten daß man an Sperrung der Kommunikazion auch nur dachte ?" (Blätter 2/2,36f) 138 Falk: Taschenbuch 287 133

Historische Einführung

XLIII

rite räumlich benachbarte Institut „das bei weitem prächtigere"139 sei, artikuliert Biester nur moralisch-ästhetische Empörung, solche unartigen, unanständigen Späße disqualifizierten jeden Schriftsteller mangels innerer Würde und Achtung vor dem Publikum. Biester führt die Sterblichkeit auf die Art und Schwere der zu behandelnden Krankheiten zurück. Auch Biester hält eine Verbesserung der Charite für „sehr wünschenswert^'. 140 Er weist auf zwei augenfällige Mängel hin, deren Abstellung dringlich ist: auf die unzureichende Wäscheausstattung der Charite und auf die zu geringe Besoldung und Ausbildung der Krankenwärter, deshalb müsse die Finanzlage verbessert werden. „Es wird im Hause durch eine stets regelmäßigere Ökonomie, durch Verbesserung der bereits sehr guten Viehwirtschaft, des mehr und mehr angebauten Gartens, der Bier- und Essigbrauerei, des eigenen Lichtziehens und Seifekochens zum Bedarf der Anstalt, sowohl auf Ersparung als auch auf Vermehrung der Einnahme Bedacht genommen; allein, alles dieses reicht noch nicht hin um den möglichsten Grad der Vollkommenheit zu erreichen,"141 Die wünschenswerte Verbesserung der finanziellen Ausstattung der Charite sei durch ein großmütiges Geschenk des Königs gerade erfolgt. Durch Kabinettsordre vom 18. April 1798 setzte Friedrich Wilhelm III. fest, daß die Einkünfte der ihm zugefallenen Lichtenauschen Besitzungen, die auf etwa jährlich 5000 Taler geschätzt würden, „zur verbesserten Einrichtung in der Char it έ zweckmäßig"142 verwendet werden sollten. Als Antwort auf diesen abwiegelnden Aufsatz Biesters schaltete sich Schleiermachers Kollege, der lutherische Chariti-Prediger Johann Georg Wilhelm Prahmer (1770—1812) in die öffentliche Diskussion ein. Er leitete seine im August 1798 publizierte anklagende Schrift „Einige Worte über die Berlinische Charite zur Beherzigung aller Menschenfreunde" (Berlin 1798) dem König Friedrich Wilhelm III. von Preußen und Königin Luise selbst zu. Prahmer knüpfte seine Schilderung des Charite-Zustandes an den seiner Meinung nach zu affirmativen Aufsatz Biesters an. Vor der Hand bemängelt er drei Urteile Biesters, von denen er fürchtet, sie könnten der Forderung nach der doch so nötigen Verbesserung und Reform der Charite die Dringlichkeit nehmen.143 Biester stelle zum einen die Reinlichkeit bzw. Unsauberkeit des Krankenhauses und Hospitals in einem zu milden Lichte dar; er lasse zum anderen die ungenügende Aufsicht und Unterstützung durch das Armendirektorium, dessen Präsidenten von Scheve er wie Biester 139 140 141 142 143

Biester: Biester: Biester: Biester:

Blätter Blätter Blätter Blätter

2/2,38 2/2,40 2/2,41f 2/2,45

Vgl. Prahmer: Einige Worte 1 — 5; Nachdruck in: Denkwürdigkeiten und Tagesgeschichte der Mark Brandenburg 6 (Berlin Juli—Dezember 1798), 9. Stück (September 1798), S. 1009-1032; hier 1010-1013

XLIV

Einleitung

des

Bandherausgebers

ausdrücklich lobt, nicht deutlich genug hervortreten; er gebe endlich keine ganz korrekten tab ellarisch-statistischen Nachrichten von den Heilerfolgen, indem er die als unheilbar Entlassenen in der Mortalitätsrubrik nicht aufführe. Nach diesen berichtigenden Abgrenzungen gegen Biester schildert Prahmer seine eigenen Erfahrungen mit den Charite-Einrichtungen. „Die Charite ist ihrer Bestimmung nach ein solches Institut, das Kranke aufnimmt, sie gründlich heilet und dann wieder entläßt. Zu dieser gründlichen Cur gehört aber auch Pflege und Wartung, ohne sie kann der Arzt nicht viel ausrichten. — Es fragt sich nun: handelt die Charite dieser ihrer Bestimmung gemäß, oder läßt sie sich manche Fehler in Schulden kommen j*"144 Zur medizinischen Behandlung traut sich Prahmer kein kompetentes Urteil zu. Er regt nur an, den klinischen Unterricht in besondere Räume zu verlegen, damit die nicht betroffenen Patienten nicht in ihrer Ruhe gestört würden oder gar geschockt durch derbe Sätze der Ärzte über Krankheitszustand oder Behandlungsmethode. Sehr ausführlich dagegen befaßt sich Prahmer mit der Pflege und Versorgung der Patienten. In vier Punkten faßt er die von ihm beobachteten Mängel zusammen, die er durchweg für behebbar hält. Erstens rügt Prahmer die schlechte Aufwartung. „Ich will mich nun in eine nähere Auseinandersetzung dieses Mangels an gehöriger Aufwartung, einlassen. Es ist bekannt, daß aus der ärmern Volksklasse unserer Mitmenschen viele aus Mangel an Pflege und Gemächlichkeit krank werden; bei deren Cur daher gute Pflege mehr als Medizin thut. Wenn nun diese Unglücklichen, die aus Dürftigkeit in ihren Wohnungen versäumt wurden, hier auch vernachlässigt werden, was bleibt ihnen übrig als der Tod! Zu den Aufwärtern der Kranken wählt die Oekonomie der Charite gewöhnlich solche Personen, die zur Cur nach der Charite gebracht und daselbst geheilt wurden, nun aber ihres Unvermögens wegen kein weiteres Unterkommen finden können. Es sind daher einige der Pflege und Wartung selbst benöthigt, Epileptische und Gebrechliche finden sich mit unter diesen Aufwärtern, wer in aller Welt wird auch für den monatlichen Sold von 12 Gr., wenn er auf irgend eine andere Weise seinen Unterhalt finden kann, sich zu einem solchen Dienst bequemen? Die Folgen dieser fehlerhaften Einrichtung sind sehr leicht zu berechnen. Was den Betrug der Charite anbetrifft, dessen Herr Biester schon gedenkt, so kann der von keinem Belang seyn — denn eine Anstalt, die dem Arbeiter seinen Lohn so verkürzt darreicht, kann bei dem ihr zugefügten Betrüge keinen beträchtlichen Schaden leiden, aber um desto nachtheiliger wird dieser Betrug für die Kranken seyn. Thatsachen welche ich anführen will, sollen dies hinreichend bestätigen. Vor

144

Prahmer:

Einige Worte 5; Denkwürdigkeiten

6,1013

Historische Einführung

XLV

einigen Tagen beschwerten sich die Männer der äußern Station, daß ihr Aufwärter Fitzner ihnen das Essen zur Hälfte aufspeise, und daß sie ihn mehrmals dabei betroffen hätten. Die Sache wurde untersucht und richtig befunden, der Fitzner wurde, da er sich noch eines andern Fehlers schuldig gemacht hatte, (er hatte nämlich die Kleidungsstücke eines Verstorbenen sich zugeeignet) seines Dienstes entlassen. Er würde gewiß Verzeihung erhalten haben, wenn er jene Kleidungsstücke nicht entwendet hätte, denn wo nimmt man für zwölf Groschen sogleich wieder einen Aufwärter her! Ich will in meiner Erzählung fortfahren. In einer Krankenstube, in welcher zwölf Melancholische sich befanden, war bisher zur Nachtzeit kein Aufwärter, daher man den 13. Mai dieses Jahres, als man des Morgens in die Stube trat, einen Schäfer todt auf der Erde fand, ohne die nähern Ursachen seines Todes angeben zu können. In eben dieser Stube wurde ein Soldat Namens Fahrenholz von seinem melancholischen Nachbar so gemißhandelt, daß er voll Verzweiflung fortlief, sich an einen Baum erhing, jedoch noch zur rechten Zeit abgeschnitten und ins Leben gebracht wurde. Einem andern Melancholischen, dem man nichts als Unruhe zur Last legen konnte, und der daher unter beständiger Aufsicht hätte seyn sollen, legte man Ketten an, die er wüthend abzustreifen suchte, und mit dem Sande sich die verwundete Haut zerrieb. Vorfälle dieser Art können den aufmerksamen Beobachter der Charite sattsam überzeugen, daß Mangel an Aufwartung eben so schädlich sey, als das medizinische Pfuschern. Einem melancholischen Officier, dem vorzüglich hitzige Getränke nachtheilig waren, verhalf sein eigener Aufwärter zu einem Quarte Brantwein, den er gegen taxmäßige Bezahlung aus dem Chariteladen erhielt; der Officier berauschte sich und schlug in der Berauschung die Fenster ein; was that man nun! bestrafte man den Aufwärter, verschloß man den Laden? nein man setzte den Unglücklichen, der seinem Verstände nach ein Kind war, darum weil er nicht männlich gehandelt hatte, auf schlechtere Kost."145 „Ich komme nun zu dem zweiten Hauptfehler, zu dem Mangel an reinlichem und gutem Essen. Bei den Speisen frägt man gern: wer hat sie zubereitet, in welchen Gefäßen sind sie zubereitet, und wie sind sie beschaffen? Es sind in der Charite nebst einer Ausgeberin noch zwei Köchinnen angestellt, die für Officianten und Kranke kochen; ihnen sind verschiedene Küchenmädchen zugesellt, die das übrige besorgen müssen. Diese Küchenmädchen sind nun die liederlichsten Personen, die gewöhnlich zuvor krätzig oder venerisch waren, die auf ihren Leib nicht so viel Sorgfalt verwendeten, daß sie sich in die vor einigen Jahren errichtete Huren-Curkasse einkauften, die daher für den monathlichen Sold von vier Groschen, gewissermaßen zum Zwange dienen müssen. Diese Personen, die der Hurerei und dem lie-

145

Prahmer:

Einige Worte 8-10;

Denkwürdigkeiten

6,1016-1018

XL VI

Einleitung des Bandherausgebers

derlichen Leben ergeben sind, setzen gewöhnlich als Küchenmädchen ihr Geschäft fort, und verwechseln daher oft den Pavillon [Anm.: Pavillon ist eine Benennung der venerischen Stationen.] mit der Küche, und die Küche mit dem Pavillon. Ihre Kleidungsstücke werden auch nicht gewechselt, sondern mit der krätzigen und venerischen Kleidung bereiten sie das Essen zu. Mit dem monathlichen Sold von vier Groschen können sie ihre Bedürfnisse nicht befriedigen, daher sie gewöhnlich von den zubereiteten Speisen etwas entwenden, und da sie es außer dem Hause nicht gut unterbringen können, es an die Kranken verkaufen. So hatte noch vor kurzem eine ganze Station von kranken Weibern, denen von den Aerzten der Genuß des Schweinfleisches untersagt worden war, aus großem Gelüst zu dieser Speise, von eben diesen Küchenmädchen Schweinbraten, den sie von dem Officiantentisch genommen hatten, gekauft, und durch eine unmäßige Mahlzeit mit einemmal die sorgfältigen Bemühungen der Aerzte vernichtet. Wer kann unter diesen Umständen die polizeiliche Einrichtung der Charite zweckmäßig finden? Doch ich will in meiner Erzählung fortfahren. Die Speisen werden in großen eisernen Kesseln zubereitet, die bekanntlich das Ueble haben, daß sie den Speisen, vorzüglich den Graupen, eine bläuliche Farbe geben. Auf den Kranken macht alles einen lebhaften Eindruck, folglich auch der üble Anblick der Speisen; er wird daher entweder gar nicht, oder mit Widerwillen essen. Alles dies hätte dem Herrn Biester bei einer genauen Untersuchung aufstoßen müssen. Esfrägt sich nun, wie ist das Essen beschaffen? wie die Zubereitung ? Man kauft Fleisch und Viktualien zu einem einmal festgesetzten Preis ein, von dem man hartnäckig nicht abgeht; nun ist es aber bekannt, daß ζ. E. der Preis der Butter zu gewissen Jahreszeiten steigt und fällt, da indessen hierin nichts abgeändert wird, so ist die Folge davon, daß wir schmierige Butter, selbst im Monath Mai haben. Doch um mich nicht in eine umständliche Auseinandersetzung des schlechten Essens einzulassen, will ich nur das gedenken, was meine Herren Collegen, die Herren Schleiermacher, Bounes, Boller und der nach Potsdam versetzte Herr Krüger in Hinsicht des Essens mit mir gethan haben. Wir beschwerten uns gemeinschaftlich und zwar schriftlich bei der Administration der Chariti, über die Suppen von altem Fett, über das harte Fleisch und über die alte mit Salz durchknetete Butter —; des felsenharten Käses haben wir nicht gedacht, welches ich denn hiermit thun und bemerken will, daß derselbe nicht zerschnitten, sondern zersprengt werden muß. Bei einer gewissen Gelegenheit habe ich dies schon Einem Hochpreißl. Oberkonsistorio geklagt, und meine Leser dürfen um so weniger an der Richtigkeit des Gesagten zweifeln. Wenn man nun den Officianten schlechte Speisen darreichet, was wird nicht erst an den armen Kranken geschehen!! So erhalten die alten Hospitaliten, die von unserer Anstalt eben wie Kranke verpflegt werden, zweimal in der Woche Wurst; wenn man ihnen doch dafür etwas anders darreichen wollte. Bei der warmen Witterung verdirbt sie gar zu leicht, wie denn vor einem Jahre

Historische Einführung

XLVII

300 solcher Würste den Hunden vorgeworfen werden mußten. Eben diese Speisen erhalten auch die Schwangern, ich kann unmöglich glauben, daß dies eine angemessene Kost für sie seyn sollte. Des sauern Bieres will ich gar nicht einmal gedenken, sondern sogleich zu dem Dritten Hauptfehler, zu dem Mangel an hinreichender reinlicher Wäsche, kommen. Ein jeder meiner Leser wird wissen, wie viel Reinigung in Krankheiten werth ist, und wie viel auf gute Wäsche ankömmt. [. . .] Zur Besorgung der Wäsche sind eine Pletterei und verschiedene Wäschermädchen angesetzt, wovon die mehresten auch nur einen monatlichen Sold von 4 Gr. haben, was wird man von diesen Personen erwarten können ? Wie oft ist es nicht der Fall gewesen, daß die Wäsche, welche den Kranken zugehörte, ihnen entwendet und nicht wieder ersetzt worden ist. Es sollte indessen kein Kranker seine Wäsche waschen lassen, dieselbe kann voller Ungeziefer seyn und die andere anstecken, sondern die Charite müßte einem jeden Kranken, sobald er in das Haus träte, mit der benöthigten Wäsche versehen; nun ist es aber sehr oft der Fall gewesen, daß auf einer Krankenstube, wo 20 und mehrere Kranke waren, nur etwa 15 Hemden ausgetheilt wurden, die übrigen sich also mit der schmutzigen Wäsche behelfen mußten; wieviel Schaden dadurch gestiftet ist, können die Aerzte leider bestätigen. Nimmt man nun die schlechte Wäsche dazu, erblickt man, nach geschehener Reinigung, noch die Kräzmaterie darin, so kann man platterdings in das Lob des Herrn Biester nicht einstimmen; sondern man muß sehnlichst wünschen, daß es besser damit werde. Wie will aber auch die Reinigung besser seyn, man nimmt ja (wie ein jeder meiner Leser sich durch eigenes Anschauen davon überzeugen kann, wenn er unsere Anstalt besuchet) die allergröbste Sackleinewand dazu, die nun durch das in dem einen Flügel überhand genommene Ungeziefer von Flöhen, Läusen und Wanzen, so verunreiniget wird, daß sie kaum zu reinigen ist. Ja in dem Hospitale ist das Ungeziefer in solcher Menge, daß viele Personen nicht anders, als durch das Ausbrennen, davon gereinigt werden können! Es kann sich ein jeder meiner Leser von diesen Dingen hinreichend überzeugen, wenn er sich allenthalben in unserer Anstalt herum führen läßt, und mit eigenen Augen sieht. Man wird indeß fragen, woher die große Unreinlichkeit bei den Hospitaliten komme? Ich antworte: von der schlechten Wäsche und von der zerlumpten Kleidung, in der diese Menschen umher gehen. Vormals war es gebräuchlich, die von den Verstorbenen hinterlassenen Kleidungsstücken unter sie zu vertheilen [Anm.: Diese Einrichtung war fehlerhaft, man konnte leicht jemanden eine Krankheit mittheilen.], bei einer verbesserten Oekonomie [Anm.: Das Versteigern sollte nicht eher geschehen, als bis die Aerzte Erlaubniß dazu gegeben hätten. Es ist ja auch ein Polizeigesetz darüber vorhanden, warum soll die Charite nicht ganz vorzüglich demselben unterworfen seyn?] versteigert man diese Kleidungsstücken öffentlich, und es ist nicht zu läugnen, daß dafür ein Be-

XLVIII

Einleitung des

Bandherausgebers

trächtliches einkömmt; aber daß man diese alten Leute so zerlumpt einher gehen, und dadurch das Ungeziefer so überhand nehmen läßt, das ist nicht zu billigen. Gegenwärtig sind diese armen Leute durch das schwarze Tuch, welches bei den Leichenzügen gebraucht worden ist, bedeckt und bekleidet worden. Zu dem Mangel an reinlicher Wasche rechne ich nun auch den Mangel an reinlicher Charpie. Wie oft sind in den krätzigen Hemden noch Flecken gewesen, die demungeachtet aus Mangel genommen, und den Kranken in die Wunden gelegt werden mußten! Doch ich will mich hiebei begnügen, und zu dem vierten Hauptfehler, zu dem Mangel an langsamer, und zum Theil auch verkürzter Darreichung, der der Oekonomie von den Aerzten abgeforderten Sachen, kommen. Unter gewissen Umständen ist schleunige Hülfe das einzige Rettungsmittel des Kranken, sie zu einer Zeit verweigern, wo so viel darauf ankömmt, oder sie zu spät leisten, heißt sie ganz entziehen. In der Charite ist dies häufig der Fall gewesen. Schon in dem Monat December des vorigen Jahres verlangte der Herr Geheime Rath Seile, daß die grünen wollenen Decken, mit welchen die Krätzigen bedeckt wurden, mit leinenen Ueberzügen oder Laken versehen werden möchten, damit die Krätzmaterie sich nicht in die wollenen Tücher einfressen, sich dadurch weiter verbreiten, und diejenigen, die damit bedeckt wurden, anstecken möchte. Nichts desto weniger wurden diese Decken nicht sogleich angeschafft. Nach vielem Erinnern wurden zwar endlich einige angefertigt, aber selbst heute sind noch nicht alle damit bedeckt. Dies hätte dem Herrn Biester nicht entgehen sollen. Doch ich fahre in meiner Erzählung fort. Es ist schon mehrmals von den Aerzten eine Matrazze für die auf Leben und Tod Operirten verlangt, aber noch nicht dargereicht worden. Man darf kein Wundarzt seyn, um einsehen zu können, daß eine jegliche Bewegung dem Operirten gefährlich werden kann, und daß die Lage auf dem Strohsacke die aller unbequemste und gefährlichste ist. Liegt nun nicht in dieser langsamen und zum Theil verweigerten Darreichung ein großer Mangel? Doch ich will noch mehrere Beweise davon liefern. Eine ähnliche Bewandniß hat es mit der Heitzung der Stuben, sie geschieht nach dem Datum, entweder ein- oder zweimal; allein dies ist ein großer Fehler. Den Grad der Wärme kann der Arzt nur allein, nicht aber der Datum richtig angeben. Die Folgen davon sind, daß die Kranken Mangel an Wärme leiden, und daß erst nach erfolgten Beschwerden bei den Aerzten, und nach von diesen bei der Oekonomie darüber geführten Klagen dem Uebel abgeholfen wird. Meine Geschäfte führten mich an einem frühen Morgen zu den Kranken; ich fand den Arzt in der Krankenstube, und hörte ihn über diese fehlerhafte Einrichtung die bittersten Klagen führen, ja er sagte bei dem Weggehen, daß er einen von den schlechten Patienten schwerlich durchbringen würde, weil er sich sehr erkältet habe, so daß alle Hülfe nun zu spät kommen müßte. Zu eben dieser Zeit wurde das Treib-

Historische Einführung

XLIX

haus sehr sorgfältig geheitzt! Man sollte doch nicht die Aufmerksamkeit von den Menschen ab, und auf die Pflanzen lenken. Eine ähnliche Bewandniß hat es auch mit den Dingen die etwas verkürzt dargereicht werden. Es war sonst üblich, den gefährlichen Kranken zu ihrer Erquickung Citronen zu reichen, bei einer verbesserten Oekonomie, zu welcher der vormalige Stadtpräsident Herr von Eisenhart den Grund gelegt, hat man dafür die Essigsäure substituirt. Allein Essig wird nie so erquicken als eine ins Wasser gelegte Citronenscheibe. Es ist wahr, die Viehzucht ist seit dieser Zeit etwas verbessert, allein daß man dazu die Citronen der Kranken, und das an Festtagen übliche dritte Gericht der Officianten genommen hat, scheint mir nicht recht billig und zweckmäßig zu seyn; diese Sparsamkeit nenne ich, und ich glaube meine Leser werden es auch thun, eine übel angebrachte Sparsamkeit, wohin ich denn auch die Gewohnheit des Armendirektoriums rechne, daß sie die Schwangern, die sich zur Verpflegung und Entbindung melden, statt sie sogleich nach der Charite zu schicken, mit einem monathlichen Armengelde von 16 Gr. entlassen, woraus denn mancher Nachtheil entspringt. Diese Personen warten demnach das Aeußerste ab, und laufen Gefahr, auf dem Wege nach der Charite entbunden zu werden. Der wohlthätigen Einrichtung dieses Charite-Hauses ist dies ganz zuwider; denn solche Personen sollen hier sorgfältig verpflegt werden, damit sie den jungen Aerzten zum Unterricht dienen, und diese von einer Zeit zur andern das Benöthigte an ihnen erlernen. Dieser Zweck kann aber auf die Weise gar nicht erreicht werden. Ich rechne zu dem Mangel an Darreichung des Benöthigten auch den Mangel an Erleuchtung in unserm Institute. In einer Anstalt, wo der Arzt zur Nachtzeit zu den Kranken gerufen wird, und die Kranken auf die Gemächer gehen müssen, muß keiner Gefahr laufen, in der Dunkelheit Schaden zu nehmen; nun ist es aber leider bekannt, daß die Lampen um die zehnte Stunde flimmern, und bald darauf ganz verlöschen,"146 Zum Schluß geht Prahmer noch auf die von Biester erwähnten Verbesserungen in der Ökonomie und Ausstattung der Chariti ein; er findet sie zumeist unzureichend oder fehl am Platze. In seinem wohl im September 1798 erschienenen Aufsatz „Nachtrag zu dem Aufsatze über die Charite"147 stellt Biester in doppelter Frontstellung gegen Prahmer und Falk fest, daß einerseits keiner der sachlichen Vorwürfe Falks gegen die Charite durch Prahmer bestätigt worden sei und daß andererseits Prahmers tadelnd-kritische Bemerkungen gegen Biester nur von dessen ungenauer Lektüre des Biesterschen Aufsatzes Zeugnis ablegten, weil Prahmer einiges überlesen und anderes fälschlicherweise hineingelesen habe. Biester wehrt sich gegen den Vorwurf, er habe den Zustand der Cha146 147

Prahmer: Einige Worte 11-20; Denkwürdigkeiten 6,1019-1028 Biester: Nachtrag zu dem Aufsatz über die Charite, in: Berlinische Blätter 2 (Berlin 1798), 2. Vierteljahr (April-Juni), S. 397-410

L

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rite (besonders deren Reinlichkeit) zu rosig gemalt und habe durch sein reichlich gespendetes Lob, das für das Armendirektorium entlastend wirke, die notwendigen Verbesserungen blockiert. Der Prahmerschen Feststellung, seine tabellarischen Nachrichten über die Mortalitätsrate seien nicht korrekt, begegnet er mit dem Hinweis, daß die von Prahmer beigebrachte Unterscheidung zwischen den geheilt Entlassenen und den als unheilbar Entlassenen in der amtlichen Statistik nicht als eigener Sachverhalt aufgeführt sei und von ihm deshalb auch nicht habe berücksichtigt werden können. Er geht auch die einzelnen tadelnden Zwischenbemerkungen durch, die Prahmer in seine Schilderung der Charite und in seine Beurteilung der schon vorgenommenen Verbesserungen eingestreut hat, und findet sie durchweg unbegründet. Biesters im Ton moderater Aufsatz schließt mit der Aussicht auf eine amtliche Untersuchung der Charite. Durch die literarischen Auseinandersetzungen veranlaßt, setzte nämlich Friedrich Wilhelm III. von Preußen im September 1798 eine Untersuchungskommission ein.148 Ihr Bericht und ihre Änderungsvorschläge führten zu verschiedenen Verbesserungen, u. a. zur königlichen Anordnung, Lazarett (Krankenhaus) und Hospital (Altenheim) zu trennen. Dem Hospital wurde ein leerstehendes Haus des Tabakmonopols in Neukölln nahe der Waisenhausbrücke an der Spree zugewiesen,149 Die Charite war ab 1799 allein Krankenhaus und Lehrinstitut, nun auch unter ärtztlichem Direktorium.'150 10. Versuch einer Theorie des geselligen Betragens Im Januar- und im Februar-Heft 1799 der Zeitschrift „Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacksdie von Friedrich Eberhard Ram148

149

lso

Königliche Kabinettsordre vom 4. September 1798 an den Oberkonsistorial-Präsidenten von Scheve, in: Neue Berlinische Monatsschrift 1 (Berlin/Stettin 1799), Bd 1 (Januar—Juni), S. 7-9 Königliche Kabinettsordre vom 27. Oktober 1798 an den Oberkonsistorial-Präsidenten von Scheve und vom 19. November 1798 an das Armendirektorium, in: Neue Berlinische Monatsschrift 1 (Berlin/Stettin 1799), Bd 1 (Januar—Juni), S. 9—13 (besonders 10) und 15-17 Zu dem Fortgang der literarischen Auseinandersetzung vgl. Prahmer: Sendschreiben an die Herrn Armendeputirten, Berlin 1798; — Merkel: Wohlthätigkeit der Publicität oder die Berliner Charite, in: Der Genius der Zeit 16 (Altona Januar—April 1799), S. 99—110 (Nachdruck Nendeln 1972) und in: Die Geißel 3 (Mainz 1799), Heft 2 (Februar 1799), S. 155-166 (Nachdruck Nendeln 1972); — Biester: Nachricht zu den neuesten Verfügungen über die Charite, in: Neue Berlinische Monastsschrift 1 (Berlin/Stettin 1799), Bd 1 (Januar—Juni), S. 7—31; — Falk: Denkwürdigkeiten der Berliner Charite aufs Jahr 1797 in alphabetischer Ordnung; nebst einem Gegenstück zu Hr Biesters Darstellung aus Akten, Weimar 1799; — Biester: Ueber ein paar neue Aufsätze die Charite betreffend, in: Neue Berlinische Monatsschrift 1 (Berlin/Stettin 1799), Bd 1 (Januar-Juni), S. 437-470

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bach und Ignatius Aurelius Feßler im Berliner Verlag Friedrich Maurer herausgegeben wurde, publizierte Schleiermacher auf den Seiten 48—66 und 111—123 anonym zwei Abschnitte seiner Abhandlung „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens". Die angekündigte Fortsetzung unterblieb. Diese Schrift Schleiermachers, die in zwei Zeitschriftenheften von Oktavformat (11,2 cm Breite und 20 cm Höhe; normalerweise 30 Zeilen pro Seite) erschien und an der er wohl seit Herbst 1798 gearbeitet hatte, ist also ein Fragment. Auf Grund des Textbestandes ist es allerdings möglich, den durchgeführten fragmentarischen Gedankengang in die Konturen des geplanten Ganzen einzuzeichnen. In Anlehnung an die drei Grundsätze in Fichtes „Grundlage der gesummten Wissenschaftslehre" (Jena/Leipzig 1794/95) entwickelt Schleiermacher aus dem allgemeinen Begriff der Gesellschaft und dem konkreten der individualisierten (mannigfaltigen) Geselligkeit drei Gesetze (das formelle, materielle und quantitative) für eine angemessene Tätigkeit im Zustand freier Geselligkeit. Die Gesellschaft nämlich „wird zuerst als Form betrachtet, und liefert so das formelle Gesetz der geselligen Thätigkeit: Alles soll Wechselwirkung seyn; dann als Stoff, und so giebt sie das materielle: Alle sollten zu einem freien Gedankenspiel angeregt werden durch die Mittheilung des meinigen."151 Dieses allgemeine Wesen der Geselligkeit wird in der Wirklichkeit auf eine bestimmte Ausprägung, Darstellung und Gestalt hin konkretisiert und individualisiert, weil es unendlich verschiedene Mitteilungs- und Anregungsarten gebe, in denen sich die Wechselwirkung realisiere. Das gehe nur durch Teilung (Quantifizierung) der Gesamtsphäre geselliger Tätigkeit. Dieses quantitative Gesetz „gründet sich auf die Beschränktheit derjenigen, die sich gegen einander in dem Zustande der freien Geselligkeit befinden wollen, und lautet so: deine gesellige Thätigkeit soll sich immer innerhalb der Schranken halten, in denen allein eine bestimmte Gesellschaft als ein Ganzes beste152 hen kann." Schleiermacher erörtert ausführlich dieses quantitative Gesetz als das erste Gesetz aller freien Geselligkeit, weil es „die Bedingung der Anwendbarkeit jener beiden ist"153. Diese Erörterungen des quantitativen Gesetzes machen den „ersten Theil"154 der gesamten Abhandlung aus. Über diesen ersten Teil ist Schleiermacher nicht hinausgekommen: das formelle und das materielle Gesetz der Geselligkeit hat er nicht mehr entfaltet. Für die nicht mehr zustande gekommene Fortsetzung der Schleiermacherschen Abhandlung finden sich im ersten Gedanken-Heft Spuren einer fortgeschrittenen Planung. Schleiermacher sichtete nämlich im Stadium der 151 152 153 154

Unten 170,11-15 Unten 171,3-8 Unten 170,38 Unten 182,18f

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Einleitung

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Bandherausgebers

Materialsammlung seine Aphorismen und kennzeichnete durch den Randvermerk „zu III." die Gedanken, die er im dritten Teil verarbeiten wollte: Nr. 92.95.98.103.108f. 116f. Schleiermach er wollte dort das materielle Gesetz freier Geselligkeit durch den Gegensatz von wesenhaftem und scheinhaftem Wohlbehagen bzw. von Konventionalitat und freier Humanität, Buchstaben und Geist auslegen. Schleiermacher hat nach dieser ersten Sichtung offensichtlich weitere Gedankensplitter zu seiner Geselligkeitsabhandlung gesammelt, denn es finden sich unter den höheren Nummern des ersten Gedanken-Heftes Notizen zum dritten Teil (zum materiellen Gesetz der Geselligkeit: der anregenden Mitteilung), die keinen entsprechenden Randvermerk tragen. So lautet ζ. B. der Aphorismus Nr. 171: „Jede rechte Mittheilung ist ein Zurüktreiben des Eignen nach Innen, und bei jedem Ansprechen giebt man dem Andern ein Gefühl seiner Grenzen. Dies sind die Hauptpunkte im dritten Gesez. Hieher auch die Antithese zwischen Geist und Buchstaben."155 Aus den Skizzen und Andeutungen Schleiermachers zum dritten Teil läßt sich schließen, daß der zweite Teil das formelle Gesetz der Geselligkeit zum Gegenstand haben sollte. Über diese beiden nicht ausgeführten Teile lassen sich auf Grund der vorhandenen Gedankensplitter nur Vermutungen anstellen. Die im ersten Gedanken-Heft vorliegenden Notizen Schleiermachers zu seiner Geselligkeitsabhandlung dürften höchstens bis in den Februar 1799 reichen, denn Aphorismus Nr. 190 ist noch in den im Februarstück erschienenen Beitrag eingegangen.156 Daß Schleiermacher allerdings den Plan einer Fortsetzung nicht schon im Februar 1799 fallen ließ und zugleich warum die Weiterarbeit ins Stocken geriet, läßt sich beides aus einer Briefstelle an Henriette Herz herauslesen: „Ich habe einen Dialog in Piaton gelesen, ich habe ein kleines Stück Religion gemacht, ich habe Briefe geschrieben, kurz ich habe Alles versucht, außer die gute Lebensart — und was soll ich mit dieser ohne Gesellschaft?"157 Dieses Briefzeugnis vom 15. Februar 1799 muß, anders als es Dilthey getan hat158, nicht auf die Abhandlung, sondern auf die Fortsetzung der Abhandlung gedeutet werden. Als das gegenüber der Arbeitsbelastung durch die „Reden" wichtigere Motiv für die Verzögerung nennt Schleiermacher die Einsamkeit. Von allem geselligem Umgang weitgehend abgeschnitten, fiel es ihm schwer, sich über die Geselligkeit engagiert zu verbreiten. Und diese persönliche Einsamkeit Schleiermachers galt für die gesamte Zeit seines Aufenthalts in Potsdam, d. h. bis in den Mai 1799. Damit muß aber nicht gesagt sein, daß diese persönliche Einschränkung wirklich das Hauptmotiv für den Abbruch war. Vermutlich er155 156 157 158

Unten 38,18-39,2 Vgl. unten 43,10 und Briefe 1,196 Vgl. Denkmale 89

184,15-19

Historische

LIII

Einführung

lahmte im Laufe der Monate sein Interesse einfach; seine anderen Unternehmungen nahmen ihn so in Anspruch, daß er keine Lust verspürte, ein unterbrochenes Vorhaben noch einmal aufzuwärmen. Trotz der zahlreichen Vorarbeiten und Vorüberlegungen im ersten Gedanken-Heft (vgl. Nr. 77. 84. 90. 92. 95-106. 108- 110. 112b-120. 136f. 142-151. 156-169. 171. 188-191. 193f) und verschiedener brieflicher Anspielungen ist diese fragmentarische Abhandlung erst spät als Schleiermacher zugehörig erkannt worden. In die „Sämmtlichen Werke" ist sie nicht aufgenommen. Dilthey wies zwar in den „Denkmalen" in einem eigenen Abschnitt auf die verschiedenen „Aufzeichnungen für eine Schrift über die gute Lebensart"159 hin. Doch er ließ sich auf eine falsche Fährte führen: die von ihm wahrgenommenen „Aufzeichnungen reichen bis in das Jahr 1799. Die Reden über Religion verdrängten offenbar diesen kleineren Plan einer Theorie der Geselligkeit . "160 Erst im Rahmen der von Otto Braun und Johannes Bauer veranstalteten Auswahlausgabe161 wurde Schleiermachers Abhandlung über die Geselligkeit von Hermann Nohl beschrieben162 und publiziert163.

11. Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern Schleiermacher veröffentlichte 1799 beim Berliner Verleger Johann Friedrich Unger anonym seine Schrift,, Uber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern". Diese Druckschrift hat ein Oktavformat von 11,5 cm Breite und 19,7 cm Höhe. Sie umfaßt nach unpaginiertem Titelblatt und unpaginiertem Inhaltsverzeichnis 312 Seiten Text, denen noch eine unpaginierte Seite mit einem Druckfehlerverzeichnis folgt. Die 16 Seiten starken Druckbogen sind durch Großbuchstaben (A bis U) gezählt; die Seite hat normalerweise 27 Zeilen. Über die Entstehungsgeschichte der „Reden" sind wir durch eine Vielzahl von Briefzeugnissen unterrichtet. Nur der Anfang liegt im Dunkeln. Den Plan muß Schleiermacher wohl im Spätsommer 1798 gefaßt haben. In seinem ersten Gedanken-Heft findet sich eine Gruppe von Eintragungen (Nr. 85 —89. 112a. 121. 153—155), die Schleiermacher wohl im Hinblick auf die Konzeption der „Reden" notiert hat. Allerdings begegnet in den „Reden" auch eine Gedankenformulierung, die schon im Aphorismus Nr. 5

Denkmale 89 Denkmale 89 161 Werke. Auswahl in 4 Bänden, 1. Aufl., Leipzig 1910-1913; (Nachdruck Aalen 1967) 162 Vgi werke, Bd 2, Leipzig 1913, XXIII-XXX Vgl. Werke 2,1-31 159 160

2. Aufl., Leipzig

1927-1928

LIV

Einleitung des

Bandherausgebers

steht. Aber das bedeutet nicht, daß Schleiermacher sich bereits im Herbst 1796 mit dem Plan zu den „Reden" getragen hätte, sondern Nr. 5 ist wohl später nur aus sachlichen Gründen von ihm aufgegriffen und verarbeitet worden. Die Gespräche mit Friedrich Schlegel und dessen religiöse Interessen dürften für Schleiermacher ein wichtiger Anstoß gewesen sein, seine auf die Neuformulierung der Ethik gehenden Pläne und Vorüberlegungen zunächst zurückzustellen und statt dessen den Geist der neuen Philosophie im Gebiet der Religion fruchtbar werden zu lassen.164 Schon in den Athenaeums-Fragmenten hatte sich Friedrich Schlegel zu religiösen und kirchlichtheologischen Fragen geäußert, und zwar in einem Sinne, den Schleiermacher schwerlich völlig teilte. Zudem forderten diese Ansätze einer Neuformulierung der Religionsidee die Präzisierung und Durchbildung geradezu heraus. Die romantische Weltsicht mußte ihre Deutungskraft auch und gerade an der Religionsthematik erweisen. Hier wurden zudem Schleiermachers eigenste Lebensinteressen berührt. Der geistige Umbruch, den er persönlich erlebt und den er als epochal beurteilt hatte, mußte sich auch in der Auffassung und Darstellung der religiösen Erfahrungen zur Geltung bringen. Der Herbst 1798 sah Schleiermacher mit dem Aufsatz zur Geselligkeit und Lebensart beschäftigt, aber im Winter 1798/99 trat die Religionsthematik in den Vordergrund. Befördert wurden diese Interessenverlagerung und dieser Arbeitswechsel durch den Ortswechsel von Berlin nach Potsdam. Ab Mitte Februar 1799 mußte Schleiermacher vertretungsweise für den pensionierten Johann Peter Bamberger bis zum Amtsantritt des Nachfolgers Johann Karl Pischon (1764—1805) die Hofpredigerstelle in Potsdam versehen. 165 Die Einsamkeit ließ auch die Quelle seiner Gedanken zur Geselligkeit versiegen. In Potsdam arbeitete er hauptsächlich an den „Reden". Das bezeugt gleich der erste Brief vom 15. Februar an Henriette Herz: „Ich habe einen Dialog in Piaton gelesen, ich habe ein kleines Stück Religion gemacht, ich habe Briefe geschrieben, kurz ich habe Alles versucht, außer die gute Lebensart — und was soll ich mit dieser ohne Gesellschaft f aber es geht Alles nur sehr mittelmäßig."166 Aus seinem dichten (fast täglichen) Briefwechsel mit Henriette Herz und Friedrich Schlegel läßt sich nicht nur der Fortgang seiner Arbeit erheben, sondern hier finden sich auch erste Beurteilungen seiner Ausarbeitungen, die ihn teilweise zu deren Revision oder Modifikation nötigten. Während Schleiermacher noch an seinen „Reden" schrieb, ließ in Berlin der Verleger Johann Friedrich Unger, der ein Bogenhonorar von 5 Talern mit Schleiermacher vereinbart hatte161, schon den Fahnensatz herstellen. Die 164 165 166 167

Vgl. Briefe 4,51 Vgl. Briefe l,210f Briefe 1,196 Vgl. Briefe 3,351

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Einführung

LV

„Reden" sollten nämlich ursprünglich zur Ostermesse 1799 erscheinend Doch der Druck verzögerte sich schließlich so, daß Schleiermacher im Sommer nur einige Privatexemplare vorab verschicken konnte.169 Besondere Sorgen machte sich Schleiermacher bereits am 22. Februar wegen der Zensur, da er fürchtete, seine „Reden" könnten als atheistisch unterdrückt werden,,170 Diese Befürchtung bestätigte sich nicht: die „Reden"passierten die Zensur. Ebenso war seine Annahme falsch, Friedrich Samuel Gottfried Sack, der bereits die erste Rede teilweise gelesen hattem, sei für die gesam168 Ygi Schleiermachers Brief vom 22. Februar 1799 aus Potsdam an den Verleger und Buchhändler Johann Karl Philipp Spener: „Ich weiß nicht ob Sie überhört haben, was ich Ihnen sagte als ich die Ehre hatte bei Ihnen zu sein, daß ich vor der Ostermesse nicht wieder dazu kommen könne: ich bin noch jezt mit einem kleinen Büchlein beschäftigt dessen Vollendung aufzuschieben ich nicht mehr in meiner Gewalt habe und womit ich bis dicht an die Messe zu thun haben werde." (Biblioteka Jagiellonska, Krakow, Sammlung Varnhagen) 169

170

171

Am 11. Apnl hoffte Schleiermachers Onkel Stubenrauch, „nähere Auskunft" über seine „literarischen Beschäftigungen" (SN 397, Bl. 86v) zu erhalten. Und erfuhr zwei Wochen später fort: „In der That spannen Sie aber doch auf die von Ihnen herauszugebende Schrift — meine Neugier etwas zu sehr, denn heute da ich dieses schreibe den 25ten sind nun schon wieder 2 Posten vergebens erwartet." (SN 397, Bl. 87r) Im Juli meldete Stubenrauch dann den Erhalt der „Reden": „Recht sehr danke ich Ihnen, daß sie mir die schon lange erwartete Schrift nun endlich geschickt und auch mit ihren Eigenthümlichkeiten mich vorläufig in etwas bekannt gemacht haben. Gewaltig ist meine Neugier diesmal auf die Probe gestellt, da ich dies Buch — ohne es öffnen und ansehn zu können — ganzer 24 Stunden versiegelt bey mir behalten mußte, da ich es Montags erst auf die Accise schicken konnte. Jetzt kann ich mich über den Inhalt noch nicht näher einlaßen, da ich bis jetzt nur noch die erste Rede oder die Apologie habe durchlesen können, denn sie erfordert ganze Aufmerksamkeit. aber schon daraus bin ich in den Stand gesetzt dem Urtheil ihrer dortigen Freunde aus Ueberzeugung beyzutreten, daß sie sehr gut geschrieben und nach dem, was Sie mir von der Zeit, in welcher sie sie abgefaßt haben, muß ich Ihnen auch allerdings das Zeugniß geben, daß Sie sehr fleißig dabey gewesen; aber das ist wohl allerdings vorauszusetzen, daß Sie mit dem Plan und den Ansichten und Ideen schon zur Richtigkeit gekomen waren, ehe Sie anfingen, sie wirklich schriftlich abzufassen." (SN397, Bl. 92r) Am 13. August schließlich berichtete er: „Gern hätte ich mich auch mit Ihnen über ihre letzt zugesandte Schrift: Ueber die Religion unterhalten, aber ich habe mich noch nicht so recht hineinstudiren können. Das was ich davon verstanden, hat mir sehr wohl gefallen. Aber manches erfordert auch ein sorgfältiges Wiederlesen und Ueberdenken — und dann bleiben mir doch manche Ausdrücke oder Vorstellungsarten ζ. E. das Universum „anschauen — ergreifen — sich von ihm ergreifen laßen" — noch dunkel — welches, wie ich wohl sehe, daher rühren mag daß ich nicht mit den Fortschritten des ZeitAlters Schritt gehalten." (SN 397, Bl. 94r) Vgl. dazu: „Das aber ist gewiß, daß Sack die Religion zur Censur bekommen hat. Die erste Rede kann ihm wohl gefallen, aber wie wird's mit dem Ende der zweiten werdenf ich fürchte nur, er streicht, denn als er vom Fichte mit mir sprach, sagte er, er sei sehr gegen die Confiskation eines atheistischen Buches, aber, wenn er es zur Censur bekäme, würde er ihm doch vielleicht das Imprimatur versagen, und dies wird ihm wohl so gut als atheistisch vorkommen. Ja es ist sehr unangenehm, aber was ist zu machen! die folgenden Reden werden ihm wohl wieder gefallen. Bekennen will ich mich aber schlechterdings dazu nicht gegen ihn; was würde das für Erörterungen geben und ich könnte ihm doch Vieles nicht verständlich machen." (Briefe 1,197) Außerdem Briefe 1,201 Vgl. Briefe 3,276

Einleitung des Bandherausgebers

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ten „Reden" der Zensor. Friedrich Schlegel konnte ihm einige Tage später berichten, die Zensur liege beim Oberkonsistorialpräsidenten von Scheven2 Die „Reden", deren Wachstum mit anderen literarischen Unternehmungen verschränkt ist (Aufsatz zur Geselligkeit, Siedlungsgeschichte Neuhollands), waren bei Schleiermachers Wechsel nach Potsdam bis in die zweite Rede hinein gediehen. Sein Brief vom 15. Februar an Henriette Herz endigt mit der Bitte: „ Vergessen Sie nicht, mich in jedem Brief um die Religion zu mahnen, damit sie mir nicht in Stocken geräth. Berichten will ich Ihnen treulich, wie weit ich bin, aber Handschrift schicke ich wohl nicht eher, bis ich die zweite Rede zu Ende schicken kann; ich habe bemerkt, daß es der Religion nicht bekommt, wenn ich gar zu kleine Portionen in's Reine schreibe."m Etwa am 20. Februar muß Schleiermacher die zweite Rede vollendet haben, sein Brief vom 22. Februar setzt diese Vollendung bereits voraus. Aber Ende Februar/Anfang März 1799 wartete Friedrich Schlegel „mit Sehnsucht auf den Schluß der zweyten Rede. "174 Nach Erhalt dieses Stückes kommentierte Schlegel auch gleich dessen Inhalt und literarische Qualitäten: „Am Schluß der zweyten Rede hat mir die Polemik gegen Kunst, Philosophie und Moral am besten gefallen. Sie hätte ausführlicher seyn dürfen. Etwas mager dagegen kam mir Dein Gott vor. Ich hoffe Du wirst an dieser Stelle in der Folge schon tiefer graben wenn es auch nicht in dieser Rede geschieht, damit sich kein Sack an ihnen freuen und überfüllen möge. Das Bischen über die Unsterblichkeit ist beynah ein Abriß wie mein Ionischer Styl. Indessen müßte ich die zweyte Rede noch einmal im Ganzen anschauen, um zu sehn wie sich's macht. Diese Polemik gegen die Unsterblichkeit der Person und des Individuums ist gut, heilsam, aber für den Schluß der wichtigsten Rede nicht neu oder vielmehr nicht eigen genug. Fichte hat wenigstens mündlich sehr oft darüber gegen mich geredet; ich vermuthe daher, daß auch wohl in seinen Schriften Meldung davon seye. Schelling ist voll davon. [. . .] Du scheinst Dich aber in der Religion, der geschriebenen, allgemach sehr concentrisch zu bewegen."115 Nach Vollendung der zweiten Rede geriet Schleiermacher in eine Ideenflaute. Er mußte mit dem Schreiben pausieren, weil ihm die Leitidee für die dritte Rede fehlte. Am 25. Februar schrieb Schleiermacher an Henriette Herz: „Sie sehen, ich sehe alles mit Religion an, aber ich schreibe noch keine, wie wird das werden! die dritte Rede liegt mir noch gar nicht fertig im Kopf, es fehlt mir noch eine Inspiration, und ehe die nicht kommt, kann ich nichts anfangen. So etwas läßt aber lange auf sich warten,"176 So lange 172 173 174 175 176

Vgl. Briefe 3,103 Briefe 1,197 Briefe 3,103 Briefe 3,104f Briefe 1,200

Historische Einführung

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mußte Schleiermacher dann doch nicht warten, denn schon die folgenden Tage sahen ihn wieder an der Arbeit177; am 5. März wollte er die dritte Rede abschließen. Doch er war mit seiner Leistung nicht zufrieden. „Im Ernst aber merke ich, daß hier nach und nach Alles schlechter wird und wenn die folgenden Reden nicht gar erbärmlich werden sollen, so muß ich schon aus Religion um der Religion willen nach Berlin kommen — aus Religion, denn wahrlich, ich will das Universum in Ihnen schauen,"178 Schleiermacher fühlte sich in der zweiten Märzhälfte unter einem drückenden Schaffenszwang, er wollte die ,,Reden" ans Ziel bringen, um wieder „ganz frei athmen und auch einmal wieder nach Berlin kommen"'119 zu können. Doch Friedrich Schlegel mahnte ihn: „Ich beschwöre Dich, Dich ja nicht zu übereilen und Dir Deine volle Bequemlichkeit zu nehmen und zu lassen. Selbst für die äußere Erscheinung der Reden ist dies heilsam, da man es Deinem Styl leicht anmerken könnte, wenn Du ängstlich wirst. [. . .] Die dritte Rede hat mir sehr gut gefallen, auch das Ende, ja dieses vorzüglich. Den Styl finde ich weniger vollendet, wie in den ersten beyden Reden, aber der Inhalt gefällt mir sehr und auch die Subjectivität der Ansicht und der Behandlung. Ich finde in dieser etwas sehr rhetorisches, obgleich es mehr von der unsichtbaren Art ist. Am lautesten wird die Subjectivität in der Stelle gegen die Kunst. Indessen bin ich ganz vollkommen Deiner Meynung, insofern Du doch überhaupt nur vom Zeitalter redest, und Dich überall sichtbar und unsichtbar auf dasselbe beziehst und an dasselbe anschließest. Sonst finde ich in der alten Tragödie allerdings eine große gediegene Masse von Religion; und auch in den älteren modernen, die Du wenig kennst, von Dante bis Cervantes sind viel Mysterien. Aber daß Goethe keine Religion hat und Fichte ziemlich viel, wiewohl sie philosophirt und gebunden ist, sieht sich klar. [. . .] Von den Reden ist schon der fünfte Bogen corrigirt. Wenn Du so schreibst wie das leztemal, so muß es der Setzer lesen können. "18° Am 28. März erwartete Schleiermacher von Henriette Herz die Beurteilung seiner vierten Rede.181 Am 1. April steckte er bereits mitten in seiner Arbeit an der fünften Rede. „Ich habe eine gute Prise gemacht und es fängt

177 178 179 180 181

Vgl. Briefe 1,200 Briefe 1,202 Briefe 3,108 Briefe 3,108f Vgl. dazu:,, Wüßte ich nur erst Ihre und Schlegels Meinung über die vierte Rede, und hätte ich nur erst eine recht genaue Idee davon, wie weit der Druck ist! Ob S. die vierte Rede schon gehabt hat, werde ich wohl morgen erfahren. Sonderbar ist es, daß ich in der ersten und zweiten Rede noch jetzt nichts zu verbessern oder zuzusetzen wüßte (obgleich Schlegel an der zweiten auch noch manches auszusetzen hat), an der dritten und vierten aber schon mancherlei. Ob das gerade ein Beweis ist, daß die ersten beiden vollkommen sind, weiß ich nicht; es ist aber ein Beweis gegen das Machen überhaupt." (Briefe 3,110)

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Einleitung

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Bandherausgebers

an zu dämmern. Sehen Sie, es fehlt mir wieder am Anfang der fünften Rede. Warum sind die Anfänge immer so schwer? es ist, als ob die Ideen auch dem Gravitations=Gesez folgten. Die schweren sammeln sich alle in die Mitte und die leichten verlieren sich so allmälig in dem umgebenden allgemeinen Raum, so daß man vergeblich nach dem äußersten Anfange der Anziehungslinie sucht und am Ende die Grenze dieser Atmosphäre durch einen Machtspruch willkürlich bestimmen muß. Mit dem Schluß scheint es nicht ganz so zu sein; aber warum denn ? den Schluß der fünften Rede habe ich beinahe schon. Die einzelne Rede durfte abbrechen, das Ganze aber muß doch schließen und kann es nicht füglich anders, als mit einer Aussicht ins Unendliche. Nicht so? begegnet mir noch ein Glück heute mit dem Anfange, so schreibe ich es Ihnen noch; es wäre mir außerordentlich lieb, denn mein Kommen nach Berlin künftige Woche beruht fast ausschließend darauf. Es lebe der Thee und die Abendstunde! die, wenn auch kein Gold, doch Gedanken mit sich führt, ich habe wirklich den Anfang."182 Die Kritik von Henriette Herz an seiner vierten Rede nahm Schleiermacher am 4. April freudig auf; er entschloß sich deshalb, sie völlig umzuarbeiten, wenn er die fünfte Rede zum Abschluß gebracht hätte.183 Kranksein quälte ihn und unterbrach kurz seine Arbeit.184 Am 8. April konnte er sich an Aushängebogen der zweiten Rede ergötzen und zugleich seinen Ärger über einige trockene Passagen der fünften Rede feststellen.185 Am 9. April ist er in der fünften Rede deutlich vorangekommen und hat neuen Mut gefaßt.186 Briefe 1,214 Vgl. dazu: „Auch für die Religion ist Hoffnung da und für die vierte Rede, das ist sehr schön. Ich werde aber doch die fünfte zuerst fertig machen, damit diese bald möglichst durch die Censur kommt und dann die vierte ganz umarbeiten; denn in der soll eigentlich mehr hohes sein, als Sie alle darin gefunden haben und das muß an mir liegen. Die Kirche soll eigentlich das Höchste sein, was es menschliches giebt und ich will sie schon noch herausarbeiten." (Briefe 1,214) 184 Vgl. Briefe 1,215 185 Vgl. dazu: „Ich habe deswegen, nachdem ich mich an dem Aushängebogen ergötzt habe, noch ein paarmal die fünfte Rede soweit sie ist durchgelesen und durchgedacht; aber es ist mir keine Inspiration gekommen, wie es besser gemacht werden könnte. Vielleicht kommt es noch; Zeit will ich nicht schonen und Eile soll mich nicht verführen. Die Inspiration ist mir gekommen über dem wiederholten Lesen; aber ist es nicht hart, daß ich mehr als einen gedruckten Bogen, gut den dritten Theil der Rede, halb umarbeiten und ganz umschreiben soll? Ach, und die Messe, an die ich so ehrerbietig glaubte! und was eigentlich das Fundament davon war, mein gegebenes Wort fertig zu werden: wo wird das bleiben? Meine Religion kommt mir vor wie so ein kurzer Cursus der Schriftsteller ei, wie ich mir einmal einen der Weiblichkeit gewünscht habe; es ist alles darin was so vorzufallen pflegt, nun kommt auch noch das Vernichten, was noch gefehlt hatte." (Briefe 3,111 f) 186 ygi dazu: „Ich bin nun mit der fünften Rede glücklich bis an das Schöne, und freue mich auf mein morgendes Stück Arbeit. Wenn ich nur einen heiteren Tag habe! Mein Dithyramb auf Christum soll kein übles Stück werden, hoffe ich. Wenn Sie mir nur das nicht vergessen, daß Sie, was ich so einzeln schicke, in keinem anderen Falle weggeben, als wenn Unger mir 182 183

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Zugleich beschäftigte ihn die Konzeption der Vorrede. Friedrich Schlegel gab ihm dazu durch die Feder Dorothea Veits Ratschläge:,, Was aber die Vorrede betrifft: so meine ich, Verachtung des Publicums wäre hinreichend im Werke selbst; Verachtung des Machens aber wird sich sehr gut machen, nur muß es recht verachtend und gemacht sein. Es muß aber auch eine kleine Rede sein. Schleiermacher soll sich übrigens keine Grillen in den Kopf setzen; in seinem Buche ist alles so recht und so nothwendig wie in der besten Welt. Das meine Ich."187 Am 10.Hl. April schickte Schleiermacher wieder ein „Stück Religion", in dem er „auch etwas sehr unschuldiges"188 an Henriette Herz schrieb, und äußerte sich schon zurückhaltender zur Vorrede: „Die Idee der Vorrede scheint Schlegel zu behagen; Sie haben noch kein Wörtchen darüber gesagt. Sehr liegt sie mir nicht am Herzen und wenn sie mir nicht von selbst kommt, werde ich sie nicht holen — es kann recht gut ohne Vorrede gehen. Doch wie der h. Geist will."189 Nachdem sich Schleiermacher am 12. April noch angelegentlich bei Henriette Herz nach dem Stand der Setzarbeiten und nach ihrem Urteil über seine „Polemik gegen die natürliche Religion"190 erkundigt hatte, konnte er ihr endlich am Montag, den 15. April 1799 beglückt den Abschluß der „Reden" melden. Er begann diesen Brief am 14. April: „O göttliche Faulheit, du bist doch mein wahres Element! denken Sie, es ist gleich Mitternacht und ich bin noch in den letzten Sätzen des Christenthums, und es steht doch, so weit es jetzt ist auf zwei Seiten. Aber ich habe mir auch recht gefallen damit zu spielen, und von allem was ich heute gemacht habe, kann ich sagen daß es sehr gut ist. Das historische im Christenthum werden Sie wohl eben nicht goutiren; aber Sie werden doch sehen, daß es gut ist in seiner Art. Der Schluß ist freilich eine Aussicht ins Unendliche, aber ich werde gar keine Pracht hineinlegen sondern die äußerste Simplicität; denn die Pracht am Ende müßte unendlich sein, und unendliches kann ich nicht machen. Er ist zwar beinahe schon gemacht; aber geschrieben kann er doch nicht mehr werden. Sie sehen es ist nicht mehr möglich mein Wort zu halten und den Strich heute noch zu machen, wenn ich auch eigensinnig sein und nicht vor dem Ende zu Bette gehen wollte. Ich will doch süß schlafen auf meinen Lorbeeren. Wollen Sie das innerste Geheimniß meiner Faulheit wißen? — ich habe nicht einmal an die Grunow geschrieben. Jezt eben, am 15ten des Monats April ist der Strich unter die Religion gemacht, des Morgens ein halb 10 Uhr. Hier haben Sie sie, sie mag nun

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auf den Hacken ist und gleich vor der Censur drucken will! daß er nur nicht so Stücke zur Censur giebt!" (Briefe 3,112f) Briefe 3,110 Briefe 1,216 Briefe 1,215 Briefe 1,216

einzelne

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gehen und sehen was ihr geschehen wird. Eine Vorrede werde ich nicht machen. Meinen Sie nicht, daß sie im nächsten Buch vorkommen wird, was Nikolai schreibt? Schlegel wird sageμ daß die Religion, die Schrift nemlich, am Schluß sich selbst annihilirt, und das ist auch wahr; aber eben das scheint mir größer und besser als alle Verachtung des Machens, die ich in die Vorrede hätte bringen können. Wie es mir gestern Abend gegangen ist, ich alter Narr. Voll der Religion habe ich mich schlafen gelegt und mich anderthalb Stunden im Bett herumgetrieben ohne Schlaf. Es war nicht Erhitzung vom Arbeiten, denn das war sehr langsam ruhig und leicht gegangen, es war eine Anwandlung von Vaterfreuden und Furcht vor dem Tode. Sehen Sie zum erstem Male ist es mir mit einer gewissen Lebhaftigkeit aufgefallen, daß es doch Schade wäre wenn ich diese Nacht stürbe. Darin liegt auch eine Vernichtung der Tagesabtheilung denn offenbar wird die ganze Zeit wo die Religion geworden ist als ein Tag angesehen."191 Über die Aufnahme der „Reden" und ihre erste Beurteilung sind zahlreiche Briefdokumente überliefert. Im Gegensatz zu der starken Beachtung, die sie in Schleiermachers Freundes- und Bekanntenkreis, aber auch bei denjenigen, die der frühromantischen Bewegung wohlwollend gegenüberstanden, fand, wurde von ihr in Rezensionsorganen und anderen Periodika nur wenig Notiz genommen. Der Druck war wohl im Juni 1799 abgeschlossen. Am 4. Juli meldete Schleiermacher nämlich an Henriette Herz als Neuigkeit, daß er „die Exemplare von der Religion nun endlich habe. "192 Am 6. Juli schrieb er dieselbe Nachricht an seinen Freund Brinckmann nach Paris.193 Ebenfalls im Juli bestätigte Schleiermachers Onkel Stubenrauch aus Landsberg an der Warthe den Erhalt und die Lektüre der Schrift.194 In den öffentlichen Buchhandel kamen die „Reden" im September 1799 zur Michaelismesse. Dementsprechend datieren auch die ersten Reaktionen vom September. Friedrich Schlegel berichtete aus Jena an Schleiermacher: „Goethe hat sich mein prächtiges Exemplar geben lassen, und konnte nach dem ersten begierigen Lesen von zwey oder drey Reden gegen Wilhelm die Bildung und die Vielseitigkeit dieser Erscheinung nicht genug rühmen. Je nachlässiger indessen der Styl und je christlicher die Religion wurde, je mehr verwandelte sich dieser Effect in sein Gegentheil, und zuletzt endigte das Ganze in einer gesunden und fröhlichen Abneigung. Also ein neuer Beleg für die innere Duplicität dieses Mittels. Hardenberg hat Dich mit dem höchsten Interesse studirt und ist ganz eingenommen durch191 192 193 194

SN 751, Bl. 29r+v; vgl. auch Briefe SN 751, Bl. 37r Vgl. Briefe 4,51 Vgl. SN 397, Bl. 92r

l,217f

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drungen begeistert und entzündet. Er behauptet nichts an Dir tadeln zu können, und in sofern einig mit Dir zu seyn. Doch damit wird es nun wohl so so stehen. Er hat mir einen Aufsatz über Katholicismus verheißen, auch will er über Dein Buch mir etwas aufschreiben. Ich verspare also das übrige bis dahin, da ich ihn ohnehin nur einen halben Tag gesehen und nichts gründlich mit ihm habe durchsprechen können. — — Schelling geht es mit Deinen Reden fast wie Fichte'n. Jedoch hatte er Hochachtung, und sagte mir, wenn Du nun etwa noch etwas des Inhalts oder der Art schriebst, oder auch etwas zur Vertheidigung der jetzigen Schrift, so wolle er dann damit anfangen, und hernach auch die jetzige Schrift gründlich studiren, die ihm wie Fichte'n sehr schwer zu lesen und zu verstehn wird. Er ist ungefähr eben so weit darin gekommen wie Fichte."195 Im Freundes- und Bekanntenkreis Schleiermachers waren die „Reden" für längere Zeit ein Werk, das immer wieder als exemplarische Darstellung der neuen romantischen Religionsauffassung diskutiert und gewürdigt wurde. Zum Teil fand es begeisterte Aufnahme. Johann Wilhelm Ritter (1776—1810) billigte den „Reden" gleichsam epochale Bedeutung zu.196 August Ludwig Hülsen konnte sich zunächst nur Fichte oder Schelling als Verfasser der „Reden" vorstellen; auf Schleiermacher, den das ziemlich kränkte, kam er nicht.197 Ansonsten war aber durch die Diskussionen im Romantikerkreis das Geheimnis der Verfasserschaft Schleiermachers rasch gelüftet. A. W. Schlegel schlug ihm am 9. Juni 1800 bei den Vorbereitungen zum dann gescheiterten Zeitschriftenprojekt sogar das öffentliche Bekenntnis zur Verfasserschaft vor, gleichsam als Schleiermachers literarische Visitenkarte.198 Schleiermachers Einwand, die „Reden" hätten eine zu geringe Resonanz gefunden, um als Qualitätsbeweis dienen zu können, ließ A. W. Schlegel nicht gelten; er antwortete am 7. Juli 1800: „Wenn Sie sonst keine Einwendung gegen die Nennung der Reden über die Religion in der Einleitung statt Ihres Namens haben, als daß das Buch nicht bekannt genug sey, so fällt diese von selbst weg; ich versichre Sie, daß es Sensation gemacht, wo ich nur hin gehört, noch neulich geschah mir aus Schlesien von Neubeck eine Anfrage deswegen. Daß es noch nicht in großer Anzahl verkauft worden, beweist dagegen nichts. Wer weiß aber! Sie schreiben noch vor Anfang des Instituts ein Buch mit Ihrem Namen. Mit der Anonymität, das lassen Sie nicht dauern, ich glaube, es würde mir auch schlecht gelingen."199 Dadurch, daß das Geheimnis der Schleiermach ersehen Autorschaft so schlecht 195 196

197 198 199

Briefe 3,125f Vgl. dazu den brieflichen Bericht, den Dorothea Veit am 22. August 1800 aus Jena an Schleiermacher gab: „[. . .] und mit den Reden geht eine neue Zeitrechnung bei ihm an." (Briefe 3,222; vgl. auch 3,166) Vgl. Briefe 3,214 Vgl. Briefe 3,184 Briefe 3,197

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gewahrt wurde, wurde er auch bald als Autor der „Monologen" und der „Briefe über Friedrich Schlegels Luzinde" enttarnt.200 Schelling ließ sich als Zeichen seiner Wertschätzung sein Exemplar der „Reden", das er von A. W. Schlegel 1801 bekommen hatte, „wie ein wahrhaft geistliches Buch in schwarzen Corduan mit goldnem Schnitt binden."201 Doch die „Reden" stießen in Schleiermachers altem, die kirchliche Aufklärung repräsentierenden Freundeskreis teilweise auf Unverständnis, ja auf entschiedene Ablehnung. Hier geriet er in den Verdacht, Propagandist des Spinozismus oder Pantheismus und damit Zerstörer der christlichen Religion zu sein. Diesen Vorwurf der Unchristlichkeit verbunden mit dem der pastoralen Heuchelei formulierte Friedrich Samuel Gottfried Sack ausführlich im Juni 1801.202 Dies veranlaßte Schleiermacher zu einer umfänglichen 200 201 202

Vgl. Briefe 3,196 Briefe 3,291 Vgl. dazu: „Ihr Werk über die Religion erschien. Als ich einen Theil der ersten Rede im Manuscript gelesen hatte, machte ich mir die angenehme Vorstellung, daß die Schrift eines Mannes von Geist der Religion Verehrer und Freunde unter denen, die sie bloß verkennen, gewinnen würde; und daß sie in keiner andern Absicht als in dieser geschrieben sei. Sie erinnern sich ohne Zweifel, mit welcher Lebhaftigkeit ich Ihnen meine Freude und meine Hoffnung zu erkennen gegeben habe; die Folge hat mich inzwischen zu bald gelehrt, wie gröblich ich mich getäuscht hatte. Ich kann das Buch, nachdem ich es bedachtsam durchgelesen habe, leider für nichts weiter erkennen, als für eine geistvolle Apologie des Pantheismus, für eine rednerische Darstellung des Spinozistischen Systems. Da gestehe ich Ihnen nun ganz freimüthig, daß dieses System mir allemdem, was mir bisher Religion geheißen hat und gewesen ist, ein Ende zu machen scheint, und ich die dabei zum Grunde liegende Theorie für die trostloseste sowohl als verderblichste halte, und sie auf keine Art und Weise weder mit dem gesunden Verstände noch mit den Bedürfnissen der moralischen Natur des Menschen in irgend eine Art von Vereinigung zu bringen weiß. Eben so wenig begreife ich, wie ein Mann, der einem solchen Systeme anhängt, ein redlicher Lehrer des Christenthums sein könne; denn keine Kunst der Sophistik und der Beredsamkeit wird irgend einen vernünftigen Menschen jemals überzeugen können, daß der Spinozismus und christliche Religion mit einander bestehen könnten. Ich bin zwar überzeugt, daß Sie als Prediger die Grundsätze und Meinungen nicht vortragen werden, die Sie als die wahren und richtigen mit so wegwerfender Verachtung der ihnen entgegenstehenden in Ihrem Werke darzustellen gesucht haben. Sie werden fernerhin bei den gemeinen Begriffen von der Abhängigkeit des Menschen von Gott, von der Verbindung, in der wir mit dem höchsten Wesen stehn, und von den Gesinnungen der Anbetung, der Dankbarkeit, des Gehorsams und des Vertrauens die daraus fließen, in einer verständlichen und vielleicht auch biblischen Sprache reden; aber Sie werden es als ein Mann thun, der von diesem allen in seinem Herzen nichts glaubt, der sich nur zu den Irrthümern und dem Aberglauben des undenkenden Pöbels herabläßt, und um nicht anstößig zu werden noch Redensarten gebraucht, die bei ihm selbst gar keinen oder einen durchaus verschiedenen Sinn haben. Was ist ein Prediger, der das Universum für die Gottheit hält, dem Religion nichts weiter ist als eine Anschauung des Universums; der zwischen Religiosität und Moralität durchaus keine Verknüpfung erkennt; der alle Motive zum Gutsein, die aus Religionsbegriffen hergenommen sind, verachtet und verhöhnt, der von keiner Dankbarkeit gegen einen unsichtbaren, ewig lebenden Wohlthäter etwas wissen will: was ist ein solcher Prediger für ein bedauernswürdiger Mensch! Wie muß ihn bei jedem Worte, das er auf der Kanzel sagt, sein Herz des Doppel-

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Replik, in der er die persönlichen und sachlichen Vorwürfe Sacks zurückwies und unter anderem seine Intentionen, die ihn bei der Konzeption der „Reden" geleitet hatten, ausführlich erläuterte. In diesem wohl auch im Juni 1801 geschriebenen Brief an Sack liegt uns also so etwas wie eine Eigeninterpretation der „Reden" durch Schleiermacher vor. „Der zweite Hauptpunkt Ihres Schreibens betrifft meine Reden über die Religion. Hier muß ich zuerst aufs ernstlichste gegen Ihre Ansicht von diesem Buche protestiren. Es sollte eine Apologie des Pantheismus, eine Darstellung der spinozistischen Philosophie sein? Etwas, wovon nur beiläufig auf wenigen Seiten die Rede war, sollte die Hauptsache sein ? und die ganze erste Rede, worin Sie selbst nichts dergleichen finden, und ein großer Theil der zweiten und die dritte und vierte und fünfte, in welchen allen von ganz anderen Dingen die Rede ist, kurz fast das ganze Buch sollte nur eine müßige Zugabe zu diesen wenigen Seiten sein? Sie sagen ich sei ein Pantheist, diesem Systeme sei die Religion ganz entgegengesetzt, und zugleich sagen Sie ich rede von den entgegengesezten Vorstellungsarten mit wegwerfender Verachtung! Habe ich denn von der Religion, in welchem Sinne Sie das Wort auch nehmen, habe ich von dem Glauben an einen persönlichen Gott mit Verachtung geredet? Gewiß nirgend. Ich habe nur gesagt, daß die Religion davon nicht abhange, ob man im abstracten Denken der unendlichen übersinnlichen Ursach der Welt das Prädicat der Persönlichkeit beilege oder nicht. Hiervon habe ich, obgleich so wenig als irgend jemand ein Spinozist, den Spinoza als Beispiel angeführt, weil in seiner Ethik durchaus eine Gesin-

sinnes der Heuchelei und des Verfälschens der Wahrheit aus lohnsüchtigem Eigennutz oder aus niedriger Menschenfurcht oder Menschengefälligkeit bezüchtigen! Lösen Sie mir das Räthsel, wie Ihnen ein Geschäft noch gefallen kann, das Ihnen doch nothwendig als Frucht und als Beförderung der Albernheit und des Aberglaubens erscheinen muß, wie Sie das Beharren bei diesem Geschäft aus Convenienz mit Ihrem eigenen Gefühl von Recht in Harmonie bringen können t Ich kann mir denken, daß ein Spinoza in sich selbst ruhig und vielleicht auch glücklich gewesen sei; aber daß er es als ein bestellter Lehrer der christlichen Religion, und wenn er öffentlich gerade das Gegentheil von seiner Philosophie hätte lehren müssen, gewesen sein würde, daran zweifle ich. Ehre macht es ihm daher, daß er seiner Armuth ungeachtet den ihm angebotenen Lehrstuhl in Heidelberg ausschlug. Doch vielleicht haben Sie sich darüber einen mir unbekannten Grundsatz gemacht, und halten es nicht für Unrecht, die religiöse Gegenstände bezeichnenden Worte zu gebrauchen, obgleich Sie den Sinn, der nach dem allgemeinen Sprachgebrauch damit verbunden wird, für Unsinn halten. Nach der Klugheit einiger neuen Philosophen ist es erlaubt und rathsam, den Wörtern Gott, Religion, Vorsehung, künftiges Leben noch eine Zeit lang ihren Platz zu gönnen und ihnen nach und nach andre Begriffe unterzulegen, bis man sie nicht mehr nöthig haben wird und sie ohne alle Gefahr weglassen kann. Meiner Ansicht der Sache nach hat Sie, mein theuerster Herr Prediger, das Verlangen, sich einen neuen Weg zu bahnen, und die Scheu vor dem was gemein ist, verbunden mit speculativem Scharfsinn und blühender Einbildungskraft, auf einen Abweg, und meiner innigsten Ueberzeugung nach, auf einen unglücklichen Abweg verleitet." (Briefe 3,276-278)

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nung herrscht, die man nicht anders als Frömmigkeit nennen kann. Von dem Faktum, daß einige Menschen Gott die Persönlichkeit beilegen, andre nicht, habe ich den Grund in einer verschiedenen Richtung des Gemüths aufgezeigt, und zugleich daß keine von beiden die Religion hindere. Hiervon muß man nun unterscheiden, daß ohne einen gewissen Anthropomorphismus nichts in der Religion in Worte gefaßt werden kann, und dieser ist es wohl eigentlich den Sie, verehrungswürdiger Mann, so festhalten, und ich thue es mit Ihnen, wie Sie in den Reden überall finden können. Allein dieser bleibt nicht in den Schranken des metaphysischen Begriffs der Persönlichkeit Gottes, hängt also auch von diesem nicht ab, und muß also auch in der Religion auch dem erlaubt sein, dem seine Metaphysik dieses Prädicat für die Gottheit nicht gestattet. Wiederum ist aus dem Begriff der Persönlichkeit Gottes keine Religion zu entwickeln, er ist nicht die Quelle der Andacht; niemand ist sich in derselben seiner bewußt, er zerstört sie vielmehr. Jener Anthropomorphismus herrscht auch in der Schrift, in den Reden Jesu, im Christenthum durchaus; ob aber auch jener metaphysische Begriff von Persönlichkeit mit demselben von jeher verbunden gewesen, daß möchte eine ganz andre Frage sein. Der jetzt gewöhnliche Begriff von Gott ist zusammengesezt aus dem Merkmale der Außerweltlichkeit, der Persönlichkeit und der Unendlichkeit, und er wird zerstört sobald eins von diesen fehlt. Ob nun diese wol schon damals gebildet sein mögen ? Und wenn man manche Christen genannt hat, welche die Unendlichkeit Gottes aufhoben, ob man nicht auch ein Christ sein könnte, wenn man in seiner Philosophie eins von den andern beiden aufhebt? Mein Endzweck ist gewesen, in dem gegenwärtigen Sturm philosophischer Meinungen die Unabhängigkeit der Religion von jeder Metaphysik recht darzustellen und zu begründen. In mir ist also um irgend einer philosophischen Vorstellung willen der Gedanke eines Streites meiner Religion mit dem Christenthum niemals entstanden, und nie ist mir eingefallen mich als den Diener einer mir verächtlichen Superstition anzusehen, vielmehr bin ich sehr überzeugt die Religion wirklich zu haben die ich verkündigen soll, wenn ich auch eine ganz andre Philosophie hätte, als die meisten von denen welche mir zuhören. Eben so wenig ist in mir eine irgend unwürdige Klugheit oder reservatio mentalis, sondern ich lege den Worten gerade die Bedeutung bei, die ihnen der Mensch indem er in der religiösen Betrachtung begriffen ist beilegt, nur nicht außerdem noch irgend eine andre. Eben der Endzweck schwebte mir auch vor, indem ich meine Meinung von dem Verhältniß der Religion zur Moral mittheilte. Deutlich genug habe ich gesagt um es nicht wiederholen zu dürfen, daß ich die Religion nicht deswegen für etwas leeres halte, weil ich erkläre daß sie zum Dienst der Moral nicht nothwendig ist; deutlich genug, daß ich unsre kirchliche Anstalt wie sie jezt ist für ein doppeltes, theils der Religion theils der Moral gewidmetes Institut halte, und so glaube ich also weder etwas meiner Ueberzeugung zuwider-

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laufendes, noch etwas geringes zu thun, wenn ich von der Religion zu den Menschen rede als zu solchen, die zugleich moralisch sein sollen, und von der Moral als zu solchen, die zugleich religiös zu sein behaupten, von beiden nach dem Verhältniß welches ich jedesmal schicklich finde. Vielmehr halte ich den Stand des Predigers für den edelsten, den nur ein wahrhaft religiöses tugendhaftes und ernstes Gemüth würdig ausfüllen kann, und nie werde ich ihn mit meinem Willen gegen einen andern vertauschen. Wenn Sie sich aber auch das nicht erklären konnten, verehrungswürdiger Mann, wie konnten Sie doch auf die Voraussezung fallen, welche Ihr Schreiben andeutet: aus eigennüzigen Absichten sollte ich Prediger bleiben? In der That werden Sie gestehen müssen, daß ich in jeder andern Laufbahn bald das mäßige Auskommenfinden würde was mein Amt mir gewährt: und auf viel mehr rechne ich nicht. Oder aus Menschengefälligkeitf Gegen den Kreis meiner Freunde f Den denken Sie sich doch so, als werde er sich ungemein freuen, wenn ich aufhörte Prediger zu sein. Gegen die Welt? Mein ganzes Leben beweist, daß ich auf den Beifall derer, die mich nicht kennen, keinen Werth lege. Gegen einzelne Gönnerf Ich habe keine. Und nun gar aus Menschenfurcht? Es giebt kein lebendiges Wesen von dem ich abhinge, und ich rühme mich so frei zu sein als irgend jemand auf Erden. Haben Sie mich denn auch sonst schon in meinem Leben etwas aus diesem Grunde thun sehen ? dann wundre ich mich, wie Sie mir jemals Ihre Hochachtung haben schenken können. Haben Sie es nicht: wie kommen Sie dazu, mir gerade in diesem Punkte Maximen beizulegen, denen ich sonst nicht folge? So etwas pflegt doch durch den ganzen Menschen hindurch zu gehen. Eben diese Probe wird auch die andre Erklärung nicht bestehen, daß meine Denkungsart in der Sucht nach dem auffallenden und ungemeinen ihren Grund habe. Sie hat in der That keinen andern, als meinen eigenthümlichen Charakter, meine angeborne Mystik, meine von innen ausgegangene Bildung. Möchte es mir durch diese Erörterungen gelungen sein, wenn auch nicht meine Theorie Ihnen annehmlich zu machen, doch mich über meine Handlungsweise zu rechtfertigen, und von der guten Meinung, die Sie nur noch von meinen Talenten zu haben scheinen, etwas mehr auf meinen Charakter hinüberzuleiten. Sollte es auch nach dieser Erklärung insofern beim alten bleiben, daß nichts was ich über religiöse Gegenstände sagen oder schreiben möchte, Ihnen Freude machen kann: es würde mich sehr schmerzen, aber ich wüßte nichts weiter zu thun. Habe ich wirklich durch die Herausgabe jener Reden meine Nuzbarkeit als Prediger geschwächt: es ist nicht meine Schuld. Das wußte ich wohl, daß viele nicht im Stande sein würden ihre Metaphysik und ihre Religion zu trennen, und daß diese dem, der eine andre Metaphysik für gleichgültig hält, auch keinen herzlichen Eifer für die Religion zutrauen würden, und daß ich mich nicht gegen alle würde näher erklären können. Deshalb und nur deshalb sezte ich dem Buche meinen Namen nicht vor, und that ernstlich das meinige ihn unbekannt bleiben zu

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lassen. Daß ich diesen Endzweck nicht erreicht, liegt nicht an mir, sondern an der in Berlin einheimischen literarischen Neugierde und Plauderei. "203 Durch die Vermittlung seines Jugendfreundes Karl Gustav von Brinckmann, dem er in den ersten Monaten des Jahres 1800 ein Exemplar der „Reden" zuschickte204, erhoffte sich Schleiermacher eine Stellungnahme von den Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi (1743—1819) und Karl Leonhard Reinhold (1758—1823).205 Jacohis erste vorläufige Reaktion war nach Brinckmanns Bericht vom 4. Juli 1800 aus Eutin eher zurückhaltend: ,,Dein Buch wolte er während meines Hierseins lesen. Ich ließ ihm aber keine Zeit. Er hat mir aber versprochen, es zu thun, und ich wolte auch sein Endurtheil lieber schriftlich haben, um es Dir rein mitzutheilen. Die Schlegelsche Posaune hatte Dir auch bei ihm geschadet. Er hatte angefangen und es schön — nur zu schön — geschrieben gefunden, behauptet aber daß Du dich ohne Noth verfichtest, und daß auf dem Weg zu keiner Religion zu gelangen sei. , Bios formelles Gesez ist Weg ohne Ziel, so wol in Absicht des Guten als des Wahren' sagte er mir noch gestern. Dies möchte ich Dir als die Lösung aller der Paradoxie schreiben, die man ihm vorwirft. "206 Die Abgrenzung gegenüber Johann Gottlieb Fichte (1762—1814), der für Schleiermacher nach der Enttäuschung über Kants Ethik („Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre" im Herbst 1797) zum Hauptvertreter der transzendentalen Ethik geworden war, tritt in Schleiermachers Antwortschreiben vom 17. Juli 1800 an Brinckmann deutlich hervor: „Fichtes , Tugendlehre' verdient allerdings gar sehr, daß man sie studiert, — dies schließt aber nicht aus, daß nicht sehr viel dagegen zu sagen wäre. Du siehst, wenn mir kein größeres Unglück droht als das Verfichten, so steht es noch gut genug um mich. Namentlich ist mir's wol nie eingefallen auf dem Wege eines formalen Gesezes zur Religion kommen zu wollen, und ich hoffe Jacobi wird dies auch nicht aus den Reden herauslesen können, wenn er sie ordentlich liest. Ich wünsche, daß der liebenswürdige Mann mich auch ein wenig lieben möge mit der Zeit; er ist der einzige von unsern namhaften Philosophen, von dem ich mir dies wünsche. Reinhold ist mir höchst gleichgültig, und Fichte muß ich zwar achten, aber liebenswürdig ist er mir nie erschienen. Dazu gehört, wie Du weißt, für uns etwas mehr, als daß man (ein), wenn auch der größte, speculative Philosoph sei."201 Schon am 6. Juli 1799 hatte Schleiermacher eine gewisse Besorgnis Fichtes wegen gegenüber Henriette Herz geäußert: „Ich habe ordentlich eine kleine Furcht davor, daß Fichte gelegentlich die 203 204 205

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Briefe 3,282-286 Vgl. Briefe 4,55 Vgl. Briefe 4,61. Ein später Hinweis auf die ,,Reden" findet sich bei Reinhold: Beyträge zur leichtern Uebersicht des Zustandes der Philosophie beym Anfange des 19. Jahrhunderts, Heft 5, Hamburg 1803, S. X SN 260/1, Bl. 31v—32r Briefe 4,74f

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Reden lesen wird; nicht davor, daß er viel dagegen einzuwenden haben möchte, das weiß ich vorher und es macht mir nicht bange — sondern nur, daß ich nicht weiß, wo er mir alles in die Flanke fallen wird und daß ich nicht werde würdig mit ihm darüber reden können."208 Die unparteiische ausführliche Beurteilung, um die Schleiermacher Brinckmann selbst gebeten hatte209, kam wohl durch dessen schwere Erkrankung im Frühjahr 1800 nicht zustande. Stattdessen referierte Brinckmann Vorwürfe, die den „Reden" mangelnde Offenheit und Zurückhalten der wahren Überzeugungen attestierten. Schleiermacher gab sich dazu „belustigt". „Dergleichen könnte einem das Schreiben verleiden, wenn man aufs Verstandenwerden gerechnet hat; aber so thöricht bin ich zum Glück nicht gewesen."210 Schleiermacher hob gegenüber Brinckmann besonders die stilistische Prägekraft des Rhetorischen für die Konzeption des Werks hervor211 und betonte seine Gesamteinschätzung, daß die „Reden" wie die „Monologen"gegenüber den geplanten ethischen Werken (Kritik und Entwurf der Moral) einen vorläufig-spielerischen Charakter hätten: „Siehe die Reden und die Monologen nur so an, als wenn Jemand, der ein recht ordentliches Concert zu geben gedenkt, sich vorher, und ehe die Zuhörer recht versammelt sind, etwas auf seine eigne Hand fantasirt."212 Mit dem zeitlichen, sachlichen und persönlichen Abstand vom frühromantischen Schlegel-Kreis wuchs auch Schleiermachers Distanz zu den „Reden". Sie waren für ihn gleichsam zu einem biographischen Dokument geworden; er konnte Mängel an ihnen zugestehen, in aller Offenheit. Gegen Ende 1803 fand er die „Reden" in einem Brief an Brinckmann „ermü2 dend" ^. Kurz zuvor schon hatte er ihm gestanden: „Die Reden über die Religion sind auch bei'm Lichte besehn schlecht genug; aber hätte ich sie damals nicht frisch weg geschrieben, jezt würde ich sie gewiß nicht besser schreiben sondern gar nicht."214 Soweit die Briefdokumente, die ja durchweg privaten Charakter haben. Die „Reden" fanden auch eine öffentliche Beachtung in Rezensionsorganen und im literarischen Kampfgetümmel, allerdings in weitaus geringerem Maße, als es die spätere Wirkungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert vermuten läßt. Friedrich Schlegel war der erste, der auf die „Reden" öffentlich aufmerksam machte und sie kurz besprach. Gleichsam im Sinne einer Mitarbeitervorstellung veröffentlichte er 1799 im „Athenaeum" anonym ei-

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Briefe 1,230 Vgl. Briefe 4,60 Briefe 4,64 Vgl. Briefe 4,66 Briefe 4,60 Briefe 4,92 Briefe 4,84

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ne „Notiz" zu den „Reden".215 Schlegel trägt in seiner Besprechung kunstvoll der Doppelpoligkeit der „Reden" Rechnung, indem er diese Doppelpoligkeit auch zu seinem eigenen Gestaltungs- und Darstellungsprinzip macht. Er stellt nämlich nach einer kurzen allgemeinen Würdigung die Eigenart der „Reden" in zwei Briefen vor, deren erster an einen gebildet-irreligiösen Freund den exoterisch-anknüpfenden Pol der „Reden" abspiegelt und deren zweiter an einen gebildet-religiösen Freund den esoterischen Pol zur Geltung bringt. Durch diese Doppelpoligkeit, die das Anliegen und die Struktur der „Reden" durch die Betrachtung aus zwei verschiedenen (entgegengesetzten) Gesichtspunkten offenlegt, gewinnt Schlegel auch genügend Spielraum zu verhaltener Kritik. Seine Besprechung bekommt dadurch sowohl etwas markant-scharfes als auch etwas verschwimmend-undeutliches. Lob und Ruhm werden zu guter Letzt doch in einige gewichtige Klammern gesetzt. Der Beginn der Schlegelschen „Notiz" ist überströmend. Die „Reden über die Religion" verdienen vorzügliche Beachtung, „weil gewiß seit langer Zeit über diesen Gegenstand aller Gegenstände nicht größer und herrlicher ist geredet worden. "216 Nach Schlegel entspricht der Ungewöhnlichkeit des Gegenstandes die Ungewöhnlichkeit seiner Behandlung. „Es sind Reden, die ersten der Art, die wir im Deutschen haben, voll Kraft und Feuer und doch sehr kunstreich, in einem Styl, der eines Alten nicht unwürdig wäre. Es ist ein sehr gebildetes und auch ein sehr eigenes Buch; das eigenste, was wir haben, kann nicht eigner seyn. Und eben darum, weil es im Gewände der allgemeinsten Verständlichkeit und Klarheit so tief und so unendlich subjektiv ist, kann es nicht leicht seyn, darüber zu reden, es müßte denn ganz oberflächlich geschehen sollen, oder auf eine eben so subjektive Weise geschehen dürfen: denn von der Religion läßt sich nur mit Religion reden. Und dazu muß ich mir denn, wenigstens was die Form betrifft, die Erlaubniß erbitten. "217

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F. Schlegel: Notiz zu „Reden über die Religion", in: Athenaeum 2/2 (Berlin 1799), S. 288-300; KA 2, ed. H. Eichner 275-281 F. Schlegel: Athenaeum 2/2,289; ΚΑ 2,275 F. Schlegel: Athenaeum 2/2,289f; KA 2,275. Vgl. dazu Schleiermachers Brief an Henriette Herz vom 1. Juni 1799: „[. . .] hernach habe ich noch mit Schlegel ein wunderbares Gespräch über mich gehabt, wobei wir uns wahrscheinlich beide nicht verstanden haben. Er notizirt jezt die Religion und da studirt er mich ordentlich; er will mein Centrum wissen und darüber haben wir nicht einig werden können. Ob ich mich wohl selbst so verstehe, wie er mich verstehen will? ich habe ihm gesagt, ich würde wohl nie bis in's Centrum kommen, mit dem Machen nemlich, meinte ich; das hat er für eine Blasphemie gegen mich selbst genommen, kurz wir sind nicht zusammen gekommen. Was ist denn mein Centrum? wissen Sie es? In Schlegel's Notiz, die erst angefangen ist, steht unter andrem, der Styl der Reden sei eines Alten nicht unwürdig; das ist wohl zu viel gesagt. Uebrigens bin ich sehr begierig darauf, was alles in dieser Notiz stehen wird." (Briefe l,226f)

Historische

Einführung

LXIX

Im ersten (exoterischen) Brief an den gebildeten Religionsverächter legt Schlegel das Schwergewicht auf die die „Reden" prägende Bildung, durch die die Religion zwar nicht als ursprüngliche Menschheitsanlage konstruiert, wohl aber ,,zur Mitbürgerin im Reiche der Bildung constituirt"2is werde. Dementsprechend setzt Schlegel das Anliegen der „Reden" in die Versöhnung von Bildung und Religion bzw. Christentum. Er rühmt ihre Schönheit und absolute Subjektivität, die den „Reden" etwas romanhaftes gäben.219 Schlegel trägt nun seine verdeckte Kritik so vor, daß er den irreligiösen Freund (wie später auch den religiösen) auffordert, zwischen der in den „Reden" vollzogenen Tat einer universalen Bildungsanerkennung und der explizit vorgetragenen partikularen Konstruktion der Religion mit ihrer Ausgrenzung von Poesie, Philosophie und Moral zu unterscheiden. Schlegels Verfahren zielt also darauf, in den „Reden" einen faktisch wirksamen anderen (universalen) Religionsbegriff aufzuspüren, durch den er den explizit-partikularen umdeuten kann. Der esoterisch-religiöse Brief interpretiert die „Reden" als Morgenzeichen der sich nahenden wahren Religion, das allerdings noch von sehr viel Irreligion durchzogen ist.220 Bei dieser kritischen Sichtung der „Reden" gemäß des darin intendierten Geistes stößt sich Schlegel am meisten an der ausgrenzend-partikularisierenden Idee der Virtuosität. Diese dem Exoterischen zugehörige Idee hindere den Autor, „die lebendige Harmonie der verschiedenen Theile der Bildung und Anlagen der Menschheit, wie sie sich göttlich vereinigen und trennen"221, ganz zu ergreifen. Dadurch erhält die unvermeidliche Selbstbegrenzung einen willkürlichen und abträglichen Charakter. Unter religiösem Aspekt würdigt Schlegel die „Reden" als ein großartiges Einführungsbuch, als schönen Anreiz zur Religion für alle die, die der Religion fähig sind. Und das heißt: sie sind keine vollendete Darstellung der reinen Religion. Außer durch diese „Notiz" hat Friedrich Schlegel noch an anderem Ort auf die „Reden" hingewiesen: er widmete ihnen vier Aphorismen in seiner „Ideen" betitelten Aphorismensammlung, die er im ersten Stück des dritten Bandes seiner Zeitschrift „Athenaeum" erscheinen ließ.222 Die achte „Idee" lautet: „Der Verstand, sagt der Verfasser der Reden über die Religion, weiß nur vom Universum; die Fantasie herrsche, so habt ihr einen Gott. Ganz recht, die Fantasie ist das Organ des Menschen für die GottF. Schlegel: Athenaeum 2/2,292; ΚΑ 2,276 Vgl. F. Schlegel: Athenaeum 2/2,293; ΚΑ 2,277 220 ygl dazu: „Uebrigens werde ich nichts dagegen einwenden, wenn Du finden solltest, daß sich neben der Religion in diesem polemischen Kunstwerk ein ununterbrochener Strom von Irreligion durch das Ganze hinzieht; ungefähr eben so wie sich nach der Darstellung des Verfassers an jede wahre Kirche sogleich eine falsche ansetzt." (F. Schlegel: Athenaeum 2/ 2,297; ΚΑ 2,280) 221 F. Schlegel: Athenaeum 2/2,298; ΚΑ 2,280 222 F. Schlegel: Ideen, in: Athenaeum 3/1 (Berlin 1800), S. 4-33; KA 2,256-272 218 219

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Einleitung des

Bandherausgebers

heit."223 Die „Idee" Nr. 112 heißt: „In und aus unserm Zeitalter läßt sich nichts größeres zum Ruhme des Christenthums sagen, als daß der Verfasser der Reden über die Religion ein Christ sey. "224 Die „Idee" Nr. 125 wirbt: „ Wer ein Höchstes tief in sich ahndet und nicht weiß wie er sichs deuten soll, der lese die Reden über die Religion, und was erfühlte wird ihm klar werden bis zum Wort und zur Rede."225 Die „Idee" Nr. 150 schließlich stellt den dann so geläufig gewordenen Bezug der Universumsidee der „Reden" mit Spinoza her: „Das Universum kann man weder erklären noch begreifen, nur anschauen und offenbaren. Höret nur auf das System der Empirie Universum zu nennen, und lernt die wahre religiöse Idee desselben, wenn ihr den Spinosa nicht schon verstanden habt, vor der Hand in den Reden über die Religion lesen."226 Rezensionen in den damals gängigen theologischen und philosophischen Publikationsorganen gab es nur wenige. Schleiermacher selbst berichtete am 2. Juli 1800 an Henriette Herz: „Denken Sie sich, liebe Freundin, da habe ich gestern in einem theologischen Journal die erste Recension von den Reden gefunden! Der Mann nennt es eine der originellsten, geistreichsten und anziehendsten Schriften, die er je über diesen Gegenstand gelesen, ohnerachtet sie wohl nicht nach jedermanns Geschmack sein dürfte, wie er denn auch mit dem Verfasser nicht durchaus einverstanden wäre, was aber bei einem solchen Gegenstande nicht anders der Fall sein könnte. Dann meint er, eines Auszuges sei die Schrift durchaus nicht fähig, er glaube aber ihren Geist, der in einem Mysticismus von der reinsten, liberalsten und erhabensten Art bestehe, nicht besser darstellen zu können, als durch einige Stellen aus der zweiten Rede, die jeden Leser, der nur einiges Interesse für Religion habe, gewiß zum baldigen Genuß des Ganzen einladen würden. Dann kommen einige Stellen über den Unterschied zwischen Religion und Metaphysik und Moral, über Gott und Unsterblichkeit, über den Spinoza, und zulezt über die Toleranz, von der er wünscht, daß sie mir auch zu gut kommen möge. Das nennen nun die Leute recensiren, und dieser meint gewiß er habe es recht ordentlich gemacht. "22Ί Diese von Schleiermacher zutreffend charakterisierte anonyme Renzension steht im ersten Band der „Neuen Theologischen Annalen" (Rinteln 1800)228 und ist im März 1800 in der Beilage zum zehnten Stück auf den Seiten 209—212 erschienen. Im dritten Stück des dritten Bandes der „Allgemeinen Bibliothek der neuesten theologischen und pädagogischen Literatur" (Gießen 1800) findet F. Schlegel: Athenaeum 3/1,5; ΚΑ 2,257 F. Schlegel: Athenaeum 3/1,24; ΚΑ 2,267 225 F. Schlegel: Athenaeum 3/1,26; ΚΑ 2,269 226 F. Schlegel: Athenaeum 3/1,32; ΚΑ 2,271 227 Briefe 3,194f; vgl. auch Briefe 3,204f 228 Herausgeber der Zeitschrift „Neue Theologische Annalen" war der Rintelner schichtsprofessor und Theologe Johann Friedrich Ludwig Wachler (1767—1838). 223 224

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sich auf den Seiten 451 —489229 eine Rezension des Pfarrers und späteren Heidelberger Theologieprofessors Friedrich Heinrich Christian Schwarz (1766—1837). Schwarz referiert alle fünf Reden, besonders ausführlich die erste und zweite. In sein mit Zitaten durchsetztes Referat schiebt Schwarz immer wieder Bemerkungen (Hervorhebungen, Belobigungen, Bemängelungen und Anfragen) ein. Seine insgesamt wohlwollende Besprechung eröffnet Schwarz mit einer zwei Seiten umfassenden Einleitung, indem er das Vieldeutig-Individuelle der „Reden" konstatiert und ihrer geschmeidigen Rezeptionsfähigkeit eine sehr unterschiedliche Aufnahme bei den verschiedenen Lesern prophezeit.230 Seine kritischen Bemerkungen bemängeln die abstrakte Einseitigkeit des Religionsbegriffs, die die lebendige Wechselwirkung aller menschlichen Anlagen verleugne231, die Unklarheit des UniDie Seitenzählung springt irrtümlich von S. 463 auf 468 und von S. 474 auf 479. 230 ]/gl Schwarz: „Wir müssen unsre Leser mit einem der merkwürdigsten Produkte unsrer neuesten theol. Literatur ausführlicher bekannt machen, über welches wir vielleicht sehr verschiedne Urtheile bald lesen werden. Ree. wüßte sich wenigstens nicht leicht auf ein Buch zu erinnern, welches so ganz einander entgegengesetzte Urtheile erfahren könnte. Ob es aufklärend oder verwirrend, als ein Produkt der tiefsten Philosophie oder der Mystik im Geiste Jakob Böhms, als eine logische oder dichterische Darstellung, als atheistisch (denn mit den Verstandesverirrungen unsers Zeitalters pflegen auch Besorgnisse und — Lästerungen parallel zu gehen) oder als an der Reihe derjenigen, welche den Glauben der Christen vertheidigt haben, rühmlich anschliessend, als die reinste Wahrheit oder als Unsinn enthaltend, als religiös oder als irreligiös — gelten werde: das wird von der Individualität des Lesers abhängen. Manche werden eine Mischung von Fichtianismus und Schlegelianismus (wie sie sich beydes in ihrem eignen — — ismus mit gehässigem Blicke denken) darin zu finden und zu tadeln glauben: und manche dagegen die gehaltvolle Originalität so bewundern, daß sie dabey ihr Innerstes mit Entzücken darin lesen; und viele — werden es gar nicht verstehen, oder wohl gar unglücklicher Weise die schöne Sprache desselben in ihrem Gedächtniß behalten und dann nonsensikalisch überall anbringen." (Bibliothek 3,451 f ) 229

231

Vg/. Schwarz: „Hierauf trennt der Vfr. in dem nun schon bemerkten schneidenden Tone Sittlichkeit, Recht und Religion von einander, so daß keines des andern bedürfe, es beweise die größte Verachtung der Religion sie in ein andres Gebiet verpflanzen zu wollen. Der Raum versagt es uns, die ganze Stelle — und sie verträgt keine Zerstückelung — hier anzuführen, worin er gegen die beliebte Weise die Religion als Stütze und Krücke der Moral anzusehen mit mächtiger Sprache redet, und welche Ree. unter die schönsten und verdienstlichsten rechnet. So gut indessen diese Worte zu ihrer Zeit gesprochen sind, gegen eine noch ziemlich herrschende einseitige Vorstellungsart: so liegt doch auch in diesem scharfen Abtrennen wieder eine Einseitigkeit der Abstraction, (welche dann freylich bald auf diese bald auf jene Art das Hellemachen unsers Lehrvortrags wie ein Schatten zu begleiten pflegt); denn ist nicht in dem Menschen alles vereint ? gehört denn dieser der Religion, jener der Moral, der dritte dem Rechte zu? oder theilen sich diese bey einem Menschen in Regierung der Stunden und Jahre, wie die Planeten in dem Bauernkalender und stattet man heute einen Besuch bey der Moral und morgen bey der Religion ab? Vereinigt sich nicht alles dieses in dem innersten Heiligthume, in dem Gewissen, dergestalt daß wenn das Eine von dem Menschen wahrhaft geachtet wird, auch das Andre und Dritte in ihm in demselben Grade seine Würde behauptet. Der Verf. sagt selbst: daß die Rel. aus dem Innern jeder bessern Seele von selbst entspringt, wenn das aber bey der besseren Seele gerade der Fall ist, so muß Religion und Sittlichkeit auch in der untrennbarsten Verbindung und

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Einleitung

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Bandherausgebers

versumsbegriffs, die Verwirrung des Moralbegriffs232, die Überbetonung der Phantasie, den zur Undeutlichkeit führenden Bilderreichtum sowie die Polemik gegen jegliche Rationalität und Objektivität in der Religion. Schwarz lobt die Originalität und Gedankenfülle des Buches, auch viele vortreffliche Einzelheiten trotz aller Einseitigkeit233, „die blühende und besonders durch tiefe Naturkenntnisse gebildete Sprache"234, den großen genialischen Zug235. Schwarz faßt seine Rezension zusammen: „Schon haben einige ausgezeichnete Männer als Philosophen und Theologen das wichtige Wort ausgesprochen, daß man in Absicht der Religion und des Menschen einlenken müsse auf die Rechte, welche das Gefühl behauptet. Man fängt an einzusehen, wo es mit der Unnatur hinausgeht, den Menschen zu einem blossen Begriffwesen zu machen. Der Verf. der vorliegenden Schrift, welche, wie man bemerkt haben wird, überhaupt mit den Herderschen Schriften über Religion noch die meisten Berührungspunkte zeigt, hat dieses mit der ganzen Lebhaftigkeit seines Gefühls empfunden: darum sprach er von einer Wuth des Verstehens; er hat tief empfunden, daß Religion ohne religiöses Gefühl — Nichts sey. Und darum hat er sich durch sein Buch um die Religiosität seines Zeitalters mehr verdient gemacht, als vielleicht erkannt wird. Aber da seine Phantasie zu geschäftig ist, so ist er in den Vorstellungen verwirrt, vernachläßigt den Verstand, und stellt eine Gefühlsreligion auf, welcher frey lich der Gegenstand gleich gilt, wenn sie nur Innigkeit in ungemessenem Maaße hat. Man wird dabey bemerkt haben, daß sein reiner Sinn doch hin und wieder umlenkt von den grellen Punkten, worauf eine solche Theorie hinführt, und dem Objectiven auch wieder einige Ehre widerfahren läßt."236 wegen ihrer Selbstständigkeit in der unauflöslichsten Wechselwirkung stehen. Man wird bald sehen, daß diese scharfe Abtrennung den Grund von allen den Behauptungen enthält, welchen man nicht beystimmen kann." (Bibliothek 3,458f) 232 Vg/. Schwarz: „Des Verf. Theorie der Moral muß ein sonderbares Ding, eine unmoralische Moral seyn, um nur die Religion zu ihrer vollgültigen Vermittlerin bey der Menschheit zu machen, um dem nach Virtuosität strebenden Menschen — welche Virtuosität beschränkt, und kalt einseitig und hart macht — erst Universalität zu geben! Und auf diese Art wäre sie ja doch wieder ein Hülfsmittel der Moral, ein Ergänzungsstück, um diese erst dem Menschen anzupassen, wogegen der Verf. vorher so stark protestirte. Was soll doch das verwirrende Spiel mit Worten! Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. Moralische Gefühle sind religiöse Gefühle so wie sie nur auf den Gegenstand der Religion bezogen werden. Freylich wird es mit der Dankbarkeit, Demuth, Liebe etc. schlecht stehen, die erst durch den Gedanken der Pflicht erzeugt werden sollen, sie werden vielmehr als eine innere Lebendigkeit des moralischen Gefühls schon vorausgesetzt, und dann von der Moral bestätigt: allein das ist auch das Geschäfte der Moral die Gefühle, welche der Pflichtthätigkeit unterliegen, aus der Natur des Geistes zu entwickeln; sie fordert daher nicht bloß Legalität sondern dabey auch nothwendig moralische Gesinnung." (Bibliothek 3,468f) 233 Vgl. Schwarz: Bibliothek 3,480.487 234 Schwarz: Bibliothek 3,486 235 236 Vgl. Schwarz: Bibliothek 3,453 Schwarz: Bibliothek 3,487f

Historische

Einführung

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Ein bloßer bibliographischer Hinweis auf die „Reden über die Religion" findet sich in dem vom Göttinger Theologieprofessor Carl Friedrich Stäudlin (1761 — 1826) herausgegebenen „Magazin für Religions-, Moralund Kirchengeschichte" im ersten Band (Hannover 1801) mit der Einordnung in „die Philosophie der Geschichte der Religionen. "237 Johann Paul Friedrich Richter (1763—1825) veröffentlichte unter seinem Literatennamen Jean Paul als seinen Beitrag zum Atheismusstreit die gegen Fichtes Wissenschaftslehre polemisierende Schrift „Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana" (Erfurt 1800). Darin führt er — tadelnd und lobend zugleich — die „Reden" als eine Folgeerscheinung des verderblichen Fichteschen Idealismus und als Symptom der Zeittendenz an. Er fordert beschwörend: „Wahrlich es ist Zeit zu ahnen, welcher unauflöslichen schwärmeri23 schen Sprachen- und Gedanken-Verwirrung wir zutreiben." * Und er behauptet, ein Zeichen der von Fichte ausgelösten, „alles ins Schwanken bringenden Sündfluth"239 sei „der malerische Standpunkt für alle Religionen"240. In einer Anmerkung konkretisiert er dieses Zeichen: „Ich meine die sonst vortreflichen ,Reden über die Religion für gebildete Verächter derselben'. Er giebt dem Worte Religion eine neue, unbestimte, poetische Bedeutung, der doch ohne sein Wissen die alte theologische zum Grunde liegt, weil jedes Ganze und also auch das Universum nur durch einen Geist ein Ganzes ist für einen Geist. "241 Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770—1832) ist literarisch zweimal, allerdings in unterschiedlichem Umfang, auf die „Reden" eingegangen. In der Vorrede seiner Schrift „Differenz des Fichte'schen und Schelling'sehen Systems der Philosophie" (Jena 1801) zieht Hegel die „Reden" als einen Indikator des Zeitbedürfnisses heran. „Wenn Erscheinungen, wie die Reden über die Religion, — das spekulative Bedürfniß nicht unmittelbar angehen, so deuten sie und ihre Aufnahme, noch mehr aber die Würde, welche mit dunklerem oder bewußterem Gefühl, Poesie und Kunst überhaupt in ihrem wahren Umfange, zu erhalten anfängt, auf das Bedürfniß nach einer Philosophie hin, von welcher die Natur für die Mishandlungen, die sie in dem Kantischen und Fichte'schen Systeme leidet, versöhnt, und die Vernunft selbst in eine Übereinstimmung mit der Natur gesetzt wird, nicht in eine solche, worin sie auf sich Verzicht thut oder eine schaale Nachahmerin derselben werden müßte, sondern eine Einstimmung dadurch, daß sie sich selbst zur Natur aus innerer Kraft gestaltet. "242 237 238

239 240 241 242

Stäudlin: Magazin 1,287 Jean Paul: Clavis 54; Sämtliche Werke, Akademie-Ausgabe, Bd 1/9, ed. E. Berend, Weimar 1933 (Nachdruck Köln 1979), S. 476,1f Jean Paul: Clavis 60; Ak 1/9,477,13 f Jean Paul: Clavis 57f; Ak I/9,476,18f Jean Paul: Clavis 58; Ak 1/9,476,36-40 Hegel: Differenzschrift XI; Ak 4,8,4-13

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Einleitung des

Bandherausgebers

In seiner Abhandlung „Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie", die Hegel 1802 in der von ihm selbst und Schelling herausgegebenen Zeitschrift „Kritisches Journal der Philosophie" publizierte, bespricht er die „Reden" eigens am Schluß seiner Auseinandersetzung mit der Individualitätsphilosophie Friedrich Heinrich Jacobis. Hegel würdigt die „Reden" kritisch als die höchste Ausbildung des die durchaus subjektiv genommene Subjektivität verabsolutierenden Jacobischen Prinzips, wobei die gegenüber Jacobi idealischer gefaßte Selbst- und Weltanschauung dennoch partikular bleibt. „Wenn das Diesseits, was Wahrheit hat, statt die Wirklichkeit zu seyn, das Universum, und die Versöhnung mit der Natur Identität mit dem Universum, als Empfindung unendliche Liebe, als Anschauung aber Religion ist, aber so, daß diese Identität selbst, es sey mehr als Passivität des Auffassens und innern Nachbildens oder mehr als Virtuosität, etwas schlechthin subjectives und besonderes bleiben, ihre Aeußerung nicht befestigen, noch ihre Lebendigkeit der Objectivität anvertrauen, und hiemit eben die vorige Reflexion der Sehnsucht auf das Subject behalten soll, so hat das Jacobische Princip die höchste Potenzirung erreicht, deren es fähig ist, und der Protestantismus, der im Diesseits Versöhnung sucht, hat sich auf das Höchste getrieben, ohne aus seinem Charakter der Subjectivität herauszutreten. In den Reden über die Religion ist diese Potenzirung geschehen; da in der Jacobischen Philosophie die Vernunft nur als Instinct und Gefühl, und Sittlichkeit nur in der empirischen Zufälligkeit und als Abhängigkeit von Dingen, wie sie die Erfahrung und Neigung und des Herzens Sinn gibt, das Wissen aber nur als ein Bewußtseyn von Besonderheiten und Eigenthümlichkeit, es seye äußerer oder innerer, begriffen wird, so ist in diesen Reden hingegen die Natur als eine Sammlung von endlichen Wirklichkeiten vertilgt, und, als Universum anerkannt, dadurch die Sehnsucht aus ihrem über Wirklichkeit Hinausfliehen nach einem ewigen Jenseits zurückgehohlt, die Scheidewand zwischen dem Subject, oder dem Erkennen und dem absoluten unerreichbaren Objecte niedergerissen, der Schmerz im Genuß versöhnt, das endlose Streben aber im Schauen befriedigt. Aber indem so das Individuum seine Subjectivität von sich wirft, und der Dogmatismus der Sehnsucht seinen Gegensatz in Idealismus auflößt, so soll diese Subject-objectivität der Anschauung des Universums doch wieder ein Besonderes und Subjectives bleiben; die Virtuosität des religiösen Künstlers soll in den tragischen Ernst der Religion ihre Subjectivität einmischen dürfen, und statt diese Individualität entweder unter dem Leib einer objectiven Darstellung großer Gestalten und ihrer Bewegung untereinander, der Bewegung des Universums aber in ihnen, zu verhüllen, — wie in der triumphirenden Kirche der Natur, das Genie in Epopäen und Tragödien erbaute, oder anstatt dem lyrischen Ausdruck sein subjectives dadurch zu nehmen, daß er zugleich im Gedächtniß vorhanden, und als allgemeine Re-

Historische Einführung

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de auftrete, soll dieses Subjective in der Darstellung der eignen Anschauung des Universums, so wie in der Production derselben in andern, die wesentliche Lebendigkeit und Wahrheit ausmachen, die Kunst ohne Kunstwerk perenniren, und die Freyheit der höchsten Anschauung in der Einzelheit und in dem für sich etwas besonderes haben, bestehen; wenn der Priester nur ein Werkzeug und Diener seyn kann, das die Gemeinde, und das sich ihr und sich opfert, um das Begränzende und Objective der religiösen Anschauung zu thun, und dem alle Macht und Kraft vor der mündigen Gemeine nur als einem Representanten zukommen kann, soll sie, sich unmündig stellend, den Zweck und die Absicht haben, das Innere der Anschauung von ihm als einem Virtuosen des Erbauens und der Begeisterung in sich bewirken zu lassen; es soll einer subjectiven Eigenheit der Anschauung (Idiot heißt einer, insofern Eigenheit in ihm ist) statt sie zu vertilgen, und wenigstens nicht anzuerkennen, so viel nachgegeben werden, daß sie das Princip einer eigenen Gemeine bilde, und daß auf diese Weise die Gemeinchen und Besonderheiten ins unendliche sich geltend machen und vervielfältigen, nach Zufälligkeit auseinander schwimmen und zusammen sich suchen, und alle Augenblicke wie die Figuren eines dem Spiel der Winde preisgegebenen Sandmeeres die Gruppirungen ändern, deren jeder zugleich, wie billig, die Besonderheit ihrer Ansicht und ihre Eigenheit etwas so müssiges und sogar ungeachtetes sey, daß sie gleichgültig gegen die Anerkennung derselben, auf Objectivität Verzicht thun, und in einer allgemeinen Atomistik alle ruhig neben einander bleiben können, wozu freylich die aufgeklärte Trennung der Kirche und des Staats sehr gut paßt, und in welcher Idee eine Anschauung des Universums nicht eine Anschauung desselben als Geistes seyn kann, weil das, was Geist ist, im Zustande der Atomen, nicht als ein Universum vorhanden ist, und überhaupt die Katholicität der Religion nur in Negativität und der Allgemeinheit des Einzelnseyns besteht. Wenn also schon die Subjectivität des Sehnens in die Objectivität des Schauens sich emporgehoben hat, und die Versöhnung nicht mit der Wirklichkeit, sondern mit dem Lebendigen, nicht mit der Einzelheit, sondern mit dem Universum geschieht, so ist selbst dieses Anschauen des Universums wieder zur Subjectivität gemacht, indem es theils Virtuosität, oder nicht einmal ein Sehnen, sondern nur das Suchen eines Sehnens ist, theils es sich nicht organisch constituiren, noch die wahrhafte Virtuosität in Gesetzen und in dem Körper eines Volkes und einer allgemeinen Kirche ihre Objectivität und Realität erhalten, sondern die Aeußerung ein schlechthin inneres, unmittelbarer Ausbruch oder Nachfolge einzelner und besonderer Begeisterung, und nicht die wahrhafte Aeußerung, ein Kunstwerk vorhanden seyn soll."243

243

Hegel: Glauben und Wissen, in: Kritisches Journal der Philosophie Stück, S. 134-137; Ak 4,383,8-386,36

2 (Tübingen

1802), 1.

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Einleitung

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Eine ausführliche Berücksichtigung und Würdigung hat der Lehrer Johann Gottlieb Ratze (1760—1839) in seiner Schrift „Ansichten von dem Natürlichen und Uebernatürlichen in der christlichen Religion" (Zittau/Leipzig 1803) den „Reden" zuteil werden lassen. Nicht nur verweist er in den Anmerkungen seiner Abhandlung zweimal244 auf die „Reden", sondern er widmet ihnen auch einen Anhang, in dem er auf die Beurteilung derselben245 einen thematisch geordneten Abdruck einiger Hauptstellen246 folgen läßt. Ratzes Rezension ist geprägt von Lob und Hochachtung des Gesamtunternehmens, aber Ablehnung und Mängelaufweis in vielen Einzelheiten. „Eine originelle, überaus lehrreiche, und von einem religiösen Geiste überfließende Schrift, aber auch voll von schwankenden, mystischen und irrigen Begriffen und Urtheilen."247 „Im Ganzen genommen sind diese Reden consequent und auf eine Hauptansicht hinweisend, im Einzelnen aber inconsequent, und es möchte wohl kaum ein Hauptsatz darin anzutreffen seyn, der hie und da durch Unbestimmtheit nicht aufgehoben, oder wenigstens in einen scheinbaren Widerspruch versetzt würde. Dennoch ist des Geistvollen, Religiösen, Originellen und Beherzigungswürdigen so viel in diesen Reden, daß sie einer vorzüglichen Prüfung und Aufmerksamkeit werth sind. Ueberhaupt kann es, in Rücksicht der subjectiven Religion, d.i. des religiösen Geistes, der religiösen Gesinnung, kein religiöseres Buch geben, als die Reden an die gebildeten Religionsverächter, aber in Rücksicht der ob je et iven Religion, d.i. der Darstellung des religiösen Stoffs durch Begriffe, herrscht bey aller Vortrefflichkeit, Wahrheit und Bestimmtheit, auch viel Unbestimmtes, Irriges, Einseitiges und Widersprechendes darin,"248 Während Rätze, der übrigens gleich zu Beginn in einer Anmerkung „F. Scheiermacher [!], Prediger am Charitee-Haus zu Berlin"249 als Verfasser der anonymen Schrift nennt, die subjektive Seite der „Reden", d.h. ihre Religiosität und ihre Darstellungskunst sehr rühmt, formuliert er gegen ihre objektiv-lehrmäßige Seite in zwei Gedankenkreisen seine Einwände, Vorbehalte und Widerlegungen. Der erste Überlegungsgang ist Schleiermachers Religionsbegriff gewidmet. „Der Hauptfehler dieser Schrift besteht zunächst in einem einseitigen, unvollständigen und mystischen Re250 ligionsbegriffe." In drei Schritten präzisiert Rätze diesen Vorwurf. Erstens kritisiert er die Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit der Begriffe von

244 245 246 247 248 249 250

Vgl. Rätze: Ansichten 8.41 Vgl. Rätze: Ansichten 141-160 Vgl. Rätze: Ansichten 160-201 Rätze: Ansichten 141 Rätze: Ansichten 142f Rätze: Ansichten 141 Rätze: Ansichten 143

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Einführung

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Universum und Gott. Anhand umfangreicher Zitate versucht Ratze darzutun, daß das Verhältnis von Gott und Universum von Schleiermacher höchst unterschiedlich geschildert wird; ihn irritiert zudem sichtlich die mangelnde Normativität in der Schleiermach ersehen Phänomenbeschreibung und -Würdigung. Die Objektivität und Zweckmäßigkeit der Religionsvorstellungen werde bei aller Vortrefflichkeit des religiösen Sinnes vernachlässigt. Für den Gottesbegriff fordert Rätze den Primat vor dem Universumsbegriff. Zweitens greift Rätze Schleiermachers Diastase von Religion und Moral an. „Nicht minder unrichtig ist es, wenn das Subjektive in der Religion bloß als etwas Passives, Gefühltes, Demüthigendes und Hingebendes dargestellt, alles Active, Moralische, Denkende und Erhebende aber von der Religion ausgeschlossen wird."251 Bei aller berechtigten Betonung der Eigenart und Eigenständigkeit der Religion müsse doch ihre Trennung von der Moral als unsachgemäß getadelt werden. Zudem widerspreche die Ablehnung und Aussonderung moral- bzw. philosophiegeprägter Religionsansichten der von Schleiermacher ansonsten proklamierten Mannigfaltigkeit legitimer religiöser Äußerungen. Damit ist schon der Überschritt zum dritten Punkt präformiert. „Eben so sonderbar, unbestimmt und ungültig ist es auch, wenn der Verfasser alle Philosophie aus der Religion hinaus wirft, und dieselbe für etwas der Religion Fremdartiges erklärt."252 Rätze mißt der Philosophie wichtige aufklärende, durchbildende, reinigende und verteidigende Aufgaben für die Religion zu. Die von ihm akzeptierten Vorwürfe gegen die Religionsphilosophie, die das denkerische Moment in der Religion sachgemäß neben dem anschauenden, fühlenden und handelnden zur Geltung bringe, setzt er zu Lasten der Philosophen und nicht der Philosophie. In einem zweiten Gedankenkreis beschäftigt sich Rätze mit Schleiermachers Stellung zu den positiven Religionen. Seinen grundsätzlichen Beifall modifiziert Rätze durch seine Kritik der Schleiermach ersehen Auffassung des Übernatürlichen im Positiven. „Einen reinem, kühnern, consequentern und moralischem Naturalismus in der Religion kanns nirgends geben, als in den Reden an die gebildeten Religionsverächter. Ihrem Verfasser sind die positiven Religionen weiter nichts, als natürliche Erscheinungen von wirklich religiösen Menschen, oder begeisterte Darstellungen der Anschauungen des Universums."253 Rätze belegt seine These durch ein längeres Zitat zum Wunderund Offenbarungsbegriff. Obwohl Rätze die Widerlegung des religiösen Naturalismus schon in seiner eigenen Schrift zu seinem besonderen Anliegen gemacht hat und er in diesem Punkt auch Schleiermacher entschieden entge251 252 253

Rätze: Ansichten Rätze: Ansichten Rätze: Ansichten

150 152 155f

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Einleitung

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gentritt, rühmt er doch Schleiermachers subjektive Darstellung des religiösen Kräftefeldes im Christentum. Er selbst hält an der Vernünftigkeit und Unverzichtbarkeit der Offenbarungspositivitäten fest, schon um der Abgrenzung der positiven von der natürlichen Religion wegen. Zuletzt gibt Rätze noch einen unterstützenden Hinweis an die Pädagogen, sich Schleiermachers bedenkenswerte Ausführungen zum Religionsunterricht zu Herzen zu nehmen. Die „Reden" erfuhren zu Schleiermachers Lebzeiten noch drei weitere Auflagen.25* Jede der weiteren Auflagen nutzte Schleiermacher zu umfänglichen Umarbeitungen, Ergänzungen und stilistischen Glättungen. Die 4. Auflage ist dann in die „Sämmtlichen Werke" aufgenommen worden255 und hat die Wirkungsgeschichte der „Reden" durch das gesamte 19. Jahrhundert bestimmt. Zur Säkularfeier gab Rudolf Otto 1899 den Text der 1. Auflage neu heraus.256 Diese Edition hatte großen Erfolg und führte dazu, daß im 20. Jahrhundert die „Reden" fast durchweg in Gestalt der 1. Auflage rezipiert wurden. So lassen sich für die vergangenen Jahrzehnte vielerlei Neuausgaben der 1. Auflage feststellen.251 Eine Sonderstellung nimmt die kritische Edition der „Reden" (Braunschweig 1879) durch Bernhard Pünjer ein, der auf der Textgrundlage der 1. Auflage eine Synopse aller 4 Auflagen erstellt hat.258 Wegen der vielen Abweichungen der verschiedenen Auflagen voneinander ist diese Edition jedoch schwer lesbar. In der Kritischen Gesamtausgabe werden die 2. — 4. Auflage der „Reden" in Band 12 der I. Abteilung veröffentlicht, wobei der Text der 4. Auflage zugrunde gelegt wird. 12. Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter Im Juli 1799 veröffentlichte Schleiermacher bei dem Berliner Verleger Friedrich Franke anonym die Schrift „Briefe bei Gelegenheit der politisch

254 255 256

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Die 2., die 3. und die 4. Auflage erschienen 1806, 1821 und 1831 im Verlag Georg Reimer. SW 1/1,133-460 Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Zum Hundertjahr-Gedächtnis ihres ersten Erscheinens in ihrer ursprünglichen Gestalt neu herausgegeben von R. Otto, Göttingen 1899; 6. Aufl. 1967 Vgl. z.B. Werke, edd. O. Braun/J. Bauer, Bd4, 2. Aufl., Leipzig 1928 (Nachdruck Aalen 1967), S. 207-399; - Theologische Schriften, ed. K. Nowak, Berlin 1983, S. 51-214; Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, ed. M. Rade, Berlin o. J. (1912 und 1936); — Über die Religion . .., ed. Η. Leisegang, Leipzig 1924; — Über die Religion . . ., ed. H.-J. Rothert, Hamburg 1958 (Nachdruck 1970); - Uber die Religion . . ., ed. C. H. Ratschow, Stuttgart 1969 (Nachdruck 1980) Schleiermacher: Reden üeber die Religion. Kritische Ausgabe, ed. G. C. B. Pünjer, Braunschweig 1879

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Einführung

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theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter" mit der beziehungsreichen Verfasserangabe ,,Von einem Prediger außerhalb Berlin". Sie umfaßt 64 Druckseiten im Oktavformat von 11 cm Breite und 19 cm Höhe. Die zweiseitige „Vorerinnerung" des (fiktiven) Herausgebers ist auf den 2. Juli 1799 datiert. Die sechs Briefe aus „P. . ." (für Potsdam) reichen vom 17. April bis zum 30. Mai 1799. Schleiermacher verbirgt sich hinter einem anonymen Herausgeber von sechs Briefen und hinter dem ebenfalls anonymen Brief schreib er, der als Prediger außerhalb Berlins lebt und angeblich mit dem Herausgeber (einem Politiker) über den im März 1799 erschienenen anonymen Aufsatz „Politisch-theologische Aufgabe über die Behandlung jüdischer Täuflinge"259 und das im April 1799 veröffentlichte anonyme „Sendschreiben einiger jüdischer Hausväter"26° korrespondiert. Diese Fiktion erlaubt Schleiermacher, dialogische Stil- und Argumentationselemente zu nutzen, um manche Themen durch Andeutungen zu streifen und manche mißverständlichen Thesen schärfer zu profilieren. Ob Schleiermacher bekannt war, daß David Friedländer der Autor des „Sendschreibens" war, und er sich bei seiner demonstrativen Entgegensetzung des Sendschreibers gegen Friedländer261 verstellte262, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. Für diese Kenntnis spricht Schleiermachers Umgang im Herzschen Salon, die vermutliche Anregung der Schrift durch Herz und ein spätes Briefzeugnis Stubenrauchs263, gegen diese Kenntnis sprechen die Aphorismen im ersten Gedanken-Heft264. Sicher ist aber, daß Schleiermacher Gefallen am Versteckspiel hatte und ein solches Versteckspiel auch beim „Aufgeber"26S und beim „Sendschreiber" unterstellt.266 Dadurch kann er den Diskussionsbeiträgen überraschende Aspekte abgewinnen und festgefügte Frontlinien aufbrechen. Dadurch gewinnt er eine facettenreiche eigene Stellungnahme. Schleiermachers inhaltliche Ausführungen sind durch eine doppelte Intention gekennzeichnet. Zum einen unterstützt er die Forderung nach bürgerlicher Gleichstellung der Juden unter bestimmten Bedingungen und folgt darin der staatskritisch-ironischen Polemik der „Aufgabe". Zum anderen

Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks 5 (Berlin 1799), Teilbd 1, S. 228- 239 (unten 373-380) 260 [Friedländer:] Sendschreiben an Seine Hochwürden, Herrn Oberconsistorialrath und Probst Teller zu Berlin, von einigen Hausvätern jüdischer Religion, Berlin 1799 (unten 381-413) 261 Vgl. Briefe bei Gelegenheit 12 (unten 335,10-17) 262 Yg[ Scholtz: Friedrich Schleiermacher über das Sendschreiben jüdischer Hausväter, in: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 4 (Wolfenbüttel 1977), S. 297-351, hier 304f 263 Vgl. Briefe 3,118f 264 Vgl. Gedanken I, Nr. 200-211 (unten 45,13-48,2) 265 Vgl. Briefe bei Gelegenheit 16f und 22 (unten 337,19-26 und 340,3-13) 266 Vgl. Briefe bei Gelegenheit 22-27 (unten 340,14-342,25) 259

LXXX

Einleitung des

Bandherausgebers

betont er die wesentliche Positivität jeder Frömmigkeit und greift den Standpunkt der Vernunftreligion im „Sendschreiben" an; der Vereinigungsvorschlag sei zu taktisch (im Blick auf die bürgerliche Gleichstellung) gemeint und sei sowohl den Juden selbst, aber auch der christlichen Kirche abträglich; er mißachte die Eigentümlichkeiten der Religiosität. Die Befürwortung der rechtlichen Emanzipation der Juden vereint Schleiermacher also mit der Ablehnung der aufklärerischen Vernunftreligion. Er wendet sich sowohl gegen die supranaturalistischen staatskirchlichen Christen als gegen die aufgeklärten allgemeinreligiösen quasikonversionswilligen Juden. Er dringt auf eine Unterscheidung der Belange und Interessen von Kirche und Staat. Über die Veranlassung dieser Schrift und das geschichtliche Umfeld läßt sich manches ermitteln.267 Die Aufklärung mit ihrem Programm der Menschenrechte und der natürlichen Religion hatte auch die Bestrebungen um die Gleichstellung der Juden sehr befördert. Im friderizianischen Berlin hatte sich eine größere jüdische Gruppe gebildet, deren wirtschaftliche, soziale und kulturelle Bedeutung von ihrer rechtlich-politischen Bedeutungslosigkeit seltsam-schmerzlich abstach.268 Diese Gruppe der von der Aufklärung geprägten Juden bemühte sich um die bürgerlich-rechtliche Gleichstellung mit den Christen — unterstützt durch Staatsreformer wie ζ. B. den Diplomaten Christian Wilhelm von Dohm (1751—1820j, der mit seinem Manifest „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden" (Berlin 1781) die Judenemanzipation literarisch wirkungsvoll förderte — und zugleich um eine innere Reform des Judentums im Sinne der natürlichen Vernunftreligion. Ihre Ablehnung des Zeremonialgesetzes brachte sie in Gegensatz zu den orthodoxen Juden; ihre Bemühung um rechtlich-politische Emanzipation traf auf den Widerstand christlich-konservativer Kreise. Nach dem Regierungsantritt von Friedrich Wilhelm II. 1786 wurde zunächst ein Reformprozeß in Gang gesetzt, der nach anfänglichen Verbesserungen für die Juden (Abschaffung des Leibzolls und Wahl von jüdischen Gemeindevertretern 1787) zu keinen durchgreifenden Änderungen führte und mit dem preußischen Kriegsbeginn gegen das revolutionäre Frankreich 1792 völlig zum Erliegen kam. Da auch die inneren Reformbemühungen scheiterten, entschloß sich David Friedländer (1750—1834), der seit dem Tode von Moses Mendelssohn 1786 der führende Kopf und die treibende Kraft jüdischer Reformbewegung 267

Vgl. Littmann: David Friedländers Sendschreiben an Probst Teller und sein Echo, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 6 (Berlin 1935), S. 92-112 268 D i e am Ende des 18. Jahrhunderts gültige Rechtsstellung der Berliner Juden ergab sich aus dem von Friedrich II. am 17. April 1750 erlassenen Gesetz „Revidirtes General-Privilegium und Reglement vor die Judenschaft im Königreiche Preußen . . .", abgedruckt bei Rönne/Simon: Die Verfassung und Verwaltung des Preußischen Staates, Bd 8/3. Die früheren und gegenwärtigen Verhältnisse der Juden in den sämmtlichen Landestheilen des Preußischen Staates, Breslau 1843, S. 241-264

Historische Einführung

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war, die Fahrwasser und Untiefen für einen Übertritt aufgeklärter Juden zur protestantischen Kirche auszuloten. Mit der Taufe gewannen die Juden ja auch die Staatsbürgerrechte. Vor diesem rechtlichen Gewinn war allerdings der religiöse Preis zu klären: ließ sich das christliche Taufbekenntnis im Sinne der Vernunftreligion ablegen269, die ja von den aufgeklärten Juden als der wahre Kern der jüdischen Religion begriffen und reklamiert wurde?210 Friedländer wandte sich im April 1799 mit seinem anonymen „Sendschreiben einiger jüdischer Hausväter" an den Berliner Probst Wilhelm Abraham Teller (1734—1804), der sich als entschiedener Vertreter der theologischen Aufklärung271 und als Verfechter der rechtlichen Gleichstellung der Juden272 (bei Feststellung der religiösen Differenzen) gleichermaßen ausgewiesen hatte. Diesem Sendschreiben war schon im März 1799 der anonyme Aufsatz „Politisch-theologische Aufgabe über die Behandlung der jüdischen Täuflinge"273 vorangegangen. Dieser Aufsatz war vermutlich von Friedländer angeregt; er polemisiert in einer allerdings mißverständlichen Ironie gegen die Einbürgerungspraxis des preußischen Staates, an die Christianisierung der Juden zugleich die Verleihung der Bürgerrechte zu koppeln. Beide Schriften zusammen markieren die doppelte Frontstellung, in der sich die aufgeklärten Juden damals befanden: die politisch-rechtliche und die religiös-konfessionelle. Besonders das „Sendschreiben" löste eine Flut von Flugschriften und Aufsätzen aus.274 Es überwog die Ablehnung. Einige Rationalisten begrüßten den von Friedländer eingenommenen Standpunkt der natürlichen Religion, aber nur einer unterstützte ausdrücklich den Vereinigungsvorschlag.275 Die supranaturalistisch-orthodoxen Kreise dagegen lehnten 276 Standpunkt, Forderung und Vorschlag des „Sendschreibens" ab , teilweise unter Heranziehung diffamierender Vorurteile und antijüdischer Ressentiments. Gerade diese Ressentiments riefen Schleiermachers Unwillen wach und waren wohl mit eine Veranlassung, in die erregte Debatte einzugreifen. 269 270

271 272

273 274 275 276

Vgl. Sendschreiben 60- 86 (unten 403,16-413,8) Vgl. Mendelssohn: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, 2 Teile, Berlin 1783; hier Teil 2, S. 30-58.111-131 Vgl. Teller: Die Religion der Vollkommnern, Berlin 1792 Vgl. Teller: Beytrag zur neusten Jüdischen Geschichte, für Christen und Juden gleich wichtig und veranlaßt durch die vor dem Königl. Cammergericht zu Berlin erhobene Streitfrage: Bleibt der Jude, der zum Christenthum übergeht, bey der jüdischen Religion f, Berlin 1788 Vgl. unten 373-380 Vgl. Littmann: David Friedländers Sendschreiben 105—107 Vgl. Moses und Christus, Berlin 1799, vermutlich von Gottlieb Benjamin Gerlach Vgl. ζ. B. Luc: Lettre aux Auteurs Juifs d'un memoire adresse a Mr. Teller, Berlin 1799 und dessen deutsche Übersetzung: An die Hausväter jüdischer Religion, Verfasser eines an den Herrn Ober-Consistorialrath und Probst Teller zu Berlin gerichteten Sendschreibens, Berlin 1799

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Einleitung des

Bandherausgebers

Schon der Untertitel seiner Schrift läßt diesen Stachel erkennen: „Von einem Prediger außerhalb Berlin". Diese Ver fasser angab e dient doch wohl dazu, seine eigene Flugschrift gegen die judenfeindliche Flugschrift „An einige Hausväter jüdischer Religion, über die vorgeschlagene Verbindung mit den protestantischen Christen" (Berlin 1799) deutlich abzugrenzen, die in zwei Heften „Von einem Prediger in Berlin" veröffentlicht worden war.277 Über die Entstehungsgeschichte der „Briefe bei Gelegenheit" und die direkte Wirkungsgeschichte haben wir nur wenige Nachrichten. Das (wohl fiktive) Datum des ersten Briefes (17. April 1799) weist darauf hin, daß Schleiermacher diese Flugschrift höchst wahrscheinlich nach Abschluß der Reden „Über die Religion", d. h. nach dem 15. April 1799 zu schreiben begonnen hat. Schleiermachers Beschäftigung mit dem Thema der Judenemanzipation begann allerdings schon während der Abfassung der „Reden". Dafür gibt es zwei wichtige Brief Zeugnisse. In einem bisher unveröffentlichten Brief schrieb Schleiermacher am 16. März 1799 an Henriette Herz: „Ueber die theologische Frage etwas zu schreiben ist mir gar nicht so unangenehm als Sie denken, nur jetzt kommt mirs höchst fatal. Können Sie nicht H[erz] begreiflich machen, daß das Fest mich zu sehr genierte um fürs nächste Archivstück etwas zu schreiben, daß ich aber gewiß im Maistück meine Stimme geben würde. Was ich sagen werde wird sehr aus meiner Ueberzeugung kommen und ihm doch gewiß nicht unangenehm sein."278 Diese briefliche Mitteilung ist in mehrerer Hinsicht aufschlußreich. Zunächst einmal weist sie der Vermutung den Weg, daß Schleiermacher von Markus Herz — vermittelt durch dessen Frau Henriette Herz — angeregt wurde, sich öffentlich zu den Fragen der Judenemanzipation zu äußern. Sodann belegt diese Briefstelle, daß Schleiermacher sich schon vor Erscheinen des „Sendschreibens" für diesen Themenkreis — besonders wohl für dessen theologischen Aspekt („theologische Frage") — interessierte. Ferner ergibt sich aus diesen Briefsätzen, daß wohl auf Vorschlag von Herz geplant war, Schleiermachers Stellungnahme in Gestalt eines Aufsatzes in der Zeitschrift „Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks" zu veröffentlichen. Schließlich könnte diese Briefäußerung so verstanden werden, daß von Schleiermacher eine schnelle Reaktion erbeten war, daß er bei einer Publikation im April-Heft allein auf den Aufsatz „Politisch-theologische Aufgabe", der ja im März-Heft des „Berlinischen Archiv" erschienen war, eingehen konnte, daß somit Schleiermachers Stellungnahme auch noch als Vorbe277

278

Auf dem Titelblatt im verlorengegangenen Exemplar der Staatsbibliothek Berlin war „Prediger Wippel" als Autor eingetragen. Littmann (David Friedländers Sendschreiben 106) hat dieser Zuweisung widersprochen. Ein Berliner Prediger namens August Jakob Wippel verstarb bereits 1786. SN 751, Bl. 18v

Historische Einführung

LXXXIII

reitung für Friedländers im April publiziertes „Sendschreiben" geplant war, daß aber Schleiermacher durch das Fest (?) gehindert wurde, seinen Zeitschriftenbeitrag sogleich zu liefern und daß dann das Erscheinen des ,,Sendschreibens" eine Ausweitung und Vertiefung seiner Stellungnahme sowie deren selbständige Publikation veranlaßte. Der Brief vom 16. März läßt offen, wann Schleiermacher sich mit dem Themenkreis der Judenemanzipation zu beschäftigen begonnen hat. Hierzu enthält sein Brief vom 9. April an Henriette Herz einen wichtigen Hinweis: „Der närrische Alexander [sc. zu Dohna] hat mir einen Boten mit den Heften geschickt, und ich, der närrische Schlips, bin so dumm gewesen, ihm nicht einmal das Judenreglement mit ihm zurückzuschicken."279 Diese briefliche Äußerung, die auf eine Beschäftigung mit Gesetzestexten zur rechtlichen Lage der Juden zurückblickt, spricht dafür, daß Schleiermacher offensichtlich noch im März vor Erscheinen des ,,Sendschreibens" mit seinen Vorarbeiten, Studien und Überlegungen zur Judenemanzipation begonnen hat. Diese Annahme wird durch die Beobachtung gestützt, daß sich in den Notizen des ersten Gedanken-Heftes (Nr. 200—211) mehrere Anspielungen auf Friedländers „Akten-Stück" und auf den Aufsatz „Politisch-theologische Aufgabe" finden2^0, bevor Gedanken zum „Sendschreiben" folgen.281 Schleiermacher hatte also seine Publikationspläne, wenn auch in anderer Gestalt, bereits gefaßt, bevor in der ersten Aprilhälfte 1799 das „Sendschreiben" erschien. Aber er dürfte erst nach Fertigstellung der „Reden" an die Ausarbeitung seiner „Briefe bei Gelegenheit" gegangen sein. Aus bisher unveröffentlichten Briefen seines Onkels Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch an Schleiermacher lassen sich weitere Einzelheiten ermitteln. Stubenrauch schrieb am 11. April 1799: „So eben finde ich in der Berlinischen Zeitung ein Schreiben an den Prediger Teller von einigen jüdischen Hausvätern pp angezeigt, welches nebst Herrn Tellers Beantwortung wohl eine starke Sensation machen dürfte. "282 Am 20. April äußerte Stubenrauch sich noch einmal zu derselben Anzeige und vermutete vom „Sendschreiben", daß es „gewiß auch viel Aufsehen machen — aber auch, wie es mir wenigstens scheint, den guten Teller wohl in eine etwas unangenehme Verlegenheit setzen dürfte. "283 Am 29. Mai berichtete Stubenrauch, er habe das „Sendschreiben" gelesen284 und halte den Autor für einen christlichen Theologen, der in der neusten Philosophie gut bewandert und geübt sei. Doch im Juli fand diese Einschätzung, die Schleiermachers Ver-

279 280 281 282 283 284

Briefe 3,112 Vgl. unten Vgl. unten SN 397, Bl. SN 397, Bl. Vgl. SN 397,

45,13-46,12 46,13-48,2 86v 87r Bl. 89r

LXXXIV

Einleitung

des

Bandherausgebers

wunderung erregte, eine plausible Erklärung dadurch, daß Stubenrauch „damals das wirkliche Sendschreiben — welches doch wohl sehr gewiß von FriedlfänderJ — gar nicht gelesen. Die Sache ist nämlich diese. Einige Tage ehe ich meinen letzten Brief an Sie schrieb, kam eines Morgens unser Feldprediger (sc. Gottlieb Benjamin Gerlach, 1770—1844) zu mir und sagte, wie er eine kleine Schrift über jenes Sendschreiben aufgesetzt, die er gern ehe noch Tellers Antwort erschien drucken lassen wollte — ich möchte sie doch vorher durchsehen — nun fand ich da erst ein Sendschreiben der jüdischen Hausväter — und dann seine Antwort ich sähe wohl daß beydes nicht seine eigene Hand, wunderte mich jedoch, wie er auf den Einfall gekommen, jenes Sendschreiben noch abschreiben zu lassen. Da es aber ebenso an den Probst Teller gerichtet, und von dem nemlichen Inhalt — als jenes wirkliche nach den öffentlichen Anzeigen — so hielt es für solches — und darin waren nun wie Sie mir leicht glauben werden, manche sehr kritische Vorstellung — nur erst nachdem ich meinen Brief an Sie schon abgehen lassen, sprach ich den Feldprediger wieder und erfuhr nun von ihm, daß jenes Sendschreiben ebenso seine Arbeit, — weiß aber nicht ob er es nun noch hat drucken lassen, da in der Zwischenzeit Tellers Antwort und mehrere andere — auch eine von einem anderen Prediger in 2 Heften erschienen waren. Nun habe ich beydes das gedruckte Sendschreiben und auch Tellers Antwort — die meines Erachtens eine gewisse Verlegenheit zeigt, gelesen, bin aber nun sehr begierig auf ihre Schrift, die doch nun wohl nächstens erscheinen wird. "28s Am 14. August hielt Stubenrauch das ihm von Schleiermacher zugeschickte Exemplar der „Briefe bei Gelegenheit" in Händen. Er berichtete am 5. September über diese Schrift: „Sie hat mir sehr gefallen — aber daß sie die beßte sey unter allen, die in der Sache erschienen, kann ich doch mit gutem Gewissen nicht sagen — aus dem sehr erheblichen Grunde weil ich — die übrigen nicht gelesen, woran ich aber wohl eben nicht viel verloren haben werde. An der ihrigen hat es mir sehr gefallen, daß sie dem Friedländer mit vieler Schonung — und dabey doch sehr gut das Unstatthafte in jenem Ansuchen gezeigt haben — Nur wünschte ich manchmal daß auch die Briefe worauf jene die Antwort sind, ebenso mitgetheilt seyn möchten. Ich hätte sodann noch etwas länger des Vergnügens einer so angenehmen Unterhaltung genießen können. "286 Ende November 1799 schrieb Friedrich Schlegel aus Jena an Schleiermacher: „Vor allen Dingen bitte ich aber um ein Exemplar Deiner Briefe über die Judensache. Theils wird doch über kurz oder lang die Zeit kommen, wo ich Zeit fände sie gründlich zu lesen; theils würden sie Hardenberg

285 286

SN 397, Bl. 92v-93r SN 397, Bl. 95r; auch Briefe

3,ll8f

Historische

Einführung

LXXXV

sehr interessiren. Auch fände sich vielleicht irgend Gelegenheit, diesen oder jenen aufgeklärten Theologen damit zu kränken."287 In der „Allgemeinen Literatur-Zeitung vom Jahre 1800" erhielt Schleiermachers Schrift am 9. April 1800 eine überaus anerkennende kurze anonyme Rezension.288 Diese Rezension beginnt nach den bibliographischen Angaben: ,,Ιη diesen Briefen wird der Antrag der Hausväter von einer ganz andern Seite betrachtet, als in den A.L.Z. 1799. Nr. 268—273. recensirten Schriften und Schriftchen. Der V f . zeigt, daß diese Anfrage und deren Beantwortung von Hn. D. Teller oder vom Oberconsistorium die anfragenden Juden keinen Schritt weiter bringen können, indem jene nur ihre Privatmeynung sagen, aber aus eigener Gewalt keine neue Secte (worauf es doch nur hinaus will) stiften, noch uralte Gebräuche der bisher anerkannten Kirchengesellschaften abändern können, weil die jüdischen Hausväter keine Vollmacht von der Judenschaft haben, und weil die vorgeschlagene Quasibekehrung nur die Fabel des Drama, als Mittel sey, für sich und ihre Nachkommen nach dem civilsten intellectuellen Preise in die bürgerliche Gesellschaft zu treten, welches sie ganz in der Stille hätten abmachen können. "2H9 Und diese Rezension schließt, nachdem sie den Inhalt der „Briefe bei Gelegenheit" referiert hat, mit der Wertung: „Uebrigens ist diese Schrift nach des Ree. Meynung allen bisherigen an gründlicher Ansicht der Sache bey weitem überlegen."290 Die „Briefe bei Gelegenheit" sind in Schleiermachers „Sämmtliche Werke" aufgenommen und im fünften Band der ersten Abteilung abgedruckt worden.291 Im Jahre 1984 veranstaltete Kurt Nowak einen Faksimiledruck dieser Schrift, der um so verdienstvoller ist, als sich in der Gegenwart ein Exemplar des Originaldrucks nur noch in der Universitätsbibliothek Rostock nachweisen läßt.292 Da sich Schleiermacher in seiner Flugschrift häufig auf die beiden auch im Titel seiner Schrift genannten Druckwerke anspielend oder zitierend bezieht, und da sowohl der Aufsatz „Politisch-theologische Aufgabe" als auch die Flugschrift „Sendschreiben einiger jüdischer Hausväter" heute schwer zugänglich sind, bietet der vorliegende Band diese beiden Schriften im Anhang.293

287

Briefe 3,136 zee Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1800, Bd 2 (April—Juni), Jena/Leipzig 1800, Nr. 102 (Mittwoch, 9. April 1800), Sp. 79f 289 Allgemeine Literatur-Zeitung 1800, Bd 2, Sp. 79 290 Allgemeine Literatur-Zeitung 1800, Bd 2, Sp. 80 291 SW 1/5,1-39 292 Schleiermacher: Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter, Faksimile der Unikums der Universitätsbibliothek Rostock, ed. K. Nowak, Berlin 1984 293 Vgl. unten 373-413

LXXXVI

Einleitung des Bandherausgebers

13. Rezension von Immanuel Kant: Anthropologie Im zweiten Stück des zweiten Bandes der Schlegelschen Zeitschrift „Athenaeum" erschien im August 1799 unter dem Sammeltitel „Notizen" auch ein anonymer Beitrag von Schleiermach er, nämlich seine Rezension der ,,Anthropologie" Kants. Diese Rezension umfaßt 7 Seiten im Oktavformat von 12,9 cm Breite und 21,8 cm Höhe. Über ihre Entstehungsgeschichte haben wir nur eine briefliche Nachricht. Schleiermacher berichtete Henriette Herz am 19. Juni 1799: „Diesen Mittag habe ich bei der Veit gegessen, habe dann meine Notiz von Kant's Anthropologie dort zu Ende in's Reine geschrieben und dann sind wir in Bellevue gewesen, wo die Akazien göttlich riechen. "294 Vorüberlegungen finden sich im ersten Gedanken-Heft, die Aphorismen Nr. 172—178 und 189. Diese Aphorismen dürften im Spätherbst 1798 entstanden sein, bald nach der Publikation der Kantischen ,,Anthropologie" zur Michaelismesse 1798. Ob Schleiermacher damals mit diesen Gedankensplittern schon Rezensionspläne verband, muß offen bleiben. Möglich ist es. Seine enge Bindung an Kant hatte sich seit dem Erscheinen der Kantischen Schrift „Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre", die nach den umwälzenden, auch Schleiermacher in ihren Bann schlagenden kritischen Werken das Systemprogramm einer neuen Ethik einlösen sollte und darin Schleiermacher maßlos enttäuschte295, und seit seiner Freundschaft mit Friedrich Schlegel merklich gelockert. Die im Schlegelschen Frühromantikerkreis gepflegten Überbietungsansprüche und das revolutionäre Epochenbewußtsein mußten sich auch in der Besprechung eines Spätwerks des alten Meisters beweisen und mit einer gewissen Schärfe gegen diesen kehren. Diese Rezension von Kants „Anthropologie" wurde in Schleiermachers „Sämmtliche Werke" nicht aufgenommen. Sie wurde aber von Wilhelm Dilthey im vierten Band der Briefsammlung „Aus Schleiermacher's Leben" (Berlin 1863) zusammen mit anderen Rezensionen anhangsweise wieder abgedruckt.296 Außerdem ist sie im Nachdruck291 und im Wiederabdruck der Zeitschrift „Athenaeum"298, vertreten. Tabellarische Übersicht Zum Abschluß dieser Historischen Einführung seien die literarischen Unternehmungen Schleiermachers, soweit sie der I. Abteilung dieser Ge294 295 296 297

298

Briefe 1,226 Vgl. Gedanken I, Nr. 62 (unten 20,6-9) Briefe 4,533-536 Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, Nachdruck München 1924 und Nachdruck Darmstadt 1973, Bd 2,300-306 Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, ausgewählt und bearbeitet von Curt Grützmacher, 2 Bde, Reinbek 1969, hier Bd 2, S. 118—122

Historische

Einführung

LXXXVII

samtausgabe zugerechnet werden müssen, für den Zeitraum 1796—1799 tabellarisch—chronologisch zusammengefaßt. Die im Druck erschienenen Schriften werden nach ihrem Publikationsdatum eingeordnet, nicht nach ihrem Abfassungszeitraum. Das bedeutet für die im Herbst 1799 verfaßten ,,Monologen", daß diese Schrift dem Band „Schriften der Berliner Zeit 1800—1802" (KGA 1/3) zugewiesen werden mußte. Dagegen ist für die Manuskripte ihr Entstehungszeitraum bei der chronologischen Einordnung maßgebend. Bemerkenswert ist, daß Schleiermacher gleichzeitig an bis zu vier Projekten gearbeitet hat. 1796— 1799

Vermischte Gedanken und Einfalle (Gedanken I) 1796/97 Notizen und Exzerpte zur Vertragslehre 1796/97 Entwurf zur Abhandlung über die Vertragslehre 1797 Skizze über die Immoralität aller Moral 1797 Besprechung von Kants „Metaphysik der Sitten" 1797/98 Leibniz I 1797/98 Leibniz II 1798 Gedanken II 1798-1801 Gedanken III 1798 Fragmente 1798 Essay über die Treue 1798 Essay über die Scham 1798 Zum Armenwesen 1799 Versuch einer Theorie des geselligen Betragens 1799—1802 Siedlungsgeschichte von Neusüdwales (alias Neuholland) 1799 1799 1799

Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern Briefe bei Gelegenheit der politsch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter Rezension von Kants „Anthropologie"

erhalten erhalten erhalten nicht erhalten nicht erhalten erhalten erhalten erhalten erhalten gedruckt nicht erhalten nicht erhalten erhalten gedruckt teilweise erhalten (KGA 1/3) gedruckt gedruckt gedruckt

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Einleitung

des

Bandherausgebers

II. Editorischer

Bericht

Der vorliegende Band „Schriften aus der Berliner Zeit 1796—1799" (KGA 1/2) enthält die handschriftlich erhaltenen Arbeiten Schleiermachers und seine im Druck veröffentlichten Schriften aus dem Zeitraum vom Antritt der reformierten Predigerstelle an der Berliner Charite (September 1796) bis zum Ende des Jahres 1799. Nicht aufgenommen wurden in diesen Band alle die Arbeiten, die ihrer literarischen Gattung nach der III. oder IV. Abteilung zugewiesen werden mußten. Das gilt zum einen für die Entwürfe und Druckfassungen von Predigten, die Schleiermacher in diesem Zeitraum gehalten hat. Das gilt zum anderen für seine zweibändige Übersetzung von Fawcetts Predigten und für seine Mitübersetzung des Parkschen Afrika-R eiseberich ts. Alle hier abgedruckten Nachlaßstücke werden im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin-Mitte aufbewahrt. Der dort befindliche Schleiermacher-Nachlaß war 1898 von der „Litteraturarchiv-Gesellschaft", deren roten rechteckigen Stempel „Litteraturarchiv Berlin" sie auch tragen, erworben worden. Vor knapp zwei Jahrzehnten wurde der vorher schlecht geordnete Schleiermacher-Nachlaß von Friedrich Laubisch übersichtlich erschlossen. Die Nachlaßstücke aus den Jahren 1796—1799 waren bisher der wissenschaftlichen Öffentlichkeit bekannt in der Gestalt und in dem Umfang, wie sie Wilhelm Dilthey in „Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers, erläutert durch kritische Untersuchungenvorgestellt hat. In diesem selbständig paginierten Anhang seines „Leben Schleiermachers" (Berlin 1870) hat Dilthey viele Nachlaßstücke beschrieben und in Auswahl veröffentlicht.299 Dilthey bietet keines der Nachlaßstücke vollständig, doch gibt er im Gegensatz zu den ,,Jugendschriften" sie zumeist wortgetreu (ohne eigene eingeschobene Referate) wieder und begnügt sich auch zumeist mit relativ wenigen Kürzungen. Im vorliegenden Band sind die Nachlaßstücke zusammen mit den Druckschriften chronologisch geordnet. Schleiermacher hat allerdings nur ein Manuskript selbst datiert; für die anderen läßt sich aus der Kombination von Briefzeugnissen und inhaltlichen Gesichtspunkten (Quellenbenutzung, biographische Bezüge) eine ziemlich genaue Datierung gewinnen. Keines der hier veröffentlichten Manuskripte ist von Schleiermacher als Druckvorlage geschrieben worden; dementsprechend sind eine Reihe von Stellen schwer leserlich, besonders da in den Gedanken-Heften kein größerer Kontext vorhanden ist. Um die Eigenart der für diesen Zeitraum charakteristischen Gedanken-Hefte zu veranschaulichen, ist dem Band ein Faksimile der 1798 geschriebenen Seite 1 des dritten Gedanken-Heftes beigegeben.300 Au299 300

Vgl. Denkmale 69-113.115-123 Vgl. unten 118

für den Zeitraum

1796-1799

Editorischer

Bericht

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ßerdem werden die Titelblätter der beiden selbständig erschienenen Druckschriften „Reden über die Religion"301 und „Briefe bei Gelegenheit"302 sowie das Inhaltsverzeichnis der „Reden"303 faksimiliert wiedergegeben. Der vorliegende Band ist nach den „Allgemeinen editorischen Grundsätzenfür die I. Abteilung"30* sowie den „Besonderen Grundsätzen für die Edition von Handschriften"305 gestaltet. Die besonderen Gegebenheiten der hier veröffentlichten Texte machen einige zusätzliche Regelungen erforderlich. Durch Sperrung von Stichworten werden diese zusätzlichen Regeln auf die Grundsätze bezogen. Abbreviaturen. Schleiermacher beschleunigte seine Niederschrift des öfteren durch die Verwendung von Kürzeln und Abkürzungen. Kurzform und ausgeschriebene Form eines Wortes können allerdings nebeneinander auftreten. Der Zeichenwert der Abbreviaturen ist konstant. Doppeldeutig können Kurzformen allenfalls sein, wenn sie auch als Abkürzungen eines Namens dienen können (Beispiel: M. steht für Mensch, kann aber auch Mendelssohn heißen). In solchen Fällen ermöglicht freilich der Kontext jeweils eine eindeutige Auflösung. Die ungewöhnliche Verwendungsart wird im textkritischen Apparat jeweils am Ort, die häufiger vorkommende im hier folgenden Verzeichnis der Abbreviaturen nachgewiesen. Folgende Abbreviaturen des Originals sind im Drucktext aufgelöst, ohne daß ein Nachweis im textkritischen Apparat erfolgt. Kombinationen von Abbreviaturen werden nicht eigens aufgeführt, ebensowenig wie die Flexionsformen von Abbreviaturen, die Schleiermacher häufig durch den hochgestellten letzten Buchstaben der entsprechenden Flexionsendung kenntlich gemacht hat (Beispiel: k" für keinen). ab Arist, Aristot bB d dadh -dg dh dß dse )

301 302 303 304 305

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

aber Aristoteles beBegriff der, die, das dadurch -dung durch daß diese -en, -er

unten 187 unten 329 unten 188 KGA I/1,IX-XIII KGA I/l.XIII-XVI

entw g" Handl -ht k -kt Kn L, Leibn -1 Μ m

entweder geHandlung -heit kein keit Knigge Leibniz -lieh Mendelssohn mein

XC

Einleitung des Bandherausgebers

moral δ, ο od Ρ prakt Rel s sd

moralisch nicht oder perge praktisch Religion sein sind

"tg u üb, Ueb -g unmoral V-,vwodh

-tig und über, Ueber -ung unmoralisch Ver-, ver- oder von wodurch

Hinsichtlich der Zeichensetzung hat Schleiermachers Sparsamkeit, auch ausgedehnte Satzperioden nur durch wenige Interpunktionszeichen zu gliedern, durchaus prinzipiell-programmatische Züge.306 Allerdings muß sein Schwanken in einigen Spezialfällen anders gewertet werden. In seinen Manuskripten setzt er nämlich nach den von ihm benutzten, damals gebräuchlichen Abkürzungen mal einen Punkt, mal aber auch nicht. Dies wird hier dahingehend vereinheitlicht, daß immer ein Punkt nach der Abkürzung gesetzt wird. Dasselbe gilt für den Punkt nach Ziffern und Buchstaben, die die Reihenfolge in einer Aufzählung markieren, sowie für die Abkürzungen, Kapitel- und Seitenzahlen in Literaturangaben. Bei Ordinalzahlen läßt Schleiermacher oft der Ziffer einen hochgestellten Schnörkel folgen, der „te", „ter" oder „tes" heißen soll und zumeist unleserlich ist. Diese Ausgabe kennzeichnet die Ordinalzahl einheitlich durch Punkt hinter der Ziffer. Schleiermacher läßt bei der Silbentrennung von Wörtern häufig das Trennungszeichen weg. Dieses wird hier stillschweigend ergänzt. Schleiermacher setzt keine Bindestriche (Wiederholungszeichen) bei zwei einander folgenden Wörtern mit demselben Wortbestandteil: ,,Parthei und Sektengeist". Diese Bindestriche in parallelen Aufzählungen werden nicht ergänzt. Die Abgrenzungsstriche, die Schleiermacher in der Regel (allerdings mit unterschiedlicher Länge) in seinen Gedanken-Heften zwischen den Aphorismen gezogen hat, sind hier durchgängig und in normierter Länge gedruckt worden. Bei den Athenaeums-Fragmenten ist das Auslassen der nicht Schleiermacher zugehörigen Fragmente durch eine Verdoppelung desjenigen Abstandes angezeigt, der zwischen den ununterbrochen aufeinanderfolgenden Schleiermach ersehen Fragmenten gelassen ist. Wenn in den Druckschriften (ζ. B. in den „Reden") an einigen Stellen einer der beiden Umlautstriche oder auch der i-Punkt fehlt, so wird die Ergänzung stillschweigend vorgenommen. Der Sachapparat hat auch hier nicht die Aufgabe einer wissenschaftlichen Kommentierung des Textes. Er soll den Text nur erschließen. Zur

306

Vgl. Briefe

4,78f.381

Editorischer

XCI

Bericht

Auflösung abgekürzter Literaturangaben ist zu bemerken, daß bei den Schriften von Piaton und Aristoteles die lateinischen Fassungen der Titel gewählt worden sind, weil Schleiermacher sich in der Regel der lateinischen Kurzformen bedient hat (ζ. B. Leg. für Leges statt Νομοί oder Gesetze). Im Sinne der Vereinheitlichung sind die lateinischen Titel dann bei allen Schriften von Piaton und Aristoteles benutzt worden.

Der vorliegende Band 112 der Kritischen Gesamtausgabe Schleiermachers ist (wie schon Band Hl) das Ergebnis einer mehrjährigen Bemühung. Ich habe das gesamte Schleiermachersche Handschriftenmaterial des Zeitraums 1787—1802 als Block bearbeitet, später kamen die Druckschriften der Jahre 1798 bis 1802 hinzu. Daß mir diese Mühe nicht sauer geworden ist, verdanke ich zuallererst dem vertrauensvollen Arbeitsklima und den großzügigen Arbeitsbedingungen der Schleiermacher-Forschungsstelle der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel, an der ich seit Februar 1978 beschäftigt bin. Insbesondere fand meine Arbeit beste Unterstützung durch Prof. Dr. Hans-Joachim Birkner, den Leiter der Kieler Forschungsstelle. Herrn Birkner gilt erneut vor allen anderen mein herzlicher Dank. Die wöchentlichen Dienstbesprechungen in Kiel und die halbjährlichen Sitzungen der Herausgeber-Kommission brachten für mich immer wieder sachkundigen Rat in Einzel- und Grundsatzfragen. Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers ermutigte meine Editionsarbeit in großzügiger Weise durch meine Beurlaubung vom Pfarrdienst, die Deutsche Forschungsgemeinschaft förderte sie bis zum Jahresende 1983, dann übernahm die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen diese Förderung. Für hilfreiche Anregungen und Hinweise danke ich meinen Berliner Kollegen Drs. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond sowie meinen Kieler Kollegen Bernd Jaeger, Martin Oh st und Hans-Friedrich Trauisen. Dem Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR in BerlinMitte sage ich Dank für die entgegenkommende Unterstützung bei der Handschriftenbenutzung und für die Veröffentlichungsgenehmigung. Die Universitätsbibliothek Kiel beschaffte mir dankenswerterweise die oft schwer zugängliche auswärtige Literatur. Der Biblioteka Jagiellonska in Krakow danke ich für die zur Verfügung gestellten Briefe. Frau Dolly Füllgraf schrieb in bewährter Zuverlässigkeit das Typoskript meiner Einleitung ins Reine. Beim mühsamen Geschäft des Korrekturlesens und Umbruchklebens unterstützten mich mit Engagement Elisabeth Blumrich, Anke Hasselmann, Bernd Jaeger, Martin Ohst und Hans-Friedrich Trauisen. Günter

Meckenstock

Vermischte Gedanken (Gedanken (1796-1799)

und Einfalle I)

N o . 2.

Vermischte Gedanken und Einfälle Sept. 1796. Schleiermacher

Politik 1. Eine uneingeschränkte Monarchie kann durch einen Vertrag weder in dem Stande der Natureinfalt entstanden seyn, denn da sind die Menschen zu eifersüchtig auf ihre Rechte, noch in dem Zustand der Bildung denn da nehmen sie mehr Maaßregeln; also nur ein roher Haufe, der sich nicht Zeit nimmt zu überlegen, und der kein andres Interesse hat als panem et circenses, dieser wird eine uneingeschränkte Monarchie constituiren. — Dies ließe sich sehr lebhaft ausmahlen.

2. Die Vertheidiger der uneingeschränkten Monarchie gerathen unausbleiblich in folgendes Dilemma, entweder es giebt in einem solchen Staat keinen allgemeinen Willen oder das Volk hat nicht nur die Ausübung der Souveraenität sondern auch die Souveraenität selbst veräußert. Denn betrachte ich den Monarchen als ein Mitglied des Staats so giebt es keinen allgemeinen Willen, weil es einen einzelnen Willen im Staat giebt der ihm nicht unterworfen ist; betrachte ich ihn als einen extraneum so findet sich die Ausübung der Souveraenität außer dem Staat und sie ist also veräußert. - Den 16. Sept. 1796.

5 Politik] am Rand

18 der] korr. aus die

4

Gedanken I

3. Diejenigen welche über die Vergänglichkeit der Zeit klagen gleichen den Völkern welche aus Gram darüber daß einer gestorben ist einen andern tödten, damit er Geleit habe. Diese wißen gewiß nicht warum sie trauern, jene verstehn nicht worüber sie klagen. Den 26. Sept. 1796.

4. Wenn von dem rechtlichen Grund des Verhältnißes zwischen Regierern und Regierten in einer Republik die Rede ist, so hat noch Niemand von einem Unterwerfungsvertrag geredet. Dieser Terminus ist nur für die Monarchie gemacht, und zwar nur für die uneingeschränkte. Wie kann man also, wenn die Frage entschieden werden soll: ob ein Volk das Recht habe seine Staatsverfaßung zu ändern, den Beweis im Allgemeinen aus dem U n terwerfungsvertrag führen? D o c h thut das Eberhard.

5. Es fehlt noch an der Hypothese, daß eigentlich die ganze K i r c h e — nicht nur der Pabst — der Antichrist sei, der da vorgiebt er sei Gott, und zu Lügen verführt[.] — Die Kirche ist wie ein Polyp, wenn ein Stük davon abgerissen wird entsteht wieder ein ganzer Polyp daraus, und es hilft nichts wenn die Menschen nach ihren verschiedenen Meinungen sich in noch mehr Kirchen theilten, der Polyp muß nicht zerrißen, sondern ganz vernichtet werden.

6. D a an den Staat bei allen Verträgen Regreß genommen wird, so muß er auch das Recht haben Vorschriften über die Form der Verträge zu 1—4 Vgl. [Schleiermacber:] Monologen. Eine Neujahrsgabe, Berlin 1800, S.9f und 106; edd. Schiele/Mulert, 3. Aufl., Hamburg 1978, S. 12,1-8 und 70,30-33 11 Johann August Eberhard hat in seinem zweiteiligen Werk „ Ueber Staatsverfassungen und ihre Verbesserung" (Berlin 1793 — 1794) auch die Frage behandelt: „Hat ein Volk das Recht, so oft es will, seine Staatsverfassung zu verändern?" (2,6) Rückgreifend auf seine Darlegungen zum Unterwerfungsvertrag (vgl. 1,106—115) und die dortige Feststellung: „Durch den gesellschaftlichen Vertrag ist jeder einzelne Bürger den Gesetzen und Verordnungen der ganzen Gesellschaft unterworfen, er ist durch denselben verbunden, ihnen zu gehorchen. Durch den Unterwerfungsvertrag erkennt er die Herrschaft derjenigen, denen die Gesellschaft die Ausübung Eines oder mehrerer oder aller Souveränitätsrechte übertragen hat" (1,106), wobei der Bürger die erfolgte Souveränitätsübertragung „nicht willkührlich und einseitig" (1,107) rückgängig machen könne, sucht Eberhard seine Verneinung der obigen Frage aus der zweiseitigen Verbindlichkeit des Vertrages zu begründen (vgl. 2,6—28). 14—18 Vgl. [Schleiermacher:] Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799, S. 225 (unten 287,34f)

Gedanken I

5

machen, um sich sein Richteramt zu erleichtern. E r hat also das Recht zu sagen: ein Vertrag über den ausschließenden Beischlaf muß auf die und die Weise geschloßen werden, sonst wird keine Verlezungsklage dagegen angenommen. D e r Staat hat also volles Recht die Diener der Kirche zu Notarien hiebei zu committiren und sich auf Ehe und KinderKlage nur unter dieser Bedingung einzulaßen. Aber er hat nicht Recht zu fodern daß überhaupt der Beischlaf nur nach vorhergegangenem Vertrag exercirt werde, oder daß dieser Vertrag immer ein lebenslänglicher sei; denn dies beträfe das materiale der Sache. Der Staatsrechtliche Unterschied zwischen Ehe und Konkubinat besteht also eigentlich nicht darin daß die erste ein unauflöslicher und lezterer ein auflöslicher Vertrag ist, sondern darin daß erstre ein bestätigter und fundirter, lezterer ein unfundirter Vertrag ist, und es wäre sehr billig, daß der Staat ein Mittel träfe, auch den auflöslichen Vertrag zu fundiren. Denn es ist schändlich daß aus dem Konkubinat, wo doch der Beischlaf in Rüksicht auf Vernunftzweke betrieben wird, nicht größere Rechte entstehen sollen, als aus der Hurerei, wo er nichts als blinde Befriedigung eines Triebes ist. Dies | Mittel könnte zwiefach seyn: entweder müßte ein K o n kubinatsKontrakt, wie jeder andre schriftlich und gerichtlich abgefaßt werden dürfen, oder die übertriebnen Rechte die aus einer förmlichen Ehe für Gatte und Kinder herfließen müßten gemindert werden, damit Niemand eine Entschuldigung hätte, warum es ihm nicht möglich gewesen wäre seinem Konkubinat die Form einer Ehe zu geben. Unter den gegenwärtigen Umständen möchte aber wol das erstere rathsamer seyn. Denn das, w o durch sich die Ehe so sehr überhebt daß der Vertrag nicht ohne Anführung der einer fremden Beurtheilung anheim zu stellenden Gründe getrennt werden darf möchte wol, so lange ihre Form eine Religionshandlung ist nicht abgeschaft werden können. Unmoralisch ist ein Verhältniß, wenn dadurch Jemand außer Stand gesezt wird seine Pflichten zu erfüllen oder seine Rechte geltend zu machen oder auch wenn der natürlichen Geneigtheit sich den ersten zu entziehn und Andern die lezteren zu beschränken auf eine keine Gegenmittel zulaßende Weise Vorschub geschieht. In dieser Rüksicht nun ist das Konkubinat nicht unmoralisch, und die Hurerei ist es auch nur unbedingt, in wiefern die Familienverhältniße im Ganzen nach unserer Weise blieben. Wenn aber der Nepotismus eingeführt würde (s. Deutsch. Merk.) so würde die Befriedigung des Geschlechtstriebes ohne Vertrag nichts böses seyn auch 35 In dem Aufsatz „ Ueber die Vortheile des Systems der Galanterie und Erbfolge bey den Nayren", den im Juni und Juli 1793 der von Christoph Martin Wieland herausgegebene „Neue Teutsche Merkur vom Jahr 1793" (Weimar 1793, Bd 2, S. 160-199 und 242-257) veröffentlichte, fordert der anonyme Verfasser, um für die Frauen das Ende ihrer Unterdrückung und die allseitige Ausbildung ihrer Anlagen zu erreichen, ein völlig neues Ehe- und Familienrecht. Er möchte das Rechtsinstitut der Ehe und die darauf basierende Organisation der Familie abgeschafft und durch ein allein von Liebe bestimmtes freies Verhältnis der Ge-

6

Gedanken I

ohne alle Dazwischenkunft des Staats. Jezt aber ist diese gar sehr nothwendig, nur sollte der Staat nicht darauf bestehn E i n e n V a t e r zu haben sondern alle Participienten verhältnißmäßig daran Theil nehmen laßen. — Veranlaßt sind diese Gedanken durch H e n k e E u s e b i a d r i t t e s S t ü k A b 5 handlung: Kritik der Urtheile über Kirchenbuße, eheliche und uneheliche Geschlechtsverbin-|dung, w o aber nach einem großen Ansaz zur Unter- 5; 6 Scheidung der allgemeinen und bürgerlichen Moral doch nur Bruchstüke und verwirrtes Raisonnement geliefert wird. Die ganze Sache wäre zu behandeln in einer Abhandlung über „Die gesellschaftlichen Verhältniße, die 10 aus dem Geschlechtstriebe entspringen in moralischer und staatsrechtlicher

4 d r i t t e s ] dritt.

4f Abhandlung] Abhandl.

10 und] folgt (politisc)

schlechter ersetzt sehen. Dabei müßte an die Stelle des bisherigen Erbfolgesystems der Nepotismus treten. „Man lasse die Kinder der Mutter gehören und nur von ihrem Vermögen Erben seyn; man lasse jedes Frauenzimmer ohne alle Aufsicht eines Mannes leben, und ohne allen Zwang die Freyheit gemessen, welche die Männer bis jetzt genossen haben; man lasse sie Besuch von so vielen Freunden annehmen, als sie nur haben will, und von welchem Stande sie seyn mögen. Nach ihrem Tode theile man ihr Vermögen unter ihre Kinder. Das Vermögen, das den Töchtern zufällt, komme auf dieselbe Art wieder auf dieser ihre Nachkommen; und die Erbschaft der Söhne gehöre nach ihrem Tode ihren Schwestern und ihren Schwesterkindem. Die Kinder können bey ihrer Mutter bleiben, die für ihre Erziehung sorgen müßte. Wären die Töchter zu dem Alter gekommen, in welchem sie mit der Liebe bekannt zu werden anfangen: so müßten sie ihrer Neigung eben so ohne allen Zwang nachhängen dürfen wie ihre Brüder, die sich bey den Töchtern andrer Familien einquartiren dürfen. Dann würde die Liebe nicht länger das zitternde Gespenst seyn, das das Licht des Himmels scheut, in engen Wasser umherschleicht, und die verborgnen Winkel mit höllischen Orgien anfüllt nein, sie würde wieder jenes reine und edle Feuer werden, welches den vorzüglichsten Reiz des noch unentweyhten Paradieses ausmachte." (185f) Der Verfasser veranschaulicht sein den Nepotismus propagierendes Familienkonzept durch eine ethnologische Anmerkung: „Die Nayren sind der Adel auf der malabarischen Küste, und nach ihrer Behauptung der älteste Adel in der ganzen Welt; denn schon die ältesten Schriftsteller von Indostan erwähnen der Freyheit der Nayr-Damen, mehrere Liebhaber zu haben. — In ihren Häusern, die alle einzeln stehen, sind eben so viel Thüren als die Dame Liebhaber hat. Wenn einer von den Liebhabern sie besucht, so geht er rund um das Haus herum, und schlägt, zum Zeichen seiner Ankunft, mit seinem Säbel auf seinen Schild. Hat die Dame noch keinen Gesellschafter bey sich, so läßt er einen Bedienten mit seinen Waffen in einer Art von Vorhofe zurück. An bestimmten Tagen des Jahrs erhält die Dame von allen ihren Liebhabern zugleich Besuch. Nur allein die Mutter hat die Sorge für ihre Kinder; sogar der Samorin und die übrigen Prinzen haben keine andere Erben als die Kinder ihrer Schwestern; und so sind sie, da sie keine Familie haben, immer bereit, einem Feinde entgegen zu gehen. Sind die Neffen in dem Alter, daß sie die Waffen führen können, so folgen sie ihrem Oheim. Der Nähme Vater ist einem Nayr-Kinde unbekannt; es spricht nur von den Liebhabern seiner Mutter, aber nie von seinem Vater." (160f) 4—8 Ritter: Kritik der Urtheile über Kirchenbuße, eheliche und uneheliche Geschlechtsverbindungen nach naturrechtlichen Grundsätzen, in: Eusebia 1, ed. H.Ph. C. Henke, Helmstedt 1797, 3. Stück, S. 361-432

Gedanken I

7

Rüksicht." I.) moralische Rüksicht 1.) Befriedigung des Geschlechtstriebes als einfache Handlung — in wie fern ist sie unmoralisch. Von jeder ersten Berührung bis zur Schwangerschaft sollte nur ein einzelner Zugang haben. Die Mutter muß vorzüglich in Stand gesezt werden ihre Pflichten zu erfüllen; die des Vaters können zur Noth auf andre Weise ersezt werden. 2.) Befriedigung in einem gesellschaftlichen Zustand a.) Concubinat[:] es erfüllt alle Erfoderniße. b.) Ehe. Sie ist unmoralisch so bald sie ein Werk der Uebereilung seyn kann. II.) staatsrechtliche Rüksicht. Grundsaz dabei: Die Vormundschaftspflicht des Staats über die Unmündigen der erste Grundpfeiler seiner Continuitaet. 1.) Die Hurerei. Zur Aufsicht darüber ist der Staat berechtigt aber nicht zum Verbieten; das hieße sich seiner Pflicht überheben, statt sie zu erfüllen. Das Kind gehört ursprünglich der Mutter, der Staat muß nur sorgen, daß diese immer Jemandem angehöre, er muß die Eltern, die Brodtherrn, die Kupplerinnen verpflichten. Zwekmäßige Art dies zu bewerkstelligen, so daß dadurch zugleich der Reiz zur Hurerei vermindert wird. 2.) Der Vertragszustand. Der Staat kann gewiße Formen vorschreiben. Er muß dahin sehn daß kein Theil gefährdet werde. Ob er wol gethan habe die Sanction dieser Verträge zu einer Religionshandlung zu machen. Ueber die Folgen die dies auf die Auflöslichkeit der Ehe hat s. oben. Ueber das Erbsystem zum Vortheil ehelicher Kinder. Es begünstigt die Anhäufung des Vermögens und die Trennung der Kasten. Wenn die Ehen nur Konkubinate wären könnte das weibliche Geschlecht weit | mehr Verdienste haben, und eine Frau würde nie mehr gelten als sie werth wäre. Sie hätte Gelegenheit sich emporzuschwingen. Den 11. Jan. 1797.

7. Im Menschen ist es nicht wie in der Gesellschaft. In dieser wird jede erledigte Stelle so gleich wieder besezt und die Organe der Gesellschaft bemerken die Verschiedenheit, welche daraus entsteht, nur selten. Dem Menschen stirbt mit jedem der ihm abstirbt ein Theil seines Wesens ab. Die Mittheilungen der Menschen sind Akkorde, denen der Grundton fehlt, wenn der nicht mehr da ist, der sie hervorlokt, und sie bleiben nun ewig stumm; es bleibt im Gemüth die Erinnerung an Harmonien, die nicht mehr klingen. So sterben wir Stükweise. Wem schon viele gestorben sind der hat

1 Rüksicht."] Rüksicht.

7 alle] f o l g t (Verhältniße)

25—3 Vgl. die späteren Fassungen: edd. Schiele/Mulert 81,17-33

Gedanken III, Nr. 1 (unten 119,1—8) und Monologen

127f;

8

Gedanken I

keine Harmonien mehr zu verlieren und wenn er nachstirbt, so reißt er nur andern die Grundtöne zu ihren Akkorden ab. So sterben wenige Menschen, aber jeder beßere Mensch tödtet. Den 18. Aug. 1797. (Veranlaßt durch einen Brief an Lotte.)

8. Es läßt sich für die Manier dadurch zu trösten daß man auf niedrigere Standpunkte verweiset, doch etwas sagen. Die Güter der Erde nemlich sind endlich und nehmen ein bestimmtes Quantum ein und der kann sagen er habe Ursach zu klagen, welcher weniger zu haben glaubt als auf sein Theil gehöre. Diese Meinung aber wird widerlegt wenn er noch auf viele unter sich zu sehen hat.

9. In der Kantischen Moral ist eine besondere Theorie nöthig um die Maximen zu den Handlungen zu finden. Krispin konnte sagen: ich will daß es ein allgemeines Gesez werde, die Güter der Erde an den zu bringen der ihrer am meisten bedarf: diese Theorie ist zu finden.

10. Die einzelnen Tugenden sind wie die Blumen der Orientaler. Einzeln mögen sie lieblich für die Sinne seyn, aber die symbolische Bedeutung erhalten sie erst wenn sie im Kranz vereinigt sind (und nach einer gemeinschaftlichen Idee ausgelegt werden). Den 10. Sept. 97.

11. O h n e Lexicon muß man oft die Bedeutung aus Vergleichung verschiedener Fälle errathen, so auch im Lesen ohne Definitionen.

11 Moral] über (Theorie)

4 Vgl. Briefe 1,142—149, Nr. 2 (unten 119,9-12)

19 Vergleichung] korr. aus unleserlichem Wort

besonders 144

19 f Vgl. die spätere Fassung: Gedanken

III,

Gedanken I

9

12. Die Weiber sind oft so eitel, daß die Eitelkeit selbst ihnen nicht eitel genug ist.

13. Die Höflichkeit in sofern sie eine Art der Dankbarkeit ist, ist eben so verächtlich, wenn man z . B . alles schön findet, was uns Andere mit M ü he zeigen.

14. Wer gegen die Vorurtheile des Zeitalters öffentlich auftritt verdient nicht nur den Dank derer, welche ihn lesen, sondern wenn ihn nur einige lesen auch den Dank derer die ihn nicht gelesen haben.

15. Es giebt nur zwei Tugenden[:] 1.) Die philosophische Tugend 7 oder die reine Menschheitsliebe. D . i . das Bestreben das Ich absolut zu sezen, die Menschheit zu machen und zu erhöhen. 2.) Die heroische Tugend oder die reine Freiheitsliebe. D . i . das Bestreben dem Ich überall die Herrschaft über die verbundene Natur zu sichern. In diesen beiden Tugenden giebt es nun zwei Sinnesartenf:] 1.) Die genialische. Diese will überall + sezen, und sezt also nicht nur — sondern auch 0 entgegen[.] 2 . ) Die korrekte; diese will nur — nicht sezen und ist also auch schon mit 0 zufrieden. Jene gebrauchen die Tugend als constitutive Idee, diese nur als regulative. Jene stehen auf dem transcendentalen praktischen Standpunkt, sie wollen ihr Ich machen und sie sind immer Freiheitsgläubige; diese stehen auf dem empirischen Standpunkt, sie wollen ihr Ich nur darstellen nach Maaßgabe der empirischen Verhältniße, und weil sie weiter nichts zu können glauben so sind sie entweder Fatalisten oder die Freiheit ist ihnen ein Mysterium. Unter die leztere Gattung scheint beinahe Kant zu gehören oder er sinkt wenigstens bisweilen so tief, wenigstens hat er nur ein Gesez für die Korrektheit gegeben. Wodurch wird den Korrekten die Materie zur Subsumtion unter ihr negatives Gesez gegeben? Offenbar nicht durch das Vernunftinteresse auch

3 Die] folgt ( D a n )

l f Vgl. die spätere Fassung: Gedanken Fassung: Gedanken II, Nr. 23 (unten

II, Nr. 22 (unten 112,18f) 112,20-113,2)

6—8 Vgl. die spätere

10

Gedanken I

nicht durch das Freiheitsinteresse, sondern durch das praktisch-empirische, durch das was darauf abzwekt die Verbindung der Natur mit der reinen Menschheit zu unterhalten. Dieses Lebensinteresse gehört aber gar nicht zur Tugend; es kommen auf diesem Wege nicht Tugendhafte heraus sondern nur solche die Tugendhaft leben. Eben so wenig gehört zur Tugend das intellektuelle Interesse, welches darauf gerichtet ist die Existenz des Ich in seiner mittelbaren Verbindung mit der äußern Natur zu erhalten durch Reflexion, nemlich durch die nothwendige Reflexion. Daher gehört die wissenschaftliche Bildung gar nicht zur Tugend, wol aber die geschichtliche, denn diese führt zur Bildung des absoluten. Daher haben für philosophische Naturen die Wissenschaften kein anderes Interesse als ein historisches. Die Erhaltung des Lebens oder die Vermehrung des Wissens unter die Bestandtheile der Tugend sezen involvirt lauter Widersprüche. In so fern die philosophische Tugend gesellig ist heißt sie die religiöse — das Bestreben auch andren Individuen zur Sezung ihres absoluten Ichs behilflich zu | seyn. In sofern die heroische Tugend gesellig ist, heißt sie die kosmo- 8 politische. Es ist nur eine falsche Abstraktion, daß man die gesellige T u gend als etwas besonderes angesehen hat denn da ein Mensch nicht möglich ist ohne andere, so giebt es auch keine Tugend die nicht an sich selbst gesellig wäre.

16. Die Achtung für die reine Passivität, welche man so oft Gutmüthigkeit nennt gehört auch mit zur Dankbarkeit.

17. Jede Tugend bei welcher Collision möglich ist, das heißt welche noch andre Grenzen hat, als die ihres Begriffs ist nothwendig eine falsche Tugend.

18. In der Fichteschen Philosophie ist das Ich stolz, in der Kantischen ist es eitel, in einer echt skeptischen würde es ironisch seyn, in der spinozi-

7f durch Reflexion,] durch Reflexion. 26 18] 17

9 zur] folgt (Reflexion)

21 f Vgl. die spätere Fassung: Gedanken II, Nr. 24 (unten 113,3 f)

21 16] 15

23 17] 16

26—3 Vgl. die späteren

11

Gedanken I

stischen ist es liberal, wenn man sie verachten wollte könnte man sagen höflich. Zu einem anmaßenden Ich, worüber so viel Geschrei ist hat man es noch gar nicht gebracht.

19. Wenn man die Widersprüche welche dem Begrif der Popularität für den Theologen anhängen hinwegnimmt, welche nur dadurch hineingekommen sind daß die Aufgabe unter den gegebenen Umständen nicht zu lösen ist, so bleibt nichts übrig als Popularität ist Lokalität. Nemlich eine doppelte[:] erstlich lokaler Gegenstand — dies bezieht sich auf den locus der Moralität, dann lokale Einkleidung — dies bezieht sich auf den locus der Cultur. Weil wir nun diese wahren Schranken nicht construiren können machen wir uns erdichtete und dadurch wird unsere Manier in der Religionslehre illiberal. Dies ist nicht zu vermeiden bis uns beßere Verhältniße gegeben werden.

20. Rhetorisch ist ein Vortrag der so geordnet ist daß der Effekt der einzelnen Theile durch ihren O r t bestimmt wird — er ist entgegengesezt dem logischen, wo der O r t jedes Theiles durch seine organische Position in einem System bestimmt wird; man kann auch gradezu sagen wo der O r t durch den Effekt bestimmt wird. Das Rhetorische ist eine Eigenschaft der Anordnung, nicht von der Qualität der einzelnen Theile abhängig. Diese macht den Vortrag poetisch. Eine Predigt darf in angemeßnem Grade rhetorisch seyn, aber nur in einem sehr eingeschränkten Grade poetisch. Logische Predigten thun nur selten gut. Das rhetorische kann eine Predigt nie unpopulär machen, das logische macht sie nie unfaßlich, das poetische macht sie nie unangenehm, aber das rhetorische | kann sie sehr leicht unsitt- 9 lieh, das logische sehr leicht uninteressant und das poetische sehr leicht unwirksam machen, weil man statt des Willens nur die Empfindung ergreift, und diese wirkt bei den Menschen nicht immer auf jenen. Den 29. Sept. 1797.

3 nicht] folgt (bestirnt)

4 19] 18

6 sind] ist

14 20] 19

Fassungen: Gedanken II, Nr. 25 (unten 113,5—9) und Gedanken III, Nr. 3 (unten 119,13 — 15)

12

Gedanken I

21. Die Geduld verhält sich zum etat d'Epigramme gegen das Schiksal wie die Religion zur Philosophie.

22. So wie viele sagen „das verstehe ich nicht, also taugt es nicht", so sagen Andere ,,der versteht mich nicht also taugt er nicht."

23. Wenn man die Moral als Gesezgebung betrachtet, so sind die Eudaemonisten Anarchisten, die Gemeinbesten Aristokraten und die Kantianer fürs repräsentative System[.] Betrachtet man die Moral als Wissenschaft die ihre Axiome anders woher nehmen muß so sind die Eudaemonisten Probabilisten, die Allgemeinbestler Poeten (es soll ein Kunstwerk dargestellt werden) und die Kantianer Logiker.

24. Die Eintheilung in Pflichten gegen mich selbst und in Pflichten gegen andere komt mir vor wie der Unterschied zwischen Tragödie und Komödie aus dem Affekt und der Katastrophe. Lachst du am Ende so wars eine Pflicht gegen dich, komt dir das weinen an, so wars eine Pflicht gegen Andere. Kriegst dus am Ende selbst, so ists Pflicht gegen dich, kriegts ein Andrer so ists Pflicht gegen den Anderen.

25. Die angewandte Moral ist höchst immoralisch. Der Moralist muß die Verhältniße nicht finden sondern erst machen. Moral des Lhäuslichenl Lebens: ist denn das Lhäuslichel Leben selbst etwas moralisches? und so mit den anderen.

1 21] 20

3 22] 21

10 werden)] werden

1 f Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 38 (unten 143,6f) 3f Vgl. die späteren Fassungen: Gedanken II, Nr. 21 (unten 112,15-17) und Gedanken III, Nr. 4 (unten 119,16-18) 11—16 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 371 (unten 154,12—25) 11 f Schleiermacher denkt vermutlich an den dualen Aufbau der „Ethischen Elementarlehre" (63—160; Ak 6, 417—474) in Kants im August 1797 veröffentlichter Ethik „Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre".

Gedanken I

13

26. Ein Kapitel in der Moral fehlt uns ganz, nemlich von der Verbindlichkeit das immoralische in der jezigen Art zu existiren auszurotten.

27. Nach Kant besteht die ganze Tugendprocedur darin daß man sich in eine permanente Jury constituirt und immerfort über die Maximen die sich präsentiren Gericht hält oder noch besser wie ein Tourniergericht wo die Ritter ihre Wappenprobe ablegen müßen. Komt ein Turnierfähiger | so wird er in die Schranken gelaßen und in die Trompete gestoßen gar weidlich. Komt aber keiner — ja die Turnierrichter können keinen machen.

28. Es giebt Menschen die Geist haben, er ist aber mit so viel Wärmestoff gebunden daß er nie anders als in Dampfgestalt erscheint, und daß man ihn nicht fixiren kann ohne ihn zu neutralisiren.

29. Manche Menschen ziehen aus der Atmosphäre welche sie umgiebt nichts an, sondern sezen bloß ihr Wasser an dieselbe ab wie das Mineral Alkali; andere verhalten sich wie das vegetabilische: bringt sie wohin ihr wollt, sie ziehen nur Wasser an.

30. Der Unterschied zwischen Enthusiasmus und Leidenschaft liegt bloß in der Realität des Gegenstandes: könnte der Enthusiasmus seine Idee realisiren so würde er zu einer gewöhnlichen Leidenschaft herabsinken. Nur die Schlechtigkeit der Welt macht die Enthusiasten groß.

31. Klugheit ist Beobachtung des Gesezes der Sparsamkeit, man findet auch gewöhnlich daß echt sparsame Menschen klug sind.

3—6 Vielleicht eine Anspielung auf Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre 102f; Ak 6,438.440 1 2 - 1 5 Vgl. die spätere Fassung: Gedanken III, Nr. 5 (unten 1—4) 16—19 Vgl. die späteren Fassungen: Gedanken II, Nr. 26 (unten 113,10—13), danken III, Nr. 6 (unten 120,5-9) und Gedanken VI (Zur Ethik), Nr. 51 (s. KG A 20—4 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 362 (unten 152,6—153,18)

100. 120, Ge1/5)

14

Gedanken I

32. Weisheit besteht darin daß man nichts wolle, was man nicht kann; Klugheit darin daß man nichts thue als was man will.

33. Klugheit ist Richtung jeder einzelnen Handlung auf die Totalität der Zweke, List Richtung aller Handlungen auf einen einzelnen Zwek.

34. Das einzige Kunstwerk was manche Menschen darstellen ist, daß sie an ihrer Unklugheit fliken.

35. Die Leidenschaft kann listig seyn aber nie klug, und das hat sie mit der Dummheit gemein.

36. D e r Imperativ der genialischen Narrheit heißt: es soll alles Scherz werden und das Ziel worauf sie hinausgeht ist also absolute Antithese. D e r Narr läßt sich bezahlen damit auch das Scherz werde daß alles Scherz ist denn auf diese Art ist ihm der Scherz Ernst. Der Narr allein ist nicht verrükt, denn ihm ist die ganze Welt zurecht gerükt, es giebt zu allem eine absolute Antithese daneben, die er nur aufsucht. D e r Narr allein ist reich, denn er allein besizt alles zu beliebigem Gebrauch. D e r Narr allein ist ein König denn er hat sich von allen Gesezen dispensirt und diese Dispensation wird in jedem Augenblik anerkannt und erneuert.

37. D a ß viele Menschen ihr Glük für Talent halten ist bekannt. Dieselben sind geneigt den Mangel an Unglük für bon sens und das Unglük für Genialität zu halten.

9—17 Vgl. die späteren Fassungen: Gedanken III, Nr. 7 (unten 120,10—20) und Gedanken (Zur Ethik), Nr. 52 (s. KGA 1/5) 1 8 - 2 0 Vgl. die späteren Fassungen: Gedanken Nr. 27 (unten 113,14-16) und Gedanken III, Nr. 8 (unten 120,21-23)

VI II,

Gedanken

I

15

38. Wenn die Weiber eine politische Existenz bekämen wäre nicht zu besorgen, daß die Liebe und mit ihr der intelligible Despotismus und die formlose Gewalt zu deren Darstellung die Weiber von Natur bestirnt sind verloren gehen würde?

39. Die eigentliche Erziehung besteht aus 3 Stüken: Man muß die Kinder e i n r i c h t e n (die Glieder) a b r i c h t e n und u n t e r r i c h t e n .

40. Wie die Menschen auf dem Meer der Zeit angeschwomen körnen klein und groß werden sie langsam gedörrt an dem Feuer des Paedagogischen Zwanges eingerieben mit dem Salz alter Vorurtheile und wenn sie dann eng zusamengepreßt in dem großen Gefängniß einer Staatsform beisamen liegen so entsteht aus diesem ängstlichen Druk eine piqante Brühe die man den G e i s t d e r Z e i t nennt. Mit den Heringen nimmt man dieselbe Procedur vor aber erst wenn sie todt sind.

41. Streitigkeiten verhalten sich zur Illiberalität wie salzsaure Schwererde zur Vitriolsäure.

42. Die kleinen sentimentalen Freuden welche man genießt sind der Musenalmanach der in dem Jahr heraus komt, und so wie dieser erst fürs künftige Jahr bestimmt ist, so hat uns die Natur auch jene eigentlich verliehen um sie in der Zukunft zu genießen, aber so wie dieser gewöhnlich schon vergeßen ist ehe das Jahr seiner Bestimmung angeht, so geht es den

19 wie] folgt (jener)

7—13 Vgl. die späteren Fassungen: Gedanken II, Nr. 28 (unten 113,17—114,5) und Gedanken III, Nr. 9 (unten 121,1—7) 14 f Vgl. die späteren Fassungen: Gedanken II, Nr. 29 (unten 114,6), Gedanken III, Nr. 10 (unten 121,8f) und Gedanken VI (Zur Ethik), Nr. 53 (s. KGA 1/5) 16—2 Vgl. die späteren Fassungen: Gedanken II, Nr. 30 (unten 114,7—9) und Gedanken III, Nr. 11 (unten 121,10-15)

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meisten Menschen auch mit diesen. Beide erlangen durch Xenien ein längeres Leben.

43. Intrigue ist die Kunst Krieg gegen die Klugheit der anderen zu führen.

44. Es giebt Menschen denen alles was sie als Mittel behandeln wollten unter der Hand zu einem Zwek wird[.] Dies ist praktische Empfindsamkeit denn Empfindung ist Genuß ohne Begehren; es giebt andere denen alles was ihnen Zwek war zum Mittel wird; das ist praktische Leidenschaftlichkeit denn Leidenschaft ist Begehren ohne Genuß. Beide kommen zulezt dahin absichtslos zu handeln, jene aus Natur diese aus Willkühr.

45. Mein Begrif von Weisheit wird durch den Sprachgebrauch bestätigt, wenn man von Weisheit der Natur redet. Sie besteht nemlich darin daß was wir auch für einen Zwek möchten wir auch Mittel dazu finden, d . h . darin daß sie keinen Zwek hat ohne Mittel dazu zu haben. Eben so mit Klugheit — man sagt nie daß die Natur klug ist weil sie auf nichts außer sich Rüksicht zu nehmen braucht. — Vielleicht hat man den Teufel deswegen erfunden um Gott auch Klugheit zuschreiben zu können. — Auch der politische Gebrauch bestätigt es.

46. Intrigue ist potentiirte List wenn man nemlich den Leuten erst die Zweke beibringt um derentwillen sie die Handlung die wir brauchen wollen verrichten müßen.

3 Intrigue] über (List)

15nie] korr. aus unleserlichem Wort

17f politische] polit.

5—10 Vgl. dieses Motiv in der Druckfassung: Fragmente, Nr. 428 (unten 154,26—156,18). Ein Datierungshinweis auf März 1798 als terminus ad quem findet sich in Briefe 3,74. 11 — 18 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 362 (unten 152,6-153,18)

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47. Die meisten Menschen gleichen den vorweltlichen Naturprodukten denen es an der Kraft fehlte sich wieder zu erzeugen.

48. Liebenswürdig ist wer das Unendliche im Endlichen findet, groß wer das endliche um des unendlichen willen wegwirft. Vollendet wer beides vereinigt.

49. List macht völlig unliebenswürdig, Intrigue verhaßt. Klugheit ohne Ironie Lund Wolwollenl erkältet bis zum unerträglichen.

50. Schlau ist derjenige welcher abwartet bis ihm andere die Mittel zu seinem Zwek hervorbringen.

51. Originell (in gemeinem Sinn) ist jeder der es wagt etwas zu thun, was erst in 100 Jahren Mode werden kann.

52. Artig ist der, welcher alle die Geseze beobachtet, die keiner gemacht haben will, und über die sich jeder beklagt. oder Artigkeit ist die Fertigkeit in unnüzen Gefälligkeiten oder artig ist der, der es sich sauer werden läßt unnüz zu seyn.

7 lundWo\vso\\en}]am Randmit Einfügungszeichen

14f oder Artigkeit. .. seyn.] a mRand

l f Vgl. dieses Motiv in der späteren Fassung: Gedanken II, Nr. 10 (unten 109,14—24) und in der Druckfassung: Fragmente, Nr. 352 (unten 150,2—12) 3—5 Vgl. die späteren Fassungen: Gedanken III, Nr. 12 (unten 121,16-18) und Gedanken VI (Zur Ethik), Nr. 54 (s. KGA 1/5) sowie dieses Motiv in der Druckfassung: Fragmente, Nr. 428 (unten 154,26—156,18). Ein Datierungshinweis auf März 1798 als terminus ad quem findet sich in Briefe 3,74. 6f Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 362 (unten 152,6—153,18) lOf Vgl. die späteren Fassungen: Gedanken II, Nr. 31 (unten 114,lOf) und Gedanken III, Nr. 13 (unten 122, 1 — 5) 12—15 Vgl. die späteren Fassungen: Gedanken II, Nr. 32 (unten 114,12—14) und Gedanken III, Nr. 13 (unten 122,1—5)

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53. Naiv ist alles was man für eine Satyre nehmen müßte, wenn es nicht unwillkührlich wäre.

54. Bescheiden seyn heißt, wie jener verarmte Edelmann seinen eignen Vorzügen entsagen um einen Commissionshandel mit fremden zu treiben.

55a. Stolz ist derjenige der da ist ohne um Erlaubniß zu bitten.

55 b. Richter ist ein mystischer Fantast und ein parodirender H u m o rist. Seine Werke sind nicht Poesie, sondern nur Malerei und Musik. Seine Hauptsachen sind Schlachtstüke des menschlichen Herzens auf gut Westindisch wo die Naturmenschen von den Weltleuten mit Hunden gehezt werden die dann gleich drüber her sind wenn wo ein Stük abfliegt. Seine Musik besteht aus Adagios mit Posaunenstößen und Prestos mit obligaten Thränen, bis zu einem ordentlichen Andante oder Allegro bringt ers nie. Er giebt seine Concerte unter einem künstlichen Himmel wie der Prinz im Triumf der Empfindsamkeit wo mehr Sonnen sind als in allen Milchstraßen und mehr Nebel als in ganz England[.] Seine Weiber sind imer einen Zoll über die Liebe erhaben und wachsen über den Helden hinaus wie die wachsende Jungfrau auf einem Wapen über den Helm und um Menschen zu seyn fehlt ihnen nichts als die erdichten Theile welche den zarten Gallert ihrer sublimen Sentimentalität zu einer tüchtigen Faser zusamenarbeiten könnten.

1 Satyre] folgt (wäre wenn) 6 55a] 55 7 55b] 55 7 f Richter ist . . . Humorist.] mit Umstellungszeichen 11 Zeilen tiefer hinter ganz England 7 Richter] Er 8 Seine Werke sind nicht] über ((Richter ist kein)) 8 Poesie] korr. aus Poet 8 Malerei und Musik] korr. aus Maler und Musiker 9 auf gut] über (gewöhnlich ist die Scene in) 9f Westindisch] korr. aus Westindien

lf Vgl. die späteren Fassungen: Gedanken II, Nr. 33 (unten 114,15f) und Gedanken III, Nr. 13 (unten 122,1-5) 3—5 Vgl. die spätere Fassung: Gedanken II, Nr. 4 (unten 108, 1—8) und die Druckfassung: Fragmente, Nr. 353 (unten 150,13—21) 6 Vgl. die späteren Fassungen: Gedanken II, Nr. 34 (unten 115,1) und Gedanken III, Nr. 13 (unten 122,1 — 5)

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56. Richter annihilirt alles um es zum Stoff für die Fantasterei zu brauchen, die Wissenschaften für die wizige. Auch seine Individua streben dahin sich zu vernichten durch absolute Gemeinschaft der Fantasie und alles ist voll Elegien daß das nicht gelingen will. D a ß seine Weiber über die Liebe eigentlich erhaben sind scheint er selbst zu fühlen indem er ihnen seine Helden immer untreu werden läßt. Victor die Fürstin, Gustav die R e sidentin. Glaubt er daß diese Trennung des geistigen vom physischen Natur ist, ist es vielleicht gar bei ihm so, so ist er ein Mensch deßen Fantasie zeitig corrumpirt worden ist.

57. Richters Vergleichungen sind wie ein Reimbuch. Alles auch das entgegengesezteste ist auf einen Flek zusamengehäuft zum Aussuchen. Sie sind roher Stoff für den Wiz.

58. Das Testamentmachen ist Weihnachtbescheren am Ende des Lebens.

59. Die Moral geht aufs Handeln, das Naturrecht aufs seyn die Politik aufs werden. Die Moral beruht auf der Deduktion der Thierheit neben der Menschheit in uns, das Naturrecht auf der Deduktion der Menschheit außer uns und die Politik auf der Deduktion der Menschheit und Thierheit nach uns.

60. Wenn einer ißt um Blut zu machen, so medicinirt er eigentlich; was thut der der sich begattet in der ausdrüklichen Absicht ein Kind zu machen.

1 Richter] folgt (sammelt) Menschheit] Mheit

5 sind] folgt (bewei)

7f Natur ist,] folgt (so ist)

17

6f Vgl. die Romane „Hesperus oder 45 Hundposttage. Eine Biographie" (3 Bde, Berlin 1795) und „Die unsichtbare Loge. Eine Biographie" (2 Bde, Berlin 1793) von Johann Paul Friedrich Richter (Pseudonym Jean Paul) 13 f Vgl. die spätere Fassung: Gedanken II, Nr. 35 (unten 115,2f)

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61. Die einzige Deduktion der Zweke welche zugleich Pflicht sind in Kants Ethik besteht darin, daß sie nicht umgekehrt werden können. Der eine entsteht aus Frömmigkeit — der Natur Ehre zu machen: der andre aus Höflichkeit — damit doch andrer Menschen Glükseligkeit ohnerachtet sie ihnen selbst nicht Pflicht seyn darf moralisch gewirkt werde.

62. Man hat sich so oft an das Diktum gehalten daß die Kritik der reinen Vernunft kein System seyn sollte, und dann vergeßen daß die Metaphysik der Natur das System war. Könnte man doch auch vergeßen daß die Metaphysik der Sitten das System zur Kritik der praktischen Vernunft ist.

63. In die lezten Tage des Jahres soll sich aller Genuß und alle Erinnerungen zusammenhäufen, wie Kinder sich wenn es etwas gutes giebt den besten Bissen zulezt verwahren.

64. Viele Schriftsteller machen tausend vergebliche Versuche als solche zu existiren und verschwenden die vergeblichsten Bestrebungen auf allen Feldern nur da nicht w o sie etwas leisten könnten. Geht es ihnen etwa

6f Kritik der reinen Vernunft] K.d.r.V. Vernunft] K.d.p.V.

7f Metaphysik] M.

9 Kritik der praktischen

1—5 Vgl. Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre 13 f ; Ak 6,385f. Kant nennt als die beiden „Zwecke, die zugleich Pflichten sind", die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit. 6 f Vgl. Kant: „Sie ist ein Tractat von der Methode, nicht ein System der Wissenschaft selbst; aber sie verzeichnet gleichwohl den ganzen Umnß derselben sowohl in Ansehung ihrer Grenzen, als auch den ganzen inneren Gliederbau derselben. Denn das hat die reine speculative Vernunft Eigenthümliches an sich, daß sie ihr eigen Vermögen nach Verschiedenheit der Art, wie sie sich Objecte zum Denken wählt, ausmessen und auch selbst die mancherlei Arten, sich Aufgaben vorzulegen, vollständig vorzählen und so den ganzen Vorriß zu einem System der Metaphysik verzeichnen kann und soll f . . .]." (KrV Β X X I I f ; Ak 3,15, 4—12 „f. . .] so können wir eine Wissenschaft der bloßen Beurtheilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen als die Propädeutik zum System der reinen Vernunft ansehen." (KrV Β 25; Ak 3,43,10-12) 7 - 9 Kant verwies 1787 auf seinen „Plan, die Metaphysik der Natur sowohl als der Sitten, als Bestätigung der Richtigkeit der Kntik der speculativen sowohl als praktischen Vernunft, zu liefern [. . .]." (KrV Β XLIII; Ak 3,26,1-3) 10-12 Vgl. die spätere Fassung: Gedanken III, Nr. 14 (unten 122,6—8)

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wie jenem Juden der seinen Geldbeutel vermißte und nachdem er alles vergeblich durchwühlt hatte sich hartnäkig weigerte auch in der lezten Tasche nach zu suchen, weil er sich hängen müßte wenn auch dort das verlorene Gut nicht zu finden wäre. Wollen sie aber da nicht versuchen w o die Natur sie angewiesen hat, so mögen sie sich | lieber gleich hängen ohne einiges Lärm zu machen.

65. Die Meisten Menschen recensiren sich selbst — wie Claudius Henne ihre Eier — durch ihr gewöhnliches Geschrei. Erst quaken sie wie Frösche, dann jubeln sie wie Sperlinge, dann bellen sie wie Hunde, und endlich stöhnen sie wie Eulen.

66. Warum tragen unsre Freimauerer ihre Schürze nicht um den Kopf da doch dies Kleidungsstük die pudenda bedeken soll?

67. Ein Brief bedarf allerdings einer gewißen Dosis von Derbheit um anzukommen, denn es fehlt ihm an allen mimischen Erläuterungen welche dem Gespräch zu Hülfe kommen.

68. Jemand aus einem Briefe an einen dritten kennen zu lernen ist eine unbestimmte Aufgabe. Denn man muß zwei unbekannte Größen finden

5 ohne] f o l g t (viel)

7f Vgl. das Gedicht „Die Henne" von Matthias Claudius: „Es war mahl eine Henne fein, / Die legte fleißig Eyer; / Und pflegte denn ganz ungemein / Wenn sie ein Ey gelegt zu schrein, / Als war im Hause Feuer. / Ein alter Truthahn in dem Stall, / Der Fait vom Denken machte, / Ward böß darob, und Knall und Fall / Trat er zur Henn' und sagte: / Das Schrein, Frau Nachbann, war eben nicht vonnöthen; / Und weil es doch zum Ey nichts thut, / So legt das Ey, und damit gut! / Hört, seid darum gebeten! / Ihr wißet nicht, wie's durch den Kopf mir geht. / Hm! sprach die Nachbann, und thät / Mit einem Fuß vortreten, / Ihr wißt wohl schön, was heuer / Die Mode mit sich bringt, ihr ungezognes Vieh! / ,Erst leg' ich meine Eyer, / Denn recensir' ich sie.'" (Sämmtliche Werke l,13f; Werke 20) 13—15 Vgl. die spätere Fassung: Gedanken III, Nr. 15 (unten 122,9—11) 16—2 Vgl. die spätere Fassung: Gedanken III, Nr. 16 (unten 122,12-17)

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sein Verhältniß zu diesem dritten und seine Geschiklichkeit es zu behandeln.

69. Mancher Abschnitt aus einem Garveschen Aufsaz ist eine Predigt nicht der Materie wegen sondern weil er nicht rein philosophisch sondern rhetorisch ausgeführt ist — andere sind es deswegen nicht weil λ π darin ist.

70. Ein Aufsaz kann ganz Lliterarischl erfunden und mit denselben Elementen dennoch Lrhetorischl ausgeführt werden.

71. Man hat populaire Schriften für das Volk welches liest und für das Volk welches nicht liest; denn wer noch nicht allein liest kann noch nicht lesen. Was populair ist muß ganz temporell und ganz local seyn. (was als Werk gelesen seyn will ist nie populair.) D e m Inhalt nach ganz praktisch; aber nicht praktisch über die Speculation so wenig als speculativ über das praktische.

72. War das exoterische der Alten nicht ganz etwas andres als unser populaires?

73. Populair philosophische Schriften sollen eigentlich Anwendungen der Philosophie auf den Geist und das Interesse der Zeit seyn. So weit sind wir aber noch nicht: auch | die besten sind nur ein Uebergang aus dem gemeinen Leben in die Philosophie oder ein Rükzug aus der Philosophie ins gemeine Leben, ein Streben des Gemeinen nach philosophischer Form,

4 philosophisch] φ 5 rhetorisch] ρ rarischl] LXll 7 Lrhetorischl] Lgll]

5 λπ] Abk. vielleicht für Literaturpoesie 20—1 ein Streben . . . Leben] am Rand

6 Llite-

3 Von Christian Garve sind 1796 „Vermischte Aufsätze" und 1792—1797 drei Bände „Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben" jeweils in Breslau erschienen.

Gedanken

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oder ein ehrenvoller Rükzug des gemeinen aus der Philosophie ins Leben.

74. Der Form nach muß alles populaire mehr oder weniger dialogisch seyn.

75. Subiect, Obiect und Subiect-Obiect als Betrachtungsarten des Ich sind nur Anwendungen der Kategorien von Eins Vieles und Alles.

76. Ein sehr sittlicher Mensch der von Natur weder feig noch faul ist, heißt groß — falsch kann er dabei seyn; einer der weder feig noch falsch ist heißt edel — faul kann er dabei seyn. Der Muth ist also noch immer ein großer Punkt bei der sittlichen Beurtheilung er liegt bei beiden auszeichnenden Benennungen zu Grunde. — Verhältniß des großen und edlen zu den beiden Geschlechtern.

77. O b es nicht am höflichsten ist Jemandem ohne Gründe abzuschlagen weil ihm dann die schmeichelhafte Idee bleibt er könne recht gehabt haben. Auch dies gehört zu der allgemeinen Antinomie des Gefühls und Begriffs.

78. In der Geschichte läßt man gewöhnlich die Geschichte des Bodens aus, und eben deswegen ist sie so wenig anschaulich und was eigentlich den Ruhm des Menschen ausmacht nemlich die Beherrschung der Erde, das komt gar nicht zum Vorschein. In der Geschichte der Literatur geht es eben so; eine Geschichte des Publikums, deßen was man hat sagen dürfen und was man hat lesen wollen perge wäre eine wahre literarische Climatologie.

4f Vgl. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten 7 (Jena/Leipzig 1798), 1. Heft, S. 8-13; Ak 1/4,274, 20-277,13

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79. Man kann sehr gut einsehn daß die Lehre von der Ungerechtigkeit der Kriege nicht in die Taktik gehört und doch kein sonderlicher Taktiker seyn.

80. Aus der Physik (der Lehre von der Qualitaet der Kraefte) die Mathematik entfernen wollen, ist eben so arg als wie Brown aus der Physiologie die Lehre von den specifischen Reizen herauszutreiben.

81. Eintheilen, Klassifiziren, kurz gebrauchen muß die Philosophie der Physik den Begrif der Materie gar nicht sondern ihn entweder destruiren, oder schlechthin nur sezen.

82. Die Autoren machen selten absichtlich Terminologien sondern nur die -aner.

83. Daß man die Juden schwören läßt und sie dennoch unfähig bleiben ein Zeugniß abzulegen ist der bitterste Widerspruch.

11 -aner] Aner

5f Vgl. dazu: „Die ganze große wichtige Lehre der Spezifiken Reizbarkeit und Spezifiken Reize hat Brown ganz übersehen. Auf ihr beruht die Erklärung der wichtigsten Erscheinungen der Physiologie, auf ihr die Erklärung aller Absonderungen, auf ihr die Erklärung der meisten Krankheitsformen, auf ihr endlich die Erklärung der Wirkung mannichfaltiger Arzneymittel. Mit dem Machtspruche: die Erregbarkeit ist eine und dieselbe gleichförmige, durch das ganze System verbreitete, und jeder Reiz, der an irgend einem Orte auf sie wirkt, afficirt die Erregbarkeit des ganzen Körpers, glaubt Brown alle Einwürfe widerlegt zu haben, aber wo Thatsachen sprechen, da sind solche Machtsprüche ohnmächtig." (Pfäff: Abhandlung über Brown's System der Arzneywissenschaft, in: John Brown, System der Heilkunde, aus dem Englischen übersetzt von C. H. P f a f f , Kopenhagen 1796, S. XXVII)

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84. Die gute Lebensart hat einen negativen und einen positiven Theil; in diesem herrschen die Widersprüche eben so gut als in jenem.

85. Die Historie ist immer religiös und die Religion muß ihrer Natur nach historisch seyn.

86. Dogmen — selbst das ursprüngliche — entstehn nur bei Entbindungen des religiösen Sinnes, und es bleibt gewöhnlich nachher nur das Caput mortuum desselben zurück.

87. Das Christenthum ist immer nur ein relativer Begriff, wie muß man ihn also gegen die verschiedenen Parteien modificiren?

88. Was vertheidigt werden soll muß ganz aus sich selbst vertheidigt werden, so auch die Religion, nicht als Mittel.

89. Man kann völlig rechtlich seyn ohne Religion aber vielleicht nicht ganz moralisch, denn das entindividualisiren deutet doch zulezt auf ein höchstes Individuum. Auch ist die Moral historisch.

90. Quellen der Antinomie in der guten Lebensart sind folgende: die gegen den einzelnen und gegen das ganze, die natürliche und positive, die

1 Schleiermacher verarbeitete seine Beobachtungen und Überlegungen zur Geselligkeit und guten Lebensart, die hier beginnen, in seinem Fragment gebliebenen Aufsatz „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens", den er im „Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmacks" (Jahrgang 5, Berlin 1799, Bdl, S. 48—66 und 111 — 123) anonym publizierte (unten 165-184). 3 f Vgl. Über die Religion 100 (unten 232,38-233,6) 5 - 7 Vgl. Über die Religion 115f (unten 239,30-36) 8f Vgl. Über die Religion 291 (unten 316,28f) lOf Vgl. Über die Religion 31 (unten 202,10-19) 1 2 - 1 4 Vgl. Uber die Religion 32 (unten 202,22-24)

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Behandlung als Mittel und die als Zwek der Buchstabe und der Geist.

91. T h y m über die Simplicität des Predigens in Tellers Ν . M . 6.1.

92. Es giebt auch in der guten Lebensart einen Widerstreit des Wesens mit dem Schein — nemlich Wolbehagen soll imer die Erscheinung einer freien Humanitäts Aeusserung seyn. Das Streben nach dieser Erscheinung gleichwol auf welchem Wege ist der Schein. Der Geist ist das Streben nach freier Wechselwirkung der Buchstabe das Selbstzurücksezen. zu III.

93. Die Materie komt in dreierlei Form vor: als Element (freie Stoffe) als Masse (gebunden und in eigenthümlicher Gestalt) und als System (in Körpern d . h . in organischen Ganzen). Man kann auch der zweiten F o r m einen gewissen Organismus nicht absprechen und die erste ist im strengsten Sinn nur fingirt denn es darf nie angenomen werden daß etwas schlechthin Element sei. Hievon hat Leibniz etwas zwischendurchgesehn. Das Element ist seine piscina.

94. Jedes System hat seine Atmosphäre d. h. seinen Kreis von Elementen aus dem es assimilirt und in den es reducirt so gut wie ein Weltkörper.

95. Gieb andern Gelegenheit zu glänzen gehört zum Buchstaben und sezt voraus daß man sie als ursprünglich paßiv annimmt so daß sie erst gereizt werden müssen, zu I I I .

2 Simplicität] Simpl. 3 guten Lebensart] g.L. Ganzen 19 zu III.] am Rand

7 zu III.] am Rand

10 Ganzen)]

2 Thym: Von der Simplicität im Predigen, in: Neues Magazin für Prediger 6 (Züllichau / Freystadt 1797), 1. Stück, S. 1-14 13 f Vgl. Leibniz: Opera 2/1,266; Schriften 2,300. Schleiermacher hat diese Leibniz-Stelle in seinem Manuskript „Leibniz II." exzerpiert (unten 101,5f). 17—19 Schleiermacher nimmt hier ausführlich Bezug auf Knigge: Ueber den Umgang mit

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96. Knigge behandelt die absoluten Widersprüche wie einen Handel, wo jeder etwas abläßt.

97. Sei was du bist imer und ganz (Knigge) ist ein Princip was in der Gesellschaft schlechterdings nicht statt findet. Man muß statt deßen nur sagen: Sei nie kein Theil von dir selbst. Sehr interessant ist aber die innere Gesellschaft mit dem von sich was man in diesem Augenblik nicht seyn darf.

98. Alle Menschen wollen amusirt seyn ist das Princip des Scheins, zu III.

99. Nach den schreklichsten Elementarregeln und den unsittlichsten Feigheitsmaximen fragt Knigge sehr naiv: in wie fern auch Frauenzimer nach diesen Regeln handeln können.

100. Die Gesellschaft hat etwas ethisches aber auch etwas iuridisches; nemlich man muß gewißermaaßen voraus sezen daß jeder ein schlechter Gesellschafter ist.

101. Es ist ganz falsch daß man viel seyn kann ohne den Weltumgang zu verstehn.

6 von] korr, aus was

8f zu III.] am Rand

Menschen. Nachweise werden gegeben nach der 4. Aufl., 3 Bde, Hannover 1792—1793, weil diese Ausgabe nach Druckort und Drucktermin wahrscheinlich von Schleiermacher benutzt wurde. — Vgl. Knigge: „Suche weniger selbst zu glänzen, als Andern Gelegenheit zu geben, sich von vortheilhaften Seiten zu zeigen, wenn Du gelobt werden und gefallen willst." (Umgang 1,42) 3 „Sey, was Du bist, immer ganz, und immer Derselbe!" (Knigge: Umgang 1,60) 8 Gegen Knigge: Umgang 1,69 11 f Vgl. Knigge: Umgang 1,119f 16 f Gegen Knigge: Umgang 1,1— 3.7f

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102. Sobald man die Gesellschaft nur als Mittel für den Egoismus braucht muß alles schief und schlecht werden.

103. Wer die Antinomie zwischen der Behandlung des Menschen als Mittel und Zwek nicht richtig löst muß auf das unerträgliche Princip k o m men daß man die Menschen in Geduld muß langweilig seyn laßen. zu I I I .

104. In der Poesie und Moral hat man Ursach sich zu freuen daß die Praxis nicht auf die Theorie zu warten braucht in der Gesellschaft darüber daß die Theorie nicht auf die Praxis zu warten braucht.

105. Knigge behandelt die Menschen wie Juden: man soll mehr als die Hälfte von ihren Urtheilen über Andere abdingen.

106. Es giebt in der guten Lebensart nur soviel Praxis als es Theorie giebt; den einzelnen Beobachtungen fehlt es immer an bestimmten G e sichtspunkten und Beziehungen.

107. Es geschieht wol nur bei organischen Producten daß zwei verschiedene Stoffe sich in verschiednen quantitativen Verhältnissen Nuancen weise verbinden — bei elementarischen geschieht es wol nur Stuffenweise. Etwa weil bei jenen eigentlich keine vollkomne Homogenitaet statt findet.

5 zu III.] am Rand 7 Praxis] korr. aus The 11 guten Lebensart] g. L. 14 Es] davor (Der Uebergang von einer) 14 Producten] am Rand; es folgt (Stoffen) 17 vollkomne] folgt (Indivi)

lf Gegen Knigge: Umgang 1,112

Umgang 1,51

4f Gegen Knigge:

Umgang 1,55f

9f Vgl.

Knigge:

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108. Das Princip des conventionellen ist: du mußt auf alle Weise andeuten daß die gegenwärtige gesellschaftliche Einrichtung die vortrefflichste ist. zu III.

109. Die Voraussezung daß Jemand Parthei und Sektengeist hat und daß er nur ein Repraesentant ist, ist grob, zu III.

110. Elogium der Gesellschaft als der Repraesentation des ethischen Zustandes gleich vorn.

111. Die Hypothesen in der Physik da man Stoffe sezt als Darstellung der rein physikalischen Ideen, und die da man Geseze sezt als Erklärung der Erscheinungen haben einen ganz verschiedenen Rang in der Wissenschaft und müßen auch in Beziehung auf die Facta ganz verschieden behandelt werden. Schelling geht mit denen von der ersten um als wären sie solche von der zweiten.

112 a. Der religiöse Sinn stirbt gewöhnlich an indirecter Schwäche.

112 b. Man muß das Bild der ganzen Gesellschaft seyn und doch auch ein Individuum, v. 144

3 zu III.] am Rand 112 15 112 b] b

5 zu III.] am Rand 9 physikalischen] physik. 16 v. 144] am Rand; v. Abk. wohl für vide

14 112 a]

12 f Von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling sind 1797 die Schrift „Ideen zu einer Philosophie der Natur" und 1798 die Schrift „ Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik" erschienen. 14 Vgl. Über die Religion 160 (unten 259,4 f) 16 Vorausverweisung auf Gedanken I, Nr. 144 (unten 33,16-34,4)

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113. In der Materie ist schlechte Lebensart denn sie ist gemein und im Ton denn er ist misanthropisch.

114. Knigge empfielt den feinen Ton nur um unter seinem Gepräge das innre Gold in Cours zu bringen.

5

115. Knigge meint es bedürfe keiner Vorschrift wie man mit dem weisen und Edeln umgehn soll.

116. Die Antinomie des Wesens und des Scheins entsteht aus der Antithese: ob jeder sich seiner eignen Humanität durch seine freie Thätigkeit oder mehr der Humanitaet der Andern durch ihre Wirkung bewußt werden lo soll. Zu III.

8 eignen] über der Zeile

10 Zu III.] am Rand

3 f Vgl. Knigge: „ Vorschriften, welche uns auf die erlaubten Sitten der feinem Societät verweisen, sind freylich keine Grundsätze der Moral, sondern nur der Uebereinkunft; allein eben diese Uebereinkunft beruht doch darauf daß man suche, sich und andern, in einer zwangvollen Lage, deren Ungemach lieh keit wir nun einmal nicht ganz aus dem Wege räumen können, seinen Zustand so leidlich wie möglich zu machen, ohne dazu solche Mittel zu ergreifen, die unsem innem Werth auf das Spiel setzen. Dieser innre Werth aber, der, wie ein Schatz unter der Erde, immer, auch verborgen, Gold bleibt, kann doch Witwen und Waisen nähren, und Monarchen und Reiche zum Wohl der Welt in Wirksamkeit setzen, wenn er hervorgeholt und durch den Stempel der Convention in Umlauf gebracht, wenn er allgemein anerkannt wird — anerkannt von Denen, die sich auf reines Gold verstehen, und anerkannt von Denen, die nur auf das Gepräge achten — Also wünschte ich, man eiferte nicht so heftig gegen den wahren feinen Weltton. Er lehrt uns, die kleinen Gefälligkeiten nicht außer Acht zu lassen, die das Leben süß und leicht machen. Er erweckt in uns Aufmerksamkeit auf den Gang des menschlichen Herzens, schärft unsem Beobachtungsgeist, gewöhnt uns daran, ohne zu kränken und ohne gekränkt zu werden, mit Menschen aller Art leben zu können." (Umgang 3,73f) 5f Vgl. Knigge: „Fünftes Capitel. Ueber den Umgang mit Gelehrten und Künstlern f. . .] Bedarf es einer Vorschrift, wie man mit dem Weisen und Edeln umgehn soll? An seiner Seite zu horchen auf die Lehren, die von seinen Lippen ströhmen; seine Augen auf ihn gerichtet zu haben, um sein Βeyspiel die Richtschnur unsrer Handlungen seyn zu lassen; die Wahrheit von ihm zu vernehmen, und dieser Wahrheit zu folgen — das ist ein Glück, dessen Genuß nicht nach Regeln gelernt zu werden braucht." (Umgang 3,84 f)

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117. Die Antinomie des Geistes und Buchstabens entsteht aus der Antithese daß es eine Wechselwirkung seyn soll und doch frei, da man nur in so fern frei ist, als man seine Grenzen nicht fühlt, d . h . glänzen [.] III.

118. Eine Wechselwirkung muß nach bestirnten Gesezen geschehen und doch soll man sich frei fühlen. Daraus entsteht auch noch die Antithese zwischen dem natürlichen und conventioneilen.

119. Knigge hat wie ein schlechter Wirth gehandelt, und das wenige artige in seinem Buch in die übelste Gesellschaft gebracht.

120. Eine Theorie kann auf doppelte Art zu Stande kommen aus dem Mittelpunkt heraus oder von den Grenzen herein bei empirischen Dingen die zweite Art.

121. Die Religion hat nie verfolgt.

122. Ist nicht der Roman eigentlich die einzige Poesie der Neuern? Alles andre ist ihnen fremd. Ihr Drama hat seinen Ursprung in der Novelle und das beste Lyrische ist theils im Roman, theils muß man einen Roman darum machen um es zu verstehen.

3 d.h. glänzen[.] III.] am Rand

12 Vgl. Über die Religion 63 (unten 217,3—7) III, Nr. 17 (unten 122,19-22)

13 — 16 Vgl. die spätere Fassung:

Gedanken

32

Gedanken I

133. Measure for measure ist wol eins der schlechtesten Stüke von Shakespeare. Es hat die Novellenform tout crache. Die einzigen dramatischen Ingredienzen sind Escalus Lucio und Clown. Escalus nur insofern der Contrast eigentlich dramatisch ist.

134. D e r Mißmuth des Alters besonders über die wirkliche Welt ist ein Mißverstand der Jugend und ihrer Freude die auch nicht auf die wirkliche Welt ging. Die Abneigung des Alters vor neuen Epochen gehört mit zur Elegie.

135. D e r historische Sinn ist daher höchst nothwendig um zur ewigen Jugend zu gelangen.

136. Einige verhalten sich in der Gesellschaft wie unzerlegbare chemische Stoffe, sie bleiben immer auf dem Grunde liegen, zu 29.

137. Die meisten casuistischen Fragen über die gute Lebensart liegen in der Antithese zwischen Gefühl und Begriff. Auch hier gilt der Imperativ des Gefühls für die Manier der des Begrifs für den T o n .

138. Die ewige Jugend kann keine Naturgabe seyn sondern ein E r werb der Freiheit.

1 133] Schleiermachers Zählung springt durch Verschreibung von 122 auf 133. am Rand

12 zu 29.]

1—4 Vgl. die spätere Fassung: Gedanken III, Nr. 22 (unten 124,15-18) 5—10 späteren Fassungen: Gedanken III, Nr. 26 (unten 125,13-17) und Gedanken Ethik), Nr. 55 (s. KGA 1/5) 5 - 7 Vgl. Monologen 67f; edd. Schiele IMulert 12 Rückverweisung auf Gedanken I, Nr. 29 (oben 13,12—15) 16 f Vgl. die spätere Gedanken III, Nr. 26 (unten 125,13-17)

Vgl. die VI (Zur 48,3-49,1 Fassung:

Gedanken I

33

139. Das Judenthum war nie eine Religion sondern ein Orden mit unbekannten Obern auf eine Familiengeschichte gebaut.

140. Die Geschichte der Religiositaet im Individuo, verglichen mit der im Allgemeinen, als Beweis. Alles Forschen nach Wahrheit in der Religion ist blinder Glaube, denn es geht davon aus daß geglaubt werden soll.

141. Die ursprüngliche Darstellung des Christenthums ist polemisch und so muß sie auch bleiben, nemlich relativ polemisch.

142. Das Schmeicheln in Maße ist in der Gesellschaft eben so unangenehm als das Tadeln in Masse; es muß schlechterdings ein Concert seyn, nicht Monotonie, und um dieses hervorzubringen, welches immer zugleich ein Act der Gerechtigkeit ist muß man allenfalls seine Natur verläugnen.

143. Die Grund Antithese ist die daß jeder zugleich Zweck und Mittel ist, aus dieser geht erst der angegebne Begrif hervor[:] nemlich mein Zweck soll nur eine Thaetigkeit, und meine Thaetigkeit soll nur ein G e n u ß seyn d. h. sie ist desto beßer je mehr sie sich einem Kunstwerk nähert.

144. Das 112 b gesagte kommt daher weil jeder Theil eines Ganzen demselben in Rueksicht der Gattung homogen seyn muß, nemlich daß nicht einer aus dieser der andere aus jener Species her seyn muß. Diese A n tithese ist nicht anders zu heben als so: das was an einer Gesellschaft das characteristische ist muß an dem Individuo nicht characteristisch seyn (dies

16 gesagte] am Rand nochmals der Verweis v. 112 b; v. Abk. wohl für vide daß was

19 das was]

1 f Vgl. Über die Religion 287 (unten 315,6-8) 3 - 5 Vgl. Über die Religion 101 (unten 233, 24-26) 6f Vgl. Über die Religion 294 (unten 318,2)

34

Gedanken I

ist der Stoff oder der Ton) und umgekehrt (dies ist die Manier). Im Staat komt sie nicht vor, weil man da nicht grade in sofern Mitglied ist, als man Individuum ist[.] Die gute Lebensart besteht also darin: daß man alle Stoffe geben und alle Manieren tragen kann.

145. Genuß ist ein Zustand wo die ideale Thaetigkeit die reale begleitet — Der wo die reale der idealen folgt ist die geistige Arbeit der wo die ideale der realen nicht folgen kann ist körperliche Arbeit.

146. Wechselwirkung ist nur da wo jede Thätigkeit des einen Wirkung des andern ist. Also auch die Thaetigkeit des Hörers während des H ö rens; er muß also bloß vernehmen — nun aber soll seine Thaetigkeit eine freie Entwicklung seiner Humanität seyn: ich muß ihn also in den Zustand versezen daß er nicht anders kann als vernehmen, und auch in den daß er nichts anders will als vernehmen. Lezteres muß nicht am Stoff liegen, sondern an der F o r m , nicht Pretiositaet seyn, Sucht lauter interessante Dinge sagen zu wollen sondern interessanter Vortrag: sonst bin ich nie sicher daß dieser Wille meine Wirkung ist. Jenes muß nicht am Vortrag liegen — nicht Affectation seyn — Ueberladung deßelben mit Mannigfaltigkeit sonst ist das Vernehmen keine Thätigkeit, sondern am Stoff, es muß Praecision seyn.

147. Soll das Vernehmen des Hörers eine Thaetigkeit seyn so muß es auch im Redenden etwas wirken. Die | Passivitaet muß activ seyn. Dies muß ins unendliche fortgehn und ist das stumme Spiel der Gesellschaft. J e potentiirter es ist, desto mehr gute Lebensart herrscht.

148. Das Reden selbst muß aber schon eine Wirkung des Hörenden seyn, dies ist freilich nur divinatorisch möglich nemlich so daß er es gleich als seine Wirkung adoptirt. Zugleich aber soll jedes eine Aeußerung meines

1—3 Im Staat . . . ist] am Rand folgt (als)

2 als] folgt (sie)

17 sonst] am. Rand liter.

25 nur]

Gedanken I

35

Wesens seyn. Daher zwei einseitige Maximen: Die mit jedem von seinem Metier zu reden, und die: nach seinem eignen Intereße zu reden. Jenes gilt für die Manier, dies für den T o n . Gilt aber nur vom ersten Reden, denn das folgende muß schon Wirkung des Durchschnitts seyn[.] nach 144.

149. Ich beweise eigentlich daß es gar keine schlechte Lebensart giebt, sondern daß alles nur ein Theil der guten ist, und darin liegt viel gute Lebensart.

150. Man muß sich an den Einzelnen wenden und auch ans Ganze. Daraus folgt daß die Erzählung schlechterdings dialogisch seyn muß, und der Dialog epidemisch.

151. D e r einzelne soll mir Zweck seyn — nicht auch Mittel? ebenfalls 2 falsche Maximen — er soll mir nie Mittel seyn (die feige) — Jeder muß sich gefallen laßen zum Mittel gemacht zu werden (die arrogante). Zu vereinigen: indem er mir Mittel ist, muß er mir auch Zweck seyn. Der Scherz muß so seyn daß er selbst dadurch vergnügt und erregt wird — und so daß er im Zustande der Gesellschaft bleibt d . h . ich muß ihn nicht nöthigen sich in seinen Familien oder bürgerlichen Zustand zurückzusezen.

152. Twelve-night ist gewißermaaßen übcrbildet: er hat manches dann aufgehoben und zu Ende geführt was er sonst würde haben fallen laßen. z . E . die lezte Entwicklung der Comoedie mit Malvoglio.

4 schon] folgt (Durchsch)

4 Rückverweisung auf Gedanken I, Nr. 144 (oben 33,16—34,4) 18—20 Vgl. die spätere Fassung: Gedanken III, Nr. 25 (unten 125,10—12) 18 Shakespeare: Twelfth Night or What You Will

36

Gedanken I

153. Daß Religion die Quelle der Moral sei ist nicht wahr und daß Moral die Quelle der Religion sei ist auch nicht wahr. Wahr ist aber daß Religiositaet die Quelle der Moralitaet und daß Moralitaet die Quelle der Religiositaet ist. Hier muß also eins von den drei Hauptworten in verschiedenem Sinn genommen seyn. Ist es nicht einerlei welches man dazu wählt? Daraus folgt daß der Doppelsinn aus dem verbindenden Wort (Quelle) hervorgeht.

154. In wie fern kann der Priester mit dem Schriftsteller verglichen werden?

155. Ueber die gelehrte Erziehung der Priester und die Erziehung derselben in der Schweiz. Daraus laßt sich bestimmen welche Idee in einem Volk über die Religion herrsche.

156. Die gute Lebensart soll nicht eine interimistische Anstalt seyn die sich selbst vernichtet wenn die Menschen klug genug oder bekannt genug sind, sondern sie soll durchgehn[:] ihr Ziel ist eigentlich der häußliche und bürgerliche Zustand.

157. Da es durstige Naturen giebt so muß es jedem unbenommen seyn sein Waßer abzusezen, aber es muß unter einer schönen Form geschehen entweder als Persiflage oder als Artigkeit. Jene ist vorzüglicher. Dem ächt flüßigen eignet keine Form.

158. Um das Hören thätig zu machen wird schlechterdings Wiz erfodert, in so üblem Credit er auch steht. Die Nothwendigkeit dieser Fode-

13 gute Lebensart] g. L.

19f Dem . . . Form.] am Rand

1 - 7 Vgl. Über die Religion 34-37 (unten 203,19-205,2) (unten 193,27-37) 10 Vgl. Über die Religion 229 (unten

8f Vgl. Über die Religion 289,24-26)

11f

Gedanken I

37

rung zeigt sich in der allgemeinen Sucht auch das schlechte wizig vorzutragen.

gen.

159. Ein guter Dialog muß im Lapidarstyl seyn aber ohne Erläuterun-

160. Die zugegen sind können zugleich auch Obiecte d.h. Mittel seyn. Entgegengesezte Maxime. Einige übertreiben die Heiligkeit so weit daß sie auch Abwesende als anwesend fingiren.

161. In wie fern das Spiel eine Gesellschaft ist[.] Lobrede aufs L'hombre. Der Tanz ist keine sondern nur ein Dialog. Das englische Tanzen ist sehr consequent an sich und auch für die Engländer die schlechterdings in keiner Gesellschaft mit dem andern Geschlecht seyn wollen.

162. Unter die Stände die geschont werden müßen gehört auch der Frauenstand.

163. Eine Erzählung muß beurtheilt werden wie eine Vorlesung oder wie eine Schrift. Erzähler ist Dictator.

164. Die gute Lebensart muß lebendig seyn.

3 f Vgl. Knigge: „Habe Acht auf Dich, daß Du in Deinen Unterredungen, durch einen wäßnchten, weitschweifigen Vortrag nicht ermüdest! Ein gewisser Laconismus — in so fem er nicht in den Ton, nur in Sentenzen und Aphorismen zu sprechen, oder jedes Wort abzuwägen, ausartet — Ein gewisser Laconismus, sage ich, dasheisst: die Gabe, mit wenig kömichten Worten viel zu sagen, durch Weglassung kleiner, unwichtigen Details die Aufmerksamkeit wach zu erhalten; und dann wieder, zu einer andern Zeit, die Geschicklichkeit, einen nichtsbedeutenden Umstand durch die Lebhaftigkeit der Darstellung interessant zu machen — das ist die wahre Kunst der gesellschaftlichen Beredsamkeit." (Umgang 1,78)

38

Gedanken I

165. Es ist ein Imperativ daß die Menschen von allen Seiten angeregt werden müßen. zu 142.

166. Der Begrif des Schiklichen muß jedesmal aufs neue producirt werden; der Glaube an seine Praeexistenz ist der Aristocratismus der guten Lebensart.

167. Die rechtlichen Pflichten hinten nach dem hedonischen. Die schlechte Lebensart von außen zieht nothwendig die gute von innen stark an.

168. Die Wechselwirkung hat keinen Zweck als sich selbst. Runde Tische sind ein hölzernes Mittel gegen die Vereinzlung.

169. Wer eine Gesellschaft unterhaelt macht sie auch, denn von selbst zerfällt sie in jedem Augenblick. Das Zusammenbitten ist noch kein constituiren einer Gesellschaft. Schlechtes Bitten ist gute Uebung. Die Englaender bitten so homogen darum haben sie keine.

170. Freundschaft ist Annäherung zur Individualitaet ins Unendliche, und daher selbst ins unendliche theilbar und perfectibel, und nur Annäherung zu sich selbst.

171. Jede rechte Mittheilung ist ein Zurüktreiben des Eignen nach Innen, und bei jedem Ansprechen giebt man dem Andern ein Gefühl seiner

2 zu 142.] am Rand

9f Runde . . . Vereinzlung.] am Rand

2 Rückverweisung auf Gedanken I, Nr. 142 (oben 33,8—11) edd. Schiele/Μulert 56,25-32

15—17 Vgl. Monologen 79f;

Gedanken

I

39

Grenzen. Dies sind die Hauptpunkte im dritten Gesez. Hieher auch die Antithese zwischen Geist und Buchstaben.

172. Auch Kant Anthrop. 42 sieht in den geselligen Vollkommenheiten nur schlechten Schein und schäzt sie nur als solchen.

5

173. Kant der so bestirnt die Infallibilitaet der Lavoisierschen Schule behauptet weiß so wenig Physik daß er die alte Idee noch nachsagt Geschmak und Geruch hangen von Salzen ab p. 51.

174. Die Empfänglichkeit für den Vitalsinn zärtlich und empfindlich, hingegen die Abhärtung für den Vitalsinn verbunden mit Empfänglichkeit 10 für den Organsinn Empfindsamkeit zu nennen ist toll. Niemand hat noch die Hottentotten Empfindsam genannt. Hernach heißt die Empfänglichkeit aus Stärke Empfindsamkeit, die aus Schwäche Empfindlichkeit.

11 f Hernach . . . Empfindlichkeit] am Rand

11 Hernach] hernach

3 „Die Menschen sind insgesammt, je civilisirter, desto mehr Schauspieler: sie nehmen den Schein der Zuneigung, der Achtung vor Anderen, der Sittsamkeit, der Uneigennützigkeit an, ohne irgend jemand dadurch zu betrügen; weil ein jeder Andere,\ daß es hiemit eben nicht herzlich gemeynt sey, dabey einverständigt ist, und es ist auch sehr gut, daß es so in der Welt zugeht. Denn dadurch, daß Menschen diese Rolle spielen, werden zuletzt die Tugenden, deren Schein sie eine geraume Zeit hindurch nur gekünstelt haben, nach und nach wohl wirklich erweckt und gehen in die Gesinnung über." (Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Königsberg 1798, S. 42 f; Ak 7,151,7-15) Nach Briefe 1,226 Schloß Schleiermacher seine „Notiz" zu Kants „Anthropologie" am 19. Juni 1799 ab. Sie erschien in Athenaeum 212 (1799), 300-306 (unten 365-369). Die Gedanken Nr. 172-178.189 sind Vorüberlegungen dazu. 5 £ Vgl. Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre S. VII; Ak 6,207 7 „Man kann sagen, daß beyde [erg.: die Sinne des Geschmacks und des Riechens] durch Salze (fixe und flüchtige), deren die eine durch die Flüssigkeit im Munde, die andere durch die Luft aufgelöst seyn müssen, afficirt werden und in das Organ eindringen müssen, um jeder ihre specifische Empfindung zukommen zu lassen." (Kant: Anthropologie 51 f ; Ak 7,157,13 — 17) 8 - 1 0 Vgl. Kant: Anthropologie 53 f; Ak 7,158

40

Gedanken

I

175. Die Unwichtigkeit des Geruchs wird wol aufhören wenn die Menschen chemisch cultivirter seyn werden.

176. Das Princip zu sparen damit noch eine Steigerung übrig bleibt (p. 64) ist offenbar das Princip des Geizes. Man sehe Göthes Doctor in 5 Scherz List und Rache.

177. Der Wiz ist eigentlich eine Freilaßung des Gemüths von den mechanische AssociationsGesezen.

178. Kant kennt den großen Wiz gar nicht, von dem er doch selbst soviel hat; hat auch in der Anthr. keinen gezeigt.

10

179. Unparteilichkeit betrift eigentlich nur das Urtheil. Praktisch muß man partheiisch seyn in so fern alles praktische ein Individuum betrift.

1 Vgl. Kant: „Welcher Organsinn ist der undankbarste und scheint auch der entbehrlichste zu seyn? Der des Geruchs. Es belohnt nicht, ihn zu cultiviren, oder wohl gar zu verfeinern, um zu genießen; denn es giebt mehr Gegenstände des Ekels (vornehmlich in volkreichern örtern), als der Annehmlichkeit, die er verschaffen kann, und der Genuß durch diesen Sinn kann immer auch nur flüchtig und vorübergehend seyn, wenn er vergnügen soll." (Anthropologie 54; Ak 7,158,29—35) 4 „Will man das Sinnenvermögen lebendig erhalten, so muß man nicht von den starken Empfindungen anfangen (denn die machen uns gegen die folgenden unempfindlich), sondern sie sich lieber anfänglich versagen und sich kärglich zumessen, um immer höher steigen zu können [. . .] Junger Mann! versage dir die Befriedigung (der Lustbarkeit, der Schwelgerey, der Liebe u.d.g.), wenn auch nicht in der stoischen Absicht, ihrer gar entbehren zu wollen, sondern in der feinen epicurischen, um einen immer noch wachsenden Genuß im Prospect zu haben. Dieses Kargen mit der Baarschaft deines Lebensgefühls macht dich durch den Aufschub des Genusses wirklich reicher, wenn du auch dem Gebrauch derselben am Ende des Lebens großentheils entsagt haben solltest. Das Bewußtseyn, den Genuß in deiner Gewalt zu haben, ist wie alles Idealische, fruchtbarer und weiter umfassend, als Alles, was den Sinn dadurch befriedigt, daß es hiemit zugleich verzehrt wird, und so von der Masse des Ganzen abgeht." (Kant: Anthropologie 64f; Ak 7,165, 6—26) 4f Der Doktor in Goethes Singspiel „Scherz, List und Rache" (Schriften 7,225 — 320; Berliner Ausgabe 4,283—326) ist der Komödientyp des geizigen, pedantischen Gelehrten, der im Geldbesitz die Befriedigung unendlicher Wünsche imaginär auskostet; vgl. besonders die Arie des Doktors zu Beginn des 2. Aktes (Schriften 7,245—248; Berliner Ausgabe 4,291 — 293). 8f Vgl. Kant: Anthropologie 153-158; Ak 7,220-223

Gedanken I

41

Ueber diesen Gipfel hinaus zu seyn auf der höhern Unpartheilichkeit das ist das höchste der praktischen Weisheit.

180. Bei den Franzosen werden die Naturgefühle als Studium betrieben bei den Deutschen als Observanz.

181. Die Eintheilung in Freie und Unfreie dem Geschäft nach war das innerste Ehrprincip des römischen Volks und hat bis in die spätesten Zeiten seinen Einfluß behauptet, unter anderm auch zur Verwüstung Italiens weil kein Römer sich des verfallnen Ackerbaues annehmen wollte — Was würde aus den Römern geworden seyn wenn man schon Maschinen gehabt hätte.

182. Viele von Lucians Göttergespraechen haben ganz das Ansehn von Kunstbeschreibungen und sind Lmattl wenn man sie als etwas andres ansieht.

183. Die Geburt der Minerva ist eine schöne Allegorie auf die Art wie höhere Geisteswerke entstehn.

184. Garve meint: die sittlichen Handlungen des Menschen gingen nie aufs Universum, also müßte man seine einzelnen Zwecke beschränken

9 Römern] folgt (hätten)

10 Vgl. Lukian (von Samosata): Göttergespräche, in: Sämtliche Werke, aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und Erläuterungen versehen von C. M. Wieland, Bd 2, Leipzig 1788, S. 31—66 und 112—162 15—1 Vgl. Garve: „Die Handlungen des Menschen gehen nähmlich nie auf das ganze Wohl der menschlichen Gesellschaft, noch weniger des Universums, er hat nur einen kleinen Theil des Geschäfts zu bearbeiten, welches, so zu sagen, dem ganzen Menschengeschlechte von der Natur aufgetragen worden ist, — die allgemeine Vollkommenheit zu befördern. f . . .] Er muß also seine Endzwecke so einschränken, daß sie die gleichnützlichen Absichten Anderer nicht Stohren; er muß die Heftigkeit der Begierde, mit welcher er nach seinem Ziele strebt, in dem Grade mäßigen, daß dadurch die Bestrebungen

42

Gedanken I

durch die Möglichkeit Anderer für Andere — welches klarer Widerspruch ist indem es keinen Grund keinen sittlichen wenigstens für diese Beschränkung giebt wenn die Handlungen nicht eigentlich aufs Universum gehn.

185. Aristoteles Princip ist doch vielleicht ein recht gutes heuristisches Princip und so mag er es auch genommen haben nicht um die Tugenden zu bestimmen, sondern um aufzufinden, wo welche liegen müßen aus der A n tithese entgegengesezter Neigungen, denn eine andere giebt es auf diesem Standpunkt nicht.

186. Darstellung eines Menschen der immer fragt: aber warum soll ich denn glücklich seyn? Nicht Roman sondern philosophirende Erzählung.

187. Idee zu einem R o m a n : Geschichte eines geistigen Faublas. E r liebt drei Frauen und einige Mädchen, tritt die ab die er genoßen hat, behält die die er nicht genießt und will die nicht genießen die er liebt. E r ist immer zwischen Liebe und Freundschaft. Die eine ist höchst eifersüchtig die zweite höchst unbefangen und die dritte höchst discret. Die Intrigue entsteht daraus daß er nicht länger eine vor der andern geheim halten kann. Kein tragisches Ende. Die unbefangene geht unter, die abgetretene kommt zurük, die discrete zieht sich in die vollkommene Freundschaft. Soll zulezt ein Mädchen | geheirathet werden? Nicht in Briefen denn ein solcher schreibt keine Briefe. Von den Frauen kommen aber welche untermischt.

5 Princip] Pr.

Anderer nicht unterdrückt werden." (Abhandlung, in: Aristoteles, Ethik l,14f) 4 Das Aristotelische Prinzip der Ethik lautet, „daß die Tugend in der Mitte zwischen zwey Ext remen hege". (Garve: Ethik 1) 5—7 Vgl. Garve: Ethik 23f 11 Faublas steht sprichwörtlich für einen Frauenverführer. Diese sprichwörtliche Bezeichnung knüpft an die Titelfigur einer berühmten Romantrilogie an, die Louvet de Couvray in den Jahren 1787—1790 veröffentlichte: „Une annee de la vie du chevalier de Faublas" (1787), „Six semaines de la vie du chevalier de Faublas" (1788), „Fin des amours du chevalier de Faublas" (1790).

Gedanken

I

43

188. Im Gesez der Wechselwirkung muß es auch eine Antithese geben zwischen demselben wie es die Gesellschaft supponirt und demselben wie es sie erst hervorbringen soll.

189. Große Gesellschaften sind absolut geschmaklos und zugleich 5 auch beleidigend weil der Wirth die Geselligkeit der Andern nur als Mittel zu einem anderen Zwecke braucht. Ueber Kants Grenze der Gesellschaften. Sie ist weit individueller und kann nicht durch eine mystische Zahl bestirnt werden (wobei Kant selbst etwas gethan hat was er als Aberglauben verwirft).

10

190. Die gänzliche Einheit einer Gesellschaft ist immer nur eine Idee.

191. Einen schlechten Wirth kann man nicht beßer bezahlen, als wenn man seine Gesellschaft so viel möglich zur Carricatur macht.

192. Nicolai kommt mir vor wie der Arzt des Menschenverstandes und zwar ein Arzt der sich ohne Praxis alle Augenblick herausrufen laeßt, 15 und an den Patienten stirbt die sich nicht von ihm curiren laßen wollen.

6f Vgl. Kant: „Das Wohlleben, was zu der letzteren [erg.: zur wahren Humanität] noch am besten zusammen zu stimmen scheint, ist eine gute Mahlzeit in guter (und wenn es seyn kann, auch abwechselnder) Gesellschaft, von der Chesterfield sagt: daß sie nicht unter der Zahlder Grazien undauch nicht über die der Musen seyn müsse. Wenn ich eine Tischgesellschaft aus lauter Männern von Geschmack (ästhetisch vereinigt) nehme, so wie sie nicht blos gemeinschaftlich eine Mahlzeit, sondern einander selbst zu genießen die Absicht haben (da dann ihre Zahl nicht viel über die Zahl der Grazien betragen kann): so muß diese kleine Tischgesellschaft nicht sowohl die leibliche Befriedigung — die ein jeder auch für sich allein haben kann, — sondern das gesellige Vergnügen, wozu jene nur das Vehikel zu seyn scheinen muß, zur Absicht haben; wo dann jene Zahl eben hinreichend ist, um die Unterredung nicht stocken, oder auch in abgesonderten kleinen Gesellschaften mit dem nächsten Beisitzer sich theilen zu lassen. Das letztere ist gar kein Conversationsgeschmack, der immer Cultur bei sich führen muß, wo immer Einer mit Allen (nicht blos mit seinem Nachbar) spricht: da hingegen die sogenannten festlichen Tractamente (Gelag und Abfütterung) ganz geschmacklos sind." (Anthropologie 245-247; Ak 7,278,10-279,4) 10 Vgl. Versuch einer Theorie des geselligen Betragens 123 (unten 184,15—19)

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Gedanken I

193. Die Empiriker der Geselligkeit müßen Charaktere schreiben (und diese durch alle Situationen durchführen) und Situationen und diese durch alle Charaktere durchführen. Beurtheilung deßen war hierin geleistet ist.

194. Wenn von Wetter und Gegend gesprochen wird ist das Wetter im ConversationsZimmer gewöhnlich sehr schlecht und die Gegend sehr steril.

195. Sollte nicht Dienstag eigentlich Ο d i n s t a g sein, um sich zu Freitag (Frejastag) zu verhalten wie Martis zu Veneris.

196. Daß die Beispiele vom Daimonion sich alle nur auf Zufälligkeiten beziehen, und daß Socrates seinen Aristides den Accent so auf die Fortschritte in der Dialectik beziehn läßt ist doch eigentlich nicht recht platonisch im Theages.

197. Seitdem Socrates die Philosophie vom Himmel auf die Erde heruntergebracht hat hat die Dame wunderliche Schiksale und sehr viel unartige Begegnungen erfahren. Es hat zwar nie an Champions gefehlt die sich als wakre Ritter für sie geschlagen und ihre Ehre und Schönheit aus allen Kräften verfochten haben; aber es ist ihnen gewöhnlich so ergangen wie man es in Rittergeschichten der alten Zeit bisweilen findet: sie sezten während des Gefechts die Dame ganz zutraulich im Rasen nieder oder ließen sie in der Entfernung auf ihrem Zelter halten, und indem sie sich mit dem Rüken gegen sie gewandt auf Tod und Leben für sie schlugen kam ein andrer LFrey-

9 Frejastag)] Frejastag

lOf Vgl. Piaton: Theages 128d-129d, Opera 2,19-22 11 f Vgl. Piaton: Theages 130b-c, Opera 2,23 19—1 Anspielung vermutlich auf Wieland: Gandalin oder Liebe um Liebe 6,305-433, Auserlesene Gedichte 2,269-275; Werke 4,723-727

Gedanken I

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er! der sie entführte und eben so schlecht behandelte. Wäre es wol mehr als gemeine Artigkeit wenn einer der dort Bescheid weiß die gute Dame beim Arm nähme und sie sachte wieder in den Himmel zurükführte nach dem sie sich gewiß schon lange gesehnt hat?

198. Verstehen ist ein Begriff der wol von Wenigen verstanden wird. Was sie so nennen ist eigentlich immer nur wahrnehmen und der pompöse und zugleich bequeme Name den diese leztere Handlung führt zeigt schon daß sie für viele das höchste ist. Diese Helden des Wahrnehmens fürchten sich vor dem Mangel an Bewegung und meinen sie würden sich verstehen im buchstäblichen Sinn wenn sie sich die Zeit ließen etwas zu verstehen.

199. Wie könnte Pfuhl eine romantische Person sein? Held nicht aber die reichste Nebenperson.

200. Der Aufgeber glaubt doch an die Kraft des Christenthums in 6 Jahren; ich glaube gar nicht daran.

7 und zugleich bequeme] am Rand mit Einfügungszeichen Rand mit Einfügungszeichen

10 im buchstäblichen Sinn] am

11 Pfuhl ist ein Bekannter Schleiermachers aus der Pädagogium-Zeit in Niesky (vgl. Briefe 4,84). 13 Die Notizen Nr. 200—211 sind Überlegungen Schleiermachers zur Diskussion über die Judenemanzipation, die im Frühjahr 1799 durch den anonym im „Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmacks" erschienenen Aufsatz „Politisch-theologische Aufgabe über die Behandlung der jüdischen Täuflinge" (unten 373—380) und durch das anonym erschienene „Sendschreiben an Seine Hochwürden Herrn Oberconsistorialrath und Probst Teller zu Berlin, von einigen Hausvätern jüdischer Religion" (unten 381—413) neu entfacht wurde. Schleiermacher artikulierte seine Stellung zu dieser Frage in seiner anonym publizierten Schrift „Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter" (Berlin 1799), unten 331-361. 13 f Der Verfasser der „Politisch-theologischen Aufgabe" schlägt dem Staat für die zum Christentum übergetretenen Juden, um die Lauterkeit der Motive sicherzustellen, eine sechsjährige Bildungszeit vor, „während welcher dem Täufling die Heiligthümer des Christenthums offen stehen und die Beschäftigung mit denselben obliegt, aber der Eintritt in die den schon gebildeten Christen eigenthümlichen bürgerlichen Rechte und Freiheit verwehrt ist." (Archiv 237; unten 378,36—39)

46

Gedanken I

201. Der Aufgeber hält den Staat noch nicht für incurabel, das thut aber der Sendschreiber weil er bereit ist sich in die jezigen Praetensionen deßelben zu fügen.

202. Der Staat fordere nur von Jedem die Beweise welche die Fsche Familie (in Königsberg) gab als sie ein Naturalisationspatent nachsuchte, nemlich daß sie nie in einer feierlichen Untersuchung, einem Wucher oder BankerottProceß gewesen, und in allen CivilProceßen gesiegt haben, ein Attest über den Umgang mit Christen, eine Fürsprache von angesehnen Männern und eine Versicherung wegen der Erziehung.

203. Friedländer in den Acten lehnt sich immer dagegen auf daß die Juden nicht sollen als Fremde angesehn werden, und doch nennt er sie selbst bisweilen unsere Nation.

204. Im Sendschreiben liegt noch immer die Tendenz ein Volk Gottes zu sein erstlich indem sie ihre natürliche Religion noch immer von Mose deduciren wollen zweitens indem sie der Last überhoben sein wollen an Christum zu glauben. Sie könen nichts beabsichtigt haben als daß sie hintennach sagen wollen: auch der aufgeklärteste Christ bleibt doch ein Christ. Man kann aber auch gleich von ihnen sagen: auch der aufgeklärteste Jude bleibt doch immer ein Jude.

5 Königsberg] Königsb.

8 angesehnen] angeßehnen

2 Gemeint ist das im April 1799 anonym publizierte „Sendschreiben an Seine Hochwürden Herrn Oberconsistorialrath und Probst Teller zu Berlin, von einigen Hausvätern jüdischer Religion". Der Autor war David Friedländer. 4—9 Vgl. Friedländer: Akten-Stücke die Reform der Jüdischen Kolonieen in den Preußischen Staaten betreffend, Berlin 1793, S. 48—51 und [Schleiermacher:] Briefe bei Gelegenheit 46 (unten 352,4—8) lOf Vgl. Friedländer: Akten-Stücke 30f 11 f Vgl. Friedländer: Akten-Stücke 3.5.6.26.27.30.31.33.37 und [Schleiermacher:] Briefe bei Gelegenheit 47 (unten 352,21—26) 13—16 Vgl. [Friedländer:] Sendschreiben 25-31 (unten 390,7-392,32) und 61-78 (unten 403,19-409,39) 18f Vgl. Briefe bei Gelegenheit 36 (unten 347,2—7)

Gedanken I

47

205. Sie meinen Teller soll im Namen des Consistoriums antworten da sie doch nicht einmal als Deputirte im Namen ihrer Committenten antworten konnten.

206. Wie betrüglich zur Reform Zeit die aufgeklärten Juden gegen die Andern zu Werke gegangen sind. Recht jüdisch wollten sie sie um ihr Judenthum bringen.

207. O b man durch die bloße Geburt einem Staate angehört und Anspruch drauf machen kann ein activer Bürger zu sein? Die Römer glaubten das sclavische verlöre sich erst in der dritten Generation.

208. Zur Zeit der Reform machten die Juden noch gemeinschaftliche Ansprüche; jezt nicht mehr, weil die Gebildeteren entschloßen sind ihre ungebildeten Mitbrüder sizen zu laßen.

209. Juden die sich nicht ums Christenthum bekümmern sind Franzosen die nicht deutsch lernen wollen.

210. Die Kirche bittet den Staat Ehen zu erlauben, welches um so eher angeht da der Fall höchst selten eintreten wird daß der | Vater ein Jude ist.

1 Consistoriums] Consist.

10 Zur] folgt unleserliches gestrichenes Wort

1—3 Vgl. Briefe bei Gelegenheit 9f (unten 334,6—20) 1 Vgl. [Friedländer:] Sendschreiben 81 (unten 411,3f) 4 - 6 Vgl. Briefe bei Gelegenheit 57f (unten 357,30-39) 10 f Vgl. Briefe bei Gelegenheit 57 (unten 357,33—36) 13f Vgl. Briefe bei Gelegenheit 28 (unten 342,34-37) 15f Vgl. Briefe bei Gelegenheit 42 (unten 349,19-30)

48

Gedanken I

[211.] Der Verfaßer des Sendschreibens ist gewißermaßen schon ein Christ denn er ist ein Crypto Jesuit.

[212.] Nicolai glaubt p. 104 daß man durch weitläuftige Werke Hochachtung verdienen kann.

5

[213.] Er will einen p. 103 aus persönlicher Hochachtung beßer behandeln als er eigentlich verdient.

[214.] Er meint p. . . wenn man Subtilitaeten nicht mehr widerlegen wolle wäre das Auslachen das Kürzeste. Wenn seins nur nicht so gewaltig langweilig wäre.

10

[215.] Wie komts denn daß Nicolai so oft in die Nothwendigkeit gesezt wird ausführlich zu reden? es ist unaufhörlich seine Entschuldigung?

3 ff Vgl. dazu auch Schleiermachers Brief an Henriette Herz vom 3. Mai 1799 aus Potsdam, Briefe l,222f 3 „Ich hatte sehr gem den Mann [sc. Kant] geschont, welcher durch seine weitläufigen Werke, durch seine neue Ansicht der Philosophie immer Hochachtung verdient, wenn man auch nicht allen seinen Resultaten heystimmen kann f . . .] ". (Nicolai: Ueber meine gelehrte Bildung, über meine Kenntniß der kritischen Philosophie und meine Schriften dieselbe betreffend, und über die Herren Kant, I. B. Erhard, und Fichte, Berlin /Stettin 1799, S. 104 f ) 5 „Aber auch hiebey hatte ich Herrn Kant, so viel ich auch gegen seine Schriften einwenden mußte, möglichst geschont, nie anders als mit Hochachtung von ihm gesprochen, und ihn von seinen unweisen die Welt reformiren wollenden Nachfolgern, — wahrlich bloß aus persönlicher Hochachtung gegen ihn — mehr unterschieden, als er vielleicht der strengen Wahrheit gemäß verdient hätte." (Nicolai: Bildung 103) 7 „Bloß durch Widerlegung, durch Auseinandersetzung, kann man philosophische Ideen aufs reine bringen, so lange sie noch werth sind widerlegt zu werden. Hält man aber etwa unnütze Subtilitäten weiter nicht mehr der Widerlegung werth, so ist das kürzeste sie auszulachen. Das Auslachen schadet keiner wirklichen Wahrheit, die steht wohl in sich selbst fest; aber Hirngespinste können selten das Lächerliche aushalten, wenigstens ist das Auslachen ein sicheres Mittel den Streit über Hirngespinste nicht ins Unendliche fortdauern zu lassen, damit die edle Zeit besser angewendet werde." (Nicolai: Bildung 258; vgl. auch 242.259) lOf Vgl. Nicolai: Bildung 6.81.111.115.128.136.176.249

Gedanken I

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[216.] Was meint er damit daß er die Wißenschaftslehre die sogenannte Wißenschaftslehre nennt? Seine Reisebeschreibung ist eher eine sogenannte Reisebeschreibung.

[217.] Was ist eigentlich das Beste der deutschen Literatur was Nicolai 5 unaufhörlich im Munde führt[?]

[218.] P. 7. Ich hoffe daß wenn Herr Nicolai offenherzig zu sich selbst spricht ihm auch bisweilen Bedenklichkeiten über seine Wichtigkeit kommen die er in seinen Schriften nie äußert.

[219.] P. 1 1 . Der Ekel gegen das Rechnen ist wol nicht tief eingerißen. 10 Dies alles ist sehr ausführlich.

2 Reisebeschreibung] R.B. 1 f Vgl. Nicolai: Bildung 5 2 Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweitz, 12 Bde, Berlin / Stettin 1783-1795 6 „[. . .] denn ich fühle sehr wohl, daß, wenn man von sich selbst umständlich öffentliche Nachricht giebt, es schwer ist, dem Verdachte der Selbstgefälligkeit zu entgehen, oft am schwersten, wenn man so offenherzig von sich spricht als spräche man zu sich selbst, auch dann, wenn man sich bewußt ist, mit höchster Unparteylichkeit bey der Beurtheilung seiner selbst verfahren zu haben." (Nicolai: Bildung 7 f ) 9 „Aber man schritt nicht nur gleich zum Rechnen mit benannten Zahlen, sondern quälte uns, ohne daß uns der geringste mathematische Begriff vom Grunde des Rechnens wäre gegeben worden, mit künstlichen Rechnungsexempeln, welche nur auf besondere Geschäfte im gemeinen Leben anwendbar sind; gab uns aber keinen vorläufigen deutlichen Begriff von diesen Geschäften. Daraus entstand also keine Uebung, sondern vielmehr eine Verwirrung des Verstandes, und bey einem jungen Menschen, in welchem schon in der ersten Jugend ein Trieb zur deutlichen Erkenntniß liegen mochte, entstand ein wahrer Ekel gegen alles was Rechnen war." (Nicolai: Bildung 11)

Notizen und Exzerpte zur Vertragslehre (1796/97)

Hufeland Hufeland trägt zuerst § 270 den Saz vor daß der versprechende kein Recht mehr habe seine Willenserklärung zu ändern, und zwar aus dem Grunde, weil er seine Willkühr für immer bestimmt hat, und bezieht sich hiebei auf § 261 wo gesagt wird daß das Sittengesez nicht verbietet ohne Zeiteinschränkung gültige Maximen sich selbst willkührlich vorzuschreiben. Dies führt aber natürlich darauf daß das Sittengesez auch nicht verbietet die Maxime: seine willkührlich vorgeschriebenen Maximen wenn sie nicht mehr vortheilhaft sind zu ändern anzunehmen, und diese Lvernichtetl jene Deduction. Schon im vorigen § 2 6 0 wird eine gewiße Heiligkeit des Versprechens erschlichen durch den Saz, daß solche willkührlich vorgeschriebenen Maximen den übrigen sittlichen Maximen an die Seite zu sezen seyen. Das alles ist aber nur subjektiv und gar keine naturrechtliche Vorstellungsart, denn da ich kein Recht habe jemanden zu Erfüllung des Sittengesezes zu zwingen, so darf eine Ausübung des Zwangsrechtes sich nie auf die Heiligkeit willkührlich demselben gleichgesezter Maximen gründen. Ein Recht gründet sich nie auf die Pflicht des andern. |

1 H u f e l a n d ] darüber am oberen Rand So hättest Du mich Lviell besser: sie mahle Lmich schön wies auch istl / Imer schmeichelt das Bild Lführtl die Färb den LGeruchl. 9 anzunehmen] über der Zeile mit Einfügungszeichen 10 eine] korr. aus unleserlichem Wort 16 demselben] demsel. 17 Recht] über der Zeile 17 andern.] auf der Rückseite von fremder Hand: „Sechs Thaler [ ] für die Monate [ ] 1796 sind mir auf [ ] Hochpreißl. Königl. Ob [ ] vom 4. Nov. 1796 au[ ] Kasse dato ausgezf ] quittire. Berlin [ ]"

1 Hufeland: Lehrsätze des Naturrechts und der damit verbundenen Wissenschaften zu Vorlesungen, 2. Aufl., Jena 1795 2 „§. 270. Der Promissar ist nicht verbunden, eine solche absichtliche Unwahrheit des andern vorauszusetzen, und darf also annehmen, daß die Willenserklärung des andern zur Zeit des Versprechens ernstlich war. Sie zu ändern hat der Versprechende kein Recht mehr, da er seine Willkühr für immer bestimmt hat ( f . 261.)." (Hufeland: Lehrsätze des Naturrechts 145) 5 „§. 261. Das Sittengesetz verbietet mir nicht, auch daurende ohne Zeiteinschränkung gültige Maximen willkührlich mir vorzuschreiben. [Anm.] Sie werden den sittlichen Regeln beygesellt, und sind also an sich so wenig an Zeitbestimmung in Ansehung ihrer Gültigkeit gebunden als die sittlichen Gesetze selbst." (Hufeland: Lehrsätze des Naturrechts 142) 10 „5- 260. Ich darf durch meine Willkühr Rechte aufgeben und erwerben, denn das Sittengesetz verweist mich bloß an dieselbe (§. 92.). Dies Aufgeben und Erwerben geschieht durch Festsetzung neuer Maximen, die ich jetzt durch meine Willkühr den übrigen sittlichen Regeln an die Seite setze." (Hufeland: Lehrsätze des Naturrechts 141)

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Notizen

zur

Vertragslehre

Hufeland sagt man soll Veranlaßung zu Verträgen und Verbindlichkeit sie zu schließen wol unterscheiden von dem Grund des Zwangsrechts aus Verträgen, es ist aber auch nöthig, daß man von diesem Grund unterscheidet, die auf denselben sich beziehende Form der Verträge aus welcher der zwingende sein Recht deduciren muß. So ist es gewiß, daß wo keine Acceptation zu erweisen ist auch kein Zwangsrecht seyn kann, aber nicht als ob diese Acceptation den Grund des Zwangsrechts enthielte, sie enthält nur die Form an welcher das Daseyn eines Vertrages erkannt werden kann. Denn wenn von der Willenserklärung niemand Kenntniß genommen hat, so ist auch die Willensbestimmung kein Phaenomenon und Niemand hat Lechtel Befugniß eine bloß sinnliche Causalitaet auf dieselbe auszuüben. | Wenn Hufeland sagt § 290, der zwingende bei Verträgen schüze ein Gut, und dies sei die Erwartung der Handlung so treten alle Unbequemlichkeiten der alten Theorie wieder ein, und es muß erst bewiesen werden wie er diese Erwartung als ein Gut habe erwerben können. Dies ist nicht Deduction sondern nur ein anderer Ausdruk für die alte, zu beweisende Sache. Es bekomt zwar dadurch dies Zwangsrecht das Ansehn eines negativen, aber auch dies ist erschlichen, denn die Erwartung als mein Gut kann ich immer schüzen ohne daß ich die Erfüllung erzwinge: und daß mir dies leztere zusteht, wird also auf diese Art nicht bewiesen. So schüzt die Reichsstadt Achen imer noch die Erwartung daß der Kaiser in ihr gekrönt werden soll durch Protestationen ohne deswegen die Krönung selbst zu erzwingen. U m die Sache ganz zu erschöpfen muß man den Ausdruk daß ein Gut geschüzt wird ganz fahren laßen (denn es bleibt unübersteiglich, woher mir denn ein Recht komme, ein Gut dadurch zu schüzen, daß ich einen andern zwinge etwas zu t h u n , ) sondern nur davon ausgehn: zwingen heißt einen Menschen als Naturding behandeln, woher komt also mein Recht ihn in diesem Fall als Naturding anzusehn. |

1 Hufeland] darüber von fremder Hand: „An den Herr Prediger Schleiermacher. HochEhrwürden." 4 denselben] denselb. 4 aus] korr. aus auf 12 § 290] über der Zeile mit Einfügungszeichen 21 Achen] Kj Aachen 25 dadurch] korr. aus Lsol 27 Menschen]

Mn 1—3 Vgl. Hufelands Anm. zu § 259: „Man muß die Veranlassung zu Verträgen (gegenseitige Bedürfnisse) und die Verbindlichkeit, Verträge zu schließen, nicht mit dem Grunde der Zwangrechte aus Verträgen verwechseln." (Lehrsätze des Naturrechts 141) 12 „§. 290. Bey allen diesen Versprechen ist die gewisse Erwartung der Handlung oder die Bestimmung der Handlungen andrer das Gut, das der Rechthabende durch Zwang schützt; er zwingt also den Pflichttragenden, die Handlung zu thun." (Hufeland: Lehrsätze des Naturrechts U l f )

Notizen

zur

Vertragslehre

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Die erste Schwierigkeit ist diese: Wie kann es eine positive Zwangs- 6r pflicht geben. Hufeland sagt: ich schüze mein Gut. Anders ζ. B. Garve und Puffendorf legen bei ihren Deduktionen die Idee zum Grunde, wenn gleich dunkel als ob nur die Gesellschaft um ihres Vortheils willen diese Pflicht zu

2 Vgl. Hufeland: Lehrsätze des Naturrechts §§ 114.115.172.230.272.290 2 Vgl. Garve: Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero's Büchern von den Pflichten, 2. Aufl., Berlin 1788: „Mit der Enthaltung von fremdem Eigenthume, ist die Erfüllung der Verträge, von jeher, in den Begriffen der Menschen, als die heiligste Pflicht der Gerechtigkeit verbunden gewesen. Die Menschen, wenn sie einmal das Eigenthum kennen, gewöhnen sich, auch ihre Erwartungen zu demselben zu rechnen. Und wer also diese erregt hat, und hernach täuscht, wird eben so angesehen, als wenn er jenes ihnen entwendet hätte. Diese Begriffe werden durch die Natur der Geschäfte im bürgerlichen Leben bestätigt, und völlig ausgebildet. Da diese ohne Veranstaltungen für die Zukunft nicht möglich sind: so muß jeder eine gewisse Sicherheit, von dem Thun und Lassen anderer haben, wenn er solche Geschäfte, wozu die Mitwirkung dieser letztem gehört, soll forttreiben können. Diese Sicherheit kann er nur erhalten durch das Versprechen derselben: und daß dieses Versprechen emstlich sey, vergewissert er sich, durch seine gegenseitige Erklärung, daß er sich darauf verlasse. Dieß ist es, was die Rechtslehrer die Acceptation nennen. Ein solches acceptirtes Versprechen muß gehalten werden. Sonst bleibt kein Mittel übrig, das künftige Verfahren anderer, mit Gewißheit voraus zu sehen: und damit fällt auch zugleich die Möglichkeit weg, in gesellschaftlichen Angelegenheiten Entschlüsse für die Zukunft zufassen, und auf dieselbe Anstalten zu machen; welches dann nothwendig allen Verkehr unter den Menschen zerrütten, und die Erreichung ihrer Endzwecke hindern muß." (94f) In einer längeren Anmerkung setzt sich Garve mit Mendelssohns Vertragslehre auseinander und führt dabei genauer aus: „Ich muß nämlich alsdann vor allen Dingen fragen: was bringt die Rede, welche ein Versprechen ausdrückt, für eine Veränderung in dem Gemüthe desjenigen hervor, welcher dasselbe erhält? Keine andre, als daß er etwas erfährt, was ich thun werde; daß er also eine Handlung von mir voraus sieht, oder erwartet. Was ändert nun diese Erwartung in seinem Zustande, oder in meinem Verhältnisse zu ihmf Nichts weiter, als daß er nunmehr seine Maaßregeln nimmt, zufolge dessen, was er von meinen künftigen Handlungen zu wissen glaubt. Und was folgt nun hieraus weiter? daß, wenn er in dieser Voraussetzung, zur Ausführung schreitet, und ich dann das Versprochene nicht leiste; Zeit und Mühe, und oft ein Theil seines Eigenthums verlohren sind: woraus erstlich ein Schaden für die Person selbst erwächst, der mehr oder weniger unwiederbringlich seyn kann: fürs andre, wenn dieß häufig vorkömmt, eine Abneigung bey andern, sich in gesellschaftliche Geschäfte, zu welchen mehrere mitwirken müssen, einzulassen. Und dieß würde am Ende, wenn Versprechungen von jedermann für unverbindlich angesehen, und also die Mitwirkung andrer in jedem Falle unsicher würde, alle Gesellschaft zerstören." (96f) 3 Vgl. Pufendorf: De officio hominis et civis, ed. G.S. Treuer, 2. Aufl., Leipzig / Wolfenbüttel 1726: „§. III. Circa isthaec generale officium ex lege naturali debitum est: ut quilibet fidem datam servet, seu promissa et pacta expleat. Citra hoc enim si esset, plurima pars utilitatis periret, quae humano generi communicatis invicem opens ac rebus enasci apta est. Et ni promissa servandi necessitas foret; haud quidquam liceret rationes suas firmiter aliorum hominum subsidiis superstruere. Quin et ex decepta fide iustissimae querelarum bellique causae pullulare sunt idoneae. Nam ubi ego ex pacta aliquid praestirerim, altero fidem fallente; mea mihi res aut opera frustra periit. Sin vero nihil adhucpraestiti; rationes tarnen et destinata mea turbari molestum est: quum alio modo rebus meis potuissem consulere, nisi iste se mihi obtulisset. Et indignum est, ludibrio haberi; quia alterum cordatum ac bonum virum credidi." (213-215)

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Notizen

zur

Vertragslehre

einer Zwangspflicht erhoben hätte. Schmalz sagt: ich schüze meine Selbstzwekheit, glaubt aber selbst nur beweisen zu können daß diese erst nach geschehener Leistung gefährdet wäre. Die zweite ist die: Wie kann es eine selbst übernommene Zwangspflicht ursprünglich geben? (Denn alle im bürgerlichen Zustand übernommenen Zwangspflichten fließen doch aus dem ersten Contrakt.) Hufeland sagt: es geschehe durch Aufnahme einer Maxime, welche den sittlichen Regeln beigesellt wird. Mendelssohn sagt: es würde nicht geschehen können, wenn nicht schon vorher eine Gewissenspflicht das nemliche zu thun da gewesen wäre. Hobbes sagt: es geschieht wegen des ursprünglichen Bedürfnißes des Friedens. Feder bleibt am allerplattesten bloß bei der Erwartung stehn, daß man glauben muß, er habe die Schwierigkeiten gar nicht gesehn. Die dritte ist die: welches ist denn nun eigentlich das bindende Moment des Paktums, nach welchem keine Retraktation mehr möglich ist. Dies sezen nun einige in die Willenserklärung | Andere in die Acceptation, noch andere in eine wirklich geschehene Leistung. Wäre die erste und zweite Frage nach Principien entschieden, so müßte daraus die Beantwortung der dritten ohne alle Schwierigkeit gefolgert werden könen. Meine Erklärung fällt wie die Kantische aus: Die Willenserklärung muß mit der Acceptation verbunden gedacht werden. Die Juristen machen dieses Zugleichseyη vorstellig durch den Actum der Unterschrift, der diese Idee wenigstens soweit realisirt, daß jeder Parth in einem einzigen Actu seine und die gegenseitige Willenserklärung anerkennt. Wenn auf diese Art der erste Hauptpunkt abgethan ist, so entsteht eine zweite Untersuchung denn ehe ich zum wirklichen Zwang aus einem Ver-

24 eine] korr. aus bei

lf Vgl. Schmalz: Das reine Naturrecht, Königsberg 1792, 13f.27.29.104 6 - 8 Vgl. Hufeland: Lehrsätze des Naturrechts § 260, s. o. Anm. zu 53,10 8—10 Schleiermacher knüpft seine Aussage über Mendelssohn vermutlich an den Bericht an, den Hufeland in Anm. 2 von § 272 seiner „Lehrsätze des Naturrechts" über Mendelssohn gibt: der letztere gründe die Zwangsrechte aus Verträgen „auf Erhebung einer Gewissenspflicht zu einer Zwangspflicht" (146). Vgl. auch Mendelssohn: Jerusalem 1,47 10—12 Vgl. Hufelands Bericht in Anm. 2 zu § 272: „[. . .] Hobbes (de cive c. 2 4. c. 3 §. 1. Leviathan c. 14.15. pr.) [sc. gründet die Rechte der Verträge] auf Νothwendigkeit derselben, um Frieden zu erhalten; Feder (Grundlehren zur Kenntniß des menschlichen Willens Th. II. 5· 17.) auf die Pflicht, die gemachte Erwartung zu erfüllen [. . .]". (Lehrsätze des Naturrechts 146) 19 f Vgl. Kant: Die Metaphysik der Sitten, Erster Theil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Königsberg 1797, §19; besonders: „Aber weder durch den besonderen Willen des Promittenten, noch den des Promissars (als Acceptanten) geht das Seine des ersteren zu dem letzteren über, sondern nur durch den vereinigten Willen beider, mithin so fem beider Wille zugleich declarirt wird." (98; Ak 6,272,11-14)

Notizen zur

Vertragslehre

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trag schreiten kann, muß ich beweisen die Willenserklärung des andern sei da gewesen. Es fragt sich also: giebt es verständliche und für allgemein anzunehmende Zeichen einer Willensbestimmung? Ich antworte[:] es muß dergleichen geben, weil darauf die Anerkennung der Personalität beruht. Den Grundsaz angenommen, daß ein Vorstellungsvermögen und ein menschlicher Körper nur dann einer Person angehören, wenn sie einem Willen als Instrument beigelegt sind, so folgt von selbst daß ich den Willen muß unabhängig von der Thätigkeit dieser Instrumente erkennen können denn sonst liefe ich Gefahr daß meine Voraussezung dieses Willens ganz leer seyn könnte und keiner würde Ursach haben sich des Vortheils zu begeben der offenbar daraus fließt wenn man Jeden als Sache behandeln kann. Jeder sieht | sich also genöthigt zu streben nach verständlichen Zeichen seines Willens, und die praktische Vernunft postulirt hier also eine ursprüngliche allen übrigen zum Grunde liegende Gesellschaft, nemlich die Gemeinschaft der Zeichen. Dies ist aber ein ganz anderes Postulat als die ethischen, denn die Vernunft macht es auch wirklich, sie zeigt uns daß sie die Lsol noch nirgends ausgestorbene oder aufgehobene Gesellschaft wirklich gestiftet hat, eine Gesellschaft die aller Kulturverschiedenheit, allen Kriegen und aller Bosheit trozt, denn selbst der boshafte Wortbetrüger führt seine Hinterlist so aus daß er die anerkannte Bedeutung der eingeführten Zeichen gelten läßt und nur durch künstliche Zweideutigkeit seinem MitContrahenten die Schuld einer verfehlten Auslegung [.aufzuheften! sucht. Das Daseyn dieser Gemeinschaft ist sehr leicht zu beweisen. Es giebt und hat immer überall vor jeder andern Gesellschaft dreierlei allgemein anerkannte Zeichen gegeben: positive Zeichen daß man etwas thun wolle (sanctio foederis) gewöhnlich durch Anticipation einer Handlung die nur unter Voraussezung des Lbedungenenl Zustandes denkbar ist z . B . man aß gemeinschaftlich zum Zeichen der erneuerten Freundschaft, man opferte gemeinschaftlich zum Zeichen daß man einerlei Götter und einerlei Wunsch habe — negative Zeichen daß man etwas nicht thun wolle signa pacis: ζ. B . Oelzweig statt der Waffe führen, mit Musik kommen und nicht in der Stille zum spioniren, die Friedenspfeife rauchen als Symbol der Unthätigkeit — Zeichen der Solennität: das Anrufen der | Zeugen (welche durch einen Scherz beleidigt worden wären)[.] Hieher gehört auch bei Theistischen Völkern der Eid, welcher im Fetischismus ursprünglich nur Verpfändung war, und vielleicht auch in neuern Zeiten der Handschlag der ursprünglich Symbol der Tradition war. Hieher die verschiednen LFormelnl. Die Wortsprache in welcher gar keine psychologische Verbindung des Zeichens mit dem Bezeichneten Statt findet, und also auch keine nothwen-

4 dergleichen] dgl. 5 Vorstellungsvermögen] W Theistischen] folgt (Zeugen)

8 Instrumente] folgt (muß)

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Notizen zur

Vertragslehre

dige a priori sich ergebende Hermeneutik läßt sich nur als Folge einer andern Gesellschaft denken. Jene Zeichen sind alle symbolisch d . h . sie zeigen das intellektuelle an durch Darstellung des ihm correspondirenden sinnlichen. Das sinnliche Unvermögen zu schaden zeigt an das intellektuelle, nemlich die Abneigung. Der sinnliche Besiz der Freundschaft zeigt an den intellektuellen nemlich die Aussöhnung. Die sinnliche Ueberwältigung durch die gemeinschaftliche LKraftl aller derer, die ein Interesse an der Treue haben, zeigt an die intellektuelle Ueberwältigung des Gemüths durch Wahrheit.

Der Grund, warum Jemand Zwangsrechte hat ist nicht dieser, daß er Vernunft hat (denn diese läßt sich nicht sogleich sinnlich darstellen um seine Ansprüche zu rechtfertigen) sondern dieser: daß er eine Willkühr hat, daß er nach einem innern Princip Vorstellungen erzeugt. Ein Kind hat auch Zwangsrechte, ja selbst ein Wahnsinniger, nur wird ihm die Beurtheilung derselben nicht überlassen. Hufelands § 104 daß wer das Sittengesez nicht anerkennt keine Rechte für sich fodern könne ist offenbar falsch. | Fichte sagt ein Vertrag sei nur gültig und gebe nur Recht unter Voraussezung der fortdauernden Willensbestimmung des versprechenden. Auf diese Art ist aber alles Zwangsrecht aufgehoben, denn wenn sein Wille fortdauert so wird er die Leistung von selbst erfüllen, und wir sind da wo nach Aristoteles einige Völker waren, daß keine Klagen über Verträge de futuro angenomen wurden. Ja nach dieser Lehre bliebe dem promittens wenn er seine Leistung erbracht hat immer noch ein dominium directum über die Sache und alles Eigenthum wäre aufgehoben. Dieser Irrthum rührt von einem andern Fichtischen Saz her, nemlich diesem: es kann keine ewigen

lOf Vgl. ζ. B. Hufelands Anm. 1 zu §106: „Man könnte sagen: Ob ein andrer ein vernünftiges Wesen sey, und also Rechte habe, erkenne ich erst daraus, daß er sittliche Gesetze beobachtet." (Lehrsätze des Naturrechts 63) 15 „§. 104. Alle Rechte gründen sich auf das Sittengesetz. Wer dies nicht anerkennt, kann auch keine Rechte für sich behaupten." (Lehrsätze des Naturrechts 62) 17 i Schleiermacher kennt diese These nicht durch eigene Lektüre von Fichtes 1793 anonym publiziertem „Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution", sondern kennt sie vermutlich durch den Bericht Hufelands. Vgl. Hufelands Anm. 2 zu § 272: „[. . .] im Beytrag zur Berichtigung der l/rth. des Publ. über die franz. Revol. (H.l, S. 121 flgg.) ist das Recht aus Verträgen nur auf die fortdaurende Willensbestimmung des Versprechenden gegründet, sonst gehe es nur auf Zurücknahme des Products der Leistung und Schadensersatz." (Lehrsätze des Naturrechts 146) 21 f Vgl. Aristoteles: Ethica Nicomachea 1162b,25—31, ed. Turnebus 448 (richtig: 444); ed. Bywater 176 2 5 - 2 Vgl. [Fichte:] Beitrag zur Berichtigung 104f; Ak 1/1,254,13-34 und 204 - 207; Ak 1/1,300,22—301,27; besonders: „Es ist ein unveräußerliches Recht des Menschen, auch ein-

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Verträge geben weil der Mensch nie versprechen kann sein Urtheil nicht zu ändern. Allein durch diese Unvollkomenheit können andre ohne natürliche Rechte nicht so unendlich gekränkt werden, sondern wenn er den Zustand in welchen er durch den Vertrag versezt worden ist nicht mehr zuträglich findet, kann ihm nichts übrig gelaßen werden, als daß er suche sich auf gütlichem Wege wieder in den vorigen Stand zu versezen. (Beides steht in der Berichtigung, welche ich lesen muß) | Hufeland holt sehr weit aus, um seine Darstellung der Lehre von den 11 r Verträgen zu rechtfertigen. § 111 soll bestirnt werden, was ein Gut ist, und da komt auch vor: Jede Vorstellung der Zweke, jede Erwartung und Hofnung sie zu erreichen ist ein Gut, und so wird für die Folge der Schluß vorbereitet: meine Güter darf ich schüzen also auch meine Erwartungen. Nach dieser Ansicht also ist Hufeland ganz in der Federschen Theorie — nur daß er nicht von der Pflicht des andern, sondern von einem eignen Recht ausgeht. Es läßt sich aber hiegegen zweierlei sagen. 1.) Nach Kantischen Ideen kann eine Vorstellung — und Erwartung ist doch immer nichts als Vorstellung einer künftigen Wirklichkeit — nie ein meum seyn, denn ich kann nicht sagen, daß ich sie noch besize, wenn sie nicht mehr in meinem Gewahrsam ist, weil sie alsdann gar nicht mehr existirt[.] 2.) Es kann keinen Gedanken geben die Erwartung zu schüzen, weil sie mir Niemand rauben kann wenn ich sie gleich nach bedeutenden Veränderungen anders motiviren muß. Der Ausdruk müßte also um doch etwas zu sagen so verändert werden: die Mittel zu künftiger Erreichung von Endzweken. Dann fängt nun aber die Frage wieder an: habe ich durch den Vertrag ein solches Mittel wirklich erwerben können. I

4 welchen] welchem

seitig, so bald er will, jeden seiner Verträge aufzuheben; Unabänderlichkeit und ewige Gültigkeit irgend eines Vertrags ist der härteste Verstoß gegen das Recht der Menschheit an sich." (204; Ak 1/1,300,22 - 24) 7 [Fichte:] Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution, Erster [einziger] Theil, Zur Beurtheilung ihrer Rechtmäßigkeit, 2 Hefte, o. O. [wahrscheinlich Danzig] 1793; Ak 1/1,193 -404 9 „§. 111. In Ansehung der Zwecke, welche sich die menschliche Willkühr vorsetzen kann, sind theils Bedingungen aller Zwecke überhaupt, theils Mittel zu einzelnen Zwecken, theils die Vorstellung der Zwecke selbst und die Hofnung oder Erwartung, sie zu erreichen, anzunehmen. Jede einzelne Bedingung, jedes einzelne Mittel, und jede Vorstellung oder Erwartung eines Zwecks kann ein Gut (bonum, meum, suum) genannt werden." (Lehrsätze des Naturrechts 66f) 12 Vgl. Hufeland: Lehrsätze des Naturrechts § 290, s. o. Anm. zu 54,12 13 Vgl. oben Anm. zu 56,10—12 15—17 Vgl. Kant: Die Metaphysik der Sitten, Erster Theil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre §1-9, S. 55-76; Ak 6,245-257

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Notizen zur

Vertragslehre

U e b e r die M e n d e l s s o h n s c h e T h e o r i e Mendelssohn sezt ein äußeres Mein und Dein vor allem Vertrag voraus, ein nicht Conventionelles Eigen thum. Das Eigen thumsrecht besteht in dem Recht ausschließend zu entscheiden ob ich meine Güter zum Eigen5 nuz oder zum Wolwollen anwenden will. Habe ich aber über einen bestimmten Fall den Ausspruch gethan so muß er gelten, und wenn ich ihm zuwider handeln will begehe ich eine Ungerechtigkeit, und der andere be-

1 Vgl. Mendelssohn: Jerusalem oder Uber religiöse Macht und Judentum, Berlin 1783 (zwei selbständig paginierte Abschnitte), 1,29—56 2f Vgl. Mendelssohn: „Die Güter, auf welche der Mensch ein ausschließendes Recht hat, sind 1) seine eigenen Fähigkeiten; 2) was er durch dieselben hervorbringet, oder dessen Fortkommen er befördert, was er anbauet, hegt, schützt u.s.w. (Produkte seines Fleißes); 3) Güter der Natur, die er mit den Produkten seines Fleißes so verbunden, daß sie von denselben ohne Zerstörung nicht mehr getrennt werden können, die er sich also zu eigen gemacht. Hierin bestehet also sein natürliches Eigentum, und diese Güter sind auch im Stande der Natur, bevor noch irgend ein Vertrag unter den Menschen Statt gefunden, von der ursprünglichen Gemeinschaft der Güter ausgeschlossen worden. Die Menschen besitzen nämlich ursprünglich nur diejenigen Güter gemeinschaftlich, die von der Natur, ohne eines Menschen Fleis und Beförderung, hervorgebracht werden. — Nicht alles Eigentum ist blos conventioneil." (Jerusalem l,32f) 3—5 Vgl. Mendelssohn: Ohne Ausnahme gilt das „Naturgesetz, daß der Mensch im Stande der Natur unabhängig sey, und ihm allein das Recht zukomme, die Collisionsfälle zwischen Selbstgebrauch und Wohlwollen zu entscheiden." (Jerusalem 1,45) 5—7 Vgl. Mendelssohn: „Sobald dieser Unabhängige einmal ein Urtheil gefällt hat; so muß es gültig seyn. Habe ich im Stande der Natur den Fall entschieden, wem, wenn und wie viel ich von dem Meinigen überlassen will; habe ich diesen meinen freien Entschluß hinlänglich zu erkennen gegeben, und mein Nächster, dem zum Besten der Ausspruch geschehen, hat das Gut in Empfang genommen; so muß die Handlung Kraft und Würkung haben, wenn mein Entscheidungsrecht etwas bedeuten soll. Wenn mein Ausspruch unkräftig ist, und die Sachen so läßt, wie sie gewesen sind; wenn er nicht in Ansehung des Rechts diejenige Veränderung hervorbringet, die ich beschlossen; so enthält mein vermeintes Recht den Ausspruch zu thun, einen offenbaren Widerspruch. Meine Entscheidung muß also wirken, muß den Zustand des Rechts verändern. Das Gut, wovon die Rede ist, muß aufhören das Meine zu seyn, und nunmehr wirklich meines Nächsten geworden seyn. Das vorhin unvollkommen gewesene Recht meines Nächsten muß durch diese Handlung ein vollkommenes Recht geworden; so wie mein vollkommen gewesenes Recht in ein unvollkommenes übergegangen seyn; sonst wäre meine Entscheidung null. Nach vollzogener Handlung also kann ich das abgetretene Gut, ohne Ungerechtigkeit, mir nicht mehr anmaßen; und wenn ich es thue, so beleidige ich; so handele ich wider das vollkommene Recht meines Nächsten." (Jerusalem 1,47—49) 7i Vgl. Mendelssohn: „Ein solcher Vertrag muß, vermöge des vorhin Erwiesenen, gehalten werden. Das Entscheidungsrecht, welches vorhin einen Theil meiner Güter ausmachte, d. i. das Meine war, ist durch diese Abtretung das Gut meines Nächsten, das Seine geworden, und ich kann es ihm, ohne Beleidigung nicht wieder entziehen. Den Anspruch, den er auf den Gebrauch dieser meiner Unabhängigkeit, in so weit sie nicht zu meiner Erhaltung nothwendig ist, so wie jeder andere machen konnte, ist durch diese Handlung in ein vollkommnes Recht übergegangen, das er sich mit Gewalt zu erzwingen befugt ist." (Jerusalem l,51f)

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komt ein Recht mich zu zwingen. Worauf beruht nun dieses? Da Mendelssohn soviel von dem unvollkommenen Recht redet welches der Andere vor meiner Entscheidung hat, so ist offenbar er will das vollkommene welches durch die Entscheidung entsteht auf jenes unvollkommene gründen. Die Sache läßt sich auf diesem Wege auch noch beßer ins Licht sezen als Mendelssohn gethan hat. Ein unvollkomnes Recht ist nach ihm ein solches wovon ob es wirksam seyn soll oder nicht einige Bestimmungen nicht in dem Recht habenden, sondern nur in dem pflichttragenden zu finden sind. Der Pflichttragende ist hier der Besizer; giebt dieser nun durch seine Entscheidung und Willenserklärung diejenigen Bestimmungen heraus welche nur bei ihm zu finden waren, so ist der Rechthabende nun im Besiz aller Bestimmungsgründe, und sein Recht ist ein vollkomnes Recht geworden. Nun ist aber bei Mendelssohn vollkomnes Recht und Zwangsrecht einerlei, also hat der Rechthabende durch die Entscheidung des pflichttragenden Besizers ein Zwangsrecht erworben. Diese Deduktion hat aber folgende Mängel[:] 1.) wird auf diese Weise aus dem unvollkomnen Recht kein vollkomnes denn durch die Entscheidung erhalte ich nur ein -Urtheil welches er über die Bestimmungsgründe gefällt, aber nicht die Bestimmungsgründe selbst, denn er enthüllt mir bei seiner Entscheidung nicht die Ursachen. Ich praesumirte also nur auf seine Auctoritaet die Bestimmungsgründe, und wenn er nun mit einem andern Urtheil komt und | sich auf das Recht des I2r Irthums stüzt, so kann ich meinen Besiz nicht vertheidigen; er nimt nur seine Auctorität zurük, dadurch erniedrigt er zwar sich selbst gewißermaßen (indem er einen sittlichen Irthum bekennt) beleidigt mich aber nicht, sondern erzeigt mir einen Dienst, indem er mich zugleich von einem Irthum befreit. (Diese Wendung hat vielleicht Mendelssohn geahndet und

7 in] über der Zeile Klammem

21 er] korr. aus ich

26—15 (Diese . . . nichts.)] im Ms. eckige

1—3 Vgl. Mendelssohn: „Der Mensch im Stande der Natur ist Herr Uber das Seinige, Uber den freien Gebrauch seiner Kräfte und Fähigkeiten, Uber den freien Gebrauch alles dessen, so er durch dieselben hervorgebracht, (d. i. der Früchte seines Fleißes) oder mit den Früchten seines Fleißes auf eine unzertrennliche Weise verbunden hat, und es hänget von ihm ab, wie viel, wenn und zum Besten wessen von seinen Nebenmenschen er einiges von diesen Gütern, das ihm entbehrlich ist, ablassen will. Alle seine Nebenmenschen haben blos auf seinen Ueberfluß ein unvollkommenes Recht, ein Recht zu bitten, und er, der unumschränkte Herr trägt die Gewissenspflicht, einen Theil seiner Güter dem Wohlwollen zu widmen." (Jerusalem l,46f; vgl. auch 33f. 5Of) 3f Vgl. Mendelssohns rhetorisch gemeinte Frage: „Können Verträge und Abkommnisse vollkommene Rechte erzeugen, Zwangspflichten hervorbringen, wo nicht, ohne allen Vertrag, schon unvollkommene Rechte und Gewissenspflichten da gewesen sind?" (Jerusalem 2,18) 6 - 8 Vgl. Mendelssohn: Jerusalem 1,31 (unten 63,19-27)

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Notizen zur

Vertragslehre

dies kann die Ursach gewesen seyn warum er lieber bei dem simplen Grunde stehn geblieben ist: wenn ich meinen Ausspruch verleze so hat mein Entscheidungsrecht nichts auf sich. Aus dieser meiner Unwürdigkeit kann aber kein Zwangsrecht des Andern entstehn. Die Unwürdigkeit selbst würde erst alsdann eintreten, wenn man den Einwurf abschneiden könnte: ich entscheide erst durch die That, die Worte sind nur vorläufig. Mendelssohn welcher eingesteht daß eigentlich alles auf die Willenserklärung ankomt, hatte das Princip welches diesen Einwurf umstößt, aber ohne es anzuwenden. Gesezt nun aber diese Unwürdigkeit wäre erwiesen, und der widerrufende hätte durch sie etwas verwirkt, so könnte dies nichts anders seyn als sein Entscheidungsrecht, seine vorigen Handlungen würden annulirt und seine Güter kehrten in die ursprüngliche Gemeinschaft, aber derjenige gegen den er widerrufen hätte kein besonderes Recht gegen ihn wenn nicht vorher bewiesen ist, daß er durch die Willenserklärung schon in Besiz gekommen. Die Zwangssicherheit der Verträge gewönne also nichts.) 2.) wenn auch ein vollkomnes Recht (nach Mendelssohns Definition) auf diese Weise entstände, so ist doch das unendlich weit entfernt ein Zwangsrecht zu seyn. Wenn ich alle auf die Geseze der Weisheit und Güte sich beziehenden Bestimungen über den Gebrauch einer Sache habe, so weiß ich zwar vollkomen was Lhierinl r e c h t ist quid sit iustum aber ich habe noch kein Recht ius; das Vermögen die Sache wirklich zu brauchen ist deswegen noch nicht mit meiner Freiheit verbunden und der bloße physische Besiz giebt einen größern titulum | auf einen Zwang als dies vermeinte aber ganz leere, 12ν kaum intelligible Recht. Es findet hier eine Alternative statt. Besagt der Ausspruch des vollkommen Lberechtigtenl nur so viel: ich, ob ich gleich im Besiz bin concedire daß jezt mein Gut für Dich angewendet werde, so ist nur erst die Praesumtion eines vollkomnen Rechtes da, und das Zwangsrecht müßte also anders woher gefolgert werden. Besagt er so viel: ich übergebe Dir mein Entscheidungsrecht, so habe ich freilich ein Zwangsrecht und immer ein vollkomnes, wenn eins nach der Mendelssohnschen Definition wirklich existiren kann, sobald ich im Besiz der Sache bin, aber dieser Besiz muß imer erst durch eine andere Theorie der Verträge bewiesen werden. Denn 3.) das unvollkomne Recht, welches dem vollkomnen vorhergehn soll findet nicht Statt. Die unvollkomnen Rechte eines Menschen gehn

9 und] korr. aus so 12 Gemeinschaft] zu ergänzen wohl zurük 16 Definition] Definit. 21 deswegen] desweg. 24 Alternative] alternative 29 habe] über (bin) 29 freilich] folgt (im Besiz, habe) 30 immer] korr. aus auch 30 Mendelssohnschen] M.

2f Vgl. Mendelssohn: Jerusalem salem 1,49 (unten 64,25-27) 64,3)

1,48; s.o. Anm. zu 60,5—7 6f Vgl. Mendelssohn: Jeru1 6 - 1 8 Vgl. Mendelssohn: Jerusalem l,31f (unten 63,18-

Notizen zur

Vertragslehre

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nur unbestimmt auf alles was nicht das seinige ist, aber nie bestirnt auf etwas in so fern es einem einzelnen angehört. Dies unvollkomne Recht wird erst durch die Anerbietung erworben. LNurl wenn auf die Annahme der Anerbietung der Ausspruch folgt: ich will das thun, was D u wünschest, so 5 sehe ich nicht warum das wenn nicht andre Principien hinzukommen etwas mehr Lsagenl sollte als eine Bestärkung der Erwartung, ohnerachtet sich Mendelssohn gegen diese Theorie so sehr streubt. |

Mendelssohn. Jerusalem p. 29seq.

i3r

,Die B e f u g n i ß (das sittliche Vermögen) sich eines Dinges als Mittels 10 zu seiner Glükseligkeit zu bedienen heißt ein R e c h t . Das Vermögen aber heißt sittlich wenn es mit den Gesezen der Weisheit und Güte bestehen kann, und die Dinge, die als Mittel zur Glükseligkeit dienen können, werden Güter genannt.' — p. 30. ,Was nach den Gesezen der Weisheit und Güte geschehen muß, [. . .] heißt sittlich nothwendig. Die sittliche Nothwen15 digkeit [. . .] etwas zu thun oder zu unterlaßen, ist eine Pflicht. [. . .] Wenn ich [. . .] ein Recht habe etwas zu thun, kann mein Nebenmensch kein Recht haben mich daran zu verhindern. [. . .] Einem jeden Recht entspricht also eine Pflicht.' — p. 31. ,Weisheit mit Güte verbunden heißt G e r e c h t i g k e i t . — Das Gesez der Gerechtigkeit auf welches ein Recht sich grün20 det, ist entweder von der Beschaffenheit, daß alle Bedingungen unter welchen das Prädikat dem Subjekt zukommt dem Rechthabenden g e g e b e n sind oder nicht. In dem ersten Fall ist es ein vollkommenes, in dem andern ein u n v o l l k o m m e n e s Recht. Bei dem unvollkomnen Recht nemlich hängt ein Theil der Bedingungen unter welchen das Recht zukommt von 25 dem Wissen und Gewißen des Pflichtträgers ab. Dieser ist also auch in dem ersten Fall vollkommen, in dem andern aber nur unvollkommen zu der Pflicht verbunden, die jenem Rechte entspricht. Es giebt vollkomne und

5 wenn nicht] wenn nich Gewißen] folgt (eines)

7 streubt.] Das letzte Drittel der Seite ist unbeschrieben.

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7 Vgl. Mendelssohn: „Mir, und mir allein, kömmt also im Stande der Natur das Entscheidungsrecht zu, ob und wieviel, wenn, wem und unter welchen Bedingungen ich zum Wohlthun verbunden bin? und ich kann im Stande der Natur durch keine Zwangsmittel, zu keinerley Zeit, zum Wohlthun angehalten werden. Meine Pflicht wohlzuthun, ist blos Gewissenspflicht, davon ich äusserlich niemandem Rechenschaft zu geben habe; so wie mein Recht auf anderer Wohlthun, blos ein Recht zu bitten ist, das abgewiesen werden kann." (Jerusalem 1,35f) 9 - 1 3 Mendelssohn: Jerusalem 1,29 18 31f

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Notizen zur

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unvollkomne, sowol Pflichten als Rechte. Jene heißen Zwangsrechte und Zwangspflichten, diese [. . .] Ansprüche [. . .] und Gewissenspflichten. Jene sind äußerlich, diese aber nur innerlich.' | p. 32. Die Güter, worauf der Mensch ein ausschließendes Recht hat, 13 ν seine Person, seine Produkte — das mit denselben verbundene, sind vor irgend einem Vertrag von der ursprünglichen Gemeinschaft der Güter ausgeschloßen worden, und sein natürliches Eigenthum. p. 33. ,Der Mensch kann ohne Wolthun nicht glüklich seyn', hat er also Güter die nur zum Besserseyn dienen, so muß er einen Theil davon wolwollend anwenden. p. 35. Mir allein komt aber die Entscheidung zu, ob, wieviel, wenn, wem ich zum Wolthun verbunden bin. Diese Pflicht ist, wie alle positiven Pflichten, im Stande der Natur unvollkommen. p. 45. In diesem Recht die CollisionsFälle zwischen Selbstgebrauch und Wolwollen zu entscheiden besteht die natürliche Freiheit des Menschen. p. 47. »Sobald dieser Unabhängige ein Urtheil einmal gefällt hat, [. . .] muß es gültig seyn. [. . .] Wenn mein Ausspruch unkräftig ist und die Sachen [. . .] läßt wie sie gewesen sind, [. . .] so enthält mein vermeintes Recht den Ausspruch zu thun einen offenbaren Widerspruch. Das vorhin unvollkommen gewesene Recht meines Nächsten muß durch diese Handlung ein vollkomnes Recht geworden, so wie mein vollkommen gewesenes [. . .] in ein unvollkomnes übergegangen seyn, sonst wäre meine Entscheidung null.« p. 49. ,1m Grunde komt alles bloß auf die Willenserklärung an, und die würkliche Ein-|händigung [. . .] selbst kann nur gültig seyn in so weit 14r sie für ein Zeichen der hinlänglichen Willenserklärung genommen wird.' p. 50. ,Das Recht die Collisionsfälle zu entscheiden' ist selbst ein unkörperliches und entbehrliches Gut, welches abgetreten werden kann. ,Eine Handlung wodurch dies geschieht heißt ein Versprechen; und wenn [. . .] die Annahme dazu komt [. . .] entsteht ein Vertrag. Demnach ist ein Vertrag nichts anders als [. . .] die Ueberlaßung und [. . .] Annahme des Rechts in Absicht auf'

2 Zwangspflichten] Z.Pflichten 4 ausschließendes] ausschließds 33 auf] Die folgenden zwei Drittel der Seite sind unbeschrieben.

4 32 f

$ 33f

11 35 f

17 47f

28 50f

5 denselben] densel.

Notizen zur

Vertragslehre

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Zur Theorie der Verträge 1.) Ein menschlicher Körper wird nur dadurch ein Theil einer Person, daß ich vorausseze seine organischen Kräfte seien unmittelbar mit seinem Willen verknüpft — wenn die willkührlichen Bewegungen aufgehört haben, oder unterbrochen sind, so wird er nicht mehr als Person behandelt. 2.) Ein Vorstellungsvermögen wird nur dadurch eine Person, daß ich vorausseze es sei ein Wille da, welchem die Aeußerungen desselben unterworfen sind. Die Thiere sind im rechtlichen Verstände deswegen Thiere weil sie keine Praesumtion eines Willens für sich haben. 3.) Nur dasjenige ist also mit der Person eines andern verknüpft was mit seinem Willen zusammenhängt. 4.) Die Willensbestimmung und was mit ihr zusammenhängt ist also eigentlich die freie Handlung einer Person — alles übrige ist Naturbegebenheit. 5.) Weil aber im Allgemeinen die äußre Person mit der innern verbunden ist so darf ich nichts als bloße Naturbegebenheit ansehn, wovon ich nicht weiß, daß es | mit der Willensbestimung nicht zusammenhängt. 6.) Wenn eine Willensbestimung erfolgt ist, und die dazu gehörigen Thätigkeiten des Vorstellungsvermögens folgen nicht nach, so ist das Vorstellungsvermögen in diesem Zustand ein Naturding, und ich kann es als ein solches behandeln um einen Zwek dadurch zu erreichen. 7.) Wenn eine Willensbestimmung erfolgt ist und der Mechanismus folgt nicht nach so ist der Körper in diesem Zustand ein Naturding und ich kann ihn mechanisch als Mittel behandeln.

Schmalzische Säze 1.) Vertrag ist eine Willenserklärung über eine Leistung. Die Leistung geschieht durch Thun oder Nichtthun oder Geben.

6 Ein] ein Körper] Köpr

19 Vorstellungsvermögens] W

19 f Vorstellungsvermögen] W

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2 6 f Vgl. Schmalz: ,,§. 93. Versprechen ist die Erklärung unsres Willens, einem andern etwas leisten zu wollen." „§. 95. Diese Handlung [sc. des Leistens] kann entweder auf eine Sache sich beziehen, die wir dem andern geben, das ist, an das Recht des andern knüpfen sollen ($. 76.),

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Notizen

zur

Vertragslehre

2.) Der Willenserklärung ist entweder die Leistung unmittelbar beigefügt — Contractus de praesenti, oder unter der Bedingung einer Gegenleistung Contractus de futuro, oder gar nicht pactum. 3.) Der Contractus de praesenti ist verbindlich weil die Leistung ge5 schehen ist und nicht zurükgenomen werden kann. 4.) Der Contractus de futuro ist verbindlich weil ich sonst den Promittenten zwingen würde gehandelt zu haben. 5.) Das Pactum kann aufgehoben werden so lange | noch kein Schade lOv geschehen ist.

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Anmerkungen 1.) Wenn die Verbindlichkeit in der Willenserklärung liegt, so ist ein pactum eben so bindend als ein Contract.

4 praesenti] praes. 6 Contractus de futuro] Contr. de fut. 8 lange] Auf Bl. lOr steht von fremder Hand die Briefanschrift: „An den Prediger Hn. Schleyermacher. Hochehrwürden, in der Charite." Außerdem befindet sich dort ein Briefsiegel. 10 Anmerkungen] Anmerk.

oder es ist ohne diese Beziehung eine andere active oder passive, negative oder positive Handlung, und geschieht durch Thun, Leiden oder Nichtthun." „§. 97. Das Versprechen einer Person mit der demselben entsprechenden Annehmung einer andern, heißt Vertrag." (Naturrecht 62.64) 4f Vgl. Schmalz: „§.105. Wenn aber die Leistung im einseitigen, oder beide Leistungen im zweyseitigen Vertrage geschehen sind, so sind die Verträge völlig bindend. Denn, wenn die Leistung durch eine Handlung (5· 95.) ohne Beziehung auf eine Sache geschehen ist: so ist es physisch unmöglich, den Vertrag zu annullieren. Ist aber eine Sache gegeben worden, hat der Versprechende sie wirklich abgetreten (§. 76.), der Annehmende aber sie wirklich occupirt und so an sein Urrecht geknüpft: so ist es moralisch unmöglich vom Vertrage abzugehen." (Naturrecht 67f) 6f Vgl. Schmalz: „§.106. Wenn im zweyseitigen Vertrage die Leistung von dem einen geschehen ist: so ist der andere vollkommen zur Gegenleistung verpflichtet. Denn der Wille des, der zuerst leistete, war nur bedingt. Wenn also die Bedingung, die Gegenleistung, wegfällt, so fällt auch sein Wille zu leisten weg. Der wortbrüchige Annehmer der Leistung hat also den, der redlich leistete, wider seinen eigenen Willen handelnd oder gebend gemacht, und also gegen seine äußere vollkommne Pflicht gehandelt." (Naturrecht 68f) 8f Vgl. Schmalz: „§. 107. Wenn auf einen Vertrag hin noch keine Leistung geschehen, sondern nur zukünftige Leistungen versprochen sind: so bleibet beiden Theilen frey, ihren Willen auch wider Willen des andern zu ändern. Denn der Gegenstand der Leistung ist noch nicht an das Urrecht des andern geknüpft; dieses kann also auch nicht durch die Nichthaltung verletzt werden. [Anm.:] Da es in den Händen der Contrahenten steht, durch Leistung den Contract bindend zu machen; da es immer unnachlässiges Gesetz der Moral bleibt, sein Wort zu halten: so ist diese Lehre auch auf keine Weise gefährlich." (Naturrecht 69)

Notizen zur

Vertragslehre

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2.) Wenn die Verbindlichkeit in der Leistung liegt, so ist die Willenserklärung überflüßig wo die Leistung da ist und ein Contractus de praesenti ist Leigentlichl kein Vertrag sondern eine Lsimplel Handlung die freilich nicht ungeschehn gemacht werden kann. 3.) Wenn die Verbindlichkeit in der Leistung liegt so ist der Promissarius bei einem Contractus de futuro zu nichts verbunden (die Bedingung des Promittenten kann nur da binden, wenn in der Erklärung des Promissarius sie anzuerkennen eine Verbindlichkeit liegt.) 4.) Soll die Verbindlichkeit auf beiden zusammen ruhen, welches ist denn der lezte Grund? lauter Verwirrung. 5.) Unwillkührlich komt Schmalz imer wieder auf die Verbindlichkeit der Willenserklärung zurük ζ. E. das Geben, sagt er, ist beim Contractus de praesenti verbindlich, weil der Wille des Gebers aufgehört hat. Davon soll also das Geben ein Zeichen seyn also eine Willenserklärung. |

Theorie der Verträge Durch einen Vertrag d . h . eine von einem andern genehmigte Willenserklärung soll eine vorher bloß moralisch mögliche Handlung in Bezug auf den Genehmiger moralisch nothwendig werden.

Die Erwartung kann die Ursach der Zwangsverbindlichkeit nicht sezen. Denn wie viele Erwartungen werden nicht unwillkührlich erregt, die man nicht verpflichtet ist zu erfüllen. Es käme also imer darauf hinaus daß der Acceptant sagen könnte seine Erwartung sei durch die Willenserklärung ganz vorzüglich begründet, nun dabei wird schon eine Ueberzeugung von der Verbindlichkeit der Verträge vorausgesezt, wo nicht Ldiesel könnte ich ihm entgegen sezen daß eben eine neue Willenshandlung die Veränderlichkeit des Willens zeige und daß also eine Erwartung, die auf dieser beruhe noch thörigter sei als jede andere. | Die Acceptation kann auch der Grund einer entstehenden Zwangsverbindlichkeit nicht seyn, denn sie enthält nur die Erklärung daß der andre

1 ist die] folgt (ganze Definition] falsch) 2 praesenti] praes. 6 Contractus] Contr. 7 Erklärung] über (Bedingung) 7 f Promissarius] Promiss 12f Contractus de praesenti] Contr. de praes.

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Notizen zur

Vertragslehre

meinen Willen wiße, daß er ihn billige, daß er zur Erfüllung desselben beitragen wolle. Was kann nun diese Erklärung für einen Grund enthalten meinen Willen unabänderlich zu machen. Weil eine Aeußerung von mir ein anderer documentirt hat bin ich nicht mehr Herr meines Willens.

1.) Durch die Willensbestimmung wird eine Handlung vollendet. Was noch auf dieselbe folgt ist entweder körperlicher Mechanismus oder symbolische Darstellung. Es hat mir Jemand versprochen ein Kleid zu machen, von dem Augenblik an da er seinen Willen erklärt hat, tritt die Begebenheit ein, sie fängt nicht etwa erst an, sondern ist schon ihrem Wesen nach vollendet, denn die Causalität ist bestimmt und das folgende ist Wirkung, Mechanismus. — Es sagt jemand er will von diesem Gericht nicht essen, die Handlung ist vollendet, daß er weitergiebt, daß er den Teller umkehrt ist nur symbolische Darstellung. Die Tradition an sich bedeutet gar nichts; wenn mir | Jemand etwas einhändiget, kann ich daraus schließen, daß ich es als mein ansclin soll? wird er nicht sagen: so war es nicht gemeint, ich wollte es Dir nur zeigen. Sie hat also keinen andern rechtlichen Einfluß als insofern sie Symbol der Willensbestimmung ist. Eben so ist es mit dem Mechanismus, er geht schon seinen Gang, er ist schon durch die Willensbestimmung wirklich gegeben. 2.) Jede Handlung ist zugleich eine Begebenheit d.h. etwas zur Sinnenwelt gehöriges/Dies gilt nicht nur von äußerlichen körperlichen Handlungen, sondern auch von innern, und also auch von Willensbestimungen, und jede Begebenheit in so fern sie etwas darstellt ist ein phaenomenon welches als Mittel gebraucht werden kann. 3.) Ich darf jeden zwingen, welcher mich hindern will meine Causalität in der Sinnenwelt zu gebrauchen. 4.) Wenn Jemand eine Willensbestimmung vollendet hat, und ich habe sie als Mittel gebraucht er läßt aber den Mechanismus nicht nachfolgen so zerstört er nicht etwa meine Handlung — das könnte ihm imer erlaubt seyn, sondern er macht sie ungeschehen, er annullirt sie und hindert also die Ausübung meiner Causalitaet. 5.) Ich darf ihn also zwingen, ich darf ihn in Absicht auf diese einmal in die Sinnenwelt übergegangene Thätigkeit als eine ins Stoken gerathene Maschine ansehn deren Gang ich nachhelfen darf. | 6.) So darf er also nicht sagen: das war mein Wille, ich nehme ihn zurük, sondern er müßte sagen[:] es ist nie mein Wille gewesen, ich habe nur

4 hat] karr, aus wird über (vernichtet)

7 symbolische] symbole 35 6] 5

13 symbolische] symbol'

29 zerstört]

Notizen

zur

Vertragslehre

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gespaßt. Hier tritt nun das Postulat des Naturrechts ein: es muß für jedes Factum des Gemüths, welches sich auf den gesellschaftlichen Zustand bezieht allgemein gültige Zeichen geben, und nur derjenige der diese Zeichen versteht kann Anspruch darauf machen für einen Menschen gehalten zu werden. (Anm. über Fichtes Frage.) 7.) Die Erwartungstheorie hat also etwas richtiges an sich nemlich dieses die Zwangsverbindlichkeit beruht darauf daß die Willensbestimung mit Handlungen des andern zusamenhängt, welche nicht vernichtet werden dürfen. 8.) Die Acceptationstheorie hat etwas richtiges nemlich ich würde mein Zwangsrecht nicht ausüben können, wenn ich nicht vermittelst einer allgemeingültigen Formel das wirkliche Daseyn einer Willensbestimmung darthun könnte. 9.) Die allgemeine Annahme dieser Formel ist ein Factum a priori welches aller Gesellschaft zum Grunde liegt, etwas ursprünglich positives. |

5 Frage.)] Frage.

6 7] 6

10 8] 7

14 9] 7

5 Scbleiermacher wollte sich in der geplanten Anmerkung vermutlich zur Abhandlung „Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache" äußern, die Johann Gottlieb Fichte 1795 im ersten Band des von Friedrich Immanuel Niethammer herausgegebenen „Philosophischen Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten" (Neu-Strelitz 1795, S. 255-273 und 287-326) veröffentlicht hatte. Fichte stellt dort die Ausgangs fr age: „Wie ist der Mensch auf die Idee gekommen, seine Gedanken durch willkürliche Zeichen anzudeuten? Diese enthält unter sich folgende zwei: 1) Was brachte den Menschen überhaupt auf den Gedanken, eine Sprache zu erfinden f 2) In welchen Naturgesetzen liegt der Grund, daß diese Idee gerade so und nicht anders ausgeführt wurde? Lassen sich Gesetze auffinden, welche den Menschen hei der Ausführung leiteten Τ (258; Ak 1/3,98,26-32)

Entwurf zur Abhandlung über die Vertragslehre (1796/97)

Entwurf zur Abhandlung über die Vertragslehre Erster Abschnitt über die bisherigen Theorien Keine Theorie hat folgende Schwierigkeiten gelöset. 1.) Wie kann es ein positives Zwangsrecht geben? Das Recht ist ein solches, welches ich durch einen Vertrag erwerbe, ein Recht Jemanden zu einem gewißen Gebrauch seiner Freiheit zu zwingen. Da das ursprüngliche Recht immer nur negativ ist, so hat man verabsäumt das positive Recht von jenem abzuleiten, da es nun kein anders giebt so haben die Lehrer des Naturrechts verschiedne Wege eingeschlagen. 1.) Sie leiten die Verbindlichkeit des Vertrags ab von der Pflicht des Versprechenden — a.) Erwartungstheorie. N B . Neue Modifikation welche ihr Hufeland gegeben hat[.] b.) Wahrhaftigkeitstheorie. 2.) Sie dehnen das ursprüngliche Recht aus auf das Recht alle Folgen meiner rechtlichen Handlungen zu schüzen (er braucht mich als Mittel wenn er meine Handlung zerstört)[.] Dies findet aber nur statt in so fern es mit meinem ursprünglichen Recht zusammenhängt. 3.) Sie machen die ganze Sache zu einem positiven Institut, a.) der einzelnen aus Liebe zum Frieden b.) der Gesellschaft zur Sicherung des Verkehrs. Die ersten sezen ebenfalls eine Gesellschaft voraus die sich zur Sicherung der Verträge Lvereinigtl, jede Gesellschaft beruht aber selbst auf einem Vertrage. 4.) Sie Lleugnenl es ganz. Dies thut Fichte offenbar[.] Denn wenn ein Vertrag nur unter der Voraussezung gültig ist daß der Paciscent unterdeßen seinen Willen nicht ändert, so ist Ler nichtsl. Auch Schmalz gewißermaßen, denn wenn es kein Pactum de futuro giebt, und ich gegen Schadenersaz jeden Vertrag bei L IL 1 [Gegenleistung nochl L Ί | erfolgt ist aufheben kann, so giebt es keinen Vertrag.

5 es ein] folgt ( Z w a ) 5 Das] korr. aus Ei 10 Naturrechts] Naturrecht 11 Sie] sie 14 Sie] sie 24 Denn wenn] Denn 28 Vertrag bei] Es folgen Wörter, die wegen der abgestoßenen und eingerissenen Blattkante verloren sind. Zu ergänzen ist wohl dem die 28 Lnochl] Das folgende Wort fehlt wegen Papierverlust. Zu ergänzen ist wohl nicht

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Abhandlung zur Vertragslehre

2.) Das Zwangsrecht wird doch nur durch eine freiwillige Handlung des andern erworben, wie ist es also möglich daß Jemand durch eine willkührliche Handlung eine Zwangspflicht entstehn mache. 1.) Hufeland sagt: ich habe es mir zum Gesez gemacht. a.) kein Gesez kann gemacht werden. b.) kein Mensch kann zum Richter darüber gesezt werden. 2.) Mendelssohn sagt: meine Personalität macht es mir zur Pflicht. a.) Das könnte vielleicht eine vollkomne seyn, aber keine Zwangspflicht. 3.) Die Empiriker sagen: die Erwartung macht es zur Pflicht. Daher ist man auch noch nicht darüber einig 1.) welches das eigentlich bindende Moment des Vertrages sei 2 . ) wie der Beweis zu führen sei daß dies da gewesen.

Zweiter Abschnitt Meine Theorie

16 Theorie] Die folgenden drei Fünftel der Seite sind unbeschrieben.

Leibniz I (1797/98)

Leibniz. 1.

Vie de Leibniz par Jaucourt 1. Was kann aus einer Wissenschaft werden, die von ihren größten 5 Adepten wie ein Charadenspiel behandelt wird? So gehn Leibniz und die Bernoullis mit der Mathematik um.

2. Leibniz muß entweder beweisen können daß das Bewußtseyn das ganze Vermögen sei welches die Monaden hindert mit andern in einen Aggregatzustand zu treten, oder das principium individui ist noch eine beson10 dere Grundkraft in jedem Geist. Das Vorstellungsvermögen wäre die Attractions, dies die Repulsionskraft.

3. Leibniz braucht schon den Ausdruk: das Ich. S. Commercii literarii cum Bernoullio torn. 1 p. 399: tunc nullum esset ego, nullae monades perge perge

3 Vie . . . Jaucourt] am Rand c. Bern.

12f Commercii literarii cum Bernoullio] Commerc. literar.

3 Leibniz: Essais de Tbeodicee, Augmentie de l'Histoire de la Vie et des Ouvrages de l'Auteur, par Μ. le Chevalier de Jaucourt, Bandl, Amsterdam 1747 (eigene Paginierung) 4—6 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 358 (unten 151,17—28) 12—14 Virorum celeberr. Got. Gul. Leibnitii et Joban. Bernoullii commercium pbilosopbicum et matbematicum, 2 Bde, Lausanne! Genf 1745: „Sed si nullae essent animae, vel bis analoga, tunc nullum esset ego, nullae monades, nullae reales unitates, nullaeque adeo multitudines substantiales forent; imo omnia in corporibus non nisipbasmata essent." (1,399)

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Leibniz I

4. Leibniz sieht die Undurchdringlichkeit nur als etwas passives an und darum glaubt er es müße noch etwas andres geben durch deßen Modifikation conatus und impetus entständen, ein Princip der lebendigen Kräfte. Das kommt vom Cartesianismus.

5. Eine Monas ist überall ein corpus organicum. S. commercii literarii Τ . 1. p. 414[:] quousque silex dividi debeat ut occurrant corpora organica seu monades haud scio [. . .].

6. Leibniz disputirt viel über die Freiheit Gottes mit Bernoulli ohne mit einem W o r t an Spinoza zu denken.

7. Leibniz studirte eigentlich weil er Bücher geerbt hatte, s. Vie par Jaucourt p. 9.

8. E r irenisirt schon als Student und will im Rosenthal Plato und Aristoteles vereinigen.

2 geben] folgt (als) Β. 10 par] ρ

5 commercii literarii] commerc. literar.

7 seu] s.

8 Bernoulli]

5 Leibnitii et Bernoullii commercium philosophicum et mathematicum, Lausanne! Genf 1745 7 Statt seu Q : adeoque 8 Vgl. Leibniz: Commercium philosophicum 1,423f. 429f. 438f. 441 f. 445.454.479 und 2,2 9 Vgl. Leibniz: „Etiam Spinosa vult Deum non coacte, sed sponte agere. At in eopeccat inter alia, quod Deo adimit electionem; quasi nihil aliud possibile fuerit, quam quod fecit. Videris nunc non dissentire ä distinctione Theologorum inter diversos necessitatis modos." (Commercium philosophicum 1,479) lOf ,,M. Leibnitz goüta cet avis, et sa propre experience lui en avoit deja fait sentir la necessite; car quoiqu'il sut assez bien la Langue Latine, il n'entendoit rien aux Ecrits de Descartes, ni a ceux de quelques autres Auteurs qu'il avoit trouves dans une bonne Bibliotheque que son Pere avoit laissee, et qui etoit la portion la plus precieuse de son heritage." (Jaucourt: Vie 9f) 12f Vgl. Jaucourt: Vie 15, wonach Leibniz 1664 im Rosental bei Leipzig über dieses Unternehmen meditierte.

Leibniz I

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9. E r hat im Voraus die Titel zu B ü c h e r n fertig. S. p. 2 0 .

10. W a r nicht sein Hauptstudium eigentlich A r c a n a zu suchen? E r s t in der Medicin, in der C h e m i e , in der Mathematik, in der Philosophie in der Theologie?

5

11. W a r Leibnizens Metaphysik wol etwas andres als Physik — universelle, physische — ? Ihr Verhältniß zu den andern Wissenschaften hat er wol nie gekannt.

12. M o t u s abstractus und motus concretus diese Eintheilung gehört zu Schulbegrif und Weltbegrif. zu Theorie — Praxis. Ist sie dem Leibniz so 10 wesentlich[?]

13. Das Vacuum hätte er doch nur im Schulbegrif zugeben sollen.

14. Leibniz w a r ein schlechter Philosoph, er bekam von Zeit z u Zeit beßre Einsichten, p. 5 6 .

5 Leibnizens] Leibnizes

13 p. 56.] am

Rand

1 „ C'etoit l'Histoire de cette nouvelle Secte de Lipsiens, que Μ. Leibnitz avoit forme le dessein d'ecrire. [Anm. c:] De Scriptoribus Lipsianizantibus, seu laconicum scribendi genus imitantibus, etoit le titre que Μ. Leibnitz vouloit donner ä son Traite." (Jaucourt: Vie 20) Schleiermacher bezieht sich auf die nicht fertiggestellten stilkritischen Leibniz-Studien zu dem von Justus Lipsius inaugurierten Sprachwandel. 2 Vgl. Jaucourt: „A peine Μ. Leibnitz fut-il arrive a Nuremberg, qu'il ouit parier d'une Societe de gens qui travailloient dans un grand secret a la Pierre Philosophale. Ii n'en fallut pas davantage pour exciter en lui une envie demesuree de faire une itroite connoissance avec ces Chemistes, et de le devenir lui-meme." (Vie 24; vgl. auch 28) 8 Vgl. Jaucourt: Vie 55, wo die beiden 1671 erschienenen Abhandlungen „ Theoria motus abstracti, et Theoria motus concreti" besprochen werden. 13 Vgl. Jaucourt: „Dans la suite, croyant etre mieux instruit, il changea totalement d'opinion, et n'envisagea

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Leibniz

I

15. Herr v. Boineburg war Leibnizens Nicomedes; er prostituirte ihm seinen Geist. Sein Buch über die Dreieinigkeit ist also eigentlich eine Staatsschrift.

16. Ohne Anstoß geschah nichts. Mathematik (höhere nemlich) stu5 dirte er weil er zufällig nach Paris kam wo er davon reden hörte, p. 61.

1 Herr] Η

5 p. 61.] am Rand

meme son Ecrit, que comme l'essai d'un jeune-homme qui n'avoit pas encore approfondi les Mathematiques; ce qui montre d'autant plus l'amour de M. Leibnitz pour la recherche de la verite, qu'il s'etoit d'abord persuade que son Systeme reunissoit tous les autres, suppleoit a leurs imperfections, etendoit leurs bornes, et eclaircissoit leurs difficultes." (Vie 56) 1 Der Freiherr Johann Christian von Boyneburg (1622—1672), der Leibniz 1666 in Nürnberg kennengelernt hatte, protegierte ihn als ehemaliger Kurmainzischer Oberhofmarschall und Ratspräsident (1653—1664) und erwirkte 1670 seine Berufung auf eine Kurmainzische Ratsstelle. 1 Nikomedes IV. Philopator (König von Bithynien 94 — 74) soll gerüchteweise eine homoerotische Beziehung zu Gaius Iulius Caesar angeknüpft haben, als dieser 80/79 in einer militärdiplomatischen Mission am bithynischen Königshof als Gastfreund sich aufhielt, um Kriegsschiffe für eine Belagerung anzuwerben. (Vgl. Suetonius: De vita Caesarum 1,2.49) 1—3 Schleiermacher spielt hier auf den Sachverhalt an, daß es Leibniz in seiner 1671 erschienenen Abhandlung „Sacrosancta Trinitas per nova argumenta logica defensa" unternahm, für seinen Gönner Boyneburg auf dessen Bitte eine Antwort an den Sozinianer Andreas Wissowatius zu schreiben, der mit Boyneburg auf Grund von dessen Konversion zum katholischen Glauben im Briefwechsel stand. (Vgl. Jaucourt: Vie 56—59) 5 Vgl. Jaucourt: „Quoique place dans un lieu, oü les plaisirs emportent d'ordinaire la plus grande partie du tems, et ou les jours ont des termes si courts, il remplissoit les sienspar des conversations utiles, par l'etude, etprincipalement par celle des Mathematiques, qu'il n'avoit pas encore assez approfondies. II n'a point fait difficulte d'avouer ingenument et publiquement, selon la coutume des Grands-hommes, qu'il etoit entierement novice dans la profonde Geometrie, lorsqu'il connut ä Paris en 1672 l'illustre M. Huygens, celui, apres Galilee et Descartes, ä qui il devoit le plus en ce genre: que la lecture du Livre de Huygens De Horologio Oscillatorio, jointe a celle des Lettres de Pascal, et des CEuvres de Gregoire de St. Vincent (Auteur tres-habile, et bien plus connu de nom que de fait) lui ouvrit tout d'un coup l'esprit, et lui donna des vu'es qui l'etonnerent lui-meme, et tous ceux qui savoient combien il etoit encore neuf sur ces matieres; qu'aussi-töt il s'offrit a lui un grand nombre de Theoremes, qui n'etoient que des Corollaires d'une Methode nouvelle, dont il trouva depuis une partie dans les Ouvrages de Jaques Gregori, d'Isaac Barrow, et de quelques autres; qu'enfin il avoit penetre jusqu'ä des sources plus cachees, et avoit soumis a I'Analyse cette portion de la Geometrie sublime qui ne I'avoit jamais ete auparavant. C'est du Calcul Differentiel qu'il veut parier." (Vie 61 f )

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17. A u c h die allgemeine Sprache eben so ad 10 u n d 1 6 . E r gab z u diesem B e h u f einem jungen M e n s c h e n auf Definitionen z u m a c h e n , p . 1 0 2 .

Schi. P a p . 18. E s giebt drei wissenschaftliche K r a n k h e i t e n . D i e P e d a n t e r i e ent5 steht aus d e r H e t e r o n o m i e des LWerkzeugesl und gleicht den h y p o c h o n d r i schen G a b e n welche geheilt seyn würden, wenn m a n den Patienten dahin brächte sie sich deutlich vorzustellen. Die E n c y k l o p ä d i s c h e Seichtheit entsteht aus d e r H e t e r o n o m i e der Veranlassung, und ist wie die B l ä h u n g e n n u r ein verächtliches U e b e l o b sie gleich bis zu C o n v u l s i o n e n gehen k a n n . D i e 10 bornirte Superstition entsteht aus der H e t e r o n o m i e des Stoffs und k a n n , weil der erbärmliche M e n s c h i m m e r etwas heiliges ist d o c h n u r b e d a u e r n s w e r t h seyn.

19. M a n hält es für ein U n g l ü k daß es kein bestirntes G e f ü h l der p h y sischen G e s u n d h e i t giebt w o l aber der K r a n k h e i t . W i e weise diese V e r a n 15 staltung der N a t u r sei sieht m a n aus d e m Z u s t a n d d e r W i s s e n s c h a f t e n , w o der Fall u m g e k e h r t ist und w o ein wassersüchtiger hektischer und gelbsüchtiger w e n n er sich mit einem gesunden vergleicht glaubt es gebe z w i s c h e n

2 p. 102.] am Rand 3 Schi. Pap.] Abk. vielleicht für Schleiermachers Papiere 5 Heteronomie] daneben am Rand lächerlich 7 Leichtheit] folgt (ist verächtlich; sie) 12 seyn.] folgt (Das ist aber das Unglük, daß hier) 16—2 und wo . . . blondin] unter einem Aphorismen-Trennungsstrich mit Verknüpfungszeichen 16f gelbsüchtiger] folgt (gla)

1 Über den äußeren Anstoß für Leibniz' Bemühung um eine allgemeine Sprache im fahr 1703 berichtet Jaucourt: „II paroit que la Lettre que le R.P. Bouvet ecrivit ä M. Leibnitz sur les Caracteres Chinois, luifit naitre l'ingenieux et vaste Projet d'une Caracteristique universelle. II n'etoit pas id question d'inventer un Alphabet universel, qui contint Enumeration de tons les sons particuliers, ou lettres dont se servent les divers Peuples de l'Europe, et d'en fixer la prononciation, au moyen de quoi chaque Nation put etre capable de lire et de prononcer le Langage des autres, aussi aisement que sa propre Langue; idee qu'a eue un Anglois, et dont il a donne un Essai dans les Transactions Philosophiques. Ii ne s'agissoit point non plus de reduire les Peuples ä une seule Langue, et de les engager a ne parier uniquement que celle-la; le dessein seroit chimerique, et quand meme on en viendroit a bout, il ne subsisteroit pas vraisemblablement fort longtems." (Vie 100) 1 Schleiermacher verweist zurück auf die Aphorismen Nr. 10 und Nr. 16. 2 Vgl. Jaucourt: „[. . .] il avoit charge un jeune homme de mettre en ordre des difinitions de toutes les choses: travail immense, herisse de difficultes, et presque inepuisable!" (Vie 102) 1 3 - 2 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 280 (unten 144,7-13)

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ihnen keinen andern Unterschied als den zwischen fett und mager oder brünett und blondin.

Leibniz. Princ. Phil. 20. Was nicht auf natürliche Art entstehn und nicht auf natürliche Art 5 vergehen kann; das kann auch nicht auf natürliche Art existiren. Ist dies nicht Polemik gegen die Philosophie?

21. Leibniz fängt gleich mit dem Anrufen der Gottheit an — glaubte er daß das nothwendig zur epischen Form gehöre?

22. Man muß so billig seyn manche Philosopheme nur als Poesie, und 5 10 so artig manche Poesie nur als Philosophem zu beurtheilen.

23. Dem Principio minimi und Indiscernibilium bleibt Leibniz in seinen Werken sehr treu, nicht so dem principio continui.

3 Leibniz Princ. Phil.] am Rand

3 Leibniz: Principia Philosophiae. Seu Theses in gratiam Pnncipis Eugenii etc., Opera 2/1,20— 31 4f Vgl. Leibniz: „Monas, de qua dicemus, non est nisi substantia simplex, quae in composita ingreditur. Simplex dicitur quaepartibus caret. 2. Necesse autem est dari substantias simplices, quia dantur composita: neque enim compositum est nisi aggregatum simplicium. 3. Ubi non dantur partes, ibi nec extensio, nec figura, nec divisibilitas locum habet. Atque monades istae sunt verae atomi naturae, et, ut verbo dicam, elementa rerum. 4. Neque etiam in iis metuenda est dissolutio, nec ullus concipi potest modus, quo substantia simplex naturaliter interire potest. 5. Ex eadem ratione non datur modus, quo substantia simplex naturaliter oriri potest, quoniam non aliter nisi per compositionem formari posset. 6. Immo asserere quoque licet, monades nec oriri, nec interire posse in instanti, hoc est, non incipere potest nisi per creationem, nec finiri nisi per annihilationem, cum e contrario composita incipiant, ac finiantur per partes." (Opera 2/l,20f) 7 Vielleicht ironische Anspielung auf den Untertitel „Seu Theses in gratiam Principis Eugenii etc." (Opera 2/1,20) der Abhandlung „Principia Philosophiae"

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24. Leibniz läugnet daß die Perceptiones unterbrochen werden können; er giebt es aber von den apperceptiones zu. Wo kommen denn diese wieder her? Von außen nicht. Also entstehn sie entweder naturaliter — durch einen Act der menschlichen Willkühr oder übernatürlich durch einen Akt der göttlichen Allmacht. Wir werden also immer wieder aufs neue zu Menschen gemacht, oder wir machen uns selbst dazu. Können wir das aber niemals warum haben wir es nicht von Anfang an gekonnt.

25. Ohne Mysticismus ist es nicht möglich consequent zu seyn, weil man seine Gedanken nicht bis zum Unbedingten verfolgt und also die Inconsequenzen nicht sehen kann.

26. Cyklisch ist es doch daß Gott selbst aus dem Principe de la Convenance abgeleitet ist weil man nemlich sonst dies rationem sufficientem in einem zerstreuten unendlich aufführen müßte. Desto natürlicher ist es also daß Gott danach handelt.

27. Sufficiens und sufficit sind ein paar Worte, worin die ganze Kraft des Principe de la Convenance stekt. Ist dies das Hofmännische in Leibnizens Philosophie?

12 dies] korr. aus dem

12 in] folgt (d)

17 Philosophie] Ph.

lf Vgl. Principia Philosophiae: „14. Status transiens, qui involvit, ac repraesentat multitudinem in unitate, seu substantia simplici, non est nisi istud, quod perceptionem appellamus, quam probe distinguere debemus ab apperceptione, seu conscientia, quemadmodum in sequentibus patebit. Atque in hoc lapsi sunt Cartesiani, quod pro nihilo reputaverint perceptiones, quarum nobis non sumus conscii. Propter banc quoque rationem sibi persuaserunt, solos spiritus esse monades, nec dari animas brutorum, nec alias entelecbias, et cum vulgo longum stuporem cum morte rigorose sic dicta confuderunt: unde porro in praejudicium scbolasticorum de animabus prorsus separatis prolapsi, et ingenia perversa in opinione de mortalitate animarum confirmata sunt." (Opera 2/1,21 f ) 11—14 Vgl. Principia Philosophiae: „38. Propterea quoque ratio ultima rerum in substantia quadam necessaria contineri debet, in qua series mutationum nonnisi eminenter existat, tanquam in fonte suo. Atque istud ens est, quod De um appellamus. 39. Jam cum substantia ista sit ratio sufficiens omnis istius seriei, quae etiam prorsus connexa est; nonnisi unus datur Deus, atque hic Deus sufficit." (Opera 2/1, 25)

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28. Das moralische ist bei Leibniz überall nur Quantität, ich fürchte er selbst ist nur eine Differentialgröße.

29. Leibnizens Philosophie ist eigentlich höchst manichäisch und braucht den Teufel ganz nothwendig. Gott macht nur das reale und er muß die Limitation machen.

30. Leibniz hat eine Menge perceptiones non satis distinctas und monadische Vibrationen zusammengemacht und dabei gedacht cela peut aller jusqu'a la philosophie.

31. Gott ist wirklich weil nichts seine Möglichkeit verhindert. In die- 6 ser Rüksicht ist Leibnizens Philosophie recht divin.

32. Leibniz sieht die Existenz an wie eine Hof Charge die man zu Lehn haben muß.

33. Die ewigen Wahrheiten hängen nicht von Gottes Willen sondern von seinem Verstände ab, und sind das innere Objekt desselben. Das heißt auf recht gute Art dem lieben Gott gesagt daß er auch Schranken hat.

10 Philosophie] Ph.

15 lieben] 1.

6 - 8 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 358 (unten 151,17-28) 9f Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 333 (unten 145,13f) 11 f Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 361 (unten 152,1-5) 13 f Vgl. Leibniz: Theodicee, Essay I § 20, Amsterdam (1747) l,96f; Schriften 6,114f

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34. Aeußerst merkwürdig ist die 48. Propositio: „Ita Deus solus est unitas primitiva seu substantia simplex originaria cuius productiones sunt omnes monades c r e a t a e a u t d e r i v a t a e et nascuntur ut ita loquar per continuas Divinitatis fulgurationes per receptivitatem creaturae limitatas cui essentiale est esse limitatum." Hier ist die Leibnizische Fülle — es ist nur schade daß er dies nicht französisch gesagt hat — die Verwechslung des idealen und realen (creatae aut derivatae) und des incompletum denn es muß hier creaturas geben ehe die Monaden entstehen, und es giebt auch wieder Schranken Gottes in seinen Fulgurationen die doch hoffentlich dem LWaltenl angehören.

35. Leibniz glaubte die materia prima sei ein confusum aliquid et incompletum (s. Com. epist.) und in der That ist das confusum et incompletum die materia prima seiner Philosophie.

[36.] Es gehört mit zu der irenischen Kraft des Leibniz daß er die opposition zwischen Ich und Nichtich aufheben will. Deshalb ist (prop. 51) agere und pati nur dem Grade nach verschieden. Leibniz hat es vom irenischen bis zur Ironie gebracht.

[37.] Das Monadenreich kommt mir vor wie das Elfenreich des Grafen Gabalis.

1 Propositio] Proposit.

4 cui] korr. aus cuius

7 creatae aut derivatae] cre. aut deriv.

1—5 Leibniz: Opera 2/1,26 12 Leibniz schrieb am 22. August 1698 an Bernoulli: „Per Monadem intelligo substantiam vere unam, quae scilicet non sit aggregatum substantiarum. Materia ipsa per se, seu moles, materiam primam vocare possis, non est substantia; imo nec aggregatum substantiarum, sed aliquid incompletum." (Commercium epistolicum l,398f; vgl. a.uch 1,404 und 413f) 14—17 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 276 (unten 143, 8—11) 15f Propositio 51 der Leibnizschen Schrift „Principia Philosophiae" lautet: „Creatura dicitur agere extra se, quatenus habet perfectionem, et pati ab alia, quatenus est imperfecta. Ita monadi actionem tribuimus, quatenus habet perceptiones distinctas, et passiones, quatenus confusas habet." (Opera 2/1,26)

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Theodice 38. Wenn ein Advokat eine Deduktion für seinen Klienten macht, so kann er ihn natürlich nicht mehr seyn lassen als er selbst ist. Daß Gott in der Theodicee Leibnizens Klient ist geht überall hervor: Gott muß Prop. 5 78 Ess. 1 nur deswegen alle möglichen Welten vorstellen um den convenabelsten Plan machen zu können. Er ist also weder ein Künstler, der nach einem Ideal in sich arbeitet ohne alles schlechte daneben sehen zu müßen, noch ein Philosoph der nach Principien und Gesezen a priori bildet noch ein genialischer Dilettant der das freie Spiel seiner Fantasie darstellt 10 und belebt, sondern was Leibniz selbst ist: ein moderantistischer Experimentator und daneben ein Oekonom.

39. Die Theodicee ist eine Gegen Deduction in Sachen Gottes contra Bayle und Consorten.

1 Theodice] am Rand 3 nicht] folgt (klüger) der Zeile mit Einfügungszeichen

7 nach] korr. aus ein

7 einem] über

1 Leibniz: Essais de Theodicee, 2 Bde, Amsterdam 1747 4 f „Quelques Auteurs habiles et bien intentionnes voulant representer la force des raisons des deux partis principaux, pour leur persuader une Tolerance mutuelle, jugent que toute Li controverse se reduit α ce point capital, savoir quel a ete le but principal de Dieu en faisant ses decrets par rapport a l'homme; s'il les a faits uniquement pour etablir sa gloire, en manifestant ses attributs, et en formant, pour y parvenir, le grand projet de la creation et de la providence; ou s'il a eu egard plütot aux mouvemens volontaires des substances intelligentes, qu'il avoit dessein de creer, en considerant ce qu'elles voudroient et feroient dans les differentes circonstances et situations, oü il les pourroit mettre; afin de prendre une resolution convenahle lä-dessus. II me paroit que les deux Reponses qu'on donne ainsi a cette grande question, comme opposees entre elles, sont aisees ä concilier; et que par consequent les partis seroient d'accord entre eux dans le fond, sans qu'il y eüt besoin de tolerance, si tout se reduisoit a ce point. A la verite, Dieu formant le dessein de creer le Monde, s'est propose uniquement de manifester et de communiquer ses perfections de la maniere la plus efficace et la plus digne de sa grandeur, de sa sagesse et de sa bonte. Mais cela meme l'a engage a considerer toutes les actions des creatures encore dans l'etat de possibiliti, pour former le projet le plus convenable. II est comme un grand Architecte, qui se propose pour but la satisfaction ou la gloire d'avoir bati un beau Palais, et qui considere tout ce qui doit entrer dans ce batiment; la forme et les materiaux, la place, la situation, les moyens, les Ouvries, la depense; avant qu'ilprenne une entiere resolution. Car un Sage en formant ses projets ne sauroit detacher la fin des moyens; il ne se propose point de fin, sans savoir s'il y α des moyens d'y parvenir." (Theodicee, Essay I Proposition 78, Amsterdam (1747) l,140f; Schriften 6,144) 12 f Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 279 (unten 144,1-6)

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4 0 . Leibniz hat nur zwei große Ideen die aber auch ganz m a t h e m a tisch sind, und sich auf R a u m und Zeit beziehn. Die von der Ewigkeit der Monaden im Wechsel der substantiellen F o r m e n , und die v o m Nebeneinanderseyn der Welten im göttlichen Verstände.

4 1 . Die H a r m o n i e preetablie ist das P r o d u k t aus dem Imperativ: alle reale Synthese soll Schein seyn — alles logisch verschiedene soll nur für sich allein betrachtet werden, und aus seinem Moderantismus. S. p r o p . 59.

4 2 . Ist Leibnizens A r m u t h und Niedrigkeit in Gleichnißen ihm eigen thümlich o d e r scholastisch?

4 3 . W a s versteht Leibniz unter dem Gesez von Beibehaltung der D i rection unter den K ö r p e r n ? W e r hat dies erfunden? Kann es mit der T h e o -

5 Harmonie preetablie] H . p .

7 „Je viens de montrer comment I'action de la volonte depend de ses causes; qu'il n'y a rien de si convenable a la nature humaine que cette dependance de nos actions, et qu'autrement on tomberoit dans une fataliti absurde et insupportable, c'est α-dire dans le Fatum Mahumetanum, qui est le pire de tous, parcequ'il renverse la prevoyance et le bon conseil. Cependant il est bon de faire voir comment cette dependance des actions volontaires n'empeche pas qu'il n'y ait dans le fond des cboses une spontane'ite merveilleuse en nous, laquelle dans un certain sens rend l'ame dans ses resolutions independante de I'influence physique de toutes les autres creatures. Cette spontane'ite peu connue jusqu'ici, qui eleve notre empire sur nos actions autant qu'il est possible, est une suite du Systeme de l'Harmonie preetablie, dont il est necessaire de donner quelque explication id. Les Philosophes de l'Ecole croyoient qu'il y avoit une influence physique reciproque entre le corps et l'ame: mais depuis qu'on a bien considere que lapensee et la masse etendue n'ont aucune liaison ensemble, et que ce sont des creatures qui different toto genere, plusieurs Modernes ont reconnu qu'il n'y α aucune communication physique entre l'ame et le corps, quoique la communication metaphysique subsiste toüjours, qui fait que l'ame et le corps composent un m'eme suppot, ou ce qu'on appelle une personne. Cette communication physique, s'ily en avoit, feroit que l'ame changeroit le degre de la vitesse et la ligne de direction de quelques mouvemens qui sont dans le corps, et que vice versa le corps changeroit la suite despensees qui sont dans l'ame. Mais on ne sauroit tirer cet effet d'aucune notion qu'on congoive dans le corps et dans l'ame; quoique rien ne nous soit mieux connu que l'ame, puisqu'elle nous est intime, c'est-adire intime a elle-meme." (Theodicee, Essay I Proposition 59, Amsterdam (1747) l,126f; Schriften 6,135)

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rie v o n d e n z u s a m m e n g e s e z t e n B e w e g u n g e n b e s t e h e n ? E r giebt dies s o w o l in d e r T h e o d i c e e als in den P r i n c i p i e n | als die V e r a n l a ß u n g an w a r u m er die 8 allgemeine H a r m o n i e l e h r e a u c h auf Seele u n d L e i b a u s g e d e h n t h a t .

4 4 . D i e H a r m o n i e scheint aus den v e r s c h i e d e n e n A n t i n o m i e n e n t s t a n 5 den z u s e y n . 1 . ) Alles ist n u r eins, u n d jedes I n d i v i d u u m ist d o c h ein G a n z e s . 2 . ) ideal ist alles n u r analytisch u n d real ist alles s y n t h e t i s c h . 3 . ) alles p h y s i s c h e soll n a c h N a t u r g e s e z e n erfolgen u n d alles h ä n g t d o c h mit d e m geistigen z u s a m m e n . L e i b n i z sagt selbst im D i s c , p r e l i m . : jede A n t i n o m i e sei I n d i k a t i o n auf e t w a s g r o ß e s .

10

4 5 . L e i b n i z s p r i c h t auch v o n einer H e r r s c h a f t u n d K n e c h t s c h a f t des M e n s c h e n — jene g r ü n d e t sich in den d e u t l i c h e n , diese in den d u n k e l n V o r stellungen. W i e d e r alles n u r Q u a n t i t ä t .

4 6 . W o h i n g e h ö r t die I d e e v o n einer Strafe die n i c h t C o r r e c t i o n s o n d e r n b l o ß C o n v e n a n c e ist. E s s .

1. p r .

7 3 . B e i L e i b n i z ist sie w o l n u r

2 Vgl. Leibniz: „La seconde decouverte est, qu'il se conserve encor la meme direction dans tons les corps ensemble qu'on suppose agir entre eux, de quelque maniere qu'ils se choquent." (Theodicee, Essay I $ 61, Amsterdam (1747) 1,128; Schriften 6,136) 2 Vgl. Leibniz: „83. Cognovit Cartesius animam non posse dare vim corporibus, quoniam eadem semper virium quantitas in materia conservator; credidit tarnen animam posse mutare directionem corporum. Id quidem ideo factum est, quod ipsius tempore lex naturae ignoraretur, quae vult eandem semper directionem totalem conservari in materia. Quod si hoc observasset, in systema meum harmoniae praestabilitae incidisset." (Principia Philosophiae, Opera 2,30) 8 Leibniz: Essais de Theodicee, Discours preliminaire de la conformite de la Foy avec la Raison, Amsterdam (1747) 1,1—76 (ohne „preliminaire"); Schriften 6,49—101 8f Vgl. Leibniz: Theodicee, Discours preliminaire § 80, Amsterdam (1747) 1,71; Schriften 6,97 14 „Iiy a pourtant une espece de justice et une certaine sorte de recompenses et de punitions, qui ne paroit pas si applicable a ceux qui agiroient par une necessite absolue, s'ily en avoit. C'est cette espece de justice qui n'a point pour but I'amendement, ni I'exemple, ni meme la reparation du mal. Cette justice n'est fondee que dans la convenance, qui demande une certaine satisfaction pour I'expiation d'une mauvaise action. Les Sociniens, Hobbes et quelques autres, n'admettent point cette justice punitive, qui est proprement vindicative, et que Dieu s'est reservee en bien des rencontres: mais qu'il ne laisse pas de communiquer a ceux qui ont droit de gouverner les autres, et qu'il exerce par leur moyen, pourvu qu'ils agissent par raison, et non par passion. Les Sociniens la croyent etre sans fondement; mais eile est toüjours fondee

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theologische Deduktion um die Ewigkeit von Strafen und Belohnung in einem schon vollendeten Zustande zu rechtfertigen; aber Kant hat sie auch und sie ist so allgemein daß sie einen Grund haben muß. Vielleicht ist es eine Verwechselung des Princips aus welchem die Strafe selbst hervorgeht 5 mit dem nach welchem das Maaß der Strafe bestimmt werden soll. Dies gehört in die Rechtslehre.

47. Gott ist nicht nur Lehnsherr der Existenz, sondern er besizt auch als Regale allein Freiheit, Harmonie und synthetisches Vermögen.

48. Leibniz ist doch in etwas antik, nemlich im citiren in Pausch und 10 Bogen — Sprüchwörter citirt er ordentlich wie ein Jurist die Novellen.

2 zu] folgt (bew)

4 Princips] Princip

dans un rapport de convenance, qui contente non settlement l'offensi, mais encore les Sages qui la voyent, comme une belle musique OH bien une bonne architecture contente les esprits bien faits. Et le sage Legislateur ayant menace, et ayant, pour ainsi dire, promts un chatiment, il est de sa constance de ne pas laisser I'action entierement impunie, quand meme la peine ne serviroit plus a corriger personne. Mais quand il η 'α uro it rien promts, c'est assez qu'ily a une convenance qui I'auroit pu porter α faire cette promesse; puisqu'aussi bien le Sage ne promet que ce qui est convenable. Et on peut meme dire qu'il y a ici un certain dedommagement de l'esprit, que le desordre offenseroit, si le chatiment ne contribuoit a ritablir I'ordre. On peut encore consulter ce que Grotius a ecrit contre le Sociniens, de la satisfaction de Jesus-Christ, et ce que Crelliusy a repondu." (Theodicee, Essay I Proposition 73, Amsterdam (1747) 1,135 f ; Schriften 6,141 f) 2 Vgl. Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Königsberg 1797, S. 195-206; Ak 6,331-337 — hier besonders: „Welche Art aber und welcher Grad der Bestrafung ist es, welche die öffentliche Gerechtigkeit sich zum Princip und Richtmaße machtf Kein anderes, als das Princip der Gleichheit (im Stande des Züngleins an der Waage der Gerechtigkeit) sich nicht mehr auf die eine, als auf die andere Seite hinzuneigen. Also: was für unverschuldetes Uebel du einem Anderen im Volk zufügst, das thust du dir selbst an. Beschimpfst du ihn, so beschimpfst du dich selbst; bestiehlst du ihn, so bestiehlst du dich selbst; schlägst du ihn, so schlägst du dich selbst; tödtest du ihn, so tödtest du dich selbst. Nur das Wiedervergeltungsrecht (ius talionis) aber, wohl zu verstehen, vor den Schranken des Gerichts (nicht in deinem Privaturtheil), kann die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben; alle andere sind hin und her schwankend, und können, anderer sich einmischenden Rücksichten wegen, keine Angemessenheit mit dem Spruch der reinen und strengen Gerechtigkeit enthalten." (Rechtslehre 197f; Ak 6,332,11-24) 7 f Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 361 (unten 152,1—5)

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4 9 . E i n f r u c h t b a r e r B e i s c h l a f ist die E x p e d i t i o n eines A d e l s D i p l o m s f ü r e i n e s c h l a f e n d e M o n a d e in d e r g ö t t l i c h e n G e h e i m K a n z l e i . D i e C h a r g e n Gebühren

bezahlt G o t t

selbst d e n E x p e d i e n t e n

aus d e r

extraordinären

Dispositions Kasse. Prop. 92.

5

[ 5 0 . ] D e r B r i e f an A r n a u d v o m 2 3 . M e r z 9 0 s c h e i n t d a s e r s t e z u s e y n ü b e r d i e H a r m o n i e . D a s g a n z e S y s t e m ist a b e r s c h o n f e r t i g . — H i e r ist alles a u f die E r b a u u n g g e r i c h t e t ; in d e n P r i n c i p e s de la N a t u r e f ü r d e n P r i n z E u g e n alles aufs V e r g n ü g e n .

[ 5 1 . ] D e r S a z d e s z u r e i c h e n d e n G r u n d e s s c h e i n t bei L e i b n i z e i g e n t l i c h 10 ein t e l e o l o g i s c h e r I m p e r a t i v u n d sich w e i t m e h r a u f die E n d als a u f d i e w i r k e n d e U r s a c h e z u b e z i e h n , u n d s o m u ß es a u c h in e i n e r t h e o l o g i s c h e n P h i losophie.

11 f Philosophie] Philoso. 1 f Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 361 (unten 152,1—5) 4 ,, Or l'ame etant une fois la domination du peche, et prete ä en commettre actuellement, aussi-töt que l'homme sera en etat d'exercer ία raison; c'est une nouvelle question, si cette disposition d'un komme qui η'a pas ete regenere par le bapteme, suffitpour le damner, quand meme il ne viendroit jamais au peche actuel, comme ilpeut arriver, et arrive souvent, soit qu'il meure avant I'age de raison, soit qu'il devienne hebete avant que d'en faire usage. On soutient que S. Gregoire de Nazianze le nie (Orat. de Baptismo): mais S. Augustin est pour I'affirmative, et pretend que le seul peche originel suffitpour faire meriter les flammes de l'Enfer; quoique ce sentiment soit bien dur, pour ne rien dire de plus. Quand je parle ici de la damnation et de l'Enfer, j'entends des douleurs, et non pas une simple privation de la felicite supreme; j'entends poenam sensus, non damni. Gregoire de Rimini, General des Augustins, avec peu d'autres, a suivi S. Augustin contre I'opinion re que des Ecoles de son temps, et pour cela il etoit appelli le bourreau des enfans, tortor infantum. Les Scholastiques, au lieu de les envoyer dans les flammes de l'Enfer, leur ont assigne un Limbe expres, ou. Us ne souff rent point, et ne sontpunis que par la privation de la vision beatifique. Les Revelations de Sainte Brigitte (comme on les appelle) fort estimees a Rome, sont aussi pour ce dogme. Salmeron et Molina, apres Ambroise Catharin et autres, leur accordent une certaine beatitude naturelle; et le Cardinal Sfondrat, homme de lavoir et de piete, qui l'approuve, est alle dernierement jusqu'a preferer en quelque fagon leur etat, qui est Γ etat d'une heureuse innocence, a celui d'un pecheur sauve; comme I'on voit dans son Nodus praedestinationis solutus: mais il paroit que c'est un peu trop. II est vrai qu'une ame eclairee comme il faut ne voudroit point pecher, quand eile pourroit obtenir par ce moyen tous les plaisirs imaginables: mais le cas de choisir entre le peche et la veritable beatitude, est un cas chimerique, et il vaut mieux obtenir la beatitude (quoiqu'apres la penitence) que d'en etre prive pour toüjours." (Theodicee, Essay I Proposition 92, Amsterdam (1747) 1,153 — 155; Schriften 6,153f) 5 Leibniz: Opera 2/1,45-48; Schriften 2,134-138 7 Leibniz: Prin-

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[52.] W i e weit hätte Leibnizen das führen können, daß er einmal sagt die Intelligenz unterscheide sich durch Lactus reflexosl, und dann wieder dadurch daß sie etwas den Werken Gottes ähnliches hervorbringen könne. Aber alles war an ihm verloren.

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[53.] Leibniz hat die Philosophie immer nur als ein Stük Mathematik behandelt; dann hat er gesehen daß man die Theologie noch dazu nehmen müßte.

[54.] Die Monaden sind eine sehr einfache Combination von Substantieller F o r m und A t o m e n / Syst. nouv.

cipes de la Nature et de la Grace, fondes en Raison, Opera 2/1,32 —39; Schriften 6,598—606 lf Vgl. Leibniz: „29. Enimvero cognitio veritatum necessariamm, et aeternarum est id, quod nos ab animantibus simplicibus distinguit, et rationis, ac scientiarum compotes reddit, dum nos ad cognitionem nostri, atque Dei elevat. Atque hoc est istud, quod in nobis an im a rationalis, sive spiritus appellatur. 30. Cognitioni veritatum necessariarum, et earum abstractionibus acceptum referri debet, quod ad actus reflexos elevati simus, quorum vi istud cogitamus, quod Ego appellatur, et hoc vel istud in nobis esse consideramus. Et inde etiam est, quod nosmetipsos cogitantes de ente, de substantia cum simplici, tum composita, de immateriali, et ipso Deo cogitemus, dum concipimus, quod in nobis limitatum est, in ipso sine hmitibus existere. Atque hi actus reflexipraecipua largiuntur objecta ratiociniorum nnstrorum." (Principia Philosophiae, Opera 2/1,24) 3 Vgl. Leibniz: „86. Inter alias differentias, quae inter animas ordinarias, et spiritus intercedunt, et quorum partem jam exposui, etiam ilia datur, quod animae in genere sint specula viventium, seu imagines universi creaturarum; sed quod spiritus insuper sint imagines ipsius Divinitatis, seu auctoris naturae, quae systema universi cognoscere, et aliquid ejus per scintillulas architectonicas imitari possunt, cum spiritus unusquisque sit parva quaedam Divinitas in suo genere." (Principia Philosophiae, Opera 2/1,30) 5—7 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 358 (unten 151,17—28) 5—7 Vgl. Leibniz: „Quoique je sois un de ceux qui ont fort travaille sur les Mathematiques, je n'ai pas laisse de mediter sur la Philosophie des ma jeunesse; car il me paroissoit tousjours qu'il y avoit moyen d'y etablir quelque chose de solide par des demonstrations claires. J'avois penetri bien avant dans le pays des Scholastiques, lorsque les Mathematiques et les Auteurs modernes m'en firent sortir encore bien jeune. Leur belles manieres d'expliquer la Nature mecaniquement me charmirent, et je meprisois avec raison la methode de ceux qui n'employent que des formes ou des facultis, dont on n'apprend rien. Mais depuis ayant täche d'approfondir lesprincipes memes de la Mecanique, pour rendre raison des loix de la Nature que I'experience faisoit connoitre, je m'aperqus que la seule consideration d'une masse etendue ne suffisoit pas, et qu'il faloit employer encore la notion de la force, qui es tres-intelligible, quoiqu'elle soit du ressort de la Metaphysique. II me paroissoit aussi que l'opinion de ceux qui transforment ou degradent les betes en pures machines, quoiqu'elle semble possible, est hors d'apparence, et meme contre l'ordre des choses." (Opera 2/1,49f; Schriften 4,478) 8f Vgl. Leibniz: Systeme nouveau

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[55.] W o ist denn die dynamische Einheit geblieben die Leibniz eigentlich suchte? Die hat er aus Freude über den Monadenfund ganz vergeßen.

[56.] Wie hat Leibniz können rejette en pleine mer sagen als er anfing über die Vereinigung zwischen Seele und Leib nachzudenken? D a er an einem andern Orte sagt er habe lange zuvor schon das System der allgemeinen Harmonie gehabt?

[57.] Kann es Leibniz Ernst seyn mit der Maxime daß man nicht zu Gott im Erklären seine Zuflucht nehmen soll sans qu' il y ait autre explication qui se puisse tirer de l'ordre des causes secondes? Leider scheint er mit dieser Maxime die folgende für identisch zu halten: En Philosophie il faut tacher de rendre raison en faisant connaitre de quelles fa^ons les choses s'executent par la sagesse divine conformement a la notion du sujet dont il s'agit. Wie groß muß er sich nicht vorgekommen seyn indem er dies schrieb, bei dem Bewußtseyn daß er soviel die sagesse divine als das sujet und die notion du sujet selbst gemacht hatte.

[58.] Die Chrystallisation ist freilich ein Hauptstüze der mechanischen Naturphilosophie; aber dann muß es die Organisation auch seyn und es bleibt immer ein ίπρ ψΐ davon die Abhängigkeit des Stoffes von der Form

19 Ιπρ ψΐ] Abk. wohl für πρώτον ψευδός de la Nature et de la communication des substances, aussi bien que de I'union qu'ily a entre l'ame et le corps, Opera 2/1,49-56; Schriften 4,477-487; hier Opera 2/1,50; Schriften 4,478f 4 f „Apres avoir etabli ces choses, je croyois entrer dans leport; mais lorsque je me mis ä mediter sur ['union de l'ame avec le corps, je fus comme rejette en pleine mer." (Opera 2/1,53; Schriften 4,483) 5—7 Vgl. Leibniz: Theodicee, Essay I | 62, Amsterdam (1747) 1,129; Schriften 6,136f 8—13 „Ii faut avouer qu'on α bien penetre dans la difficulte, en disant ce qui ne se peut point; mais il ne paroit pas qu'on l'ait levee en expliquant ce qui se fait effectivement. II est bien vrai qu'il n'y a point d'influence reelle d'une substance creee sur l'autre, en parlant selon la rigueur metaphysique, et que toutes les choses, avec toutes leurs realites, sont continuellement produitespar la vertu de Dieu; mais pour resondre des problemes, ce n'est pas assez d'employer la cause generale, et de faire venir ce qu'on appelle Deum ex machina. Car lorsque cela se fait sans qu'il y ait autre explication qui se puisse tirer de l'ordre des causes

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abzuleiten da es eben so gut eine Abhängigkeit der Form vom Stoff seyn kann. Hier liegt noch eine sehr große Antithese unaufgelöst.

[59.] Rubriciren ist Leibniz Sache nicht. Die Eintheilung der Wißenschaften die er macht in dem Brief an Thomasius IV, 14 ist ganz unleibnizisch; auch war sie ihm nur so gekommen.

[60.] Leibnizens Methode der Jurisprudenz ist ihrem Zwek nach eine allgemeine Epideixis er hatte es auf alles angelegt: Praktiker, Kanzellist Professor, Hofmeister. Das eigne daran ist simple Kombination des juristischen Stöfs mit der theologischen Form.

[61.] Leibniz kennt nur eine methodum naturalem und occasionalem. Sind denn alle seine Sachen Gelegenheitsschriften?

[62.] Der organische Körper, den eine Monade beherrscht ist ihre materia secunda — was ist dann ihre propria materia prima? Ist diese Distinktion bloß um der Engel willen erfunden? II, 276.

4 Brief an Thomasius] Br. an Thomas.

14 276-] 277

secondes, c'est proprement recourir au miracle. En Philosophie il faut tächer de rendre raison, en faisant connoitre de quelle faqon les choses s'executent par la sagesse divine, conformement a la notion du sujet dont il s'agit." (Opera 2/1,54; Schriften 4,483f) 4 „Hinc mihi haec scribenti sub manibus nasdtur pulchra quaedam scientiarum harmonia, nempe re exacte perpensa: Theologia seu Metaphysica agit de rerum efficiente, nempe mente, Philosophia moralis (seu practica vel civilis, nam, ut a te didid, una eademque sdentia est) agit de rerum fine, nempe bono; Mathesis (puram intelligo, nam reliqua physicae pars est) agit de rerum forma, nempe figura: Physica agit de rerum materia, et ex eis cum caeteris causis complexu resultante unica affectione, nempe motu. Mens enim ut bonum, gratamque sibi rerum figuram et statum obtineat, materiae motum praebet. Nam Matena per se motüs expers est. Motüs omnis prindpium, Mens, quod et Aristoteli recte visum." (Opera 4,13f; Schriften 1,22) 6—9 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 279 (unten 144,1—6) 14 „Matena prima cuivis Entelechiae est essentialis, neque unquam ab ea separatur, cum eam compleat et sit ipsa potentia

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[ 6 3 . ] N u r der w e l c h e r sich selbst sezt kann a n d r e sezen. E b e n so hat n u r der, w e l c h e r sich selbst annihilirt, ein R e c h t jeden andern zu annihiliren.

[ 6 4 . ] So wie es erbärmlich ist das ganz zu proscribiren was andern 5 mißfällt, so ist es kindisch ihnen das a n z u r e d e n w o f ü r sie keinen Sinn haben. N i c h t s gedeihliches geht v o m R e d e n aus s o n d e r n v o m T h u n . T h u t als o b sie nicht da w ä r e n und m a c h t ihnen also g a n z still und unbefangen das v o r , was sie sollen sehn lernen. Dies ist zugleich h ö c h s t weltbürgerlich und h ö c h s t sittlich; h ö c h s t gefällig und h ö c h s t c y n i s c h .

4 So] davor (Es ist) zeichen

6 Nichts] Niichts

7 das] über der Zeile mit Einfügungs-

passiva totius substantiae completae. Neque enim materia prima in mole, seu impenetrabilitate, et extensione consistit: materia verö secunda, qualis corpus organicum constituit, resultatum est ex innumeris substantiis completis, quarum quaevis suam habet Entelechiam, et suam materiam primam, sed harum substantiarum nulla nostrae perpetub affixa est. Materia itaque prima cujuslibet substantiae alterius in corpore ejus organico existentis, alterius substantiae materiam primam involvit, non ut partem essentialem, sed ut requisitum immediatum, at pro tempore tantüm, cum unum alteri succedat. Etsi ergo Deus per potentiam absolutam possit substantiam privare materia secunda, non tarnen potest earn privare materia prima; nam faceret inde totum purum, qualis ipse est solus. An verb necesse sit Angelum esse formam informantem, seu animam corporis organici quae ei personaliter unita est, alia quaestio est, et certo sensu in praecedente Epistola exposito negari potest. Vides hinc etiam tolli substantias incompletas, monstrum in vera Philosophia. De statu animae humanae separatae nihil certi definire possum: cum praeter Regnum Naturae, hie influat Regnum Gratiae. Cur autem certa materia secunda ipsi affigatur usque ad Resurrectionem, causam nullam video." (Opera 2/1,276) Vgl. auch: „Mais la Matiere premiere et pure, prise sans les ames ou vies qui lui sont unies, est purement passive; aussi ä proprement parier n'est-elle pas une substance, mais quelque chose d'incomplet. Et la Matiere seconde, comme, par exemple, le corps, n'estpas une substance, mais par une autre raison; e'est qu'elle est un amas de plusieurs substances, comme un Stang plein de poissons, ou comme un troupeau de brebis; et par consequent eile est ce qu'on appelle Unum per accidens, en un mot, un phenomene. Une veritable substance, telle qu'un animal, est composee d'une ame immaterielle, et d'un corps organique; et e'est le compose de ces deux qu'on appelle Unum per se." (Opera 2 H,214f) 1—3 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 328 (unten 144,14f) 4—9 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 329 (unten 144,16-19)

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[65.] Dafür ist das Zeitalter noch nicht reif, sagen sie immer. Soll es deswegen unterbleiben? Was noch nicht seyn kann, muß wenigstens immer im Werden bleiben.

[66.] Viele haben Geist oder Ethos oder Fantasie aber weil es für sich selbst nur in flichtiger dunstförmiger Gestalt erscheinen könte hat die N a tur Sorge getragen es durch irgend einen gemeinen erdigten Stoff chemisch zu binden. Diese gebundenen zu entdeken ist die beständige Aufgabe des höchsten Wolwollens aber es erfodert viel Uebung in der intellektuellen Chemie. Wer für jedes was in der menschlichen Natur schön ist ein untrügliches Reagens zu entdeken wüßte, würde uns eine neue Welt zeigen. Wie in der Vision eines Propheten würde auf einmal das unendliche Feld zerstükter Menschenglieder lebendig werden.

[67.] Es giebt Menschen die kein Interesse an sich selbst nehmen. Einige weil sie überhaupt keines, auch nicht an andern fähig sind. Andere weil sie ihres gleichmäßigen Fortschreitens sicher sind weil ihre selbstbildende Kraft keiner reflektirenden Theilnahme mehr bedarf, weil hier Freiheit in allen ihren höchsten und schönsten Aeußerungen gleichsam Natur geworden ist. So berührt sich auch hier in der Erscheinung das niedrigste und das erhabenste.

[68.] Wenn Welt der Inbegrif desjenigen ist was sich dynamisch afficirt so wird es der gebildete Mensch wol nie dahin bringen nur in einer Welt zu leben. Die eine müßte die beste seyn, und der Glaube an sie ist etwas so heiliges wie der Glaube an die Einzigkeit in der Freundschaft und Liebe.

4 oder Ethos oder Fantasie] Uber der Zeile mit Einfügungszeichen 4 es] korr. aus er reflektirenden] über der Zeile mit Einfügungszeichen 20 der] korr. aus die

16

1—3 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 334 (unten 145,15 — 17) 4—12 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 330 (unten 144,20-145,5) 11 Vgl. Ez 37,1-14 1 3 - 1 9 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 331 (unten 145,6—12) 20—23 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 335 (unten 145,18-22)

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[69.] Wie Leibniz las das sieht man am besten aus seinen Bemerkungen über den Shaftsbury. Τ. V. p. 39.

[70.] Leibniz hat grausame Furcht vor Wiz und Spott; er meint man könne auch das beste verspotten und scheint bange zu seyn für seine Philo5 sophie. ibid.

[71.] Leibniz beurtheilt den schwachen und schlechten Charakter in Angleichung gegen einander aus dem Gesichtspunkt wer mehr leidet.

[72.] Der Sens commun in der Moral sei beßer als Hobbes und Locke, aber er sei beßer als der sens commun.

10

[73.] Wie toll ist Leibniz über die Rhapsodie geworden. S. p. 45.!

2 39] 38

1 i Leibniz: Jugement sur les OEUVRES de Mr. le Comte de Shaftsbury (Erstveröffentlichung in englischer Sprache London 1711), Opera 5,39—46 5 „Je ne saipas non plus, si I'application du ridicule est une bonne pierre de touche; car les meilleures choses et les plus importantes peuvent etre toumees en ridicule; et il n'est pas toujours sür que la vente aura les rieurs de son cote, etant leplus souvent cachee auxyeux du vulgaire. Je l'ai deja dit, toute raillerie enveloppe un peu de mepris; et il n'est point juste qu'on travaille α faire mepriser ce qui ne le merite point. Mais il est bon qu'on soit toujours de bonne humeur, et que la joye, plutöt que le chagrin, paroisse dans nos discours et dans nos ouvrages." (Opera 5,40) 6f Vgl. Leibniz: Opera 5,41 f 8 f In seiner Besprechung von Shaftsbury's „L'Essay sur le matiere libres, sur I'esprit, et sur la bonne humeur" schreibt Leibniz: „Les raisonnements peu satisfaisans de quelques Philosophes modernes sont dire, pag. 132. que de la maniere que les choses sont aujourd'hui, l'honnetete et la bonne morale n'ont pas la mime de gagner beaucoup par la Philosophie et par les speculationsprofondes; et qu'ilfaut se tenir au sens-commun. On ajoute qu'ordinairement ce que les hommes jugent d'abord, vaut mieux la-dessus que leurs reflexions et leurs pensees posterieures. Cela se peut, quand on raisonne suivant les principes de Mr. Hobbes, etpeut-etre meme suivant ceux de Mr. Locke; maisje serois bien fache que cela süt vrai selon la veritable Philosophie, dont je me flatte d'avoir donne des echantillons dans ma Theodicee." (Opera 5,42) 10 „Je croyois avoir penetre bien avant dans les sentimens de notre illustre Auteur, jusqu'a

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[74.] Es ist Leibniz zweifelhaft ob die Freiheit alles zu kritisiren nüz- 12 lieh sei p. 48.

ce qu'etant arrive au Tratte intitule injustement Rapsodie, je m'appergus alors que je n'avois ete que dans l'antichambre, et je jus tout surpris de me trouver dans le cabinet, ou pour dire quelque chose de plus convenable, dans le Sacrarium de la plus sublime Philosophie, ou je fus aussi enchante que son Philocles aupres de Theocles et de Palemon. Le tour du Discours, la Lettre, le Dialogue, le Platonisme nouveau, la maniere d'argumenter par interrogations; mais surtout, la grandeur et la beaute des idees, l'Enthousiasme lumineux, la Divinite apostrophee, me ravissoient et me mettoient en extase. Enfin, je revins ä moi-meme a la fin du Livre; et j'ai eu depuis le loisir de faire des reflexions. J'y ai trouve d'abord presque toute ma Theodicee (mais plus agreablement tournee) avant qu'elle eüt vu le jour. L'Univers tout d'une piece, sa beaute, son harmonie universelle, l'evanomssement du mal reel, principalement par rapport au Tout; l'unite des veritables substances; la grande unite de la supreme substance, dont toutes les autres ne sont que des emanations et des imitations, y sont mis dans le plus beau jour du monde. Ii ne manque presque que mon Harmonie preetablie, mon Bannissement de la mort, et ma reduction de la Matiere ou de la multitude aux unites, ou aux substances simples. Je n'avois cru trouver qu'une Philosophie semblable ä celle de Mr. Locke: mais j'ai ete mene au de-lä de Piaton et de Descartes. Sij'avois vu cet ouvrage avant la publication de ma Theodicee, j'en aurois profite comme il faut, et j'en aurois emprunte de grands passages. Je ne trouve a redire qu'au titre, qui promet sipeu, et je suis seulement fache que le Livre ne remplit pas tout un volume." (Leibniz: Opera 5,45) 2 In seinen „Remarques sur un petit Livre traduit de l'Anglois, intitule: Lettre sur l'Enthousiasme" schreibt Leibniz unter anderem: „IV. L'Auteur Jf. 4. temoigne apres cela qu'il est satisfait de l'humeur critique de notre siecle, bien eloignee d'une teile credulite; mais il lui semble pourtant que l'au tonte publique met trop de bomes a la liberte de critiquer, et il voudroit que rien n'en füt exempt. Je veux croire qu'il ne parle que des Dogmes, et qu'il ne nierapas qu'on doit respecter certainespersonnes. Mais souvent les Dogmes sont lies avec ces personnes; et quand ces Dogmes sont veritables et contiennent des verites tres-utiles et tres-importantes, je ne vois point a quoi puisse servir la liberte de critiquer ces verites et de les rendre douteuses." (Opera 5,47f)

Leibniz II (1797/98)

Leibniz

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II. Tom. II. Vom Febr. 1706. 5

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266. ,In aqua non magis substantialem naturam inesse puto quam in grege piscium eidem piscinae innatantium.' Heißt das: Es giebt keine divergirende Monas wo es keinen gemeinschaftlichen Schwerpunkt giebt[?]

268. ,Cum dico nullam partem materiae esse quae non monades conti 10 neat exemplo rem illustro corporis humani vel alterius animalis cuius quaevis partes solidae fluidaeque rursus in se continent alia animalia vegetabiliaLquel. Et hoc puto iterum dici debere de parte quavis horum viventium et sic in infinitum'. Haben nicht die Vergrößerungsgläser den Leibniz toll machen hel15 fen. ibd. ,Comparatione utar: finge circulum et in hoc describe tres alios aequales inter se circulos maximos quos potes perge' Welch eine Glükseligkeit ein neues mathematisches Beispiel anführen zu könen. In der Physik dagegen ist er durchaus arm und imer bei der pisci20 na.

4 Vom Febr. 1706.] am Rand Haben . . . helfen.] am Rand mathemat. 19 bei] b.

7ff Heißt . . . giebt] am Rand 10 humani] hüi 14f 18—20 Welch . . . piscina] am Rand 18 mathematisches]

3 Leibniz: Opera omnia, 6 Bde, ed. L. Dutens, Genf 1768; Tomus secundus, in duas Partes distributus, quarum I. ContinetLogicam et Metaphysicam; II. Pbysicam generalem, Chymiam, Medicinam, Botanicam, Histonam Naturalem, Artes etc. 4 Nur das erste Leibniz-Zitat stammt aus dem Brief an des Bosses vom 14. Februar 1706, die anderen sind später. 5f Leibniz: Schriften 2,300 5 Statt naturam inesse Q: unitatem esse 9—13 Leibniz: Schriften 2,305 11 f Statt vegetabiliaLquel Q: et vegetabilia 16f Leibniz: Schriften 2,306 17 Statt aequales inter se circulos maximos quos potes Q: maximos quos potes circulos inter se aequales 17 „et in quovis novo circulo, et inter circulos interstitio, rursus tres maximos aequales circulos, quos potes, et sie finge in infinitum esse processum; non ideo sequetur dari circulum infinite parvum, aut dari centrum quod circulum habeat proprium, cui (contra hypothesin) nullus alius inscribatur." (Opera 2/1,268)

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II

271. ,Do operam ut quum primum licebit Deo volente campo historico excedam opere effecto1. ibd. ,Cum perceptio nihil aliud sit quam multorum in uno expressio necesse est omnes Entelechias seu Monades perceptione praeditas esse neque ulla naturae machina sua Entelechiä propria caret. Meae Enuntiationes universales esse solent et servare analogiam. — Peccatum originale nec Entelechia nec substantia esse potest.' 275. ,Valde placet Esparsae vestri locus, et pergratum erit quoties indicabis autoritates mihi faventes.' 277. jPossem interim hac eius phrasi (Metaphysica indivisibilia) ad monades meas designandas uti: quas et aliquando a t o m o s m e t a p h y s i c a s vocare memini, item s u b s t a n t i a l e s . ' 278. Idem über Freiheit der Meinung und Vielheit der Sekten und der Religion. 289. , [ . . . ] quomodo transsubstantiatio vestra explicari possit in Philosophia mea altior disquisitio foret.' 292. ,Illud agnosco, in Deo optime agendi, in confirmatis spiritibus bene agendi moralem esse necessitatem. Et in universum vocabula ita interpretari malim ne quid consequatur quod male sonet.'

Lettres a Bourguet

Von 1714

p. 324. ,Pour etre possibles il suffit de l'intelligibilite; mais pour l'existence il faut une prevalence d'intelligibilite ou d'ordre; car il y a ordre ä mesure qu'il y a beaucoup ä remarquer dans une multitude.'

4omnes]öes 6 originale] Uber (universale) am Rand 21 etre] etre 22 ä] a 23 a] a

15 quomodo] Quomodo

20 Von 1714]

1—7 Leibniz: Schriften 2,311 8f Leibniz: Schriften 2,324 10—12 Leibniz: Schriften 2,336 10 Schleiermacher gibt in seinem Einschub den Leitbegriff von Pater Perez an, mit dem sich Leibniz schon in den vorausgehenden Sätzen beschäftigt hat. 15f Leibniz: Schriften 2,390 17—19 Leibniz: Schriften 2,419f 20 Den Brief an Bourguet, aus dem Schleiermacher zunächst zitiert, schrieb Leibniz 1713; das zweite Zitat stammt aus einem Brief von 1714. 21—23 Leibniz: Schriften 3,558

Leibniz II

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Diese Erklärung von Ordnung muß man zu der vom Raum hinzunehmen um den Unsinn vollkommen zu haben. 327. ,Les animaux humains seminaux qui ne parviendront jamais au developement de la raison ne l'ont pas non plus envelopee'. Das stimt damit überein daß Gott den menschlichen Seelen bei der Zeugung auf eine wunderbare Art den höhern Grad mittheile. Wie stimmt aber damit die Behauptung daß was nur durch ein Wunder geschehen kann eigentlich in der beßern Welt nicht nothwendig ist. |

Tom. V. 361. ,Quod ad ideas innatas attinet ni fallor rem paucis complexus sum, ex eo scilicet quod ipsi nobis innati sumus; et veritates menti inscriptae omnes ex hac nostri perceptione fluunt; etsi non adverteremus nisi externa accederent.'

1 f Diese . . . haben] am Rand 3 seminaux] seminaux 5—8 Das . . . ist.] am rechten und unteren Seitenrand

3 f Leibniz: Schuften 3,574 10—13 Leibniz: Schuften 7,490

4 developement] developement 5 Gott] θ

9 Tomus quintus, continens opera philologica, Genf 12 Statt adverteremus Q: animadverteremus

1768

Gedanken II (1798)

[1.] Was oft Liebe genannt wird ist nur eine eigne Art von Magnetismus. Es fängt an mit einem beschwerlich kizelnden en rapport sezen, besteht in einer Desorganisation und endigt mit einem ekelhaften Hellsehen und viel Ermattung. Gewöhnlich ist auch einer dabei nüchtern.

[2.] Jämmerlich ist freilich jene praktische Philosophie der Franzosen und Engländer von denen man meint sie wüßten so gut was der Mensch sei ohnerachtet sie nicht darüber spekulirten was er seyn solle. Jede organische Natur hat ihre Regel, ihr Sollen und wer darum nicht weiß wie kann der sie kennen? Woher nehmen sie denn den Eintheilungsgrund ihrer naturhistorischen Beschreibungen, und wonach meßen sie den Menschen? Eben so gut sind sie aber doch als jene die mit dem Sollen anfangen und endigen. Diese wißen nicht daß der sittliche Mensch aus eigner Kraft sich um seine Axe frei bewegt. Sie haben den Punkt außer der Erde gefunden den nur ein Mathematiker suchen kann aber die Erde verloren. U m zu sagen was der Mensch soll, muß man einer seyn und es nebenbei auch wißen.

[3.] Offen ist, wer für ein billiges der Kastellan von sich selbst ist wer nur aus Thür und Fenster besteht.

1 wird] über der Zeile mit Einfügungszeichen 5 Jämmerlich ist] über der Zeile mit Einfügungszeichen 5 freilich] Freilich; folgt (ist) 7 solle] folgt ((etwas jämmerliches)) 7—9 Jede . . . kennen?] am Rand mit Einfügungszeichen 9 Eintheilungsgrund] folgt (bei) 11—13 Diese. . . Sie] am Rand mit Einfügungszeichen 13 haben] davor (Diese) 13 f den nur . . . kann] am Rand mit Einfügungszeichen 13 f Mathematiker] Mathemat. 14 sagen] über (wißen) 16f wer nur . . . besteht] am Rand 1—4 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 340 (unten 149,1-4) 5—15 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 355 (unten 151,1 — 12) lOf Anspielung auf die Kantische Ethik 13 f Anspielung auf den Satz δός μοι, ποϋ στώ και κινώ την γήν des berühmten Mathematikers und Maschinenkonstrukteurs Archimedes (287—212) aus Syrakus, der sich auch durch das Entwerfen mechanischer Hebelwerke einen großen Namen gemacht hatte. 16f Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 336 (unten 146,1 — 148,17)

108

Gedanken II

[4.] Jene Geschichte von einem Franzosen der alten Zeit der seine Adelszeichen den Gerichten übergab um sie wiederzufodern wenn er durch den Handel einiges Vermögen erlangt haben werde ist das Emblem einer beliebten Tugend. W e r es mit seinem innern Adel eben so macht wird bescheiden genannt. Gieb ihn der gemeinen Meinung ad depositum und erwirb dir dadurch ein Recht ihn wiederzufodern daß du mit Glük und Fleiß einen Speditions Handel treibst mit fremden Verdiensten, Talenten und Einfallen, Lfeineml und Mittelgut wie es jeder verlangt.

[5.] Arrogant ist wer Sinn und Charakter zugleich hat und sich dann und wann merken läßt daß diese Verbindung gut und nüzlich sei. Wer beides auch von den Weibern fodert ist ein Weiberfeind.

[6.] W e r einen höheren Gesichtspunkt für sich selbst gefunden hat als sein äußeres Daseyn | kann auf einzelne Momente die Welt aus sich entfer- 4 nen. So werden diejenigen, die sich selbst noch nicht gefunden haben, nur auf einzelne Momente wie durch einen Zauber in die Welt hineingerükt, ob sie sich etwa finden möchten.

[7.] N u r die äußerlich bildende und schaffende Kraft des Menschen ist veränderlich und hat ihre Jahreszeiten. Veränderung ist nur ein Wort für die physische Welt. Das Ich verliert nichts und in ihm geht nichts unter, es wohnt mit allem was ihm zugehört, seinen Gedanken und Gefühlen seiner Willkühr und seiner Seele in der Burgfreiheit der Unvergänglichkeit. Verlo-

1 Jene] korr. aus eine; davor (Man erzählt) 1 der alten Zeit] über der Zeile l f seine Adelszeichen] korr. aus seinen Adel 3 f ist . . . Tugend.] am Rand mit Einfügungszeichen 4 f Wer . . . ihn] am Rand die Variante Wer bescheiden genant seyn will muß es mit seinem innern Adel eben so machen. Er gebe ihn perge 7 treibst] am Rand 10 daß] folgt (es) 10 diese Verbindung] am Rand 10 gut] folgt (sei) 21 f Verloren] davor (Man)

1—8 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 353 (unten 150,13—21). Ein Motiv hierzu findet sich Gedanken I, Nr. 54 (oben 18,3—5). 9—11 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 337 (unten 148,18-20) 12—16 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 341 (unten 149,5-9) 17—3 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 338 (unten 148,21-28)

Gedanken II

109

ren gehen kann nur das, was bald hier bald dorthin gelegt wird. Im Ich bildet sich alles organisch und alles hat seine Stelle. Was du verlieren kannst das gilt bis auf einzelne Gedanken hat dir noch nie angehört.

[8.] Keine Poesie, keine Wirklichkeit. | So wie es troz aller Sinne ohne Fantasie keine Außenwelt giebt, so auch mit allem Sinn ohne Gemüth keine Geisterwelt. Wer nur Sinn hat sieht doch keinen Menschen sondern nur menschliches. D e m Zauberstabe des Gemüths aber thut sich alles auf. Es sezt Menschen und ergreift sie, es schaut an wie das Auge ohne sich seiner mathematischen Operationen bewußt zu seyn.

[9.] Hast du je den ganzen Umfang eines Andern mit allen seinen Unebenheiten berühren können ohne ihm Schmerzen zu machen? Ihr braucht beide keinen weitern Beweis zu führen daß ihr gebildete Menschen seid.

[10.] Es ist eine Dichtung der Geschichtschreiber der Natur, daß ihre plastischen Kräfte lange in vergeblichen Anstrengungen gearbeitet, und nachdem sie sich in Formen erschöpft hatten die kein dauerndes Leben haben konnten noch viele andre erzeugt worden wären die zwar lebten aber untergehen mußten weil es ihnen an der Kraft fehlte sich | fortzupflanzen. Die sich selbst bildende Kraft der Menschheit steht noch auf dieser Stufe. Wenige leben und die meisten unter diesen haben nur ein vergängliches D a seyn. Wenn sie ihr Ich in einem glüklichen Moment gefunden haben, so fehlt es ihnen doch an der Kraft es aus sich selbst wiederzuerzeugen. (Der T o d ist ihr gewöhnlicher Zustand und wenn sie einmal leben glauben sie in eine andere Welt entzükt zu seyn.)

l f Im . . . hat] (1) Im Gemüth hat alles (2) Im (über der Zeile: Ich) hat alles (3) Im Ich (am Rand mit Einfügungszeichen: bildet sich alles organisch undj alles (über der Zeile mit Einfügungszeichen: hat) 3 das . . . Gedanken] am Rand mit Einfügungszeichen 24 seyn.)] seyn.

4 - 9 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 350 (unten 149,15-20) 1 0 - 1 3 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 351 (unten 149,21 — 150,1) 14—24 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 352 (unten 150,2—12). Ein Motiv hierzu findet sich Gedanken I, Nr. 47 (oben 17,1 f).

110

Gedanken II

[11.] Wer Liberalität und Rigorismus verbinden wollte, bei dem müßte jene wol etwas mehr seyn als Selbstverläugnung, und dieser etwas mehr als Einseitigkeit. Sollte das aber wol erlaubt seyn?

[12.] Die Duldung hat keinen anderen Gegenstand als: das vernichtende. Wer nichts vernichten will bedarf gar nicht geduldet zu werden; wer alles vernichten will soll nicht geduldet werden. In dem was zwischen beiden liegt hat diese Gesinnung ihren ganz freien Spielraum. Denn wenn man nicht intolerant seyn dürfte wäre die Toleranz nichts.

[13.] Die Welt kennen heißt wissen daß man nicht viel auf derselben 7 bedeutet, glauben daß kein philosophischer Traum darin realisirt werden kann und hoffen daß sie nie anders werden wird, höchstens nur etwas Ldünnerl.

[14.] Menschenfreundlich ist wer einige Proteges hat und eine Rubrik für Arme in seinem Contorbuch.

[15.] Beiläufig erfährt man in der Rechtslehre daß Kant bei Beurtheilung der Nüzlichkeit des Hausgeflügels es mit den Hühnern hält gegen die Gänse, und doch glaubt er daß die Publicitaet d . h . der Gänsekiel die einzige rechtmäßige Schuzwehr des Volks gegen die Tirannei sei. Man sollte glauben er habe alles mit Huhnfedern geschrieben, und aus dieser H y p o -

5 Wer nichts] gestrichen und Streichung wieder aufgehoben wird,] folgt < a l s > 15f bei . . . Hausgeflügels] am Rand Huhnfedern] Huenfedern

6 In] folgt (diesem) mit Einfügungszeichen

11 19

1—3 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 354 (unten 130,22-24) 4—8 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 349 (unten 149,10—14) 9—12 Vgl. die Druckfassung: Fragmente, Nr. 356 (unten 151,13-16) 15—17 Vgl. Kant: „Haushühner (die nützlichste Art des Geflügels) f. . .]" (Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre 218; Ak 6,345)

Gedanken II

111

these ließe sich freilich das gekrizelte was in seinen Schriften durchaus herrscht gar leicht so manches erklären.

[16.] Menschen die nichts in sich fertig machen, auch nicht einen G e danken glauben oft in den größten Werken der treflichsten Künstler was sie gedacht haben wiederzufinden. Sie haben aber eigentlich nicht gedacht sondern geträumt. Träume und Ahndungen glaubt man eben um ihrer U n b e stimtheit willen erfüllt zu sehn sobald | sich etwas großes oder unerwartetes ereignet. Diese philosophische Träumerei ist gemein genug, und je unbescheidner sie einer treibt desto mehr Hofnung kann man von ihm haben.

[17.] T . sagte: Die Spartaner hielten sich die Heloten ausdrüklich dazu um den Contrast des unsittlichen und thierischen gegen das menschliche darzustellen. Das war hart. Wir haben dergleichen nicht nöthig am wenigsten in der Literatur; denn die würdigsten und gebildetsten Männer geben sich freiwillig dazu her, den Contrast des gemeinen und schlechten gegen das göttliche und schöne recht anschaulich zu machen.

[18.] Als Jemand meinte es verderbe den LGenußl, wenn man den Ariost perge kenne im Wieland iedesmal zu finden woher das schöne sei, sagte H . (mit Unrecht)[:] wenn ich an einer Frau die schönsten langen Haare sehe stört michs nicht wenn ich auch weiß daß sie falsch sind: Eine hat sie doch so beisamen gehabt denke ich und das ist ia die ganze Freude. — J a wol wenn nur nicht das Werk und der Künstler geschäzt werden sollen.

[19.] O f t finden sie etwas grob weil sie selbst in der guten Lebensart noch nicht weit gekommen sind. So findet man es arrogant wenn ein Schriftsteller um der Praecision willen auch den dunkleren Ausdruk nicht scheut. Ich finde es dagegen artig vorauszusezen daß der Leser so schnell

l f das . . . leicht] am Rand mit Einfügungszeichen 10 T . ] Abk. wohl für Tieck 12 f am . . . Literatur] am Rand mit Einfügungszeichen 16 es] folgt (sei schade) 18 H . ] Abk. wohl für [Henriette] Herz 18 (mit] ; mit 24 dunkleren] unterstrichen und dadurch Hinweis auf die Variante am Rand: schwereren

112

Gedanken II

denken könne und grob ihm ein großes Accompagnement von Worten zum besten zu geben, weil man meint er sei doch mit dem kleinen Gedanken nicht eher auf dem Rande. Es ist grob die Bücher noch eben so lang zu machen als sonst da das Leben immer kürzer wird je mehr der Gegenstände werden von denen man wissen muß; und es ist höchst artig wenn man dem Publico etwas zu sagen hat es so kurz zu machen als möglich, denn es liegt doch der Glaube darin daß das Lesen nur eine Nebensache ist.

[20.] Derselbe Eindruk kann oft auf ganz entgegengesezte Arten hervorgebracht werden, und dann geschieht es wol daß eine der andern untergeschoben wird. So ist es eine sonderbare Kata-|chrese, daß jezt Viele das dunkel nennen, was eigentlich blendend ist, d . h . mehr Licht hat als sie ertragen können. Beides läßt sich aber leicht und sicher daran unterscheiden daß das blendende einen stechenden Schmerz verursacht der sich nach und nach über das ganze Wesen verbreitet.

[21.] Diejenigen welche sagen: „das verstehe ich nicht, also taugt es nicht", verlangen natürlich daß andre sagen sollen: der versteht mich nicht also tauge ich nichts.

[22.] Die Weiber hören oft aus Eitelkeit auf eitel zu sein, weil die Eitelkeit ihnen nicht eitel genug ist.

[23.] Wer gegen die Vorurtheile des Zeitalters auftritt, verdient nicht nur den Dank derer welche ihn lesen, sondern, wenn ihn nur die rechten

1 ein] korr. aus einen 1 großes Accompagnement] über (langen Brei) folgt (vorzulegen) l f zum . . . geben] am Rand 15 „das] das

1 Worten]

15—17 Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 22 (oben 12,3 f) und die spätere Fassung: Gedanken III, Nr. 4 (unten 119,16—18) 18 f Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 12 (oben 9,1 f) 2 0 - 2 Vgl. die frühere Fassung: Gedanken 1, Nr. 14 (oben 9,6-8)

Gedanken II

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lesen, auch den Dank derer die ihn nicht gelesen haben. Besonders gilt das von der Literatur.

[24.] Gutmüthigkeit ist Achtung für die reine Paßivität, oder Dankbarkeit für das unterlaßene Böse.

[25.] In der Fichteschen Philosophie ist das Ich stolz, in der Kantischen | eitel, in einer acht skeptischen würde es ironisch oder scherzhaft sein, in der spinozistischen ist es liberal, oder wenn man sie verachten wollte könnte man sagen höflich. Bis zu einem anmaßenden Ich, worüber soviel Geschrei ist hat man es noch gar nicht gebracht.

[26.] Der Unterschied zwischen Enthusiasmus und Leidenschaft liegt bloß in der Realitaet des Gegenstandes. Könnte der Enthusiasmus seine Ideen realisiren, so würde er zu einer gewöhnlichen Leidenschaft herabsinken. N u r die Schlechtigkeit der Welt macht die Enthusiasten groß.

[27.] D a ß viele Menschen ihr Glük für Talent halten ist bekannt. Dieselben sind geneigt den Mangel an Unglük für Bon sens und das Unglük für Genialität zu halten.

[28.] Wie die Menschen auf dem Meere der Zeit angeschwommen kommen werden sie langsam gedörrt an schlechter Gesellschaftsluft und an 17 auf] korr. aus unleserlichem

Wort

3 f Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 16 (oben 10,21 f ) 5—9 Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 18 (oben 10,26-11,3) und die spätere Fassung: Gedanken III, Nr. 3 (unten 119,13-15) 1 0 - 1 3 Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 30 (oben 13,16—19) sowie die späteren Fassungen: Gedanken III, Nr. 6 (unten 120,5 — 9) und Gedanken VI (Zur Ethik), Nr. 51 (s. KGA 1/5) 1 4 - 1 6 Vgl. die frühere Fassung: Gedanken 1, Nr. 37 (oben 14,18-20) und die spätere Fassung: Gedanken III, Nr. 8 (unten 120,21-23) 17—5 Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 40 (oben 15,7—13) und die spätere Fassung:

114

Gedanken II

dem Feuer des paedagogischen Zwanges, eingerieben mit dem Salz aller Vorurtheile, und wenn sie dann eng zusamengepreßt in dem großen Gefängniß der Staatsformen beisammenliegen, so entsteht | aus diesem ängstlichen Druk eine pikante Brühe die man den Geist der Zeit nennt. Mit den Heringen nimmt man dieselbe Procedur vor, aber erst wenn sie todt sind.

[29.] Streitigkeiten sind das feinste reagens auf Illiberalitaet.

[30.] Kleine sentimentale Freuden gleichen dem Musenalmanach der erst fürs künftige Jahr bestirnt, aber vergeßen ist ehe es angeht. Xenien sichern ihm ein längeres Leben als Musterstüke.

[31.] Originell ist wer es wagt etwas zu thun was erst in hundert Jahren Mode werden kann.

[32.] Artig ist wer alle Geseze beobachtet die keiner gemacht haben will und über die sich jeder beklagt; oder, wer es sich sauer werden läßt unnüz zu sein.

[33.] Naiv ist alles was man für eine Satyre nehmen müßte wenn es nicht unwillkührlich wäre.

Gedanken III, Nr. 9 {unten 121,1—7) 6 Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 41 (oben 15,14f) sowie die späteren Fassungen: Gedanken III, Nr. 10 (unten 121,8f) und Gedanken VI (zur Ethik), Nr. 53 (s. KGA 1/5) 7—9 Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 42 (oben 15,16-16,2) und die spätere Fassung: Gedanken III, Nr. 11 (unten 121,10-15) 10 f Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 51 (oben 17,10f) und die spätere Fassung: Gedanken III, Nr. 13 (unten 122,1—5) 12—14 Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 52 (oben 17,12—15) und die spätere Fassung: Gedanken III, Nr. 13 (unten 122,1—5) 15 f Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 53 (oben 18,1 f) und die spätere Fassung: Gedanken III, Nr. 13 (unten 122,1-5)

Gedanken

II

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[34.] Stolz ist, wer da ist ohne um Erlaubniß gebeten zu haben.

[35.] Ein Testament ist eine Weihnachtsbescherung am Ende des Lebens.

1 Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 55a (oben 18,6) und die spätere Fassung: Gedanken III, Nr. 13 (unten 122,1—5) 2f Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 58 (oben 19,13f)

Gedanken III (1798-1801)

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1. Jede Aeußerung eines Menschen ist ein Akkord für den der Grund- 1 ton fehlt, wenn derjenige nicht mehr da ist, der ihn hervorlokt. Sie ist dann unverständlich oder stumm, und es bleibt im Gemüth nur die Erinnerung an Harmonien, die nicht mehr klingen. So sterben wir stükweise. Wem schon Viele gestorben sind, der hat keine Harmonien mehr zu verlieren, und wenn er nachstirbt reißt er nur Andern die Grundtöne ab zu ihren Akkorden. So sterben wenig beßre Menschen; aber jeder tödtet indem er stirbt nachdem er vielfach getödtet worden ist, so lange er lebte.

2. Man muß oft die Bedeutung eines Worts aus einer fremden Sprache nur durch die Vergleichung verschiedener Fälle errathen, troz der Wörterbücher. So auch die Bedeutung eines Begrifs in einer fremden Philosophie troz der Definition.

3. Bei Fichte ist das Ich stolz, bei Kant ist es eitel bei einem ächten Skeptiker würde es ironisch sein bei Spinoza ist es liberal oder wenn man will höflich. Zu einem anmaßenden Ich hat man es noch gar nicht gebracht.

4. So wie Viele sagen: „das verstehe ich nicht, also taugt es nicht": so sagen andere „der versteht mich nicht, also taugt er nicht." Was ist wol anmaßender?

6 die] folgt (Akkorde ab)

16 nicht"] nicht

17 nicht."] nicht.

1—8 Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 7 (oben 7,25-8,4) und die spätere Ausführung in: Monologen, Berlin 1800, S. 127f; edd. Schiele/Μulert, 3. Aufl., Hamburg 1978, S. 81, 17-33 9 - 1 2 Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 11 (oben 8,19f) 1 3 - 1 5 Vgl. die früheren Fassungen: Gedanken I, Nr. 18 (oben 10,26-11,3) und Gedanken II, Nr. 25 (oben 113,5-9) 16—18 Vgl. die früheren Fassungen: Gedanken I, Nr. 22 (oben 12,3 f) und Gedanken II, Nr. 21 (oben 112,15-17)

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Gedanken III

5. Manche Menschen ziehen aus der Atmosphäre welche sie umgiebt nichts an, sondern sezen bloß ihr Waßer an dieselbe, wie das mineralische Alkali[.] Andere verhalten sich wie das vegetabilische: bringt sie wohin ihr wollt, sie ziehn nur Waßer an.

6. Der Unterschied zwischen Enthusiasmus und Leidenschaft liegt bloß in der Realität des Gegenstandes. Könnte der Enthusiast seine Idee realisiren, so würde er — den besten Fall vorausgesezt — | zu einer gemei- 2 nen Leidenschaft herabsinken. N u r die Schlechtigkeit der Welt macht die Enthusiasten groß.

7. Der Imperativ der genialischen Narrheit heißt: es soll Alles Scherz werden, und das Ziel worauf sie hinausgeht ist also absolute Antithese. Der Narr läßt sich bezahlen damit auch das Scherz werde, daß Alles Scherz ist, denn auf diese Art ist ihm der Scherz Ernst. Der Narr allein ist nicht verrükt: denn ihm ist die ganze Welt zurecht gerükt, weil es zu Allem eine absolute Antithese daneben giebt, die er nur aufsucht. Der Narr allein ist reich; denn er allein besizt Alles zu beliebigem Gebrauch. Der Narr allein ist ein König denn er hat sich von allen Gesezen dispensirt, und diese Dispensation wird in jedem Augenblik anerkannt und erneuert. Warum hat man sonst im Drama den Scherz gemeiniglich besonders gestellt. V o m Scherz als herrschende Gemüthsstimmung (in der Moral)

8. Diejenigen welche ihr Glük für Talent halten sind geneigt ihren Mangel an Unglük für bon sens, ihre Ungeschiktheit für Unglük, und ihr Unglük für ein Produkt ihrer Genialität zu halten.

2 dieselbe] dasselbe

19 f Warum . . . Moral)] am Rand

1—4 Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 29 (oben 13,12—15) 5—9 Vgl. die früheren Fassungen: Gedanken I, Nr. 30 (oben 13,16—19) und Gedanken II, Nr. 26 (oben 113,10—13) sowie die spätere Fassung: Gedanken VI (Zur Ethik), Nr. 51 (s. KGA 1/5) 10—18 Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 36 (oben 14,9—17) und die spätere Fassung: Gedanken VI (Zur Ethik), Nr. 52 (s. KGA 1/5) 2 1 - 2 3 Vgl. die früheren Fassungen: Gedanken I, Nr. 37 (oben 14,18-20) und Gedanken II, Nr. 27 (oben 113,14-16)

Gedanken III

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9. Wenn die Menschen auf dem Meere der Zeit angeschwommen kommen klein und groß werden sie langsam ausgedörrt an dem Feuer des Pädagogischen Zwanges, eingerieben mit dem Salz alter Vorurtheile, und wenn sie dann eng zusammengepreßt in dem Gefängniß einer Staatsform beisammen liegen, so entsteht aus diesem ängstlichen D r u k eine piquante Brühe, die man den Geist der Zeit nennt. Mit den Heringen nimt man dieselbe Procedur vor; aber erst wenn sie todt sind.

10. Streitigkeiten und besonders literarische sind das feinste reagens auf Iiiiberalität.

11. Die kleinen sentimentalen Freuden, die man genießt sind wie der 3 Musenalmanach, der in dem Jahr herauskommt. So wie dieser eigentlich erst fürs künftige Jahr bestimmt ist, so hat uns die Natur auch jene eigentlich verliehen um sie erst in der Zukunft zu genießen; sie sind aber Lgemeiniglichl wie jener schon vergeßen wenn die Zeit ihrer Bestimmung erst kommt. Beide erlangen durch Xenien ein längeres Leben.

12. Liebenswürdig ist wer liebt, das heißt wer überall im Endlichen das Unendliche findet. G r o ß wer das endliche um des Unendlichen willen wegwirft. Vollendet, wer beides vereinigt.

2 kommen] folgt (wie die Heringe)

1—7 Vgl. die früheren Fassungen: Gedanken I, Nr. 40 (oben 15,7—13) und Gedanken II, Nr. 28 (oben 113,17—114,5) 8f Vgl. die früheren Fassungen: Gedanken I, Nr. 41 (oben 15,14f) und Gedanken II, Nr. 29 (oben 114,6) sowie die spätere Fassung: Gedanken VI (Zur Ethik), Nr. 53 (s. KGA 1/5) 1 0 - 1 5 Vgl. die früheren Fassungen: Gedanken I, Nr. 42 (oben 15,16-16,2) und Gedanken II, Nr. 30 (oben 114,7-9) 1 6 - 1 8 Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 48 (oben 17,3 — 5) und dieses Motiv in der Druckfassung: Fragmente, Nr. 428 (unten 154,26—156,18); außerdem die spätere Fassung: Gedanken VI (Zur Ethik), Nr. 54 (s. KGA 1/5)

Gedanken III

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13. W e r existirt ohne um Erlaubniß zu bitten heißt stolz; wer es wagt etwas zu thun, was erst in hundert Jahren Mode werden kann heißt originell; wer mit dem Schein von Unwillkührlichkeit etwas sagen kann was man sonst für eine Satyre nehmen müßte heißt naiv; wer es sich sauer werden läßt unnüz zu sein heißt artig.

14. Auf die lezten Tage des Jahres soll man sich allen Genuß und alle Erinnerungen zusammenhäufen wie Kinder sich den besten Bissen zulezt verwahren.

15. Ein Brief bedarf allerdings einer gewißen Dosis von Derbheit um anzukommen: denn es fehlt ihm an allen mimischen Erläuterungen welche dem Gespräch zu Hülfe kommen.

16. Jemand aus einem Briefe an einen Dritten kennen lernen wollen ist eine unbestimmte Aufgabe: denn man muß zwei unbekannte Größen finden sein Verhältniß zu diesem Dritten und seine Geschiklichkeit es zu behandeln. Sie kann auch nur so gelöst werden indem man die Grenzen bestimmt zwischen denen die eine liegen kann. Dazu dient der Styl und die Behandlung.

Poesie 17. Ist nicht der Roman die einzige Poesie der Neueren? Alles andere ist ihnen fremd. Ihr Drama hat seinen Ursprung in der Novelle und neigt immer dazu hin; und das beste lyrische ist theils im Roman, theils muß man einen darum herum machen um es zu verstehen.

1 - 5 Vgl. die früheren Fassungen: Gedanken I, Nr. 51. 52. 53. 55a (oben 17,10-18,2. 18,6) und Gedanken II, Nr. 31—34 (oben 114,10—115,1) 6—8 Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 63 (oben 20,10—12) 9—11 Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 67 (oben 21,13-15) 1 2 - 1 7 Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 68 (oben 21,16-22,2) 1922 Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 122 (oben 31,13—16)

4

Gedanken

III

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18. Diderots Vorschlag Stände zu schildern paßt wol eigentlich mehr auf die Novelle, w o er auch früher aufgeführt ist als aufs Drama.

19. Ein charakteristischer Unterschied zwischen Drama und Roman ist unter andern auch der, daß ich im Drama von den Charakteren mir Lnurl •5 einen Begrif machen muß, im Roman aber davon eine reine und bestirnte Anschauung bekommen. Das Drama nemlich besteht in der Verknüpfung

1 Vgl. Diderot: De la poesie dramatique, CEuvres, ed. J.-A. Naigeon, Bd 4, Paris 1798, S. 437-590, besonders 439-441 und 443f; CEuvres completes, Bd 10, ed. J. Chouillet/A.-M. Chouillet, Paris 1980, S. 323 — 427, besonders 333f und 336. Vermutlich bezieht sich Schleiermacher auf die von G. E. Lessing anonym zusammengestellte und übersetzte zweibändige Ausgabe „Das Theater des Herrn Diderot" (Berlin 1760), in der auch die ursprünglich 1758 von Diderot als Anhang zu seinem Drama „Le Pere defamille" veröffentlichte ästhetische Abhandlung unter dem Titel „ Von der dramatischen Dichtkunst" (Theater 2,231 —480; Diderot: Ästhetische Schriften, ed. F. Bassenge, Bd 1, Frankfurt (Main) 1968, S. 244—333) wiedergegeben wird; vgl. besonders: „Das dramatische System, nach seinem ganzen Umfange wäre also dieses: Die lustige Komödie, welche das Laster und das Lächerliche zum Gegenstande hat; die emsthafte Komödie, welche die Tugend und die Pflichten des Menschen zum Gegenstande hat; das Trauerspiel, das unser häuflliches Unglück zum Gegenstande hätte; und die Tragödie, welche zu ihrem Gegenstande das Unglück der Großen und die Unfälle ganzer Staaten hat. Aber wo ist Er, der uns die Pflichten der Menschen mit Nachdruck mahle? Welches sind die Eigenschaften des Dichters, der sich dieses Werk vornehmen wollte? Er sey Philosoph; er sey in sich selbst herabgestiegen; er habe die menschliche Natur kennen lernen; er sey von den gesellschaftlichen Ständen auf das genaueste unterrichtet; er kenne ihre Beschäftigungen und ihre Wichtigkeit, ihre Vortheile und Unbequemlichkeiten. Aber wie soll man alles, was zu dem Stande eines Menschen gehöret, in die engen Grenzen eines Schauspiels bringen f Wo ist die Verwicklung die diesen ganzen Gegenstand fassen könnte? Man wird in dieser Gattung Stücke machen müssen, die aus lauter episodischen Auftritten bestehen, die unter sich keine Verbindung haben, oder nur aufs höchste vermöge einer kleinen Intrigue, die sich durch sie schlinget, zusammenhangen: aber da wird an keine Einheit, an keine Handlung, an kein Interesse zu denken seyn. Jede Scene für sich wird vielleicht die zwey Punkte, die Horaz so sehr empfiehlt, verbinden; aber etwas zusammen werden sie nicht ausmachen, und das Ganze wird ohne Festigkeit und Kraft seyn. Wenn uns die Stände der Menschen auch nur Stücke schaffen, so wie die Ueberlästigen des Moliere sind, so ist es doch schon etwas: ich glaube aber, daß man sie noch weit besser nutzen kann. Die Verbindlichkeiten und Ungemächlichkeiten eines Standes, sind nicht alle gleich wichtig. Mich dünkt also, man könne sich bloß an die vornehmsten halten, diese zu der Grundlage des Stückes machen, und die übrigen in die Ausführung versparen." (Theater 2,236— 238; Ästhetische Schriften l,246f). Für seine These gibt Diderot folgende Veranschaulichung: „Es nehme sich nur ein guter Kopf vor, den Stand des Richters auf die Bühne zu bringen; er verwickele seinen Inhalt auf eine so interessante Weise, als er es nur immer leiden will, und ich mir es ohngefehr vorstelle; die Person werde durch die Pflichten ihres Standes gezwungen, entweder der Würde und Heiligkeit ihres Amtes zu entstehen, und sich in ihren und anderer Augen zu entehren, oder ihre Leidenschaften, alles was ihr am liebsten ist, Vermögen, Geburt, Weib und Kinder, dem Amte aufzuopfern: und dann thue man, wenn man will, den Ausspruch, ob die ernsthafte und ehrbare Gattung ohne Feuer, ohne Glanz, ohne Nachdruck ist." (Theater 2,244f; Ästhetische Schriften 1,249)

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Gedanken III

einzelner Handlungen zu einem Ganzen, und die Frage wie die Handlungen des Einzelnen in Ihm zusammenhängen ist nur eine Nebenfrage eigentlich aus dem romantischen Standpunkt; daher ist auch von den Charakteren bei den Alten nicht die Rede. Sie waren nur bestimmt in Absicht der R ü k wirkung des Resultates auf sie. Der Roman hingegen hat seine Einheit in der Beharrlichkeit der Gemüthsart und der Principien unter verschiedenen Umständen.

20. Die gänzliche Unfähigkeit der Alten zum Roman liegt wol zum Theil darin, daß ihre Poesie von der bildenden Kunst ausging die es immer nur mit Momenten zu thun hat, und nicht mit dem successiven wie der Roman. Denn sonst bleibt es doch dabei daß der Roman der Gipfel und die natürliche Tendenz aller Poesie ist.

21. W i r sollten eigentlich gar kein Drama machen es werden doch alle romantisch.

22. Measure for measure ist wol eines der schlechtesten Stüke von Shakespeare: Es hat die Novellenform so tout crache. Die einzigen dramatischen Ingredienzen sind Escalus Lucio und Clown. Escalus nur insofern der Contrast eigentlich dramatisch ist.

23. Wenn der Roman auf die Darstellung der innern Menschheit geht ß und ihrer Einheit an der wechselnden Reihe der äußern Verhältniße: so geht die Novelle wol eigentlich auf die Darstellung der äußern Menschheit nemlich der geselligen Verhältniße und ihrer Formen an der verschiedenen Reihe der innern Verhältniße und ihrer Rükwirkungen. Unsere meisten Romane sind bis jezt Novellen gewesen, und auch der Meister hat noch viel von dieser Art. In den Roman hingegen gehören wol keine Novellen.

15—18 Vgl. die frühere Fassung: Gedanken 1, Nr. 133 (oben 32,1—4) Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman, 4 Bde, Berlin 1795 — 1796

24

Goethe:

Gedanken III

125

24. Im Hamlet denke ich mir den entschiedensten Primat der Reflexion und die größte Gleichgültigkeit gegen das Handeln bei dem er deshalb immer dem ersten Eindruk folgt. Daraus glaube ich erklärt sich alles. Polonius ist wol sehr listig und möchte gern die Ophelia an Hamlet verheirathen. O b Laertes als schlechter Kerl nach dem Königreich trachtet oder ob ihn Shakespeare nur leicht behandelt kann ich noch nicht entscheiden. D o c h bin ich mehr fürs Erste und es ist vielleicht durch seine Vorliebe für Frankreich so gut angedeutet wie irgend etwas in diesem Stüke, wo Alles nur angedeutet ist.

25. Twelve night ist gewißermaßen überbildet. Shakespeare hat manches darin aufgehoben und zu Ende geführt was er sonst würde haben fallen laßen. So die lezte Entwikelung der Komödie mit Malvoglio.

26. Der Mißmuth des Alters besonders über die wirkliche Welt ist ein Mißverstand der Jugend und ihrer Freude, die auch nicht auf die wirkliche Welt ging. Der historische Sinn ist höchst nothwendig um zur ewigen J u gend zu gelangen, die keine Naturgabe sein soll, sondern ein Erwerb der Freiheit.

27. Philosophie und Religion gehn auf die ideale Thätigkeit, Moral und Poesie auf die Reale. Darum kann auch das was die Religion anschaut nicht das Produkt der Philosophie sein, sondern das der Moral und der Poesie. Eigentlich so. Es giebt nur eine Philosophie der Natur und der Menschheit und eine Religion der Welt und der Kunst: aber keine Philosophie der Religion und keine Religion der Philosophie.

10 Shakespeare] Sh. 22—24 Eigentlich . . . Religion der Philosophie.] am Rand der] folgt gestrichenes unleserliches Wort

23 und

10—12 Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 152 (oben 35,18—20) 10 Shakespeare: Twelfth Night or What You Will 13 —17 Vgl. die frühere Fassung: Gedanken I, Nr. 134. 135.138 (oben 32,5-10.16f) und die spätere Fassung: Gedanken VI (Zur Ethik), Nr. 55 (s. KGA 1/5) 1 3 - 1 5 Vgl. Monologen 67f; edd. Schiele/Mulert 48,3-49,1

126

Gedanken

III

28. Mechanik und Recht parallelisiren in so fern beide auf das Bewußtsein der gemeinschaftlichen Seele d. h. der angebornen Schranken gehn. Poesie und Moral gehn auf das Bewußtsein der Freiheit.

29. Jugend und Alter sollen gar nicht auf einander folgen sondern zugleich sein. Jugend geht aufs Leben, Alter auf die Reflexion.

30. Das Universum gleicht darin dem Menschen daß die Thätigkeit die Hauptsache ist, die Begebenheit nur das vergängliche Resultat. Der ächte historische Sinn erhebt sich über die Geschichte. Alle Erscheinungen sind nur wie die heiligen Wunder da um die Betrachtung zu lenken auf den Geist der sie spielend hervorbrachte. Wie bei dem Menschen du forschest nach dem was drinnen sich reget, Unbeachtend was er äußerlich leidet und thut Also auch in der Welt such auf der ewigen Kräfte unvergänglich Gesez, würdige hohe Gestalt.

31. Mit Klagen und Wünschen zeichnet die Zeit ihre Sklaven und macht dadurch die besten den schlechtesten gleich.

32. Ein kleines Bruchstük von der göttlichen Reflexion haben sie alle und zum Schulmeister erniedrigt nennen sie es Gewißen.

11 — 14 Wie . . . Gestalt.] am Rand

13 der ewigen] über (des Menschen L I )

14

würdige] über (ewige) 1 - 3 Vgl. die spätere Fassung: Gedanken VI (Zur Ethik), Nr. 56 (s. KGA 1/5) 4f Vgl. Monologen 147-150; edd. Schiele/Μulert 90,35-92,16 15f Vgl. Monologen 12; edd. Schiele/Mulert 13,17-21 17f Vgl. Monologen 33f; edd. Schiele /Μ ulert 26,10-23

Gedanken

III

127

33. Die Idee Gottes hat in diesem Sinn die schöne Wahrheit einer Allegorie. Das reelle Thun ist nur Moment und Alles ist eigentlich Anschauung der eignen Thätigkeit. Wer sich selbst nicht anschaut wird nie das Ganze begreifen Wer nicht das Ganze gesucht findet auch nimmer sich selbst.

34. Selbstanschauung und Anschauung des Universums sind Wechselbegriffe; darum ist jede Reflexion unendlich.

35. Es ist die Beschränktheit der Philosophie beides zu trennen ihr Leben ist todt ohne Reflexion und ihre Philosophie ist ein lebloses Gemälde wenn sie erst das Licht des Lebens verlöschen müßen um durch den engen Raum der Abstraktion ihr inneres abzubilden.

36. So wie den Menschen ist mir nach einem Concert zu Muthe [.] Das Leben aber soll kein Concert sein.

37. Wem die Thätigkeit immer derselbe Bruch ist nur anders ausgedrükt der thut wol sich an die Zahl zu halten und nicht an den Werth zu denken.

38. Sie suspendiren nicht die Zeit: die Empfindung und Vorstellung der Vergangenheit wird ihnen wieder Gegenwart die sich anreiht an die Vergangenheit und hinwirkt in die Zukunft.

4f Wer sich . . . selbst.1 am Rand

1 - 3 Vgl. Monologen 28; edd. Schiele/Μulert 23,19-26 12f Vgl. Monologen 14; edd. Schiele/Μ ulert 14,18-15,1 17-19 Monologen 10-14; edd. Schiele/Μ ulert 12,9-14,17

128

Gedanken III

39. Die Blüthe ist die wahre Reife. Die Frucht ist nur die chaotische Hülle dessen was dem organischen Gewächs nicht mehr angehört.

40. Ich lege nur das unvollkommene und irdische der Jugend ab, und lächle die weißen Haare an.

41. Es ist kein Wunder daß in den jezigen Zeitläuften wo das allgemeine Geschrei über den Atheismus manche leise Erinnerung von ehedem aufregt, und wo zugleich Herders Christenthum sich so laut geltend zu machen sucht indeß seine Natur sich gleichsam verläugnet, nach seinem G o t t aus mancherlei Ursachen starke Nachfrage gewesen ist.

42. Die dreifache Verbindung zwischen Gesang, Tanz und Gedicht ist offenbar jünger als die doppelte zwischen Gesang und Gedicht; daher der Hexameter in seiner roheren Gestalt gewiß das älteste Metrum der Griechen.

43. Geben und Nehmen ist ganz anders bestimmt als prendre und donner. Bei Nehmen ist die eigne Willkühr das constitutive, bei prendre die Abwesenheit einer fremden, j'ai pris la fievre. Es ist wichtig für die Art wie die Willkühr angesehn wird. Bekommen ist daher bei uns die Negation von Nehmen und steht mit unter dem französischen Nehmen, recevoir dagegen entspricht ganz dem Geben.

7 und] über der Zeile mit Einfügungszeichen 7 zugleich] über der Zeile mit Einfügungszeichen 12 Hexameter] Hexam. 16f j'ai. . . wird.] am Rand 18 und . . . Nehmen] eine Zeile tiefer mit Umstellungszeichen 18 französischen] franz.

l f Vgl. Monologen 148; edd. Schiele/Μulert 91,15-20 3 f Vgl. Monologen 155; edd. Schiele/Mulert 94,32—34 6 Schleiermacher spielt auf die erregten literarischen Auseinandersetzungen 1799 im sog. Atheismusstreit um Johann Gottlieb Fichte an. 7 Vgl. Herder: Christliche Schriften, Bde 1-3, Riga 1794-1797; Β de 4-5, Leipzig 1798. Schleiermacher spielt hier wohl speziell auf den vierten Band „Vom Geist des Christenthums" an.

Gedanken III

129

44. D e r allgemeinste Begrif von Esprit ist wol Thätigkeit der Fantasie nemlich auf Vorstellungen gerichtet, und das Correlatum dazu ist Sentiment, Thätigkeit der Fantasie auf Stimmung gerichtet. Der Gegensaz zu Esprit ist Jugement, die Thätigkeit mit dem Gegebenen. Gegensaz zu Sentiment ist das Schikliche als Benehmen die Behandlung der Stimmung als eines Gegebnen mit Verstand delicateße?

45. Elemente einer Tragödie. Schiksal kann nichts andres sein als der Widerstreit der Freiheit, und das höchste ist also die Antinomie die in den verschiedenen LebensSphären, dem bürgerlichen häuslichen und persönlichen. Die Art wie diese sich unter einander widerstreiten muß in allen verschiednen Ansichten dargestellt werden von der größten Klarheit die sich des Widerstreits bewußt ist bis zur gemeinsten Verwirrung — die Gemeinheit aber muß siegen. Vater und künftiger Eidam sind in politischen Grundsäzen unter revolutionären Umständen entgegengesezt. Der Vater ist der klarste und gestattet ihm häusliche Freundschaft troz der Feindschaft. Der junge Mensch bewundert dies, und will immer darunter erliegen. Beide haben Freunde | welche verwirrt und parteisüchtig sind und diese bringen 8 die Katastrophe hervor. Das Mädchen ist ohne politischen Sinn und daher immer elegisch; aber nicht sentimental.

46. Kunst ist Darstellung eines Ideals. Ein Ideal ist ein durchgängig nach einer Idee bestimmtes Individuum. Art geht immer auf die Verschiedenheit der F o r m , und so muß auch die Kunst klaßificirt werden nach dem Inbegrif der möglichen Darstellungsarten; das Verhältniß einer Idee zu einer gewißen Art der Darstellung bestirnt nur das Gebiet des schiklichen für jede Kunst.

47. Woher komt aber bei dieser Ansicht der Unterschied der plastischen und musischen Künste? E r geht wol auch eigentlich auf das Gebiet

5 als Benehmen] über der Zeile mit Einfügungszeichen lungsart

24 Darstellung] korr. aus Darstel-

2 0 - 2 5 Vgl. die spätere Fassung: Gedanken VI (Zur Ethik), Nr. 57 (s. KGA 1/5) Vgl. die spätere Fassung: Gedanken VI (Zur Ethik), Nr. 58 (s. KGA 1/5)

26-2

130

Gedanken III

des schiklichen denn man hat ja genug versucht die Skulptur musikalisch und die Musik plastisch zu behandeln.

48. Nach der Moral kann ich eine Vergleichung der moralischen und psychologischen Sprache mehrerer Völker schreiben.

49. Gute Behandlungen einzelner Gegenstände aus dem Gebiet einer Wißenschaft sind nur dann möglich wenn ein System über die ersten Principien derselben herrschend und allgemein klar ist, weil man sonst immer auf die ersten Principien zurükgehn muß. Darum hat uns die Kantische Schule noch keine geliefert.

50. Wenn Abhandlungen welche unter dem Schein einzelner Materien die ersten Principien behandeln dies nur digressorisch thun und nicht heuristisch sind, so taugen sie nichts.

51. Die Zweideutigkeiten in der Lucinde sind als Erinnerungen anzusehn, und solche Erinnerungen müßen stattfinden wenn die Wollust einmal nicht allein stehen soll. Sie finden aber ihre Rechtfertigung nur darin daß Alles an die Lucinde gerichtet ist; in Selbstbetrachtungen wären sie onanitisch, in einer bloßen Rede ans Publikum Lpandemischl.

52. Die Alten brauchen die Poesie niemals als Mittel in der Rhetorik: aber etwa die Rhetorik als Mittel in der Poesie? Ist der tragische Dialog wie

4 psychologischen] psycholog.

19 tragische] trag.

3 Das hier mit Moral bezeichnete Projekt hat Schleiermacher später teilweise in seinem Buch „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre", Berlin 1803 (SW III/1,1 —344) verwirklicht, vgl. Briefwechsel mit Schwarz 274f. 13 Friedrich Schlegel: Lucinde. Ein Roman, Berlin 1799 19 f Schleiermacher bezieht sich wohl auf eine mündliche Äußerung von Ludwig Friedrich Heindorf, mit dem er eng befreundet war und des öfteren Piaton-Lektüre

Gedanken III

131

Heindorf meint rhetorisch? Jede Rolle für sich betrachtet kann wol rhetorisch sein, und muß es gewißermaßen; aber der Dialog als ganzes ist ohne Zweifel immer poetisch.

53. An der eigentlichen Rhetorik ist wol nichts schöne Kunst als die 5 Wolredenheit.

54. Aussöhnung mit dem Schiksal, wie Süvern meint giebt es wol | eigentlich nicht, weil es immer zwei aus verschiednen Principien handelnde 9 Kräfte sind; sondern nur Sieg oder Untergang.

55. Die griechische Tragödie hat offenbar zwei Elemente ein episches 10 und ein lyrisches. Der Dialog ist episch: denn in so fern jeder sich selbst sezt und macht ist er auch nur für sich selbst da. Episch und lyrisch sind sich entgegengesezt wie Realismus und Idealismus.

56. D e r Dialog ist auch der Geschichte nach wirklich aus dem Epischen entstanden.

15

57. Die Narren waren Scherzkünstler und Improvisatoren über Alles. Einwendungen gegen die Allgemeinheit des Scherzes als Behandlungsart

9 griechische] gr.

15 57.] daneben

am Rand S. 7.

betneb (vgl. Briefe ed. Meisner 1,201) 6 Vgl. Süvern: „Doch können wir noch weiter gehn, noch einen höhern Gesichtspunct fassen, von wannen wir tiefer ins Innerste der alten Tragödie blicken, und sehn, wie mehr Aussöhnung, als Darstellung der Verwüstungen des Kampfes ihr letztes Ziel, wie Verherrlichung der Freyheit, nicht des Schicksaals, ihr höchster Gipfel ist. Dieser ist sichtbar in den Handlungen, welche mehrere mit einander verknüpfte schauderhafte Begebenheiten zuletzt in einen schönern Frieden und fröhlichen Ausgang auflösen." (Über Schillers Wallenstein in hinsieht auf griechische Tragödie, Berlin 1800, S. 220f)

132

Gedanken III

sind theils subiectiv: man will nicht über das Scherz gemacht haben was uns Ernst ist — diese heben aber allen Scherz auf; theils objektiv[:] man will allgemeine Regeln bestimmen worüber nicht gescherzt werden soll — diese heben ebenfalls den Scherz als selbstständig auf. Denn was nur innerhalb gewißer Grenzen gedacht werden soll, das wird nur als um eines andern willen, wodurch es begrenzt wird gedacht entweder als Mittel zu einem Zwek oder als Theil eines Ganzen. D e r Scherz ist zu nichts Mittel als nur ein sehr schlechtes, und an nichts Theil als vom Leben überhaupt; nicht einmal, nach heutigen Begriffen von der Komödie. — Was an sich erlaubt ist muß auch als Beruf getrieben werden dürfen weil es nur so zur Vollkommenheit und Virtuosität kommt. Dieser Beruf läßt sich als Zustand eines Menschen vertheidigen. Die Maxime eines solchen Menschen: Alles soll Scherz sein wird nicht als für alle, sondern wie alle Berufsmaximen als für ihn gedacht. Sie schließt das Handeln nicht aus denn der Scherz hat seinen Siz in der Reflexion, das Scherz mit etwas oder Jemand treiben (nemlich handeln oder handeln laßen um die Handlung als nichtig darzustellen) ist schlecht. Sie schließt auch das Philosophiren nicht aus. Denn dieses geht auf die Synthese des Einzelnen mit dem Ganzen, dagegen Jenes Alles der Maxime nur auf die Verbindung des Einzelnen mit dem Einzelnen geht. Beides kann sich durch einander hinziehen und hat es auch wol oft gethan; viele Buffos sind philosophisch und viele Philosophen grenzen an die Buffonerie. Nach der Möglichkeit nun die Nüzlichkeit. Die ehemalige. Die Fürsten nahmen es zu Ernst mit dem Regieren[.] Das sieht man aus der Etikette und aus deren Vereinfachung des Regierens bis zur Unterschrift. Das Volk ist zu ernsthaft. Das sieht man aus der Pedanterei; nimmts auch mit der Kunst zu ernsthaft in Moralität und Illusion. Jezt muß Literatur statt Theaters dienen.

58. Stil bezieht sich eigentlich wol nicht auf den Ausdruk überhaupt, sondern darauf welche Art desselben herrschend denn nur so kann das Wort auf ein ganzes Werk unmittelbar bezogen werden. S. meine Theorie. Aus dieser scheinen vier Arten des Ausdruks hervorzugehn der logische

1 uns] über der Zeile mit Einfügungszeichen Philos.

31 f Vermutlich Bezugnahme

363-390)

auf Schleiermachers

3 allgemeine] allgem.

Abhandlung

„Über

21 Philosophen]

den Stil" (KGΑ

III,

Gedanken

III

133

(Deutlichkeit) progressive (Leichtigkeit) extensive (Lebhaftigkeit) und rhythmische (Wollaut).

59. Casaubonus (de Poes. Satyr, p. 160) scheint jedoch am Ende nur auf eine Stelle im Diogenes Laertius anzunehmen daß die Tetralogie durch 5 alle 4 Bacchische Feste durchgegangen so daß an jedem Bacchischen Feste ein Stük von jedem durfte gegeben werden. Dies würde der Hypothese vom Zusammenhange der Tetralogie sehr im Wege stehn, ist mir aber höchst unwahrscheinlich. Es kommt hernach noch einmal vor P. 211 daß alle Satyrien im Anthe10 sterion gegeben werden mit Berufung auf dieselbe Stelle des Diogenes Laertius.

60. Enthüllung des Systems der Prüderie in einem Brief an eine Schwester. Theorie der LKüßel an ein kleines kokettes Mädchen. Persiflage

2 Wollaut)] Wollaut 4 Diogenes Laertius] Diog. Laert. 4 Tetralogie] Tetralog. 6 Dies] folgt (ist) 7 Tetralogie] Tetralog 9—11 Es . . . Laertius.] am Rand lOf Diogenes Laertius] Diog. Laert.

3 „Quot igitur Athenis Liberalia agitabantur, tot fabulas diversas α tragicis poetis doceri solitas legimus: quarum postrema semper Satyrica erat: reliquae tragoediae verae. atque hoc Graeci dicunt, πλείοσι δράμασιν άγωνίζεσθαι. Liberalia Athenis fuere trina: Διονύσια τά εν Λίμναις, sive τά άρχαϊα, alio nomine Ανθεστήρια dicta, quia mense Anthesterione qui Martio congruit celebrabantur. Διονύσια τά κατ' άστυ, mense Elaphebolione, qui respondet Aprili. Διονύσια τά κατ' άγρούς, sive Λήναια, mense Posideone, qui est Ianuarius. multa de his trinis Liberalibus inprimo De emendatione temporum disputat Iosephus Scaliger, litterarum το μέγα αϋχημα, et quod omnes uno ore fatentur boni, virtute atque eruditione iuxta admirandus: indepetant studiosi quae ad rem faciunt. Sed praeter tnna haec Liberalia fuerunt et aliae solennitates Baccho simul cum aliis diis ac deabus sacrae velut Panathenaea, sive Quinquatrus: quarum bonos non soli Minervae proprius, verum et aliis diis: in quibus fuit Liber pater: quod vel ex eo potest constare, quia etiam fabulae tragicae Panathenaeis docebantur: nemo autem dubitat, earum solennitatum proprios fuisse ludos scenios, quae vel προηγουμένως, vel κατ' έπακολούθημα ad Bacchi honorem referrentur. Diogenes Laertius in Piatone: θρατύλος δέ φησι και κατά την τραγικήν τετραλογίαν έκόοϋναι άυτον τοις Διαλόγοις οίον εκείνοι τέτρασι δράμασιν ήγωνίζοντο, Διόνυσιοις, Ληναίοις, Παναθηναίοις, Χύτροις ών τό τέταρτον ηνΣατνρικόν τά δέ τέτταρα δράματα έκαλαϊτο τετραλογία." (Casaubonus: De Satyrica poesi 160f) 9 „Satyrica autem dramata mense Anthesterione solita doceri ex Diogene Laertio docebamus superiore capite in quem mensem veris principium incidere, quando virescere agri incipiunt, ipsum nomen Ανθεστηριώνος satis superque arguit." (Casaubonus: De Satyrica poesi 211) 12—5 Aphorismus Nr. 60 und alle dazugehörigen Abschnitte sind

134

Gedanken

III

der gemeinen Urtheile und Späße nebst dem über die Ungarn an einen Freund. Statt der Vorrede auch ein Brief. Ein auch ernsthafter an einen alten Mann der an der Luzinde die traurigen Folgen der Emancipation gezeigt hatte. Ernsthaft an eine Freundin über den Scherz mit der Liebe. An einen Freund über die Theorie der Ehe.

[60 a.] ad 60. Parallelisirung der Form in der Lucinde mit dem Stoff. Die Form ist nemlich auch unzüchtig. Gnade und die Freundschaft sind Nuditäten.

[60b.] ad 60. Ueber die Bornirtheit der l.iebe wird wahrscheinlich ein eigener Brief werden. Oder es wird eins mit den Betrachtungen über die Individualität in der Lucinde. Diese kann antresehen werden als VeranlaΟ ßung zu dem Haschen nach Personalitäten.

61. Ein Mährchen ist wol eine transitorische Schöpfung einer Mythologie bloß für einen bestimmten Zwek und Moment. Sind die einzelnen Fabeln von Ovid Mährchen? Ist die ganze so lange bestehende alte Mythologie aus Mährchen entstanden wie die neue?

[62.] Da im Chor der Alten die Reflexion ruht, so sind wol alle reflectirenden Monologe nur modern — überhaupt wol Monologe. Denn was sich dazu qualificirt war Dialog mit dem Chor.

[63.] ad 60. Die antike Vergötterung der Wollust gehört zur zweiten Religionsstuffe und mußte also wie jede einseitige Cultur muß wieder un-

6 ad 60.] am Rand am Rand

9 ad 60.] am Rand

\7i reflectirenden] reflectir.

20 ad 60.]

Notizen Schleiermachers zu seinem anonym publizierten Buch „ Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde", Lübeck /Leipzig 1800.

Gedanken III

135

tergehn um mit neuen Elementen geschwängert zu werden um der höhern nemlich der systematischen Plaz zu machen.

[64.] Ein Roman wo die Weltansicht unter mehrere Menschen vertheilt ist die unabhängig voneinander sind ist dem Grunde nach episch; wo sie ganz in Einem ist für den die andern Anregung sind ist lyrisch.

[65.] Wie braucht Plato αγαπαν und φιλειν. Im Lysis wird beides unterschieden. αγαπαν ist dort immer terminus medius um zu zeigen daß ohne Bedürfniß kein φιλειν Statt findet. Man muß auch die andere Bedeutung von αγαπαν „zufrieden sein mit etwas" dazunehmen. Es scheint beinahe eigentlich auf die Anhänglichkeit zu gehn. Vielleicht ist αγαπαν nur passiv, das Wohlleidenmögen, φιλειν aber activ, das Streben.

[66.] Alle Vier Haupttugenden gehören wol eigentlich zur Bildung des Menschen zur Gattung. Vielleicht die einzige Klugheit ausgenommen und darüber muß noch Aristoteles entscheiden.

[67.] ad 60. In den Brief über die Prüderie muß ein polemisches G e spräch über den Begrif des Anständigen eingewebt werden.

11 f Vielleicht . . . Streben.] am Rand

16 ad 60.] am Rand

6 Piaton: Lysis 203a-223b, Opera 5,209-252; Werke 1,399-451 7-10 Schleiermachers Übersetzung von αγαπαν im Lysis: „anhängen" (Werke 1,431) und „Anhänglichkeit" (Werke 1,429) 1 3 - 1 5 Vgl. die spätere Fassung: Gedanken VI (Zur Ethik), Nr. 60 (s. KGA 1/5)

Gedanken

136

III

[68.] Für die σωφροσύνη ist der Hauptsiz im Charmides. Dort scheint es beinahe nicht anders als durch Würde übersezt werden zu können. Besonnenheit.

[69.] Das Anständige als äußerlicher Schein des sittlichen in Dingen die eigentlich nicht sittlich sind. Dann geht die Sittlichkeit auf Vernichtung des Anständigen. Als positive Sittlichkeit. Dann muß man wißen können was gemacht wird. Als Hergebrachtes: dann ist das Anständige eigentlich Nachahmung des Unanständigen.

[70.] Kants ganze Philosophie ist wol vielleicht architektonische Polemik und Alles Andere sehr unphilosophisch.

[71.] Wenn ich auch Gott als moralische Fiction behandle, so geschieht es doch immer nicht in dem Sinne in welchem Kant ihn als logische Fiction behandelt.

[72.] In einem Dialog sollte einmal recht persiflirt werden wie die Leute von einzelnen Seelenvermögen reden ζ. E. Kant die reine Vernunft schmeichelt sich. Erst müßte aber eine ganze Parthie aus Kant Reinhold perge gesammelt werden.

[73.] κατορθωτικος εστ kommt schon beim Aristoteles Eth. 11,3 vor.

11 moralische] über (logische)

1 Piaton: Charmides 153a-176d, Opera 5,103-156; Werke 1,287-349 1 - 3 Schleiermachers Übersetzung von σωφροσύνη im Charmides: „Besonnenheit" (Werke 1,299 u. ö.) 4 - 8 Vgl. die spätere Fassung: Gedanken VI (Zur Ethik), Nr. 61 (s. KGA 1/5) 12 f Vgl. Kant: KrV Β 595-670; Ak 3,383-426 15f Vgl. ζ. B. Kant: KrV Β 740; Ak 3,468,27-29 18 Aristoteles: Ethica Nicomachea 1104 b,33, ed. Turnebus 66; ed. Bywater 27

Gedanken III

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[74.] Im Griechischen unterscheidet Aristoteles τον εν τη α φ ο β ί α und τον εν τ ω θαρρειν υπερβάλλοντα Lund so auch in der! ελλειψις. Für die lezten haben wir furchtsam als | das in Beziehung auf das passive, feigherzig in Beziehung auf das active. Für die υ π ε ρ β ο λ ή müssen wir dummdreist vielleicht erst stempeln.

[75.] ειρων muß doch eine höchst unbestimmte Bedeutung gehabt haben und macht schwer hier den rechten Begrif herauszufinden. Man vergleiche wie es in Piatos Soph, und Aristoteles Ethc. 11,7 gebraucht wird.

[76.] Wenn Gott in der Schöpfungsgeschichte sagt[:] laßt uns ein Bild machen das uns gleich sei so muß man nur denken, daß er dies zu der eben geschafnen Erde sagt, und es ist ein herrlicher sehr sinnvoller Mythos.

[77]. γευσις scheint Aristoteles Ethic. 3,10 nur brauchen zu wollen vom Geschmak insofern dadurch Objekte unterschieden werden, wie von dem Weinkosten; dem genießenden sezt er Lweit mehrl die άφή.

[78.] ακολασία wurde wie unsere Ungezogenheit auch von Kindern gebraucht[.] S. Aristoteles Ethic. III 12.

4 Für] korr. aus Zu

8 Piatos] Plat

If Aristoteles: Etbica Nicomacbea 1107 b,1—4, ed. Turnebus 81; ed. Bywater 34 8 Piaton: Sopbistes 268a.c., Opera 2,305 f ; Werke 6,398.400 8 Aristoteles: Etbica Nicomacbea 1008a, 23, ed. Turnebus 86; ed. Bywater 36 9 f Gen 1,26 12—14 Aristoteles: Etbica Nicomacbea 1118a,26—32, ed. Turnebus Iii; ed. Bywater61 16 Aristoteles: Etbica Nicomacbea 1119a, 33 f , ed. Turnebus 157; ed. Bywater 64

138

Gedanken

III

[79.] Hippel ist mit seinem Talent zur Musik Biogr. S. 139. ein seltnes Beispiel wie man organisch geschikt sein kann zu einer Kunst ohne allen innern Sinn für sie.

[80.] Biogr. S. 141 sqs. Hippel entschuldigt die Satyre bloß moralisch 5 ohne den Scherz als etwas Wesentliches zu sezen. Ich wundre mich nicht daß seine transcendentale Menschenkentniß nicht so weit ging, aber daß er nicht ein anderes Gefühl von der Sache gehabt haben sollte begreife ich nicht. Vielleicht finden sich bessere Erklärungen darüber.wo er sie nicht geben will.

10

[81.] π ρ ο α γ ω γ ε ι α muß auch die Verkupplung eines Buben oder Mädchens an einen dritten heißenf.] S. Aristoteles Eth. Nie. V,2 wo sie ein συναλλαγμα ακουσιον genannt wird. Bei Plato im Theaitet scheint sie nur ein εκουσιον zu sein.

[82.] ό τ α ν τ ο ύ δ ω ρ π ν ί γ η τ ι δ ε ι ε π ι π ι ν ε ι ν Aristoteles Eth. Nils com. VII,2 ist gewiß ganz dasselbe Sprichwort wie das im Neuen Testament vom Salz.

4 Biogr. S. 141 sqs.] am Rand

15f Neuen Testament] N. Test.

1 „Ich spielte Ciavier und lernte auch Flöte, weil der König Meister auf diesem Instrumente war, und nebenbey spielte ich Instrumente, wie sie mir vorkamen. Ich hatte ein so außerordentliches Genie zur Musik, daß ich alles, was ich zu singen vermochte, auf allen Instrumenten, sobald die Handgriffe mir bekannt waren, auszudrücken und zu spielen im Stande war. Dieß Naturgeschenk machte, daß ich es nie weit in der Musik gebracht habe; dazu kam, daß ich die Musik für eine, fast allen andern Gegenständen des menschlichen Berufs subordinate Kunst, und also nie für wichtig genug ansah, um ihr große Zeitopfer zu bringen." (Hippel: Biographie. Zum Theil von ihm selbst verfaßt, Gotha 1801, S. 139) 4 Hippel: Biographie 141 — 144 Iii Aristoteles: Ethica Nicomachea 1131 a,5—7, ed. Turnebus 236; ed. Bywater94 12 f Piaton: Theaitetos 150a, Opera 2,64; Werke 6,26 14 f Aristoteles: Ethica Nicomachea 1146a,35 ed. Turnebus 337f; ed. Bywater 133 15f „Wenn aber das Salz seine Schärfe verliert, womit soll es salzig gemacht werden ?" (Mt 5,13; vgl. Mk 9,50 und Lk 14,34)

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139

[83.] Aristoteles Eth. VIII, 4. ο ι γ α ρ κακοί ου χαιρουσιν έ α υ τ ο ι ς [ . ] Ein recht schlagendes Beispiel wie εαυτοις für sibi invicem gebraucht wird.

1 Aristoteles: Ethica Nicomachea 1157a, 19, ed. Turnebus 408; ed. Bywater 161

Fragmente (Athenaeum. Eine Zeitschnft von August Wilhelm Schlegel und Fnednch Schlegel, Band 1, Zweites Stück, Berlin 1798)

[Der Cyniker dürfte eigentlich gar keine Sachen haben: denn alle Sa- 11 chen die ein Mensch hat, haben ihn doch in gewissen Sinne wieder.] Es Nr. 35 kömmt also | nur darauf an, die Sachen so zu haben, als ob man sie nicht 12 hätte. Noch künstlicher und noch cynischer ists aber, die Sachen so nicht zu haben, als ob man sie hätte.

Die Geduld, sagte S., verhält sich zu Chamforts etat d'epigramme wie 12 die Religion zur Philosophie. Nr. 38

Leibniz war so sehr Moderantist, daß er auch das Ich, und Nicht- 75 Ich, wie Katholizismus und Protestantismus verschmelzen wollte, und Nr. 276 10 Thun und Leiden nur dem Grade nach verschieden hielt. Das heißt die Harmonie chargiren, und die Billigkeit bis zur Karikatur treiben.

l f [Der Cyniker . . . wieder.]] Dieser Satz stammt von Friedrich Schlegel. für Schleiermacher

6 S.] Abk.

6f Nahezu wörtlich in Gedanken I, Nr. 21 (oben 12,1 f) 6 Der französische Schriftsteller Sebastien Roch Nicolas, genannt Chamfort (1741 — 1794) war seit 1781 Mitglied der Academie Frangaise, nahm begeisterten Anteil an der Revolution (Sekretär des Jakobinerklubs), lehnte aber in satirischen Angriffen die diktatorische "Wende unter Robespierre ab und endete sein Leben durch Freitod, indem er an den Wunden, die er sich selbst bei seiner Verhaftung beigebracht hatte, sechs Monate später im Gefängnis starb. Die von seinem Freund P. L. de Ginguene 1795 herausgegebenen „Maximes, caracteres et anecdotes" (CEuvres, Bd 4) sind scharfe zeit- und sozialkritische Beobachtungen eines misanthropisch-pessimistischen Moralisten. 8 - 1 1 Vgl. Leibniz I, Nr. 36 und 41 (oben 85,14-17 und 87,5-7)

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Leibnizens Methode der Jurisprudenz ist ihrem Zwecke nach eine all- 76 gemeine Ausstellung seiner Plane. Er hatte es auf alles angelegt: Praktiker, Nr. 279 Kanzellist, Professor, Hofmeister. Das Eigne davon ist bloße Kombinazion des juristischen Stoffs mit der theologischen Form. Die Theodicee ist im Gegentheil eine Advokatenschrift in Sachen Gottes contra Bayle und Konsorten.

Man hält es für ein Unglück, daß es kein bestimmtes Gefühl der physi- Nr. 280 sehen Gesundheit giebt, wohl aber der Krankheit. Wie weise diese Veranstaltung der Natur sey, sieht man aus dem Zustande der Wissenschaften, wo der Fall umgekehrt ist, und wo ein Wassersüchtiger, Hektischer und Gelbsüchtiger, wenn er sich mit einem Gesunden vergleicht, glaubt, es gäbe zwischen ihnen keinen andern Unterschied als den zwischen Fett und Mager oder Brünnett und Blondin.

Nur der, welcher sich selbst setzt, kann andre setzen. Eben so hat nur 93 der, welcher sich selbst annihilirt, ein Recht jeden andern zu annihiliren. Nr. 328

Es ist kindisch, den Leuten das einreden zu wollen, wofür sie keinen Nr. 329 Sinn haben. Thut als ob sie nicht da wären, und macht ihnen vor, was sie sehen lernen sollen. Dieß ist zugleich höchst weltbürgerlich und höchst sittlich; sehr höflich und sehr cynisch.

Viele haben Geist oder Gemüth oder Fantasie. Aber weil es für sich Nr. 330 selbst nur in flüchtiger dunstförmiger Gestalt erscheinen könnte, hat die Natur Sorge getragen, es durch irgend einen gemeinen erdigen Stoff chemisch zu binden. Dieses Gebundne zu entdecken ist die beständige Aufga-

1 - 6 Nahezu wörtlich in Leibniz I, Nr. 60 (oben 93,6-9) und Nr. 39 (oben 86,12f) 4 Leibniz: Essais de Theodicee, 2 Bde, Amsterdam 1747 7—13 Wörtlich in Leibniz I, Nr. 19 (oben 81,13-82,2) 14f Wörtlich in Leibniz I, Nr. 63 (oben 94,1-3) 1 6 - 1 9 Vgl. Leibniz I, Nr. 64 (oben 94,4-9) 2 0 - 5 Wörtlich in Leibniz I, Nr. 66 (oben 95,4-12)

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be des höchsten Wohlwollens, aber es erfodert viel Übung in der intellektuellen Chemie. Wer für jedes, was in der menschlichen Natur schön ist, ein untrügliches Reagens zu entdecken wüßte, würde uns eine neue Welt zeigen. | Wie in der Vision des Propheten würde auf einmal das unendliche 94 Feld zerstückter Menschenglieder lebendig werden.

Es giebt Menschen, die kein Interesse an sich selbst nehmen. Einige, Nr. 331 weil sie überhaupt keines, auch nicht an andern, fähig sind. Andere, weil sie ihres gleichmäßigen Fortschreitens sicher sind, und weil ihre selbstbildende Kraft keiner reflektirenden Theilnahme mehr bedarf, weil hier Freyheit in allen ihren höchsten und schönsten Aeußerungen gleichsam Natur geworden ist. So berührt sich auch hier in der Erscheinung das Niedrigste und das Erhabenste.

Gott ist nach Leibnitz wirklich, weil nichts seine Möglichkeit verhin- Nr. 333 dert. In dieser Rücksicht ist Leibnitzens Philosophie recht gottähnlich.

Dafür ist das Zeitalter noch nicht reif, sagen sie immer. Soll es deswe- Nr. 334 gen unterbleiben? — Was noch nicht seyn kann, muß wenigstens immer im Werden bleiben.

Wenn Welt der Inbegriff desjenigen ist, was sich dynamisch afficirt, so Nr. 335 wird es der gebildete | Mensch wohl nie dahin bringen, nur in einer Welt zu 95 leben. Die eine müßte die beste seyn, die man nur suchen soll, nicht finden kann. Aber der Glaube an sie ist etwas so heiliges, wie der Glaube an die Einzigkeit in der Freundschaft und Liebe.

4 Vgl. Ez 37,1-14 6 - 1 2 Wörtlich in Leibniz I, Nr. 67 (oben 9ί,13-19) Μ Nahezu wörtlich in Leibniz I, Nr. 31 (oben 84,9f) 15—17 Wörtlich in Leibniz I, Nr. 65 (oben 95,1-3) 18-22 Nahezu wörtlich in Leibniz I, Nr. 68 (oben 95,20-23)

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W e r m i t seiner Manier, kleine Silhouetten v o n sich selbst in verschied- Nr. 336 nen Stellungen aus freyer H a n d auszuschneiden u n d u m h e r z u b i e t e n , eine Gesellschaft unterhalten k a n n , o d e r auf den ersten W i n k fertig ist, den Kastellan v o n sich selbst z u m a c h e n , u n d was in ihm ist jedem, der an seiner T h ü r e stehn bleibt, zu zeigen wie ein L a n d e d e l m a n n die verschrobenen A n lagen seines englischen Gartens, der heißt ein o f f n e r M e n s c h . F ü r die, welche auch in die Gesellschaft ihre Trägheit mitbringen u n d beyläufig gern was sie u m sich sehn m u s t e r n u n d klassifiziren m ö c h t e n , ist dies freylich eine b e q u e m e Eigenschaft. A u c h giebt es M e n s c h e n genug, die dieser F o d e r u n g entsprechen, u n d durchaus in d e m Styl eines Gartenhauses gebaut sind, w o jedes Fenster eine T h ü r ist, u n d jedermann Platz zu n e h m e n genöthigt w i r d , in der V o r a u s s e t z u n g , daß er nicht m e h r zu f i n d e n erwarte, als was ein D i e b in einer N a c h t ausräumen k ö n n t e , o h n e sich sonderlich z u bereichern. Ein eigentlicher M e n s c h , der etwas m e h r in sich hat, als diesen ärmlichen H a u s b e d a r f , w i r d sich freylich nicht so preis geben, da es o h n e dieß vergeblich wäre, ihn aus Selbstbeschreibungen, auch aus den besten u n d geistvollsten, k e n n e n lernen zu w o l l e n . V o n einem Karakter giebt es keine an-|dre E r k e n n t n i ß als A n s c h a u u n g . I h r m ü ß t selbst den S t a n d p u n k t 96 finden, aus d e m grade ihr das G a n z e ü b e r s e h n k ö n n t , u n d m ü ß t verstehn aus den Erscheinungen das Innere nach festen Gesetzen u n d sichern A h n dungen zu k o n s t r u i r e n . F ü r einen reellen Z w e c k ist also jenes Selbsterklären überflüßig. U n d O f f e n h e i t in diesem Sinne zu f o d e r n , ist eben so anm a ß e n d als unverständig. W e r d ü r f t e sich selbst zerlegen, wie das O b j e k t einer anatomischen Vorlesung, das Einzelne aus der V e r b i n d u n g , in der es allein schön u n d verständlich ist, herausreißen, u n d auch das Feinste u n d Zarteste mit W o r t e n gleichsam a u s s p r ü z e n , daß es z u r Ungestaltheit ausged e h n t wird? D a s innere Leben verschwindet u n t e r dieser Behandlung; sie ist der jämmerlichste Selbstmord. D e r M e n s c h gebe sich selbst, wie ein K u n s t w e r k , welches im F r e y e n ausgestellt J e d e m den Z u t r i t t verstattet, u n d d o c h n u r v o n denen genossen u n d verstanden w i r d , die Sinn u n d Studium mitbringen. E r stehe f r e y u n d bewege sich seiner N a t u r gemäß, o h n e zu fragen, w e r ihn ansieht u n d wie. Diese ruhige U n b e f a n g e n h e i t verdient eigentlich den N a m e n der O f f e n h e i t allein: d e n n o f f e n ist, w o hinein jeder gehn k a n n , o h n e daß etwas gewaltthätiges n ö t h i g w ä r e ; versteht sich, daß er auch das, was nicht N i e t - u n d Nagelfest ist, mit A c h t u n g behandle. M e h r gehört nicht zu der Gastfreyheit die der M e n s c h innerhalb seines G e m ü t h s beweisen m u ß : alles übrige ist n u r in den Ergießungen u n d den Genüssen einer vertrauten F r e u n d s c h a f t nicht an der Unrechten Stelle. U m diesen engeren Kreis erst zu f i n d e n , be-|darf es freylich einer etwas z u v o r k o m - 97 m e n d e r n Mittheilung, einer s c h a m h a f t e n , schüchtern versuchenden O f f e n -

1 - 1 4 8 , 1 7 Vgl. Gedanken II, Nr. 3 (oben

107,16f)

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heit, die hie und da durch einen kleinen Druck ihr innerstes Daseyn mit seinen Springfedern errathen läßt, und ihre Tendenz zu Liebe und Freundschaft offenbart. Sie ist aber kein permanenter Zustand, sondern wie eine Wünschelruthe schlägt sie nur da an, wo der Instinkt der Freundschaft seinen Schatz zu heben hoft. Uber diese schmale Linie des sittlich Schönen werden liebenswürdige Seelen nur durch Mißverstand zu beyden Seiten etwas hinausgeführt. Durch mißlungene Versuche dieses schönen Instinkts zu jener interessanten Verschlossenheit, die sich nicht verstellen, sondern nur verbergen will, und die jeden, der das Vortreffliche zu ahnden weiß, so zauberisch intriguirt; durch sanguinische Hoffnungen und durch eine Reizbarkeit, welche auch von der geringsten Affinität in Bewegung gesetzt wird, zu jener naiven Herzlichkeit, welche, wie die Freymaurer, meynt, daß wenigstens der erste Grad niemals zu Vielen gegeben werden kann. Diese Erscheinungen sind erfreulich und interessant, weil sie noch an der Gränze des Besten liegen, und nur der Uneingeweihte wird sie mit Manieren verwechseln, die aus reiner Unfähigkeit hervorgehn. So wie man ein nicht verstandnes Buch lieber verläugnet, so sind viele nur deswegen verschlossen, weil sie den Fragen über sich selbst ausweichen wollen; und wie Manche nicht für sich lesen können, ohne zugleich die Worte hören zu lassen, so können Manche sich nicht anschaun, ohne immer zu sagen, was sie sehn. Diese Verschlossenheit | aber ist ängstlich und kindisch verlegen, und diese nur scheinbare Offenheit kümmert sich nicht, ob Jemand da ist und wer, sondern strömt ihren Stoff aus ins Weite und nach allen Richtungen wie eine elektrische Spitze. Eine andre langweilige Offenheit, der mehr mit Hörern gedient ist, ist die der Enthusiasten die aus reinem Eifer für das Reich Gottes sich selbst vortragen, erläutern und übersetzen, weil sie glauben NormalSeelen zu seyn, an denen alles lehrreich und erbaulich ist. Heinrich Stilling mag leicht der vollkommenste unter diesen seyn; und wie ist er nun ganz herunter? Mit dem was wir nur haben, können wir uns ohne so große Gefahr viel freygebiger zeigen. Erfahrungen und Erkenntnisse deren Erwerbung von lokalen und temporellen Verhältnissen abhängt, darf keiner nur für sich haben wollen; sie müßen für jeden rechtlichen Mann

2 Springfedern errathen] Spring federnerrathen an

12 Freymaurer,] Freymaurer

31 von]

28 In seinen autobiographischen Schriften „Henrich Stillings Jugend." (ed. J. W. Goethe, Berlin/Leipzig 1777), ,,Henrich Stillings Jünglings-Jahre" und ,,Henrich Stillings Wanderschaft" (beide Berlin/Leipzig 1778) sowie „Henrich Stillings häusliches Leben" (Berlin/Leipzig 1789) schilderte der vom Siegerländer Pietismus geprägte Johann Heinrich Jung (1740 — 1817), der 1762 in Solingen ein Bekehrungserlebnis hatte und sich später entsprechend seiner Frömmigkeit „Stilling" nannte, seine Lebensgeschichte vom Bauemjungen zum Professor als Beispiel für die speziell wirksame und in alle Einzelheiten eingreifende göttliche Vorsehung.

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immer bereit liegen. Es giebt freylich eine nicht eben beneidenswerthe Art, auch Meinungen, Gefühle und Grundsätze nur so zu haben, und mit wem es so steht, der hat natürlich für seine unbedeutende Offenheit einen weit größern Spielraum. Dagegen sind diejenigen sehr übel daran, bey denen Ei5 genthümlichkeit des Sinnes und Karakters überall ins Spiel kommt. Ihnen muß man erlauben, auch mit dem was andren nur lose anzuhängen pflegt zurückhaltender zu seyn, bis vollendete Kenntniß ihrer selbst und der andern ihnen den sichern Takt giebt, die Sache, worauf es den Leuten allein ankommt von ihrer individuellen Ansicht durchaus zu trennen und zu je10 dem Stoff die ihnen fremde, Jenen aber so erwünschte | gemeine Form zu 99 finden. So können Notizen und Urtheile mitgetheilt werden, ohne auf Ideen hinzudeuten und Empfindungen zu profaniren; und die Heiligkeit des Gemüths kann bewahrt werden, ohne irgend einem zu versagen, was ihm auch nur entfernt gebührt. Wer es dahin gebracht hätte, könnte für 15 jeden offen seyn, nach dem Maß, welches ihm zukommt. Jeder würde glauben, ihn zu haben und zu kennen, und nur der, der ihm gleich wäre, oder dem er es gäbe, würde ihn wirklich besitzen.

Arrogant ist, wer Sinn und Karakter zugleich hat, und sich dann und Nr. 337 wann merken läßt, daß diese Verbindung gut und nützlich sey. Wer beydes 20 auch von den Weibern fodert, ist ein Weiberfeind.

Nur die äußerlich bildende und schaffende Kraft des Menschen ist ver- Nr. 338 änderlich und hat ihre Jahreszeiten. Verändrung ist nur ein Wort für die physische Welt. Das Ich verliert nichts, und in ihm geht nichts unter; es wohnt mit allem, was ihm angehört, seinen Gedanken und Gefühlen, in der 25 Burgfreyheit der Unvergänglichkeit. Verloren gehn kann nur das, was bald hierhin bald dorthin gelegt wird. Im Ich bildet sich alles organisch, und alles hat seine Stelle. Was du verlieren kannst, hat dir noch nie angehört. Das gilt bis auf einzelne Gedanken.

10 Stoff] Stoff,

1 8 - 2 0 Wörtlich in Gedanken II, Nr. 5 (oben 108,9-11) Gedanken II, Nr. 7 (oben 108,17-109,3)

2 1 - 2 8 Nahezu wörtlich in

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Was oft Liebe genannt wird, ist nur eine eigne Art von Magnetismus. 100 Es fängt an mit einem beschwerlich kitzelnden en rapport Setzen, besteht in Nr. 340 einer Desorganisazion und endigt mit einem ekelhaften Hellsehen und viel Ermattung. Gewöhnlich ist auch einer dabey nüchtern.

Wer einen höheren Gesichtspunkt für sich selbst gefunden hat, als sein Nr. 341 äußeres Daseyn, kann auf einzelne Momente die Welt aus sich entfernen. So werden diejenigen, die sich selbst noch nicht gefunden haben, nur auf einzelne Momente wie durch einen Zauber in die Welt hineingerückt, ob sie sich etwa finden möchten.

Die Duldung hat keinen andern Gegenstand als das Vernichtende. 102 Wer nichts vernichten will, bedarf gar nicht geduldet zu werden; wer alles Nr.349 vernichten will, soll nicht geduldet werden. In dem was zwischen beyden liegt, hat diese Gesinnung ihren ganz freyen Spielraum. Denn wenn man nicht intolerant seyn dürfte, wäre die Toleranz nichts.

Keine Poesie, keine Wirklichkeit. So wie es trotz aller Sinne ohne Fan- Nr. 350 tasie keine Außenwelt giebt, so | auch mit allem Sinn ohne Gemüth keine 103 Geisterwelt. Wer nur Sinn hat, sieht keinen Menschen, sondern bloß Menschliches: dem Zauberstabe des Gemüths allein thut sich alles auf. Es setzt Menschen und ergreift sie; es schaut an wie das Auge ohne sich seiner mathematischen Operazion bewußt zu seyn.

Hast du je den ganzen Umfang eines Andern mit allen seinen Uneben- Nr. 351 heiten berühren können, ohne ihm Schmerzen zu machen? Ihr braucht

1 - 4 Wörtlich in Gedanken II, Nr. 1 (oben 107,1-4) 5 - 9 Wörtlich in Gedanken II, Nr. 6 (oben 108,12-16) 1 0 - 1 4 Wörtlich in Gedanken II, Nr. 12 (oben 110,4-8) 15-20 Nahezu wörtlich in Gedanken II, Nr. 8 (oben 109,4—9) 21 — 1 Wörtlich in Gedanken II, Nr. 9 (oben 109,10-13)

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beyde keinen weitern Beweis zu führen, daß ihr gebildete Menschen seyd.

Es ist eine Dichtung der Geschichtschreiber der Natur, daß ihre plasti- Nr. 352 sehen Kräfte lange in vergeblichen Anstrengungen gearbeitet, und nachdem sie sich in Formen erschöpft hatten, die kein dauerndes Leben haben konn5 ten, noch viele andre erzeugt worden wären, die zwar lebten, aber untergehn mußten, weil es ihnen an der Kraft fehlte sich fortzupflanzen. Die sich selbst bildende Kraft der Menschheit steht noch auf dieser Stufe. Wenige leben, und die meisten unter diesen haben nur ein vergängliches Daseyn. Wenn sie ihr Ich in einem glücklichen Moment gefunden haben, so fehlt es 10 ihnen doch an der Kraft es aus sich selbst wieder zu erzeugen. Der T o d ist ihr gewöhnlicher Zustand, und wenn sie einmal leben, glauben sie in eine andre Welt entzückt zu seyn. |

Jene Geschichte von einem Franzosen der alten Zeit, welcher seine 104 Adelszeichen den Gerichten übergab, um sie wieder zu fodern, wenn er Nr. 353 15 durch den Handel einiges Vermögen erlangt haben würde, ist eine Allegorie auf die Bescheidenheit. Wer den Ruhm dieser beliebten Tugend haben will, muß es mit seinem innern Adel eben so machen. E r gebe ihn der gemeinen Meynung ad depositum und erwerbe sich dadurch ein Recht ihn wieder zu fodern, daß er mit Glück und Fleiß einen Spedizionshandel treibt mit frem20 den Verdiensten, Talenten und Einfällen, feinem und Mittelgut, wie es jeder verlangt.

W e r Liberalität und Rigorismus verbinden wollte, bey dem müßte je- Nr. 354 ne etwas mehr seyn als Selbstverläugnung, und dieser etwas mehr als Einseitigkeit. Sollte das aber wohl erlaubt seyn?

2 - 1 2 Wörtlich in Gedanken II, Nr. 10 (oben 109,14-24). Vgl. Gedanken I, Nr. 47 (oben 17,1 f) 13-21 Nahezu wörtlich in Gedanken II, Nr. 4 (oben 108,1-8). Vgl. Gedanken I, Nr. 54 (oben 18,3-5) 22-24 Wörtlich in Gedanken II, Nr. 11 (oben 110,1-3)

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Jämmerlich ist freylich jene praktische Philosophie der Franzosen und Nr. 355 Engländer, von denen man meynt, sie wüßten so gut, was der Mensch sey, unerachtet sie nicht darüber spekulirten, was er seyn solle. Jede organische Natur hat ihre Regel, ihr Sollen; und wer darum nicht weiß, wie kann der 5 sie kennen? Woher nehmen sie denn den Eintheilungsgrund ihrer naturhistorischen Beschreibungen und wonach messen sie den Menschen? Eben so gut sind sie aber doch als jene, die mit dem Sollen anfangen und endigen. Diese wissen nicht, daß der sittliche Mensch aus eigner Kraft sich um seine Axe frey bewegt. Sie haben | den Punkt außer der Erde gefunden, den nur 105 10 ein Mathematiker suchen wollen kann, aber die Erde selbst verloren. U m zu sagen, was der Mensch soll, muß man einer seyn, und es nebenbey auch wissen.

Die Welt kennen, heißt wissen, daß man nicht viel auf derselben be- Nr. 356 deutet, glauben, daß kein philosophischer Traum darin realisirt werden 15 kann, und hoffen, daß sie nie anders werden wird, höchstens nur etwas dünner.

Leibniz bedient sich einmal, indem er das Wesen und Thun einer M o - Nr. 358 20 nade beschreibt, des merkwürdigen Ausdrucks: Cela peut aller jusqu'au sentiment. Dieß möchte man auf ihn selbst anwenden. Wenn jemand die Physik universeller macht, sie als ein Stück Mathematik und diese als ein Charadenspiel behandelt, und dann sieht daß er die Theologie dazu nehmen muß, deren Geheimnisse seinen diplomatischen | und deren verwickelte 106 25 Streitfragen seinen chirurgischen Sinn anlocken: cela peut aller jusqu'a la philosophie, wenn er noch so viel Instinkt hat als Leibniz. Aber eine solche Philosophie wird doch immer nur ein konfuses, unvollständiges Etwas bleiben, wie der Urstoff nach Leibniz seyn soll, der nach Art der Genies die Form seines Innern einzelnen Gegenständen der Außenwelt anzudichten 30 pflegt.

1 - 1 2 Nahezu wörtlich in Gedanken II, Nr. 2 (oben 107,5-15) 1 3 - 1 6 Wörtlich m Gedanken II, Nr. 13 (oben 110,9-12) 1 7 - 2 8 Vgl. Leibniz I, Nr. 1 (oben 77,4-6), Nr. 30 (oben 84,6-8) und Nr. 53 (oben 91,7-9) 18f Leibniz: Opera 2/1,33; Schriften 6,599

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Leibniz sieht die Existenz an wie eine Hofcharge, die man zu Lehn Nr. 361 haben muß. Sein Gott ist nicht | nur Lehnsherr der Existenz, sondern er 107 besitzt auch als Regale allein Freyheit, Harmonie, synthetisches Vermögen. Ein fruchtbarer Beyschlaf ist die Expedizion eines Adelsdiploms für eine 5 schlummernde Monade aus der göttlichen geheimen Kanzley.

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Die Fertigkeit, zu einem gegebnen Zweck die Mittel zu finden, welche Nr. 362 ihn, ohne Rücksicht auf etwas anders zu nehmen, am vollkommensten erreichen, und die, sie so zu wählen, daß nicht außer ihrer Beziehung auf den gegebnen Zweck noch etwas anders daraus erfolge, was entweder einen andern von unsern Zwecken hintertreibt, oder irgend einen Gegenstand für die Zukunft von unsern Bestrebungen ausschließt, sind sehr unterschiedene Talente, obgleich die Sprache für beyde nur das Wort Klugheit darbietet. Man sollte es nicht an jeden verschwenden, der sich nur in den gemeinsten Fällen des Schicklichen zu bemächtigen weiß, oder der sich durch kleinliche Selbstbeobachtung eine gewisse Menschenkenntniß erworben hat, die weder etwas schweres noch etwas rühmliches ist. Man denkt sich unter Klugheit doch etwas bedeutendes und wichtiges, und das Talent aus einer Mustercharte von Mitteln die zweckmäßigsten auszuwählen ist etwas so geringfügiges, daß auch der gemeinste Verstand dazu hinreicht, und daß kaum etwas anders als leidenschaftliche Verblendung jemanden darin kann fehl gehen lassen. Sich für so ein Objekt mit einem so imposanten Wort in Unkosten zu stecken, lohnt wahrlich der Mühe nicht. Auch rechtfertigt es | der Sprachgebrauch nicht. Man schreibt der Natur oder dem höchsten We- 108 sen nie Klugheit zu, ungeachtet man in allen ihren Veranstaltungen dieß Talent in einem hohen Grade preist. Es wäre daher besser, dieß Wort für die zweyte Eigenschaft allein aufzubewahren. Bey dem Streben nach einem Zweck zugleich auf alle wirklichen und möglichen Zwecke hinsehn, und die natürlichen Wirkungen, die eine jede Handlung nebenher haben kann, berechnen, das ist in der That etwas großes, und was man nur von wenigen wird rühmen können. Daß man im gemeinen Sprachgebrauch wirklich so etwas unter Klugheit versteht, geht auch aus dem Gefühl hervor, welches erregt wird, wenn man Jemand mit einem gewissen Akzent als klug preist. Das erste ist, daß er uns imponirt, und das zweyte, daß wir uns nach Wohlwollen und Ironie bey dem gerühmten Manne umsehn, und daß er uns verhaßt wird, wenn wir nicht beydes antreffen. Das letzte dürfte eben so allge-

1 - 5 Nahezu wörtlich in Leibniz I, Nr. 32 (oben 84,1 l f ) , Nr. 47 (oben 89,7f) und Nr. 49 (oben 90,lf) 6-153,18 Vgl. Gedanken I, Nr. 31-33 (oben 13,20-14,4), Nr. 45 (oben 16,11-18) und Nr. 49 (oben 17,6f)

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mein seyn, als das erste und gewiß ist es auch, so bald man Klugheit in dieser Bedeutung nimmt, eben so natürlich. Wir hoffen nämlich von jedem Menschen, daß wir ihn mehr oder weniger zu unsern Absichten werden gebrauchen können, und zugleich wünschen wir, daß er uns durch das 5 freye Naturspiel seines Gemüths und durch absichtslose und unverwahrte Aeußerungen ein Gegenstand des Wohlwollens und nach Gelegenheit auch ein Gegenstand für den Scherz oder den arglosen Spott werden möge. Bey andern Menschen sind wir ziemlich sicher beydes allenfalls auch wider ihren | Willen zu erlangen. Der ausgezeichnet Kluge aber, der seine Handlun- 109 10 gen so abmißt, daß nichts dabey herauskommen kann, als was er selbst beabsichtigt, macht uns für beydes bloß von seinem guten Willen abhängig; und wenn er nicht Wohlwollen besitzt, um mit Bewußtseyn und Freyheit in die Absichten Andrer hinein zu gehen, oder wenn es ihm an der Ironie fehlt, die ihn dahin bringen könnte, absichtlich sich aus seiner Klugheit her15 auszusetzen und sich mit Entsagung auf dieselbe als ein Naturwesen der Gesellschaft zum beliebigen Gebrauch hinzugeben: so ist es natürlich, daß wir die Stelle, die er in unserm Kreise einnimmt, von einem andern besetzt wünschen.

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Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen. — Die zehn Nr. 364 Gebote. 1) Du sollst keinen Geliebten haben neben ihm: aber du sollst Freun-|din seyn können, ohne in das Kolorit der Liebe zu spielen und zu 110 kokettiren oder anzubeten. 2) Du sollst dir kein Ideal machen, weder eines Engels im Himmel, noch eines Helden aus einem Gedicht oder Roman, noch eines selbstgeträumten oder fantasirten; sondern du sollst einen Mann lieben, wie er ist. Denn sie die Natur, deine Herrin, ist eine strenge Gottheit, welche die Schwärmerey der Mädchen heimsucht an den Frauen bis ins dritte und vierte Zeitalter ihrer Gefühle. 3) Du sollst von den Heiligthümern der Liebe auch nicht das kleinste mißbrauchen: denn die wird ihr zartes Gefühl verlieren, die ihre Gunst entweiht und sich hingiebt für Geschenke und Gaben, oder um nur in Ruhe und Frieden Mutter zu werden. 4) Merke auf den Sabbath deines Herzens, daß du ihn feyerst, und wenn sie dich halten, so mache dich frey oder gehe zu Grunde. 5) Ehre die Eigentümlichkeit und die Willkühr deiner Kinder, auf daß es ihnen wohlgehe, und sie kräftig leben auf Erden. 6) Du sollst nicht absichtlich lebendig machen. 7) Du sollst keine Ehe schließen, die gebrochen werden müßte. 8) Du sollst nicht geliebt seyn wollen, wo du nicht liebst. 9) Du sollst nicht falsch Zeugniß ablegen für die Männer; du sollst ihre Barbarey nicht beschönigen

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mit Worten und Werken. 10) Laß dich gelüsten nach der Männer Bildung, Kunst, Weisheit und Ehre. — Der Glaube. 1) Ich glaube an die unendliche Menschheit, die da war, ehe sie die Hülle der Männlichkeit und der Weiblichkeit annahm. 2) Ich glaube, daß ich nicht lebe, um zu gehorchen oder | 5 um mich zu zerstreuen, sondern um zu seyn und zu werden; und ich glaube ill an die Macht des Willens und der Bildung, mich dem Unendlichen wieder zu nähern, mich aus den Fesseln der Mißbildung zu erlösen, und mich von den Schranken des Geschlechts unabhängig zu machen. 3) Ich glaube an Begeisterung und Tugend, an die Würde der Kunst und den Reiz der Wis10 senschaft, an Freundschaft der Männer und Liebe zum Vaterlande, an vergangene Größe und künftige Veredlung.

Um den Unterschied der Pflichten gegen sich selbst und der Pflichten 113 gegen andre zu bestimmen, dürften sich schwerlich andre Kennzeichen fin- Nr. 371 den, als die welche jener einfältige Mensch für den der Tragödie und der 15 Komödie angab. Lachst du dabey und bekommst du am Ende etwas, so nimms für eine Pflicht gegen dich selbst; ist dir das Weinen näher und bekommts ein andrer, so nimms für eine Pflicht gegen den Nächsten. Daß die ganze Eintheilung am Ende darauf hinausläuft, und daß es auch ein ganz unmoralischer Unterschied ist, leuchtet ein. Es entsteht daraus die Ansicht 20 als ob es zwey ganz verschiedne im Streit liegende Stimmungen gäbe, die entweder sorgfältig auseinander gehalten oder durch eine kleinliche Arithmetik künstlich verglichen werden müßten. Es entstehn daraus die Fantome von Hingebung, Aufopferung, Großmuth und was alles für moralisches Unheil. Uberhaupt ist die gesammte Moral aller Systeme eher jedes andre, 25 nur nicht moralisch.

Auch die Sprache begegnet der Sittlichkeit schlecht. Sie ist nirgends so 136 roh und arm, als wo es auf die Bezeichnung sittlicher Begriffe ankommt. Nr. 428

1 10)] 10 12-25

Vgl. Gedanken I, Nr. 24 (oben 12,11-16) 26-156,18 Vgl. Gedanken I, Nr. 44 (oben 16,5-10) und Nr. 48 (oben 17,3-5), außerdem Gedanken III, Nr. 12 (oben 121,16-18)

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Zum Beyspiel nehme ich die drey Karaktere, die sich aus den verschiedenen Verbindungen zwischen Zweck und Mittel konstruiren lassen. Es giebt Menschen, denen unter der Hand alles was sie als Mittel behandeln, zum Zweck wird. Sie widmen sich einer Wissenschaft um ihr Glück zu machen, und werden von den Reizen derselben gefesselt. Sie suchen einen Anhänger derselben auf, und sie fangen an ihn zu lieben. Sie besuchen seine Zirkel um mit ihm zu seyn, und sie werden die leidenschaftlichsten Mitglieder derselben. Sie schreiben, oder treiben schöne Künste, oder kleiden sich besser, um in diesen Zirkeln zu gefallen, und ehe man sich versieht, finden sie unabhängig von Gefallen und Mißfallen in ihren Schreibereyen, in ihrem Kunststudium, in ihrer Eleganz einen innigen Genuß. Dieß ist ein sehr bestimmter Karakter der sich überall leicht erkennen läßt; hat aber die Sprache einen Namen dafür? Ein großer Kreis von verschiedenen Thätigkeiten wird auf diese Art durchlaufen, und die Sprache vergönnt auch ihn deswegen veränderlich oder vielseitig zu nennen: das ist aber nur ein Theil von den Erscheinungen dieser Denkungsart, welchen sie mit manchen andern gemein hat. Menschen | von dieser Art machen den endlichen Raum vom gegenwärtigen Augenblick bis zur Erreichung eines gewissen Zweckes zu einer unendlichen und ins Unendliche getheilten Größe. Wem diese Fertigkeit das Endliche als etwas Unendliches zu behandeln, immer liebenswürdig erscheint, möchte sie so nennen: aber dieß ist nur die Beschreibung eines Eindrucks. Für das Wesen dieses Karakters, von dem Interesse für etwas als Mittel in ein unmittelbares Interesse leicht und oft überzugehn, hat die Sprache kein Zeichen. Es giebt andre Menschen, welche den entgegengesetzten Weg gehn, und sehr leicht das, was ihnen Anfangs Zweck war, nur als Mittel für etwas andres behandeln; die wenn sie einen Schriftsteller leidenschaftlich gelesen haben, mit einer Karakteristik desselben endigen, wenn sie eine Wissenschaft lange getrieben haben, sich bald zur Philosophie der Wissenschaft erheben, und selbst wenn eine persönliche Anhänglichkeit sie fesselt, in Gefahr sind, eine zärtliche Verbindung als Mittel zu behandeln, um eine neue Ansicht der menschlichen Natur zu gewinnen, oder über die Liebe aus eignen Experimenten zu philosophiren. Nenne mir das Jemand auf Deutsch! Von den Wirkungen und dem Eindruck eines solchen Karakters zu reden, ist wohlfeil: daß es groß ist, das Endliche wegzuwerfen, weil man auf das Unendliche losgeht, daß es originell ist, Schranken umzureißen, wo Andere hängen bleiben, neue Bahnen zu eröffnen, wo Andere einen geschloßnen Kreis zu sehen glauben, große Leidenschaften in reißendem Fluge zu durchlaufen, und | große Kunstwerke gleichsam im Vorbeygehn aufzubaun; denn das sind die natürlichen Aeußerungen eines solchen Karakters, wenn er nicht erlischt; dieß zu mahlen, hat die Sprache nicht Mangel an Worten. Es giebt einen dritten Karakter, der beyde vereinigt, der so lange er einen Zweck vor Augen hat, alles wieder zum Zweck macht, was in das System desselben gehört, bey diesem endlichen Genuß

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Fragmente

dennoch das Höherstreben nicht vergißt und mitten auf seinen Riesenschritten immer wieder zu jenem zurückkehrt. E r verbindet das Talent, seine eignen Gränzen leicht zu finden, und nichts zu wollen, als was man kann, mit dem, seine Endzwecke mit den Kräften zugleich zu erweitern: die Weisheit und ruhige Resignazion des in sich gekehrten Gemüths, mit der Energie eines äußerst elastischen und expansibeln Geistes, der durch die geringste Oeffnung, die sich darbietet, entweicht, um in einem Augenblick einen weit größern Kreis als den bisherigen auszufüllen. E r macht nie einen vergeblichen Versuch, den erkannten Schranken des Augenblicks zu entweichen, und glüht dabey doch von Sehnsucht, sich weiter auszudehnen; er widerstrebt nie dem Schicksal, aber er fodert es in jedem Augenblick auf, ihm eine Erweiterung seines Daseyns anzuweisen; er hat immer alles im Auge, was ein Mensch nur werden kann und zu werden wünschen mag, aber strebt nie nach etwas, bis der günstige Moment erschienen ist. Daß ein solcher Karakter ein vollendetes praktisches Genie wäre, daß bey ihm alles Absicht und alles Instinkt, alles Willkühr | und alles Natur seyn würde, das kann man sagen, aber ein Wort, um das Wesen dieses Karakters zu bezeichnen, wird vergebens gesucht.

Zum

Armenwesen

(Vermutlich 1798)

Zum Armen Wesen Plan. I. Allgemeine Grundsäze erstlich des Rechts, zweitens der Politik. II. Anwendung auf große Städte und Land. III. Geschichte der bisherigen Verfaßung. IV. Kritik des jezigen Zustandes und der Anwendbarkeit des besten auswärtigen.

Jeder Prediger sollte zwei wolhabende und Laufrechtel Bürger kennen und diese zusammen alles was zur Ocularlnspection gehört übernehmen — ohne Rücksicht auf Kirchspiel und Confession.

Kein Nahrungtreibender würde sich weigern Nachweisungen und Belehrungen zu geben.

Garküchen von Rumfordscher Suppe bei allen großen Anstalten, und wo sie außerdem nöthig sind.

Ist es nüzlich daß die Versorgungsanstalt den Armen Nahrung und Wohnung für Geld verabfolgen läßt?

Ist es nüzlich Arme in Casernen zu legen, wo unzähliche Weberstühle stehen?

6 Laufrechtel] Laufr.l]

7 übernehmen] über Uber der Zeile

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Zum

Armenwesen

Sollte man nicht die Hospitäler schlechterdings nur denen eröfnen, die aus allem Familien Nexus heraus sind?

Ueber das rechtliche Verhältniß der allgemeinen Armen Anstalt zu den Testamentarischen Stiftungen und den Anstalten besonderer Corporationen.

Ueber den Vorzug der Republiken und kleiner Staaten in Rücksicht des Armen Wesens.

O b man die Tollen in Familien laßen darf, und in wie fern man hoffen kann mit der Zeit dem Tollwerden vorzubeugen.

Auch auf ArmenAnstalten ist der Grundsaz anwendbar daß sie suchen müssen sich selbst entbehrlich zu machen.

Das Streben des Berlinischen Armenwesens sollte dahin gehn das Rettungs Institut zu Lvernichtenl und wechselseitig

In der Hamburgischen Privat Kranken Verpflegung stirbt nur der 16.' und 84 p. Ct. genesen.

Merkwürdig ist die Ersparungs Anstalt fürs Gesinde wie wäre sie hier nachzuahmen?

Zum

Armenwesen

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Jeder Kranke im Durchschnitt kostet 2 Mark 12 Groschen wobei Betten Kleidung Feuerung und Krankenwärterinnen, auch Unterstüzung für die Familie nicht mitgerechnet sind. Dies auch mitgerechnet 5 y Mark Courant.

5

In der Charite starben anno 85 21 p. Ct. und jeder Kranke kostete monatlich 2 j Reichsthaler — was unter dieser Berechnung begriffen gewesen ist zweifelhaft.

Der Umstand daß die chronischen Kranken alle nach dem Pesthof geschafft wurden macht diesen Unterschied nicht aus, denn alle diese Kranke 10 zusamen betragen nur 1 p. C.

1 Mark] Mk 1 Groschen] Gr 5 anno] ao 6 Reichsthaler] rt. unbeschrieben.

3 f Dies . . . Courant.] am Rand 3 f Courant] Cour. 10 1 p. C.] Die folgenden zwei Drittel der Seite sind

Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks Teilhand 1, Berlin 1799)

Versuch einer Theorie des geselligen Betragens.

Freie, durch keinen äußern Zweck gebundene und bestimmte Geselligkeit wird von allen gebildeten Menschen als eins ihrer ersten und edelsten Bedürfnisse laut gefordert. Wer nur zwischen den Sorgen des häuslichen und den Geschäften des bürgerlichen Lebens hin und her geworfen wird, nähert sich, je treuer er diesen Weg wiederholt, nur um desto langsamer dem höheren Ziele des menschlichen Daseins. Der Beruf bannt die Thätigkeit des Geistes in einen engen Kreis: wie edel und achtungswerth er auch sey, immer hält er Wirkung auf die Welt und Beschauung der Welt auf einem Standpunkt fest, und so bringt der höchste und verwickeltste wie der einfachste und niedrigste, Einseitigkeit und Beschränkung hervor. Das häusliche Leben setzt uns nur mit Wenigen, und immer mit denselben in Berührung: auch die höchsten Forderungen der Sittlichkeit in diesem Kreise werden einem aufmerksamen Gemüth bald geläufig, und seine Ausbeute an mannigfaltigen Anschauungen der Menschheit und ihres Thuns wird mit jedem Tage um so geringer, je rechtlicher alles hergeht, und je mehr die sittliche Oekonomie vervollkommnet ist. Es muß also einen Zustand geben, der diese beiden ergänzt, der die Sphäre eines Individui in die Lage bringt, daß sie von den Sphären Anderer so mannigfaltig als möglich durchschnitten | werde, und jeder seiner eignen Grenzpunkte ihm die Aussicht in eine andere und fremde Welt gewähre, so daß alle Erscheinungen der Menschheit ihm nach und nach bekannt, und auch die fremdesten Gemüther und Verhältnisse ihm befreundet und gleichsam nachbarlich werden können. Diese Aufgabe wird durch den freien Umgang vernünftiger sich unter einander bildender Menschen gelöst. Hier ist es nicht um einen einzelnen untergeordneten Zweck zu thun; die Thätigkeit höherer Kräfte wird nicht aufgehalten durch die Aufmerksamkeit, die überall, wo auf die Außenwelt gewirkt werden soll, dem Geschäft der niederen gewidmet werden muß; hier ist der Mensch ganz in der intellektuellen Welt, und kann als ein Mitglied derselben handeln; dem freien Spiel seiner Kräfte überlassen, kann er sie harmonisch weiter bilden, und von keinem Gesetz beherrscht, als welches er sich selbst auflegt, hängt es nur von ihm ab, alle Beschränkungen der häuslichen und bürgerlichen Verhältnisse auf eine Zeitlang, soweit er will, zu verbannen. Dies ist der sittliche Zweck der freien Geselligkeit, nur freilich ist sie in ihrem gegenwärtigen Zustande von diesem Ziele noch eben so weit entfernt, als die Häuslichkeit und der bürgerliche Verein von dem

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ihrigen. Auch das gesellige Leben hat Formen, die es drücken, und Nebendinge, die seinem Zweck entgegenstreben; auch hier ist überall über die Ungeschicktheit und den Frevel der Einzelnen zu klagen, vieles auszurotten und mehreres umzubilden. Nur daß hier, wegen des nothwendigen Mangels einer öffentlichen Gewalt, Jeder für sich selbst Gesetzgeber seyn, und Jeder auf alle Weise dahin sehen soll, daß das gemeine Wesen keinen Schaden leide. Alle Verbesserung also muß davon ausgehn, und kann nur dadurch wirklich zu Stande | gebracht werden, daß jeder Einzelne sein gesellschaftliches Betragen diesem Zweck gemäß einrichte. Ich bin weit entfernt zu wähnen, daß dies durch Theorien bewerkstelligt werden könne; aber es ist doch gewiß, daß man sich dem Ziele nicht auf eine stetige Weise nähern kann, wenn man es nicht begriffen hat, und die Annäherungspunkte kennt, welche durchlaufen werden müssen; und so giebt es auch keine Verbesserung ohne Theorie, zu welcher dieser Versuch, der ein, wenigstens im Umriß vollendetes System des geselligen Betragens darzustellen strebt, einen Beitrag geben soll. Unvermeidlich scheint es mir indessen, daß jedes Unternehmen, über diesen Gegenstand eine Theorie aus Begriffen zu geben, die Virtuosen sowohl als die Dilettanten beleidigen muß. Diese wollen in dem Gefühl der innigen Bewunderung, und in dem Beifall, den sie den Mustern des Spiels auf der Schaubühne der Welt so gern und mit so viel Liebe zur Nacheiferung zollen, durch die Kritik des Theoristen, der sich vielleicht auf demselben Platz nicht einmal versucht hat, eben so wenig gestört seyn, als die Liebhaber der Kunst auf dem kleinern Theater, wo der Schauspieler uns ergötzt und belebt. Sie werden sagen, nichts laufe so sehr dem feinen Betragen zuwider, als anmaßend zu seyn, und nichts sey so anmaßend, als gerade hierüber allgemeine und alles umfassende Vorschriften zu geben. Ihnen gebe ich zu bedenken, daß der Theorist hier nichts anders thut, als die Virtuosen zu ergänzen, indem diese, wenn sie der Welt etwas von ihren Kenntnissen mittheilen, es immer, ich weiß nicht ob mehr verschmähen oder versäumen, den Umriß des Ganzen zu ziehen, und jedem Einzelnen eine bestimmte Stelle anzuweisen, und daß er, in so fern er seine Vorschriften aus | allgemeinen Begriffen zusammensetzt, auf eigne Virtuosität Verzicht thut, und sich gern jener verehrten Autoritäten bedient 1 . Die Virtuosen selbst 1

Wie denn H r . Garve eine sehr schöne theoretische Abhandlung an eine Sentenz des Rochefoucauh sehr bescheiden anknüpft.

32 anzuweisen] anzu weisen

35 Vgl. Garve: lieber die Maxime Rochefoucaults: das bürgerliche Air verliert sich zuweilen bey der Armee, niemahls am Hofe, Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben, Bd 1, Breslau 1792, S. 295—452

Theorie des geselligen Betragens

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pflegen von allgemein-geltenden, in Formeln ausgedrückten Regeln sehr geringe Begriffe zu haben. Alle Feinheit des geselligen Betragens scheint ihnen so individuell, und das beste in jedem Fall von so viel kleinen U m ständen abhängig zu seyn, daß man allgemeinen Regeln nicht trauen dürfe, und alle eigne Vollkommenheit aus der Nachahmung bewährter Muster oder aus einem eignen Gefühl hervorgehen müsse. Allein eben weil jede Handlung mit dem mannigfaltigen, welches sie enthält, und den Umständen, durch die sie so und nicht anders bestimmt worden ist, so zu sagen ein Unendliches ausmacht, so muß die Reflexion, welche der Nachahmung vorhergeht, allemal zugleich von einigem abstrahiren, und auf anderes gerichtet werden, und es muß also, wenn nicht auch das auf einem Gefühl beruhen soll, Regeln geben, nach denen ich beurtheilen kann, wovon ich abstrahiren und worauf ich reflektiren soll. Das Gefühl selbst aber beweiset nur auf eine andere Art die Nothwendigkeit einer Theorie. Man beruft sich in Angelegenheiten der Geselligkeit auf dieses Gefühl mit eben solcher Zuversicht, wie in moralischen Dingen aufs Gewissen; man setzt es — in jedem gebildeten Individuo — zum Richter über einzelne Urtheile oder besondere Regeln, die man gefunden hat, und dies beweiset hinlänglich, daß man es für ein allgemeines, in dem Wesen der menschlichen Natur gegründetes Gefühl hält. Man fodert, daß ein Gesetz, welches demselben gemäß ist, | allgemein anerkannt werde, als gehöre es zu einem, auf unumstößlichen Grundsätzen beruhenden System, und selbst die conventioneilen Regeln, die mehr oder weniger allgemein angenommen sind, deuten auf einen gemeinschaftlichen in der Natur liegenden Grundbegriff eben so sichtbar als positive Gesetze auf eine natürliche Regel des Rechts; kurz, die Sache der Geselligkeit steht, von diesem Standpunkt aus betrachtet, ganz auf demselben Fuß, wie die Sache der Sittlichkeit und des Rechts. Dies vorausgesetzt, ist also das Suchen einer Theorie ein Problem, dem man sich nicht entziehn kann; ja ohne sie muß jede Ausübung nur eine blinde unzusammenhängende Empirie seyn. Der Theoretiker ist es, der bei der ganzen U n tersuchung auf dem höchsten Standpunkt steht; er allein sucht den Schlüssel des Räthsels und die letzten Gründe der Handlungen; er allein will das gesellige Leben als ein Kunstwerk construiren, da Virtuosen es oft nur als eine schöne Fantasie betrachten; er allein will dem, was diese schönes und treffendes sagen, dadurch die letzte Vollendung geben, daß er ihm seine Stelle im System anweist. Vorzüglich weil es hieran bisher so sehr gefehlt hat, haben diejenigen, welche mit Geist in der Welt gelebt, und die Kunst der Gesellschaft studirt haben, nur einzelne Winke und Bemerkungen hie und da niederlegen können; gleichsam abgerissene Theile, in denen nur der Kritiker ein Ganzes ahnden, und es nicht ohne eigne Ergänzung daraus zusammensetzen kann, und alle dicken Bücher, die mit der Anmaßung eines Systems geschrieben werden, sind nur formlose Sammlungen, wo die Regeln und die Grenzbestimmungen der geselligen Mittheilung mit Vorschrif-

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ten, die in Sittenbüchlein für Kinder gehören, zusammengeworfen, wo alle Begriffe auf den Kopf gestellt sind, und noch dazu das | Ganze durch die verkehrteste Ansicht entstellt ist, weil diese vermeinten Virtuosen die Kunst nicht um ihrer selbst willen lieben und ehren, sondern immer das Glück, welches damit in der Welt zu machen ist, im Sinn haben, und ihr Geschäft nur, wie Handwerker pflegen, um des Gewinnes willen treiben. 2 Ganz im entgegengesetzten Sinne wird im folgenden die freie Geselligkeit als eine nicht zu umgehende natürliche Tendenz betrachtet; es wird nur von dem ersten in jedem Menschen von selbst vorhandenen Begriff derselben ausgegangen, in dessen ursprünglichen Merkmalen schon ein Zweck und eine Form, unter der er erreicht werden soll, verbunden sind, und es wird versucht, aus dieser Verbindung, die immer rein und vollständig aufgefaßt werden muß, alle Gesetze des geselligen Betragens abzuleiten. Wenn die Geselligkeit um ihrer selbst willen gesucht wird, und sie selbst ist nichts anders, als ihre moralische Tendenz, so kann die Vollkommenheit des geselligen Betragens in nichts anderem bestehen, als in der Fertigkeit, überall, wo die physische Möglichkeit der Gesellschaft gegeben ist, auch eine wirklich zu bilden, und sie, wo sie schon gebildet ist, beim Leben zu erhalten. Beides, das Bilden und Unterhalten der Gesellschaft kann nicht getrennt, sondern muß als eines gedacht werden. Denn die Gegenwart mehrerer Menschen in einem Raum um des geselligen Zwecks ist nur der Körper der Gesellschaft. Dieser muß erst durch die Thätigkeit jedes Einzelnen belebt werden, und weil es eine durchaus freie Thä-|tigkeit ist, kann dies Leben nur durch eine ununterbrochene Fortsetzung derselben erhalten werden. In der Theorie des geselligen Betragens muß jedoch die Gesellschaft als das Objekt desselben in doppelter Rücksicht betrachtet werden, als seyend und als werdend, als Bedingung der geselligen Vollkommenheit und als durch sie bedingt. Die ursprüngliche Idee der Gesellschaft muß nämlich vorangehn; denn nur durch diese können die Gesetze des Betragens bedingt und bestimmt werden; da aber in der Ausübung dieses vorangehn muß, so muß es noch Regeln der Anwendung jener Gesetze geben, und das Zustandekommen der Gesellschaft durch diese Anwendung muß in der Theorie gleichfalls vorgebildet werden. Die Untersuchung muß also, um vollständig zu seyn, einen doppelten Gang nehmen; zuerst werden aus dem Begriff der Gesellschaft die gesuchten Vorschriften abgeleitet, und 2

Als Beleg für diese Schilderung sehe man ζ. B . Knigges U m g a n g mit Menschen überall.

36 Beleg] Belag 36 Schleiermacher benutzte vermutlich Knigge: Ueber den Umgang mit Menschen, 4. Aufl., 3 Bde, Hannover 1792-1793

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dann aus diesen, indem man sie in Gedanken in Thätigkeit setzt, die Gesellschaft selbst construirt. Wenn wir den Begriff der freien Geselligkeit der Gesellschaft im eigentlichsten Sinn 3 zerlegen, so finden wir hier, daß mehrere Menschen auf einander einwirken sollen, und daß diese Einwirkung auf keine Art einseitig seyn darf. Diejenigen, welche im Schauspielhause versammelt sind, oder gemeinschaftlich einer Vorlesung beiwohnen, machen unter einander eigentlich gar keine Gesellschaft aus, und jeder ist auch mit dem Künstler eigentlich nicht in einer freien, sondern in einer gebundenen Gesel-|ligkeit begriffen, weil dieser es nur auf irgend eine bestimmte Wirkung angelegt hat, und jener nicht gleichförmig auf ihn zurückwirken kann, sondern sich eigentlich immer leidend verhält. Denn das ist der wahre Charakter einer Gesellschaft in Absicht ihrer F o r m , daß sie eine durch alle Theilhaber sich hindurchschlingende, aber auch durch sie völlig bestimmte und vollendete Wechselwirkung seyn soll. Ein Ball ist deswegen keine Gesellschaft; denn jeder Tänzer steht eigentlich nur mit der, die in diesem Augenblick seine Tänzerin ist, in Verbindung, und beide betrachten alle übrigen als Mittel oder Werkzeuge; daher auch die Manier der Engländer, bei denen jeder Tänzer mit seiner Hälfte die ganze Zeit über vereinigt bleibt, eigentlich consequenter ist, als die unsrige. Das Spiel könnte eher unter diesen Charakter fallen, weil wirklich die Wechselwirkung bei den vernünftigeren A r ten desselben alle Theilhaber umfaßt, nur daß diese sie nicht völlig bestimmen, indem doch überall der Zufall — der aber freilich auch in manchen eigentlichen Gesellschaften eine eben so bedeutende Rolle spielt — der dritte oder vierte Mann ist. — Sehen wir nun auf den Zweck, der unter dieser Form der durchgängigen Wechselwirkung erreicht werden soll, so fällt in die Augen, denn es liegt in dem Prädikat der Freiheit, daß hier von einem einzelnen und bestimmten Zweck gar nicht die Rede seyn soll; denn dieser bestimmt und beschränkt auch die Thätigkeit nach materiellen und objektiven Regeln. Es soll keine bestimmte Handlung gemeinschaftlich verrichtet, kein Werk vereinigt zu Stande gebracht, keine Einsicht methodisch erworben werden. D e r Zweck der Gesellschaft wird gar nicht als außer ihr liegend gedacht; die Wirkung eines Jeden soll gehen auf die Thätigkeit der übrigen, und die Thätigkeit eines Jeden soll seyn seine Einwirkung auf die 3

Das W o r t sollte nur in diesem Verstände genommen werden. In jeder durch einen äußern Zweck gebundenen und bestimmten geselligen Verbindung ist den Theilhabern etwas g e m e i n , und diese Verbindungen sind G e m e i n s c h a f t e n , κοινονιαι; hier ist ihnen eigentlich nichts gemein, sondern alles ist wechselseitig, das heißt eigentlich entgegengesetzt, und dies sind G e s e l l s c h a f t e n , συνουσιαι.

38 κοινονιαι] κοινυνιαι

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Betragens

andern. Nun aber kann auf ein freies Wesen nicht | anders eingewirkt werden, als dadurch, daß es zur eignen Thätigkeit aufgeregt, und ihr ein Objekt dargeboten wird; und dieses Objekt kann wiederum zufolge des obigen nichts seyn, als die Thätigkeit des Auffodernden; es kann also auf nichts anders abgesehen seyn, als auf ein freies Spiel der Gedanken und Empfindungen, wodurch alle Mitglieder einander gegenseitig aufregen und beleben. Die Wechselwirkung ist sonach in sich selbst zurückgehend und vollendet; in dem Begriff derselben ist sowohl die Form als der Zweck der geselligen Thätigkeit enthalten, und sie macht das ganze Wesen der Gesellschaft aus. Beide Ansichten derselben müssen aber in der folgenden Untersuchung getrennt werden; sie wird zuerst als Form betrachtet, und liefert so das f o r m e l l e G e s e t z der geselligen Thätigkeit: Alles soll Wechselwirkung seyn; denn als Stoff, und so giebt sie das m a t e r i e l l e : Alle sollen zu einem freien Gedankenspiel angeregt werden durch die Mittheilung des meinigen. Aus diesem ganz allgemein gefaßten Begriff der Gesellschaft, so wie ihn ein Jeder zugestehen muß, ist also das Wesen der Geselligkeit im Allgemeinen bestimmt. Da wir aber eine reelle Theorie liefern wollen, und also an bestimmte und wirkliche Gesellschaften denken müssen, so ist unsere Gesetzgebung noch nicht vollendet. Jede einzelne Gesellschaft nämlich muß von diesem Wesen ein bestimmtes Maas haben, und existirt nur, in so fern sie dieses hat, als ein Individuum. Unendlich mannigfaltig ist, im Allgemeinen betrachtet, die Art, wie Menschen einander anregen können, und unendlich die Sphäre ihrer freien Aeußerungen. Von diesem Unendlichen aber ist denen, die zusammen eine Gesellschaft ausmachen sollen, nur ein gewisses endliches Quantum eigen, und wenn dies nicht aufgefaßt und aus dem übrigen abgesondert wird, kann nie eine wirkliche Gesellschaft zu | Stande kommen. Jede hat einen eignen Umriß und ein eignes Profil, und wer dieses nicht ziehen hilft, wer nicht sich innerhalb jenes zu halten versteht, der ist für diese Gesellschaft so gut, als ob er nicht da wäre, wenn er sich auch jene beiden Gesetze noch so vollkommen zu eigen gemacht hätte. Wir bekommen also außer dem formellen und materiellen Gesetz der Geselligkeit noch ein drittes: das q u a n t i t a t i v e . In diesen dreien Gesetzen muß aber auch Alles liegen, was aus den Merkmalen, die in dem Begriff der freien Geselligkeit ursprünglich vereinigt sind, für das Betragen in diesem Zustande gefolgert werden kann. Diese Gesetze müssen also nun ihrem Inhalte nach näher untersucht und bestimmt werden, und da das zuletzt gefundene in der That die Bedingung der Anwendbarkeit jener beiden ist, und wenn es nicht bestimmt werden könnte, unsre ganze Untersuchung, weil es

13 m a t e r i e l l e : ] m a t e r i e l l e .

2 7 f zu | Stande] zu | zu Stande

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des geselligen

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ihr an einem Gegenstande fehlt, vergeblich seyn würde, so müssen wir nothwendig mit diesem den Anfang machen. E r s t e s , q u a n t i t a t i v e s , G e s e t z . Es gründet sich auf die Beschränktheit derjenigen, die sich gegen einander in dem Zustande der freien Geselligkeit befinden wollen, und lautet s o : d e i n e g e s e l l i g e T h ä t i g k e i t s o l l s i c h i m m e r i n n e r h a l b d e r S c h r a n k e n h a l t e n , in d e n e n all e i n e i n e b e s t i m m t e G e s e l l s c h a f t als ein G a n z e s b e s t e h e n k a n n . Wir analysiren dieses Gesetz näher, um zu sehen, was es in sich begreife. Jeder Mensch hat als ein endliches Wesen seine bestimmte Sphäre, innerhalb der er allein denken und handeln, und also auch sich mittheilen kann. Die Sphäre des Einen ist nicht völlig die des Andern, so gewiß er selbst nicht der andre ist, und jeder — dies geht durch alle Mitglieder einer Gesellschaft hindurch — hat in der seinigen etwas, was nicht in der der andern liegt. | Wenn nun einer in der gesellschaftlichen Unterhaltung gegen einen andern einen Punkt berührt, der in der Sphäre desselben gar nicht zu finden ist, so schließt er dadurch, je nachdem sich die Uebrigen für einen von beiden erklären, entweder diesen oder sich selbst aus der Gesellschaft aus. Wenn zweie unter einander etwas besprechen, was ihnen zwar gemeinschaftlich, aber den Andern ganz fremde ist, so machen sie zwar unter sich eine Gesellschaft aus, aber sie haben sich von den Uebrigen getrennt. In jedem solchen Falle hört die Gesellschaft auf, ein Ganzes zu seyn. Aeußerungen, welche dies zur Folge haben, können an sich selbst sehr schön, ja auch sehr vorzüglich für die gesellige Mittheilung geeignet seyn — denn sie kann den qualitativen Gesetzen vollkommen entsprechen — nur können sie nicht Platz finden in dem gegenwärtigen Kreise; sie stehen zu dem Ganzen in irgend einem Mißverhältnisse der Größe oder der Art, kurz sie fügen sich nicht in das Uebrige. Die Sprache selbst weist uns demnach für diesen Begriff den Namen des S c h i c k l i c h e n an; unser Gesetz ist seinem Inhalt nach, das Gebot der Schicklichkeit, und besagt: daß nichts angeregt werden soll, was nicht in die gemeinschaftliche Sphäre Aller gehört. Wie dies zu erreichen ist, haben wir nun zu bestimmen. Die Art, wie wir dabei zu Werke zu gehen haben, ist uns bereits gegeben. Wir sollen nehmlich, um unser Gesetz ganz zu umfassen, wie oben festgesetzt worden ist, zuerst davon ausgehen, daß eine Gesellschaft gegeben, und also ihre gemeinschaftliche Sphäre, durch deren Anerkennung sie erst Gesellschaft wird, bereits bestimmt ist, und fragen, wie in diesem Fall der Forderung des Gesetzes Genüge zu leisten ist: wir sollen zweitens von der Forderung des Gesetzes ausgehen, und fragen, wie dem zu Folge in jedem einzelnen Falle die gemeinschaftliche Sphäre Aller bestimmt werden muß. |

5 Thätigkeit] Thätigkeit,

10 endliches] endloses

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Theorie des geselligen

Betragens

Erstlich. Die gemeinschaftliche Sphäre wird als bekannt angenommen und gefragt, wie nun der Forderung mich immer innerhalb derselben zu halten, Genüge geleistet werden kann? Es fällt in die Augen, daß diese Forderung mit dem Zweck der freien Geselligkeit in einem Widerspruch befangen ist. Dieser nemlich ist auf nichts geringeres als auf den ganzen Menschen gerichtet. Mitglied einer Gesellschaft ist jemand, nicht in so fern er diese oder jene einzelne Eigenschaft oder Kenntniß besitzt, oder zu irgend einer besondern Klasse gehört, sondern er soll grade seine Individualität, seine Eigenthümlichkeit mitbringen; denn nur in dieser ist das freie Spiel seiner Gedanken und Gefühle, welches seine Thätigkeit in der Gesellschaft seyn soll, gegründet. Ein Mensch ist aber nur in so fern ein Individuum, als alles in ihm zusammenhängt, einen Mittelpunct hat und sich gegenseitig bestimmt und erklärt. Nehmt ihm irgend ein Theil seiner Grundsätze, seiner Meinungen, seiner Art sich auszudrücken und zu betragen, so hat er sein charakteristisches verloren und ist nicht mehr geschickt, uns eine eigne Ansicht der Menschheit vorzustellen. Also: ich soll einen Theil meiner Sphäre aus der Gesellschaft weglassen, heißt soviel als: ich soll aufhören als Individuum in derselben zu existiren, welches jenem Zweck offenbar widerspricht. Dasselbe wird in dem Verfolg unserer Untersuchung noch oft vorkommen, und ich nehme die erste Gelegenheit, die sich hier darbietet, wahr, um bemerklich zu machen, wie sehr uns dieser Umstand zu einer gelinden Beurtheilung des gegenwärtigen Zustandes der Gesellschaft verpflichtet. Widersprüche zu lösen, die in dem Innern des Gegenstandes liegen, das kann man doch denjenigen nicht zumuthen, welche selbst bekennen, daß sie nur auf dem Standpunct einer gemeinen Empirie stehen. Nur wenige können ein glückliches Ahndungsvermögen besitzen, welches sie zwischen diesen Klippen hindurch | geleite, und wir wollen im voraus diejenigen für entschuldigt halten, die aus dieser Ursach, bei dem besten Willen, dem Gesetz der Sittlichkeit dennoch kein Genüge geleistet haben. Dieser Widerspruch verleitet zu zwei einander entgegengesetzten falschen Maximen, welche beide im gemeinen Leben sehr häufig in Ausübung gesetzt werden. Einige halten sich an den allgemeinen Satz, und bestehen darauf, daß man überall seine ganze Individualität mitbringen und äußern dürfe, und befugt sey die Beschränkungen welche die Gesellschaft uns hierin auflegen will, so weit als möglich zu ignoriren. Darin liegt freilich die Idee, daß sie selbst der Centraipunkt seyn wollen, und daß die Größe einer Gesellschaft nur darnach bestimmt werden soll, wie viele darin fähig sind, ihrer Anziehungskraft zu folgen, und diese Maxime müßte, wenn sie allgemein wäre, einen Zustand des beständigen Krieges unter den vorzügliche-

6 nichts] nichrs

14 ein] Kj einen

17 weglassen] weggelassen

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ren Gesellschaften zur Folge haben, der mit dem Untergang der Gesellschaft selbst endigen müßte, ohne daß irgend ein wesentlicher Zweck erreicht worden wäre. — Andre halten sich im Gegentheil an das besondre Gesetz, und behaupten: „man müsse zum Besten der Gesellschaft sich selbst verläugnen, und nichts besseres seyn wollen, als der mittlere Durchschnitt des Ganzen, zu welchem ja überall alles hinstrebe nach einem allgemeinen Naturgesetz. Was über diesen hervorsteche, sey ungebührlich, und müsse, wie scharfe Ecken, abgeschliffen werden. Alle Eigenthümlichkeiten müßten nach innen gezogen werden, und brauchten also für die Gesellschaft eigentlich gar nicht da zu seyn. Alles komme auf eine glatte Oberfläche an, die dem leisesten Druck weiche, und der allgemeinen Bewegung nirgends durch ungeschickte Frikzion widerstehe." Diese Maxime löset, um nur die Gesellschaft geräumig genug zu machen — damit der gesammte Adel hin-|eingehe — den Endzweck derselben völlig auf, und strebt jener Leere entgegen, über die man in den höchsten und feinsten Zirkeln am häufigsten klagt; so wie denn auch diese vorzüglich die Sprache der Hofmänner, und jene die der jungen Leute ist, welche mit Ansprüchen auf Geist und Streben nach Freiheit in die Schranken der Gesellschaft — oft erst so eben aus den Hallen der Musen — hineintreten. Dem Geiste nach werden wir den Gegensatz dieser Partheien, die sich gegenseitig der Arroganz und der dürftigen Plattheit beschuldigen, auch in der Folge immer wieder finden, und es ist natürlich, daß die Forderungen der Geselligkeit, die aus Selbstthätigkeit und Selbstbeschränkung zusammengesetzt sind, in allen einzelnen Punkten so mißverstanden werden, daß man eine der andern, weil man beide nicht zu vereinigen weiß, absolut unterordnet. Neben ihnen giebt es immer noch eine dritte, die mit moderantistischem Geiste der Beschuldigung der einen oder der andern anzugehören, dadurch ausweicht, daß sie von beiden etwas nimmt, und je nachdem in einer bestimmten Gesellschaft diese oder jene die Oberhand hat, die Mischung so lange verändert, bis sie zur Noth Allen mundrecht seyn kann. Das heißt freilich nicht den Widerspruch lösen, sondern ihn erst recht fest zusammen ziehn; die Einseitigkeit wird dadurch nicht vermieden, daß man sie doppelt nimmt. Wie soll er nun aber in dem vorliegenden Falle gelöst werden? Wenn wir, wie es eine Theorie fodert, auf eine allgemeine und bestimmte Art zu Werke gehen wollen, so bleibt nichts übrig als, wie die Aufgabe es andeutet, die beiden Gegensätze schlechthin zu vereinigen. Ich soll meine Individualität, meinen Charakter mitbringen, und ich soll den Charakter der Gesellschaft annehmen; beides soll in demselben Moment geschehen, soll eins und in einer Handlungsweise vereiniget | seyn. Betrachten wir dieses Gebot näher, so liegt in demselben eigentlich ein anderes, nehmlich daß dasjenige,

1 Gesellschaften] Kj Gesellschaftern

13 geräumig] eräumig

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was den Charakter des Individui ausmacht, in der Gesellschaft nur als etwas zufälliges, und so auch das, worin der eigentliche Charakter der Gesellschaft besteht, im Individuo als zufällig gedacht werden soll. In der Forderung, die beiden Gegensätze zu vereinigen, liegt die Forderung, daß so und nicht anders gedacht werden soll, als die einzig mögliche Art jene zu erfüllen, und wir finden auch wirklich, daß so gedacht wird. Einen einzelnen Menschen nehmlich charakterisirt man in Absicht auf sein Denken und Handeln keinesweges nach dem Stoffe — diesen hat er mit vielen gemein, und man hält ihn für etwas ganz zufälliges — sondern nach der Art, wie er ihn behandelt, verbindet, ausbildet und mittheilt. Dies ist das wesentliche, was ein Individuum charakterisirt, und wir wollen es in Beziehung auf die Gesellschaft die M a n i e r nennen. Dagegen ist es gerade der Stoff, nach welchem man Gesellschaften in verschiedene Arten abtheilt, und ihren Charakter bestimmt. Wenn man eine Gesellschaft beschreiben will, dann sagt man immer zuerst, ob sie sich mit Neuigkeiten oder mit moralischen Schilderungen — die man gemeinhin Medisance nennt — mit Kunst, mit Literatur oder mit Philosophiren beschäftigt, und jene Eigenschaften, die aus der Manier der einzelnen entstehen, ob sie, zum Beispiel, witzig, gemein, still, lebhaft, geräuschvoll ist, betrachtet man nicht als das unterscheidende, und bestimmt danach nicht ihre Art, sondern den Grad ihrer Güte und Vorzüglichkeit in ihrer Art. Vergleicht man zwei Gesellschaften, in denen derselbe Stoff der herrschende ist, so wird man immer sagen: sie sind von einer Art, aber die eine ist feiner und vorzüglicher. Vergleicht man zwei andere, wo die Manier ziemlich dieselbe, der Stoff aber ganz | verschieden ist, so wird man sagen: sie sind beide gleich vortrefflich; aber jene ist von einem ganz andern Charakter als diese. Den so durch den Stoff bestimmten Charakter einer Gesellschaft will ich — zwar etymologisch richtig, aber nicht so ganz dem Sprachgebrauch gemäß, den T o n derselben nennen. Durch diesen Unterschied nun ist jener Widerspruch völlig gelöst, und das Gesetz der Schicklichkeit erhält nun die Bedeutung: ich soll den Ton der Gesellschaft halten, und mich in Absicht auf den Stoff durch sie leiten und beschränken lassen (diese Bestimmung hatten diejenigen aus der Acht gelassen, welche bei ihrer einseitigen Maxime von der Selbstbeschränkung ausgingen) wobei es mir aber frei bleibt, innerhalb dieser Sphäre meine eigenthümliche Manier vollkommen walten zu lassen, und diese Grenze hatten diejenigen überschritten, welche eine völlige Ungebundenheit für sich in der Gesellschaft verlangten. Hieraus ergiebt sich nun folgendes: 1) Der eigentliche Gegenstand des Schicklichen ist gar nicht die Manier, sondern der Stoff. Es kommt darauf an, in Rücksicht auf diesen die Grenzen zu finden, in denen eine Gesellschaft eingeschlossen bleiben muß, und mit Scharfsinn die Umrisse zu entdecken, die oft unwahrscheinlich genug in einander gefügt sind. So sind Politik und Geschichte, Literatur und Kritik, Theaterwesen und Mimik unstreitig sehr nahe verwandte Gegen-

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stände, und doch ist für einen großen Theil ganz feiner Gesellschaften zwischen den beiden Hälften derselben eine unübersteigliche Kluft befestiget, und wo von der einen die Rede gewesen ist, auf die andern zu deuten, ist oft eine Unschicklichkeit, die man ohne jene Vorsicht erst wenn sie heraus ist, an ihren Wirkungen erkennt. Dagegen soll sich — wenigstens um der Schicklichkeit willen — in seiner eigenthümlichen Manier Niemand geniren. Es gehört gradehin zur Vollkommenheit einer Gesell-|schaft, daß ihre Mitglieder in ihrer Ansicht des Gegenstandes und ihrer Manier ihn zu behandeln, so mannigfaltig als möglich von einander abweichen, weil nur so der Gegenstand in Beziehung auf die Geselligkeit erschöpft und der Charakter der Gesellschaft völlig ausgebildet werden kann. Die Scheu, seine eigne Art frei gewähren zu lassen, wenn sie auch untergeordnet und fehlerhaft seyn sollte, ist eine der Gesellschaft höchst verderbliche Blödigkeit. Es ist freilich nicht lobenswürdig in seinen Höflichkeitsbezeugungen fade, im Gespräch weitläuftig, und in seinen Einfällen platt zu seyn; aber es läuft doch der Schicklichkeit gar nicht zuwider, und kann durch Uebung — aber auch nur durch sie — besser werden. Darum halte ich es gradehin für nothwendig, sowol in Beziehung auf die Gesellschaft als in Rücksicht auf die Individua selbst, daß jeder darnach strebe, das was er ist, an den Tag zu geben; seine unbequemen Eigenschaften in Schranken zu halten, das ist dann die Angelegenheit der Andern, und sie werden schon dafür sorgen. Es giebt nicht leicht einen traurigeren Anblick, als wenn in einer Gesellschaft einige von denen, die mit jenen unglücklichen Eigenschaften behaftet sind, es wagen, ihrer Natur freien Lauf zu lassen, und andre ihnen ähnliche diesem freien Spiel halb ängstlich und halb neidisch zusehn, und sich in eine ihnen fremde Form zwängen, in der sie für die Gesellschaft doch auch nichts sind. Niemand scheue sein Element. Nicht als eine verführerische Sirene, sondern aus freundlicher Meinung, wünschte ich Allen, die sich in diesem Falle befinden, mit gutem Erfolg zurufen zu können: O , wüßtest du, wie's Fischlein ist So wohlig auf dem Grund; Du sprängst hinunter wie du bist, Und würdest erst gesund. | 2) Die gesellige Vollkommenheit, die dem Gesetz des Schicklichen entspricht, besteht aus zwei Elementen. Es gehört dazu einmal eine gewisse E l a s t i c i t ä t , eine Fertigkeit die Oberfläche, die man der Gesellschaft darbietet, nach Erfordern auszudehnen, oder zusammen zu ziehen: man muß eine Menge von Gegenständen inne haben, und wenn die Gesellschaft beweglich ist, viele derselben leicht und schnell durchlaufen können; dann aber auch wieder alles übrige leicht vergessend, genugsam bei einem kleinen

13 Blödigkeit.] Blödigkeit

31 wohlig] wehlig

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Stoff verweilen, und ihn auf mannichfache Art geduldig auf und abzuwickeln verstehen. Diese Elasticität muß aber zweitens mit einer gewissen U n d u r c h d r i n g l i c h k e i t verbunden seyn. Die eigene Kraft und Art muß überall in gleichem Maaße bestehen, und sich thätig und reagirend offenbaren, der Stoff sey groß oder gering, geläufig oder entfernt. Beides zusammengenommen weiß ich mit keinem passenderen Namen zu belegen, als mit dem der G e w a n d t h e i t ; kein mir bekanntes Wort drückt besser die Fähigkeit aus, sich in jeden Raum zu fügen, und doch überall in seiner eigensten Gestalt dazustehen und sich zu bewegen. Diese Tugend besitzt man nun in desto höherem Grade, je größer die Sphäre von verschiedenen Verhältnissen ist, in denen sie sich offenbart, und je weiter die Punkte, wo wir aufhören ihrer mächtig zu seyn, auf beiden Seiten von einander entfernt liegen. Der gewandteste ist derjenige, der zugleich am vielseitigsten und am originellsten ist, der in jeden Stoff hineinzugehen bereit ist, und auch den geringfügigsten und fremdesten noch seine Eigenthümlichkeit auf mancherlei Weise aufzudrücken weiß. Zweitens. Es wird nun die Forderung des Gesetzes der Schicklichkeit vorausgesetzt, und gefragt, wie ich denn nun jene gemeinschaftliche Sphäre, innerhalb deren ich mich halten soll, in | jedem Fall zu bestimmen habe. Denn sie ist mir nicht mit den Menschen zugleich gegeben, und kann auch in meiner Idee nur durch das Bestreben zu Stande kommen, für die Forderung jenes Gesetzes einen bestimmten Kreis zu haben. Da nun die Gesellschaft selbst nur durch die Anerkennung eines solchen gemeinschaftlichen Spielraums, in so fern sie von allen Theilhabern auf gleiche Art geschieht, als ein Ganzes zu Stande kommt, so ist es eine nothwendige Aufgabe, wenn die Möglichkeit einer Gesellschaft in dem Versammeltseyn mehrerer Menschen gegeben ist, das Quantum des geselligen Stoffs richtig zu construiren, innerhalb dessen allein diese Gesellschaft existiren kann. U m dies unbekannte zu finden, muß man vom Bekannten ausgehen. Nun ist aber nichts bekannt, als daß mehrere Menschen da sind, und daß sie eine Gesellschaft werden wollen. Durch das erstere, durch ihre Anschauung, ist nichts gegeben, als ihre Lage in der bürgerlichen Welt, und diejenigen Kennzeichen von dem Grade ihrer Bildung, die in dem äußern Anstände liegen. In dem letzten ist nichts gegeben als ihre Absicht, sich auf eine Zeit lang aus ihren bürgerlichen Verhältnissen herauszusetzen, und einem freien Spiel ihrer intellectuellen Thätigkeit Raum zu geben — denn allerdings muß man voraussetzen, daß Alle die Gesellschaft als Zweck an sich betrachten, und in ihr nichts wollen als sie selbst. Diese beiden Data sind einander gerade entgegengesetzt, indem das eine mich auf ihre bürgerlichen Verhältnisse hinweist, und das andre mich gerade davon zurückzieht. Die Frage, von wel-

7 G e w a n d t h e i t ] Gewandtheit

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chem von beiden ausgegangen werden soll, führt daher wieder auf zwei entgegengesetzte Maximen in dem Geiste der vorher entdeckten Parteien. | Einige nämlich sagen: da die Aufgabe darin besteht, den Charakter der Gesellschaft zu finden, zu welcher die gegenwärtigen Personen geeignet sind, so ist die Angabe, daß sie überhaupt eine Gesellschaft seyn wollen, nicht gemacht um davon auszugehn; denn man kann bekanntlich aus dem Allgemeinen allein das Besondere, was darunter begriffen ist, nicht bestimmen. Es bleibt also nichts übrig, als von der Erscheinung der Personen selbst auszugehn, und die Aufgabe reducirt sich nur darauf, aus dem Stoff, den uns jeder von ihnen durch seine Erscheinung selbst darbietet, das Gemeinschaftliche aufzusuchen, und dies als den Charakter der Gesellschaft festzusetzen. Diese Verfahrungsart hat unstreitig den Vortheil, daß sie uns sehr bald zu der gesuchten Bestimmung führt; aber sie hat auch alles Nachtheilige von der ihr ähnlichen bereits oben beurtheilten, daß sie nämlich die Freiheit der Einzelnen ungebührlich beschränkt, und eben dadurch die Gesellschaft das Ziel nicht erreichen läßt, zu welchem sie kommen könnte. Wenn ich weiß, daß der eine ein Kaufmann, der andre ein Financier, und der dritte ein Landwirth ist, so ist freilich das gemeinschaftliche, welches aus diesen Bestimmungen herfließt, sehr bald gefunden; aber was ich aus dem bloßen Begrif von der bürgerlichen Lage eines Menschen über seine Talente, | seine Kenntnisse und seine Bildung weiß, ist doch nur das Minimum dessen, was er seyn kann, nämlich das, was er von Berufs wegen nothwendig seyn muß. Wie viel andere Kenntnisse und Ideen können nicht diese drei Menschen noch besitzen und auswechseln, die zu ihrem Beruf gar nicht gehören? Wenn ich es mir also zum Gesetz mache, nur bei diesem stehn zu bleiben, und nur das gemeinschaftliche desselben als die Sphäre anzusehn, aus welcher ich nicht herausdarf, so beschränke ich durch eine Operation der trägen Vernunft den Charakter der Gesellschaft, und halte sie auf einer ungleich niedrigem Stuffe zurück, als die, auf der sie stehen könnte. Es ist eine unmittelbare Folge aus dieser Maxime, daß, je homogener die Mitglieder einer Gesellschaft in Absicht auf ihren Beruf sind, desto mehr die Gegenstände ihres Standes die Sphäre der Unterhaltung ausmachen, weil sie das erste sind, was sich aus jener Bestimmung ergiebt, und reichhaltig genug, um nach nichts weiterem zu suchen; und daß, je heterogener sie in dieser Rücksicht sind, um desto mehr sich alles zu allgemeinen politischen Betrachtungen neigen muß, weil, bei aller Verschiedenheit des Standes, die Lage in einem bestimmten Staate und im civilisirten Welttheile überhaupt, noch das letzte Gemeinschaftliche ist, woran sich derjenige hal2 Parteien.] In der Mitte der nächsten Zeile von OD steht die redaktionelle Mitteilung (Die Fortsetzung folgt.) 3 Einige] In den drei vorangehenden Zeilen von OD steht die redaktionelle Mitteilung VI. / Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. / ( F o r t s e t z u n g . ) 16 läßt] lassen

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ten kann, der von jenem Gesichtspunkt ausgegangen ist. Man sieht, wie allgemein diese Maxime befolgt wird, indem so häufig, wo Gelehrte, Geschäftsmänner oder Frauen allein zusammenkommen, das erste Statt findet, und in großen vermischten Gesellschaften allemal zuerst die Politik herrscht, und nachdem man dieser müde ist, die Mitglieder sich wiederum nach ihren Ständen in kleine Zirkel gleichsam unwillkührlich durch chemische Aehnlichkeit krystallisiren, gewiß zum großen Schaden der Geselligkeit, die auf diese Art ihren End-|zweck, den Menschen auf eine Zeitlang aus dem Gesichtspunkt seines Berufs herauszusetzen, gar nicht erreichen kann. Ich kann mich hiebei der Bemerkung nicht enthalten, ob nicht, wenn es anders wahr ist, daß die bessere Geselligkeit sich bei uns zuerst unter den Augen und auf Betrieb der Frauen bildet, dieses, wie so vieles andere Vortrefliche, in den menschlichen Dingen ein Werk der Noth ist? Die Frauen nämlich sind, wenn sie der hier getadelten Maxime folgen, weit übler daran, als die Männer, und ihre auf diese Art organisirten Gesellschaften müssen nothwendig die schlechtesten und gemeinsten seyn. Denn wenn der Mann auch von seinem Beruf spricht, so fühlt er sich doch von einer Seite noch frei, nämlich von der häuslichen; dagegen die Frauen, bei denen beides zusammenfällt, bei einer solchen Unterhaltung alle ihre Fesseln fühlen. Dies treibt sie dann weg unter die Männer, bei denen sie denn, weil sie mit dem bürgerlichen Leben nichts zu thun haben, und die Verhältnisse der Staaten sie nicht interessiren, jener Maxime nicht mehr folgen können, und eben dadurch, daß sie mit ihnen keinen Stand gemein haben, als den der gebildeten Menschen, die Stifter der besseren Gesellschaft werden. Die zweite Maxime hält sich an den Zweckbegriff der Geselligkeit, und verneint deswegen das Verfahren der ersten: Sie sagt: man dürfe zur Bestimmung der gemeinschaftlichen Sphäre nicht von der ersten Erscheinung der Personen und ihrer bürgerlichen Situation ausgehen, weil man sich in der freien Geselligkeit ja eben über diese erheben wolle. Diejenigen, welche von diesem Punkt ausgehn, behaupten: der Satz, daß Alle zusammen eine Gesellschaft ausmachen wollen, sey bestimmt genug; er schließe das schon in sich, daß man Allen eine Empfänglichkeit zuschreiben müsse, für Alles, was ohne zu einem bestimmten | bürgerlichen Verhältniß zu gehören, allgemein interessiren kann, daß man Allen zutrauen müsse, Sinn zu haben für das beste, was Jeder Einzelne geben kann. Dies müsse also Jeder herbeibringen, und die Sphäre der Gesellschaft construiren, aus der vereinigten Summe dessen, worin jeder Einzelne, seine Berufsgeschäfte abgerechnet, am vollkommensten sey. Dies Verfahren hat unstreitig den löblichen Endzweck, die Gesellschaft so hoch zu stellen als nur möglich; aber den Nachtheil, daß sie auf diese Weise wahrscheinlich gar nicht zu Stande kommt. Je mehr sich ein Jeder an das halten will, worin er am vorzüglichsten ist, desto mehr muß natürlich darunter seyn, wovon die Andern, wenn es ihnen auch an Sinn nicht fehlt, doch keine Einsicht haben, und ohne die-

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se ist ein freies Gedankenspiel nicht möglich. Wer auf diesem Punkt stehen bleibt, wird nothwendig immer einen Ton angeben, in den die andern nicht einstimmen können, und ohne eine andere Regel, welche angeben müßte, wie weit Jeder in seinen Gegenstand eindringen dürfe, zu welcher aber gar keine Data vorhanden sind, wird eigentlich gar nichts gemeinschaftliches bestimmt. Von welchem Punkt man also auch ausgehe, so verfehlt man Jedesmal den Zweck der Gesellschaft oder das gesuchte Gesetz. Die Forderung wird also wieder nicht anders zu lösen seyn, als wenn man beide gegebenen Sätze schlechthin vereinigt, und von ihrer Vereinigung ausgeht. Dies thun wir, so daß wir den einen zur Bedingung oder zur Grenze des Andern machen. Wir gehen aus von der Anschauung der Person, und bedingen das, was sich daraus ergiebt, durch den Endzweck der freien Geselligkeit. In dieser Vereinigung liegt folgendes: U m das Quantum des Stoffs, dessen eine bestimmte Vereinigung von Personen fähig ist, zu finden, muß man allerdings von dem Stoff ausgehn, | den die bürgerliche Lage derselben als nothwendig in ihnen vorhanden anweist; aber man muß zugleich voraussetzen, sie haben denselben so weit kultivirt, daß er zum Zweck der freien Geselligkeit geeignet ist, indem sie zu solchen Ansichten und Kenntnissen davon gelangt seyen, die allgemein interessant sind, und über die eigentliche Sphäre des Gewerbes und des Berufs hinausliegen. „Diese allgemeinen Ideen über das, was in den Berufsgeschäften der Versammelten gemeinschaftliches ist, sind also der natürliche und ursprüngliche Stoff der Gesellschaft." — Eben so gut hätten wir aber auch von dem andern Punkt, dem Endzweck der freien Geselligkeit ausgehn, und das so gefundene durch den ersten Punkt, nämlich die Anschauung der Personen, bedingen können. Die zweite von den getadelten Maximen forderte, daß Alles als der Stoff der Gesellschaft herbeigebracht werden sollte, was Jeder gemein interessirendes in der größten Vollkommenheit geben könne, und dies fanden wir so unbedingt ganz unthunlich. Unser gegenwärtiges Verfahren giebt uns nun für dieses Ansinnen den bürgerlichen Standpunkt der Vereinigten als Grenze an. Jedes bürgerliche Verhältniß nämlich, in so fern es anhaltende Beschäftigung mit einem Gegenstande voraussetzt, hält diejenigen, die daran gebunden sind, von denen Theilen der allgemeinen Bildung nothwendig zurück, die ein gerade entgegengesetztes Verfahren erfodern, oder von jenem Gegenstande am weitesten entfernt sind. Und so nimmt nun der Satz die Gestalt an: „Gehe bei der Bestimmung der Sphäre einer Gesellschaft von dem Totale des geselligen Stoffs überhaupt aus, abgerechnet jedoch dasjenige, worin irgend einer aus der Gesellschaft beinahe nothwendig unwissend seyn m u ß . " So haben wir also durch unsre Vereinigung, indem wir von jedem der beiden Punkte ausgehn, und jeden durch

40 jeden] jeder

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den andern | begränzen konnten, wiederum zwei verschiedene Regeln er- 116 halten, die beide nach derselben Vorschrift construirt sind, und also gleichen Anspruch auf unsere Billigung haben. Die Frage, ob wir beide einzeln stehen lassen, oder sie wiederum wie die obigen verbinden sollen, wird leicht durch die Bemerkung entschieden, daß die erste den Begriff eines Kleinsten, die andere den eines Größten darstellt. Der Strenge nach sollten wir beide vereinigen, und wir sehen jetzt, daß wir es auch können: nämlich, von beiden ausgehen, heißt zwischen beiden schweben. An einem Begriff, der nur so bestimmt ist, ist eigentlich nichts bestimmt als seine Gränzen, und er kann also nie genau, sondern immer nur durch Annäherung gefunden werden. Dies ist also das wahre und endliche Resultat unserer Untersuchung: Suche die Sphäre der Gesellschaft zwischen den angegebenen Grenzen immer genauer zu bestimmen. Die gesellige Vollkommenheit, welche sich hierauf bezieht, besteht also darin, daß man sich zwischen den äußersten Gränzpunkten der Gesellschaft, welche auf die erörterte Art sehr bestimmt gefunden werden können, mit Leichtigkeit bewege; daß man alles dazwischenliegende auf eine solche Weise berühre, welche, wenn Empfänglichkeit da ist, ihrer Wirkung nicht verfehlen kann, und wenn es daran fehlt, Niemanden in Verlegenheit setze, und daß man aus den leisesten Andeutungen merke, was diesem oder jenem zu hoch ist. Diese Kunst ist es, welche eigentlich die F e i n h e i t in der Conversation ausmacht. Unserm Vorsatz nach haben wir nun beide Ansichten des quantitativen Gesetzes betrachtet, die Vollkommenheiten des geselligen Betragens, welche durch dieselben gefordert werden, bestimmt, und den Charakter der Gesellschaft als Größe daraus abgeleitet; es fehlt nur noch, daß wir beide Hälften zusammenlegen, und zu einem Ganzen verbinden. Dabei entsteht nun aber | eine neue Schwierigkeit. Die erste Ansicht nämlich enthielt 117 das Gebot, daß wir in keinem Augenblick etwas thun sollten, wodurch wir über den Stoff, der den Charakter der Gesellschaft ausdrückt, hinausgehen. In der zweiten erscheint dieser Charakter selbst als etwas, was nie völlig bestimmt ist, und es wird uns geboten, in jedem Augenblick etwas zu thun, um ihn genauer zu finden. Auch diese beiden Gebote, die doch ein Ganzes ausmachen, und den Begriff der Schicklichkeit erst vollenden sollen, stehen also im Widerspruch. Deshalb wird auch so oft nur dem einen Genüge geleistet, der andere dagegen gänzlich vernachläßigt. Die daraus entstehenden Fehler verstoßen gegen den Begriff der Schicklichkeit in seiner Totalität, und das Unschickliche zeigt sich also hier in seinem grellsten Lichte, als das Lächerliche. Was kann lächerlicher seyn, als wenn Jemand das natürliche Streben der Unterhaltung, sich auf eine hohe Sphäre zu erheben, ganz unterdrückt, immer hartnäckig stehen bleibt, wo er anfangs gewesen ist, und auch Andere mit Gewalt da fest zu halten sucht. So wie ein solches Verfahren, wenn es in dem Laufe eines ganzen Lebens, im Kreise der Wissenschaften, oder der politischen Welt beobachtet wird, dem uninteressirten Zu-

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schauer höchst lächerlich auffällt, indem es die Theilhabenden martert, so bewirkt es auch beides in dem kurzen Zeitraum eines Abends, und auf der kleinen Bühne der Conversation. Nicht minder lächerlich ist derjenige, der, wie arrogante Neuerer in jenen größeren Sphären auch zu thun pflegen, immerdar bestrebt ist, den Ton höher und höher zu spannen, und der Gesellschaft nun nicht Zeit lassen will, bei dem zu verweilen, was sie angenehm unterhält. Um auch diese Verirrungen, die offenbar auch darin bestehen, daß die Hälfte für das Ganze genommen wird, zu vermeiden, müssen wir nun diese beiden Gebote ebenfalls mit einander vereinigen, | was ohnedies in unserer Aufgabe liegt, indem jedes unsre ganze Zeit in Beschlag nimmt, und also beide in einer und derselben Handlung befriedigt werden sollen. „Das Nichtherausgehen aus dem Charakter einer Gesellschaft, und das nähere Bestimmen dieses Charakters, muß eins seyn." In diesem letzteren, dem ganzen ersten Theil der geselligen Gesetzgebung zum Schluß dienenden Gebot, liegen wiederum zwei Regeln. Erstlich: „Das nähere Bestimmen der gesellschaftlichen Sphäre soll seyn ein Nichtherausgehen aus derselben," das heißt, ich soll bei diesem Geschäft nie von dem erwähnten G r ö ß t e n ausgehn — denn so müßte ich gewiß über vieles hinweg, was außerhalb der gesuchten Sphäre liegt — sondern ich soll von dem K l e i n s t e n aus mich mit Behutsamkeit gegen das größere hin bewegen. Nicht selten sieht man das alte Horazische Sprüchlein auf eine besonders anmuthige Weise durch diesen Antiklimax der Conversation dargestellt, wenn ein Gespräch mit hohen Dingen anfängt, und sich nach und nach bis in die gemeinste Sphäre zurückzieht. Zweitens: „Das Nichthinausgehn aus der gemeinschaftlichen Sphäre muß zugleich ein näheres Bestimmen derselben seyn." Dasselbe, und alles das was ich thue, um die Gesellschaft nach den Vorschriften der ersten Ansicht zu unterhalten, muß zugleich auch die Absicht haben, sie nach den Vorschriften der zweiten weiter fortzubilden. Es sind mir sonach gar keine eigene Handlungen und Aeußerungen erlaubt, um zu versuchen, wie genau der Charakter der Gesellschaft sich bestimmen, oder wie hoch er sich spannen läßt; sondern dies muß — damit ich nicht meine Zeit in möglichen Versuchen verliere — nur ein Nebengeschäft desjenigen seyn, was ich eigentlich thue, um die Gesellschaft zu unterhalten. Alle gesellschaftlichen Aeußerungen müssen dem zufolge eine doppelte Tendenz, gleichsam einen doppelten Sinn | haben, einen, den ich den gemeinen nennen möchte, der sich unmittelbar auf die Unterhaltung bezieht, und seinen Zweck nothwendig und unfehlbar erreicht, und einen andern gleichsam höheren, der nur aufs ungewisse hingeworfen wird, ob ihn etwa jemand aufnehmen, und die darin enthaltenen Andeutungen weiter verfolgen will. Auf wie mancherlei Art dies geschehen kann, kann hier nicht aufgezählt werden; auf jede Art nämlich, wie Ideen, oder ganze Ideenkreise, durch Verwandtschaft angeregt werden. N u r Eins: es liegt in dieser Regel die Vertheidigung zweier Gattungen, welche insgemein in einem schlechten

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Ruf stehn, in der That aber, wenn sie nur recht gebraucht werden, auf dem höchsten Gipfel des Schicklichen liegen; ich meine die Anspielung und die Persiflage. Die erste besteht darin, wenn in der Art, wie eine Idee ausgedrückt wird, eine Beziehung liegt, auf den bekannten Ausdruck einer andern, wenn diese gleich in einer andern Sphäre liegt. Die letzte darin, daß etwas, dem gemeinen Sinne nach ernsthaft gesagtes, zugleich auf einen andern hindeutet, in dem es ein Scherz ist. Das nachtheilige Urtheil, welches gewöhnlich von diesen Aeußerungen und von den leichteren Arten der Ironie und Parodie, die etwa noch hieher gehören möchten, gefällt wird, gründet sich theils darauf, daß man voraussetzt, es solle allemal eine Person, und wohl gar eine anwesende, der Gegenstand davon seyn — und wenn das wäre, wie es nicht ist, so bliebe es immer ein strafbares und der Existenz der Gesellschaft gefährliches Unternehmen — theils darauf, weil auf diese Art zwischen denen, die sich darauf verstehen, zum großen Nachtheil der Uebrigen, eine Art von geheimer Gesellschaft gestiftet wird, und das ist freilich nicht zu läugnen. Um dies zu rechtfertigen, müssen wir die Arten unterscheiden, wie Menschen zum geselligen Zweck in einem Raum versammelt wer-1den, und das führt auf einige Ideen, die als Anhang zu diesem ersten Theil am besten Platz finden werden. Nach dem, was wir bis jetzt gesehen haben, kommt nämlich allerdings sehr viel darauf an, was für Bestandtheile zu einer Gesellschaft gegeben werden. Die Sphäre derselben soll etwas A l l e n gemeinschaftliches seyn, und so macht es nothwendig einen großen Unterschied, wenn einer, oder eine verhältnißmäßig nur kleine Anzahl, an Kenntnissen und an Bildung zu sehr hinter den Uebrigen zurückstehen. Richten sich diese nach ihnen, so sind die Besseren genirt, und die Gesellschaft muß, ohnerachtet sehr vorzüglicher Bestandtheile, mittelmäßig oder schlecht bleiben; richten sie sich nicht nach ihnen, so sind die Schlechteren deplacirt. Was hiebei zu thun sey, hängt ganz von der Art ab, wie eine so ungleichartige Gesellschaft sich gebildet hat. Die Bestandtheile einer Gesellschaft werden auf dreierlei Art zusammengebracht: durch Zufall, durch gemeinschaftliche Willkühr Aller, oder durch die irgend eines Einzelnen. Wenn sehr ungleichartige Menschen durch Zufall — meistentheils an einem öffentlichen Orte — in einem Raum versammelt sind, so haben sie dadurch noch gar keine Verbindlichkeit, ja kaum eine Veranlassung zu der Idee, eine einzige Gesellschaft ausmachen zu wollen. Sie dürfen sich dem natürlichen Triebe zur geselligen Krystallisation überlassen, und es hängt ganz von ihnen ab, ob sie, wenn einer von niederer Art durch diese Operation zu sehr isolirt würde, ihm zu Liebe ihr geselliges Vergnügen etwas herabstimmen wollen. In diesem Falle giebt es also zu einem solchen Hülfsmittel, in der größeren Gesellschaft eine kleinere geheime zu errichten, gar keine Veranlassung. Noch weniger findet sie Statt, wenn durch gemeinschaftliche Willkühr in geschlossenen Gesellschaften sehr ungleichartige Bestandtheile zusammen-|kommen. Hier hat

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ein jeder Schuld daran, daß derjenige da ist, der seinen geselligen Genuß heruntersetzt; er hat seine Einstimmung gegeben, ihn mit zur Einheit der Gesellschaft zu ziehen, und dieser muß nun auch gemäß gehandelt werden. Jedoch wird dieser Fall nicht häufig vorkommen, indem es bei den meisten geschlossenen Gesellschaften weniger auf wahre freie Geselligkeit, als auf eine andere Art, sich zu vergnügen abgesehen ist. Am häufigsten ereignet er sich unstreitig in Gesellschaften, die durch die Willkühr eines Einzelnen zusammengebracht sind, und das ändert die ganze Art zu verfahren. Der Wirth hat unstreitig die Verpflichtung, bei der Wahl seiner Gäste darauf zu sehn, daß er ihnen die Befolgung des Gebots der Schicklichkeit nicht erschwere, und sie nur so zusammen zu bringen, daß, wenn sie auch dies Gebot in seinem ganzen Umfange erfüllen wollten, ihr geselliger Genuß dadurch doch nicht verkürzt wird. Hat er dies nun aus Ungeschicktheit versäumt, so giebt es ja kein höflicheres und freundlicheres Hülfsmittel, als, die Einheit bestehen zu lassen, und zur Herzenserleichterung neben ihr und in ihr, ohne Nachtheil der Andern, insgeheim, wenn gleich nur auf vorübergehende Augenblicke, eine reizendere und gehaltvollere Vereinigung zu stiften; besonders da das Mittel an sich ganz rechtmäßig ist, und immer zugleich die Aufforderung an die Andern mit ergeht, welche sich, wenn sie sie verständen, nur um so besser dabei befinden würden. Je größer eine Gesellschaft ist, desto leichter wird freilich eine Ungeschicktheit dieser Art begangen; dennoch aber hilft es nichts, sich eine bestimmte Zahl zu setzen, wie noch kürzlich Kant sehr ernsthaft die Vorschrift sanktionirt hat, daß eine gute Gesellschaft zwischen der Zahl der Grazien und der der Musen eingeschlossen seyn müsse. Wer aus reinen Absichten eine Gesellschaft zusammenbittet, dem werden | immer einige, die er gern en rapport setzen will, als die Hauptpersonen vorschweben, und dann wird sich sehr leicht bestimmen lassen, wie weit er sich in den Nebenfiguren versteigen dürfe, wenn er sich nur die Frage aufwirft: ob, indem er diesen und jenen hinzuthut, die Gesellschaft selbst, als Quantum, werde vergrößert oder verkleinert werden. — Allen läßt sich dies freilich nicht empfehlen; denn wer wird so viel Nachdenken darauf wenden wollen, wo es auf nichts weiter ankommt, als einige Menschen um einen halben Tag reicher oder ärmer zu machen! Und wie selten ist es eigentlich die Absicht des Wirths, einen Zustand freier Geselligkeit zu stiften, und eine Gesellschaft hervorzubringen. Er will sich einiger Verbindlichkeiten entledigen, oder eine Ausstellung seines Hausraths und seines Geschmacks veranstalten, und setzt sich dann natürlich keine andre Gränze, als die Größe seiner Säle. Sobald dies aus irgend 6 abgesehen] angesehen

23-25 Vgl. oben Anm. zu 43,6f

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einem Kennzeichen hervorgeht, stehn die Geladenen offenbar gegen einander in demselben Verhältniß, als ob sie durch einen Zufall zusammengebracht wären; denn eine so fremdartige und inhumane Ursach gilt einem Zufalle gleich. Da sie nun gegen den Wirth, der sie durch diesen Mißbrauch ihrer geselligen Neigung eigentlich höchlich beleidigt hat, in diesem Fall gar keine Rücksichten zu beobachten haben, so haben sie volles Recht, sich zu vergnügen wie sie können, sollte es auch durch eine gänzliche Zersplitterung der Gesellschaft in einzelne Theile geschehen. Dies ist aber auf jeden Fall, nach meinen Begriffen, das ärgste, was gegen einen Wirth oder gegen die Mitgeladenen geschehen kann (ohnerachtet der erstere oft nichts besseres begehrt, als daß sein elegantes Haus wie ein Gasthof behandelt werde, und die letztern sich oft desto mehr ergötzen, je mehr das Ganze einer Karrikatur ähnlich sieht), und es ist also weit humaner, diese Spaltung so unmerklich als | möglich zu machen; und das ist doch das ärgste, was geschehen kann, wenn das Gespräch eine Zeitlang durch Anspielungen und Persiflagen geführt wird. Uebrigens liegt es im Wesen einer Theorie, und braucht also eigentlich nicht ausdrücklich gesagt zu werden, daß die darin aufgestellten Ideen Ideale sind, welchen sich die Ausübung nur nähern soll. Das ist denn auch der Fall mit dem hier durchgeführten Begriff, daß jede Gesellschaft eine Einheit, ein Ganzes seyn soll. Eine jede wird unvermeidlich nicht nur Augenblicke haben, wo sie eigentlich in mehrere Theile getheilt ist, sondern es wird auch für die vortreflichste ein besonderes Glück seyn, wenn sie sich auch nur eine Zeitlang als ein wirkliches Ganzes erhalten kann. |

24 kann.] In der Mitte der nächsten Zeile von OD steht die redaktionelle Mitteilung (Die Fortsetzung folgt.)

Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799)

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Erste Rede.

Apologie. Es mag ein unerwartetes Unternehmen sein, und Ihr mögt Euch billig darüber wundern, daß jemand gerade von denen, welche sich über das Gemeine erhoben haben, und von der Weisheit des Jahrhunderts durchdrungen sind, Gehör verlangen kann für einen, von ihnen so ganz vernachläßigten Gegenstand. Ich bekenne, daß ich nichts anzugeben weiß, was mir einen glücklichen Ausgang weissagete, nicht einmal den, meinen Bemühungen Euren Beifall zu gewinnen, vielweniger jenen, Euch meinen Sinn und meine Begeisterung mitzutheilen. Von Alters her ist der Glaube nicht jedermanns Ding gewesen, von der Religion haben immer nur Wenige etwas verstanden, wenn Millionen auf mancherlei Art mit den Umhüllungen gegaukelt | haben, mit denen sie sich aus Herablaßung willig umhängen ließ. Jetzt besonders ist das Leben der gebildeten Menschen fern von allem was ihr auch nur ähnlich wäre. Ich weiß daß Ihr eben so wenig in heiliger Stille die Gottheit verehrt, als Ihr die verlaßenen Tempel besucht, daß es in Euren geschmackvollen Wohnungen keine andere Hausgötter giebt, als die Sprüche der Weisen und die Gesänge der Dichter, und daß Menschheit und Vaterland, Kunst und Wissenschaft, denn Ihr glaubt dies alles ganz umfassen zu können, so völlig von Eurem Gemüthe Besitz genommen haben, daß für das ewige und heilige Wesen, welches Euch jenseit der Welt liegt, nichts übrig bleibt, und Ihr keine Gefühle habt für dasselbe und mit ihm. Es ist Euch gelungen das irdische Leben so reich und vielseitig zu machen, daß Ihr der Ewigkeit nicht mehr bedürfet, und nachdem Ihr Euch selbst ein Universum geschaffen habt, seid Ihr überhoben an dasjenige zu denken, welches Euch schuf. Ihr seid darüber einig, ich weiß es, daß nichts Neues und nichts Triftiges mehr gesagt werden kann über diese Sache, die von Philosophen und Propheten, und dürfte ich nur nicht hinzusetzen, von Spöttern und Priestern, nach allen Seiten zur Genüge be-|arbeitet ist. Am

lOf Vgl. 2 Thess

3,2

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Über die Religion

wenigsten — das kann Niemanden entgehen — seyd Ihr geneigt, von den Letzteren darüber etwas zu hören, welche sich Eueres Vertrauens schon längst unwürdig gemacht haben, als solche, die nur in den verwitterten Ruinen des Heiligthums am liebsten wohnen, und auch dort nicht leben können, ohne es noch mehr zu verunstalten und zu verderben. Dies alles weiß ich, und bin dennoch von einer innern und unwiderstehlichen N o t w e n digkeit, die mich göttlich beherrscht, gedrungen zu reden, und kann meine Einladung, daß gerade Ihr mich hören mögt, nicht zurücknehmen. Was das letzte betrifft, so könnte ich Euch wohl fragen: wie es denn komme, daß, da Ihr über jeden Gegenstand, er sey wichtig oder gering, am liebsten von denen belehrt seyn wollt, welche ihm ihr Leben und ihre Geisteskräfte gewidmet haben, und Eure Wißbegierde auch die Hütten des Landmanns und die Werkstätten der niederen Künstler nicht scheuet, Ihr nur in Sachen der Religion alles für so verdächtiger haltet, wenn es von denen kommt, welche die Virtuosen derselben zu sein behaupten, und von Staat und Volk dafür angesehen werden! I h r werdet gewiß nicht beweisen können, daß sie es nicht sind, und daß sie eher alles andere | haben und predigen, als Religion. Ein solches unberechtigtes Urtheil also wie billig verachtend bekenne ich vor Euch, daß auch ich ein Mitglied dieses Ordens bin, und ich wage es auf die Gefahr, wenn ihr mich nicht aufmerksam anhöret, mit dem großen Haufen desselben unter eine Benennung geworfen zu werden. Es ist wenigstens ein freiwilliges Geständniß, denn meine Sprache sollte mich nicht verrathen haben, und die Lobsprüche meiner Zunftgenoßen auch nicht; was ich will, das liegt so gut als völlig außer ihrem Kreise, und möchte dem wenig gleichen, was sie gern sehen und hören wollen. In das Hülferufen der Meisten über den Untergang der Religion stimme ich nicht ein, denn ich wüßte nicht, daß irgend ein Zeitalter sie beßer aufgenommen hätte als das gegenwärtige, und ich habe nichts zu schaffen mit den altgläubigen und barbarischen Wehklagen, wodurch sie die eingestürzten Mauern ihres jüdischen Zions und seiner gothischen Pfeiler wieder emporschreien möchten. Ich bin mir bewußt, daß ich in allem, was ich Euch zu sagen habe, meinen Stand völlig verläugne, warum sollte ich ihn also nicht wie irgend eine andere Zufälligkeit bekennen? Die ihm erwünschten Vorurtheile sollen uns nicht hindern, und seine hei-|lig gehaltene Grenzsteine alles Fragens und Mittheilens sollen nichts gelten zwischen uns. Als Mensch rede ich zu Euch von den heiligen Mysterien der Menschheit nach meiner Ansicht, von dem was in mir war als ich noch in jugendlicher Schwärmerei das Unbekannte suchte, von dem was seitdem ich denke und lebe die innerste Triebfeder meines Daseins ist, und was mir

1 Niemanden] vgl. Adelung: Wörterbuch 3,808f 7 gedrungen] so DV; OD: durchdrungen 14 für so] Kj für desto 19 ein] so DV; OD: nie

Erste Rede

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auf ewig das Höchste bleiben wird, auf welche Weise auch noch die Schwingungen der Zeit und der Menschheit mich bewegen mögen. Daß ich rede rührt nicht her aus einem vernünftigen Entschluße, auch nicht aus Hoffnung oder Furcht, noch geschiehet es einem Endzweke gemäß oder aus irgend einem willkührlichen oder zufälligen Grunde: es ist die innere unwiderstehliche Nothwendigkeit meiner Natur, es ist ein göttlicher Beruf, es ist das was meine Stelle im Universum bestimmt, und mich zu dem Wesen macht, welches ich bin. Sei es also weder schiklich noch rathsam von der Religion zu reden, dasjenige was mich also dringt, erdrückt mit seiner himmlischen Gewalt diese kleinen Begriffe. Ihr wißt daß die Gottheit durch ein unabänderliches Gesez sich selbst genöthiget hat, ihr großes Werk bis ins Unendliche hin zu entzweien, jedes bestimmte Dasein nur aus zwei | entgegengesezten Kräften zusammenzuschmelzen, und jeden ihrer ewigen Gedanken in zwei einander feindseligen und doch nur durch einander bestehenden und unzertrennlichen Zwillings gestalten zur Wirklichkeit zu bringen. Diese ganze körperliche Welt, in deren Inneres einzudringen das höchste Ziel Eures Forschens ist, erscheint den Unterrichtetsten und Denkendsten unter Euch nur als ein ewig fortgeseztes Spiel entgegengesezter Kräfte. Jedes Leben ist nur das Resultat eines beständigen Aneignens und Abstoßens, jedes Ding hat nur dadurch sein bestimmtes Dasein, daß es die beiden Urkräfte der Natur, das durstige an sich ziehen und das rege und lebendige Selbst verbreiten, auf eine eigenthümliche Art vereinigt und festhält. Es scheint mir als ob auch die Geister, sobald sie auf diese Welt verpflanzt werden, einem solchen Geseze folgen müßten. Jede menschliche Seele — ihre vorübergehende Handlungen sowohl als die innern Eigentümlichkeiten ihres Daseins führen uns darauf — ist nur ein Produkt zweier entgegengesezter Triebe. Der eine ist das Bestreben alles was sie umgiebt an sich zu ziehen, in ihr eignes Leben zu verstriken, und wo möglich in ihr innerstes Wesen ganz einzusaugen. Der andere ist die Sehnsucht ihr eigenes inneres | Selbst von innen heraus immer weiter auszudehnen, alles damit zu durchdringen, allen davon mitzutheilen, und selbst nie erschöpft zu werden. Jener ist auf den Genuß gerichtet, er strebt die einzelnen Dinge an, die sich zu ihm hinbeugen, er ist gestillt so oft er eines von ihnen ergriffen hat, und wirkt nur mechanisch immer auf das nächste. Dieser verachtet den Genuß und geht nur auf immer wachsende und erhöhte Thätigkeit; er übersieht die einzelnen Dinge und Erscheinungen, eben weil er sie durchdringt, und findet überall nur die Kräfte und Wesenheiten an denen sich seine Kraft bricht; alles will er durchdringen, alles mit Vernunft und Freiheit erfüllen, und so geht er gerade aufs Unendliche und sucht und wirkt überall Freiheit

4 Endzweke] Entzweke eigens

13 entgegengesezten] entgegensezten

19 Aneignens] Ann-

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Über die

Religion

und Zusammenhang, Macht und Gesez, Recht und Schiklichkeit. So wie aber von den körperlichen Dingen kein einziges allein durch eine von den beiden Kräften der materiellen Natur besteht, so hat auch jede Seele einen Theil an den beiden ursprünglichen Functionen der geistigen Natur, und die Vollkommenheit der intellektuellen Welt besteht darin, daß alle mögliche Verbindungen dieser beiden Kräfte zwischen den beiden entgegengesetzten Enden, da hier die eine dort die andere fast ausschließend alles ist, und | der Gegnerin nur einen unendlich kleinen Theil übrig läßt, nicht nur wirklich in der Menschheit vorhanden seien, sondern auch ein allgemeines Band des Bewußtseins sie alle umschlinge, so daß jeder Einzelne, ohnerachtet er nichts anderes sein kann als was er sein muß, dennoch jeden anderen eben so deutlich erkenne als sich selbst, und alle einzelne Darstellungen der Menschheit vollkommen begreife. Diejenigen, welche an den äußersten Enden dieser großen Reihe liegen, sind heftige ganz in sich selbst gekehrte und sich vereinzelnde Naturen. Den Einen gebietet die unersättliche Sinnlichkeit eine immer größere Maße irdischer Dinge um sich her zu sammeln, die sie gern aus dem Zusammenhange des Ganzen herausriße, um sie ganz und allein sich einzuverleiben; in dem ewigen Wechsel zwischen Begierde und Genuß kommen sie nie über die Wahrnehmungen des Einzelnen hinaus, und immer mit selbstsüchtigen Beziehungen beschäftigt, bleibt ihnen das Wesen der übrigen Menschheit unbekannt. Die Anderen treibt ein ungebildeter, sein Ziel überfliegender Enthusiasmus rastlos im Universum umher; ohne irgend etwas wirkliches beßer zu gestalten und zu bilden, schweben sie um leere Ideale herum und ihre Kraft ohne Nutzen verdünnend und verzeh-jrend kehren sie thatenlos und erschöpft auf ihren ersten Punkt zurück. Wie sollen diese äußersten Entfernungen zusammengebracht werden, um die lange Reihe in jenen geschloßenen Ring zu gestalten, der das Sinnbild der Ewigkeit und der Vollendung ist? Es giebt freilich einen gewißen Punkt, wo ein fast vollkommnes Gleichgewicht beide vereiniget, und diesen pflegt Ihr weit öfter zu überschäzen, als daß er zu niedrig gewürdigt würde, indem er gemeinhin nur ein Zauberwerk der mit den Idealen der Menschen spielenden Natur, und nur selten das Resultat einer angestrengten und durchgeführten Selbstbildung ist. Ständen aber Alle, die nicht mehr an den äußersten Enden wohnen, auf diesem Punkte, so wäre gar keine Verbindung jener Enden mit dieser Mitte möglich, und der Endzweck der Natur wäre gänzlich verfehlt. In die Geheimniße einer solchen zur Ruhe gebrachten Mischung dringt nur der gedankenvolle Kenner ein; für jedes gemeine Auge sind die einzelnen Elemente darin gänzlich verborgen, und es würde nie weder sein eigenes noch das ihm entgegengesezte erkennen. Darum sendet die Gottheit zu allen Zeiten hie und da Einige, in denen bei-

39 entgegengesezte] entgegesezte

Erste

Rede

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des auf eine fruchtbarere Weise verbunden ist, rüstet sie aus mit wunderbaren Gaben, eb-|net ihren Weg durch ein allmächtiges Wort, und sezt sie ein zu Dolmetschern ihres Willens und ihrer Werke, und zu Mittlern desjenigen, was sonst ewig geschieden geblieben wäre. Sehet auf diejenigen, welche einen hohen Grad von jener anziehenden Kraft, die sich der umgebenden Dinge thätig bemächtigt, in ihrem Wesen ausdrüken, zugleich aber auch von dem geistigen Durchdringungstriebe der nach dem Unendlichen strebt, und in Alles Geist und Leben hineinträgt, so viel besizen, daß sie ihn in den Handlungen äußern, wozu jener sie antreibt; diesen genügt es nicht eine rohe Maße irdischer Dinge gleichsam zerstörend zu verschlingen, sondern sie müßen etwas vor sich hinstellen, es in eine kleine Welt, die das Gepräge ihres Geistes trägt, ordnen und gestalten, und so herrschen sie vernünftiger, genießen bleibender und menschlicher, so werden sie Helden Gesetzgeber Erfinder Bezwinger der Natur, gute Dämonen, die eine edlere Glükseligkeit im Stillen schaffen und verbreiten. Solche beweisen sich durch ihr bloßes Dasein als Gesandte Gottes und als Mittler zwischen dem eingeschränkten Menschen und der unendlichen Menschheit. Sie zeigen dem unthätigen bloß spekulativen Idealisten, der sein Wesen in einzelnen leeren Gedanken zer-|splittert, dasjenige thätig, was in ihm bloß träumend war, und in dem was er bisher verachtete, den Stoff den er eigentlich bearbeiten soll; sie deuten ihm die verkannte Stimme Gottes, sie söhnen ihn aus mit der Erde und mit seinem Plaze auf derselben. Noch weit mehr aber bedürfen die bloß Irdischen und Sinnlichen solcher Mittler, die ihnen jene höhere Grundkraft der Menschheit begreifen lehren, indem sie ohne ein Treiben und Thun wie das ihrige beschauend und erleuchtend alles umfaßen, und keine andere Grenzen kennen wollen als das Universum, welches sie gefunden haben. Giebt Gott einem, der in dieser Laufbahn sich bewegt, zu seinem Streben nach Ausdehnung und Durchdringung auch jene mystische und schöpferische Sinnlichkeit, die allem Inneren auch ein äußeres Dasein zu geben strebt, so muß er nach jedem Ausfluge seines Geistes ins Unendliche den Eindruck den es ihm gegeben hat hinstellen außer sich, als einen mittheilbaren Gegenstand in Bildern oder Worten, um ihn selbst aufs neue in eine andere Gestalt und in eine endliche Größe verwandelt zu genießen, und er muß also auch unwillkürlich und gleichsam begeistert — denn er thäte es, wenn auch Niemand da wäre — das was ihm begegnet ist, für Andere | darstellen, als Dichter oder Seher, als Redner oder als Künstler. Ein solcher ist ein wahrer Priester des Höchsten, indem er ihn denjenigen näher bringt, die nur das Endliche und Geringe zu fassen gewohnt sind;

6 ausdrüken] ausdrükten

2 7 - 3 7 Vgl. Gedanken I, Nr. 154 (oben 36,8f)

37 Vgl. Gen 14,18

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Uber die

Religion

er stellt ihnen das Himmlische und Ewige dar als einen Gegenstand des Genußes und der Vereinigung, als die einzige unerschöpfliche Quelle desjenigen, worauf ihr ganzes Dichten gerichtet ist. So strebt er den schlafenden Keim der besseren Menschheit zu weken, die Liebe zum Höchsten zu entzünden, das gemeine Leben in ein höheres zu verwandeln, die Söhne der Erde auszusöhnen mit dem Himmel, der ihnen gehört, und das Gegengewicht zu halten gegen die schwerfällige Anhänglichkeit des Zeitalters an den gröberen Stoff. Dies ist das höhere Priesterthum, welches das innere aller geistigen Geheimniße verkündigt, und aus dem Reiche Gottes herabspricht; dies ist die Quelle aller Gesichte und Weissagungen, aller heiligen Kunstwerke und begeisterten Reden, welche ausgestreuet werden aufs Ohngefähr, ob ein empfängliches Gemüth sie finde und bei sich Frucht bringen laße. Möchte es doch je geschehen, daß dieses Mittleramt aufhörte, und das Priesterthum der Menschheit eine schönere Bestimmung bekäme! | Möchte die Zeit kommen, die eine alte Weissagung so beschreibt, daß keiner bedürfen wird, daß man ihn lehre, weil alle von Gott gelehrt sind! Wenn das heilige Feuer überall brennte, so bedürfte es nicht der feurigen Gebete, um es vom Himmel herabzuflehen, sondern nur der sanften Stille heiliger Jungfrauen um es zu unterhalten, so dürfte es nicht in gefürchtete Flammen ausbrechen, sondern das einzige Bestreben desselben würde sein, die innige und verborgene Gluth ins Gleichgewicht zu sezen bei allen. Jeder leuchtete dann in der Stille sich und den Andern, und die Mittheilung heiliger Gedanken und Gefühle bestände nur in dem leichten Spiele, die verschiedenen Strahlen dieses Lichts jezt zu vereinigen, dann wieder zu brechen, jezt es zu zerstreuen, und dann wieder hie und da auf einzelne Gegenstände zu konzentriren. Das leiseste Wort würde verstanden, da jezt die deutlichsten Äußerungen der Misdeutung nicht entgehen. Man könnte gemeinschaftlich ins Innere des Heiligthums eindringen, da man sich jezt nur in den Vorhöfen mit den Elementen beschäftigen muß. Mit Freunden und Theilnehmern vollendete Ideen tauschen, wie viel erfreulicher ist dies, als mit kaum entworfenen | Umrißen herausbrechen müßen in den leeren Raum! Aber wie weit sind jezt diejenigen, zwischen denen eine solche Mittheilung statt finden könnte, von einander entfernt, mit solcher weisen Sparsamkeit in der Menschheit vertheilt wie im Weltenraum die verborgenen Punkte aus denen der elastische Urstoff sich nach allen Seiten verbreitet, so nemlich, daß nur eben die äußersten Gränzen ihrer Wirkungskreise zusammenstoßen — damit doch nichts ganz leer sei — aber wohl nie einer den andern antrift. Weise freilich: denn um so mehr richtet sich die ganze Sehnsucht nach Mittheilung und Geselligkeit allein auf diejenigen, die ihrer

16f Vgl. jer 31,34; Hebr 8,11 und Job 6,45

Erste

Rede

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am meisten bedürfen, um so unaufhaltsamer wirkt sie dahin, sich die Mitgenoßen selbst zu verschaffen, die ihr fehlen. Eben dieser Gewalt liege ich unter, eben diese Natur ist auch mein Beruf. Vergönnet mir von mir selbst zu reden: Ihr wißt, was Religion sprechen heißt, kann nie stolz sein; denn sie ist immer voll Demuth. Religion war der mütterliche Leib in deßen heiligem Dunkel mein junges Leben genährt und auf die ihm noch verschloßene Welt vorbereitet wurde, in ihr athmete mein Geist, ehe er noch seine äußere Gegenstände, Erfahrung und Wißenschaft gefunden hatte, sie half mir als ich anfing den vä-|terlichen Glauben zu sichten und das Herz zu reinigen von dem Schutte der Vorwelt, sie blieb mir, als Gott und Unsterblichkeit dem zweifelnden Auge verschwanden, sie leitete mich ins thätige Leben, sie hat mich gelehrt mich selbst mit meinen Tugenden und Fehlern in meinem ungetheilten Dasein heilig zu halten, und nur durch sie habe ich Freundschaft und Liebe gelernt. Wenn von andern Vorzügen und Eigenschaften der Menschen die Rede ist, so weiß ich wohl, daß es vor Eurem Richterstuhle Ihr Weisen und Verständigen des Volks, wenig beweiset, wenn einer s a g e n kann wie er sie besitzt; denn er kann sie kennen aus Beschreibungen, aus Beobachtungen Anderer, oder wie alle Tugenden gekannt werden, aus der gemeinen alten Sage von ihrem Dasein; aber so liegt die Sache der Religion und so selten ist sie, daß wer von ihr etwas ausspricht, muß es nothwendig gehabt haben, denn er hat es nirgends gehört. Von allem was ich als ihr Werk preise und fühle steht wohl wenig in heiligen Büchern, und wem der es nicht selbst erfuhr, wäre es nicht ein Ärgerniß oder eine Thorheit? Wenn ich so von ihr durchdrungen endlich reden und ein Zeugniß von ihr ablegen muß, an wen soll ich mich damit wenden als an | Euch? Wo anders wären Hörer für meine Rede? Es ist nicht blinde Vorliebe für den väterlichen Boden oder für die Mitgenoßen der Verfaßung und der Sprache, was mich so reden macht, sondern die innige Uberzeugung, daß Ihr die einzigen seid, welche fähig und also auch würdig sind, daß der Sinn ihnen aufgeregt werde für heilige und göttliche Dinge. Jene stolzen Insulaner, welche viele unter Euch so ungebührlich verehren, kennen keine andere Losung als g e w i n n e n und g e n i e ß e n , ihr Eifer für die Wißenschaften, für die Weisheit des Lebens und für die heilige Freiheit, ist nur ein leeres Spielgefecht. So wie die begeistertsten Verfechter der lezteren unter ihnen nichts thun, als die nazionale Orthodoxie mit Wuth vertheidigen, und dem Volke Wunder vorspiegeln, damit die abergläubige Anhänglichkeit an alte Ge-

5 f heiligem] heiligen

23f Vgl.l Kor 1,23

16 Weisen] weisen

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Über die Religion

brauche nicht verloren gehe, so ist es ihnen eben nicht mehr Ernst mit allem übrigen, was über das Sinnliche und den nächsten unmittelbaren Nuzen hinausgehet. So gehen sie auf Kenntniße aus, so ist ihre Weisheit nur auf eine jämmerliche Empirie gerichtet, und so kann ihnen die Religion nichts anders sein, als ein todter Buchstabe, ein heiliger Artikel in der Verfaßung in welcher nichts reelles ist. Aus an-|dern Ursachen wende ich mich weg von den Franken, deren Anblik ein Verehrer der Religion kaum erträgt, weil sie in jeder Handlung, in jedem Worte fast ihre heiligsten Geseze mit Füßen treten. Die frivole Gleichgültigkeit mit der Millionen des Volks, der wizige Leichtsinn mit dem einzelne glänzende Geister der erhabensten That des Universums zusehen, die nicht nur unter ihren Augen vorgeht, sondern sie alle ergreift und jede Bewegung ihres Lebens bestimmt, beweiset zur Genüge wie wenig sie einer heiligen Scheu und einer wahren Anbetung fähig sind. Und was verabscheuet die Religion mehr als den zügellosen Ubermuth womit die Herrscher des Volks den ewigen Gesezen der Welt T r o z bieten? Was schärft sie mehr ein als die besonnene und demüthige Mäßigung, wovon ihnen auch nicht das leiseste Gefühl etwas zuzurufen scheint? Was ist ihr heiliger als die hohe Nemesis, deren furchtbarste Handlungen sie im Taumel der Verblendung nicht einmal verstehen? W o die wechselnden Strafgerichte, die sonst nur einzelne Familien treffen durften, um ganze Völker mit Ehrfurcht vor dem himmlischen Wesen zu erfüllen, und auf Jahrhunderte lang die Werke der Dichter dem ewigen Schiksal zu widmen, wo diese sich tausendfältig vergeb-|lich erneuern, wie würde da eine einsame Stimme bis zum Lächerlichen ungehört und unbemerkt verhallen? Hier im väterlichen Lande ist das beglükte Klima was keine Frucht gänzlich versagt, hier, findet Ihr alles zerstreut was die Menschheit ziert, und alles was gedeiht bildet sich irgendwo, im Einzelnen wenigstens, zu seiner schönsten Gestalt; hier fehlt es weder an weiser Mäßigung noch an stiller Betrachtung. Hier also muß sie eine Freistadt finden vor der plumpen Barbarei und dem kalten irdischen Sinne des Zeitalters. N u r verweiset mich nicht ungehört zu denen auf die Ihr als auf Rohe und Ungebildete herabsehet, gleich als sei der Sinn für das Heilige wie eine veraltete Tracht auf den niederen Theil des Volks übergegangen, dem es allein noch zieme in Scheu und Glauben von dem Unsichtbaren ergriffen zu werden. Ihr seid gegen diese unsere Brüder sehr freundlich gesinnt, und mögt gern, daß zu ihnen auch von andern höheren Gegenständen, von Sittlichkeit und Recht und Freiheit geredet, und so auf einzelne Momente wenigstens ihr inneres Streben dem besseren entgegengehoben, und ein Eindruk von der Würde der Menschheit in ihnen gewekt werde. So rede man denn auch mit ihnen von der | Religion, man durchgrabe bisweilen ihr ganzes Wesen bis der Punkt getroffen wird, wo dieser heilige Instinkt verborgen liegt; man entzücke sie durch einzelne Blize, die man aus ihm hervorlokt; man bahne ihnen aus dem innersten Mittelpunkte ihrer engen Be-

Erste Rede

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schränkung eine Aussicht ins Unendliche, und erhöhe auf einen Augenblik ihre thierische Sinnlichkeit zum hohen Bewußtsein eines menschlichen Willens und Daseins; es wird immer viel gewonnen sein. Aber ich bitte Euch, wendet Ihr Euch dann zu ihnen, wenn Ihr den innersten Zusammenhang und den höchsten Grund jener Heiligthümer der Menschheit aufdeken wollt? wenn der Begriff und das Gefühl, das Gesez und die That, bis zu ihrer gemeinschaftlichen Quelle sollen verfolgt, und das Wirkliche als ewig und im Wesen der Menschheit nothwendig gegründet soll dargestellt werden? Wäre es nicht glüklich genug, wenn Euere Weisen dann nur von den Besten unter Euch verstanden würden? Eben das ist aber mein Endzwek mit der Religion. Nicht einzelne Empfindungen will ich aufregen, die vielleicht in ihr Gebiet gehören, nicht einzelne Vorstellungen rechtfertigen oder bestreiten; in die innerste Tiefen möchte ich Euch geleiten, aus denen sie zuerst | das Gemüth anspricht; zeigen möchte ich Euch aus welchen Anlagen der Menschheit sie hervorgeht, und wie sie zu dem gehört was Euch das Höchste und Theuerste ist; auf die Zinnen des Tempels möchte ich Euch führen, daß Ihr das ganze Heiligthum übersehen und seine innersten Geheimnisse entdeken möget. Könnet Ihr mir im Ernst zumuthen, zu glauben, daß diejenigen, die sich täglich am mühsamsten mit dem Irdischen abquälen, am vorzüglichsten dazu geeignet seien so vertraut mit dem Himmlischen zu werden? daß diejenigen, die über dem nächsten Augenblick bange brüten und an die nächsten Gegenstände fest gekettet sind, ihr Auge am weitesten zum Universum erheben können? und daß, wer in dem einförmigen Wechsel einer todten Geschäftigkeit sich selbst noch nicht gefunden hat, die lebendige Gottheit am hellsten entdecken werde? Nur Euch also kann ich zu mir rufen, die Ihr fähig seid Euch über den gemeinen Standpunkt der Menschen zu erheben, die Ihr den beschwerlichen Weg in das Innere des menschlichen Wesens nicht scheuet, um den Grund seines Thuns und Denkens zu finden. Seitdem ich mir dieses gestand, habe ich mich lange in der zaghaften Stimmung desjenigen befunden, der ein liebes Kleinod vermis-|send, es nicht wagen wollte, noch den letzten Ort wo es verborgen sein könnte, zu durchsuchen. Es gab Zeiten wo Ihr es noch für einen Beweis besonderen Muthes hieltet, Euch theilweise von der Religion loszusagen, und gern über einzelne Gegenstände laset und hörtet, wenn es nur darauf ankam einen hergebrachten Begriff auszutilgen; wo es Euch gefiel eine schlanke Religion im Schmuke der Beredsamkeit einhergehen zu sehen, weil Ihr gern dem holden Geschlecht wenigstens ein gewißes Gefühl für das Heilige erhalten wolltet. Das alles ist nicht mehr, es soll gar nicht mehr von ihr die Rede

1 7 f Vgl. Mt 4,5

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Über die Religion

sein, und auch die Grazien selbst sollen mit unweiblicher Härte die zarteste Blume der menschlichen Phantasie verderben. An nichts anders kann ich also das Intereße, welches ich von Euch fordere, anknüpfen, als an Eure Verachtung selbst; ich will Euch nur auffordern in dieser Verachtung recht gebildet und vollkommen zu sein. Laßt Uns doch, ich bitte Euch, untersuchen, wovon sie eigentlich ausgegangen ist, vom Einzelnen oder vom Ganzen? von den verschiedenen Arten und Secten der Religion, wie sie in der Welt gewesen sind, oder von dem Begriffe selbst? O h n e Zweifel werden Einige sich zu dem Lezteren bekennen, und das pflegen immer die mit U n recht | rüstigen Verächter zu sein, die ihr Geschäft aus sich selbst treiben, und sich nicht die Mühe genommen haben eine genaue Kenntniß der Sache wie sie liegt zu erwerben. Die Furcht vor einem ewigen Wesen und das Rechnen auf eine andere Welt, das, meint Ihr, seien die Angel aller Religion, und das ist Euch im Allgemeinen zuwider. Sagt mir doch also, Ihr Theuresten, woher habt Ihr diese Begriffe von der Religion, die der Gegenstand Euerer Verachtung sind? Jede Äußerung, jedes Werk des menschlichen Geistes kann aus einem doppelten Standpunkte angesehen und erkannt werden. Betrachtet man es von seinem Mittelpunkte aus nach seinem innern Wesen, so ist es ein Produkt der menschlichen Natur, gegründet in einer von ihren nothwendigen Handlungsweisen oder Trieben, oder wie Ihr es nennen wollt, denn ich will jezt nicht über Euere Kunstsprache richten; betrachtet man es von seinen Gränzen aus, nach der bestimmten Haltung und Gestalt, die es hie und dort angenommen hat, so ist es ein Erzeugniß der Zeit und der Geschichte. Von welcher Seite habt Ihr nun dieses große geistige Phänomen betrachtet, daß Ihr auf jene Begriffe gekommen seid, welche Ihr für den gemeinschaftlichen Inhalt alles dessen ausgebt, was man je | mit dem Namen der Religion benennet hat? Ihr werdet schwerlich sagen, daß dieses eine Betrachtung der ersten Art sei; denn, Ihr Guten! alsdenn müßtet Ihr doch zugeben, daß etwas in diesen Ideen wenigstens der menschlichen Natur angehöre und wenn Ihr auch sagen wolltet, daß sie so wie man sie jetzt antrifft, nur aus Misdeutungen oder falschen Beziehungen eines nothwendigen Strebens der Menschheit entstanden seien, so würde es Euch doch ziemen Euch mit uns zu vereinigen, um das was davon wahr und ewig ist, herauszusuchen, und die menschliche Natur von dem U n recht zu befreien, welches sie allemal erleidet, wenn etwas in ihr miskannt oder misleitet wird. Bei allem was Euch heilig ist — und es muß diesem Geständniße zufolge etwas Heiliges für euch geben — beschwöre ich Euch, verabsäumt dieses Geschäft nicht, damit die Menschheit, die Ihr mit uns verehrt, Euch nicht als solchen, die sie in einer wichtigen Angelegenheit verlaßen haben, mit dem größten Rechte zürne. Und wenn Ihr denn findet, daß dies Geschäfte schon gethan sei, so kann ich doch auf Eueren Dank und Euere Billigung rechnen. — Wahrscheinlich aber werdet Ihr sagen, Euere Begriffe vom Inhalt der Religion seien nur die andere Ansicht dieser gei-|

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stigen Erscheinung, und sie sei eben deswegen leer, und werde von Euch verachtet, weil das, was im Mittelpunkt liegt, ihr ganz heterogen sei, daß es gar nicht Religion genannt werden könne, und sie also von dort gar nicht ausgegangen und überall nichts anders seyn könne, als ein leerer und falscher Schein, der sich wie eine trübe und drükende Atmosphäre um einen Theil der Wahrheit herumgelagert habe. Dies ist gewiß Euere wahre und eigentliche Meinung. Wenn Ihr aber jene beiden Punkte für den Inhalt der Religion haltet, in allen Formen unter denen sie in der Geschichte erschienen ist, so ist mir doch vergönnet zu fragen, ob Ihr auch alle ihre Erscheinungen richtig beobachtet und ihren gemeinschaftlichen Inhalt richtig aufgefaßt habt? Ihr müßt Eueren Begriff, wenn er so entstanden ist, aus dem Einzelnen rechtfertigen, und wenn Euch jemand sagt, daß er unrichtig und verfehlt sei, und auf etwas anderes hinweiset in der Religion was nicht hohl ist, sondern einen Mittelpunkt hat, so gut als jedes andere, so müßt Ihr doch erst hören und urtheilen, ehe Ihr weiter verachten dürft. Laßt es Euch also nicht verdrießen dem zuzuhören, was ich jezt mit denen sprechen will, welche gleich Anfangs richtiger aber auch müh-|samer vom Einzelnen ausgegangen sind. Ihr seid ohne Zweifel bekannt mit der Geschichte menschlicher Thorheiten, und habt die verschiedenen Gebäude der Religion durchlaufen, von den sinnlosen Fabeln wilder Nationen bis zum verfeinertsten Deismus, von der rohen Superstition unseres Volks bis zu den übelzusammengenähten Bruchstüken von Metaphysik und Moral, die man vernünftiges Christenthum nennt, und habt sie alle ungereimt und vernunftwidrig gefunden. Ich bin weit entfernt Euch darinn widersprechen zu wollen; vielmehr, wenn Ihr es damit nur aufrichtig meint, daß die ausgebildetsten Religionssysteme diese Eigenschaften nicht weniger an sich tragen als die rohesten, wenn Ihr es nur einsehet, daß das Göttliche nicht in einer Reihe liegen kann, die sich auf beiden Seiten in etwas Gemeines und Verächtliches endiget, so will ich Euch gern die Mühe erlassen, alle welche dazwischen liegen näher zu würdigen. Sie erscheinen alle als Ubergänge und Annäherungen zu den lezteren; jedes kommt etwas geschliffener aus der Hand seines Zeitalters bis endlich die Kunst zu jenem vollendeten Spielwerk gestiegen ist, womit unser Jahrhundert sich so lange die Zeit verkürzt hat. Aber diese Vervollkommnung ist eher Alles, nur nicht Annä-|herung zur Religion. Ich kann nicht ohne Unwillen davon reden; denn jammern muß es jeden, der Sinn hat für alles was aus dem Innern des Gemüths hervorgeht, und dem es Ernst ist, daß jede Seite des Menschen gebildet und dargestellet werde, wie die Hohe und Herrliche von ihrer Bestimmung entfernet ist, und ihre Freiheit verloren hat, um von dem scholastischen und metaphysischen Geist barbarischer und kalter Zeiten in einer verächtlichen

21 Deismus] Deismns

39 dem] so DV; OD: den

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Über die Religion

Sklaverei gehalten zu werden. W o sie ist und wirkt, muß sie sich so offenbaren, daß sie auf eine eigenthümliche Art das Gemüth bewegt, alle Funktionen der menschlichen Seele vermischt oder vielmehr entfernt, und alle Thätigkeit in ein staunendes Anschauen des Unendlichen auflöset. Wird Euch so zu Muthe bei diesen Systemen der Theologie, diesen Theorien vom Ursprung und Ende der Welt, diesen Analysen von der Natur eines unbegreiflichen Wesens? wo alles auf ein kaltes Argumentiren hinausläuft, und nichts anders als im Ton eines gemeinen Schulstreites behandelt werden kann? In allen diesen Systemen, die Ihr verachtet, habt Ihr also die Religion nicht gefunden und nicht finden können, weil sie nicht da ist, und wenn Euch gezeigt würde, daß sie anderswo wäre, so wä-|ret Ihr immer noch fähig sie zu finden und zu ehren. Warum seid Ihr aber nicht mehr zu dem Einzelnen herabgestiegen? Ich bewundre Euere freiwillige Unwißenheit, Ihr gutmüthigen Forscher, und Euere alzuruhige Beharrlichkeit bei dem was eben da ist und Euch angepriesen wird! Was Ihr in diesen Systemen nicht gefunden habt, das würdet Ihr in den Elementen eben dieser Systeme haben sehen müssen, und zwar nicht eines oder des andern, sondern gewiß Aller. In Allen liegt etwas von diesem geistigen Stoffe gebunden, denn ohne ihn hätten sie gar nicht entstehen können; aber wer es nicht versteht ihn zu entbinden, der behält, wie fein er sie auch zersplittere, wie genau er auch alles durchsuche, immer nur die todte kalte Maße in Händen. Die Anweisung, das Wahre und Richtige, welches Ihr in der großen Maße nicht findet, in den ersten dem Anschein nach ungebildeten Elementen zu suchen, kann Euch allen, die Ihr mehr oder minder Euch um die Philosophie bekümmert, und mit ihren Schiksalen vertraut seid, doch nicht fremd scheinen. Erinnert Euch doch wie wenige von denen, welche auf einem eigenen Wege in das Innre der menschlichen Natur und der Welt hinabgestiegen sind, und ihr gegenseitiges Verhältniß ihre | innere Harmonie in einem eigenen Lichte angeschaut und dargestellt haben, ein eigenes System der Philosophie bildeten, und ob nicht alle in einer zarteren — sollte es auch sein zerbrechlicheren — Form ihre Entdekungen mitgetheilt haben. Man hat aber doch Systeme von allen Schulen? J a eben von den Schulen, die nichts anders sind als der Siz und die Pflanzstätte des todten Buchstabens, denn der Geist läßt sich weder in Akademien festhalten, noch der Reihe nach in bereitwillige Köpfe ausgießen, er verdampft gewöhnlich auf dem Wege aus dem ersten Munde in das erste O h r . Würdet Ihr nicht dem, welcher die Verfertiger dieser großen Körper von Philosophie für die Philosophen

5 diesen Systemen] so DV; OD: diesem Systeme Allem 32 allen] so DV; OD: alten

33 Vgl. 2 Kor 3,6

12 Ihr] ihr

18 Allen] so DV;

OD:

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201

selbst hielt, und in ihnen den Geist der Wißenschaft finden wollte, belehrend zurufen: Nicht also guter Freund! in allen Dingen haben die, welche nur nachtreten und zusammentragen, und bei dem was ein andrer gegeben hat, stehen bleiben, nicht den Geist der Sache, dieser ruht nur auf den Erfindern, und zu ihnen mußt du gehen. Ihr werdet aber gestehen müßen, daß es mit der Religion um so mehr dieselbe Sache ist, da sie sich ihrem ganzen Wesen nach von allem Systematischen eben so weit entfernt, als die Philosophie sich von Natur dazu hinneigt. Be-|denket doch von wem diese künstlichen Gebäude herrühren; deren Wandelbarkeit Ihr verspottet, deren schlechtes Ebenmaaß Euch beleidigt, und deren Misverhältniß gegen ihre kleinliche Tendenz Euch so lächerlich ist? Etwa von den Heroen der Religion? Nennt mir doch unter allen denen, die irgend eine neue Offenbarung heruntergebracht haben zu uns, einen Einzigen, von dem an, der zuerst die Eine und Allgemeine Gottheit dachte — gewiß der systematischste Gedanke im ganzen Gebiete der Religion — bis zu dem neuesten Mystiker, in dem vielleicht noch ein ursprünglicher Strahl des innern Lichtes glänzt, (denn, daß ich der Buchstabentheologen nicht erwähne, welche glauben das Heil der Welt und das Licht der Weisheit in einem neuen Kostüm ihrer Formeln, oder in neuen Stellungen ihrer figurirenden Beweise zu finden, das werdet Ihr mir nicht verdenken) nennt mir unter ihnen allen einen Einzigen, der es der Mühe werth geachtet hätte, sich mit dieser sisyphischen Arbeit zu befaßen. Nur einzelne erhabene Gedanken durchzükten ihre von einem ätherischen Feuer sich entzündende Seele, und der magische Donner einer zauberischen Rede begleitete die hohe Erscheinung, und verkündete dem anbetenden Sterblichen, daß die Gottheit gespro-|chen habe. Ein Atom von einer überirdischen Kraft geschwängert, fiel in ihr Gemüth, verähnlichte sich dort alles, dehnte es allmächtig aus, und es zersprang dann wie durch ein göttliches Schiksal in einer Welt deren Atmosphäre ihm zu wenig Widerstand leistete, und brachte noch in seinen lezten Momenten eines von jenen himmlischen Meteoren, von jenen bedeutungsvollen Zeichen der Zeit hervor, deren Ursprung niemand verkennt, und die alle Irdischen mit Ehrfurcht erfüllen. Diese himmlische Funken müßt Ihr aufsuchen, welche entstehen, wenn eine heilige Seele vom Universum berührt wird, Ihr müßt sie belauschen in dem unbegreiflichen Augenblik in welchem sie sich bildeten, sonst ergeht es Euch wie dem, der zu spät mit dem brennbaren Stoff das Feuer aufsucht, welches der Stein dem Stahl entlokt hat, und dann nur ein kaltes unbedeutendes Stäubchen groben Metalles findet, an dem er nichts mehr entzünden kann. Ich fordere also, daß Ihr von allem, was sonst Religion genannt wird, absehend Euer Augenmerk nur auf diese einzelne Andeutungen und Stim-

20 Ihr] ihr

22 durchzükten] durchzüken

33 Ihr] ihr

202

Über die Religion

mungen richtet, die Ihr in allen Äußerungen und edlen Thaten Gottbegeisterter Menschen finden werdet. Entdekt Ihr denn | auch in diesem Einzelnen nichts neues und treffendes, wie ich es ohngeachtet Euerer Gelehrsamkeit und Euerer Kenntniße dennoch zur guten Sache hoffe, erweitert und verwandelt sich dann nicht Euer enger Begriff, der nur von einer übersichtigen Beobachtung erzeugt ward, könnt Ihr dann diese Richtung des Gemüths auf das Ewige noch verachten, kann es Euch noch lächerlich scheinen, alles was dem Menschen wichtig ist, auch aus diesem Gesichtspunkte betrachtet zu sehen, so will ich glauben, daß Euere Verachtung der Religion Euerer Natur gemäß ist, und habe Euch weiter nichts zu sagen. Besorget nur nicht, daß ich am Ende doch noch zu jenen gemeinen Mitteln meine Zuflucht nehmen möchte, Euch vorzustellen, wie nothwendig sie sei, um Recht und Ordnung in der Welt zu erhalten, und mit dem Andenken an ein allsehendes Auge und eine unendliche Macht der Kurzsichtigkeit menschlicher Aufsicht und den engen Schranken menschlicher Gewalt zu Hülfe zu kommen; oder wie sie eine treue Freundin und eine heilsame Stüze der Sittlichkeit sei, indem sie mit ihren heiligen Gefühlen und ihren glänzenden Aussichten den schwachen Menschen den Streit mit sich selbst und das Vollbringen des Guten gar mächtig erleichtere. So reden | freilich diejenigen, welche die besten Freunde und die eifrigsten Vertheidiger der Religion zu sein vorgeben; ich aber will nicht entscheiden, gegen wen in dieser Gedankenverbindung, die meiste Verachtung liege, gegen Recht und Sittlichkeit, welche als einer Unterstüzung bedürftig vorgestellt werden, oder gegen die Religion, welche sie unterstüzen soll, oder gegen Euch, zu denen also gesprochen wird. Mit welcher Stirne könnte ich Euch wohl zumuthen, wenn anders Euch selbst dieser weise Rath gegeben werden soll; daß Ihr mit Euch selbst in Eurem Innern ein loses Spiel treiben, und durch etwas, das Ihr sonst keine Ursache hättet zu achten und zu lieben, Euch zu etwas Anderem solltet antreiben laßen, was Ihr ohnedies schon verehrt, und deßen Ihr Euch befleißiget? Oder wenn Euch etwa durch diese Reden nur ins O h r gesagt werden soll, was Ihr dem Volke zu Liebe zu thun habt, wie solltet dann Ihr, die Ihr dazu berufen seid die andern zu bilden und sie Euch ähnlich zu machen, damit anfangen, daß Ihr sie betrügt, und ihnen etwas für heilig und wirksam hingebt, was Euch selbst höchst gleichgültig ist, und was sie wegwerfen sollen, sobald sie sich auf dieselbe Stufe mit Euch erhoben haben? Ich kann zu einer solchen Handlungsweise nicht auffordern, | sie enthält die verderblichste Heuchelei gegen die Welt und gegen

19 erleichtere] erleichtern

29 Anderem] Anderen

1 0 - 1 9 Vgl. Gedanken I, Nr. 88 (oben 23,10/) 12-14)

30 Ihr] ihr

2 2 - 2 4 Vgl. Gedanken I, Nr. 89 (oben 25,

Erste Rede

203

Euch selbst, und wer die Religion so empfehlen will, muß nur die Verachtung vergrößern, der sie schon unterliegt. Zugegeben, daß Unsere bürgerlichen Einrichtungen noch unter einem hohen Grade der Unvollkommenheit seufzen, und noch wenig Kraft bewiesen haben, der Unrechtlichkeit zuvorzukommen oder sie auszurotten, welche strafbare Verlaßung einer wichtigen Sache, welcher zaghafte Unglaube an die Annäherung zum Beßeren wäre es, wenn deshalb nach der Religion gerufen werden müßte! Hättet Ihr denn einen rechtlichen Zustand, wenn seine Existenz auf der Frömmigkeit beruhete? Verschwindet Euch nicht, so bald Ihr davon ausgehet, der ganze Begriff unter den Händen, den Ihr doch für so heilig haltet? Greift die Sache unmittelbar an, wenn sie Euch so übel zu liegen scheint; beßert an den Gesezen, rüttelt die Verfaßungen untereinander, gebt dem Staate einen eisernen Arm, gebt ihm hundert Augen, wenn er sie noch nicht hat, nur schläfert nicht die, welche er hat, mit einer trügerischen Leier ein. Schiebt nicht ein Geschäft wie dieses in ein anderes ein, Ihr habt es sonst gar nicht verwaltet, und erklärt nicht zum Schimpfe der Menschheit ihr erhabenstes | Kunstwerk für eine Wucherpflanze die nur von fremden Säften sich nähren kann. Nicht einmal der Sittlichkeit, die ihm doch weit näher liegt, muß das Recht bedürfen, um sich die unumschränkteste Herrschaft auf seinem Gebiete zu sichern, es muß ganz für sich allein stehen. Wer der Verwalter deßelben ist, der muß es überall hervorbringen können, und jeder, welcher behauptet, daß dies nur geschehen kann, indem Religion mitgetheilt wird — wenn anders dasjenige sich willkürlich mittheilen läßt was nur existirt, indem es aus dem Gemüthe hervorgehet — der behauptet zugleich, daß nur diejenigen Verwalter des Rechts sein sollten, welche geschikt sind der menschlichen Seele den Geist der Religion einzugießen, und in welche finstere Barbarei unheiliger Zeiten würde uns das zurükführen! Eben so wenig aber darf die Sittlichkeit mit der Religion zu theilen haben; wer einen U n terschied macht zwischen dieser und jener Welt, bethört sich selbst, alle wenigstens welche Religion haben, glauben nur an Eine. Ist also das Verlangen nach Wohlbefinden der Sittlichkeit etwas fremdes, so darf das Spätere nicht mehr gelten als das Frühere, und die Scheu vor dem Ewigen nicht mehr als die vor einem weisen Manne. Wenn die Sittlichkeit | durch jeden Zusaz ihren Glanz und ihre Festigkeit verlieret, wie viel mehr durch einen solchen, der seine hohe und ausländische Farbe niemals verleugnen kann. Doch dies habt Ihr genug von denen gehört, welche die Unabhängigkeit und die Allgewalt moralischer Geseze vertheidigen, ich aber seze hinzu, 24 dasjenige] dajenige

24 läßt] 1 äßt

1 9 - 2 0 5 , 2 Vgl. Gedanken

I, Nr. 153 (oben

38 vertheidigen] vertheidigeu

36,1-7)

Uber die

204

Religion

daß es auch die größte Verachtung gegen die Religion beweiset, sie in ein anderes Gebiet verpflanzen zu wollen, daß sie da diene und arbeite. Auch herrschen möchte sie nicht in einem fremden Reiche: denn sie ist nicht so eroberungssüchtig das ihrige vergrößern zu wollen. Die Gewalt, die ihr gebührt, und die sie sich in jedem Augenblik aufs neue verdient, genügt ihr, und ihr, die alles heilig hält, ist noch vielmehr das heilig, was mit ihr gleichen Rang in der menschlichen Natur behauptet. Aber sie soll ganz eigentlich dienen, wie jene es wollen, einen Zwek soll sie haben, und nüzlich soll sie sich erweisen. Welche Erniedrigung! und ihre Verth eidiger sollten geizig darauf sein ihr diese zu verschaffen? Daß doch diejenigen, die so auf den Nuzen ausgehen, und denen doch am Ende auch Sittlichkeit und Recht um eines andern Vortheils willen da sind, daß sie doch lieber selbst untergehen möchten in diesem ewigen Kreislaufe eines allgemeinen | Nuzens, in welchem sie alles Gute untergehen laßen, und von dem kein Mensch, der selbst für sich etwas sein will, ein gesundes Wort versteht, lieber als daß sie sich zu Vertheidigern der Religion aufwerfen möchten, deren Sache zu führen sie gerade die ungeschiktesten sind. Ein schöner Ruhm für die Himmlische, wenn sie nun die irdischen Angelegenheiten der Menschen so leidlich versehen könnte! Viel Ehre für die Freie und Sorglose, wenn sie nun etwas wachsamer und treibender wäre als das Gewißen! Für so etwas steigt sie Euch noch nicht vom Himmel herab. Was nur um eines außer ihm liegenden Vortheils willen geliebt und geschäzt wird, das mag wohl Noth thun, aber es ist nicht in sich nothwendig, es kann immer ein frommer Wunsch bleiben, der nie zur Existenz kommt, und ein vernünftiger Mensch legt keinen außerordentlichen Werth darauf, sondern nur den Preis, der jener Sache angemeßen ist. Und dieser würde für die Religion gering genug sein, ich wenigstens würde kärglich bieten, denn ich muß es nur gestehen, ich glaube nicht daß es so arg ist mit den Unrechten Handlungen welche sie verhindert, und mit den sittlichen welche sie erzeugt haben soll. Sollte das also das einzige sein, was ihr Ehrerbietung | verschaffen könnte, so mag ich mit ihrer Sache nichts zu thun haben. Selbst um sie nur nebenher zu empfehlen ist es zu unbedeutend. Ein eingebildeter Ruhm, welcher verschwindet wenn man ihn näher betrachtet, kann derjenigen nicht helfen, die mit höheren Ansprüchen umgeht. Daß sie aus dem Inneren jeder beßern Seele nothwendig von selbst entspringt, daß ihr eine eigne Provinz im Gemüthe angehört, in welcher sie unumschränkt herrscht, daß sie es würdig ist durch ihre innerste Kraft die Edelsten und Vortreflichsten zu bewegen, und von ihnen ihrem innersten Wesen nach gekannt zu werden; das ist es was ich behaupte, und was ich ihr gern sichern möchte, und Euch liegt es nun ob, zu entscheiden,

3 ist] isi

21 außer] anßer

2 8 ist] isi

Erste

Rede

205

ob es der Mühe werth sein wird, mich zu hören, ehe Ihr Euch in Eurer Verachtung noch mehr befestiget.

Zweite

Rede.

Ü b e r das W e s e n der R e l i g i o n .

Ihr werdet wißen wie der alte Simonides durch immer wiederholtes und verlängertes Zögern denjenigen zur Ruhe verwies, der ihn mit der Frage belästiget hatte: was wohl die Götter seien. Ich möchte bei der weit größeren und mehr umfaßenden „was die Religion ist," gern mit einer ähnlichen Zögerung anfangen. Natürlich nicht in der Absicht um zu schweigen, und Euch wie Jener in der Verlegenheit zu laßen, sondern damit Ihr von ungeduldiger Erwartung hingehalten, eine Zeitlang Euere Blike unverwandt auf den Punkt hinrichten möget, den wir suchen, und Euch aller andern Gedanken indeß gänzlich entschlagen. Ist es doch die erste Forderung derer, welche nur gemeine Geister beschwören, daß der Zuschauer, der ihre Erscheinungen sehen und in ihre Geheimniße eingeweiht werden will, sich durch Enthaltsamkeit von irdischen Dingen und durch heilige Stille vorbereite, und dann, ohne | sich durch den Anblik fremder Gegenstände zu zerstreuen, mit ung e t e i l t e n Sinnen auf den Ort hinschaue, wo die Erscheinung sich zeigen soll. Wie vielmehr werde ich einen ähnlichen Gehorsam verlangen dürfen, der ich einen seltenen Geist hervorrufen soll, welcher nicht in irgend einer vielgesehenen geläufigen Larve zu erscheinen würdiget, und den Ihr lange mit angestrengter Aufmerksamkeit werdet beobachten müßen, um ihn zu erkennen, und seine bedeutsamen Züge zu verstehen. Nur wenn Ihr vor den heiligen Kreisen stehet, mit der unbefangensten Nüchternheit des Sinnes, die jeden Umriß klar und richtig auffaßt, und, voll Verlangen das Dargestellte aus sich selbst zu verstehen, weder von alten Erinnerungen ver-

2 5 aus] ans

3—5 Vgl. Cicero: „Roges me quid aut quale sit deus, auctore utar Simonide, de quo cum quaesivisset hoc idem tyrannus Hiero, deliberandi sibi unum diem postulavit; cum idem ex eo postridie quaereret, biduum petivit; cum saepius duplicaret numerum dierum admiransque Hiero requireret cur itafaceret, ,quia quanto diutius considero', inquit, ,tanto mihi res videtur obscurior'." (De natura deorum 1,60; Opera omnia 4,487f)

Zweite Rede

207

führt, noch von vorgefaßten Ahndungen bestochen wird, kann ich hoffen, daß Ihr meine Erscheinung wo nicht liebgewinnen doch wenigstens Euch über Ihre Gestalt mit mir einigen, und sie für ein himmlisches Wesen erkennen werdet. Ich wollte, ich könnte sie Euch unter irgend einer wohlbekannten Bildung vorstellen, damit Ihr sogleich ihrer Züge, ihres Ganges, ihrer Manieren Euch erinnern und ausrufen möchtet, daß Ihr sie hier oder dort im Leben so gesehen habt. Aber ich würde Euch betrügen; denn so unverkleidet wie sie dem | Beschwörer erscheint, wird sie unter den Menschen nicht angetroffen, und hat sich in ihrer eigenthümlichen Gestalt wohl lange nicht erbliken laßen. So wie die besondere Sinnesart der verschiedenen cultivirten Völker, seitdem durch Verbindungen aller Art ihr Verkehr vielseitiger und des Gemeinschaftlichen unter ihnen mehr geworden ist, sich in einzelnen Handlungen nicht mehr so rein und bestimmt darstellt, sondern nur die Einbildungskraft die ganze Idee dieser Charaktere auffaßen kann, die im Einzelnen nicht anders als zerstreut und mit vielem Fremdartigen vermischt angetroffen werden; so ist es auch mit geistigen Dingen, und unter ihnen mit der Religion. Es ist Euch ja bekannt, wie jezt alles voll ist von harmonischer Ausbildung, und eben diese hat eine so vollendete und ausgebreitete Geselligkeit und Freundschaft innerhalb der menschlichen Seele gestiftet, daß jezt unter uns keine von ihren Kräften, so gern wir sie auch abgesondert denken, in der That abgesondert handelt, sondern bei jeder Verrichtung sogleich von der zuvorkommenden Liebe und wohlthätigen Unterstüzung der Andern übereilt und von ihrer Bahn etwas abgetrieben wird, so daß man sich in dieser gebildeten "Welt vergeblich nach einer Handlung umsieht, die von irgend einem Ver-|mögen des Geistes, es sei Sinnlichkeit oder Verstand, Sittlichkeit oder Religion, einen treuen Ausdruk abgeben könnte. Seid deswegen nicht ungehalten, und deutet es nicht als eine Geringschäzung der Gegenwart, wenn ich Euch öfters der Anschaulichkeit halber in jene kindlichere Zeiten zurükführe, wo in einem unvollkommneren Zustande noch alles abgesonderter und einzelner war; und wenn ich gleich damit anfange, und immer wieder auf einem andern Wege sorgfältig darauf zurükkomme, vor jeder Verwechselung der Religion mit dem was ihr hie und da ähnlich sieht, und womit Ihr sie überall vermischt finden werdet, nachdrüklich zu warnen. Stellet Euch auf den höchsten Standpunkt der Metaphysik und der Moral, so werdet Ihr finden, daß beide mit der Religion denselben Gegenstand haben, nemlich das Universum und das Verhältniß des Menschen zu ihm. Diese Gleichheit ist von lange her ein Grund zu mancherlei Verirrungen gewesen; daher ist Metaphysik und Moral in Menge in die Religion ein-

5 Ganges] so DV; OD: Ganzen

208

Über die Religion

gedrungen, und manches was der Religion angehört, hat sich unter einer unschiklichen Form in die Metaphysik oder die Moral verstekt. Werdet Ihr aber deswegen glauben, daß sie | mit einer von beiden einerlei sei? Ich weiß, daß Euer Instinkt Euch das Gegentheil sagt, und es geht auch aus Eueren Meinungen hervor; denn Ihr gebt nie zu, daß sie mit dem festen Tritte einhergeht, deßen die Metaphysik fähig ist, und Ihr vergeßet nicht fleißig zu bemerken, daß es in ihrer Geschichte eine Menge garstiger unmoralischer Fleken giebt. Soll sie sich also unterscheiden, so muß sie ihnen ungeachtet des gleichen Stoffs auf irgend eine Art entgegengesezt sein; sie muß diesen Stoff ganz anders behandeln, ein anderes Verhältniß der Menschen zu demselben ausdrüken oder bearbeiten, eine andere Verfahrungsart oder ein anderes Ziel haben: denn nur dadurch kann dasjenige, was dem Stoff nach einem andern gleich ist, eine besondere Natur und ein eigentümliches Dasein bekommen. Ich frage Euch also: was thut Euere Metaphysik — oder wenn Ihr von dem veralteten Namen, der Euch zu historisch ist, nichts wißen wollt — Euere Transcendentalphilosophie? sie klaßifizirt das Universum und theilt es ab in solche Wesen und solche, sie geht den Gründen deßen was da ist nach, und deducirt die Nothwendigkeit des Wirklichen, sie entspinnet aus sich selbst die Realität der Welt und ihre Geseze. In dieses Gebiet darf sich | also die Religion nicht versteigen, sie darf nicht die Tendenz haben Wesen zu sezen und Naturen zu bestimmen, sich in ein Unendliches von Gründen und Deductionen zu verlieren, lezte Ursachen aufzusuchen und ewige Wahrheiten auszusprechen. — Und was thut Euere Moral? Sie entwikelt aus der Natur des Menschen und seines Verhältnißes gegen das Universum ein System von Pflichten, sie gebietet und untersagt Handlungen mit unumschränkter Gewalt. Auch das darf also die Religion nicht wagen, sie darf das Universum nicht brauchen um Pflichten abzuleiten, sie darf keinen Kodex von Gesezen enthalten. — „Und doch scheint das, was man Religion nennt, nur aus Bruchstüken dieser verschiedenen Gebiete zu bestehen." — Dies ist freilich der gemeine Begriff. Ich habe Euch lezthin Zweifel gegen ihn beigebracht; es ist jezt Zeit ihn völlig zu vernichten. Die Theoretiker in der Religion, die aufs Wißen über die Natur des Universums und eines höchsten Wesens, deßen Werk es ist, ausgehen, sind Metaphysiker; aber artig genug, auch etwas Moral nicht zu verschmähen. Die Praktiker, denen der Wille Gottes Hauptsache ist, sind Moralisten; aber ein wenig im Style der Metaphysik. Die Idee des Guten nehmt Ihr und tragt sie in die Me-|taphysik als Naturgesez eines unbeschränkten und unbedürftigen Wesens, und die Idee eines Urwesens nehmt Ihr aus der Metaphysik und tragt sie in die Moral, damit dieses große Werk nicht an-

23 auszusprechen.] auszusprechen 37 Me-1 taphysik] Me-1 physik

30 bestehen.] bestehen

33 Universums] Universum

Zweite Rede

209

onym bleibe, sondern vor einem so herrlichen Kodex das Bild des Gesezgebers könne gestochen werden. Mengt aber und rührt wie Ihr wollt, dies geht nie zusammen, Ihr treibt ein leeres Spiel mit Materien, die sich einander nicht aneignen, Ihr behaltet immer nur Metaphysik und Moral. Dieses Gemisch von Meinungen über das höchste Wesen oder die Welt, und von Geboten für ein menschliches Leben (oder gar für zwei) nennt Ihr Religion! und den Instinkt der jene Meinungen sucht, nebst den dunkeln Ahndungen, welche die eigentliche lezte Sanction dieser Gebote sind, nennt Ihr Religiosität! Aber wie kommt Ihr denn dazu, eine bloße Compilation, eine Chrestomathie für Anfänger für ein eignes Werk zu halten, für ein Individuum eignen Ursprunges und eigener Kraft? Wie kommt Ihr dazu, seiner zu erwähnen, wenn es auch nur geschieht um es zu wiederlegen? Warum habt Ihr es nicht längst aufgelöset in seine Theile und das schändliche Plagiat entdekt? Ich hätte Lust, Euch durch einige sokratische Fragen zu ängstigen, und Euch zu dem Geständ-|niße zu bringen, daß Ihr in den gemeinsten Dingen die Prinzipien gar wohl kennt, nach denen das Ähnliche zusammengestellt und das Besondere dem Allgemeinen untergeordnet werden muß, und daß Ihr sie hier nur nicht anwenden wollet, um mit der Welt über einen ernsten Gegenstand scherzen zu können. W o ist denn die Einheit in diesem Ganzen? wo liegt das verbindende Princip für diesen ungleichartigen Stoff! Ist es eine eigne anziehende Kraft, so müßt Ihr gestehen, daß Religion das Höchste ist in der Philosophie, und daß Metaphysik und Moral nur untergeordnete Abtheilungen von ihr sind; denn das worin zwei verschiedene aber entgegengesezte Begriffe eins werden, kann nichts anders sein, als das Höhere, unter welches sie beide gehören. Liegt dies bindende Prinzip in der Metaphysik, habt Ihr aus Gründen, die ihr angehören, ein höchstes Wesen als moralischen Gesezgeber erkannt, so vernichtet doch die praktische Philosophie, und gesteht daß sie, und mit ihr die Religion, nur ein kleines Kapitel der theoretischen ist. Wollt Ihr das umgekehrte behaupten; so müßen Metaphysik und Religion von der Moral verschlungen werden, der freilich, nachdem sie glauben gelernt und sich in ihren alten Tagen bequemt hat in ihrem innersten | Heiligthume den geheimen Umarmungen zweier sich liebender Welten ein stilles Pläzchen zu bereiten, nichts mehr unmöglich sein mag. O d e r wollt Ihr etwa sagen, das Metaphysische in der Religion hänge nicht vom Moralischen ab, und dieses nicht von jenem; es gebe einen wunderbaren Parallelismus zwischen dem Theoretischen und Praktischen, und eben diesen wahrnehmen und darstellen, sei Religion? Freilich zu diesem kann die Auflösung weder in der praktischen Philosophie liegen, denn diese kümmert sich nichts um ihn, noch in der theoretischen, denn diese strebt aufs eifrigste, ihn so weit als

4 Ihr] ihr

8 Ihr] ihr

11 eignen] eignes

20 f ungleichartigen] ungleichartige;!

210

Über die

Religion

möglich zu verfolgen und zu vernichten, wie es denn auch ihres Amts ist. Aber ich denke, Ihr sucht von diesem Bedürfniße getrieben schon seit einiger Zeit nach einer höchsten Philosophie, in der sich diese beiden Gattungen vereinigen, und seid immer auf dem Sprunge sie zu finden; und so nahe läge dieser die Religion! und die Philosophie müßte wirklich zu ihr flüchten, wie die Gegner derselben so gern behaupten? Gebt wohl Achtung was Ihr da saget. Mit allem dem bekommt Ihr entweder eine Religion die weit über der Philosophie steht, so wie diese sich gegenwärtig befindet, oder Ihr müßt so ehrlich sein, den beiden Theilen derselben wiederzugeben | was ihnen gehört, und zu bekennen, daß, was die Religion betrifft, Ihr noch nichts von ihr wißt. Ich will Euch zu dem ersten nicht anhalten, denn ich will keinen Plaz besezen, den ich nicht behaupten könnte, aber zu dem lezten werdet Ihr Euch wohl verstehen. Laßt uns aufrichtig mit einander umgehen. Ihr mögt die Religion nicht, davon sind wir schon neulich ausgegangen; aber indem Ihr einen ehrlichen Krieg gegen sie führt, der doch nicht ganz ohne Anstrengung ist, wollt Ihr doch nicht gegen einen Schatten gefochten haben, wie dieser, mit dem wir uns herumgeschlagen haben; sie muß doch etwas eigenes sein, was in der Menschen Herz hat kommen können, etwas denkbares, wovon sich ein Begriff aufstellen läßt, über den man reden und streiten kann, und ich finde es sehr unrecht, wenn Ihr selbst aus so disparaten Dingen etwas Unhaltbares zusammennähet, das Religion nennt, und dann so viel unnüze Umstände damit macht. Ihr werdet leugnen, daß Ihr hinterlistig zu Werke gegangen seid, Ihr werdet mich auffordern, alle Urkunden der Religion — weil ich doch die Systeme, die Commentare und die Apologien schon verworfen habe — alle aufzurollen von den schönen Dichtungen der Griechen bis zu den heiligen Schriften | der Christen, ob ich nicht überall die Natur der Götter finden werde, und ihren Willen, und überall den heilig und selig gepriesen, der die erstere erkennt und den leztern vollbringt. Aber das ist es ja eben, was ich Euch gesagt habe, daß die Religion nie rein erscheint, das alles sind nur die fremden Theile, die ihr anhängen, und es soll ja unser Geschäft sein, sie von diesen zu befreien. Liefert Euch doch die Körperwelt keinen Urstoff als reines Naturprodukt — Ihr müßtet dann, wie es Euch hier in der intellektuellen ergangen ist, sehr grobe Dinge für etwas Einfaches halten, — sondern es ist nur das unendliche Ziel der analytischen Kunst, einen solchen darstellen zu können; und in geistigen Dingen ist Euch das Ursprüngliche nicht anders zu schaffen, als wenn Ihr es durch eine ursprüngliche Schöpfung in Euch erzeugt, und auch dann nur auf den Moment wo Ihr es erzeugt. Ich bitte Euch, verstehet Euch selbst hierüber, Ihr werdet unaufhörlich daran erinnert werden. Was aber die Urkunden und die Autographa der Religion be-

7 was Ihr] was ihr

7 eine] so DV; OD: nie

11 Ihr] ihr

33 Ihr] ihr

Zweite

Rede

211

trift, so ist in ihnen diese Einmischung von Metaphysik und Moral nicht bloß ein unvermeidliches Schiksal, sie ist vielmehr künstliche Anlage und hohe Absicht. Was als das erste und lezte gegeben wird, ist | nicht immer das wahre und höchste. Wüßtet Ihr doch nur zwischen den Zeilen zu lesen! Alle heilige Schriften sind wie die bescheidenen Bücher, welche vor einiger Zeit in unserem bescheidenen Vaterlande gebräuchlich waren, die unter einem dürftigen Titel wichtige Dinge abhandelten. Sie kündigen freilich nur Metaphysik und Moral an, und gehen gern am Ende in das zurük, was sie angekündigt haben, aber Euch wird zugemuthet diese Schale zu spalten. So liegt auch der Diamant in einer schlechten Maße gänzlich verschloßen, aber warlich nicht um verborgen zu bleiben, sondern um desto sicherer gefunden zu werden. Proselyten zu machen aus den Ungläubigen, das liegt sehr tief im Charakter der Religion; wer die seinige mittheilt, kann gar keinen andern Zwek haben, und so ist es in der That kaum ein frommer Betrug, sondern eine schikliche Methode bei dem anzufangen und um das besorgt zu scheinen, wofür der Sinn schon da ist, damit gelegentlich und unbemerkt sich das einschleiche, wofür er erst aufgeregt werden soll. Es ist, da alle Mittheilung der Religion nicht anders als rhetorisch sein kann, eine schlaue Gewinnung der Hörenden, sie in so guter Gesellschaft einzuführen. Aber dieses Hülfsmittel hat seinen Zwek nicht nur erreicht, son-|dern überholt, indem selbst Euch unter dieser Hülle ihr eigentliches Wesen verborgen geblieben ist. Darum ist es Zeit die Sache einmal beim andern Ende zu ergreifen, und mit dem schneidenden Gegensaz anzuheben, in welchem sich die Religion gegen Moral und Metaphysik befindet. Das war es was ich wollte. Ihr habt mich mit Euerem gemeinen Begriff gestört; er ist abgethan, hoffe ich, unterbrecht mich nun nicht weiter. Sie entsagt hiermit, um den Besiz ihres Eigenthums anzutreten, allen Ansprüchen auf irgend etwas, was jenen angehört, und giebt alles zurük, was man ihr aufgedrungen hat. Sie begehrt nicht das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkühr des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüßen will sie sich in kindlicher Paßivität ergreifen und erfüllen laßen. So ist sie beiden in allem entgegengesezt was ihr Wesen aus-|macht, und in allem was ihre Wirkungen charakterisirt. Jene sehen im ganzen Universum nur den Menschen als Mittelpunkt aller Beziehungen, als Bedingung alles Seins und Ursach alles Werdens; sie will im Menschen nicht weniger als in allen andern Einzelnen

23 welchem] welchen

34 Universum] Uuiversum

212

Über die Religion

und Endlichen das Unendliche sehen, deßen Abdruk, deßen Darstellung. Die Metaphysik geht aus von der endlichen Natur des Menschen, und will aus ihrem einfachsten Begriff, und aus dem Umfang ihrer Kräfte und ihrer Empfänglichkeit mit Bewußtsein bestimmen, was das Universum für ihn sein kann, und wie er es nothwendig erbliken muß. Die Religion lebt ihr ganzes Leben auch in der Natur, aber in der unendlichen Natur des Ganzen, des Einen und Allen; was in dieser alles Einzelne und so auch der Mensch gilt, und wo alles und auch er treiben und bleiben mag in dieser ewigen Gährung einzelner Formen und Wesen, das will sie in stiller Ergebenheit im Einzelnen anschauen und ahnden. Die Moral geht vom Bewußtsein der Freiheit aus, deren Reich will sie ins Unendliche erweitern, und ihr alles unterwürfig machen; die Religion athmet da, wo die Freiheit selbst schon wieder Natur geworden ist, jenseit des Spiels seiner besondern Kräfte und seiner Per-|sonalität faßt sie den Menschen, und sieht ihn aus dem G e sichtspunkte, wo er das sein muß was er ist, er wolle oder wolle nicht. So behauptet sie ihr eigenes Gebiet und ihren eigenen Charakter nur dadurch, daß sie aus dem der Spekulazion sowohl als aus dem der Praxis gänzlich herausgeht, und indem sie sich neben beide hinstellt, wird erst das gemeinschaftliche Feld vollkommen ausgefüllt, und die menschliche Natur von dieser Seite vollendet. Sie zeigt sich Euch als das nothwendige und unentbehrliche Dritte zu jenen beiden, als ihr natürliches Gegenstük, nicht geringer an Würde und Herrlichkeit, als welches von ihnen Ihr wollt. Spekulazion und Praxis haben zu wollen ohne Religion, ist verwegener Obermuth, es ist freche Feindschaft gegen die Götter, es ist der unheilige Sinn des Prometheus, der feigherzig stahl, was er in ruhiger Sicherheit hätte fordern und erwarten können. Geraubt nur hat der Mensch das Gefühl seiner Unendlichkeit und Gottähnlichkeit, und es kann ihm als Unrechtes Gut nicht gedeihen, wenn er nicht auch seiner Beschränktheit sich bewußt wird, der Zufälligkeit seiner ganzen Form, des geräuschlosen Verschwindens seines ganzen Daseins im Unermeßlichen. Auch haben die Götter von je an diesen Frevel gestraft. Pra-|xis ist Kunst, Spekulazion ist Wißenschaft, Religion ist Sinn und Geschmak fürs Unendliche. O h n e diese, wie kann sich die erste über den gemeinen Kreis abentheuerlicher und hergebrachter Formen erheben? wie kann die andere etwas beßeres werden als ein steifes und mageres Skelet? O d e r warum vergißt über alles Wirken nach außen und aufs Universum hin Euere Praxis am Ende eigentlich immer den Menschen selbst zu bilden? weil Ihr ihn dem Universum entgegengesezt und ihn nicht als einen

21 zu] so DV; OD: von

24—26 Prometheus stiehlt den Göttern das Feuer, •worden ist, und gibt es den Menschen zurück.

das den Menschen

strafweise

entzogen

Zweite

Rede

213

Theil deßelben und als etwas heiliges aus der Hand der Religion empfangt. Wie kommt sie zu der armseligen Einförmigkeit, die nur ein einziges Ideal kennt und dieses überall unterlegt? weil es Euch an dem Grundgefühl der unendlichen und lebendigen Natur fehlt, deren Symbol Mannichfaltigkeit und Individualität ist. Alles Endliche besteht nur durch die Bestimmung seiner Gränzen, die aus dem Unendlichen gleichsam herausgeschnitten werden müßen. N u r so kann es innerhalb dieser Gränzen selbst unendlich sein und eigen gebildet werden, und sonst verliert Ihr alles in der Gleichförmigkeit eines allgemeinen Begrifs. Warum hat Euch die Spekulazion so lange statt eines Systems Blendwerke, und statt der Gedanken Worte ge-|geben? warum war sie nichts als ein leeres Spiel mit Formeln, die immer anders wiederkamen, und denen nie etwas entsprechen wollte? Weil es an Religion gebrach, weil das Gefühl des Unendlichen sie nicht beseelte, und die Sehnsucht nach ihm, und die Ehrfurcht vor ihm ihre feinen luftigen Gedanken nicht nöthigte, eine festere Konsistenz anzunehmen, um sich gegen diesen gewaltigen Druk zu erhalten. Vom Anschauen muß alles ausgehen, und wem die Begierde fehlt das Unendliche anzuschauen, der hat keinen Prüfstein und braucht freilich auch keinen, um zu wißen, ob er etwas ordentliches darüber gedacht hat. Und wie wird es dem Triumph der Spekulation ergehen, dem vollendeten und gerundeten Idealismus, wenn Religion ihm nicht das Gegengewicht hält, und ihn einen höhern Realismus ahnden läßt als den, welchen er so kühn und mit so vollem Recht sich unterordnet? Er wird das Universum vernichten, indem er es zu bilden scheint, er wird es herabwürdigen zu einer bloßen Allegorie, zu einem nichtigen Schattenbilde unserer eignen Beschränktheit. Opfert mit mir ehrerbietig eine Loke den Manen des heiligen verstoßenen Spinosa! Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein An-|fang und Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe, in heiliger Unschuld und tiefer Demuth spiegelte er sich in der ewigen Welt, und sah zu wie auch Er ihr liebenswürdigster Spiegel war; voller Religion war Er und voll heiligen Geistes; und darum steht Er auch da, allein und unerreicht, Meister in seiner Kunst, aber erhaben über die profane Zunft, ohne Jünger und ohne Bürgerrecht. Anschauen des Universums, ich bitte befreundet Euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion, woraus Ihr jeden O r t in derselben finden könnt, woraus sich ihr Wesen und ihre Gränzen aufs genaueste bestimmen laßen. Alles Anschauen gehet aus von einem Einfluß des Angeschaueten auf den Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln des ersteren, welches dann von dem lezteren seiner Natur gemäß aufgenom-

36 woraus] worans

214

Über die Religion

men, zusammengefaßt und begriffen wird. Wenn die Ausflüße des Lichtes nicht — was ganz ohne Euere Veranstaltung geschieht — Euer Organ berührten, wenn die kleinsten Theile der Körper die Spizen Eurer Finger nicht mechanisch oder chemisch affizirten, wenn der D r u k der Schwere Euch nicht einen Widerstand und | eine Gränze Eurer Kraft offenbarte, so würdet Ihr nichts anschauen und nichts wahrnehmen, und was Ihr also anschaut und wahrnehmt, ist nicht die Natur der Dinge, sondern ihr Handeln auf Euch. Was Ihr über jene wißt oder glaubt, liegt weit jenseits des Gebiets der Anschauung. So die Religion; das Universum ist in einer ununterbrochenen Thätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblik. Jede Form die es hervorbringt, jedes Wesen dem es nach der Fülle des Lebens ein abgesondertes Dasein giebt, jede Begebenheit die es aus seinem reichen immer fruchtbaren Schooße herausschüttet, ist ein Handeln deßelben auf U n s ; und so alles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion; was aber darüber hinaus will, und tiefer hineindringen in die Natur und Substanz des Ganzen ist nicht mehr Religion, und wird, wenn es doch noch dafür angesehen sein will, unvermeidlich zurüksinken in leere Mythologie. So war es Religion, wenn die Alten die Beschränkungen der Zeit und des Raumes vernichtend jede eigenthümliche Art des Lebens durch die ganze Welt hin als das W e r k und Reich eines allgegenwärtigen Wesens ansahen; sie hatten eine eigenthümliche Handels-|weise des Universums in ihrer Einheit angeschaut und bezeichneten so diese Anschauung; es war Religion wenn sie für jede hülfreiche Begebenheit, wobei die ewigen Geseze der Welt sich im Zufälligen auf eine einleuchtende Art offenbarten, den Gott dem sie angehörte, mit einem eigenen Beinamen begabten und einen eignen Tempel ihm bauten; sie hatten eine That des Universums aufgefaßt, und bezeichneten so ihre Individualität und ihren Charakter. Es war Religion, wenn sie sich über das spröde eiserne Zeitalter der Welt voller Riße und Unebenen erhoben, und das goldene wiedersuchten im O l y m p unter dem lustigen Leben der Götter; so schauten sie an die immer rege immer lebendige und heitere Thätigkeit der Welt und ihres Geistes, jenseits alles Wechsels und alles scheinbaren Übels, das nur aus dem Streit endlicher Formen hervorgehet. Aber wenn sie von den Abstammungen dieser Götter eine wunderbare Chronik halten, oder wenn ein späterer Glaube uns eine lange Reihe von Emanazionen und Erzeugungen vorführt, das ist leere Mythologie. Alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen eines Gottes vorstellen, das ist Religion, es drükt ihre Beziehung auf ein unendliches Ganzes aus, aber über das Sein dieses Gottes vor der Welt | und außer der Welt grübeln, mag in der Metaphysik gut und nöthig sein, in der Religion wird auch das nur

22 Universums] Universum

3 5 halten] so DV;

OD: hatten

39 das Sein] dem Sein

Zweite

Rede

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leere Mythologie, eine weitere Ausbildung desjenigen, was nur Hülfsmittel der Darstellung ist, als ob es selbst das wesentliche wäre, ein völliges Herausgehen aus dem eigenthümlichen Boden. — Anschauung ist und bleibt immer etwas einzelnes, abgesondertes, die unmittelbare Wahrnehmung, weiter nichts; sie zu verbinden und in ein Ganzes zusammenzustellen, ist schon wieder nicht das Geschäft des Sinnes, sondern des abstrakten Denkens. So die Religion; bei den unmittelbaren Erfahrungen vom Dasein und Handeln des Universums, bei den einzelnen Anschauungen und Gefühlen bleibt sie stehen; jede derselben ist ein für sich bestehendes Werk ohne Zusammenhang mit andern oder Abhängigkeit von ihnen; von Ableitung und Anknüpfung weiß sie nichts, es ist unter allem was ihr begegnen kann das, dem ihre Natur am meisten widerstrebt. Nicht nur eine einzelne Thatsache oder Handlung, die man ihre ursprüngliche und erste nennen könnte, sondern alles ist in ihr unmittelbar und für sich wahr. — Ein System von Anschauungen, könnt Ihr Euch selbst etwas wunderlicheres denken? Laßen sich Ansichten, und gar Ansichten des | Unendlichen in ein System bringen? Könnt Ihr sagen, man muß dieses so sehen, weil man jenes so sehen mußte? Dicht hinter Euch, dicht neben Euch mag einer stehen, und alles kann ihm anders erscheinen. Oder rüken etwa die möglichen Standpunkte, auf denen ein Geist stehen kann um das Universum zu betrachten, in abgemeßenen Entfernungen fort, daß ihr erschöpfen und aufzählen und das Charakteristische eines jeden genau bestimmen könnt? Sind ihrer nicht unendlich viele, und ist nicht jeder nur ein stätiger Ubergang zwischen zwei andern? Ich rede Euere Sprache bei dieser Frage; es wäre ein unendliches Geschäft, und den Begriff von etwas Unendlichem seid Ihr nicht gewohnt mit dem Ausdruk System zu verbinden, sondern den von etwas Beschränktem und in seiner Beschränkung Vollendetem. Erhebt Euch einmal — es ist doch für die meisten unter Euch ein Erheben — zu jenem Unendlichen der sinnlichen Anschauung, dem bewunderten und gefeierten Sternenhimmel. Die astronomischen Theorien, die tausend Sonnen mit ihren Weltsystemen um eine gemeinschaftliche führen, und für diese wiederum ein höheres Weltsystem suchen, welches ihr Mittelpunkt sein könnte, und so fort ins Unendliche nach innen und nach außen, diese werdet Ihr | doch nicht ein System von Anschauungen als solchen nennen wollen? Das Einzige dem Ihr diesen Namen beilegen könnt, wäre die uralte Arbeit jener kindlichen Gemüther, die die unendliche Menge dieser Erscheinungen in bestimmte aber dürftige und unschikliche Bilder gefaßt haben. Ihr wißt aber, daß darin kein Schein von System ist, daß noch immer Gestirne zwischen diesen Bildern entdekt werden, daß auch innerhalb ihrer Gränzen alles unbestimmt und unendlich ist, und daß sie selbst etwas rein willkürliches und höchst bewegliches bleiben. Wenn Ihr einen überredet habt mit Euch das Bild des Wagens in die blaue Folie der Welten hineinzuzeichnen, bleibt es ihm nicht demohngeachtet frei die nächstgelegenen Welten in ganz andere Umriße

216

Über die Religion

zusammenzufaßen als die Eurigen sind? Dieses unendliche Chaos, wo freilich jeder Punkt eine Welt vorstellt, ist eben als solches in der That das schiklichste und höchste Sinnbild der Religion; in ihr wie in ihm ist nur das Einzelne wahr und nothwendig, nichts kann oder darf aus dem andern bewiesen werden, und alles Allgemeine "worunter das Einzelne befaßt werden soll, alle Zusammenstellung und Verbindung liegt entweder in einem fremden Gebiet, wenn sie auf das Innre und Wesentliche bezogen | werden soll, oder ist nur ein Werk der spielenden Fantasie und der freiesten Willkür. Wenn Tausende von Euch dieselben religiösen Anschauungen haben könnten, so würde gewiß jeder andere Umriße ziehen, um fest zu halten wie er sie neben oder nach einander erblikt hat; es würde dabei nicht etwa auf sein Gemüth, nur auf einen zufälligen Zustand, auf eine Kleinigkeit ankommen. Jeder mag seine eigne Anordnung haben und seine eigene Rubriken, das Einzelne kann dadurch weder gewinnen· noch verlieren, und wer wahrhaft um seine Religion und ihr Wesen weiß, wird jeden scheinbaren Zusammenhang dem Einzelnen tief unterordnen, und ihm nicht das kleinste von diesem aufopfern. Eben wegen dieser selbstständigen Einzelnheit ist das Gebiet der Anschauung so unendlich. Stellt Euch an den entferntesten Punkt der Körperwelt, Ihr werdet von dort aus nicht nur dieselben Gegenstände in einer andern Ordnung sehen und wenn Ihr Euch an Eure vorigen willkürlichen Bilder halten wollt, die Ihr dort nicht wiederfindet, ganz verirrt sein; sondern Ihr werdet in neuen Regionen noch ganz neue Gegenstände entdeken. Ihr könnt nicht sagen, daß Euer Horizont, auch der weiteste, alles umfaßt, | und daß jenseits deßelben nichts mehr anzuschauen sei, oder daß Euerem Auge auch dem bewafnetsten innerhalb deßelben nichts entgehe: Ihr findet nirgends Gränzen, und könnt Euch auch keine denken. Von der Religion gilt dies in einem noch weit höheren Sinne; von einem entgegengesezten Punkte aus würdet Ihr nicht nur in neuen Gegenden neue Anschauungen erhalten, auch in dem alten wohlbekannten Räume würden sich die ersten Elemente in andere Gestalten vereinigen und alles würde anders sein. Sie ist nicht nur deswegen unendlich, weil Handeln und Leiden auch zwischen demselben beschränkten Stoff und dem Gemüth ohne Ende wechselt — Ihr wißt daß dies die einzige Unendlichkeit der Spekulazion ist — nicht nur deswegen weil sie nach innen zu unvollendbar ist wie die Moral, sie ist unendlich, nach allen Seiten, ein Unendliches des Stöfs und der F o r m , des Seins, des Sehens und des Wißens darum. Dieses Gefühl muß Jeden begleiten der wirklich Religion hat. Jeder muß sich bewußt sein, daß die seinige nur ein Theil des Ganzen ist, daß es über dieselben Gegenstände, die ihn religiös affiziren, Ansichten giebt, die eben so fromm sind und doch von den seini-

19 I h r ] ihr

Zweite Rede

217

gen gänzlich verschieden, und daß aus andern Elementen der | Religion A n schauungen und Gefühle ausfließen, für die ihm vielleicht gänzlich der Sinn fehlt. Ihr seht wie unmittelbar diese schöne Bescheidenheit, diese freundliche einladende Duldsamkeit aus dem Begrif der Religion entspringt, und wie innig sie sich an ihn anschmiegt. Wie unrecht wendet Ihr Euch also an die Religion mit Eueren Vorwürfen, daß sie verfolgungssüchtig sei und gehäßig, daß sie die Gesellschaft zerrütte und Blut fließen laße wie Waßer. Klaget deßen diejenigen an, welche die Religion verderben, welche sie mit Philosophie überschwemmen und sie in die Feßeln eines Systems schlagen wollen. Worüber denn in der Religion hat man gestritten, Parthei gemacht und Kriege entzündet? Über die Moral bisweilen und über die Metaphysik immer, und beide gehören nicht hinein. Die Philosophie wohl strebt diejenigen, welche wißen wollen, unter ein gemeinschaftliches Wißen zu bringen, wie Ihr das täglich sehet, die Religion aber nicht diejenigen welche glauben und fühlen, unter Einen Glauben und Ein Gefühl. Sie strebt wohl denen, welche noch nicht fähig sind das Universum anzuschauen, die Augen zu öfnen, denn jeder Sehende ist ein neuer Priester, ein neuer Mittler, ein neues Organ; aber eben deswegen flieht sie mit Widerwillen | die kahle Einförmigkeit, welche diesen göttlichen Überfluß wieder zerstören würde. Die Systemsucht stößt freilich das Fremde ab, sei es auch noch so denkbar und wahr, weil es die wohlgeschloßnen Reihen des Eigenen verderben, und den schönen Zusammenhang stören könnte, indem es seinen Plaz forderte; in ihr ist der Siz der Widersprüche, sie muß streiten und verfolgen; denn in so fern das Einzelne wieder auf etwas Einzelnes und Endliches bezogen wird, kann freilich Eins das Andere zerstören durch sein Dasein; im Unendlichen aber steht alles Endliche ungestört neben einander, alles ist Eins und alles ist wahr. Auch haben nur die Systematiker dies alles angerichtet. Das neue R o m , das gottlose aber konsequente schleudert Bannstrahlen und stößt Kezer aus; das alte, wahrhaft fromm und religiös im hohen Styl war gastfrei gegen jeden Gott, und so wurde es der Götter voll. Die Anhänger des todten Buchstabens den die Religion auswirft, haben die Welt mit Geschrei und Getümmel erfüllt, die wahren Beschauer des Ewigen waren immer ruhige Seelen, entweder allein mit sich und dem Unendlichen, oder wenn sie sich umsahen, jedem der das große W o r t nur verstand, seine eigne Art gern vergönnend. Mit diesem weiten Blik | und diesem G e fühl des Unendlichen sieht sie aber auch das an was außer ihrem eigenen Gebiete liegt, und enthält in sich die Anlage zur unbeschränktesten Vielseitigkeit im Urtheil und in der Betrachtung, welche in der That anderswoher nicht zu nehmen ist. Laßet irgend etwas anders den Menschen beseelen — ich schließe die Sittlichkeit nicht aus noch die Philosophie, und berufe mich

3 - 7 Vgl. Gedanken I, Nr. 121 (oben 31,12)

218

Über die Religion

vielmehr ihretwegen auf Eure eigne Erfahrung — sein Denken und sein Streben, worauf es auch gerichtet sei, zieht einen engen Kreis um ihn, in welchem sein Höchstes eingeschloßen liegt, und außer welchem ihm alles gemein und unwürdig erscheint. W e r nur systematisch denken und nach Grundsaz und Absicht handeln, und dies und jenes ausrichten will in der Welt, der umgränzt unvermeidlich sich selbst und sezt immerfort dasjenige sich entgegen zum Gegenstande des Widerwillens was sein Thun und Treiben nicht fördert. N u r der Trieb anzuschauen, wenn er aufs Unendliche gerichtet ist, sezt das Gemüth in unbeschränkte Freiheit, nur die Religion rettet es von den schimpflichsten Feßeln der Meinung und der Begierde. Alles was ist, ist für sie nothwendig, und alles was sein kann, ist ihr ein wahres unentbehrliches Bild des Unendlichen; wer nur den Punkt | findet, woraus seine Beziehung auf daßelbe sich entdeken läßt. Wie verwerflich auch etwas in andern Beziehungen oder an sich selbst sei, in dieser Rüksicht ist es immer werth zu sein und aufbewahrt und betrachtet zu werden. Einem frommen Gemüthe macht die Religion alles heilig und werth, sogar die Unheiligkeit und die Gemeinheit selbst, alles was es faßt und nicht faßt, was in dem System seiner eigenen Gedanken liegt und mit seiner eigenthümlichen Handelsweise übereinstimmt oder nicht; sie ist die einzige und geschworne Feindin aller Pedanterie und aller Einseitigkeit. — Endlich um das allgemeine Bild der Religion zu vollenden, erinnert Euch, daß jede A n schauung ihrer Natur nach mit einem Gefühl verbunden ist. Euere Organe vermitteln den Zusammenhang zwischen dem Gegenstande und Euch, derselbe Einfluß des leztern, der Euch sein Dasein offenbaret, muß sie auf mancherlei Weise erregen, und in Eurem innern Bewußtsein eine Veränderung hervorbringen. Dieses Gefühl, das Ihr freilich oft kaum gewahr werdet, kann in andern Fällen zu einer solchen Heftigkeit heranwachsen, daß Ihr des Gegenstandes und Euerer selbst darüber vergeßt, Euer ganzes Nervensystem kann so davon durchdrungen werden, daß die Sensation lange allein | herrscht und lange noch nachklingt, und der Wirkung anderer Eindrüke widersteht; aber daß ein Handeln in Euch hervorgebracht, die Selbstthätigkeit Eures Geistes in Bewegung gesezt wird, das werdet Ihr doch nicht den Einflüßen äußerer Gegenstände zuschreiben? Ihr werdet doch gestehen, daß das weit außer der Macht auch der stärksten Gefühle liege, und eine ganz andere Quelle haben müße in Euch. So die Religion; dieselben Handlungen des Universums, durch welche es sich Euch im Endlichen offenbart, bringen es auch in ein neues Verhältniß zu Eurem Gemüth und Eurem Zustand; indem Ihr es anschauet müßt Ihr nothwendig von mancherlei Gefühlen ergriffen werden. N u r daß in der Religion ein anderes und festeres Verhältniß zwischen der Anschauung und dem Gefühl statt

24 leztern] Kj erstem

Zweite Rede

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findet, und nie jene so sehr überwiegt daß dieses beinahe verlöscht wird. Im Gegenteil ist es wohl ein Wunder, wenn die ewige Welt auf die Organe unseres Geistes so wirkt wie die Sonne auf unser Auge? wenn sie uns so blendet, daß nicht nur in dem Augenblik alles übrige verschwindet, sondern auch noch lange nachher alle Gegenstände die wir betrachten, mit dem Bilde derselben bezeichnet und von ihrem | Glanz übergoßen sind? So wie die besondere Art wie das Universum sich Euch in Euren Anschauungen darstellt, das Eigenthümliche Eurer individuellen Religion ausmacht, so bestimmt die Stärke dieser Gefühle den Grad der Religiosität. J e gesunder der Sinn, desto schärfer und bestimmter wird er jeden Eindruk auffaßen, je sehnlicher der Durst, je unaufhaltsamer der Trieb das Unendliche zu ergreifen, desto mannigfaltiger wird das Gemüth selbst überall und ununterbrochen von ihm ergriffen werden, desto vollkommner werden diese Eindrüke es durchdringen, desto leichter werden sie immer wieder erwachen, und über alle andere die Oberhand behalten. So weit geht an dieser Seite das Gebiet der Religion, ihre Gefühle sollen uns besizen, wir sollen sie aussprechen, festhalten, darstellen; wollt Ihr aber darüber hinaus mit ihnen, sollen sie eigentliche Handlungen veranlaßen, und zu Thaten antreiben, so befindet Ihr Euch auf einem fremden Gebiet; und haltet Ihr dies dennoch für Religion, so seid Ihr, wie vernünftig und löblich Euer Thun auch aussehe, versunken in unheilige Superstizion. Alles eigentliche Handeln soll moralisch sein und kann es auch, aber die religiösen Gefühle sollen wie eine heilige Musik alles Thun des Menschen begleiten; er soll | alles mit Religion thun, nichts aus Religion. Wenn Ihr es nicht versteht, daß alles Handeln moralisch sein soll, so seze ich hinzu, daß dies auch von allem andern gilt. Mit Ruhe soll der Mensch handeln, und was er unternehme, das geschehe mit Besonnenheit. Fraget den sittlichen Menschen, fraget den politischen, fraget den künstlerischen, alle werden sagen, daß dies ihre erste Vorschrift sei; aber Ruhe und Besonnenheit ist verloren, wenn der Mensch sich durch die heftigen und erschütternden Gefühle der Religion zum Handeln treiben läßt. Auch ist es unnatürlich daß dieses geschehe, die religiösen Gefühle lähmen ihrer Natur nach die Thatkraft des Menschen, und laden ihn ein zum stillen hingegebenen Genuß; daher auch die religiösesten Menschen, denen es an andern Antrieben zum Handeln fehlte, und die nichts waren als religiös, die Welt verließen, und sich ganz der müßigen Beschauung ergaben. Zwingen muß der Mensch erst sich und seine frommen Gefühle, ehe sie Handlungen aus ihm herauspreßen, und ich darf mich nur auf Euch berufen, es gehört ja mit zu Euren Anklagen, daß so viel sinnlose und unnatürliche auf diesem Wege zu Stande gekommen sind. Ihr seht, ich gebe Euch nicht nur diese Preis, sondern auch die | vortreflichsten und löblichsten. O b bedeutungslose Gebräuche gehandhabt oder gute Werke verrichtet, ob auf blutenden Altären Menschen geschlachtet oder ob sie mit wohlthätiger Hand beglükt werden, ob in todter Unthätigkeit das Leben

220

Über die

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hingebracht wird, oder in schwerfälliger geschmakloser Ordnung, oder in leichter üppiger Sinnenlust, das sind freilich, wenn von Moral oder vom Leben und von weltlichen Beziehungen die Rede ist, himmelweit von einander unterschiedene Dinge; sollen sie aber zur Religion gehören und aus ihr hervorgegangen sein, so sind sie alle einander gleich, nur sklavischer Aberglaube eins wie das andere. Ihr tadelt denjenigen, der durch den Eindruk, welchen ein Mensch auf ihn macht, sein Verhalten gegen ihn bestimmen läßt, Ihr wollt daß auch das richtigste Gefühl über die Gegenwirkung des Menschen uns nicht zu Handlungen verleiten soll, wozu wir keinen beßern Grund haben; so ist also auch derjenige zu tadeln, deßen Handlungen, die immer aufs Ganze gerichtet sein sollten, lediglich durch die Gefühle bestimmt werden, die eben dieses Ganze in ihm erwekt; er wird ausgezeichnet als ein solcher, der seine Würde preisgiebt, nicht nur aus dem Standpunkt der Moral, weil er fremden Beweggründen Raum läßt, | sondern auch aus dem der Religion selbst, weil er aufhört zu sein, was ihm allein in ihren Augen einen eigenthümlichen Werth giebt, ein freier durch eigene Kraft thätiger Theil des Ganzen. Dieser gänzliche Mißverstand, daß die Religion handeln soll, kann nicht anders als zugleich ein furchtbarer Mißbrauch sein, und auf welche Seite sich auch die Thätigkeit wende, in Unheil und Zerrüttung endigen. Aber bei ruhigem Handeln, welches aus seiner eigenen Quelle hervorgehn muß, die Seele voll Religion haben, das ist das Ziel des Frommen. Nur böse Geister, nicht gute, besizen den Menschen und treiben ihn, und die Legion von Engeln womit der himmlische Vater seinen Sohn ausgestattet hatte, waren nicht in ihm, sondern um ihn her; sie halfen ihm auch nicht in seinem Thun und Laßen, und sollten es auch nicht, aber sie flößten Heiterkeit und Ruhe in die von Thun und Denken ermattete Seele; er verlor sie wohl bisweilen aus den Augen, in Augenbliken, wo seine ganze Kraft zum Handeln aufgeregt war, aber dann umschwebten sie ihn wieder in frölichem Gedränge und dienten ihm. — Ehe ich Euch aber in das Einzelne dieser Anschauungen und Gefühle hineinführe, welches allerdings mein nächstes Geschäft an Euch sein muß, so vergönnt mir zuvor einen | Augenblik darüber zu trauern, daß ich von beiden nicht anders als getrennt reden kann; der feinste Geist der Religion geht dadurch verloren für meine Rede, und ich kann ihr innerstes Geheimniß nur schwankend und unsicher enthüllen. Aber eine nothwendige Reflexion trennt beide, und wer kann über irgend etwas, das zum Bewußtsein gehört, reden, ohne erst durch dieses Medium hindurch zu gehen. Nicht nur wenn wir eine innere Handlung des Gemüths mittheilen, auch wenn wir sie nur 8 Ihr] ihr

11 lediglich] ledi-/glich

2 3 - 2 5 Vgl. Mt 26,53

2 5 - 2 9 Vgl. Mt

4,1-11

Zweite

Rede

221

in uns zum Stoff der Betrachtung machen, und zum deutlichen Bewußtsein erhöhen wollen, geht gleich diese unvermeidliche Scheidung vor sich: das Faktum vermischt sich mit dem ursprünglichen Bewußtsein unserer doppelten Thätigkeit, der herrschenden und nach außen wirkenden, und der bloß zeichnenden und nachbildenden, welche den Dingen vielmehr zu dienen scheint, und sogleich bei dieser Berührung zerlegt sich der einfachste Stoff in zwei entgegengesezte Elemente: die einen treten zusammen zum Bilde eines Objekts, die andern dringen durch zum Mittelpunkt unsers Wesens, brausen dort auf mit unsern ursprünglichen Trieben und entwikeln ein flüchtiges Gefühl. Auch mit dem innersten Schaffen des religiösen Sinnes können wir diesem Schiksal | nicht entgehen; nicht anders als in dieser getrennten Gestalt können wir seine Produkte wieder zur Oberfläche herauffördern und mittheilen. Nur denkt nicht — dies ist eben einer von den gefährlichsten Irrthümern — daß religiöse Anschauungen und Gefühle auch ursprünglich in der ersten Handlung des Gemüths so abgesondert sein dürfen, wie wir sie leider hier betrachten müßen. Anschauung ohne Gefühl ist nichts und kann weder den rechten Ursprung noch die rechte Kraft haben, Gefühl ohne Anschauung ist auch nichts: beide sind nur dann und deswegen etwas, wenn und weil sie ursprünglich Eins und ungetrennt sind. Jener erste geheimnißvolle Augenblik, der bei jeder sinnlichen Wahrnehmung vorkommt, ehe noch Anschauung und Gefühl sich trennen, wo der Sinn und sein Gegenstand gleichsam in einander gefloßen und Eins geworden sind, ehe noch beide an ihren ursprünglichen Plaz zurükkehren — ich weiß wie unbeschreiblich er ist, und wie schnell er vorüber geht, ich wollte aber Ihr könntet ihn festhalten und auch in der höheren und göttlichen religiösen Thätigkeit des Gemüths ihn wieder erkennen. Könnte und dürfte ich ihn doch aussprechen, andeuten wenigstens, ohne ihn zu entheiligen! Flüchtig ist er und durchsichtig wie der | erste Duft womit der Thau die erwachten Blumen anhaucht, schamhaft und zart wie ein jungfräulicher Kuß, heilig und fruchtbar wie eine bräutliche Umarmung; ja nicht w i e dies, sondern er i s t alles dieses s e l b s t . Schnell und zauberisch entwikelt sich eine Erscheinung eine Begebenheit zu einem Bilde des Universums. So wie sie sich formt die geliebte und immer gesuchte Gestalt, flieht ihr meine Seele entgegen, ich umfange sie nicht wie einen Schatten, sondern wie das heilige Wesen selbst. Ich liege am Busen der unendlichen Welt: ich bin in diesem Augenblik ihre Seele, denn ich fühle alle ihre Kräfte und ihr unendliches Leben, wie mein eigenes, sie ist in diesem Augenblike mein Leib, denn ich durchdringe ihre Muskeln und ihre Glieder wie meine eigenen, und ihre innersten Nerven bewegen sich nach meinem Sinn und meiner Ahndung wie die meinigen. Die geringste Erschütterung, und es verweht

19 ungetrennt] nngetrennt

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die heilige Umarmung, und nun erst steht die Anschauung vor mir als eine abgesonderte Gestalt, ich meße sie, und sie spiegelt sich in der offnen Seele wie das Bild der sich entwindenden Geliebten in dem aufgeschlagenen Auge des Jünglings, und nun erst arbeitet sich das Gefühl aus dem Innern empor, und verbreitet sich wie die Rothe | der Schaam und der Lust auf seiner Wange. Dieser Moment ist die höchste Blüthe der Religion. Könnte ich ihn Euch schaffen, so wäre ich ein Gott — das heilige Schiksal verzeihe mir nur, daß ich mehr als Eleusische Mysterien habe aufdeken müßen. — Es ist die Geburtsstunde alles Lebendigen in der Religion. Aber es ist damit wie mit dem ersten Bewußtsein des Menschen, welches sich in das Dunkel einer ursprünglichen und ewigen Schöpfung zurükzieht, und ihm nur das hinterläßt was es erzeugt hat. Nur die Anschauungen und Gefühle kann ich Euch vergegenwärtigen, die sich aus solchen Momenten entwikeln. Das aber sei Euch gesagt: wenn Ihr diese noch so vollkommen versteht, wenn Ihr sie in Euch zu haben glaubt im klarsten Bewußtsein, aber Ihr wißt nicht und könnt es nicht aufzeigen, daß sie aus solchen Augenbliken in Euch entstanden und ursprünglich Eins und ungetrennt gewesen sind, so überredet Euch und mich nicht weiter, es ist dem doch nicht so, Euere Seele hat nie empfangen, es sind nur untergeschobene Kinder, Erzeugniße anderer Seelen, die Ihr im heimlichen Gefühl der eignen Schwäche adoptirt habt. Als unheilige und entfernt von allem göttlichen Leben bezeichne ich Euch diejenigen, die also herumgehen und | sich brüsten mit Religion. Da hat der eine Anschauungen der Welt und Formeln, welche sie ausdrüken sollen, und der andre hat Gefühle und innere Erfahrungen, wodurch er sie dokumentirt. Jener flicht seine Formeln über einander, und dieser webt eine Heilsordnung aus seinen Erfahrungen, und nun ist Streit wie viel Begriffe und Erklärungen man nehmen müße, und wie viel Rührungen und Empfindungen, um daraus eine tüchtige Religion z u s a m m e n z u s e z e n die weder kalt noch schwärmerisch wäre. Ihr Thoren und träges Herzens! wißt Ihr nicht daß das alles nur Zersezungen des religiösen Sinnes sind, die Eure eigne Reflexion hätte machen müßen, und wenn Ihr Euch nun nicht bewußt seyd etwas gehabt zu haben, was sie zersezen konnte, wo habt Ihr denn dieses her? Gedächtniß habt Ihr und Nachahmung, aber keine Religion. Erzeugt habt Ihr die Anschauungen nicht wozu Ihr die Formeln wißt, sondern diese sind auswendig gelernt und aufbewahrt, und Euere Gefühle sind mimisch nachgebildet wie fremde Physiognomien, und eben deswegen Karikatur. Und aus diesen abgestorbenen und verderbten Theilen wollt Ihr eine Religion zusammensezen? Zerlegen kann man wohl die Säfte eines organischen Körpers in seine | nächsten Bestandtheile; aber nehmt nun diese

8 müßen.] müßen 20 Ihr] ihr derbten 39 seine] Kj ihre

33 Ihr] ihr

37 und verderbten] so DV; OD: unver-

Zweite

Rede

223

ausgeschiedenen Elemente, mischt sie in jedem Verhältniß behandelt sie auf jedem Wege, werdet Ihr wieder Herzensblut daraus machen können? Wird das was einmal todt ist, sich wieder in einem lebenden Körper bewegen und mit ihm einigen können? Die Erzeugniße der lebenden Natur aus ihren getrennten Bestandtheilen zu restituiren, daran scheitert jede menschliche Kunst, und so wird es Euch mit der Religion nicht gelingen, wenn Ihr Euch ihre einzelnen Elemente auch noch so vollkommen von außen an und eingebildet habt; von innen muß sie hervorgehen. Das göttliche Leben ist wie ein zartes Gewächs, deßen Blüten sich noch in der umschloßenen Knospe befruchten, und die heiligen Anschauungen und Gefühle, die Ihr troknen und aufbewahren könnt, sind die schönen Kelche und Kronen, die sich bald nach jener verborgenen Handlung öfnen, aber auch bald wieder abfallen. Es treiben aber immer wieder neue aus der Fülle des innern Lebens — denn das göttliche Gewächs bildet um sich her ein paradiesisches Klima dem keine Jahreszeit schadet — und die alten bestreuen und zieren dankbar den Boden der die Wurzeln dekt von denen sie genährt wurden, und duften noch in lieblicher Erinnerung | zu dem Stamme empor, der sie trug. Aus diesen Knospen und Kronen und Kelchen will ich Euch jezt einen heiligen Kranz winden. Zur äußeren Natur, welche von so Vielen für den ersten und vornehmsten Tempel der Gottheit, für das innerste Heiligthum der Religion gehalten wird, führe ich Euch nur als zum äußersten Vorhof derselben. Weder Furcht vor den materiellen Kräften die Ihr auf dieser Erde geschäftig seht, noch Freude an den Schönheiten der körperlichen Natur, soll oder kann Euch die erste Anschauung der Welt und ihres Geistes geben. Nicht im Donner des Himmels noch in den furchtbaren Wogen des Meeres sollt Ihr das allmächtige Wesen erkennen, nicht im Schmelz der Blumen noch im Glanz der Abendröthe das Liebliche und Gütevolle. Es mag sein, daß beides Furcht und freudiger Genuß die roheren Söhne der Erde zuerst auf die Religion vorbereitete, aber diese Empfindungen selbst sind nicht Religion. Alle Ahndungen des Unsichtbaren, die den Menschen auf diesem Wege gekommen sind, waren nicht religiös sondern philosophisch, nicht Anschauungen der Welt und ihres Geistes — denn es sind nur Blike auf das unbegreifliche und unermeßliche Einzelne — sondern Suchen und Forschen nach Ursach und | erster Kraft. Es ist mit diesen rohen Anfängen in der Religion wie mit allem was zur ursprünglichen Einfalt der Natur gehört. N u r so lange diese noch da ist, hat es die Kraft das Gemüth so zu bewegen; es kommt auf den Gipfel der Vollendung, auf dem wir aber noch nicht stehen, vielleicht wieder durch Kunst und Willkür in eine höhere Gestalt verwandelt, auf dem Wege der Bildung aber geht es unvermeidlich und glükli-

35 ist] isi

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eher Weise verloren, denn es würde ihren Gang nur hemmen. Auf diesem Wege befinden wir uns, und Uns kann also durch diese Bewegungen des Gemüths keine Religion kommen. Das ist ja das große Ziel alles Fleißes, der auf die Bildung der Erde verwendet wird, daß die Herrschaft der Naturkräfte über den Menschen vernichtet werde, und alle Furcht vor ihnen aufhöre; wie können wir also in dem was wir zu bezwingen trachten, und zum Theil schon bezwungen haben, das Universum anschauen? Jupiters Blize schreken nicht mehr seitdem Vulkan uns einen Schild dagegen verfertigt hat. Vesta schüzt was sie dem Neptun abgewann gegen die zornigsten Schläge seines Tridents, und die Söhne des Mars vereinigen sich mit denen des Äskulaps, um uns gegen die schnelltödtenden Pfeile Apollo's zu sichern. So | vernichtet von jenen Göttern, so fern die Furcht sie gebildet hatte, einer den andern, und seitdem Prometheus uns gelehrt hat, bald diesen bald jenen zu bestechen, steht der Mensch als Sieger lächelnd über ihrem allgemeinen Kriege. Den Weltgeist zu lieben und freudig seinem Wirken zuzuschauen, das ist das Ziel unserer Religion, und Furcht ist nicht in der Liebe. Nicht anders ist es mit jenen Schönheiten des Erdballs welche der kindliche Mensch mit so inniger Liebe umfaßt. Was ist jenes zarte Spiel der Farben, das Euer Auge in allen Erscheinungen des Firmaments ergözt, und einen Blik mit so vielem Wohlgefallen festhält, auf den lieblichsten Produkten der vegetabilischen Natur? Was ist es, nicht in Eurem Auge sondern in und fürs Universum? denn so müßet ihr doch fragen, wenn es etwas sein soll für Euere Religion. Es verschwindet als ein zufälliger Schein, so bald Ihr an den allverbreiteten Stoff denkt, deßen Entwikelungen es begleitet. Bedenkt daß Ihr in einem dunkeln Keller die Pflanze aller dieser Schönheiten berauben könnt, ohne ihre Natur zu zerstören; bedenkt daß der herrliche Schein, in deßen Leben Eure ganze Seele mitlebt, nichts ist, als daß die gleichen Ströme des Lichts sich nur anders brechen in einem größern | Meere irdischer Dünste, daß dieselben mittäglichen Stralen, deren Blendung Ihr nicht ertragt, denen gegen Osten schon als die flimmernde Abendröthe erscheint — und das müßt Ihr doch bedenken, wenn Ihr diese Dinge im Ganzen ansehn wollt — so werdet Ihr finden, daß diese Erscheinungen, so stark sie Euch auch rühren, zu Anschauungen der Welt doch nicht geeignet sind. Vielleicht daß wir einst auf einer höhern Stufe dasjenige was wir uns hier auf Erden unterwerfen sollen, im ganzen Weltraum verbreitet und gebietend finden, und uns dann ein heiliger Schauer erfüllt, über die Einheit und Algegen wart auch der körperlichen Kraft; vielleicht daß wir einst mit Er28 Leben] Reben

17 1 Job

4,18

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staunen auch in diesem Schein denselben Geist entdeken, der das Ganze beseelt; aber das wird etwas andres und höheres sein als diese Furcht und diese Liebe, und jezt brauchen die Helden der Vernunft unter Euch nicht zu spotten darüber, daß man durch Erniedrigung unter den todten Stoff und durch leere Poesie sie zur Religion führen wolle, und die empfindsamen Seelen dürfen nicht glauben daß es so leicht sei hinzugelangen zu ihr. Freilich giebt es etwas wesentlicheres anzuschauen in der körperlichen Natur als dieses. Die Unendlichkeit derselben, die ungeheuren Ma-|ßen ausgestreut in jenen unübersehlichen Raum, durchlaufend unermeßliche Bahnen, das wirft doch den Menschen nieder in Ehrfurcht bei dem Gedanken und dem Anblik der Welt? Nur das, ich bitte Euch, was Ihr hiebei empfindet, rechnet mir nicht zur Religion. Der Raum und die Maße machen nicht die Welt aus und sind nicht der Stoff der Religion; darin die Unendlichkeit zu suchen, ist eine kindische Denkungsart. Als nicht die Hälfte jener Welten entdekt war, ja als man noch gar nicht wußte, daß leuchtende Punkte Weltkörper wären, war dennoch das Universum nicht weniger herrlich anzuschauen als jezt, und es gab nicht mehr Entschuldigung für den Verächter der Religion als jezt. Ist nicht der begränzteste Körper in dieser Rüksicht eben so unendlich als alle jene Welten? Die Unfähigkeit Eurer Sinne kann nicht der Stolz Eures Geistes sein, und was macht sich der Geist aus Zahlen und Größen, da er ihre ganze Unendlichkeit in kleine Formeln zusammenfaßen und damit rechnen kann wie mit dem unbedeutendsten? Was in der That den religiösen Sinn anspricht in der äußern Welt, das sind nicht ihre Maßen sondern ihre Geseze. Erhebt Euch zu dem Blik wie diese alles umfaßen, das größeste und das kleinste, | die Weltsysteme und das Stäubchen, welches unstät in der Luft umherflattert, und dann sagt, ob Ihr nicht anschaut die göttliche Einheit und die ewige Unwandelbarkeit der Welt. Was das gemeine Auge von diesen Gesezen zuerst wahrnimmt, die Ordnung in der alle Bewegungen wiederkehren am Himmel und auf der Erde die bestimmte Laufbahn der Gestirne und das gleichmäßige Kommen und Gehen aller organischen Kräfte, die immerwährende Untrüglichkeit in der Regel des Mechanismus, und die ewige Einförmigkeit in dem Streben der plastischen Natur; das ist an dieser Anschauung des Universums gerade das wenigste. Wenn Ihr von einem großen Kunstwerke nur ein einzelnes Stük betrachtet, und in den einzelnen Theilen dieses Stüks wiederum ganz für sich schöne Umriße und Verhältniße wahrnehmt, die in diesem Stük geschloßen sind, und deren Regel sich aus ihm ganz übersehen läßt, wird Euch dann nicht das Stük mehr ein Werk für sich zu sein scheinen, als ein Theil eines Werkes? werdet Ihr nicht urtheilen, daß es dem Ganzen, wenn es durchaus in diesem Styl gearbeitet ist, an Schwung und

12 mir] so DV; OD: nur

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Kühnheit und allem was einen großen Geist ahnden läßt, fehlen müßte? W o Ihr eine erhabene Einheit, einen großgedachten Zu-|sammenhang ahnden sollt, da muß es neben der allgemeinen Tendenz zur Ordnung und Harmonie nothwendig im Einzelnen Verhältniße geben, die sich aus ihm selbst nicht völlig verstehen laßen. Auch die Welt ist ein W e r k , wovon Ihr nur einen Theil überseht, und wenn dieser vollkommen in sich selbst geordnet und vollendet wäre, könntet Ihr Euch von dem Ganzen keinen hohen Begriff machen. Ihr sehet, daß dasjenige, was oft dazu dienen soll die Religion zurükzuweisen, vielmehr einen größern Werth für sie hat in der Weltanschauung, als die Ordnung, die sich uns zuerst darbietet, und sich aus einem kleineren Theil übersehen läßt. N u r niedere Gottheiten, dienende Jungfrauen hatten die Aufsicht in der Religion der Alten über das gleichförmig Wiederkehrende, deßen Ordnung schon gefunden war, aber die A b weichungen, die man nicht begriff, die Revolutionen, für die es keine Geseze gab, diese eben waren das Werk des Vaters der Götter. Die Perturbationen in dem Laufe der Gestirne deuten auf eine höhere Einheit, auf eine kühnere Verbindung als die, welche wir schon aus der Regelmäßigkeit ihrer Bahnen gewahr werden, und die Anomalien, die müßigen Spiele der plastischen Natur zwingen uns zu sehen, daß sie ihre bestimmtesten Formen mit einer Willkür, mit einer Phantasie | gleichsam, behandelt, deren Regel wir nur aus einem höheren Standpunkte entdeken könnten. Wie weit sind wir noch von demjenigen entfernt, welcher der höchste wäre, und wie unvollendet bleibt uns also diese Anschauung der Welt! — Betrachtet das Gesez nach welchem sich überall in der Welt so weit Ihr sie überseht das Lebende zu dem verhält, was in Rüksicht deßelben für todt zu halten ist, wie alles sich nährt und den todten Stoff gewaltsam hineinzieht in sein Leben, wie sich uns von allen Seiten entgegendrängt der aufgespeicherte Vorrath für alles Lebende, der nicht todt da liegt, sondern selbst lebend sich überall aufs neue wieder erzeugt, wie bei aller Mannichfaltigkeit der Lebensformen und der ungeheuren Menge von Materien, den jede wechselnd verbraucht, dennoch jede zur Genüge hat, um den Kreis ihres Daseins zu durchlaufen, und jede nur einem innern Schiksal unterliegt und nicht einem äußeren Mangel, welche unendliche Fülle offenbart sich da, — welch' überfließender Reichthum! Wie werden wir ergriffen von dem Eindruk der mütterlichen Vorsorge, und von kindlicher Zuversicht das süße Leben sorglos wegzuspielen in der vollen und reichen Welt. Sehet die Lilien auf dem Felde, sie säen nicht und ärndten nicht, und Euer | himmlischer Vater ernährt sie doch, darum sorget nicht. Dieser fröliche Anblik, dieser heitere leichte Sinn war aber auch das Höchste ja das Einzige, was einer der größten Heroen der Religion für die seinige aus der Anschauung der Natur gewann; wie sehr

36-38 Mt 6,28. 26

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muß sie ihm also nur im Vorhof derselben gelegen haben! — Eine größere Ausbeute gewährt sie freilich uns, denen ein reicheres Zeitalter tiefer in ihr Innerstes zu dringen vergönnt hat; ihre chemischen Kräfte, die ewigen Geseze nach denen die Körper selbst gebildet und zerstört werden, diese sind es, in denen wir am klarsten und heiligsten das Universum anschauen. Sehet wie Neigung und Widerstreben alles bestimmt und überall ununterbrochen thätig ist; wie alle Verschiedenheit und alle Entgegensezung nur scheinbar und relativ ist, und alle Individualität nur ein leerer Namen; seht wie alles Gleiche sich in tausend verschiedene Gestalten zu verbergen und zu vertheilen strebt, und wie Ihr nirgends etwas Einfaches findet, sondern alles künstlich zusammengesezt und verschlungen; das ist der Geist der Welt, der sich im kleinsten eben so vollkommen und sichtbar offenbart als im größten, das ist eine Anschauung des Universums, die sich aus allem entwikelt und das Gemüth ergreift, und | nur derjenige, der sie in der That überall erblikt, der nicht nur in allen Veränderungen, sondern in allem Dasein selbst nichts findet als ein Werk dieses Geistes und eine Darstellung und Ausführung dieser Geseze, nur dem ist alles Sichtbare auch wirklich Welt, gebildet, von der Gottheit durchdrungen und Eins. Bei einem gänzlichen Mangel aller Kenntniße, die unser Jahrhundert verherrlichen, fehlte doch schon den ältesten Weisen der Griechen nicht diese Ansicht der Natur, zum deutlichen Beweise wie alles was Religion ist jede äußere Hülfe verschmäht und leicht entbehrt; und wäre diese von den Weisen zum Volk hindurchgedrungen, wer weiß welchen erhabenen Gang seine Religion würde genommen haben! Aber was ist Liebe und Widerstreben? was ist Individualität und Einheit? Diese Begriffe, wodurch Euch die Natur erst im eigentlichen Sinne Anschauung der Welt wird, habt Ihr sie aus der Natur? Stammen sie nicht ursprünglich aus dem Innern des Gemüths her, und sind erst von da auf jenes gedeutet? Darum ist es auch das Gemüth eigentlich worauf die Religion hinsieht, und woher sie Anschauungen der Welt nimmt; im innern Leben bildet sich das Universum ab, und nur durch das innere | wird erst das äußere verständlich. Aber auch das Gemüth muß, wenn es Religion erzeugen und nähren soll, in einer Welt angeschaut werden. Laßt mich Euch ein Geheimniß aufdeken, welches in einer der ältesten Urkunden der Dichtkunst und der Religion verborgen liegt. So lange der erste Mensch allein war mit sich und der Natur, waltete freilich die Gottheit über ihm, sie sprach ihn an auf verschiedene Art, aber er verstand sie nicht, denn er ant-

14 und] und | und

3 5 - 1 3 Vgl. Gen 2f

14 87] 8

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wortete ihr nicht; sein Paradies war schön, und von einem schönen Himmel glänzten ihm die Gestirne herab, aber der Sinn für die Welt ging ihm nicht auf; auch aus dem Innern seiner Seele entwikelte er sich nicht; aber von der Sehnsucht nach einer Welt wurde sein Gemüth bewegt, und so trieb er vor sich zusammen die thierische Schöpfung ob etwa sich eine daraus bilden möchte. Da erkannte die Gottheit, daß ihre Welt nichts sei so lange der Mensch allein wäre, sie schuf ihm die Gehülfin, und nun erst regten sich in ihm lebende und geistvolle Töne, nun erst ging seinen Augen die Welt auf. In dem Fleische von seinem Fleische und Bein von seinem Beine endekte er die Menschheit, und in der Menschheit die Welt; von diesem Augenblik an wurde er fähig die Stimme der Gott-|heit zu hören und ihr zu antworten, und die frevelhafteste Übertretung ihrer Geseze schloß ihn von nun an nicht mehr aus von dem Umgange mit dem ewigen Wesen. Unser aller Geschichte ist erzählt in dieser heiligen Sage. Umsonst ist alles für denjenigen da, der sich selbst allein stellt; denn um die Welt anzuschauen und um Religion zu haben, muß der Mensch erst die Menschheit gefunden haben, und er findet sie nur in Liebe und durch Liebe. Darum sind beide so innig und unzertrennlich verknüpft; Sehnsucht nach Religion ist es was ihm zum Genuß der Religion hilft. Den umfängt jeder am heißesten, in dem die Welt sich am klarsten und reinsten abspiegelt; den liebt jeder am zärtlichsten, in dem er alles zusammengedrängt zu finden glaubt, was ihm selbst fehlt um die Menschheit auszumachen. Zur Menschheit also laßt uns hintreten, da finden wir Stoff für die Religion. Hier seid auch Ihr in Eurer eigentlichsten und liebsten Heimat, Euer innerstes Leben geht Euch auf, Ihr seht das Ziel alles Eures Strebens und Thuns vor Euch, und fühlet zugleich das innere Treiben Eurer Kräfte, welches Euch immerfort nach diesem Ziel hinführt. Die Menschheit selbst ist Euch eigentlich das Universum, und Ihr rechnet alles andere nur in so | fern zu diesem als es mit jener in Beziehung kommt oder sie umgiebt. Uber diesen Gesichtspunkt will auch ich Euch nicht hinausführen; aber es hat mich oft innig geschmerzt, daß Ihr bei aller Liebe zur Menschheit und allem Eifer für sie doch immer mit ihr verwikelt und uneins seid. Ihr quält Euch an ihr zu beßern und zu bilden, jeder nach seiner Weise, und am Ende laßt Ihr unmuthsvoll liegen was zu keinem Ziel kommen will. Ich darf sagen, auch das kommt von Eurem Mangel an Religion. Auf die Menschheit wollt Ihr wirken, und die Menschen die Einzelnen schaut Ihr an. Diese misfallen Euch höchlich; und unter den tausend Ursachen die das haben kann, ist unstreitig die die schönste und welche den Beßeren angehört, daß Ihr gar zu moralisch seid nach Eurer Art. Ihr nehmt die Menschen einzeln, und so habt Ihr auch ein Ideal von einem Einzelnen, dem sie aber nicht entsprechen. Dies alles zusammen ist ein verkehrtes Beginnen, und mit der Religion werdet Ihr Euch weit beßer befinden. Möchtet Ihr nur versuchen die Gegenstände Eures Wirkens und Eurer Anschau-

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ung zu verwechseln! Wirkt auf die Einzelnen, aber mit Eurer Betrachtung hebt Euch auf den Flügeln der Religion höher zu der unendlichen unge-| theilten Menschheit; sie suchet in jedem Einzelnen, seht das Dasein eines Jeden an als eine Offenbarung von ihr an Euch, und es kann von allem was Euch jezt drükt keine Spur zurükbleiben. Ich wenigstens rühme mich auch einer moralischen Gesinnung, auch ich verstehe menschliche Vortreflichkeit zu schäzen, und es kann das Gemeine für sich betrachtet mich mit dem unangenehmen Gefühl der Geringschäzung beinahe überfüllen; aber mir giebt die Religion von dem allen eine gar große und herrliche Ansicht. Denkt Euch den Genius der Menschheit als den vollendetsten und universellesten Künstler. Er kann nichts machen was nicht ein eigenthümliches Dasein hätte. Auch wo er nur die Farben zu versuchen und den Pinsel zu schärfen scheint, entstehen lebende und bedeutende Züge. Unzählige Gestalten denkt er sich so und bildet sie. Millionen tragen das Costum der Zeit, und sind treue Bilder ihrer Bedürfniße und ihres Geschmaks; in andern zeigen sich Erinnerungen der Vorwelt oder Ahndungen einer fernen Zukunft; einige sind der erhabenste und treffendste Abdruk des Schönsten und Göttlichsten. Andre sind groteske Erzeugniße der Originellesten und flüchtigsten Laune eines Virtuosen. Das ist eine irreligiöse Ansicht, daß er Gefäße der | Ehre verfertige und Gefäße der Unehre; einzeln müßt Ihr nichts betrachten, aber erfreut Euch eines jeden an der Stelle wo es steht. Alles was zugleich wahrgenommen werden kann und gleichsam auf einem Blatte steht, gehört zu einem großen historischen Bilde welches einen Moment des Universums darstellt. Wollt Ihr dasjenige verachten was die Hauptgruppen hebt, und dem Ganzen Leben und Fülle giebt? Sollen die einzelnen himmlischen Gestalten nicht dadurch verherrlicht werden, daß tausend andere sich vor ihnen beugen, und daß man sieht wie alles auf sie hinblikt und sich auf sie bezieht? Es ist in der That etwas mehr in dieser Vorstellung als ein schales Gleichniß. Die ewige Menschheit ist unermüdet geschäftig sich selbst zu erschaffen, und sich in der vorübergehenden Erscheinung des endlichen Lebens aufs mannichfaltigste darzustellen. Was wäre wohl die einförmige Wiederholung eines höchsten Ideals, wobei die Menschen doch, Zeit und Umstände abgerechnet, eigentlich einerlei sind, dieselbe Formel, nur mit andern Coefficienten verbunden, was wäre sie gegen diese unendliche Verschiedenheit menschlicher Erscheinungen? Nehmt welches Element der Menschheit Ihr wollt, Ihr findet jedes in jedem möglichen Zustande fast von | seiner Reinheit an — denn ganz soll diese nirgends zu finden sein — in jeder Mischung mit jedem andern, bis fast zur 1 Einzelnen, aber mit Eurer Betrachtung] Einzelnen aber mit Eurer Betrachtung, Vorstellung] so DV; OD: Verhüllung 19f Vgl. Rom

9,21

29

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Über die

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innigsten Sättigung mit allen übrigen — denn auch diese ist ein unerreichbares Extrem — und die Mischung auf jedem möglichen Wege bereitet, jede Spielart und jede seltene Combination. Und wenn Ihr Euch noch Verbindungen denken könnt, die Ihr nicht sehet, so ist auch diese Lüke eine negative Offenbarung des Universums, eine Andeutung, daß in dem geforderten Grade in der gegenwärtigen Temperatur der Welt diese Mischung nicht möglich ist, und Eure Fantasie darüber ist eine Aussicht über die gegenwärtigen Grenzen der Menschheit hinaus, eine wahre göttliche Eingebung, eine unwillkürliche und unbewußte Weißagung über das was künftig sein wird. Aber so wie dies, was der geforderten unendlichen Mannichfaltigkeit abzugehen scheint, nicht wirklich ein zu wenig ist, so ist auch das nicht zu viel, was Euch auf Eurem Standpunkt so erscheint. Jenen so oft beklagten Oberfluß an den gemeinsten Formen der Menschheit, die in tausend Abdrüken immer unverändert wiederkehren, erklärt die Religion für einen leeren Schein. Der ewige Verstand befiehlt es, und auch der endliche kann es einsehen, daß diejenigen G e s t a l t e n , an denen das Einzelne am schwersten zu unterscheiden ist, am dichtesten aneinander gedrängt stehen müßen; aber jede hat etwas Eigenthümliches: keiner ist dem andern gleich, und in dem Leben eines jeden giebt es irgend einen Moment, wie der Silberblik unedlerer Metalle, wo er, sei es durch die innige Annäherung eines höhern Wesens oder durch irgend einen elektrischen Schlag, gleichsam aus sich heraus gehoben und auf den höchsten Gipfel desjenigen gestellt wird, was er sein kann. Für diesen Augenblik war er geschaffen, in diesem erreichte er seine Bestimmung, und nach ihm sinkt die erschöpfte Lebenskraft wieder zurük. Es ist ein eigner Genuß, kleinen Seelen zu diesem Moment zu verhelfen, oder sie darin zu betrachten; aber wem dieses nie geworden ist, dem muß freilich ihr ganzes Dasein überflüßig und verächtlich scheinen. So hat die Existenz eines jeden einen doppelten Sinn in Beziehung auf das Ganze. Hemme ich in Gedanken den Lauf jenes rastlosen Getriebes, wodurch alles Menschliche in einander verschlungen und von einander abhängig gemacht wird, so ist jedes Individuum seinem innern Wesen nach ein nothwendiges Ergänzungsstük zur vollkommnen Anschauung der Menschheit. Der eine zeigt mir, wie jedes abgerißene | Theilchen derselben, wenn nur der innere Bildungstrieb, der das Ganze beseelt, ruhig darin fortwirken kann, sich gestaltet in zarte und regelmäßige Formen; der andere, wie aus Mangel an belebender und vereinigender Wärme die Härte des irdischen Stoffs nicht bezwungen werden kann, oder wie in einer zu heftig bewegten Atmosphäre der innerste Geist in seinem Handeln gestört und alles unscheinbar und unkenntlich wird; der eine erscheint als der rohe und thierische Theil der Menschheit nur eben von den ersten unbeholfenen Regungen der Humani-

26 zu] zn

36 irdischen Stoffs] so DV; OD: Menschenstoffs

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tat bewegt, der andre als der reinste dephlegmirte Geist, der von allem Niedrigen und Unwürdigen getrennt nur mit leisem Fuß über der Erde schwebt, und Alle sind da, um durch ihr Dasein zu zeigen, wie diese verschiedenen Theile der menschlichen Natur abgesondert und im Kleinen wirken. Ist es nicht genug, wenn es unter dieser unzähligen Menge doch immer Einige giebt, die als ausgezeichnete und höhere Repräsentanten der Menschheit der eine den, der andre jenen von den melodischen Accorden anschlagen, die keiner fremden Begleitung und keiner spätem Auflösung bedürfen, sondern durch ihre innere Harmonie die ganze Seele in einem Ton entzüken und zufriedenstellen? Beobachte ich wiederum die | ewigen Räder der Menschheit in ihrem Gange, so muß dieses unübersehliche Ineinandergreifen, wo nichts Bewegliches ganz durch sich selbst bewegt wird, und nichts Bewegendes nur sich allein bewegt, mich mächtig beruhigen über Eure Klage, daß Vernunft und Seele, Sinnlichkeit und Sittlichkeit, Verstand und blinde Kraft in so getrennten Maßen erscheinen. Warum seht Ihr Alles einzeln, was doch nicht einzeln und für sich wirkt? Die Vernunft der Einen und die Seele der Andern afficiren einander doch so innig, als es nur in einem Subject geschehen könnte. Die Sittlichkeit, welche zu jener Sinnlichkeit gehört, ist außer derselben gesezt; ist ihre Herrschaft deswegen mehr beschränkt, und glaubt Ihr, diese würde beßer regiert werden, wenn jene jedem Individuo in kleinen kaum merkbaren Portionen zugetheilt wären? Die blinde Kraft, welche dem großen Haufen zugetheilt ist, ist doch in ihren Wirkungen aufs Ganze nicht sich selbst und einem rohen Ohngefähr überlaßen, sondern oft ohne es zu wißen leitet sie doch jener Verstand, den Ihr an andern Punkten in so großer Maße aufgehäuft findet, und sie folgt ihm eben so unwißend in unsichtbaren Banden. So verschwinden mir auf meinem Standpunkt die Euch so bestimmt erscheinenden Umriße der Per-| sönlichkeit; der magische Kreis herrschender Meinungen und epidemischer Gefühle umgiebt und umspielt alles, wie eine mit auflösenden und magnetischen Kräften angefüllte Atmosphäre, sie verschmilzt und vereinigt alles, und sezt durch die lebendigste Verbreitung auch das Entfernteste in eine thätige Berührung, und die Ausflüße derer, in denen Licht und Wahrheit selbstständig wohnen, trägt sie geschäftig umher, daß sie einige durchdringen und andern die Oberfläche glänzend und täuschend erleuchten. Das ist die Harmonie des Universums, das ist die wunderbare und große Einheit in seinem ewigen Kunstwerk; Ihr aber lästert diese Herrlichkeit mit Euren Forderungen einer jämmerlichen Vereinzelung, weil Ihr im ersten Vorhofe der Moral, und auch bei ihr noch mit den Elementen beschäftigt, die hohe Religion verschmähet. Euer Bedürfniß ist deutlich genug angezeigt, möchtet Ihr es nur erkennen und befriedigen! Sucht unter allen den Begebenheiten, in denen sich diese himmlische Ordnung abbildet, ob Euch nicht eine aufgehen wird als ein göttliches Zeichen. Laßt Euch einen alten verworfenen Begriff gefallen, und sucht unter allen den heiligen Männern, in denen

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die Menschheit sich unmittelbarer offenbart, einen auf, der der Mittler | sein könne zwischen Eurer eingeschränkten Denkungsart und den ewigen Grenzen der Welt; und wenn Ihr ihn gefunden habt, dann durchlauft die ganze Menschheit und laßt alles was Euch bisher anders schien, von dem Widerschein dieses neuen Lichts erhellt werden. — Von diesen Wanderungen durch das ganze Gebiet der Menschheit kehrt dann die Religion mit geschärfterem Sinn und gebildeterem Urtheil in das eigne Ich zurük, und sie findet zulezt alles, was sonst aus den entlegensten Gegenden zusammengesucht wurde, bei sich selbst. In Euch selbst findet Ihr, wenn Ihr dahin gekommen seid, nicht nur die Grundzüge zu dem Schönsten und Niedrigsten, zu dem Edelsten und Verächtlichsten, was Ihr als einzelne Seiten der Menschheit an andern wahr genommen habt. In Euch entdekt Ihr nicht nur zu verschiedenen Zeiten alle die mannichfaltigen Grade menschlicher Kräfte, sondern alle die unzähligen Mischungen verschiedener Anlagen, die Ihr in den Charakteren anderer angeschaut habt, erscheinen Euch nur als festgehaltene Momente Eures eigenen Lebens. Es gab Augenblike wo Ihr so dachtet, so fühltet, so handeltet, wo Ihr wirklich dieser und jener Mensch wäret, troz aller Unterschiede des Geschlechts, der Cultur und der äu-|ßeren Umgebungen. Ihr seid alle diese verschiedenen Gestalten in Eurer eignen Ordnung wirklich hindurchgegangen; Ihr selbst seid ein Compendium der Menschheit, Eure Persönlichkeit umfaßt in einem gewißen Sinn die ganze menschliche Natur und diese ist in allen ihren Darstellungen nichts als Euer eigenes vervielfältigtes, deutlicher ausgezeichnetes, und in allen seinen Veränderungen verewigtes Ich. Bei wem sich die Religion so wiederum nach Innen zurükgearbeitet und auch dort das Unendliche gefunden hat, in dem ist sie von dieser Seite vollendet, er bedarf keines Mittlers mehr für irgend eine Anschauung der Menschheit und er kann es selbst sein für viele. Aber nicht nur in ihrem Sein müßt Ihr die Menschheit anschauen, sondern auch in ihrem Werden; auch sie hat eine größere Bahn, welche sie nicht wiederkehrend sondern fortschreitend durchläuft, auch sie wird durch ihre innere Veränderungen zum Höheren und Vollkommenen fortgebildet. Diese Fortschritte will die Religion nicht etwa beschleunigen oder regieren, sie bescheidet sich, daß das Endliche nur auf das Endliche wirken kann, sondern nur beobachten, und als eine von den größten Handlungen des Universums wahrnehmen. Die verschiedenen Mo-|mente der Menschheit aneinander zu knüpfen, und aus ihrer Folge den Geist in dem das Ganze geleitet wird errathen, das ist ihr höchstes Geschäft. Geschichte im 26 er] 50 DV; OD: es

3 8 - 6 Vgl. Gedanken I, Nr. 85 (oben 25,3f)

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eigentlichsten Sinn ist der höchste Gegenstand der Religion, mit ihr hebt sie an und endigt mit ihr — denn Weißagung ist in ihren Augen auch Geschichte und beides gar nicht von einander zu unterscheiden — und alle wahre Geschichte hat überall zuerst einen religiösen Zwek gehabt und ist von religiösen Ideen ausgegangen. In ihrem Gebiet liegen dann auch die höchsten und erhabensten Anschauungen der Religion. — Hier seht Ihr die Wanderung der Geister und der Seelen, die sonst nur eine zarte Dichtung scheint, in mehr als einem Sinn als eine wundervolle Veranstaltung des Universums, um die verschiedenen Perioden der Menschheit nach einem sichern Maasstabe zu vergleichen. Bald kehrt nach einem langen Zwischenraum, in welchem die Natur nichts ähnliches hervorbringen konnte, irgend ein ausgezeichnetes Individuum völlig daßelbe wieder zurük; aber nur die Seher erkennen es und nur sie sollen aus den Wirkungen die es nun hervorbringt, die Zeichen verschiedener Zeiten beurtheilen. Bald kommt ein einzelner Moment der Menschheit ganz so wieder, wie Euch eine | ferne Vorzeit sein Bild zurükgelaßen hat, und Ihr sollt aus den verschiedenen Ursachen durch die er jezt erzeugt worden ist, den Gang des Universums und die Formel seines Gesezes erkennen. Bald erwacht der Genius irgend einer besondern menschlichen Anlage, der hie und da steigend und fallend schon seinen Lauf vollendet hatte, aus seinem Schlummer, und erscheint an einem andern O r t und unter andern Umständen in einem neuen Leben, und sein schnelleres Gedeihen, sein tieferes Wirken, seine schönere kräftigere Gestalt soll andeuten, um wie vieles das Clima der Menschheit verbeßert und der Boden zum Nähren edler Gewächse geschikter geworden sei. — Hier erscheinen Euch Völker und Generationen der Sterblichen eben so wie auf unserer vorigen Ansicht die einzelnen Menschen. Ehrwürdig und geistvoll einige und kräftig wirkend ins Unendliche fort ohne Ansehen des Raums und der Zeit. Gemein und unbedeutend andere, nur bestimmt eine einzelne Form des Lebens oder der Vereinigung eigenthümlich zu nüanciren, nur in einem Moment wirklich lebend und merkwürdig, nur um einen Gedanken darzustellen, einen Begriff zu erzeugen, und dann der Zerstörung entgegen eilend, damit dies Resultat ihrer schönsten Blüthe einem an-|dern könne eingeimpft werden. Wie die vegetabilische Natur durch den Untergang ganzer Gattungen und aus den Trümmern ganzer Pflanzengenerationen neue hervorbringt und ernährt, so seht Ihr hier auch die geistige Natur aus den Ruinen einer herrlichen und schönen Menschenwelt eine neue erzeugen, die aus den zersezten und wunderbar umgestalteten Elementen von jener ihre erste Lebenskraft saugt. — Wenn hier in dem Anschauen eines 35 neue] so DV; OD: eine

2 4 - 2 6 Vgl. Gedanken

I, Nr. 140 (oben

33,3-5)

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allgemeinen Zusammenhanges Euer Blik so oft unmittelbar vom kleinsten zum größten und von diesem wiederum zu jenem herumgeführt wird, und sich in lebendigen Schwingungen zwischen beiden bewegt, bis er schwindelnd weder großes noch kleines, weder Ursach noch Wirkung, weder E r haltung noch Zerstörung weiter unterscheiden kann, dann erscheint Euch die Gestalt eines ewigen Schiksals, deßen Züge ganz das Gepräge dieses Zustandes tragen, ein wunderbares Gemisch von starrem Eigensinn und tiefer Weisheit, von roher herzloser Gewalt und inniger Liebe wovon Euch bald das Eine bald das Andre wechselnd ergreift, und jezt zu ohnmächtigem Troz, jezt zu kindlicher Hingebung einladet. Vergleicht Ihr dann das abgesonderte Streben des Einzelnen, aus diesen entgegengesezten Ansichten entsprungen, mit dem | ruhigen und gleichförmigen Gang des Ganzen, so seht Ihr wie der hohe Weltgeist über alles lächelnd hinwegschreitet, was sich ihm lärmend wiedersezt; Ihr seht wie die hehre Nemesis seinen Schritten folgend unermüdet die Erde durchzieht, wie sie Züchtigung und Strafen den Übermüthigen austheilt, welche den Göttern entgegenstreben und wie sie mit eiserner Hand auch den wakersten und treflichsten abmäht, der sich, vielleicht mit löblicher und bewunderungswerther Standhaftigkeit, dem sanften Hauch des großen Geistes nicht beugen wollte. Wollt Ihr endlich den eigentlichen Charakter aller Veränderungen und aller Fortschritte der Menschheit ergreifen, so zeigt Euch die Religion wie die lebendigen Götter nichts haßen als den T o d , wie nichts verfolgt und gestürzt werden soll als er, der erste und lezte Feind der Menschheit. Das Rohe, das Barbarische, das Unförmliche soll verschlungen und in organische Bildung umgestaltet werden. Nichts soll todte Maße sein, die nur durch den todten Stoß bewegt wird, und nur durch bewußtlose Friktion widersteht: alles soll eigenes zusammengeseztes, vielfach verschlungenes und erhöhtes Leben sein. Blinder Instinkt, gedankenlose Gewöhnung, todter Gehorsam, alles Träge und Paßive, alle diese trau-|rigen Symptome der Asphyxie der Freiheit und Menschheit sollen vernichtet werden. Dahin deutet das Geschäft des Augenbliks und der Jahrhunderte, das ist das große, immer fortgehende Erlösungswerk der ewigen Liebe. N u r mit leichten Umrißen habe ich einige der hervorstechenden A n schauungen der Religion auf dem Gebiet der Natur und der Menschheit entworfen; aber hier habe ich Euch doch bis an die lezte Grenze Eueres Gesichtskreises geführt. Hier ist das Ende der Religion für diejenigen, denen Menschheit und Universum gleichviel gilt; von hier könnte ich Euch nur wieder zurükführen ins Einzelne und Kleinere. N u r glaubt nicht daß dies zugleich die Grenze der Religion sei. Vielmehr kann sie eigentlich hier nicht stehen bleiben, und sieht erst auf der andern Seite dieses Punktes recht hinaus ins Unendliche. Wenn die Menschheit selbst etwas bewegliches und bildsames ist, wenn sie sich nicht nur im Einzelnen anders darstellt, sondern auch hie und da anders w i r d , fühlt Ihr nicht daß sie dann unmöglich

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selbst das Universum sein kann? Vielmehr verhält sie sich zu ihm, wie die einzelnen Menschen sich zu ihr verhalten; sie ist nur eine einzelne Form deßelben, Darstellung einer einzigen Modification seiner Elemente, es muß andre solche | Formen geben, durch welche sie umgrenzt, und denen sie also entgegengesezt wird. Sie ist nur ein Mittelglied zwischen dem Einzelnen und dem Einen, ein Ruheplaz auf dem Wege zum Unendlichen, und es müßte noch ein höherer Charakter gefunden werden im Menschen als seine Menschheit um ihn und seine Erscheinung unmittelbar aufs Universum zu beziehen. Nach einer solchen Ahndung von etwas außer und über der Menschheit strebt alle Religion um von dem gemeinschaftlichen und höheren in beiden ergriffen zu werden; aber dies ist auch der Punkt wo ihre U m riße sich dem gemeinen Auge verlieren, wo sie selbst sich immer weiter von den einzelnen Gegenständen entfernt an denen sie ihren Weg festhalten konnte, und wo das Streben nach dem Höchsten in ihr am meisten für Thorheit gehalten wird. Auch sei es genug an dieser Andeutung auf dasjenige was Euch so unendlich fern liegt, jedes weitere Wort darüber wäre eine unverständliche Rede, von der Ihr nicht wißen würdet woher sie käme noch wohin sie ginge. Hättet Ihr nur erst die Religion, die Ihr haben könnt, und wäret Ihr Euch nur erst derjenigen bewußt, die Ihr wirklich schon habt! denn in der That, wenn Ihr auch nur die wenigen religiösen Anschauungen | betrachtet, die ich mit geringen Zügen jezt entworfen habe, so werdet Ihr finden, daß sie Euch bei weitem nicht alle fremd sind. Es ist wohl eher etwas dergleichen in Euer Gemüth gekommen, aber ich weiß nicht welches das größere Unglük ist, ihrer ganz zu entbehren oder sie nicht zu verstehen; denn auch so verfehlen sie ganz ihre Wirkung im Gemüthe und hintergangen seid Ihr dabei auch von Euch selbst. Die Vergeltung welche alles trift was dem Geist des Ganzen widerstreben will, der überall thätige Haß gegen alles Ubermüthige und Freche, das beständige Fortschreiten aller menschlichen Dinge zu einem Ziel, ein Fortschreiten welches so sicher ist, daß wir sogar jeden einzelnen Gedanken und Entwurf, der das Ganze diesem Ziele näher bringt, nach vielen gescheiterten Versuchen dennoch endlich einmal gelingen sehen, dies sind Anschauungen, die so in die Augen springen, daß sie mehr für eine Veranlaßung als für ein Resultat der Weltbeobachtung gelten können. Viele unter Euch sind sich ihrer auch bewußt, einige nennen sie auch Religion, aber sie wollen, dies soll ausschließend Religion sein; und dadurch wollen sie alles andre verdrängen, was doch aus derselben Handlungsweise des [ Gemüths und völlig auf dieselbe Art entspringt. Wie sind sie denn zu diesen abgerißenen Bruchstüken gekommen? Ich will es Euch sagen: sie halten dies gar nicht für Religion, welche sie ebenfalls verachten, sondern für Moral und wollen

16 darüber] darüber,

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nur den Namen unterschieben, um der Religion selbst — dem nemlich was sie dafür halten — den lezten Stoß zu geben. Wenn sie das nicht zugeben wollen, so fraget sie doch warum sie mit der wunderbarsten Einseitigkeit dies alles nur auf dem Gebiete der Sittlichkeit finden? Die Religion weiß nichts von einer solchen partheiischen Vorliebe; die moralische Welt ist ihr auch nicht das Universum, und was nur für diese gälte, wäre ihr keine Anschauung des Universums. In allem was zum menschlichen Thun gehört, im Spiel wie im Ernst, im kleinsten wie im größten weiß sie die Handlungen des Weltgeistes zu entdeken und zu verfolgen; was sie wahrnehmen soll muß sie überall wahrnehmen können, denn nur dadurch wird es das ihrige, und so findet sie auch eben darin eine göttliche Nemesis, daß eben die, welche, weil in ihnen selbst nur das sittliche oder rechtliche dominirt, auch aus der Religion nur einen unbedeutenden Anhang der Moral machen, und nur das aus ihr nehmen wollen was sich dazu ge-|stalten läßt, sich eben damit ihre Moral, so viel auch schon an ihr gereinigt sein mag, unwiderbringlich verderben und den Keim neuer Irrthümer hineinstreuen. Es klingt sehr schön; wenn man beim moralischen Handeln untergehe, sei es der Wille des ewigen Wesens, und was nicht durch uns geschehe, werde ein andermal zu Stande kommen; aber auch dieser erhabene Trost gehört nicht für die Sittlichkeit; kein Tropfen Religion kann unter diese gemischt werden, ohne sie gleichsam zu phlogistisiren und ihrer Reinigkeit zu berauben. Am deutlichsten offenbart sich dieses gänzliche Nichtwißen um die Religion bei ihren Gefühlen, die noch am weitesten unter Euch verbreitet sind. Wie innig sie auch mit jenen Anschauungen verbunden sind, wie nothwendig sie auch aus ihnen herfließen, und nur aus ihnen erklärt werden können, sie werden dennoch durchaus mißverstanden. — Wenn der Weltgeist sich uns majestätisch offenbart hat, wenn wir sein Handeln nach so groß gedachten und herrlichen Gesezen belauscht haben, was ist natürlicher als von inniger Ehrfurcht vor dem ewigen und unsichtbaren durchdrungen zu werden? Und wenn wir das Universum angeschaut haben, und von dannen zurüksehen auf unser Ich, wie es in | Vergleichung mit ihm ins unendlich kleine verschwindet, was kann dem Sterblichen dann näher liegen als wahre ungekünstelte Demuth? Wenn wir in der Anschauung der Welt auch unsre Brüder wahrnehmen, und es uns klar ist, wie jeder von ihnen ohne Unterschied in diesem Sinne gerade daßelbe ist was wir sind, eine eigne Darstellung der Menschheit, und wie wir ohne das Dasein eines Jeden es entbehren müßten diese anzuschauen, was ist natürlicher als sie Alle ohne Unterschied selbst der Gesinnung und der Geisteskraft mit inniger Liebe und Zuneigung zu umfaßen? Und wenn wir von ihrer Verbindung mit dem Ganzen zurüksehen auf ihren Einfluß in unsere Ereigniße,

23 verbreitet] so DV; OD: vorbereitet

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und sich uns dann diejenigen darstellen, die von ihrem eigenen vergänglichen Sein und dem Streben es zu erweitern und zu isoliren nachgelaßen haben, um das unsrige zu erhalten, wie können wir uns da erwehren jenes Gefühls einer besondern Verwandtschaft mit denen, deren Handlungen einmal unsre Existenz verfochten und durch ihre Gefahren glüklich hindurch geführt haben? jenes Gefühls der Dankbarkeit, welches uns antreibt sie zu ehren als solche, die sich mit dem Ganzen schon geeinigt haben, und sich ihres Lebens in demselben bewußt sind? — Wenn wir im Ge-|gentheil 110 das gewöhnliche Treiben der Menschen betrachten die von dieser Abhängigkeit nichts wißen, wie sie dies und das ergreifen und festhalten, um ihr Ich zu verschanzen und mit mancherlei Außenwerken zu umgeben, damit sie ihr abgesondertes Dasein nach eigner Wilkür leiten mögen, und der ewige Strom der Welt ihnen nichts daran zerrütte, und wie dann nothwendiger Weise das Schiksal dies alles verschwemmt, und sie selbst auf tausend Arten verwundet und quält; was ist dann natürlicher als das herzlichste Mitleid mit allem Schmerz und Leiden, welches aus diesem ungleichen Streit entsteht, und mit allen Streichen, welche die furchtbare Nemesis auf allen Seiten austheilt? — und wenn wir erkundet haben was denn dasjenige ist, was im Gange der Menschheit überall aufrecht erhalten und gefördert wird, und das was unvermeidlich früher oder später besiegt und zerstört werden muß, wenn es sich nicht umgestalten und verwandeln läßt, und wir dann von diesem Gesez auf unser eignes Handeln in der Welt hinsehen, was ist natürlicher als zerknirschende Reue über alles dasjenige in uns, was dem Genius der Menschheit feind ist, als der demühtige Wunsch die Gottheit zu versöhnen, als das sehnlichste Verlangen umzukehren | und uns mit allem was 111 uns angehört in jenes heilige Gebiet zu retten, wo allein Sicherheit ist gegen Tod und Zerstörung. Alle diese Gefühle sind Religion, und eben so alle andere, bei denen das Universum der eine, und auf irgend eine Art Euer eignes Ich der andre von den Punkten ist zwischen denen das Gemüth schwebt. Die Alten wußten das wohl: Frömmigkeit nannten sie alle diese Gefühle, und bezogen sie unmittelbar auf die Religion, deren edelster Theil sie ihnen waren. Auch Ihr kennt sie, aber wenn Euch so etwas begegnet, so wollt Ihr Euch überreden es sei etwas sittliches, und in der Moral wollt Ihr diesen Empfindungen ihren Plaz anweisen; sie begehrt sie aber nicht und leidet sie nicht. Sie mag keine Liebe und Zuneigung sondern Thätigkeit, die ganz von innen herauskommt, und nicht durch Betrachtung ihres äußern Gegenstandes erzeugt ist, sie kennt keine Ehrfurcht als die vor ihrem Gesez, sie verdammt als unrein und selbstsüchtig, was aus Mitleid und Dankbarkeit geschehen kann, sie demüthigt, ja verachtet die Demuth, und wenn Ihr von Reue sprecht, so redet sie von verlorner Zeit die Ihr unnüz ver-

10 ihr] Ihr

16 diesem] diesen

29 Ich] Ich,

33 Ihr] ihr

Über die Religion

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mehrt. Auch muß Euer innerstes Gefühl ihr darin beipflichten, daß es mit allen diesen Empfindungen nicht auf | Handeln abgesehen ist, sie kommen für sich selbst und endigen in sich selbst als Funktionen Eures innersten und höchsten Lebens. Was windet Ihr Euch also und bittet um Gnade für sie da, wo sie nicht hingehören? Laßet es Euch doch gefallen einzusehen, daß sie Religion sind, so braucht Ihr nichts für sie zu fordern als ihr eignes strenges Recht, und werdet Euch selbst nicht betrügen mit ungegründeten Ansprüchen, die Ihr in ihrem Namen zu machen geneigt seid. Es sei nun bei der Moral oder irgend sonst, wo Ihr ähnliche Gefühle findet, sie sind nur usurpirt; bringt sie der Religion zurük, ihr allein gehört dieser Schaz, und als Besizerin deßelben ist sie der Sittlichkeit und allem andern was ein Gegenstand des menschlichen Thuns ist, nicht Dienerin, aber unentbehrliche Freundin und ihre vollgültige Fürsprecherin und Vermitlerin bei der Menschheit. Das ist die Stufe auf welcher die Religion steht und besonders das Selbstthätige in ihr, ihre Gefühle. Daß sie allein dem Menschen Universalität giebt, habe ich schon einmal angedeutet; jezt kann ich es näher erklären. In allem Handeln und Wirken, es sei sittlich oder philosophisch oder künstlerisch, soll der Mensch nach Virtuosität streben, und alle Virtuosität beschränkt und macht kalt, einseitig | und hart. Auf einen Punkt richtet sie zunächst das Gemüth des Menschen und dieser eine Punkt ist immer etwas endliches. Kann der Mensch so von einem beschränkten Werk fortschreitend zum andern seine ganze unendliche Kraft wirklich verbrauchen? und wird nicht vielmehr der größere Theil derselben unbenuzt liegen, und sich deshalb gegen ihn selbst wenden und ihn verzehren? Wie viele von Euch gehen nur deshalb zu Grunde weil sie sich selbst zu groß sind; ein Oberflus an Kraft und Trieb der sie nicht einmal zu einem Werk kommen läßt, weil doch keines ihm angemeßen wäre, treibt sie unstät umher und ist ihr Verderben. Wollt Ihr etwa auch diesem Uebel wieder so steuren, daß der, welchem einer zu groß ist, alle jene drei Gegenstände des menschlichen Strebens, oder wenn Ihr deren noch mehr wißt, auch diese vereinigen soll? Das wäre freilich Euer altes Begehren, die Menschheit überall aus einem Stük zu haben, welches immer wiederkehrt — aber wenn es nur möglich wäre! wenn nur nicht jene Gegenstände, sobald sie einzeln ins Auge gefaßt werden, so sehr auf gleiche Weise das Gemüth anregten und zu beherrschen strebten! Jeder von ihnen will Werke ausführen, jeder hat ein Ideal dem er entgegenstrebt und | eine Totalität, welche er erreichen will, und diese Rivalität kann nicht anders endigen als daß einer den andern verdrängt. Wozu also soll der Mensch die Kraft verwenden, die ihm jede geregelte und kunst5 einzusehen] so DV; OD: anzusehen

16 5.0.

217,35-39

6 Ihr] ihr

15 Daß] Das

28 Uebel] Uebel

Zweite

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mäßige Anwendung seines Bildungstriebes übrig läßt? Nicht so daß er wieder etwas anderes bilden wolle, und auf etwas anderes Endliches thätig arbeite, sondern dazu, daß er sich ohne bestimmte Thätigkeit vom Unendlichen afficiren laße und durch jede Gattung religiöser Gefühle seine Gegenwirkung gegen diese Einwirkung offenbare. Welchen jener Gegenstände Eures freien und kunstmäßigen Handelns Ihr auch gewählt habt, es gehört nur wenig Sinn dazu, um von jedem aus das Universum zu finden, und in diesem entdekt Ihr denn auch die übrigen als Gebot oder als Eingebung oder als Offenbarung desselben; so im Ganzen sie beschauen und betrachten nicht als etwas abgesondertes und in sich bestimmtes, das ist die einzige Art wie Ihr Euch bei einer schon gewählten Richtung des Gemüths auch das, was außer derselben liegt, aneignen könnt, nicht wiederum aus Wilkühr als Kunst, sondern aus Instinkt fürs Universum als Religion, und weil sie auch in der religiösen Form wieder rivalisiren, so er-|scheint auch die 115 Religion öfter vereinzelt als Naturpoesie, Naturphilosophie oder Naturmoral, als in ihrer ganzen Gestalt vollendet und alles vereinigend. So sezt der Mensch dem Endlichen, wozu seine Willkühr ihn hintreibt ein Unendliches, dem zusammenziehenden Streben nach etwas Bestimmtem und Vollendetem das erweiternde Schweben im Unbestimmten und Unerschöpflichen an die Seite; so schaft er seiner überflüßigen Kraft einen unendlichen Ausweg, und stellt das Gleichgewicht und die Harmonie seines Wesens wieder her, welche unwiderbringlich verloren geht, wenn er sich, ohne zugleich Religion zu haben, einer einzelnen Direktion überläßt. Die Virtuosität eines Menschen ist nur gleichsam die Melodie seines Lebens, und es bleibt bei einzelnen Tönen, wenn er ihr nicht die Religion beifügt. Diese begleitet jene in unendlich reicher Abwechselung mit allen Tönen die ihr nur nicht ganz widerstreben, und verwandelt so den einfachen Gesang des Lebens in eine vollstimmige und prächtige Harmonie. Wenn dies was ich, hoffentlich für Euch Alle verständlich genug, angedeutet habe, eigentlich das Wesen der Religion ausmacht, so ist die Frage, wohin denn jene Dogmen | und Lehrsäze eigentlich gehören, die gemeinig- 116 lieh für den Inhalt der Religion ausgegeben werden, nicht schwer zu beantworten. Einige sind nur abstrakte Ausdrüke religiöser Anschauungen, andre sind freie Reflexion über die ursprüngliche Verrichtungen des religiösen Sinnes, Resultate einer Vergleichung der religiösen Ansicht mit der gemeinen. Den Inhalt einer Reflexion für das Wesen der Handlung zu nehmen, über welche reflektirt wird, das ist ein so gewöhnlicher Fehler, daß es Euch wohl nicht Wunder nehmen darf ihn auch hier anzutreffen. Wunder, 6 Handelns] Handels

3 0 - 3 6 Vgl. Gedanken

7 Sinn dazu,] Sinn, dazu

I, Nr. 86 (oben

25,5-7)

8 Ihr] ihr

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Über die

Religion

Eingebungen, Offenbarungen, übernatürliche Empfindungen — man kann viel Religion haben, ohne auf irgend einen dieser Begriffe gestoßen zu sein; aber wer über seine Religion vergleichend reflektirt, der findet sie unvermeidlich auf seinem Wege und kann sie ohnmöglich umgehen. In diesem Sinn gehören allerdings alle diese Begriffe in das Gebiet der Religion, und zwar unbedingt, ohne daß man über die Gränzen ihrer Anwendung das geringste bestimmen dürfte. Das Streiten, welche Begebenheit eigentlich ein Wunder sei, und worin der Charakter deßelben eigentlich bestehe, wieviel Offenbarung es wohl gebe, und wiefern und warum man eigentlich daran glau-|ben dürfe, und das offenbare Bestreben, so viel sich mit Anstand und Rüksicht thun läßt, davon abzuleugnen und auf die Seite zu schaffen, in der thörichten Meinung der Philosophie und der Vernunft einen Dienst damit zu leisten, das ist eine von den kindischen Operationen der Metaphysiker und Moralisten in der Religion; Sie werfen alle Gesichtspunkte unter einander und bringen die Religion in das Geschrei, der Totalität wißenschaftlicher und physischer Urtheile zu nahe zu treten. Ich bitte laßt Euch nicht durch ihr sophistisches Disputiren und ihr scheinheiliges Verbergen desjenigen was sie gar zu gern kund machen möchten, zum Nachtheil der Religion verwirren. Diese läßt Euch, so laut sie auch alle jene verschriene Begriffe zurükfordert, Eure Physik, und so Gott will, auch Eure Psychologie unangetastet. Was ist denn ein Wunder! sagt mir doch in welcher Sprache — ich rede freilich nicht von denen, die wie die unsrige nach dem Untergange aller Religion entstanden sind — es denn etwas anders heißet als ein Zeichen, eine Andeutung? Und so besagen alle jene Ausdrüke nichts, als die unmittelbare Beziehung einer Erscheinung aufs Unendliche, aufs Universum; schließet das aber aus, daß es nicht eine eben | so unmittelbare aufs Endliche und auf die Natur giebt? Wunder ist nur der religiöse Name für Begebenheit, jede, auch die allernatürlichste und gewöhnlichste, sobald sie sich dazu eignet, daß die religiöse Ansicht von ihr die herrschende sein kann, ist ein Wunder. Mir ist alles Wunder, und in Eurem Sinn ist mir nur das ein Wunder, nemlich etwas Unerklärliches und Fremdes, was keines ist in meinem. Je religiöser Ihr wäret, desto mehr Wunder würdet Ihr überall sehen, und jedes Streiten hin und her über einzelne Begebenheiten, ob sie so zu heißen verdienen, giebt mir nur den schmerzhaften Eindruk wie arm und dürftig der religiöse Sinn der Streitenden ist. Die einen beweisen es dadurch daß sie überall protestiren gegen Wunder und die andern dadurch, daß es ihnen auf dieses und jenes besonders ankömmt, und daß eine Erscheinung eben wunderlich gestaltet sein muß um ihnen ein Wunder zu sein. Was heißt Offenbarung? jede ursprüngliche und neue Anschauung des Universums ist eine, und Jeder muß doch wohl am besten wißen was ihm ursprünglich und neu ist, und wenn etwas von dem, was in ihm ursprünglich war, für Euch noch neu ist, so ist seine Offenbarung auch für Euch eine, und ich will Euch rathen sie wohl | zu erwägen. Was heißt Eingebung?

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Es ist nur der religiöse Name für Freiheit. Jede freie Handlung, die eine religiöse That wird, jedes Wiedergeben einer religiösen Anschauung, jeder Ausdruk eines religiösen Gefühls, der sich wirklich mittheilt, so daß auch auf andre die Anschauung des Universums übergeht, war auf Eingebung geschehen; denn es war ein Handeln des Universums durch den Einen auf die Andern. Jedes Anticipiren der andern Hälfte einer religiösen Begebenheit, wenn die eine gegeben ist, ist eine Weißagung, und es war sehr religiös von den alten Hebräern die Göttlichkeit eines Propheten nicht darnach abzumeßen, wie schwer das Weißagen war, sondern ganz einfältig nach dem Ausgang; denn eher kann man nicht wißen ob sich einer auf die Religion versteht, bis man sieht, ob er die religiöse Ansicht grade dieses bestimmten Dinges, welches ihn affizirte, auch richtig gefaßt hat. — Was sind Gnadenwirkungen? Alle religiösen Gefühle sind übernatürlich, denn sie sind nur in so fern religiös, als sie durchs Universum unmittelbar gewirkt sind, und ob sie religiös sind in Jemand, das muß er doch am besten beurtheilen. Alle diese Begriffe sind, wenn die Religion einmal Begriffe haben soll, die ersten und we-|sentlichsten; sie bezeichnen auf die eigenthümlichste Art das Be- 120 wußtsein eines Menschen von seiner Religion; sie sind um so wichtiger deswegen, weil sie nicht nur etwas bezeichnen, was allgemein sein darf in der Religion, sondern gerade dasjenige was allgemein sein muß in ihr. J a , wer nicht eigne Wunder sieht auf seinem Standpunkt zur Betrachtung der Welt, in weßen Innern nicht eigene Offenbarungen aufsteigen, wenn seine Seele sich sehnt die Schönheit der Welt einzusaugen, und von ihrem Geiste durchdrungen zu werden; wer nicht hie und da mit der lebendigsten Oberzeugung fühlt, daß ein göttlicher Geist ihn treibt und daß er aus heiliger Eingebung redet und handelt; wer sich nicht wenigstens — denn dies ist in der That der geringste Grad — seiner Gefühle als unmittelbarer Einwirkungen des Universums bewußt ist, und etwas eignes in ihnen kennt was nicht nachgebildet sein kann, sondern ihren reinen Ursprung aus seinem Innersten verbürgt, der hat keine Religion. Glauben, was man gemeinhin so nennt, annehmen was ein anderer gethan hat, nachdenken und nachfühlen wollen was ein Anderer gedacht und gefühlt hat, ist ein harter und unwürdiger Dienst, und statt das höchste in der Religion | zu sein, wie man 121 wähnt, muß er grade abgelegt werden, von Jedem der in ihr Heiligthum dringen will. Ihn haben und behalten wollen, beweiset daß man der Religion unfähig ist; ihn von andern fordern, zeigt daß man sie nicht versteht. Ihr wollt überall auf Euren eignen Füßen stehn und Euren eignen Weg gehn, aber dieser würdige Wille schreke Euch nicht zurük von der Reli20 sondern] songern

8 - 1 0 Vgl. Dtn 18,22

38 schreke] so DV; OD; schrekt

Über die Religion

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gion. Sie ist kein Sklavendienst und keine Gefangenschaft; auch hier sollt Ihr Euch selbst angehören, ja dies ist sogar die einzige Bedingung unter welcher Ihr ihrer theilhaftig werden könnt. Jeder Mensch, wenige Auserwählte ausgenommen, bedarf allerdings eines Mittlers, eines Anführers der seinen Sinn für Religion aus dem ersten Schlummer weke und ihm eine erste Richtung gebe, aber dies soll nur ein vorübergehender Zustand sein; mit eignen Augen soll dann jeder sehen und selbst einen Beitrag zu Tage fördern zu den Schäzen der Religion, sonst verdient er keinen Plaz in ihrem Reich und erhält auch keinen. Ihr habt Recht die dürftigen Nachbeter zu verachten, die ihre Religion ganz von einem Andern ableiten, oder an einer todten Schrift hängen, auf sie schwören und aus ihr beweisen. Jede heilige Schrift ist nur ein | Mausoleum der Religion ein Denkmal, daß ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist; denn wenn er noch lebte und wirkte, wie würde er einen so großen Werth auf den todten Buchstaben legen, der nur ein schwacher Abdruk von ihm sein kann? Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern welcher keiner bedarf, und wohl selbst eine machen könnte. U n d eben diese Eure Verachtung gegen die armseligen und kraftlosen Verehrer der Religion, in denen sie aus Mangel an Nahrung vor der Geburt schon gestorben ist, eben diese beweiset mir, daß in Euch selbst eine Anlage ist zur Religion und die Achtung die Ihr allen ihren wahren Helden immer erzeiget, wie sehr Ihr Euch auch auflehnt gegen die Art wie sie gemißbraucht und durch Gözendienst geschändet worden, bestätigt mich in dieser Meinung. — Ich habe Euch gezeigt was eigentlich Religion ist, habt Ihr irgend etwas darin gefunden was Eurer und der höchsten menschlichen Bildung unwürdig wäre? Müßt Ihr Euch nicht nach den ewigen Gesezen der geistigen Natur um so ängstlicher nach dem Universum sehnen und nach einer selbstgewirkten Vereinigung mit ihm streben, je mehr Ihr durch die bestimmteste Bildung und Individualität | in ihm gesondert und isolirt seid? und habt Ihr nicht oft diese heilige Sehnsucht als etwas unbekanntes gefühlt? Werdet Euch doch, ich beschwöre Euch, des Rufs Eurer innersten Natur bewußt, und folgt ihm. Verbannet die falsche Schaam vor einem Zeitalter welches nicht Euch bestimmen, sondern von Euch bestimmt und gemacht werden soll! Kehret zu demjenigen zurük was Euch, gerade Euch so nahe liegt, und wovon die gewaltsame Trennung doch unfehlbar den schönsten Theil Eurer Existenz zerstört. Es scheint mir aber als ob Viele unter Euch nicht glaubten, daß ich mein gegenwärtiges Geschäft hier könne endigen wollen, als ob Ihr dennoch der Meinung wäret, es könne vom Wesen der Religion nicht gründlich 28 Ihr] ihr

34 wovon] so DV; OD: woran

13 f Vgl. 2 Kor 3,6

Zweite Rede

243

geredet worden sein, wo von der Unsterblichkeit gar nicht, und von der Gottheit so gut als nichts gesagt worden ist. Erinnert Euch doch, ich bitte Euch, wie ich mich von Anfang an dagegen erklärt habe, daß dies nicht die Angel und Hauptstüke der Religion seien; erinnert Euch, daß als ich die Umriße derselben zeichnete, ich auch den Weg angedeutet habe, auf welchem die Gottheit zu finden ist; was verliert Ihr also noch? und warum soll ich einer religiösen | Anschauungsart mehr thun als den übrigen? Damit Ihr aber nicht denket ich fürchte mich ein ordentliches W o r t über die Gottheit zu sagen, weil es gefährlich werden will davon zu reden, bevor eine zu Recht und Gericht beständige Definition von G o t t und D a s e i n ans Licht gebracht und im deutschen Reich sankzionirt worden ist; oder damit ihr nicht auf der andern Seite glaubt ich spiele einen frommen Betrug und wolle, um Allen Alles zu werden, mit scheinbarer Gleichgültigkeit dasjenige herabsezen, was für mich von ungleich größerer Wichtigkeit sein muß als ich gestehen will; so will ich Euch noch einen Augenblik Rede stehen, und Euch deutlich zu machen suchen, daß für mich die Gottheit nichts anders sein kann, als eine einzelne religiöse Anschauungsart, von der wie von jeder andern die übrigen unabhängig sind, und daß auf meinem Standpunkt und nach meinen Euch bekannten Begriffen der Glaube „kein G o t t , keine Religion" gar nicht statt finden kann, und auch von der Unsterblichkeit will ich Euch unverholen meine Meinung sagen. Zuerst saget mir doch, was meinen sie von der Gottheit, und was wollt Ihr damit meinen? denn jene rechtskräftige Definition ist doch noch nicht vorhanden, und es liegt am Tage | daß die größten Verschiedenheiten darüber statt haben. Den mehrsten ist offenbar G o t t nichts anders als der G e nius der Menschheit. Der Mensch ist das Urbild ihres Gottes, die Menschheit ist ihr alles, und nach demjenigen, was sie für ihre Ereigniße und Führungen halten, bestimmen sie die Gesinnungen und das Wesen ihres G o t tes. Nun aber habe ich Euch deutlich genug gesagt, daß die Menschheit nicht mein Alles ist, daß meine Religion nach einem Universum strebt, wovon sie mit allem was ihr angehört, nur ein unendlich kleiner Theil, nur eine einzelne vergängliche Form ist: kann also ein G o t t , der nur der Genius der Menschheit wäre, das höchste meiner Religion sein? Es mag dichterischere Gemüther geben, und ich gestehe ich glaube, daß diese höher stehen, denen Gott ein von der Menschheit gänzlich unterschiedenes Individuum, ein einziges Exemplar einer eigenen Gattung ist, und wenn sie mir die

7 einer] so DV; OD: Eurer 7 Anschauungsart] so DV; OD: Anschauung ungsart] 50 DV; OD: Anschauung

17 Anschau-

8—11 Anspielung auf den sog. Atheismusstreit, der im März 1799 zur Entlassung Johann Gottlieb Fichtes aus seiner Jenaer Philosophieprofessur führte. 13 Vgl. I Kor 9,22

244

Über die Religion

Offenbarungen zeigen, durch welche sie einen solchen Gott kennen — einen oder mehrere, ich verachte in der Religion nichts so sehr als die Zahl — so soll er mir eine erwünschte Entdekung sein, und gewiß werden sich aus dieser Offenbarung in mir mehrere entwikeln; aber ich strebe nach noch mehr Gattungen aus-|ser und über der Menschheit als nach einer, und jede Gattung mit ihrem Individuum ist dem Universum untergeordnet: kann also Gott in diesem Sinne für mich etwas anders sein als eine einzelne Anschauung? Doch dies mögen nur unvollständige Begriffe von Gott sein, laßt uns gleich zu dem höchsten gehn, zu dem von einem höchsten Wesen, von einem Geist des Universums, der es mit Freiheit und Verstand regiert, so ist doch auch von dieser Idee die Religion nicht abhängig. Religion haben, heißt das Universum anschauen, und auf der Art, wie Ihr es anschauet, auf dem Prinzip, welches Ihr in seinen Handlungen findet, beruht der Werth Eurer Religion. Wenn Ihr nun nicht läugnen könnt, daß sich die Idee von Gott zu jeder Anschauung des Universums bequemt, so müßt Ihr auch zugeben, daß eine Religion ohne Gott beßer sein kann, als eine andre mit Gott. Das Universum stellt sich in seinen Handlungen dem rohen Menschen, der nur eine verwirrte Idee vom Ganzen und Unendlichen hat, und nur einen dunkeln Instinkt, als eine Einheit dar, in der nichts mannigfaltiges zu unterscheiden ist, als ein Chaos gleichförmig in der Verwirrung, ohne Abtheilung, Ordnung und | Gesez, woraus nichts einzelnes gesondert werden kann, als indem es willkürlich abgeschnitten wird in Zeit und Raum. Ohne den Drang es zu beseelen, repräsentirt ihm ein blindes Geschik den Charakter des Ganzen; mit diesem Drang wird sein Gott ein Wesen ohne bestimmte Eigenschaften, ein Göze, ein Fetisch, und wenn er mehrere annimmt, so sind sie durch nichts zu unterscheiden, als durch die willkürlich gesezten Grenzen ihres Gebiets. Auf einer andern Stufe der Bildung stellt sich das Universum dar als eine Vielheit ohne Einheit, als ein unbestimmtes Mannigfaltiges heterogener Elemente und Kräfte, deren beständiger und ewiger Streit seine Erscheinungen bestimmt. Nicht ein blindes Geschik bezeichnet seinen Charakter, sondern eine motivirte Nothwendigkeit, in welcher die Aufgabe liegt, nach Grund und Zusammenhang zu forschen, mit dem Bewußtsein ihn nie finden zu können. Wird zu diesem Universum die Idee eines Gottes gebracht, so zerfällt sie natürlich in unendlich viele Theile, jede dieser Kräfte und Elemente, in denen keine Einheit ist, wird besonders beseelt, Götter entstehen in unendlicher Anzahl, unterscheidbar durch verschiedene Objekte ihrer Thätigkeit, durch verschiedene Neigungen und Gesinnungen. Ihr | müßt zugeben, daß diese

15 Anschauung] Anschaunng ein,

22 gesondert] so DV; OD: geforden

26 Göze, ein] Göze

Zweite Rede

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Anschauung des Universums unendlich würdiger ist als jene, werdet Ihr nicht auch gestehen müßen, daß derjenige, der sich bis zu ihr erhoben hat, aber sich ohne die Idee von Göttern vor der ewigen und unerreichbaren Nothwendigkeit beugt, dennoch mehr Religion hat als der rohe Anbeter eines Fetisches? Nun laßt uns höher steigen, dahin wo alles streitende sich wieder vereinigt, wo das Universum sich als Totalität, als Einheit in der Vielheit, als System darstellt, und so erst seinen Namen verdient; sollte nicht der, der es so anschaut als Eins und Alles, auch ohne die Idee eines Gottes mehr Religion haben, als der gebildetste Polytheist? Sollte nicht Spinoza eben so weit über einem frommen R ö m e r stehen, als Lukrez über einem Gözendiener? Aber das ist die alte Inkonsequenz, das ist das schwarze Zeichen der Unbildung, daß sie die am weitesten verwerfen, die auf einer Stufe mit ihnen stehen, nur auf einem andern Punkt derselben! welche von diesen Anschauungen des Universums ein Mensch sich zueignet, das hängt ab von seinem Sinn fürs Universum, das ist der eigentliche Maßstab seiner Religiosität, ob er zu seiner Anschauung einen G o t t hat, das hängt ab von der Rich-|tung seiner Fantasie. In der Religion wird das Universum angeschaut, es wird gesezt als ursprünglich handelnd auf den Menschen. Hängt nun Eure Fantasie an dem Bewußtsein Eurer Freiheit so daß sie es nicht überwinden kann dasjenige was sie als ursprünglich wirkend denken soll anders als in der Form eines freien Wesens zu denken; wohl, so wird sie den Geist des Universums personifiziren und Ihr werdet einen G o t t haben; hängt sie am Verstände, so daß es Euch immer klar vor Augen steht, Freiheit habe nur Sinn im Einzelnen und fürs Einzelne; wohl, so werdet Ihr eine Welt haben und keinen G o t t . Ihr, hoffe ich, werdet es für keine Lästerung halten, daß Glaube an G o t t abhängt von der Richtung der Fantasie; Ihr werdet wißen daß Fantasie das höchste und ursprünglichste ist im M e n schen, und außer ihr alles nur Reflexion über sie; Ihr werdet es wißen daß Eure Fantasie es ist, welche für Euch die Welt erschaft, und daß Ihr keinen Gott haben könnt ohne Welt. Auch wird er dadurch niemanden ungewißer werden, noch wird sich jemand von der fast unabänderlichen Nothwendigkeit ihn anzunehmen um desto beßer losmachen, weil er darum weiß, w o her ihm diese Nothwendigkeit kommt. | In der Religion also steht die Idee von G o t t nicht so hoch als Ihr meint, auch gab es unter wahrhaft religiösen Menschen nie Eiferer, Enthusiasten oder Schwärmer für das Dasein Gottes; mit großer Gelaßenheit haben sie das, was man Atheismus nennt, neben sich gesehn, und es hat immer etwas gegeben, was ihnen irreligiöser schien als dieses. Auch G o t t kann in der Religion nicht anders vorkommen als handelnd, und göttliches Leben und Handeln des Universums hat noch niemand geläugnet, und mit dem seienden und gebietenden G o t t hat sie nichts

18 auf] anf

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Über die

Religion

zu schaffen, so wie ihr Gott den Physikern und Moralisten nichts frommt, deren traurige Mißverständniße dies eben sind, und immer sein werden. Der handelnde Gott der Religion kann aber unsere Glükseligkeit nicht verbürgen; denn ein freies Wesen kann nicht anders wirken wollen auf ein freies Wesen, als nur daß es sich ihm zu erkennen gebe, einerlei ob durch Schmerz oder Lust. Auch kann er uns zur Sittlichkeit nicht reizen, denn er wird nicht anders betrachtet als handelnd, und auf unsre Sittlichkeit kann nicht gehandelt und kein Handeln auf sie kann gedacht werden. Was aber die Unsterblichkeit betrifft, so kann ich nicht bergen, die Art, wie die mei-|sten Menschen sie nehmen und ihre Sehnsucht darnach ist ganz irreligiös, dem Geist der Religion gerade zuwider, ihr Wunsch hat keinen andern Grund, als die Abneigung gegen das was das Ziel der Religion ist. Erinnert Euch wie in ihr alles darauf hinstrebt, daß die scharf abgeschnittnen Umriße unsrer Persönlichkeit sich erweitern und sich allmählich verlieren sollen ins Unendliche, daß wir durch das Anschauen des Universums so viel als möglich eins werden sollen mit ihm; sie aber sträuben sich gegen das Unendliche, sie wollen nicht hinaus, sie wollen nichts sein als sie selbst, und sind ängstlich besorgt um ihre Individualität. Erinnert Euch wie es das höchste Ziel der Religion war, ein Universum jenseits und über der Menschheit zu entdeken, und ihre einzige Klage daß es damit nicht recht gelingen will auf dieser Welt; Jene aber wollen nicht einmal die einzige Gelegenheit ergreifen, die ihnen der Tod darbietet, um über die Menschheit hinaus zu kommen; sie sind bange wie sie sie mitnehmen werden jenseits dieser Welt und streben höchstens nach weiteren Augen und beßeren Gliedmaßen. Aber das Universum spricht zu ihnen wie geschrieben steht: wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es erhalten, und wer es erhalten will | der wird es verlieren. Das Leben was sie erhalten wollen ist ein erbärmliches, denn wenn es ihnen um die Ewigkeit ihrer Person zu thun ist, warum kümmern sie sich nicht eben so ängstlich um das was sie gewesen sind, als um das was sie sein werden? und was hilft ihnen das vorwärts wenn sie doch nicht rükwärts können? Uber die Sucht nach einer Unsterblichkeit, die keine ist, und über die sie nicht Herren sind, verlieren sie die, welche sie haben könnten, und das sterbliche Leben dazu mit Gedanken, die sie vergeblich ängstigen und quälen. Versucht doch aus Liebe zum Universum Euer Leben aufzugeben. Strebt darnach schon hier Eure Individualität zu vernichten, und im Einen und Allen zu leben, strebt darnach mehr zu sein als Ihr selbst, damit Ihr wenig verliert, wenn Ihr Euch verliert; und wenn Ihr so mit dem Universum, soviel Ihr hier davon findet, zusammen6 er] so DV; OD: es

26f Vgl. Mt 16,25; Mk 8,35; Lk 9,24

Zweite Rede

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gefloßen seid, und eine größere und heiligere Sehnsucht in Euch entstanden ist, dann wollen wir weiter reden über die Hofnungen, die uns der Tod giebt, und über die Unendlichkeit zu der wir uns durch ihn unfehlbar emporschwingen. Das ist meine Gesinnung über diese Gegenstände. Gott ist nicht Alles in der Religion | sondern Eins, und das Universum ist mehr; auch könnt Ihr ihm nicht glauben willkührlich, oder weil Ihr ihn brauchen wollt zu Trost und Hülfe, sondern weil Ihr müßt. Die Unsterblichkeit darf kein Wunsch sein, wenn sie nicht erst eine Aufgabe gewesen ist, die Ihr gelöst habt. Mitten in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblik, das ist die Unsterblichkeit der Religion.

8 Ihr] ihr

D r i t t e Rede.

U b e r die B i l d u n g z u r

Religion.

Was ich selbst bereitwillig eingestanden habe als tief im Charakter der Religion liegend, das Bestreben Proselyten machen zu wollen aus den Ungläubigen, das ist es doch nicht, was mich jezt antreibt auch über die Bildung der Menschen zu dieser erhabenen Anlage und über ihre Bedingungen zu Euch zu reden. Zu jenem Endzwek kennt die Religion kein anderes Mittel, als nur dieses, daß sie sich frei äußert und mittheilt. Wenn sie sich mit aller ihr eignen Kraft bewegt, wenn sie alle Vermögen des eignen Gemüths in dem Strom dieser Bewegung zu ihrem Dienst mit fortreißt: so erwartet sie auch daß sie hindurch dringen werde bis ins Innerste eines jeden Individuums welches in ihrer | Atmosphäre athmet, daß jedes homogene Theilchen werde berührt werden, und von derselben Schwingung ergriffen zum Bewußtsein seines Daseins gelangend durch einen antwortenden, verwandten Ton das harrende Ohr des Auffordernden erfreuen werde. Nur so durch die natürlichen Äußerungen des eignen Lebens will sie das Ähnliche aufregen, und wo ihr das nicht gelingt verschmäht sie stolz jeden fremden Reiz, jedes gewaltthätige Verfahren, beruhigt bei der Überzeugung, die Stunde sei noch nicht da, wo sich hier etwas ihr verschwistertes regen könne. Nicht neu ist mir dieser mißlingende Ausgang. Wie oft habe ich die Musik meiner Religion angestimmt um die Gegenwärtigen zu bewegen, von einzelnen leisen Tönen anhebend und mit jugendlichem Ungestüm sehnsuchtsvoll fortschreitend bis zur vollesten Harmonie der religiösen Gefühle: aber nichts regte sich und antwortete in ihnen! Von wie vielen werden auch diese Worte, die ich einer größern und beweglichem Atmosphäre vertraue, mit allem was sie Gutes darbieten solten traurig zu mir zurükkehren ohne verstanden zu sein, ohne auch nur die leiseste Ahndung von ihrer Absicht erwekt zu haben? Und wie oft werde ich und alle Verkündiger der Religion dieses uns von Anbeginn bestimmte | Schiksal noch erneuern. Dennoch wird es uns nie quälen, denn wir wißen daß es nicht anders begegnen darf; und nie werden wir versuchen unsere Religion aufzudringen, auf irgend einem andern Wege weder diesem noch dem künftigen Geschlechte. Da ich selbst nicht weniges an mir vermiße, was zum Ganzen der Menschheit gehört; da so

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Viele Vieles entbehren: welches Wunder wenn auch die Anzahl derer groß ist, denen die Religion versagt wurde. Und sie muß nothwendig groß sein: denn wie kämen wir sonst zu einer Anschauung von ihr selbst und von den Gränzen welche sie nach allen Seiten hinaus den übrigen Anlagen des Mensehen abstekt? woher wüßten wir wie weit er es hier und dort bringen kann ohne sie, und wo sie ihn aufhält und fördert? woher ahndeten wir, wie sie, auch ohne daß er es weiß, in ihm geschäftig ist? Besonders ist es der Natur der Dinge gemäß, daß in diesen Zeiten algemeiner Verwirrung und Umwälzung ihr schlummernder Funke in vielen nicht aufglüht und wie liebevoll und langmüthig wir sein pflegen möchten, doch nicht zum Leben gebracht wird, da er unter glüklichern Umständen sich in ihnen durch alle Hinderniße würde hindurchgearbeitet haben. Wo nichts unter allen menschlichen Dingen uner-|schüttert bleibt; wo jeder grade das, was seinen Plaz in der 137 Welt bestimmt, und ihn an die irdische Ordnung der Dinge feßelt, in jedem Augenblik im Begrif sieht, nicht nur ihm zu entfliehen und sich von einem Andern ergreifen zu laßen, sondern unterzugehen im allgemeinen Strudel; wo die Einen keine Anstrengung ihrer Kräfte schonen, und noch nach allen Seiten um Hülfe rufen um dasjenige festzuhalten was sie für die Angeln der Welt und der Gesellschaft der Kunst und der Wißenschaft halten die sich nun durch ein unbegreifliches Schiksal wie von selbst aus ihren innersten Gründen emporheben, und fallen laßen was sich so lange um sie bewegt hatte, und wo die Andern mit eben dem rastlosen Eifer geschäftig sind die Trümmer eingestürzter Jahrhunderte aus dem Wege zu räumen, um unter den Ersten zu sein, die sich ansiedeln auf dem fruchtbaren Boden der sich unter ihnen bildet aus der schnell erkaltenden Lava des schreklichen Vulkans; wo Jeder, auch ohne seine Stelle zu verlaßen von den heftigen Erschütterungen des Ganzen so gewaltig bewegt wird, daß er in dem algemeinen Schwindel froh sein muß, irgend einen einzelnen Gegenstand fest genug ins Auge zu faßen, um sich an ihn halten und sich almählig überzeugen zu können, | daß doch etwas noch stehe; in einem solchen Zustande wäre 138 es thöricht zu erwarten, daß Viele geschikt sein könnten das Unendliche wahrzunehmen. Sein Anblik ist freilich mehr als je majestätisch und erhaben und in Augenbliken laßen sich bedeutendere Züge ablauschen als in Jahrhunderten: aber wer kann sich retten vor dem allgemeinen Treiben und Drängen! wer kann der Gewalt eines beschränkteren Intereße entfliehen? wer hat Ruhe und Festigkeit genug um still zu stehen und anzuschauen? Aber auch in den glüklichsten Zeiten, auch mit dem besten Willen, die Anlage zur Religion nicht nur da, wo sie ist, durch Mittheilung aufzuregen, sondern sie auch einzuimpfen und anzubilden auf jedem Wege der dazu führen könnte: wo gibt es denn einen solchen? Was durch Kunst und frem-

8 und] um

20 nun] so DV; OD: nur

23 Trümmer] Trümmern

25 Lava] Lave

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Über die Religion

de Thätigkeit in einem Menschen gewirkt werden kann, ist nur dieses, daß Ihr ihm Eure Vorstellungen mittheilt, und ihn zu einem Magazin Eurer Ideen macht, daß Ihr sie so weit in die seinigen verflechtet bis er sich ihrer erinnert zu gelegener Zeit: aber nie könnt Ihr bewirken, daß er die welche Ihr wolt, aus sich hervorbringe. — Ihr seht den Widerspruch der schon aus den Worten nicht herausgebracht werden kann. Nicht einmal gewöhnen könnt | Ihr jemand auf einen bestimmten Eindruk so oft er ihm kommt eine bestimmte Gegenwirkung erfolgen zu laßen, vielweniger daß Ihr ihn dahin bringen könntet, über diese Verbindung hinaus zu gehen, und eine innere Thätigkeit dabei frei zu erzeugen. Kurz, auf den Mechanismus des Geistes könnt Ihr wirken, aber in die Organisazion deßelben, in diese geheiligte Werkstätte des Universums könnt Ihr nach Eurer Wilkühr nicht eindringen, da vermögt Ihr nicht irgend etwas zu ändern oder zu verschieben, wegzuschneiden oder zu ergänzen, nur zurükhalten könnt Ihr seine Entwikelung und gewaltsam einen Theil des Gewächses verstümmeln. Aus dem Innersten seiner Organisazion aber muß alles hervorgehen was zum wahren Leben des Menschen gehören und ein immer reger und wirksamer Trieb in ihm sein soll. Und von dieser Art ist die Religion; in dem Gemüth welches sie bewohnt, ist sie ununterbrochen wirksam und lebendig, macht Alles zu einem Gegenstande für sich, und jedes Denken und Handeln zu einem Thema ihrer himmlischen Fantasie. Alles was, wie sie, ein Continuum sein soll im menschlichen Gemüth, liegt weit außer dem Gebiet des Lehrens und Anbildens. Darum ist jedem, der die Religion so ansieht, Unterricht in | ihr ein abgeschmaktes und sinnleeres Wort. Unsere Meinungen und Lehrsäze können wir Andern wohl mittheilen, dazu bedürfen wir nur Worte, und sie nur der auffaßenden und nachbildenden Kraft des Geistes: aber wir wißen sehr wohl daß das nur die Schatten unserer Anschauungen und unserer Gefühle sind, und ohne diese mit uns zu theilen würden sie nicht verstehen was sie sagen und was sie zu denken glauben. Anschauen können wir sie nicht lehren, wir können nicht aus uns in sie übertragen die Kraft und Fertigkeit, vor welchen Gegenständen wir uns auch befinden dennoch überall das ursprüngliche Licht des Universums aus ihnen einzusaugen in unser Organ; das mimische Talent ihrer Fantasie können wir vielleicht so weit aufregen, daß es ihnen leicht wird, wenn Anschauungen der Religion ihnen mit starken Farben vorgemalt werden, einige Regungen in sich hervorzubringen die dem von ferne gleichen, wovon sie unsre Seele erfüllt sehen: aber durchdringt das ihr Wesen, ist das Religion? Wenn Ihr den Sinn für das Universum mit dem für die Kunst vergleichen wollt, so müßt Ihr diese Inhaber einer paßiven Religiosität — wenn man es noch so nennen will —

2 Eure] eure 3 in] an 5 hervorbringe] hervorbringen brocheu 37 durchdringt] dnrchdringt

19 ununterbrochen] ununter-

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nicht etwa denen gegenüberstellen, die ohne selbst Kunstwerke | hervorzubringen, dennoch von jedem was zu ihrer Anschauung kommt, gerührt und ergriffen werden; denn die Kunstwerke der Religion sind immer und überall ausgestellt; die ganze Welt ist eine Gallerie religiöser Ansichten und ein Jeder ist mitten unter sie gestellt: sondern denen müßt Ihr sie vergleichen die nicht eher zur Empfindung gebracht werden bis man ihnen Commentare und Fantasien über Werke der Kunst als Arzneimittel auflegt, und auch dann in einer übel verstandnen Kunstsprache nur einige unpaßende Worte herlallen wollen, die nicht ihr eigen sind. Das ist das Ziel alles Lehrens und absichtlichen Bildens in diesen Dingen. Zeigt mir Jemand, dem Ihr Urtheilskraft, Beobachtungsgeist, Kunstgefühl oder Sittlichkeit angebildet und eingeimpft habt; dann will ich mich anheischig machen auch Religion zu lehren. Es giebt freilich in ihr ein Meisterthum und eine Jüngerschaft, es giebt Einzelne, an welche Tausende sich anschließen: aber dieses Anschließen ist keine blinde Nachahmung, und Jünger sind das nicht, weil ihr Meister sie dazu gemacht hat; sondern er ist ihr Meister weil sie ihn dazu gewählt haben. Wer durch die Äußerungen seiner eignen Religion sie in Andern aufgeregt hat, der hat nun diese nicht mehr in seiner Gewalt | sie bei sich festzuhalten: frei ist auch ihre Religion sobald sie lebt und geht ihres eignen Weges. Sobald der heilige Funken aufglüht in einer Seele, breitet er sich aus zu einer freien und lebendigen Flamme, die aus ihrer eignen Atmosphäre ihre Nahrung saugt. Mehr oder weniger erleuchtet sie der Seele den ganzen Umfang des Universums und nach eigner Willkür kann diese sich ansiedeln auch fern von dem Punkt auf welchem sie sich zuerst erblikt hat. N u r vom Gefühl ihres Unvermögens und ihrer Endlichkeit gedrungen sich in irgend eine bestimmte Gegend niederzulaßen, wählt sie ohne deshalb undankbar zu werden gegen ihren ersten Wegweiser jedes Klima, welches ihr am besten behagt, da sucht sie sich einen Mittelpunkt, bewegt sich durch freie Selbstbeschränkung in ihrer neuen Bahn, und nennt den ihren Meister, der diese ihre Lieblingsgegend zuerst aufgenommen und in ihrer Herrlichkeit dargestellt hat, seine Jüngerinn durch eigne Wahl und freie Liebe. Nicht also als ob ich Euch oder Andre bilden wolte zur Religion, oder Euch lehren wie Ihr Euch selbst absichtlich oder kunstmäßig dazu bilden müßt: ich will nicht aus dem Gebiet der Religion herausgehn, was ich somit thun | würde sondern noch länger mit Euch innerhalb deßelben verweilen. Das Universum bildet sich selbst seine Betrachter und Bewunderer, und wie das geschehe, wollen wir nur anschauen, so weit es sich anschauen läßt. Ihr wißt die Art wie jedes einzelne Element der Menschheit in einem Individuo erscheint, hängt davon ab, wie es durch die übrigen begrenzt oder frei gelaßen wird; nur durch diesen algemeinen Streit erlangt jedes in Jedem eine bestimmte Gestalt und Größe, und dieser wiederum wird nur durch die Gemeinschaft der Einzelnen und durch die Bewegung des Ganzen unterhalten. So ist Jeder und Jedes in Jedem ein Werk des Universums, und

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nur so kann die Religion den Menschen betrachten. In diesen Grund unseres bestimmten Seins und die religiöse Beschränkung unserer Zeitgenoßen möchte ich Euch zurükführen; ich möchte Euch deutlich machen warum wir so und nicht anders sind und was geschehen müßte wenn nun unsere Gränzen auf dieser Seite solten erweitert werden; ich wollte, Ihr könntet Euch bewußt werden wie auch Ihr durch Euer Sein und Wirken zugleich Werkzeuge des Universums seid und wie Euer auf ganz andre Dinge gerichtetes Thun Einfluß hat auf die Religion und ihren nächsten Zustand. | Der Mensch wird mit der religiösen Anlage geboren wie mit jeder 144 andern, und wenn nur sein Sinn nicht gewaltsam unterdrükt, wenn nur nicht jede Gemeinschaft zwischen ihm und dem Universum gesperret und verrammelt wird — dies sind eingestanden die beiden Elemente der Religion — so müßte sie sich auch in Jedem unfehlbar auf seine eigne Art entwikeln; aber das ist es eben was leider von der ersten Kindheit an in so reichem Maaße geschieht zu unserer Zeit. Mit Schmerzen sehe ich es täglich wie die Wuth des Verstehens den Sinn gar nicht aufkommen läßt, und wie Alles sich vereinigt den Menschen an das Endliche und an einen sehr kleinen Punkt deßelben zu befestigen damit das Unendliche ihm so weit als möglich aus den Augen gerükt werde. Wer hindert das Gedeihen der Religion? Nicht die Zweifler und Spötter; wenn diese auch gern den Willen mittheilen keine Religion zu haben, so stören sie doch die Natur nicht welche sie hervorbringen will; auch nicht die Sittenlosen, wie man meint, ihr Streben und Wirken ist einer ganz andern Kraft entgegengesezt als dieser; sondern die Verständigen und praktischen Menschen, diese sind in dem jezigen Zustande der Welt das Gegengewicht gegen die Religion, und ihr großes | Über- 145 gewicht ist die Ursache, warum sie eine so dürftige und unbedeutende Rolle spielt. Von der zarten Kindheit an mishandeln sie den Menschen und unterdrüken sein Streben nach dem Höheren. Mit großer Andacht kann ich der Sehnsucht junger Gemüther nach dem Wunderbaren und Übernatürlichen zusehen. Schon mit dem Endlichen und Bestimmten zugleich suchen sie etwas Anders was sie ihm entgegensezen können; auf allen Seiten greifen sie darnach, ob nicht etwas über die sinnlichen Erscheinungen und ihre Geseze hinausreiche; und wie sehr auch ihre Sinne mit irdischen Gegenständen angefüllt werden, es ist immer als hätten sie außer diesen noch andre welche ohne Nahrung vergehen müßten. Das ist die erste Regung der Religion. Eine geheime unverstandene Ahndung treibt sie über den Reichthum dieser Welt hinaus; daher ist ihnen jede Spur einer andern so willkommen; daher ergözen sie sich an Dichtungen von überirdischen Wesen, und alles wovon ihnen am klarsten ist, daß es hier nicht sein kann, umfaßen sie mit aller der eifersüchtigen Liebe, die man einem Gegenstande widmet, auf den man ein offenbares Recht hat, welches man aber nicht geltend machen kann. Freilich ist es eine Täuschung, das Unendliche grade außerhalb | des Endlichen, 146 das Entgegengesezte außerhalb deßen zu suchen dem es entgegengesezt

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wird; aber ist sie nicht höchstnatürlich bei denen welche das Endliche selbst noch nicht kennen? und ist es nicht die Täuschung ganzer Völker, und ganzer Schulen der Weisheit? Wenn es Pfleger der Religion gäbe unter denen die sich der werdenden Menschen annehmen, wie leicht wäre dieser von der Natur selbst veranstaltete Irrthum berichtigt, und wie begierig würde denn in helleren Zeiten die junge Seele sich den Eindrüken des Unendlichen in seiner Allgegenwart überlaßen. Ehedem ließ man ihn ruhig walten; der Geschmak an grotesken Figuren, meinte man, sei der jungen Fantasie eigen in der Religion wie in der Kunst; man befriedigte ihn in reichem Maaß, ja man knüpfte unbesorgt genug die ernste und heilige Mythologie, das was man selbst für Religion hielt, unmittelbar an diese lustigen Spiele der Kindheit an: Gott, Heiland und Engel waren nur eine andre Art von Feen und Sylphen. So wurde freilich durch die Dichtung frühzeitig genug der Grund gelegt zu den Usurpationen der Metaphysik über die Religion: aber der Mensch blieb doch mehr sich selbst überlaßen, und leichter fand ein gradsinniges, unverdorbenes Gemüth, das sich frei zu hal-|ten wußte von dem Joch des Verstehens und Disputirens, in späteren Jahren den Ausgang aus diesem Labyrinth. Jezt hingegen wird dieser Hang von Anfang an gewaltsam unterdrükt, alles übernatürliche und wunderbare ist proscribirt, die Fantasie soll nicht mit leeren Bildern angefüllt werden, man kann ja unterdeß eben so leicht Sachen hineinbringen und Vorbereitungen aufs Leben treffen. So werden die armen Seelen, die nach ganz etwas anderem dursten, mit moralischen Geschichten gelangweilt und lernen, wie schön und nützlich es ist, fein artig und verständig zu sein; sie bekommen Begriffe von gemeinen Dingen, und ohne Rüksicht auf das zu nehmen, was ihnen fehlt, reicht man ihnen noch immer mehr von dem, wovon sie schon zu viel haben. Um den Sinn einigermaßen gegen die Anmaßungen der andern Vermögen zu schüzen, ist jedem Menschen ein eigner Trieb eingepflanzt, bisweilen jede andere Thätigkeit ruhen zu laßen, und nur alle Organe zu öffnen, um sich von allen Eindrüken durchdringen zu laßen; und durch eine geheime höchst wolthätige Sympathie ist dieser Trieb grade am stärksten, wenn sich das allgmeine Leben in der eignen Brust und in der umgebenden Welt am vernehmlichsten offenbart: aber daß es ihnen | nur nicht vergönnet wäre, diesem Triebe in behaglicher unthätiger Ruhe nachzuhängen; denn aus dem Standpunkt des bürgerlichen Lebens ist dies Trägheit und Müßiggang. Absicht und Zwek muß in Allem sein, sie müßen immer etwas verrichten, und wenn der Geist nicht mehr dienen kann, mögen sie den Leib üben; Arbeit und Spiel, nur keine ruhige, hingegebene Beschauung. — Die Hauptsache aber ist die, daß sie Alles verstehen sollen, und mit dem Verstehen werden sie völlig betrogen um ihren Sinn: denn so wie jenes betrieben

14 Metaphysik] Mytaphysik

34 unthätiger] unthätigen

Über die Religion

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wird, ist es diesem schlechthin entgegengesezt. Der Sinn sucht sich Objekte, er geht ihnen entgegen und bietet sich ihren Umarmungen dar; sie sollen etwas an sich tragen, was sie als sein Eigenthum, als sein Werk charakterisirt, er will finden und sich finden laßen; ihrem Verstehen kommt es gar nicht darauf an, wo die Objekte herkommen; mein Gott! sie sind ja da, ein wolerworbenes angeerbtes Gut, wie lange sind sie schon aufgezählt und definirt; nehmt sie nur, wie das Leben sie bringt, denn grade die, die es bringt, müßt Ihr verstehen: sich selbst welche machen und suchen wollen, das ist ja excentrisch, es ist hochfahrend, es ist ein vergebliches Treiben, denn was fruchtets im menschlichen Leben? Freilich nichts; | aber ohne das wird kein Universum gefunden. — Der Sinn strebt den ungetheilten Eindruk von etwas Ganzem zu faßen; was und wie etwas für sich ist, will er erschauen, und jedes in seinem eigenthümlichen Charakter erkennen: daran ist ihrem Verstehen nichts gelegen; das Was und Wie liegt ihnen zu weit, denn sie meinen es besteht nur in dem Woher und Wozu, in welchem sie sich ewig herumdrehen. Dies ist ihr großes Ziel, der Plaz, den ein Gegenstand einnimt in der Reihe der Erscheinungen, sein Anfangen und Aufhören ist ihr Alles. Auch fragen sie nicht darnach, ob und wie das, was sie verstehen wollen, ein Ganzes ist — das würde sie freilich weit führen, und mit einer solchen Tendenz würden sie so ganz ohne Religion wol nicht abkommen — sie wollen es ja ohnedies zerstükeln und anatomiren. So gehen sie sogar mit demjenigen um, was eben dazu da ist, den Sinn in seiner höchsten Potenz zu befriedigen, mit dem, was gleichsam ihnen zum Troz ein Ganzes ist in sich selbst, ich meine mit allem, was Kunst ist in der Natur und in den Werken des Menschen: sie vernichten es, ehe es seine Wirkung thun kann, im Einzelnen soll es verstanden und Dies und Jenes aus abgerißenen Stüken erlernet werden. Ihr werdet zu-|geben müßen, daß dies in der That die Praxis der verständigen Leute ist; Ihr werdet gestehen daß ein reicher und kräftiger Uberfluß an Sinn dazu gehört, wenn auch nur etwas davon diesen feindseligen Behandlungen entgehen soll, und daß schon um deswillen die Anzahl derer nur gering sein kann, welche sich bis zur Religion erheben. Noch mehr aber schmilzt sie dadurch zusammen, daß nun noch das mögliche geschieht, damit der Sinn, welcher noch übrig blieb, sich nur nicht aufs Universum hinwende. In den Schranken des bürgerlichen Lebens müßen sie festgehalten werden mit allem, was in ihnen ist. Alles Handeln soll sich ja doch auf dieses beziehn, und so, meinen sie, besteht auch die gepriesene innere Harmonie des Menschen in nichts anderm, als daß sich alles wieder auf sein Handeln beziehe. Stoff genug, meinen sie, habe er für seinen Sinn und reiche Gemälde vor sich, wenn er auch nie aus diesem Gesichtspunkt, der zugleich sein Stand und Drehpunkt ist, herausgehe. Daher sind alle

8 Ihr] ihr

20 würden] würde

Dritte Rede

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Empfindungen, welche damit nichts zu thun haben, gleichsam unnüze Ausgaben, durch welche man sich erschöpft und von denen das Gemüth möglichst abgehalten werden muß durch zwekmäßige Thätigkeit. Daher ist reine Liebe zur | Dichtung und zur Kunst eine Ausschweifung, die man nur duldet, weil sie nicht ganz so arg ist als andere. So wird auch das Wißen mit einer weisen und nüchternen Mäßigung betrieben, damit es diese Grenzen nicht überschreite, und indem das Kleinste, was auf diesem Gebiet Einfluß hat, nicht aus der Acht gelaßen wird, verschrein sie das Größte, eben weil es weiter ziehlt als etwas Sinnliches. D a ß es Dinge giebt, die bis auf eine gewiße Tiefe erschöpft werden müßen, ist ihnen ein nothwendiges Übel, und dankbar gegen die Götter, daß sich immer noch einige aus unbezwinglicher Neigung dazu hergeben, sehen sie diese als freiwillige Opfer mit heiligem Mitleid an. D a ß es Gefühle giebt, die sich nicht zügeln laßen wollen durch ihre gebietende praktische Nothwendigkeit, und daß so viele Menschen bürgerlich unglüklich oder unsittlich werden auf diesem Wege — denn auch die rechne ich zu dieser Klaße, die ein wenig über die Indüstrie hinausgehn und denen der sittliche Theil des bürgerlichen Lebens Alles ist — das ist der Gegenstand ihres herzlichsten Bedauerns, und sie nehmen es für einen der tiefsten Schäden der Menschheit, dem sie doch bald möglichst abgeholfen zu sehen wünschten. Das ist das große Übel, daß die guten | Leute glauben, ihre Thätigkeit sei universell und die Menschheit erschöpfend, und wenn man thue, was sie thun, brauche man auch keinen Sinn, als nur für das, was man thut. Darum verstümmeln sie alles mit ihrer Scheere, und nicht einmal eine originelle Erscheinung, die ein Phänomen werden könnte für die Religion, möchten sie aufkommen laßen; denn was von ihrem Punkt aus gesehen und umfaßt werden kann, das heißt Alles, was sie gelten laßen wollen, ist ein kleiner und unfruchtbarer Kreis ohne Wißenschaft, ohne Sitten, ohne Kunst, ohne Liebe, ohne Geist, und warlich auch ohne Buchstaben; kurz, ohne Alles, von wo aus sich die Welt entdeken ließe, wenn gleich mit viel hochmüthigen Ansprüchen auf alles dieses. Sie freilich meinen, sie hätten die wahre und wirkliche Welt, und sie wären es eigentlich, die Alles in seinem rechten Zusammenhange nähmen. Möchten sie doch einmal einsehn, daß man jedes Ding, um es als Element des Ganzen anzuschauen, nothwendig in seiner eigenthümlichen Natur und in seiner höchsten Vollendung muß betrachtet haben. Denn im Universum kann es nur etwas sein durch die Totalität seiner Wirkungen und Verbindungen; auf diese kommt alles an, und um ihrer inne zu werden, muß | man eine Sache nicht von einem Punkt außer ihr, sondern von ihrem eignen Mittelpunkt aus und von allen Seiten in Beziehung auf ihn betrachtet haben, das heißt, in ihrem abgesonderten Dasein, in ihrem eignen Wesen. Nur einen Gesichtspunkt zu wißen für Alles, ist grade das Gegentheil von dem Alle zu haben für jedes, es ist der Weg, sich in grader Richtung vom Universum zu entfernen, und in die jämmerlichste Beschränkung ver-

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Über die Religion

sunken, ein wahrer glebae adscriptus des Fleks zu werden, auf dem man eben von Ohngefähr stehe. — Es giebt in dem Verhältniß des Menschen zu dieser Welt gewiße Ubergänge ins Unendliche, durchgehauene Aussichten, vor denen jeder vorübergeführt wird, damit sein Sinn den Weg finde zum Universum, und bei deren Anblik Gefühle erregt werden, die zwar nicht unmittelbar Religion sind, aber doch, daß ich so sage, ein Schematismus derselben. Auch diese Aussichten verstopfen sie weislich, und stellen in die Öffnung so irgend etwas, womit man sonst einen unansehnlichen Plaz verdekt, ein schlechtes Bild, eine philosophische Karikatur; und wenn ihnen, wie es doch bisweilen geschieht, damit auch an ihnen die Allgewalt des Universums offenbar werde, irgend ein Strahl zwischendurch in die [ Augen fällt, und ihre Seele sich einer schwachen Regung von jenen Empfindungen nicht erwehren kann, so ist das Unendliche nicht das Ziel, dem sie zufliegt, um daran zu ruhen, sondern wie das Merkzeichen am Ende einer Rennbahn nur der Punkt, um welchen sie sich, ohne ihn zu berühren, mit der größten Schnelligkeit herumbewegt, um nur je eher je lieber auf ihren alten Plaz zurükkehren zu können. Geboren werden und sterben sind solche Punkte, bei deren Wahrnehmung es uns nicht entgehen kann, wie unser eignes Ich überall vom Unendlichen umgeben ist, und die allemal eine stille Sehnsucht und eine heilige Ehrfurcht erregen; das Unermeßliche der sinnlichen Anschauung ist doch auch eine Hindeutung wenigstens auf eine andere und höhere Unendlichkeit: aber ihnen wäre eben nichts lieber, als wenn man den größten Durchmeßer des Weltsystems auch brauchen könnte zu Maaß und Gewicht im gemeinen Leben, wie jezt den größten Kreis der Erde, und wenn die Anschauung von Leben und Tod sie einmal ergreift, wie viel sie auch dabei sprechen mögen von Religion, glaubt mir, es liegt ihnen nichts so am Herzen, als bei jeder Gelegenheit dieser Art unter den jungen Leuten einige zu gewinnen für den Hufeland. Gestraft sind sie freilich genug; denn | da sie auf keinem höheren Standpunkt stehen, um wenigstens diese Lebensweisheit, an der sie hängen, nach Prinzipien selbst zu machen, so bewegen sie sich sklavisch und ehrerbietig in alten Formen oder ergözen sich an kleinlichen Verbeßerungen, das ist das Extrem des Nüzlichen, zu dem das Zeitalter mit raschen Schritten hingeeilt ist, von der unnüzen scholastischen Wortweisheit, eine neue Barbarei als ein würdiges

24 f Das Meter-Längenmaß wurde am 7. April 1795 in Frankreich als der vierzigmillionste Teil des Längenkreises der Erde, der durch die Pariser Sternwarte verläuft, gesetzlich eingeführt. 1799 wurde ein Endmaßstab aus Platin, der das Meter darstellt (sog. Urmeter), im französischen Staatsarchiv hinterlegt. 28 Der berühmte Arzt Christoph Wilhelm Hufeland veröffentlichte die vielgelesene Schrift „Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern" (2. Aufl., 2 Bde, Jena 1798) als wissenschaftliche Darstellung der von ihm entwickelten „Macrobiotic".

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Gegenstük der alten, das ist die schöne Frucht der väterlichen eudämonistischen Politik, die die Stelle des rohen Despotismus eingenommen hat. W i r alle sind dabei hergekommen und im frühen Keim hat die Anlage zur Religion gelitten, daß sie nicht gleichen Schritt halten kann in ihrer Entwikelung mit den übrigen. Diese Menschen — Euch mit denen ich rede, kann ich sie gar nicht beigesellen, denn sie verachten die Religion nicht, obgleich sie sie vernichten, und sie sind auch nicht Gebildete zu nennen, obwol sie das Zeitalter bilden, und die Menschen aufklären, und dies gern thun möchten bis zur leidigen Durchsichtigkeit — diese sind immer noch der herrschende Theil, Ihr und wir ein kleines Häufchen. Ganze Städte und Länder werden nach ihren Grundsäzen erzogen, und wenn die Erziehung überstanden ist, findet man | sie wieder in der Gesellschaft, in den Wißenschaften und in der Philosophie: ja auch in dieser, denn nicht nur die alte — man theilt jezt, wie Euch bekannt sein wird, die Philosophie mit viel historischem Geist nur in die alte, neue und neueste — ist ihr eigentlicher Wohnsiz, sondern selbst die neue haben sie in Besiz genommen. Durch ihren mächtigen Einfluß auf jedes weltliche Intereße und durch den falschen Schein von Philanthropie, womit sie auch die gesellige Neigung blendet, hält diese D e n kungsart noch immer die Religion im D r u k und widerstrebt jeder Bewegung, durch welche sie irgendwo ihr Leben offenbaren will, mit voller Kraft. N u r bei dem stärksten Oppositionsgeist gegen diese allgemeine T e n denz kann sich also jezt die Religion emporarbeiten, und nie in einer andern Gestalt erscheinen, als in der, welche Jenen am meisten zuwider sein muß. Denn so wie Alles dem Gesez der Verwandschaft folgt, so kann auch der Sinn nur da die Oberhand gewinnen, wo er einen Gegenstand in Besiz genommen hat, an dem das ihm feindselige Verstehen nur lose hängt, und den er also sich am leichtesten und mit einem Ubermaaß freier Kraft zueignen kann. Dieser Gegenstand aber ist die innere Welt, nicht die äußere: die erklärende Psychologie, dieses Meisterstük jener Art des Verstandes, hat | zuerst, nachdem sie sich durch Unmäßigkeit erschöpft und fast ehrlos gemacht hat, der Anschauung wieder das Feld geräumt. W e r also ein religiöser Mensch ist, der ist gewiß in sich gekehrt mit seinem Sinn, in der A n schauung seiner selbst begriffen, und alles Äußere, das Intellectuelle sowol als das physische für jezt noch den Verständigen überlaßend zum großen Ziel ihrer Untersuchungen. Eben so finden nach demselben Gesez diejenigen am leichtesten den Ubergang zum Unendlichen, die von dem Centraipunkt aller Gegner des Universums durch ihre Natur am weitesten abgetrieben werden. Daher kommt es denn, daß seit langem her alle wahrhaft

1 f eudämonistischen] undämonistischen ; DV schreibt versehentlich: eudömonißischen l[ies] undämonistischen 5 Diese] Diesen 9 diese] Diese 17f Philanthropie] Philantropie 30 Unmäßigkeit] Unmäßigkeit 34 überlaßend] so DV; OD: überlaßen

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religiösen Gemüther sich durch einen mystischen Anstrich auszeichnen, und daß alle fantastischen Naturen, die sich mit dem Realen der weltlichen Angelegenheiten nicht befaßen mögen, Anfälle von Religion haben: dies ist der Charakter aller religiösen Phänomene unserer Zeit, dies sind die beiden Farben, aus denen sie immer, wenn gleich in den verschiedensten Mischungen, zusammengesezt sind. Phänomene sage ich, denn mehr ist nicht zu erwarten in dieser Lage der Dinge. Den fantastischen Naturen gebricht es an durchdringendem Geist, an Fähigkeit sich des Wesentlichen zu bemächtigen. | Ein leichtes abwechselndes Spiel von schönen, oft entzükenden, 158 aber immer nur zufälligen und ganz subjektiven Combinationen genügt ihnen und ist ihr Höchstes; ein tiefer und innerer Zusammenhang bietet sich ihren Augen vergeblich dar. Sie suchen eigentlich nur die Unendlichkeit und Allgemeinheit des reizenden Scheines — die weit weniger oder auch weit mehr ist, als wohin der Sinn wirklich reicht — an den sie gewohnt sind sich zu halten, und daher bleiben alle ihre Ansichten abgerißen und flüchtig. Bald entzündet sich ihr Gemüth, aber nur mit einer unstäten gleichsam leichtfertigen Flamme: sie haben nur Anfälle von Religion, wie sie sie haben von Kunst, von Philosophie und allem Großen und Schönen, deßen Oberfläche sie einmal an sich zieht. Denjenigen dagegen zu deren innerem Wesen die Religion gehört, deren Sinn aber immer in sich gekehrt bleibt, weil er sich eines Mehreren in der gegenwärtigen Lage der Welt nicht zu bemächtigen weiß, gebricht es zu bald an Stoff um Virtuosen oder Helden der Religion zu werden. Es giebt eine große kräftige Mystik, die auch der frivolste Mensch nicht ohne Ehrerbietung und Andacht betrachten kann, und die dem Vernünftigsten Bewunderung abnöthiget durch ihre heroische Einfalt und ihre | stolze Weltverachtung. Nicht eben gesättigt und überschüttet 159 von äußern Anschauungen des Universums, aber von jeder einzelnen durch einen geheimnißvollen Zug immer wieder zurükgetrieben auf sich selbst und sich findend als den Grundriß und Schlüßel des Ganzen, durch eine große Analogie und einen kühnen Glauben überzeugt, daß es nicht nöthig sei, sich selbst zu verlaßen, sondern daß der Geist genug habe an sich, um auch alles deßen, was ihm das Äußere geben könnte, inne zu werden; so verschließt er durch einen freien Entschluß die Augen auf immer gegen Alles, was nicht Er ist: aber diese Verachtung ist keine Unbekanntschaft, dieses Verschließen des Sinnes ist kein Unvermögen. So aber ist es mit den Unsrigen: sie haben nichts sehen gelernt außer sich, weil ihnen alles nur in der schlechten Manier der gemeinen Erkenntniß mehr vorgezeichnet, als gezeigt worden ist, sie haben nun weder Sinn noch Licht genug übrig von ihrer Selbstbeschauung, um diese alte Finsterniß zu durchdringen, und zürnend mit dem Zeitalter, dem sie Vorwürfe zu machen haben, mögen sie gar

36 nichts] so DV; OD: nicht

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nicht mit dem zu schaffen haben, was sein Werk in ihnen ist. Darum ist das Universum in ihnen ungebildet und dürftig, sie haben zu wenig anzuschauen, und allein wie sie | sind mit ihrem Sinn, gezwungen sich in einem allzu- 160 engen Kreise ewig umher zu bewegen, erstirbt ihr religiöser Sinn nach einem kränklichen Leben aus Mangel an Reiz an indirekter Schwäche. Für die, deren Sinn fürs Universum bei größerer Kraft aber eben so weniger Bildung sich kühn nach außen wandernd auch dort mehr und neuen Stoff sucht, giebt es ein anderes Ende, das ihr Mißverhältniß gegen die Zeit nur zu deutlich offenbart, einen sthenischen Tod, also wenn Ihr wollt, eine Euthanasie, aber eine furchtbare — den Selbstmord des Geistes, der nicht verstehend die Welt zu faßen, deren inneres Wesen, deren großer Sinn ihm fremd blieb unter den kleinlichen Ansichten seiner Erziehung, getäuscht von verwirrten Erscheinungen, hingegeben zügellosen Fantasien, suchend das Universum und seine Spuren, da wo es nimmer war, endlich unwillig den Zusammenhang des Innern und Äußern gänzlich zerreißt, den ohnmächtigen Verstand verjagt, und in einem heiligen Wahnsinn endet, deßen Quelle fast Niemand erkennt, ein laut schreiendes und doch nicht verstandnes Opfer der allgemeinen Verachtung und Mißhandlung des Innersten im Menschen. Aber doch nur ein Opfer, kein Held: wer untergeht, gemeiniglieh in der lezten Prü-|fung, kann nicht unter die gezählt werden, welche 161 die innersten Mysterien empfangen haben. — Diese Klage, daß es keine beständige und vor der ganzen Welt anerkannte Repräsentanten der Religion unter uns giebt, soll dennoch nicht zurüknehmen, was ich früher, wol wißend, was ich sagte, behauptet habe, daß auch unser Zeitalter der Religion nicht ungünstiger sei, als jedes andre. Gewiß, die Maße derselben in der Welt ist nicht verringert, aber zerstükelt und zu weit auseinander getrieben; durch einen gewaltigen Druk offenbart sie sich nur in kleinen und leichten aber vielen Erscheinungen, die mehr die Mannigfaltigkeit des Ganzen erhöhen, und das Auge des Beobachters ergözen, als daß sie für sich einen großen und erhabnen Eindruk machen könnten. Die Uberzeugung, daß es Viele giebt, die den frischesten Duft des jungen Lebens in heiliger Sehnsucht und Liebe zum Ewigen und Unvergänglichen ausathmen, und spät erst, vielleicht nie ganz von der Welt überwunden werden, daß es keinen giebt, dem nicht einmal wenigstens der hohe Weltgeist erschienen wäre, und dem beschämten über sich selbst, dem erröthenden über seine unwürdige Beschränkung einen von jenen tiefdringenden Bliken zugeworfen hätte, die das niedergesenkte Au-|ge fühlt, ohne sie zu sehen; — hier stehe sie 162 noch einmal, und das Bewußtsein eines Jeden unter Euch möge sie richten. 16 endet] so DV; OD: redet

3 5 f unwürdige] unwürdigen

4 f Vgl. Gedanken I, Nr. 112a (oben 29,14)

2 3 f S. o.

190,26-31

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N u r an Heroen der Religion, an heiligen Seelen wie man sie ehedem sah, denen sie Alles ist, und die ganz von ihr durchdrungen sind, fehlt es diesem Geschlecht, und muß es ihm fehlen. Und so oft ich darüber nachdenke was geschehen, und welche Richtung unsere Bildung nehmen muß, wenn religiöse Menschen in einem höhern Styl wieder als seltene zwar, aber doch natürliche Produkte ihrer Zeit erscheinen sollen, so finde ich, daß Ihr durch Euer ganzes Streben — ob mit Eurem Bewußtsein mögt Ihr selbst entscheiden — einer Palingenesie der Religion nicht wenig zu Hülfe kommt, und daß theils Euer allgemeines Wirken, theils die Bestrebungen eines engeren Kreises, theils die erhabenen Ideen einiger außerordentlicher Geister im Gange der Menschheit benuzt werden zu diesem Endzwek. Der Umfang und die Wahrheit der Anschauung hängt ab von der Schärfe und Weite des Sinnes, und der Weiseste ohne Sinn ist der Religion nicht näher als der Thörichtste der einen richtigen Blik hat. Alles also muß davon anheben, daß der Sklaverei ein Ende gemacht werde, worin der Sinn der Menschen gehalten | wird zum Behuf jener Verstandesübungen durch die nichts geübt wird, jener Erklärungen die nichts hell machen, jener Zerlegungen die nichts auflösen; und dies ist ein Zwek auf den Ihr Alle mit vereinten Kräften bald hinarbeiten werdet. Es ist mit den Verbeßerungen der Erziehung gegangen wie mit allen Revoluzionen die nicht aus den höchsten Prinzipien angefangen wurden; sie gleiten almählich wieder zurük in den alten Gang der Dinge und nur einige Veränderungen im Äußern erhalten das Andenken der Anfangs für Wunder wie groß gehaltenen Begebenheit: die verständige und praktische Erziehung unterscheidet sich nur noch wenig — und dies Wenige liegt weder im Geist noch in der Wirkung — von der alten mechanischen. Dies ist Euch nicht entgangen, sie ist Euch größtentheils schon eben so verhaßt und eine reinere Idee verbreitet sich von der Heiligkeit des kindlichen Alters und von der Ewigkeit der unverlezlichen Wilkühr, auf deren Äußerungen man auch bei den werdenden Menschen schon warten und lauschen müße. Bald werden diese Schranken gebrochen werden, die anschauende Kraft wird von ihrem ganzen Reiche Besiz nehmen, jedes Organ wird sich aufthun und die Gegenstände werden sich auf alle Weise mit dem Menschen | in Berührung sezen können. Mit dieser unbegränzten Freiheit des Sinnes kann aber sehr wohl bestehen eine Beschränkung und feste Richtung der Thätigkeit. Dies ist die große Forderung mit welcher die Beßern unter Euch jezt hervortreten an die Zeitgenoßen und an die Nachwelt. Ihr seid müde das fruchtlose encyklopädische Herumfahren mit anzusehen, Ihr seid selbst nur auf dem Wege dieser Selbstbeschränkung das geworden was Ihr seid, und Ihr wißt, daß es keinen andern giebt um sich zu bilden; Ihr dringt also darauf, Jeder solle etwas

18 auflösen] anflösen

18 Ihr] ihr

39 Ihr] ihr

39 Ihr] ihr

Dritte

Rede

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bestimmtes zu werden suchen und solle irgend etwas mit Stätigkeit und ganzer Seele betreiben. Niemand kann die Wahrheit dieses Raths beßer einsehen als der welcher schon zu jener Allgemeinheit des Sinnes heran gereift ist, denn er muß wißen daß es keine Gegenstände geben würde, wenn nicht alles gesondert und beschränkt wäre. Und so freue auch ich mich dieser Bemühungen, und wollte sie wären schon weiter gediehen. Der Religion werden sie treflich zu Nuze kommen. Denn grade diese Beschränkung der Kraft, wenn nur der Sinn nicht mit beschränkt wird, bahnt ihm desto sicherer den Weg zum Unendlichen und eröfnet wieder die so lange gesperrte Gemeinschaft. Wer vieles angeschaut hat und | kennt, und sich dann entschließen kann etwas Einzelnes mit ganzer Kraft und um sein selbst willen zu thun und zu fördern, der kann doch nicht anders als auch das übrige Einzelne für etwas zu erkennen, was um sein selbst willen gemacht werden und da sein soll, weil er sonst sich selbst widersprechen würde, und wenn er dann was er wählte so hoch getrieben hat als er kann, so wird es ihm grade auf dem Gipfel der Vollendung am wenigsten entgehen, daß es eben nichts ist ohne das Übrige. Dieses einem sinnigen Menschen sich überall aufdringende Anerkennen des Fremden und Vernichten des Eigenen, dieses zu gleicher Zeit geforderte Lieben und Verachten alles Endlichen und Beschränkten ist nicht möglich ohne eine dunkle Ahndung des Universums und muß nothwendig eine lautere und bestimmtere Sehnsucht nach dem Unendlichen, nach dem Einen in Allem herbeiführen. Drei verschiedne Richtungen des Sinnes kennt jeder aus seinem eignen Bewußtsein, die eine nach innen zu auf das Ich selbst, die andre nach außen auf das Unbestimmte der Weltanschauung, und eine dritte die beides verbindet, indem der Sinn in ein stetes hin und her Schweben zwischen beiden versezt nur in der unbedingten Annahme ihrer innigsten Vereinigung Ruhe findet; dies | ist die Richtung auf das in sich Vollendete, auf die Kunst und ihre Werke. N u r Eine unter ihnen kann die herrschende Tendenz eines Menschen sein, aber von Jeder aus giebt es einen Weg zur Religion und sie nimmt eine eigenthümliche Gestalt an nach der Verschiedenheit des Weges auf welchem sie gefunden worden ist. — Schaut Euch selbst an mit unverwandter Anstrengung, sondert alles ab, was nicht Euer Ich ist, fahrt so immer fort mit immer geschärfterem Sinn, und je mehr Ihr Euch selbst verschwindet, desto klarer wird das Universum vor Euch dastehn, desto herrlicher werdet Ihr belohnt werden für den Schrek der Selbstvernichtung durch das Gefühl des Unendlichen in Euch. Schaut außer Euch auf irgend einen Theil, auf irgend ein Element der Welt und faßt es auf in seinem ganzen Wesen, aber sucht auch alles zusammen was es ist, nicht nur in sich, sondern in Euch, in diesem und jenem und überall, wiederholt euren Weg vom Umkreise zum

16 Vollendung] Vol-/lendung

19 gleicher] so DV; OD: gelegner

22 Einen] Einem

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Über die Religion

Mittelpunkte immer öfter und in weitern Entfernungen: Das Endliche werdet Ihr bald verlieren und das Universum gefunden haben. Ich wünschte wenn es nicht frevelhaft wäre, über sich hinaus zu wünschen, daß ich eben so klar anschauen könnte, wie der Kunst-|sinn für sich allein übergeht in Religion, wie troz der Ruhe in welche das Gemüth durch jeden einzelnen Genuß versenkt wird, es sich dennoch getrieben fühlt die Fortschreitungen zu machen die es zum Universum führen können. Warum sind die, welche dieses Weges gegangen sein mögen, so schweigsame Naturen? Ich kenne ihn nicht, das ist meine schärfste Beschränkung, es ist die Lükke, die ich tief fühle in meinem Wesen, aber auch mit Achtung behandle. Ich bescheide mich nicht zu sehen, aber ich — glaube; die Möglichkeit der Sache steht klar vor meinen Augen, nur daß sie mir ein Geheimniß bleiben soll. J a , wenn es wahr ist daß es schnelle Bekehrungen giebt, Veranlaßungen durch welche dem Menschen, der an nichts weniger dachte als sich über das Endliche zu erheben, in einem Moment wie durch eine innere unmittelbare Erleuchtung der Sinn fürs Universum aufgeht, und es ihn überfällt mit seiner Herrlichkeit; so glaube ich, daß mehr als irgend etwas anders der Anblik großer und erhabner Kunstwerke dieses Wunder verrichten kann; nur daß ich es nie faßen werde: doch ist dieser Glaube mehr auf die Zukunft gerichtet als auf die Vergangenheit oder die Gegenwart. Auf dem Wege der abgezogensten Selbstbeschauung das | Universum zu finden war das Geschäft des uralten morgenländischen Mysticismus, der mit bewundernswerther Kühnheit das unendlich G r o ß e unmittelbar anknüpfte an das unendlich Kleine, und alles fand dicht an der Gränze des Nichts. Von der Weltanschauung weis ich, ging jede Religion aus, deren Schematismus der Himmel war oder die organische Natur, und das vielgöttrige Egypten war lange die vollkommenste Pflegerinn dieser Sinnesart, in welcher — es läßt sich wenigstens ahnden — die reinste Anschauung des ursprünglichen Unendlichen und Lebendigen in demüthiger Duldsamkeit dicht neben der finstersten Superstizion und der sinnlosesten Mythologie mag gewandelt haben; von einer Kunstreligion, die Völker und Zeitalter beherrscht hatte, habe ich nie etwas vernommen. N u r das weis ich daß sich der Kunstsinn nie jenen beiden Arten der Religion genähert hat, ohne sie mit neuer Schönheit und Heiligkeit zu überschütten und ihre ursprüngliche Beschränktheit freundlich zu mildern. So wurde durch die älteren Weisen und Dichter der Griechen die Naturreligion in eine schönere und fröhlichere Gestalt umgewandelt und so erhob ihr göttlicher Plato die heiligste Mystik auf den höchsten Gipfel der G ö t t lichkeit und der Mensch-|lichkeit. Laßt mich huldigen der mir unbekannten Göttin, daß sie ihn und seine Religion so sorgsam und uneigennüzig gepflegt hat. Die schönste Selbstvergeßenheit bewundre ich in Allem was er in

2 gefunden] gefnnden

3 5 älteren] ältere

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heiligem Eifer gegen sie sagt, wie ein gerechter König der auch der zu weichherzigen Mutter nicht schont, denn alles galt nur dem freiwilligen Dienst den sie der unvolkommenen Naturreligion leistete. Jezt dient sie keiner, und Alles ist anders und schlechter. Religion und Kunst stehen nebeneinander wie zwei befreundete Seelen deren innere Verwandschaft, ob sie sie gleich ahnden, ihnen doch noch unbekannt ist. Freundliche Worte und Ergießungen des Herzens schweben ihnen immer auf den Lippen und kehren immer wieder zurük weil sie die rechte Art und den lezten Grund ihres Sinnens und Sehnens noch nicht finden können. Sie harren einer näheren Offenbarung und unter gleichem Druk leidend und seufzend sehen sie einander dulden, mit inniger Zuneigung und tiefem Gefühl vielleicht, aber doch ohne Liebe. Soll nur dieser gemeinschaftliche Druk den glüklichen Moment ihrer Vereinigung herbeiführen? oder werdet Ihr bald einen großen Streich ausführen für die Eine, die Euch so werth ist, so wird sie gewis eilen wenigstens mit schwesterlicher Treue | sich der andern anzunehmen. — Aber für jezt entbehren nicht nur beide Arten der Religion der Hülfe der Kunst, auch an sich ist ihr Zustand übler als sonst. G r o ß und prächtig strömten beide Quellen der Anschauung des Unendlichen zu einer Zeit wo wißenschaftliches Klügeln ohne wahre Prinzipien durch seine Gemeinheit der Reinigkeit des Sinnes noch nicht Abbruch that, obschon keine für sich reich genug war um das Höchste hervorzubringen; jezt sind sie außerdem getrübt durch den Verlust der Einfalt und durch den verderblichen Einfluß einer eingebildeten und falschen Einsicht. Wie reinigt man sie? wie schaft man ihnen Kraft und Fülle genug um zu mehr als ephemeren Produkten den Erdboden zu befruchten? Sie zusammenzuleiten und in einem Bett zu vereinigen, das ist das Einzige was die Religion, auf dem Wege den wir gehen, zur Vollendung bringen kann, das wäre eine Begebenheit aus deren Schoos sie bald in einer neuen und herrlichen Gestalt beßern Zeiten entgegen gehen würde. Sehet da, das Ziel Euerer gegenwärtigen höchsten Anstrengungen ist zugleich die Auferstehung der Religion! Eure Bemühungen sind es welche diese Begebenheit herbeiführen müßen, und ich feire Euch als die, wenn gleich unabsichtliche Ret-|ter und Pfleger der Religion. Weichet nicht von Eurem Posten und Eurem Werke bis Ihr das Innerste der Erkenntnis aufgeschloßen und in priesterlicher Demuth das Heiligthum der wahren Wißenschaft eröfnet habt, wo Allen welche hinzutreten, und auch den Söhnen der Religion Alles ersezt wird, was ein halbes Wißen und ein übermüthiges Pochen darauf verlieren machte. Die Moral in ihrer züchtigen himmlischen Schönheit fern von Eifersucht und despotischem Dünkel wird ihnen selbst beim Eingang die himmlische Leier und den magischen

7 Anspielung auf die von Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck anonym veröffentlichte Schrift „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders" (Berlin 1797)

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Über die

Religion

Spiegel reichen um ihr ernstes stilles Bilden mit göttlichen Tönen zu begleiten, und es in unzähligen Gestalten immer daßelbe durch die ganze Unendlichkeit zu erbliken. Die Philosophie den Menschen erhebend zum Begrif seiner Wechselwirkung mit der Welt, ihn sich kennen lehrend nicht nur als Geschöpf, sondern als Schöpfer zugleich, wird nicht länger leiden, daß unter ihren Augen der seines Zweks verfehlend arm und dürftig verschmachte, welcher das Auge seines Geistes standhaft in sich gekehrt hält dort das Universum zu suchen. Eingerißen ist die ängstliche Scheidewand, alles außer ihm ist nur ein andres in ihm, alles ist der Widerschein seines Geistes, so wie sein Geist der Abdruk von Al-|lem ist; er darf sich suchen in diesem Widerschein ohne sich zu verlieren oder aus sich heraus zu gehn, er kann sich nie erschöpfen im Anschauen seiner selbst, denn Alles liegt in ihm. Die Physik stellt den, welcher um sich schaut um das Universum zu erbliken mit kühnen Schritten in den Mittelpunkt der Natur, und leidet nicht länger daß er sich fruchtlos zerstreue und bei einzelnen kleinen Zügen verweile. Er verfolgt nur das Spiel ihrer Kräfte bis in ihr geheimstes Gebiet von den unzugänglichen Vorrathskammern des beweglichen Stöfs bis in die künstliche Werkstätte des organischen Lebens, er ermißt ihre Macht von den Gränzen des Welten gebärenden Raumes bis in den Mittelpunkt seines eignen Ichs und findet sich überall mit ihr im ewigen Streit in unzertrennlichster Vereinigung, sich ihr innerstes Centrum und ihre äußerste Gränze. Der Schein ist geflohen und das Wesen errungen; fest ist sein Blik und hell seine Aussicht überall unter allen Verkleidungen daßelbe erkennend und nirgends ruhend als in dem Unendlichen und Einen. Schon sehe ich einige bedeutende Gestalten eingeweiht in diese Geheimniße aus dem Heiligthum zurükkehren, die sich nur noch reinigen und schmüken um im priesterlichen Gewände hervorzugehen. Möge | denn auch die eine Göttin noch lange säumen mit ihrer hülfreichen Erscheinung, auch dafür bringt uns die Zeit einen großen und reichen Ersaz. Das größte Kunstwerk ist das, deßen Stof die Menschheit ist welches das Universum unmittelbar bildet und für dieses muß Vielen der Sinn bald aufgehn. Denn es bildet jezt eben mit kühner und kräftiger Kunst, und Ihr werdet die Neokoren sein, wenn die neuen Gebilde aufgestellt sind im Tempel der Zeit. Leget den Künstler aus mit Kraft und Geist, erklärt aus den frühern Werken die spätem, und diese aus jenen. Laßt uns Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umschlingen, eine endlose Gallerie der erhabensten Kunstwerke durch tausend glänzende Spiegel

8 zu suchen] in suchen

20 Streit] Kj Streit und

35—1 Anspielung auf Friedrieb Schlegels berühmtes Athenaeums-Fragment (Nr. 116) zur romantischen Poesie: „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie, und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch

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ewig vervielfältigt. Laßt die Geschichte, wie es derjenigen ziemt, der Welten zu Gebote stehn, mit reicher Dankbarkeit der Religion lohnen als ihrer ersten Pflegerinn, und der ewigen Macht und Weisheit wahre und heilige Anbeter erweken. Seht wie das himmlische Gewächs mitten in Euern Pflanzungen gedeiht ohne Euer Zuthun. Stört es nicht und rauft es nicht aus! Es ist ein Beweis vom Wohlgefallen der Götter und von der Unvergänglichkeit Eueres Verdienstes, es ist ein Schmuk der es ziert, ein Talisman der es schüzt.

Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie, und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisiren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehre Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang. Sie kann sich so in das Dargestellte verlieren, daß man glauben möchte, poetische Individuen jeder Art zu charakterisiren, sey ihr Eins und Alles; und doch giebt es noch keine Form, die so dazu gemacht wäre, den Geist des Autors vollständig auszudrücken: so daß manche Künstler, die nur auch einen Roman schreiben wollten, von ungefähr sich selbst dargestellt haben. Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frey von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenziren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. Sie ist der höchsten und der allseitigsten Bildung fähig; nicht bloß von innen heraus, sondern auch von außen hinein; indem sie jedem, was ein Ganzes in ihren Produkten seyn soll, alle Th eile ähnlich organisirt, wodurch ihr die Aussicht auf eine gränzenlos wachsende Klassizität eröffnet wird. Die romantische Poesie ist unter den Künsten was der Witz der Philosophie, und die Gesellschaft, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben ist. Andre Dichtarten sind fertig, und können nun vollständig zergliedert werden. Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet seyn kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisiren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frey ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkühr des Dichters kein Gesetz über sich leide. Die romantische Dichtart ist die einzige, die mehr als Art, und gleichsam die Dichtkunst selbst ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch seyn." (Athenaeum 1/2,28-30; F. Schlegel: KA 2,182f)

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U b e r das G e s e l l i g e in d e r R e l i g i o n oder über Kirche und Priesterthum.

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Diejenigen unter Euch, welche gewohnt sind die Religion nur als eine Krankheit des Gemüths anzusehen, pflegen auch wohl die Idee zu unterhalten, daß sie ein leichter zu duldendes, ja vielleicht zu bezähmendes Übel sei, so lange nur hie und da Einzelne abgesondert damit behaftet wären, daß aber die gemeine Gefahr aufs höchste gestiegen und Alles verloren sei, sobald unter mehreren Unglüklichen dieser Art eine allzunahe Gemeinschaft bestände. In jenem Falle könne man durch eine zwekmäßige Behandlung, gleichsam durch eine der Entzündung widerstehende Diät und durch gesunde Luft die Paroxismen schwächen, und den eigen-|thümlichen Krank- 175 heitsstoff, wo nicht völlig besiegen, doch bis zur Unschädlichkeit verdünnen; in diesem Falle aber müße man jede Hofnung zur Rettung aufgeben; weit verheerender werde das Übel und von den gefährlichsten Symptomen begleitet, wenn die zu große Nähe der Andern es bei jedem Einzelnen hegt und schärft; durch Wenige werde dann bald die ganze Atmosphäre vergiftet, auch die gesundesten Körper werden angestekt, alle Kanäle, in denen der Prozeß des Lebens vor sich gehen soll, zerstört, alle Säfte aufgelöset, und von dem gleichen fieberhaften Wahnsinn ergriffen, sei es um ganze Generazionen und Völker unwiderbringlich gethan. Daher ist Euer Widerwille gegen die Kirche, gegen jede Veranstaltung, bei der es auf Mittheilung der Religion angesehen ist, immer noch größer als der gegen die Religion selbst, daher sind Euch die Priester, als die Stüzen und die eigentlich thätigen Mitglieder solcher Anstalten die Verhaßtesten unter den Menschen. Aber auch diejenigen unter Euch, welche von der Religion eine etwas gelindere Meinung haben, und sie mehr für eine Sonderbarkeit als eine Zerrüttung des Gemüths, mehr für eine unbedeutende als gefährliche Erscheinung halten, haben von allen geselligen Einrichtungen für | dieselbe vollkommen 176 eben so nachtheilige Begriffe. Knechtische Aufopferung des Eigenthümlichen und Freien, geistloser Mechanismus und leere Gebräuche, dies meinen

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sie seien die unzertrennlichen Folgen davon, und das kunstreiche Werk derer, die sich mit unglaublichem Erfolg große Verdienste machen aus Dingen, die entweder Nichts sind, oder die Jeder andre gleich gut auszurichten im Stande wäre. Ich würde über den Gegenstand, der mir so wichtig ist, mein Herz nur sehr unvollkommen gegen Euch ausgeschüttet haben, wenn ich mir nicht Mühe gäbe Euch auch hierüber auf den richtigen Gesichtspunkt zu stellen. Wieviel von den verkehrten Bestrebungen und den traurigen Schiksalen der Menschheit ihr den Religionsvereinigungen Schuld gebt, habe ich nicht nöthig zu wiederholen, es liegt in tausend Äußerungen der Vielgeltendsten unter Euch zu Tage; noch will ich mich damit aufhalten diese Beschuldigungen einzeln zu widerlegen, und das Übel auf andere Ursachen zurükzuwälzen: laßt uns vielmehr den ganzen Begrif einer neuen Betrachtung unterwerfen und ihn vom Mittelpunkt der Sache aus aufs neue erschaffen, unbekümmert um das, was bis jezt wirklich ist, und was die Erfahrung uns an die Hand giebt. | Ist die Religion einmal, so muß sie nothwendig auch gesellig sein: es 177 liegt in der Natur des Menschen nicht nur, sondern auch ganz vorzüglich in der ihrigen. Ihr müßt gestehen, daß es etwas höchst widernatürliches ist, wenn der Mensch dasjenige, was er in sich erzeugt und ausgearbeitet hat, auch in sich verschließen will. In der beständigen, nicht nur praktischen, sondern auch intellektuellen Wechselwirkung, worin er mit den Übrigen seiner Gattung steht, soll er alles äußern und mittheilen, was in ihm ist, und je heftiger ihn etwas bewegt, je inniger es sein Wesen durchdringt, desto stärker wirkt auch der Trieb, die Kraft deßelben auch außer sich an Andern anzuschauen, um sich vor sich selbst zu legitimiren, daß ihm nichts als menschliches begegnet sei. Ihr seht daß hier gar nicht von jenem Bestreben die Rede ist, Andere uns ähnlich zu machen, noch von dem Glauben an die Unentbehrlichkeit dessen, was in uns ist für Alle; sondern nur davon, des Verhältnißes unserer besondern Ereigniße zur gemeinschaftlichen Natur inne zu werden. Der eigentlichste Gegenstand aber für dieses Verlangen ist unstreitig dasjenige, wobei der Mensch sich ursprünglich als leidend fühlt, Anschauungen und Gefühle; da drängt es ihn zu wißen, | ob es keine 178 fremde und unwürdige Gewalt sei, der er weichen muß. Darum sehen wir auch von Kindheit an den Menschen damit beschäftigt, vornemlich diese mitzutheilen: eher läßt er seine Begriffe, über deren Ursprung ihm ohnedies kein Bedenken entstehen kann, in sich ruhen; aber was zu seinen Sinnen eingeht, was seine Gefühle aufregt, darüber will er Zeugen, daran will er Theilnehmer haben. Wie sollte er grade die Einwirkungen des Universums für sich behalten, die ihm als das größte und unwiderstehlichste erscheinen? Wie sollte er grade das in sich festhalten wollen, was ihn am stärksten aus sich heraustreibt, und ihm nichts so sehr einprägt als dieses, daß er sich selbst aus sich allein nicht erkennen kann? Sein erstes Bestreben ist es vielmehr, wenn eine religiöse Ansicht ihm klar geworden ist, oder ein frommes

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Gefühl seine Seele durchdringt, auf den Gegenstand auch Andre hinzuweisen und die Schwingungen seines Gemüths wo möglich auf sie fortzupflanzen. Wenn also von seiner Natur gedrungen der Religiöse nothwendig spricht, so ist es eben diese Natur die ihm auch Hörer verschafft. Bei keiner Art zu denken und zu empfinden hat der Mensch ein so lebhaftes Gefühl von seiner gänzlichen Unfähigkeit ihren | Gegenstand jemals zu erschöpfen, als bei der Religion. Sein Sinn für sie ist nicht sobald aufgegangen, als er auch ihre Unendlichkeit und seine Schranken fühlt; er ist sich bewußt nur einen kleinen Theil von ihr zu umspannen, und was er nicht unmittelbar erreichen kann, will er wenigstens durch ein fremdes Medium wahrnehmen. Darum intereßirt ihn jede Äußerung derselben, und seine Ergänzung suchend, lauscht er auf jeden T o n den er für den ihrigen erkennt. So organisirt sich gegenseitige Mittheilung, so ist Reden und Hören Jedem gleich unentbehrlich. Aber religiöse Mittheilung ist nicht in Büchern zu suchen, wie etwa andere Begriffe und Erkenntniße. Zuviel geht verloren von dem ursprünglichen Eindruk in diesem Medium, worin alles verschlukt wird, was nicht in die einförmigen Zeichen paßt, in denen es wieder hervorgehen soll, wo Alles einer doppelten und dreifachen Darstellung bedürfte, indem das ursprünglich Darstellende wieder müßte dargestellt werden, und dennoch die Wirkung auf den ganzen Menschen in ihrer großen Einheit nur schlecht nachgezeichnet werden könnte durch vervielfältigte Reflexion; nur wenn sie verjagt ist aus der Gesellschaft der Lebendigen, muß sie ihr vielfaches Leben verbergen im tod-|ten Buchstaben. Auch kann dieses Verkehr mit dem Innersten des Menschen nicht getrieben werden im gemeinen G e spräch. Viele, die voll guten Willens sind für die Religion, haben Euch das zum Vorwurf gemacht, warum doch von allen wichtigen Gegenständen unter Euch die Rede sei so im freundschaftlichen Umgange nur nicht von Gott und göttlichen Dingen. Ich möchte Euch darüber vertheidigen, daß daraus wenigstens weder Verachtung noch Gleichgültigkeit spreche, sondern ein glüklicher und sehr richtiger Instinkt. W o Freude und Lachen auch wohnen, und der Ernst selbst sich nachgiebig paaren soll mit Scherz und Wiz, da kann kein Raum sein für dasjenige, was von heiliger Scheu und Ehrfurcht immerdar umgeben sein muß. Religiöse Ansichten, fromme G e fühle und ernste Reflexionen darüber kann man sich auch nicht so in kleinen Brosamen einander zuwerfen, wie die Materialien eines leichten G e sprächs: wo von so heiligen Gegenständen die Rede wäre, würde es mehr Frevel sein als Geschik, auf jede Frage sogleich eine Antwort bereit zu haben, und auf jede Ansprache eine Gegenrede. In dieser Manier eines leichten und schnellen Wechsels treffender Einfälle laßen sich göttliche Dinge nicht behan-|deln: in einem größern Styl muß die Mittheilung der

40 behan-1 dein] behan-1 delu

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Religion geschehen, und eine andere Art von Gesellschaft, die ihr eigen gewidmet ist, muß daraus entstehen. Es gebührt sich auf das höchste was die Sprache erreichen kann auch die ganze Fülle und Pracht der menschlichen Rede zu verwenden, nicht als ob es irgend einen Schmuk gäbe, deßen die Religion nicht entbehren könnte, sondern weil es unheilig und leichtsinnig wäre nicht zu zeigen, daß Alles zusammengenommen wird, um sie in angemeßener Kraft und Würde darzustellen. Darum ist es unmöglich Religion anders auszusprechen und mitzutheilen als rednerisch, in aller Anstrengung und Kunst der Sprache, und willig dazu nehmend den Dienst aller Künste, welche der flüchtigen und beweglichen Rede beistehen können. Darum öfnet sich auch nicht anders der Mund desjenigen, deßen Herz ihrer voll ist, als vor einer Versammlung wo mannigfaltig wirken kann, was so stattlich ausgerüstet hervortritt. Ich wollte ich könnte Euch ein Bild machen von dem reichen schwelgerischen Leben in dieser Stadt Gottes, wenn ihre Bürger zusammenkommen, jeder voll eigner Kraft, welche ausströmen will ins Freie, und voll heiliger Begierde alles aufzufaßen und sich anzueignen, | was die Andern ihm darbieten mögen. Wenn einer hervortritt vor den Übrigen ist es nicht ein A m t oder eine Verabredung die ihn berechtigt, nicht Stolz oder Dünkel, der ihm Anmaßung einflößt: es ist freie Regung des Geistes, Gefühl der herzlichsten Einigkeit Jedes mit Allen und der vollkommensten Gleichheit, gemeinschaftliche Vernichtung jedes Zuerst und Zulezt und aller irdischen Ordnung. Er tritt hervor um seine eigne Anschauung hinzustellen, als O b j e k t für die Übrigen, sie hinzuführen in die Gegend der Religion wo er einheimisch ist, und seine heiligen Gefühle ihnen einzuimpfen: er spricht das Universum aus, und im heiligen Schweigen folgt die Gemeine seiner begeisterten Rede. Es sei nun daß er ein verborgenes Wunder enthülle, oder in weißagender Zuversicht die Zukunft an die Gegenwart knüpfe, es sei daß er durch neue Beispiele alte Wahrnehmungen befestige oder daß seine feurige Fantasie in erhabenen Visionen ihn in andere Theile der Welt und eine andre Ordnung der Dinge entzüke: der geübte Sinn der Gemeine begleitet überall den seinigen, und wenn er zurükkehrt von seinen Wanderungen durchs Universum in sich selbst, so ist sein Herz und das eines Jeden nur der gemeinschaftliche Schauplaz deßelben | Gefühls. Dann entgegnet ihm das laute Bekenntniß von der Ubereinstimmung seiner A n sicht mit dem was in ihnen ist, und heilige Mysterien, nicht nur bedeutungsvolle Embleme, sondern recht angesehen natürliche Andeutungen eines bestimmten Bewußtseins und bestimmter Empfindungen — werden so erfunden und so gefeiert; gleichsam ein höheres C h o r , das in einer eignen erhabenen Sprache der auffordernden Stimme antwortet. Aber nicht nur gleichsam: so wie eine solche Rede Musik ist auch ohne Gesang und T o n , so ist auch eine Musik unter den Heiligen, die zur Rede wird ohne Worte, zum bestimmtesten verständlichsten Ausdruk des Innersten. Die Muse der Harmonie, deren vertrautes Verhältniß zur Religion noch zu den

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Mysterien gehört, hat von jeher die prächtigsten und vollendetsten Werke ihrer geweihtesten Schüler dieser auf ihren Altären dargebracht. In heiligen Hymnen und Chören, denen die Worte der Dichter nur lose und luftig anhängen, wird ausgehaucht was die bestimmte Rede nicht mehr faßen kann, und so unterstüzen sich und wechseln die Töne des Gedankens und der Empfindung bis Alles gesättigt ist und voll des Heiligen und Unendlichen. Das ist die Einwirkung religiöser Men-|schen auf einander, das ihre natürliche und ewige Verbindung. Verarget es ihnen nicht, daß dies himmlische Band, das vollendetste Resultat der menschlichen Geselligkeit, zu welchem sie nur gelangen kann, wenn sie vom höchsten Standpunkt aus in ihrem innersten Wesen erkannt wird, ihnen mehr werth ist, als Euer irdisches politisches Band, welches doch nur ein erzwungenes, vergängliches, interimistisches Werk ist. — Wo ist denn in dem Allen jener Gegensaz zwischen Priestern und Laien, den Ihr als die Quelle so vieler Übel zu bezeichnen pflegt? Ein falscher Schein hat Euch geblendet: dies ist gar kein Unterschied zwischen Personen, sondern nur ein Unterschied des Zustandes und der Verrichtungen. Jeder ist Priester, indem er die Andern zu sich hinzieht auf das Feld, welches er sich besonders zugeeignet hat, und wo er sich als Virtuosen darstellen kann: jeder ist Laie, indem er der Kunst und Weisung eines Andern dahin folgt, wo er selbst Fremder ist in der Religion. Es giebt nicht jene tyrannische Aristokratie, die Ihr so gehäßig beschreibt: ein priesterliches Volk ist diese Gesellschaft, eine vollkommne Republik, wo Jeder abwechselnd Führer und Volk ist, jeder derselben Kraft im Andern folgt, die er auch in sich fühlt, und | womit auch Er die Andern regiert. — Wo ist der Geist der Zwietracht und der Spaltungen, den Ihr als die unvermeidliche Folge aller Religionsvereinigungen anseht? Ich sehe nichts, als daß alles Eins ist, und daß Alle Unterschiede, die es in der Religion selbst wirklich giebt, eben durch die gesellige Verbindung sanft in einander fließen. Ich habe Euch selbst auf verschiedene Grade in der Religiosität aufmerksam gemacht, ich habe auf zwei verschiedene Sinnesarten hingedeutet und auf verschiedene Richtungen nach denen die Fantasie sich den höchsten Gegenstand der Religion individualisirt. Meint Ihr daraus müßten nothwendig Sekten entstehen, und es müßte die freie Geselligkeit in der Religion hindern? In der idealen Betrachtung gilt es wol, daß Alles was außer einander gesezt und unter verschiedene Abtheilungen befaßt ist sich auch entgegengesezt und widersprechend sein muß, macht Euch aber doch davon los, wenn Ihr das Reale selbst anschaut da fließt Alles in einander. Freilich werden diejenigen, die sich in einem dieser Punkte am ähnlichsten sind, sich 7 auf] anf

29-32 S.o.

244,18-245,24

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auch einander am stärksten anziehen, aber sie können deswegen kein abgesondertes Ganzes ausmachen: denn die Grade dieser Verwandschaft nehmen unmerklich ab und zu, und | bei soviel Ubergängen giebt es auch zwi- 186 sehen den entferntesten Elementen kein absolutes Abstoßen, keine gänzliche Trennung. Nehmt welche Ihr wollt von diesen Maßen, die sich einzeln chemisch bilden, wenn Ihr sie nicht durch irgend eine mechanische Operation gewaltsam isolirt, wird keine ein eignes Individuum sein: ihre äußersten Theile werden zugleich mit Andern zusammenhängen, die eigentlich schon einer andern Maße angehören. Wenn die sich näher verbinden, welche auf derselben niederen Stuffe stehn, so giebt es auch einige unter ihnen, die eine Ahndung des Beßeren haben, und Jeder der wirklich höher gestellt ist versteht sie beßer, als sie sich selbst; er ist sich des Vereinigungspunktes bewußt, der Jenen verborgen ist. Wenn die sich an einander schließen, in denen die eine Sinnesart herrschend ist, so giebt es doch Einige, welche beide verstehen und beiden angehören, und der, in deßen Natur es liegt, das Universum zu personificiren, ist doch im Wesentlichen, im Stoff der Religion gar nicht von dem unterschieden, der dies nicht thut, und es wird nie an solchen fehlen, welche sich auch in die entgegengesezte Form mit Leichtigkeit hineindenken können. Wenn unbeschränkte Universalität des Sinnes die erste und ursprüngliche Bedingung | der Religion, und also wie natür- 187 lieh auch ihre schönste und reifste Frucht ist, so seht Ihr wol es ist nicht anders möglich, je weiter Ihr fortschreitet in der Religion, desto mehr muß Euch die ganze religiöse Welt als ein untheilbares Ganzes erscheinen: nur in den niederen Gegenden kann vielleicht ein gewisser Absonderungstrieb wahrgenommen werden, die Höchsten und Gebildetsten sehen einen allgemeinen Verein, und eben dadurch daß sie ihn sehen, stiften sie ihn auch. Indem Jeder nur mit dem Nächsten in Berührung steht, aber auch nach allen Seiten und Richtungen einen Nächsten hat, ist er in der That mit dem Ganzen unzertrennlich verknüpft. Mystiker und Physiker in der Religion, Theisten und Pantheisten, die welche sich zur systematischen Ansicht des Universums erhoben haben, und die welche es nur noch in den Elementen oder im dunkeln Chaos anschauen, Alle sollen dennoch nur Eins sein, Ein Band umschließt sie Alle, und sie können nur gewaltsam und willkührlich getrennt werden; jede einzelne Vereinigung ist nur ein fließender integrirender Theil des Ganzen, in unbestimmten Umrißen sich in daßelbe verlierend, und fühlt sich auch nur so. — Wo ist die verschrieene wilde Bekehrungssucht zu einzelnen bestimmten Formen | der Religion, und wo der 188 schrekliche Wahlspruch: kein Heil außer uns? So wie ich Euch die Gesell8 zusammenhängen] znsammenhängen 38 Anspielung nulla salus.

auf den Satz

Cyprians

37 Formen] Formern (Bischof von Karthago

248—258):

extra

ecclesiam

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Über die Religion

schaft der Religiösen dargestellt habe, und wie sie ihrer Natur nach sein muß, geht sie nur auf gegenseitige Mittheilung und existirt nur zwischen solchen die schon Religion haben, welche es auch sei: wie könnte es also wol ihr Geschäft sein diejenigen umzustimmen, die schon eine bestimmte bekennen oder diejenigen herbeizuführen und einzuweihen, denen es noch ganz daran fehlt? Die Religion der Gesellschaft zusammengenommen ist die ganze Religion, die unendliche, die kein Einzelner ganz umfaßen kann, und zu der sich also auch keiner bilden und erheben läßt. Hat also Jemand schon einen Antheil davon, welcher es auch sei, für sich erwählt, wäre es nicht ein widersinniges Verfahren von der Gesellschaft, wenn sie ihm das entreißen wollte was seiner Natur gemäß ist, da sie doch auch dieses in sich befaßen soll, und also nothwendig einer es besizen muß? Und wozu sollte sie diejenigen bilden wollen, denen die Religion überhaupt noch fremd ist? Ihr Eigenthum, das unendliche Ganze kann doch auch sie selbst ihnen nicht mittheilen; also etwa das Allgemeine, das Unbestimmte, welches sich vielleicht ergeben würde wenn man das aufsuchte, was et-|wa bei allen ihren Gliedern anzutreffen ist? Aber Ihr wißt ja daß überall gar nichts als etwas Allgemeines und Unbestimmtes, sondern nur als etwas Einzelnes und in einer durchaus bestimmten Gestalt wirklich gegeben und mitgetheilt werden kann, weil es sonst nicht Etwas, sondern in der That Nichts wäre. An jedem Maaßstabe und an jeder Regel würde es ihr also fehlen bei diesem Unternehmen. Und wie käme sie überhaupt dazu aus sich hinauszugehn, da das Bedürfniß aus welchem sie entstanden ist, das Princip der religiösen Geselligkeit auf gar nichts dergleichen hindeutet. Was also von dieser Art geschieht in der Religion ist immer nur ein Privatgeschäft des Einzelnen für sich. Genöthiget sich aus dem Kreise der religiösen Vereinigung wo Anschauung des Universums ihm den erhabensten Genuß gewährt, und von heiligen Gefühlen durchdrungen sein Geist auf dem höchsten Gipfel des Lebens schwebt, zurükzuziehn in die niedrigen Gegenden des Lebens, ist es sein Trost daß er auch Alles womit er sich da beschäftigen muß, zugleich auf das beziehen kann, was seinem Gemüth immer das Höchste bleibt. Wie er von da herabkommt unter die, welche sich auf irgend ein irdisches Streben und Treiben beschränken, glaubt er leicht, und | verzeiht es ihm nur, aus dem Umgang mit Göttern und Musen unter ein Geschlecht roher Barbaren versetzt zu sein. E r fühlt sich als einen Verwalter der Religion unter den Ungläubigen, als einen Mißionair unter den Wilden, ein neuer Orpheus hoft er manchen unter ihnen zu gewinnen durch himmlische Töne, und stellt sich dar unter ihnen als eine priesterliche Gestalt, seinen höhern Sinn klar und hell ausdrükend in allen Handlungen und in seinem ganzen

15 mittheilen] mitheilen

15 das] des

17 Ihr] ihr

29 zurükzuziehn] zurük / zuziehn

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Wesen. Regt dann der Eindruk des Heiligen und Göttlichen etwas ähnliches auf, wie gern pflegt er dann die ersten Ahndungen der Religion in einem neuen Gemüth, einen schönen Beweis seines Gedeihens auch in einem fremden und rauhen Klima, wie triumfirend zieht er den Neuling mit sich empor zu der erhabenen Versammlung! Diese Geschäftigkeit um die Verbreitung der Religion ist nur die fromme Sehnsucht des Fremdlings nach seiner Heimath, das Bestreben sein Vaterland mit sich zu führen, und die Geseze und Sitten deßelben, sein höheres schöneres Leben überall anzuschauen, das Vaterland selbst in sich selig und sich vollkommen genug kennt auch dieses Bestreben nicht. — Nach alle diesem werdet Ihr vielleicht sagen, daß ich ganz einig mit Euch zu sein schie-|ne, ich habe die Kirche construirt aus dem Begrif ihres Zweks, und indem ich ihr alle die Eigenschaften, welche sie jezt auszeichnen, abgesprochen, so habe ich ihre gegenwärtige Gestalt eben so strenge gemißbilliget als Ihr selbst. Ich versichere Euch aber, daß ich nicht von dem geredet habe was sein soll, sondern von dem was ist, wenn Ihr anders nicht läugnen wollt, daß dasjenige wirklich schon ist, was nur durch Beschränkungen des Raumes gehindert wird auch dem gröberen Blik zu erscheinen. Die wahre Kirche ist in der That immer so gewesen, und ist noch so, und wenn Ihr sie nicht so sehet, so liegt die Schuld doch eigentlich an Euch und in einem ziemlich handgreiflichen Mißverständniß. Bedenkt nur, ich bitte Euch, daß ich um mich eines alten aber sehr sinnreichen Ausdrukes zu bedienen nicht von der streitenden, sondern von der triumfirenden Kirche geredet habe, nicht von der welche noch kämpft gegen alle Hinderniße der religiösen Bildung welche ihr das Zeitalter und der Zustand der Menschheit in den Weg legt, sondern von der, die schon alles was ihr entgegenstand überwunden und sich selbst constituirt hat. Ich habe Euch eine Gesellschaft von Menschen dargestellt, die mit ihrer Religion zum Bewußtsein gekommen sind und denen | die religiöse Ansicht des Lebens eine der herrschenden geworden ist, und da ich Euch überzeugt zu haben hoffe, daß das Menschen von einiger Bildung und von vieler Kraft sein müßen, und daß ihrer also immer nur sehr Wenige sein können, so müßt Ihr freilich ihre Vereinigung da nicht suchen, wo viele Hunderte versammelt sind in großen T e m peln und ihr Gesang schon von fern Euer O h r erschüttert: so nahe wißt Ihr wol stehen Menschen dieser Art nicht bei einander. Vielleicht ist sogar nur in einzelnen abgesonderten von der großen Kirche gleichsam ausgeschloßenen Gemeinheiten etwas Ähnliches in einem bestimmten Raum zusammengedrängt zu finden: das aber ist gewiß, daß alle wahrhaft religiöse Menschen, soviel es ihrer je gegeben hat, nicht nur den Glauben, sondern das lebendige Gefühl von einer solchen Vereinigung mit sich herumgetragen und in ihr eigentlich gelebt haben, und daß sie Alle das, was man gemeinhin die Kirche nennt, sehr nach seinem Werth, das heißt eben nicht sonderlich hoch, zu schäzen wußten.

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Diese große Verbindung nehmlich, auf welche Eure harte Beschuldigungen sich eigentlich beziehen, ist, weit entfernt eine Gesellschaft religiöser Menschen zu sein, vielmehr nur eine Ver-|einigung solcher, welche die Religion erst suchen, und so finde ich es sehr natürlich, daß sie jener fast in allen Stüken entgegengesezt ist. Leider werde ich, um Euch dies so deutlich zu machen als es mir ist, in eine Menge irdischer weltlicher Dinge hinabsteigen und mich durch ein Labyrinth der wunderlichsten Verirrungen hindurchwinden müssen: es geschieht nicht ohne Widerwillen, aber es sei darum, Ihr müßt dennoch mit mir einig werden. Vielleicht daß schon die ganz verschiedene Form der Geselligkeit, wenn ich Euch aufmerksam darauf mache, Euch im Wesentlichen von meiner Meinung überzeugt. Ich hoffe Ihr seid aus dem vorigen mit mir einverstanden darüber daß in der wahren religiösen Geselligkeit alle Mittheilung gegenseitig ist, das Princip, welches uns zur Äußerung des eigenen antreibt, innig verwandt mit dem, was uns zum Anschließen an das Fremde geneigt macht und so Wirkung und Gegenwirkung aufs unzertrennlichste mit einander verbunden. Hier im G e gentheil findet Ihr gleich eine durchaus andere F o r m : Alle wollen empfangen und nur einer ist da der geben soll; völlig paßiv laßen sie auf einerlei Art in sich einwirken durch alle Organe, und helfen höchstens dabei selbst von innen nach soviel sie Gewalt über sich | haben, ohne an eine Gegenwirkung auf Andere auch nur zu denken. Zeigt das nicht deutlich genug, daß auch das Princip ihrer Geselligkeit ein ganz andres sein muß? Es kann wol bei ihnen nicht die Rede davon sein, daß sie nur ihre Religion ergänzen wollten durch die der Andern: denn wenn in der That welche in ihnen wohnte, würde diese sich wol, weil es in ihrer Natur liegt, auch auf irgend eine Art thätig auf Andere beweisen. Sie thun keine Gegenwirkung, weil sie keiner fähig sind, und sie können nur darum keiner fähig sein, weil keine Religion in ihnen wohnt. Wenn ich mich eines Bildes bedienen darf aus der Wißenschaft, der ich am liebsten Ausdrüke abborge in Angelegenheiten der Religion, so möchte ich sagen, sie sind negativ religiös, und drängen sich nun in großen Haufen zu den wenigen Punkten hin, wo sie das positive Princip der Religion ahnden um sich mit diesem zu vereinigen. Haben sie aber dieses in sich aufgenommen, so fehlt es ihnen wiederum an Capacität um das neue Produkt festzuhalten; der feine Stoff, der gleichsam nur ihre Atmosphäre umschweben konnte, entweicht ihnen, und sie gehen nun in einem gewißen Gefühl von Leere wieder eine Weile hin, bis sie sich aufs neue negativ angefüllt haben. Dies | ist in wenig Worten die Geschichte ihres religiösen Lebens, und der Charakter der geselligen Neigung, welche mit darin

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eingeflochten ist. Nicht Religion, nur ein wenig Sinn für sie, und ein mühsames auf eine klägliche Art vergebliches Streben zu ihr selbst zu gelangen, das ist Alles, was man auch den Besten unter ihnen, denen die es mit Geist und Eifer treiben, zugestehen kann. Im Lauf ihres häuslichen und bürgerlichen Lebens, auf dem größeren Schauplaz von deßen Ereignißen sie Zuschauer sind, begegnet natürlich vieles, was auch einen geringen Antheil religiösen Sinnes afficiren muß. Aber es bleibt nur eine dunkle Ahndung, ein schwacher Eindruk auf einer zu weichen Maße, deßen Umriße gleich ins Unbestimmte zerfließen; alles wird bald hin weggeschwemmt von den Wellen des praktischen Lebens in die unbesuchteste Gegend der Erinnerung, und auch dort von weltlichen Dingen bald ganz verschüttet. Indeß entsteht aus der öfteren Wiederholung dieses kleinen Reizes dennoch zulezt ein Bedürfniß: die dunkle Erscheinung im Gemüth, die immer wiederkehrt, will endlich klar gemacht sein. Das beste Mittel dazu, so sollte man freilich denken, wäre dieses, wenn sie sich Muße nähmen, das was so auf sie wirkt gelaßen und | genau zu betrachten: aber dieses wirkende ist das Uni- 196 versum, und in diesem liegen doch unter andern auch alle die einzelnen Dinge, an die sie in den übrigen Theilen ihres Lebens zu denken, und mit denen sie zu schaffen haben. Auf diese würde sich aus alter Gewohnheit ihr Sinn unwillkührlich richten, und das Erhabene und Unendliche würde sich ihren Augen wieder zerstükeln in lauter Einzelnes und Geringes. Das fühlen sie, und darum vertrauen sie sich selbst nicht und suchen fremde Hülfe: im Spiegel einer fremden Darstellung wollen sie anschauen was sie in der unmittelbaren Wahrnehmung nur verderben würden. — So suchen sie nach Religion: aber sie mißverstehen am Ende dies ganze Streben. Denn wenn nun die Äußerungen eines religiösen Menschen alle jene Erinnerungen gewekt haben, und sie nun von ihnen vereint afficirt mit einem stärkeren Eindruk von dannen gehn: so meinen sie ihr Bedürfniß sei gestillt, der Andeutung der Natur sei Genüge geschehen, und sie haben nun die Religion selbst in sich, die ihnen doch — grade wie ehedem, nur in einem höheren Grade — nur als eine flüchtige Erscheinung von außen gekommen ist. Dieser Täuschung bleiben sie immer unterworfen, weil sie von der wahren und lebendigen Re-|ligion weder Begrif noch Anschauung haben, und wiederholen in 197 vergeblicher Hofnung endlich auf das rechte zu kommen tausendmal dieselbe Operation, und bleiben immer wo und was sie gewesen sind. Kämen sie weiter, würde ihnen auf diesem Wege die Religion selbstthätig und lebendig eingepflanzt, so würden sie bald die verlaßen, deren Einseitigkeit und Paßivität ihrem Zustande alsdann nicht länger angemeßen wäre, noch auch erträglich sein könnte; sie würden sich wenigstens neben ihr einen andern Kreis suchen wo ihre Religion sich auch thätig zeigen und außer sich wirken könnte, und dieser müßte bald ihr Hauptwerk und ihre ausschließende Liebe werden. Und so wird auch in der That die Kirche den Menschen um so gleichgültiger je mehr sie zunehmen in der Religion, und die

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Frömsten sondern sich stolz und kalt von ihr aus. Es kann in der That nichts deutlicher sein: man ist in dieser Verbindung nur deswegen weil man keine Religion hat, man verharrt darin nur so lange als man keine hat. — Eben das geht aber auch aus der Art hervor, wie sie die Religion behandeln. Denn gesezt auch es wäre unter wahrhaft religiösen Menschen eine einseitige Mittheilung und ein Zustand freiwilliger Paßivität und Entäußerung möglich, so | herrscht doch in ihrem gemeinschaftlichen Thun überdies durchaus die größte Verkehrtheit und Unkenntniß der Sache. Verständen sie sich auf die Religion, so würde ihnen doch das die Hauptsache sein, daß der, welchen sie für sich zum Organ der Religion gemacht haben, ihnen seine klarsten individuellsten Anschauungen und Gefühle mittheilte; das mögen sie aber nicht, sondern sezen vielmehr den Äußerungen seiner Individualität Schranken auf allen Seiten, und begehren daß er ihnen vornehmlich Begriffe, Meinungen, Lehrsäze, kurz statt der eigentlichen Elemente der Religion die Abstraktionen darüber ins Licht sezen soll. Verständen sie sich auf die Religion, so würden sie aus ihrem eigenen Gefühl wißen, daß jene symbolischen Handlungen, von denen ich gesagt habe, daß sie der wahren religiösen Geselligkeit wesentlich sind, ihrer Natur nach nichts sein können als Zeichen der Gleichheit des in Allen hervorgegangenen Resultats, Andeutung der Rükkehr zum gemeinschaftlichen Mittelpunkt, nichts als das vollstimmigste Schlußchor nach allem was Einzelne rein und kunstreich mitgetheilt haben: davon aber wißen sie nichts, sondern sie sind ihnen etwas für sich bestehendes und nehmen bestimmte Zeiten ein. Was geht daraus hervor als die-|ses, daß ihr gemeinschaftliches Thun nichts an sich hat von jenem Charakter einer hohen und freien Begeisterung der der Religion durchaus eigen ist, sondern ein schülerhaftes, mechanisches Wesen ist? und worauf deutet dieses wiederum, als darauf, daß sie die Religion erst von außen überkommen mögten? Das wollen sie auf alle Weise versuchen. Darum hängen sie so an den todten Begriffen, an den Resultaten der Reflexion über die Religion und saugen sie begierig ein, in der Hofnung daß diese in ihnen den Rükweg ihrer eigentlichen Genesis machen und sich wieder in die lebendigen Anschauungen und Gefühle zurük verwandeln werden aus denen sie ursprünglich abgeleitet sind. Darum brauchen sie die symbolischen Handlungen, die eigentlich das lezte sind in der religiösen Mittheilung, als Reizmittel, um das aufzuregen, was ihnen eigentlich vorangehn müßte. Wenn ich von dieser größeren und weitverbreiteten Verbindung in Vergleichung mit der vortreflicheren, die allein nach meiner Idee die wahre Kirche ist, nur sehr herabsezend und als von etwas gemeinem und niedrigem gesprochen habe, so ist das freilich in der Natur der Sache gegründet,

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und ich konnte meinen Sinn darüber nicht verhehlen: aber ich verwahre mich | feierlichst gegen jede Vermuthung, die Ihr wol hegen könntet, als 200 stimmte ich dem immer allgemeiner werdenden Wünschen bei, diese Anstalt lieber ganz zu zerstören. Nein, wenn die wahre Kirche doch immer nur denjenigen offen stehen wird welche schon im Besiz der Religion sind, so muß es doch irgend ein Bindungsmittel geben zwischen ihnen und denen welche sie noch suchen, und das soll doch diese Anstalt sein, denn sie muß ihrer Natur nach ihre Anführer und Priester immer aus jener hernehmen. Und soll grade die Religion die einzige menschliche Angelegenheit sein in der es keine Veranstaltungen gäbe zum Behuf der Schüler und Lehrlinge? Aber freilich der ganze Zuschnitt dieser Anstalt müßte ein anderer sein, und ihr Verhältniß zur wahren Kirche ein ganz andres Ansehn gewinnen. Es ist mir nicht erlaubt hierüber zu schweigen. Diese Wünsche und Aussichten hängen zu genau mit der Natur der religiösen Geselligkeit zusammen und der beßere Zustand der Dinge, den ich mir denke, gereicht so sehr zu ihrer Verherrlichung, daß ich meine Ahndungen nicht in mich verschließen darf. Das wenigstens ist durch den schneidenden Unterschied den wir zwischen beiden festgestellt haben gewonnen, daß wir sehr ruhig und einträchtig über alle Miß-|bräuche die in der kirchlichen Gesellschaft obwal- 201 ten, und über ihre Ursachen mit einander nachdenken können; denn Ihr müßt gestehen daß die Religion, da sie eine solche Kirche nicht hervorgebracht hat, von aller Schuld an jedem Unheil welches diese angerichtet haben soll und an dem verwerflichen Zustande worin sie sich befinden mag vorläufig freigesprochen werden muß, so gänzlich freigesprochen, daß man ihr nicht einmal den Vorwurf machen kann sie könne in so etwas ausarten: denn wo sie noch gar nicht gewesen ist kann sie auch unmöglich ausgeartet sein. Ich gebe zu daß es in dieser Gesellschaft einen verderblichen Sektengeist giebt, und nothwendig geben müße. Wo die religiösen Meinungen gleichsam als Methode gebraucht werden um zur Religion zu gelangen, da müßen sie freilich in ein bestimmtes Ganzes gebracht werden, denn eine Methode muß durchaus bestimmt und auch endlich sein, und wo sie als etwas das nur von außen gegeben werden kann, angenommen werden auf die Autorität des Gebenden, da muß jeder Andersdenkende als ein Störer des ruhigen und sichern Fortschreitens angesehn werden, weil er durch sein bloßes Dasein und die Ansprüche die damit verbunden sind, diese Autorität schwächt; ich gestehe sogar, | daß er in der alten Vielgötterei, wo das 202 Ganze der Religion von selbst nicht in Eins befaßt war, und sie sich jeder Theilung und Absonderung williger darbot, weit gelinder und humaner war, und daß er erst in den sonst beßeren Zeiten der systematischen Religion sich organisirt und in seiner ganzen Kraft gezeigt hat, denn wo Jeder ein ganzes System und einen Mittelpunkt dazu zu haben glaubt, da muß der Werth, der auf jedes Einzelne gelegt wird, ungleich größer sein: ich gebe beides zu; aber Ihr werdet mir einräumen daß jenes der Religion überhaupt

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nicht zum Vorwurf gereicht, und daß dieses nichts dagegen beweisen kann, daß die Ansicht des Universums als System nicht die höchste Stufe der Religion wäre. Ich gebe zu, daß es in dieser Gesellschaft mehr mit dem Verstehen oder Glauben, und mit dem Handeln und Vollziehn von Gebräuchen, als mit dem Anschaun und Fühlen gehalten wird, und daß sie daher immer, wie aufgeklärt auch ihre Lehre sei, an den Grenzen der Superstition einhergeht und an irgend einer Mythologie hängt: aber Ihr werdet gestehen: daß sie nur um so weiter von der wahren Religion entfernt ist. Ich gebe zu, daß diese Verbindung nicht bestehen kann ohne einen permanenten Unterschied zwischen Priestern | und Laien; denn wer unter diesen dahin käme 203 selbst Priester sein zu können, das heißt wahre Religion in sich zu haben, der könnte unmöglich Laie bleiben und sich noch ferner so geberden als ob er keine hätte; er wäre vielmehr frei und verbunden diese Gesellschaft zu verlaßen, und die wahre Kirche aufzusuchen: aber das bleibt gewiß, daß diese Trennung mit Allem, was sie unwürdiges hat, und mit allen übeln Folgen, die ihr eigen sein können, nicht von der Religion herrührt, sondern selbst etwas ganz irreligiöses ist. Jedoch eben hier höre ich Euch einen neuen Einwurf machen, der alle diese Vorwürfe wieder auf die Religion zurükzuwälzen scheint. Ihr werdet mich daran erinnern, daß ich selbst gesagt habe, die große kirchliche Gesellschaft, jene Anstalt für die Lehrlinge in der Religion meine ich, müße der Natur der Sache nach ihre Anführer die Priester nur aus den Mitgliedern der wahren Kirche nehmen, weil es in ihr selbst an dem wahren Princip der Religion fehle. Ist dies so, werdet Ihr sagen, wie können denn die Virtuosen der Religion da wo sie zu herrschen haben, wo alles auf ihre Stimme hört, und wo sie selbst nur die Stimme der Religion hören sollten, so vieles dulden, ja mehr als dul-|den — denn wem verdankt die Kirche wol 204 alle ihre Einrichtungen als den Priestern? — was dem Geist der Religion ganz zuwider sein soll? Oder wenn es nicht so ist, wie es sein sollte, wenn sie sich vielleicht die Regierung ihrer Tochtergesellschaft haben entreißen laßen, wo ist dann der hohe Geist den wir mit Recht bei ihnen suchen? warum haben sie ihre wichtige Provinz so schlecht verwaltet? warum haben sie es geduldet daß niedrige Leidenschaften das zu einer Geißel der Menschheit machten, was unter den Händen der Religion ein Segen geblieben wäre? sie, für deren Jeden, wie du selbst gestehst, die Leitung derer, die ihrer Hülfe so sehr bedürfen, das erfreulichste und zugleich heiligste Geschäft sein muß. — Freilich ist es leider nicht so, wie ich behauptet habe, daß es sein soll: wer möchte wohl sagen, daß Alle diejenigen, daß auch nur der größte Theil, daß nachdem einmal solche Unterordnungen gemacht sind, auch nur die Ersten und Vornehmsten unter denen, welche die große Kir-

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chengesellschaft regiert haben, Virtuosen der Religion oder auch nur Mitglieder der wahren Kirche gewesen wären? Nehmt nur, ich bitte Euch, das was ich sagen muß um sie zu entschuldigen, nicht für eine hinterlistige Retorsion. Wenn Ihr der Religion | entgegenredet, thut Ihr es gewöhnlich im 205 Namen der Philosophie; wenn Ihr der Kirche Vorwürfe macht, sprecht Ihr im Namen des Staats: Ihr wollt die politischen Künstler aller Zeiten darüber vertheidigen, daß durch Dazwischenkunft der Kirche ihr Kunstwerk soviel unvollkommene und übel berathene Stellen bekommen habe. Wenn nun ich, der ich im Namen der religiösen Virtuosen, und für sie rede, die Schuld davon daß sie ihr Geschäft nicht mit beßerem Erfolg haben betreiben können, dem Staat und den Staatskünstlern beimeße, werdet Ihr mich nicht im Verdacht jenes Kunstgrifs haben? Dennoch hoffe ich Ihr werdet mir mein Recht nicht versagen können, wenn Ihr mich über die eigentliche Entstehung aller dieser Übel anhört. Jede neue Lehre und Offenbarung, jede neue Ansicht des Universums, welche den Sinn für daßelbe anregt auf einer Seite wo es bisher noch nicht ergriffen worden ist, gewinnt auch einige Gemüther der Religion, für welche grade dieser Punkt der einzige war durch welchen sie eingeführt werden konnten in die neue und unendliche Welt, und den meisten unter ihnen bleibt denn natürlich grade diese Anschauung der Mittelpunkt der Religion, sie bilden um ihren Meister her eine eigne Schule, ein abgeson-|dertes 206 Bruchstük der wahren und allgemeinen Kirche, welches erst still und langsam seiner Vereinigung im Geist mit diesem großen Ganzen entgegenreift. Aber ehe diese erfolgt werden sie gewöhnlich, wenn erst die neuen Gefühle ihr ganzes Gemüth durchdrungen und gesättigt haben, heftig ergriffen von dem Bedürfniß zu äußern was in ihnen ist, damit das innere Feuer sie nicht verzehre. So verkündiget Jeder wo und wie er kann das neue Heil welches ihm aufgegangen ist, von jedem Gegenstande finden sie den Ubergang zu dem neuentdekten Unendlichen, jede Rede verwandelt sich in eine Zeichnung ihrer besondern religiösen Ansicht, jeder Rath, jeder Wunsch, jedes freundliche Wort in eine begeisterte Anpreisung des Weges, den sie als den einzigen kennen zum Tempel der Religion. Wer es weiß wie die Religion wirkt, der findet es natürlich daß sie Alle reden, sie würden fürchten daß die Steine es ihnen zuvorthäten. Und wer es weiß wie ein neuer Enthusiasmus wirkt der findet es natürlich daß dieses lebendige Feuer gewaltsam um sich greift, manche verzehrt, viele erwärmt und Tausenden den falschen oberflächlichen Schein einer innern Glut mittheilt. Und diese Tausende sind eben das Verderben. Das jugendliche Feuer der neuen | Heiligen 207 nimmt auch sie für wahre Brüder, „was hindert, sprechen sie nur allzurasch, daß auch diese den heiligen Geist empfahen," sie selbst nehmen sich dafür und laßen sich im freudigen Triumph einführen in den Schooß der frommen Gesellschaft. Aber wenn der Rausch der ersten Begeisterung vorüber, wenn die glühende Oberfläche ausgebrannt ist, so zeigt sich daß sie

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den Zustand in welchem die Andern sich befinden nicht aushalten und nicht theilen können, mitleidig stimmen sich diese herab zu ihnen, und entsagen ihrem eignen höhern und innigem Genuß um ihnen wieder nachzuhelfen, und so nimmt alles die unvollkomne Gestalt an. Auf diese Art bildet sich ohne äußere Ursachen durch das allen menschlichen Dingen gemeine Verderbniß, der ewigen Ordnung gemäß nach welcher dieses Verderben grade das feurigste und regsamste Leben am schnellsten ergreift, um jedes einzelne Bruchstük der wahren Kirche, welches irgendwo in der Welt isolirt entsteht, nicht abgesondert von jenem, sondern in und mit ihm, eine falsche und ausgeartete Kirche. So ist es zu allen Zeiten, unter allen Völkern und in jeder besondern Religion ergangen. Wenn man aber Alles ruhig sich selbst überließe so könnte dieser Zustand unmöglich irgendwo lange ge-jwährt haben. Gießt Stoffe von verschiedner Schwere und Dichtig- 208 keit und die wenig innere Anziehung gegen einander haben in ein Gefäß, rüttelt sie auch aufs heftigste durcheinander, daß Alles Eins zu sein scheint, und Ihr werdet sehen, wie Alles, wenn Ihr es nur ruhig stehn laßt, sich allmählich wieder sondert, und nur Gleiches sich zu Gleichem gesellt. So wäre es auch hier ergangen, denn das ist der natürliche Lauf der Dinge. Die wahre Kirche hätte sich still wieder ausgeschieden um der vertrauteren und höheren Geselligkeit zu genießen, welcher die Anderen nicht fähig wären; das Band der lezteren unter einander wäre dann so gut als gelöst gewesen, und ihre natürliche Paßivität hätte irgend etwas äußeres erwarten müßen um zu bestimmen was aus ihnen werden sollte. Sie wären aber nicht verlaßen geblieben von Jenen: wer hätte wol außer ihnen das geringste Intereße gehabt sich ihrer anzunehmen? was für eine Lokung hätte wol ihr Zustand den Absichten Anderer Menschen dargeboten? Was wäre zu gewinnen, oder was für Ruhm wäre zu erlangen gewesen mit ihnen? Ungestört also wären die Mitglieder der wahren Kirche im Besiz geblieben, ihr priesterliches Amt unter ihnen in einer neuen und beßer angelegten Gestalt wieder | anzutreten. Jeder hätte diejenigen um sich versammelt die grade 209 ihn am besten verstehn, auf die nach seiner Art am meisten gewirkt werden konnte, und statt der ungeheuren Verbindung deren Dasein Ihr jezt beseufzt, wären eine große Menge kleinerer und unbestimmter Gesellschaften entstanden, worin die Menschen sich auf allerlei Art bald hier bald dort geprüft hätten auf die Religion, und der Aufenthalt darin wäre nur ein vorübergehender Zustand gewesen, vorbereitend für den, dem der Sinn für die Religion aufgegangen wäre, entscheidend für den, der sich unfähig gefunden hätte auf irgend eine Art davon ergriffen zu werden. Ο goldnes Zeitalter der Religion, wann werden die Umwälzungen der menschlichen Dinge dich künstlich herbeiführen, nachdem du auf dem einfachen Wege der Natur verfehlt worden bist! Heil denen welche dann berufen werden! gnädig sind ihnen die Götter, und reicher Segen folgt ihren Bemühungen auf ihrer Mißion den Anfängern zu helfen und den Unmündigen den Weg eben

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zu machen zum Tempel des Ewigen, Bemühungen die Uns heutigen so karge Frucht bringen unter den ungünstigsten Umständen. Es ist wol ein unheiliger Wunsch, aber ich kann ihn mir kaum versagen. Möchte doch allen | Häuptern des Staats, allen Virtuosen und Künstlern der Politik auf 210 immer fremd geblieben sein auch die entfernteste Ahndung von Religion! möchte doch nie einer ergriffen worden sein von der Gewalt jenes epidemischen Enthusiasmus, wenn sie doch ihre Individualität nicht zu scheiden wußten von ihrem Beruf und ihrem öffentlichen Charakter! Denn das ist uns die Quelle alles Verderbens geworden. Warum mußten sie die kleinliche Eitelkeit und den wunderlichen Dünkel, daß die Vorzüge, welche sie mittheilen könnten, überall ohne Unterschied etwas wichtiges sind, mitbringen in die Versammlung der Heiligen? Warum mußten sie die Ehrfurcht vor den Dienern des Heiligthums von dannen mit zurüknehmen in ihre Palläste und Richtsäle? Ihr habt Recht zu wünschen daß nie der Saum eines priesterlichen Gewandes den Fußboden eines königlichen Zimmers möchte berührt haben: aber laßt uns nur wünschen, daß nie der Purpur den Staub am Altar geküßt haben möchte; wäre dies nicht geschehen so würde jenes nicht erfolgt sein. J a hätte man nie einen Fürsten in den Tempel gelaßen, bevor er den schönsten königlichen Schmuk, das reiche Füllhorn aller seiner Gunst und Ehrenzeichen abgelegt hätte vor der Pforte! Aber | sie haben es mitgenommen, sie haben gewähnt die einfache 2U Hoheit des himmlischen Gebäudes schmüken zu können durch abgerißne Stüke ihrer irdischen Herrlichkeit, und statt eines geheiligten Herzens haben sie weltliche Gaben zurükgelaßen als Weihgeschenke für den H ö c h sten. — So oft ein Fürst eine Kirche für eine Corporation erklärte, für eine Gemeinschaft mit eignen Vorrechten, für eine ansehnliche Person in der bürgerlichen Welt — und es geschah nie anders als wenn bereits jener unglükliche Zustand eingetreten war, wo die Gesellschaft der Gläubigen und die der Glaubensbegierigen, das wahre und das falsche, was sich bald wieder auf immer geschieden hätte, bereits vermischt war, denn ehe war nie eine religiöse Gesellschaft groß genug um die Aufmerksamkeit der Herrscher zu erregen — so oft ein Fürst sage ich zu dieser gefährlichsten und verderblichsten aller Handlungen sich verleiten ließ, war das Verderben dieser Kirche unwiderruflich beschloßen und eingeleitet. Wie das furchtbare Medusenhaupt wirkt eine solche Constitutionsakte politischer Existenz auf die religiöse Gesellschaft: alles versteinert sich so wie sie erscheint. Alles nicht Zusammengehörige was nur für einen Augenblik in einander geschlungen war ist nun unzertrennlich aneinander ge-|kettet; alles Zufällige, 212 was leicht hätte abgeworfen werden können ist nun auf immer befestigt; das Gewand ist mit dem Körper aus einem Stük, und jede unschikliche Falte ist

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wie für die Ewigkeit. Die größere und unächte Gesellschaft läßt sich nun nicht mehr trennen von der höheren und kleineren, wie sie doch getrennt werden müßte; sie läßt sich nicht mehr theilen noch auflösen; sie kann weder ihre Form noch ihre Glaubensartikel mehr ändern; ihre Einsichten, ihre Gebräuche, alles ist verdammt in dem Zustande zu verharren in dem es sich eben befand. Aber das ist noch nicht Alles: die Mitglieder der wahren Kirche die mit in ihr enthalten sind, sind von nun an von jedem Antheil an ihrer Regierung so gut als ausgeschloßen mit Gewalt, und außer Stand gesezt das wenige für sie zu thun was noch gethan werden könnte. Denn es giebt nun mehr zu regieren als sie regieren können, und wollen: weltliche Dinge sind jezt zu ordnen und zu besorgen, und wenn sie sich gleich auch darauf verstehn in ihren häuslichen und bürgerlichen Angelegenheiten, so können sie sie doch nicht als eine Sache ihres priesterlichen Amtes behandeln. Das ist ein Widerspruch, der in ihren Sinn nicht eingeht, und mit dem sie sich nie aussöhnen können; es geht | nicht zusammen mit ihrem hohen 213 und reinen Begrif von Religion und religiöser Geselligkeit. Weder für die wahre Kirche, der sie angehören, noch für die größere Gesellschaft, die sie leiten sollen, können sie begreifen, was sie denn nun machen sollen mit den Häusern und Äkern die sie erwerben und den Reichthümern die sie besizen können, und was das helfen soll für ihren Zwek. Sie sind außer Faßung gesezt und verwirrt durch diesen widernatürlichen Zustand; und wenn nun durch dieselbe Begebenheit zugleich Alle die angelokt werden, die sonst immer draußen geblieben sein würden, wenn es nun das Intereße aller Stolzen, Ehrgeizigen und Habsüchtigen und Ränkevollen geworden ist sich einzudrängen in die Kirche, in deren Gemeinschaft sie sonst nur die bitterste Langeweile empfunden hätten, wenn diese nun anfangen Theilnahme an heiligen Dingen und Kunde davon zu heucheln um den weltlichen Lohn davon zu tragen; wie sollen Jene wol ihnen nicht unterliegen? Wer trägt also die Schuld wenn unwürdige Menschen den Plaz der Virtuosen der Heiligkeit einnehmen, und wenn unter ihrer Aufsicht alles sich einschleichen und festsezen darf was dem Geist der Religion am meisten zuwider ist? wer anders als der Staat mit seiner übel ver-|standenen Großmuth. E r ist aber 214 auf eine noch unmittelbarere Art Ursach, daß das Band zwischen der wahren Kirche und der äußern Religionsgesellschaft sich gelöst hat. Denn nachdem er dieser jene unselige Wolthat erwiesen meinte er ein Recht auf ihre thätige Dankbarkeit zu haben, und hat sie belehnt mit drei höchst wichtigen Aufträgen in seinen Angelegenheiten. Der Kirche hat er mehr oder weniger übertragen die Sorge und Aufsicht auf die Erziehung; unter den Auspicien der Religion und in der Gestalt einer Gemeine, will er, daß das

19 erwerben] 50 DV; OD: erworben barere] nnmittelbarere

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Volk unterrichtet werde in den Pflichten, die seine Geseze nicht faßen, und beredet zu sittlichen Gesinnungen; und von der Kraft der Religion und den Unterweisungen der Kirche fordert er, daß sie ihm seine Bürger wahrhaft mache in ihren Aussagen. Und zur Vergeltung für diese Dienste die er begehrt beraubt er sie nun — so ist es ja fast in allen Theilen der gesitteten Welt, wo es einen Staat und eine Kirche giebt — ihrer Freiheit, er behandelt sie als eine Anstalt die er eingesezt und erfunden hat, und freilich ihre Fehler und Mißbräuche sind fast alle seine Erfindung, und er allein maßt sich die Entscheidung darüber an, wer tüchtig sei als Vorbild und als Priester der Religion aufzutreten in dieser Gesellschaft. | Und dennoch wollt Ihr es 215 von der Religion fordern, wenn es nicht alles heilige Seelen sind. Aber ich bin noch nicht am Ende mit meinen Anklagen: sogar in die innersten Mysterien der religiösen Geselligkeit trägt er sein Intereße hinein und verunreinigt sie. Wenn die Kirche in prophetischer Andacht die Neugebohrnen der Gottheit und dem Streben nach dem Höchsten weihet, so will er sie dabei zugleich aus ihren Händen empfangen in die Liste seiner Schuzbefohlenen; wenn sie den Heranwachsenden den ersten Kuß der Brüderschaft giebt, als solchen, die nun den ersten Blik gethan haben in die Heiligthümer der Religion, so soll das auch für ihn das Zeugniß sein von dem ersten Grade ihrer bürgerlichen Selbstständigkeit; wenn sie mit gemeinschaftlichen frommen Wünschen die Verschmelzung zweier Personen heiligt wodurch sie zu Werkzeugen des schaffenden Universums werden, so soll das zugleich seine Sanktion sein für ihr bürgerliches Bündniß; und selbst daß ein Mensch verschwunden ist vom Schauplaz dieser Welt, will er nicht eher glauben, bis sie ihn versichert, daß sie seine Seele wiedergegeben habe dem Unendlichen, und seinen Staub eingeschloßen in den Schooß der heiligen Erde. Es zeigt Ehrfurcht vor der Religion und | ein Bestreben sich immer im Bewußtsein 216 seiner eigenen Schranken zu erhalten, daß er sich so jedesmal beugt vor ihr und ihren Verehrern, wenn er etwas empfängt aus den Händen der Unendlichkeit, oder es wieder abliefert in dieselben: aber wie auch dies alles nur zum Verderben der religiösen Gesellschaft wirkt, ist klar genug. Nichts giebt es nun in allen ihren Einrichtungen, was sich auf die Religion allein bezöge, oder worin sie auch nur die Hauptsache wäre: in den heiligen Reden und Unterweisungen sowol als in den geheimnißvollen und symbolisehen Handlungen ist alles voll von moralischen und politischen Beziehungen, alles ist abgewendet von seinem ursprünglichen Zwek und Begrif. Viele giebt es daher unter ihren Anführern die nichts verstehn von der Religion und viele unter ihren Mitgliedern, denen es nicht in den Sinn kommt sie suchen zu wollen. Daß eine Gesellschaft, welcher so etwas begegnen kann, welche mit einer Demuth Wohlthaten empfängt, die ihr zu nichts dienen, und mit kriechender Bereitwilligkeit Lasten übernimmt die sie ins Verderben stürzen, welche sich mißbrauchen läßt von einer fremden Macht, welche ihre Frei-

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heit und Unabhängigkeit, die ihr doch angebohren ist, fahren läßt für einen leeren | Schein, welche ihren hohen und erhabnen Zwek aufgiebt um Din- 217 gen nachzugehn die ganz außer ihrem Wege liegen, daß dieß nicht eine Gesellschaft von Menschen sein kann, die ein bestimmtes Streben haben und genau wißen, was sie wollen, das denke ich springt in die Augen; und diese kurze Hinweisung auf die Begebenheiten der kirchlichen Gesellschaft ist, denke ich, der beste Beweis davon, daß sie nicht die eigentliche Gesellschaft der religiösen Menschen ist, daß höchstens einige Partikeln von dieser mit ihr vermischt waren, überschüttet von fremden Bestandtheilen, und daß das Ganze, um den ersten Stoff dieses unermeßlichen Verderbens aufzunehmen, schon in einem Zustande krankhafter Gährung sein mußte, in welcher die wenigen gesunden Theile bald gänzlich entwichen. Voll heiligen Stolzes hätte die wahre Kirche Gaben verweigert, die sie nicht brauchen konnte, wol wißend, daß diejenigen welche die Gottheit gefunden haben und sich ihrer gemeinschaftlich erfreuen, in ihrer reinen Geselligkeit in der sie nur ihr innerstes Dasein ausstellen und mittheilen wollen, eigentlich nichts gemein haben, deßen Besiz ihnen geschüzt werden müßte durch eine weltliche Macht, daß sie nichts brauchen auf Erden, und auch nichts brauchen können als ei-|ne Sprache um sich zu verstehn, und einen Raum um 218 bei einander zu sein, Dinge zu denen sie keiner Fürsten und ihrer Gunst bedürfen. Wenn es aber doch eine vermittelnde Anstalt geben soll, durch welche die wahre Kirche in eine gewiße Berührung kommt mit der profanen Welt mit der sie unmittelbar nichts zu schaffen hat, gleichsam eine Atmosphäre durch welche sie sich zugleich reinigt und auch neuen Stoff an sich zieht und bildet: welche Gestalt soll diese Gesellschaft denn annehmen, und wie wäre sie zu befreien von dem Verderben welches sie eingesogen hat? Das Lezte bleibe der Zeit zu beantworten überlaßen: es giebt zu Allem was irgend einmal geschehen muß tausend verschiedene Wege, und für alle Krankheiten der Menschheit mannigfaltige Heilarten: jede wird an ihrem O r t versucht werden und zum Ziele führen. N u r dies Ziel sei mir erlaubt anzudeuten, um Euch desto klarer zu zeigen daß es auch hier nicht die Religion und ihr Streben gewesen ist, worauf Euer Unwille sich geworfen hat.

Der eigentliche Hauptbegriff davon ist doch dieser, daß denjenigen die 35 in einem gewißen Grade Sinn für die Religion haben, die aber weil sie in ihnen noch nicht zum Ausbruch und zum | Bewußtsein gekommen ist, 219 noch nicht fähig sind der wahren Kirche einverleibt zu werden, absichtlich soviel Religion gezeigt werde, daß dadurch ihre Anlage für dieselbe nothwendig entwikelt werden muß. Laßt uns sehen was eigentlich verhindert

4 haben] habeu

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daß dies in der gegenwärtigen Lage der Dinge nicht geschehen kann. — Ich will nicht noch einmal daran erinnern, daß der Staat jezt diejenigen, die in dieser Gesellschaft Anführer und Lehrer sind — nur ungern bediene ich mich aus Mangel dieses Worts welches für das Geschäft sich nicht schikt — nach seinen Wünschen auswählt, die mehr auf Beförderung der übrigen Angelegenheiten, die er mit dieser Anstalt verbunden hat, gerichtet sind; daß man ein höchst verständiger Pädagog und ein sehr reiner treflicher M o ralist sein kann ohne von der Religion das bitterste zu verstehn; und daß es daher Vielen, die er unter seine würdigsten Diener in dieser Anstalt zählt, leicht ganz daran fehlen mag; ich will annehmen, Alle die er einsezt wären wirklich Virtuosen in der Religion: so würdet Ihr doch zugeben, daß kein Künstler seine Kunst einer Schule mit einigem Erfolg mittheilen kann wenn nicht unter den Lehrlingen eine gewiße Gleichheit der Vorkenntniße Statt findet; und doch ist diese in je-|der Kunst wo der Schüler seine Fortschritte 220 durch Uebungen macht, und der Lehrer vornemlich durch Kritik nüzlich ist, minder nothwendig als in der Religion wo der Meister nichts thun kann als zeigen und darstellen. Hier muß alle seine Arbeit vergeblich sein, wenn nicht Allen daßelbe, nicht nur verständlich, sondern auch angemeßen und heilsam ist. Nicht also in Reihe und Glied, wie sie ihm zugezählt sind nach einer alten Vertheilung, nicht wie ihre Häuser neben einander stehn, oder wie sie verzeichnet sind in den Listen der Polizei, muß der heilige Redner seine Zuhörer bekommen, sondern nach einer gewißen Ähnlichkeit der Fähigkeiten und der Sinnesart. — Laßt aber auch nur solche sich bei Einem Meister versammeln die der Religion gleich nahe sind, so sind sie es doch nicht auf gleiche Weise, und es ist höchst widersinnig irgend einen Lehrling auf einen bestimmten Meister beschränken zu wollen, weil es irgend einen solchen Virtuosen in der Religion geben kann welcher im Stande wäre J e dem der ihm vorkommt durch seine Darstellung und Rede den verborgenen Keim der Religion ans Licht zu loken. Gar zu viel umfaßend ist ihr Gebiet. Erinnert Euch der verschiedenen Wege auf denen der Mensch — von der Anschauung des | Endlichen zu der des Unendlichen übergeht, und daß da- 221 durch seine Religion einen eignen und bestimmten Charakter annimmt; denkt an die verschiedene Modifikationen unter denen das Universum angeschaut werden kann und an die tausend einzelnen Anschauungen und die verschiedenen Arten wie diese zusammengestellt werden mögen um einander wechselseitig zu erleuchten; bedenkt daß Jeder, der Religion sucht, sie unter der bestimmten Form antreffen muß, die seinen Anlagen und seinem Standpunkt angemeßen ist, wenn die seinige dadurch wirklich aufgeregt werden sollte: so werdet Ihr finden daß es Jedem Meister unmöglich sein

8 bitterste] Kj mindeste

15 Uebungen] Üebungen

23 aber] so DV; OD: über

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muß Allen Alles und Jedem das zu werden was er bedarf, weil unmöglich Einer zugleich ein Mystiker, ein physischer Gottesgelehrter und ein heiliger Künstler sein kann, zugleich ein Deist und ein Pantheist, zugleich ein Meister in Weißagungen, Visionen und Gebeten, und in Darstellungen aus Geschichte und Empfindung, und noch vieles andere, wenn es nur möglich wäre alle die herrlichen Zweige aufzuzählen in welche der himmlische Baum der priesterlichen Kunst seine Krone vertheilte. Meister und Jünger müßen einander in vollkommener Freiheit aufsuchen und wählen dürfen, sonst ist Einer für den Andern | verloren; Jeder muß suchen dürfen was ihm 222 frommt, und Keiner genöthigt sein mehr zu geben als das, was er hat und versteht. — Wenn aber auch Jeder nur das lehren soll was er versteht, so kann er ja auch das nicht, sobald er zugleich, ich meine in derselben Handlung, noch etwas anders thun soll. Es kann keine Frage darüber sein, ob nicht ein priesterlicher Mensch seine Religion darstellen, sie mit Fleiß und Kunst, wie sichs gebührt, darstellen, und zugleich noch irgend ein bürgerliches Geschäft treu und in großer Vollkommenheit ausrichten könne. Warum also sollte nicht auch, wenn es sich eben so schikt, derjenige welcher Profeßion macht vom Priesterthum, zugleich Moralist sein dürfen im Dienst des Staates? Es ist nichts dagegen: nur muß er beides neben einander, und nicht in und durcheinander sein, er muß nicht beide Naturen zu gleicher Zeit an sich tragen und beide Geschäfte in derselben Handlung verrichten sollen. Begnüge sich der Staat, wenn es ihm so gut däucht, mit einer religiösen Moral: die Religion aber verleugnet jeden moralisirenden Propheten und Priester; wer sie verkündigen will der thue es rein. Es widerspräche allem Ehrgeiz eines Virtuosen, wenn ein wahrer Priester sich auf so unwürdige und inconsequen-|te Bedingungen einlaßen wollte mit dem 223 Staat. Wenn dieser andere Künstler in Sold nimmt es sei nun um ihre Talente beßer zu pflegen oder um Schüler zu ziehen, so entfernt er von ihnen alle fremden Geschäfte, und macht es ihnen wol zur Pflicht sich deren zu enthalten, er empfielt ihnen, sich auf den besondern Theil ihrer Kunst vorzüglich zu legen, worin sie am mehresten leisten zu können glauben und läßt da ihrem Genie volle Freiheit; nur an den Künstlern der Religion thut er grade das Gegen theil. Sie sollen das ganze Gebiet ihres Gegenstandes umfaßen, und dabei schreibt er ihnen noch vor von welcher Schule sie sein sollen, und legt ihnen noch unschikliche Lasten auf. Entweder gebe er ihnen auch Muße sich für irgend einen einzelnen Theil der Religion besonders auszubilden, für den sie am meisten gemacht zu sein glauben, und spreche sie von allem übrigen los, oder nachdem er seine moralische Bildungsanstalt für sich angelegt hat, was er doch in jenem Falle auch thun muß, laße er sie ihr Wesen ebenfalls treiben für sich, und kümmere sich gar nicht um die prie-

1 Vgl. 1 Kor 9,22

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sterlichen Werke, die in seinem Gebiet vollendet werden, da er sie doch weder zur Schau noch zum Nuzen braucht, wie etwa andere Künste und Wißenschaften. | Hinweg also mit jeder solchen Verbindung zwischen Kir- 224 che und Staat! — das bleibt mein Catonischer Rathsspruch bis ans Ende, oder bis ich es erlebe sie wirklich zertrümmert zu sehen — Hinweg mit Allem, was einer geschloßenen Verbindung der Laien und Priester unter sich oder mit einander auch nur ähnlich sieht! Lehrlinge sollen ohnedies keinen Körper bilden, man sieht an den mechanischen Gewerben und an den Zöglingen der Musen wie wenig es frommt; aber auch die Priester sollen, als solche meine ich, keine Brüderschaft ausmachen unter sich, sie sollen sich weder ihre Geschäfte noch ihre Kunden zunftmäßig theilen, sondern ohne sich um die Andern zu bekümmern und ohne mit einem in dieser Angelegenheit näher verbunden zu sein als mit dem Andern thue Jeder das Seine; und auch zwischen Lehrer und Gemeine sei kein festes Band. Ein Privatgeschäft ist nach den Grundsäzen der wahren Kirche die Mißion eines Priesters in der Welt; ein Privatzimmer sei auch der Tempel wo seine Rede sich erhebt, um die Religion auszusprechen; eine Versammlung sei vor ihm und keine Gemeine; ein Redner sei er für alle die hören wollen, aber nicht ein Hirt für eine bestimmte Heerde. Nur unter diesen Bedingungen können sich wahrhaft | priesterliche Seelen derjenigen annehmen, welche die Reli- 225 gion suchen; nur so kann diese vorbereitende Verbindung wirklich zur Religion führen, und sich würdig machen als ein Anhang der wahren Kirche und als das Vorzimmer derselben betrachtet zu werden: denn nur so verliert sich alles, was in ihrer jezigen Form unheilig und irreligiös ist. Gemildert wird durch die allgemeine Freiheit der Wahl, der Anerkennung, und des Urtheils der allzuharte und schneidende Unterschied zwischen Priestern und Laien, bis die Beßeren unter diesen dahin kommen wo sie jenes zugleich sind. Auseinander getrieben und zertheilt wird alles was durch die unheiligen Bande der Symbole zusammengehalten ward, wenn es gar keinen Vereinigungspunkt dieser Art mehr giebt, wenn keiner den Suchenden ein System der Religion anbietet, sondern Jeder nur einen Theil, und das ist das einzige Mittel diesen Unfug einmal zu enden. Es ist nur ein schlechter Behelf der frühern Zeit, die Kirche — um auch in diesem schlechtesten aller Sinne das Wort zu brauchen — zu zerschneiden: sie ist eine Polypennatur, aus jedem ihrer Stüke wächst wieder ein Ganzes hervor, und wenn der Be15 den] dem

3—5 Marcus Porcius Cato Censorius (234—149), der mit seinem entschiedenen Eintreten für die altrömischen Sitten sich einen Namen im Kampf gegen Korruption und hellenistische Lebensweise machte, plädierte gegen Ende seines Lehens unermüdlich für die Vernichtung Karthagos (Schlußformel seiner Senatsreden: Ceterum censeo Carthaginem esse delendam). 34 f Vgl. Gedanken I, Nr. 5 (oben 4,14-18)

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grif dem Geist der Religion widerspricht, so sind mehrere Individuen doch um nichts beßer als | wenigere. Näher gebracht wird der allgemeinen Frei- 226 heit und der majestätischen Einheit der wahren Kirche die äußere Religionsgesellschaft nur dadurch, daß sie eine fließende Maße wird, wo es keine Umriße giebt, wo jeder Theil sich bald hie bald dort befindet, und Alles sich friedlich unter einander mengt. Vernichtet wird der gehäßige Sektenund Proselyten-Geist der vom Wesentlichen der Religion immer weiter abführt, nur dadurch, wenn keiner mehr fühlen kann, daß er Einem bestimmten Kreise angehört und ein andersglaubender einem andern. Ihr seht, daß in Rüksicht auf diese Gesellschaft unsere Wünsche ganz dieselben sind: was Euch anstößig ist, steht auch uns im Wege, nur daß es — vergönnt mir immer dies zu sagen — gar nicht in die Reihe der Dinge gekommen sein würde, wenn man Uns allein hätte geschäftig sein laßen in dem, was doch eigentlich unser Werk war. D a ß es wieder hinweggeschaft werde ist unser gemeinschaftliches Intereße. Wie dies unter uns geschehen wird, ob auch nur nach einer großen Erschütterung wie im nachbarlichen Lande, oder ob der Staat durch eine gütliche Ubereinkunft, und ohne daß beide erst sterben um aufzuerstehen, sein mißlungenes Ehebündniß mit der Kirche trennen, oder ob er | nur dulden wird, daß eine andre jungfräu- 227 lichere erscheine neben der welche einmal an ihn verkauft ist, ich weiß es nicht: bis aber etwas von dieser Art geschieht werden von einem harten Geschik alle heiligen Seelen gebeugt, welche von der Glut der Religion durchdrungen auch in dem größeren Kreise der profanen Welt ihr Heiligstes darstellen, und etwas damit ausrichten möchten. Ich will diejenigen welche aufgenommen sind in den vom Staat begünstigten Orden nicht verführen für den innersten Wunsch ihres Herzens große Rechnung auf dasjenige zu machen was sie in diesem Verhältniß redend etwa bewirken könnten. Sie mögen sich hüten immer oder auch nur oft Religion und unvermischt sie nie anders als bei feierlichen Veranlaßungen zu reden um nicht untreu zu werden ihrem moralischen Beruf, zu dem sie gesezt sind. Das aber wird man ihnen laßen müßen, daß sie durch ein priesterliches Leben den Geist der Religion verkündigen können, und dies sei ihr Trost und ihr schönster Lohn. An einer heiligen Person ist alles bedeutend, an einem anerkannten Priester der Religion hat alles einen kanonischen Sinn. So mögen sie denn das Wesen derselben darstellen in allen ihren Bewegungen, nichts möge verloren gehen auch in den | gemeinen Verhältnißen des Lebens von 228 dem Ausdruk eines frommen Sinnes, die heilige Innigkeit mit der sie Alles behandeln zeige, daß auch bei Kleinigkeiten, über die ein profanes Gemüth

8 f bestimmten] bestimmte

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leichtsinnig hinweggleitet, die Musik erhabener Gefühle in ihnen ertöne; die majestätische Ruhe, mit der sie Großes und Kleines gleichsezen, beweise, daß sie Alles auf das Unwandelbare beziehn, und in Allem auf gleiche Weise die Gottheit erbliken; die lächelnde Heiterkeit, mit der sie an jeder Spur der Vergänglichkeit vorübergehen offenbare Jedem, wie sie über der Zeit und über der Welt leben; die gewandteste Selbstverläugnung deute an, wieviel sie schon vernichtet haben von den Schranken der Persönlichkeit; und der immer rege und ofne Sinn, dem das Seltenste und das Gemeinste nicht entgeht, zeige, wie unermüdet sie das Universum suchen und seine Äußerungen belauschen. Wenn so ihr ganzes Leben und jede Bewegung ihrer innern und äußern Gestalt ein priesterliches Kunstwerk ist, so wird vielleicht durch diese stumme Sprache manchen der Sinn aufgehn für das was in ihnen wohnt. Nicht zufrieden aber das Wesen der Religion auszudrüken müßen sie auch eben so den falschen Schein derselben vernichten indem sie mit kind-|licher Unbefangenheit und in der hohen Einfalt eines 229 völligen Unbewußtseins, welches keine Gefahr sieht und keinen Muth zu bedürfen glaubt, über alles hinwegtreten, was grobe Vorurtheile und feine Superstition mit einer unächten Glorie der Göttlichkeit umgeben haben, indem sie sich sorglos wie der kindische Herkules von den Schlangen der heiligen Verläumdung umzischen laßen, die sie eben so still und ruhig in einem Augenblik erdrüken können. Zu diesem heiligen Dienste mögen sie sich weihen bis auf beßere Zeiten, und ich denke Ihr selbst werdet Ehrfurcht haben vor dieser anspruchslosen Würde und Gutes weißagen von ihrer Wirkung auf die Menschen. Was soll ich aber denen sagen, welchen Ihr weil sie einen bestimmten Kreis eitler Wißenschaften nicht auf eine bestimmte Art durchlaufen haben, das priesterliche Gewand versagt? wohin soll ich sie weisen mit dem geselligen Triebe ihrer Religion sofern er nicht allein auf die höhere Kirche sondern auch hinaus gerichtet ist auf die Welt? Da es ihnen fehlt an einem größern Schauplaz wo sie auf eine auszeichnende Art erscheinen könnten, so mögen sie sich genügen laßen an dem priesterlichen Dienst ihrer Hausgötter. Eine Familie kann das gebildetste Element und das treueste Bild des Uni-|versums sein; wenn still und mächtig alles in 230 einander greift, so wirken hier alle Kräfte die das Unendliche beseelen; wenn leise und sicher Alles fortschreitet, so wallet der hohe Weltgeist hier wie dort; wenn die Töne der Liebe alle Bewegungen begleiten, hat sie die Musik der Sphären unter sich. Dieses Heiligthum mögen sie bilden, ordnen und pflegen, klar und deutlich mögen sie es hinstellen in sittlicher Kraft,

19—21 Herakles wird von Zeus in der Gestalt Amphitryons mit dessen Ehefrau Alkmene gezeugt. Die eifersüchtige Hera will Herakles und seinen Zwillingsbruder Iphikles, den Amphitryon in derselben Nacht mit Alkmene gezeugt hat, verderben und schickt deshalb nach der Geburt zwei todbringende Riesenschlangen. Herakles erwürgt beide Schlangen. 24—26 Vgl. Gedanken I, Nr. 1S5 (oben 36,10)

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mit Liebe und Geist mögen sie es auslegen, so wird mancher von ihnen und unter ihnen das Universum anschauen lernen in der kleinen verborgenen Wohnung, sie wird ein Allerheiligstes sein worin mancher die Weihe der Religion empfängt. Dies Priesterthum war das erste in der heiligen und kindlichen Vorwelt, und es wird das lezte sein wenn kein Anderes mehr nöthig ist. Ja wir warten am Ende unserer künstlichen Bildung einer Zeit, wo es keiner andern vorbereitenden Gesellschaft für die Religion bedürfen wird als der frommen Häuslichkeit. Jezt seufzen Millionen von Menschen beider Geschlechter und aller Stände unter dem Druk mechanischer und unwürdiger Arbeiten. Die ältere Generation erliegt unmuthig und überläßt mit verzeihlicher Trägheit die jüngere in allen Din-|gen fast dem Zufall, nur darin 231 nicht, daß sie gleich nachahmen und lernen muß dieselbe Erniedrigung. Das ist die Ursach, warum sie den freien und ofnen Blik nicht gewinnen mit dem allein man das Universum findet. Es giebt kein größeres Hinderniß der Religion als dieses, daß wir unsere eignen Sklaven sein müßen, denn ein Sklave ist Jeder, der etwas verrichten muß, was durch todte Kräfte sollte bewirkt werden können. Das hoffen wir von der Vollendung der Wißenschaften und Künste daß sie uns diese todten Kräfte werden dienstbar machen, daß sie die körperliche Welt, und alles von der geistigen was sich regieren läßt in einen Feenpallast verwandeln werde, wo der Gott der Erde nur ein Zauberwort auszusprechen nur eine Feder zu drüken braucht, wenn geschehen soll was er gebeut. Dann erst wird jeder Mensch ein Freigeborner sein, dann ist jedes Leben praktisch und beschaulich zugleich, über keinem hebt sich der Stekken des Treibers und Jeder hat Ruhe und Muße in sich die Welt zu betrachten. N u r für die Unglüklichen, denen es daran fehlte, deren Organen die Kräfte entzogen waren, welche ihre Muskeln in seinem Dienst unaufhörlich verwenden mußten, war es nöthig daß einzelne Glükliche auftraten, und sie um sich her ver-|sammelten, um ihr 232 Auge zu sein und ihnen in wenigen flüchtigen Minuten die Anschauungen eines Lebens mitzutheilen. In der glüklichen Zeit wenn Jeder seinen Sinn frei üben und brauchen kann, wird beim ersten Erwachen der höheren Kräfte, in der heiligen Jugend unter der Pflege väterlicher Weisheit Jeder der Religion theilhaftig, der ihrer fähig ist; alle einseitige Mittheilung hört dann auf und der belohnte Vater geleitet den kräftigen Sohn nicht nur in eine frölichere Welt und in ein leichteres Leben, sondern auch unmittelbar in die heilige, nun zahlreichere und geschäftigere Versammlung der Anbeter des Ewigen. In dem dankbaren Gefühl, daß wenn einst diese beßere Zeit kommt, wie fern sie auch noch sein möge, auch die Bemühungen denen Ihr Eure

14 warum] warrum

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Tage widmet etwas beigetragen haben werden sie herbeizuführen, vergönnt mir Euch auf die schöne Frucht auch Eurer Arbeit noch einmal aufmerksam zu machen; laßt Euch noch einmal hinführen zu der erhabenen Gemeinschaft wahrhaft religiöser Gemüther, die zwar jezt zerstreut und fast unsichtbar ist, deren Geist aber doch überall waltet, wo auch nur Wenige im Namen der Gottheit versammelt sind. Was daran sollte Euch wohl nicht mit Bewunderung | und Achtung erfüllen, Ihr Freunde und Verehrer alles 233 Schönen und Guten! — Sie sind unter einander eine Akademie von Priestern. Die Religion die ihnen das Höchste ist behandelt Jeder unter ihnen als Kunst und Studium, aus ihrem unendlichen Reichthum ertheilt sie dazu einem Jeden ein eignes Loos. Mit allgemeinem Sinn für Alles, das in ihr heiliges Gebiet gehört, verbindet Jeder, wie es Künstlern gebührt, das Streben sich in irgend einem einzelnen Theile zu vollenden; ein edler Wetteifer herrscht, und das Verlangen etwas darzubringen das einer solchen VerSammlung würdig sei läßt Jeden mit Treue und Fleiß einsaugen Alles was in sein abgestektes Gebiet gehört. In reinem Herzen wird es bewahrt, mit gesammeltem Gemüth wird es geordnet, von himmlischer Kunst wird es geschmükt und vollendet, und so erschallt auf jede Art und aus jeder Quelle Preis und Erkenntniß des Unendlichen indem Jeder die reifsten Früchte seines Sinnens und Schauens, seines Ergreifens und Fühlens mit frölichem Herzen herbei bringt. — Sie sind unter einander ein C h o r von Freunden. Jeder weiß daß auch E r ein Theil und ein W e r k des Universums ist, daß auch in ihm sein göttliches Wirken und Leben sich offenbart. | Als einen 234 würdigen Gegenstand der Anschauung sieht er sich also an für die Übrigen. Was er in sich wahrnimmt von den Beziehungen des Universums, was sich in ihm eigen gestaltet von den Elementen der Menschheit, alles wird aufgedekt mit heiliger Scheu, aber mit bereitwilliger Offenheit, daß Jeder hineingehe und schaue. Warum sollten sie auch etwas verbergen unter einander? Alles menschliche ist heilig, denn alles ist göttlich. — Sie sind unter einander ein Bund von Brüdern — oder habt Ihr einen innigeren Ausdruk für das gänzliche Verschmelzen ihrer Naturen, nicht in Absicht auf das Sein und Wollen, aber in Absicht auf den Sinn und das Verstehen? J e mehr sich Jeder dem Universum nähert, je mehr sich Jeder dem Andern mittheilt, desto vollkommner werden sie Eins, keiner hat ein Bewußtsein für sich, jeder hat zugleich das des Andern, sie sind nicht mehr nur Menschen, sondern auch Menschheit, und aus sich selbst herausgehend, über sich selbst triumfirend sind sie auf dem Wege zur wahren Unsterblichkeit und Ewigkeit.

9 unter] unter unter

5f Vgl. Mt 18,20

14 solchen] solcher

15 Jeden]Jedem

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Habt Ihr etwas erhabeneres gefunden in einem andern Gebiet des menschlichen Lebens oder in einer andern Schule der Weisheit, so theilt es mir mit: das Meinige habe ich Euch gegeben.

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Daß der Mensch in der Anschauung des Universums begriffen ein Gegenstand der Achtung und der Ehrfurcht für Euch Alle sein muß; daß Keiner, der von jenem Zustande noch etwas zu verstehen fähig ist, sich bei der Betrachtung deßelben dieser Gefühle enthalten kann: das ist über allen Zweifel hinaus. Verachten mögt Ihr Jeden, deßen Gemüth leicht und ganz von kleinlichen Dingen angefüllt wird; aber vergebens werdet Ihr versuchen den gering zu schäzen, der das größte in sich saugt und sich davon nährt; — lieben oder haßen mögt Ihr Jeden, je nachdem er auf der beschränkten Bahn der Thätigkeit und der Bildung mit Euch oder Euch entgegen geht: aber auch das schönste Gefühl unter denen, die sich auf Gleichheit gründen, wird nicht in Euch haften können, in Beziehung auf den, | welcher so weit über Euch erhaben ist, als der Beschauer des Universums 236 über Jedem steht, der sich nicht mit ihm in demselben Zustande befindet; — ehren müßt Ihr, so sagen Eure Weisesten, auch wider Willen den Tugendhaften, der nach den Gesezen der sittlichen Natur das Endliche unendlichen Forderungen gemäß zu bestimmen trachtet: aber wenn es Euch auch möglich wäre in der Tugend selbst etwas lächerliches zu finden an dem Kontrast endlicher Kräfte mit dem unendlichen Beginnen, so würdet Ihr doch Demjenigen Achtung und Ehrfurcht nicht versagen können, deßen Organe dem Universum geöfnet sind, und der, fern von jedem Streit und Kontrast, erhaben über jedes Streben, von den Einwirkungen deßelben durchdrungen und Eins mit ihm geworden, wenn Ihr ihn in diesem köstlichen Moment des menschlichen Daseins betrachtet, den himmlischen Strahl unverfälscht auf Euch zurükwirft. O b also die Idee, welche ich Euch gemacht habe vom Innern der Religion, Euch jene Achtung abgenöthigt hat, die ihr falschen Vorstellungen zu Folge und weil Ihr bei zufälligen Dingen verweiltet, so oft von Euch versagt worden ist; ob meine Gedanken über den Zusammenhang dieser Uns Allen inwohnenden Anlage mit dem, |

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was sonst unserer Natur Vortrefliches und Göttliches zugetheilt ist, Euch 237 angeregt haben zu einem innigeren Anschaun unsres Seins und Werdens; ob Ihr aus dem höheren Standpunkt, den ich Euch gezeigt habe, in jener so sehr verkannten erhabneren Gemeinschaft der Geister, wo Jeder den Ruhm seiner Willkühr, den Alleinbesiz seiner innersten Eigenthümlichkeit und ihres Geheimnißes Nichts achtend, sich freiwillig hingiebt um sich anschauen zu laßen als ein Werk des ewigen und Alles bildenden Weltgeistes — ob Ihr in ihr nun das Allerheiligste der Geselligkeit bewundert, das ungleich Höhere als jede irdische Verbindung, das Heiligere als selbst der zarteste Freundschaftsbund sittlicher Gemüther; ob also die ganze Religion in ihrer Unendlichkeit in ihrer göttlichen Kraft Euch hingerißen hat zur Anbetung; darüber frage ich Euch nicht, denn ich bin der Kraft des Gegenstandes gewiß der nur frei gemacht werden durfte, um auf Euch zu wirken. Jezt aber habe ich ein neues Geschäft auszurichten, und einen neuen Widerstand zu besiegen. Ich will Euch gleichsam zu dem Gott, der Fleisch geworden ist hinführen; ich will Euch die Religion zeigen, wie sie sich ihrer Unendlichkeit entäußert hat, und in oft dürftiger Gestalt unter den Men-| sehen erschienen ist; in den Religionen sollt Ihr die Religion entdeken; in 238 dem was irdisch und verunreinigt vor Euch steht die einzelnen Züge derselben himmlischen Schönheit aufsuchen, deren Gestalt ich nachzubilden versucht habe. Wenn Ihr einen Blik auf den gegenwärtigen Zustand der Dinge werft, wo Kirchen und Religionen in ihrer Vielheit fast überall zusammentreffen, und in ihrer Absonderung unzertrennlich verbunden zu sein scheinen, wo es soviel Lehrgebäude und Glaubensbekenntniße giebt als Kirchen und religiöse Gemeinschaften: so könntet Ihr leicht verleitet werden zu glauben, daß in meinem Urtheil über die Vielheit der Kirchen zugleich auch das über die Vielheit der Religionen ausgesprochen sei; Ihr würdet aber darin meine Meinung gänzlich mißverstehen. Ich habe die Vielheit der Kirchen verdämmt: aber eben indem ich aus der Natur der Sache gezeigt habe, daß hier alle Umriße sich verlieren, alle bestimmte Abtheilungen verschwinden und Alles nicht nur dem Geist und der Theilnahme, sondern auch dem wirklichen Zusammenhange nach Ein ungetheiltes Ganzes sein soll, so habe ich überall die Vielheit der Religionen und ihre bestimmteste Verschiedenheit als etwas nothwendiges und unvermeidliches vorausgesezt. Denn | warum 239 sollte die innere, wahre Kirche Eins sein? Damit Jeder anschauen und sich mittheilen laßen könnte die Religion des Andern, die er nicht als seine eigene anschauen kann, und die also als gänzlich von ihr verschieden gedacht wurde. Warum sollte auch die äußere und uneigentlich sogenante Kirche Eins sein? Damit Jeder die Religion in der Gestalt aufsuchen könnte, die

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dem schlummernden Keim der in ihm liegt homogen ist, und dieser mußte also von einer bestimmten Art sein, weil er nur durch dieselbe bestimmte Art befruchtet und erwekt werden kann. Und mit diesen Erscheinungen der Religion konnten nicht etwa nur Ergänzungsstüke gemeint sein, die bloß numerisch und der Größe nach verschieden, wenn man sie zusammenbrächte ein gleichförmiges und dann erst vollendetes Ganze ausgemacht hätten; denn alsdann würde Jeder in seiner natürlichen Fortschreitung von selbst zu demjenigen gelangen, was des anderen ist; die Religion, die er sich mittheilen läßt würde sich in die seinige verwandeln und mit ihr Eins werden, und die Kirche, diese zu Folge der gegebnen Ansicht jedem religiösen Menschen als unentbehrlich sich darstellende Gemeinschaft mit allen Gläubigen, wäre nur eine interimistische und sich selbst durch ihre | eigne Wir- 240 kung nur um so schneller wieder aufhebende Anstalt, wie ich sie doch keinesweges habe denken oder darstellen wollen. So habe ich die Mehrheit der Religionen vorausgesezt, und eben so finde ich sie im Wesen der Religion gegründet. So viel sieht Jeder leicht, daß Niemand die Religion ganz haben kann; denn der Mensch ist endlich und die Religion ist unendlich; aber Euch kann das auch nicht fremd sein, daß sie nicht etwa nur theilweise so viel eben Jeder zu faßen vermag, unter den Menschen zerstükelt sein kann, sondern daß sie sich in Erscheinungen organisiren muß, welche mehr von einander verschieden sind. Erinnert Euch nur an die mehreren Stufen der Religion, auf welche ich Euch aufmerksam gemacht habe, daß nemlich die Religion deßen, der das Universum als ein System betrachtet, nicht eine bloße Fortsezung sein kann von der Ansicht deßen, der es nur erst in seinen scheinbar entgegengesezten Elementen anschaut, und daß dahin wo dieser steht wiederum derjenige nicht auf seinem Wege gelangen kann, dem das Universum noch eine chaotische und ungesonderte Vorstellung ist. Ihr mögt diese Verschiedenheiten nun Arten oder Grade der Religion nennen: so werdet Ihr doch zugeben mü-|ßen, daß sonst überall wo es solche Abtheilungen giebt 241 es auch Individua zu geben pflegt. Jede unendliche Kraft, die sich erst in ihren Darstellungen theilt und sondert, offenbart sich auch in eigenthümlichen und verschiedenen Gestalten. Ganz etwas andres ist es also mit der Vielheit der Religionen, als mit der der Kirchen. Diese freilich sind in ihrer Mehrheit nur Fragmente eines einzigen Individuums, welches für den Verstand völlig als Eins bestimmt und nur für die sinnliche Darstellung in seiner Einheit unerreichbar ist, und was diese einzelnen Fragmente bewog sich für besondere Individuen anzusehn, war immer nur ein Mißverständniß,

6 ausgemacht] ansgemacht 7 hätten] hätte 10 Ansicht] so DV; OD: Absicht 14 Mehrheit] so DV; OD: Wahrheit 26 entgegengesezten] entgegegensezten 30 mü-1 ßen] müs-1 ßen 35 einzigen] einziges

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das auf der Einwirkung eines fremdartigen Princips beruhen mußte: die Religion aber ist ihrem Begrif und ihrem Wesen nach auch für den Verstand ein Unendliches und Unermeßliches; sie muß also ein Princip sich zu individualisiren in sich haben weil sie sonst gar nicht dasein und wahrgenommen werden könnte; eine unendliche Menge endlicher und bestimmter Formen in denen sie sich offenbart müßen wir also postuliren und aufsuchen, und wo wir Etwas finden, was eine solche zu sein behauptet, wie denn jede abgesonderte Religion sich dafür ausgiebt, müßen wir es darauf ansehn ob es diesem | Princip gemäß construirt ist, und müßen uns dann den bestimm- 242 ten Begrif den es darstellen soll klar machen, unter welchen fremden U m hüllungen er auch verstekt, und wie sehr er auch entstellt sei von den Einwirkungen des Vergänglichen zu welchem das Unvergängliche sich herabgelaßen hat, und von der unheiligen Hand der Menschen. — Wollt Ihr von der Religion nicht nur im Allgemeinen einen Begrif haben, und es wäre ja unwürdig, wenn Ihr Euch mit einer so unvollkommenen Kenntniß begnügen wolltet: wollt Ihr sie auch in ihrer Wirklichkeit und in ihren Erscheinungen verstehen: wollt Ihr diese selbst mit Religion anschauen als ein ins Unendliche fortgehendes Werk des Weltgeistes: so müßt Ihr den eitlen und vergeblichen Wunsch, daß es nur Eine geben möchte aufgeben, Euren Widerwillen gegen ihre Mehrheit ablegen, und so unbefangen als möglich zu allen denen hinzutreten, die sich schon in den wechselnden Gestalten und während des auch hierin fortschreitenden Laufes der Menschheit aus dem ewig reichen Schooß des Universums entwikelt haben. Positive Religionen nennt Ihr diese vorhandenen bestimmten religiösen Erscheinungen und sie sind unter diesem Namen schon lange das | O b - 243 jekt eines ganz vorzüglichen Haßes gewesen; dagegen Ihr bei allem Widerwillen gegen die Religion überhaupt etwas anderes das man die natürliche Religion nennt immer leichter geduldet, und sogar mit Achtung davon gesprochen habt. Ich stehe nicht an, Euch sogleich einen Blik in das Innere meiner Gesinnungen hierüber zu vergönnen, indei^n ich für mein Theil gegen diesen Vorzug aufs lauteste protestire, und ihn in Rüksicht aller derer welche überhaupt Religion zu haben und sie zu lieben vorgeben für die gröbste Inconsequenz und die augenscheinlichste Selbstwiderlegung erkläre, aus Gründen denen Ihr gewiß Euren Beifall geben werdet, wenn ich sie werde entwikeln können. Euch hingegen, welchen die Religion überhaupt zuwider war, habe ich es immer sehr natürlich gefunden diesen Unterschied zu machen. Die sogenannte natürliche Religion ist gewöhnlich so abgeschliffen, und hat so philosophische und moralische Manieren, daß sie wenig von dem eigenthümlichen Charakter der Religion durchschimmern läßt, sie weiß so artig zu leben, sich einzuschränken und sich zu fügen, daß

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sie überall wol gelitten ist: dagegen jede positive Religion gar starke Züge und eine sehr markirte Physiognomie hat, so daß sie bei jeder Bewe-|gung 244 welche sie macht und bei jedem Blik, den man auf sie wirft, ohnfehlbar an das erinnert, was sie eigentlich ist. Wenn dies der wahre und innre Grund Eurer Abneigung ist, so wie es der einzige ist, der die Sache selbst trift, so müßt Ihr Euch jezt von ihr losmachen; und ich sollte eigentlich nicht mehr mit ihr zu streiten haben. Denn wenn Ihr nun, wie ich hoffe, ein günstigeres Urtheil über die Religion überhaupt fällt, wenn Ihr einseht, daß ihr eine besondere und edle Anlage im Menschen zum Grunde liegt, die folglich auch wo sie sich zeigt gebildet werden muß: so kann es Euch doch nicht zuwider sein sie in den bestimmten Gestalten anzuschauen in denen sie schon würklich erschienen ist, und Ihr müßt vielmehr diese um so lieber Eurer Betrachtung würdigen, je mehr das Eigenthümliche und Unterscheidende der Religion in ihnen ausgebildet ist. Aber diesen Grund nicht eingestehend werdet Ihr vielleicht alle alten Vorwürfe, die Ihr sonst der Religion überhaupt zu machen gewohnt wäret, jezt auf die einzelnen Religionen werfen, und behaupten daß grade in dem, was Ihr das Positive in der Religion nennt, dasjenige liegen müße, was diese Vorwürfe immer aufs neue veranlaßt und rechtfertigt; Ihr wer-|det läugnen 245 daß sie Erscheinungen der wahren Religion sein können. Ihr werdet mich aufmerksam darauf machen, wie sie alle, ohne Unterschied, voll sind, von dem, was meiner eigenen Aussage nach nicht Religion ist, und daß also ein Princip des Verderbens tief in ihrer Constitution liegen müße; Ihr werdet mich daran erinnern, wie Jede unter ihnen sich für die einzig wahre, und grade ihr Eigenthümliches für das Höchste erklärt; wie sie sich von einander grade durch dasjenige als durch etwas wesentliches unterscheiden, was Jede soviel als möglich von sich hinaus thun sollte; wie sie, ganz gegen die Natur der wahren Religion, beweisen, widerlegen und streiten, es sei nun mit den Waffen der Kunst und des Verstandes oder mit noch fremderen und unwürdigeren; Ihr werdet hinzufügen, daß Ihr grade nun, da Ihr die Religion achtet und für etwas wichtiges anerkennet, ein lebhaftes Intereße daran nehmen müßtet, daß ihr die größte Freiheit sich nach allen Seiten aufs mannigfaltigste auszubilden überall gewährt werde, und daß Ihr also nur um so lebhafter die bestimmten Formen der Religion haßen müßtet, welche Alle, die sich zu ihnen bekennen, an derselben Gestalt fest halten, ihnen die Freiheit ihrer eignen Natur zu folgen ent- ziehen und sie in unnatürliche 246 Schranken einzwängen; und in allen diesen Punkten werdet Ihr mir die Vorzüge der natürlichen Religion vor der positiven kräftig anpreisen. Ich bezeuge noch einmal, daß ich diese Entstellungen nicht läugnen will, und daß ich gegen den Widerwillen, welchen Ihr dagegen empfindet, nichts einwende. Ja ich erkenne in ihnen Allen jene viel beklagte Ausartung und Abweichung in ein fremdes Gebiet, und je göttlicher die Religion selbst ist, um desto weniger will ich ihr Verderben ausschmüken und ihre

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wilden Auswüchse bewundernd pflegen. Aber vergeßt einmal diese doch auch einseitige Ansicht und folgt mir zu einer andern. Bedenkt, wieviel von diesem Verderben auf die Rechnung derer kommt, welche die Religion aus dem Innern des Herzens hervorgezogen haben in die bürgerliche Welt; gesteht daß Vieles überall unvermeidlich ist, sobald das Unendliche eine unvollkommene und beschränkte Hülle annimmt, und in das Gebiet der Zeit und der allgemeinen Einwirkung endlicher Dinge, um sich von ihr beherrschen zu laßen, herabsteigt. Wie tief aber auch dieses Verderben in ihnen eingewurzelt sein mag und wie sehr sie darunter gelitten haben mögen: so bedenkt doch, daß es die eigentliche | religiöse Ansicht aller Dinge ist, auch 247 in dem, was uns gemein und niedrig zu sein scheint, jede Spur des Göttlichen, Wahren und Ewigen aufzusuchen, und auch die entfernteste noch anzubeten; und warum soll grade dasjenige des Vortheils einer solchen Betrachtung entbehren, was die gerechtesten Ansprüche darauf hat religiös gerichtet zu werden? Jedoch Ihr werdet mehr finden als entfernte Spuren der Göttlichkeit. Ich lade Euch ein, jeden Glauben zu betrachten, zu dem sich Menschen bekannt haben, jede Religion die Ihr durch einen bestimmten Namen und Charakter bezeichnet, und die vielleicht nun längst ausgeartet ist in einen Codex leerer Gebräuche, in ein System abstrakter Begriffe und Theorien; und wenn Ihr sie an ihrer Quelle und ihren ursprünglichen Bestandtheilen nach untersucht, so werdet Ihr finden, daß alle die todten Schlaken einst glühende Ergießungen des inneren Feuers waren, daß in Allen Religion enthalten ist, mehr oder minder von dem wahren Wesen derselben wie ich es Euch dargestellt habe; daß Jede eine von den besondern Gestalten war, welche die ewige und unendliche Religion unter endlichen und beschränkten Wesen nothwendig annehmen mußte. Damit Ihr aber nicht aufs Ohngefähr in diesem | unendlichen Chaos herumtappt — denn 248 ich muß Verzicht darauf thun Euch in demselben regelmäßig und vollständig umherzuführen; es wäre das Studium eines Lebens, und nicht das Geschäft eines Gespräches — damit Ihr ohne durch gemeine Begriffe verführt zu werden, nach einem richtigen Maaßstabe den wahren Gehalt und das eigentliche Wesen der einzelnen Religionen abmeßen, und nach bestimmten und festen Ideen das Innere von dem Äußerlichen, das Eigene von dem Erborgten und Fremden, das Heilige von dem Profanen scheiden mögt: so vergeßt fürs erste jede einzelne und das was für ihr charakteristisches Merkmal gehalten wird, und sucht von innen heraus erst zu einer allgemeinen Idee darüber zu gelangen was eigentlich das Wesen einer bestimmten Form der Religion ausmacht, so werdet Ihr finden, daß grade die positiven Religionen diese bestimmten Gestalten sind unter denen die unendliche Religion sich im Endlichen darstellt, und daß die natürliche gar keinen An-

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spruch darauf machen kann etwas ähnliches zu sein, indem sie nur eine unbestimmte dürftige und armselige Idee ist, die für sich nie eigentlich existiren kann; Ihr werdet finden, daß in jenen allein eine wahre individuelle Ausbildung der religiösen Anlage mög-|lich ist, und daß sie, ihrem Wesen 249 nach, der Freiheit ihrer Bekenner darin gar keinen Abbruch thun. Warum habe ich angenommen, daß die Religion nicht anders als in einer unendlichen Menge durchaus bestimmter Formen vollständig gegeben werden kann? N u r aus Gründen welche als ich vom Wesen der Religion sprach entwikelt worden sind. Weil nehmlich jede Anschauung des Unendliehen völlig für sich besteht, von keiner andern abhängig ist und auch keine andere nothwendig zur Folge hat; weil ihrer unendlich viele sind, und in ihnen selbst gar kein Grund liegt, warum sie so und nicht anders eine auf die andere bezogen werden sollten, und dennoch jede ganz anders erscheint, wenn sie von einem andern Punkt aus gesehen, oder auf eine andere bezogen wird, so kann die ganze Religion unmöglich anders existiren als wenn alle diese verschiedne Ansichten jeder Anschauung die auf solche Art entstehen können wirklich gegeben werden; und dies ist nicht anders möglich als in einer unendlichen Menge verschiedner Formen, deren jede durch das verschiedene Princip der Beziehung in ihr durchaus bestimmt, und in deren Jeder derselbe Gegenstand ganz anders modificirt ist, das heißt welche sämmtlich wahre Individuen sind. Wo-|durch werden nun diese Indivi- 250 duen bestimmt und wodurch unterscheiden sie sich von einander? was ist das Gemeinschaftliche in ihren Bestandtheilen, was sie zusammenhält, oder das Anziehungsprincip dem sie folgen? wornach beurtheilt man zu welchem Individuo ein gegebnes religiöses Datum gehören muß? Eine bestimmte Form der Religion kann dies nicht deswegen sein, weil sie etwa ein bestimmtes Quantum religiösen Stoffs enthält. — Dies ist eben das gänzliche Mißverständniß über das Wesen der einzelnen Religionen, welches sich häufig unter ihre Bekenner selbst verbreitet und den Grund zum Verderben gelegt hat. Sie haben eben gemeint, weil doch so viele Menschen sich dieselbe Religion zueignen, so müßten sie auch dieselben religiösen Ansichten und Gefühle, daßelbe Meinen und Glauben haben, und eben dies Gemeinschaftliche müße das Wesen ihrer Religion sein. Es ist überall nicht leicht möglich das eigentliche Charakteristische und Individuelle einer Religion mit Sicherheit zu finden, wenn man es so aus dem Einzelnen abstrahirt; aber hierin, so gemein auch der Begriff ist, kann es doch am wenigsten liegen, und wenn Ihr etwa auch glaubt daß die positiven Religionen deswegen der Freiheit des Einzelnen sei-jne Religion auszubilden nach- 251 35 zu] zn

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theilig sind, weil sie eine bestimmte Summe von religiösen Anschauungen und Gefühlen fordern und andere ausschließen, so seid Ihr im Irrthum. Einzelne Anschauungen und Gefühle sind wie Ihr wißt die Elemente der Religion, und diese nur so quantitativ zu betrachten wie viele ihrer und namentlich was für welche vorhanden sind, das kann uns unmöglich auf den Charakter eines Individuums der Religion führen. Wenn sich die Religion deswegen individualisiren muß, weil von jeder Anschauung verschiedene Ansichten möglich sind je nachdem sie auf die übrigen bezogen wird, so wäre uns freilich mit einem solchen ausschließlichen Zusammenfaßen mehrerer unter ihnen, wodurch ja keine von jenen möglichen Ansichten bestimmt wird, gar nichts geholfen, und wenn die positiven Religionen sich nur durch eine solche Ausschließung unterschieden, so wären sie freilich nicht die individuellen Erscheinungen, welche wir suchen. Daß dies aber in der That nicht ihr Charakter ist erhellt daraus weil es unmöglich ist von diesem Gesichtspunkt aus zu einem bestimmten Begrif von ihnen zu gelangen, und der muß ihnen doch zum Grunde liegen weil sie sonst sehr bald in einander fließen würden. Zum Wesen der Religion ha-|ben wir es gerechnet 252 daß es keinen bestimmten innern Zusammenhang zwischen den verschiedenen Anschauungen und Gefühlen vom Universum giebt, daß Jedes einzelne für sich besteht und durch tausend zufällige Combinationen auf Jedes andre führen kann. Daher ist schon in der Religion jedes einzelnen Menschen, wie sie sich im Lauf seines Lebens bildet, nichts zufälliger als die bestimmte Summe seines religiösen Stoffs. Einzelne Ansichten können sich ihm verdunkeln, andere können ihm aufgehn und sich zur Klarheit bilden, und seine Religion ist von dieser Seite immer beweglich und fließend. Dies Fließende kann also unmöglich das Feststehende und Wesentliche in der mehreren gemeinschaftlichen Religion sein; denn wie höchst zufällig und selten muß es sich nicht ereignen, daß mehrere Menschen auch nur eine Zeit lang in demselben bestimmten Kreise von Anschauungen stehen bleiben, und auf demselben Wege der Gefühle fortgehn. Daher ist auch unter denen die ihre Religion so bestimmen ein beständiger Streit über das, was zu derselben wesentlich gehöre und was nicht; sie wißen nicht was sie als charakteristisch und nothwendig festsezen; was sie als frei und zufällig absondern sollen, sie finden den Punkt nicht aus dem sie das Ganze überse-|hen können, 253 und verstehen die religiöse Erscheinung nicht in der sie selbst zu leben, für die sie zu streiten wähnen und zu deren Ausartung sie beitragen indem sie nicht wißen wo sie stehn und was sie thun. Aber der Instinkt den sie nicht verstehen leitet sie richtiger als ihr Verstand und die Natur hält zusammen was ihre falschen Reflexionen und ihr darauf gegründetes Thun und Treiben vernichten würden. Wer den Charakter einer besondern Religion in einem bestimmten Quanto von Anschauung und Gefühlen sezt, der muß nothwendig einen innern und objektiven Zusammenhang annehmen, der grade diese unter einander verbindet und alle anderen ausschließt, und die-

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ser Wahn ist eben das dem Geist der Religion so ganz entgegengesezte Princip des Systemwesens und des Sektirens, und das Ganze welches sie auf diese Art zu bilden streben, wäre nicht ein solches wie wir es suchen, wodurch die Religion in allen ihren Theilen eine bestimmte Gestalt gewinnt, sondern es wäre ein gewaltsamer Ausschnitt aus dem Unendlichen, nicht eine Religion, sondern eine S e k t e , der irreligiöseste Begrif, den man im Gebiet der Religion kann realisiren wollen. — Aber die Formen welche das Universum hervorgebracht hat und welche wirklich vorhanden | sind, sind 254 auch nicht Ganze von dieser Art. Alles Sektiren es sei nun spekulativ, um einzelne Anschauungen in einen philosophirenden Zusammenhang zu bringen, oder ascetisch um auf ein System und eine bestimmte Succeßion von Gefühlen zu dringen, arbeitet auf eine möglichst vollendete Gleichförmigkeit Aller die an demselben Stük Religion Antheil haben wollen; und wenn es denen die von dieser Wuth angestekt sind, und denen es gewiß an Thätigkeit nicht fehlt, noch nie gelungen ist irgend eine positive Religion bis dahin zu bringen; so werdet Ihr doch gestehen, daß diese, da sie doch auch einmal entstanden sind, und in so fern sie troz jener Angriffe noch existiren, nach einem andern Princip gebildet worden sein und einen andern Charakter haben müßen; J a wenn Ihr an die Zeit denkt, wo sie entstanden sind, so werdet Ihr dies noch deutlicher einsehn: denn Ihr werdet Euch erinnern, daß jede positive Religion während ihrer Bildung und ihrer Blüthe, zu der Zeit also, wo ihre eigenthümliche Lebenskraft am jugendlichsten und frischesten wirkt und also am sichersten erkannt werden kann, sich in einer ganz entgegengesezten Richtung bewegt, nicht sich concentrirend und Vieles aus sich ausschneidend, sondern wachsend nach außen, immer neue Zwei-|ge 255 treibend, und immer mehr religiösen Stöfs sich aneignend und ihrer besondern Natur gemäß ausbildend. Nach jenem falschen Princip also sind sie nicht gestaltet, es ist nicht Eins mit ihrer Natur, es ist ein von außen eingeschlichenes Verderben, und da es ihnen eben so wol zuwider ist, als dem Geist der Religion überhaupt: so kann ihr Verhältniß gegen daßelbe, welches ein immerwährender Krieg ist, eher beweisen als widerlegen daß sie die individuellen Erscheinungen der Religion sind, welche wir suchen. Eben so wenig sind alle die Verschiedenheiten in der Religion überhaupt auf welche ich Euch bisher hie und da aufmerksam gemacht habe, hinreichend eine durchaus und als ein Individuum bestimmte Form hervorzubringen. Jene drei so oft angeführten Arten das Universum anzuschauen als Chaos, als System und in seiner elementarischen Vielheit, sind weit davon entfernt eben so viel einzelne und bestimmte Religionen zu sein. Ihr werdet wißen, daß wenn man einen Begrif eintheilt so viel man will und bis ins Unendliche fort, so kommt man doch dadurch nie auf Individuen, sondern immer nur auf weniger allgemeine Begriffe, die unter jenen enthalten sind, auf Arten und Unterabtheilungen, die wieder eine Menge sehr | ver- 256 schiedener Individuen unter sich begreifen können: um aber den Charakter

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der Einzelwesen selbst zu finden muß man aus dem allgemeinen Begrif und seinen Merkmalen herausgehn. Jene drei Verschiedenheiten in der Religion sind aber in der That nichts anders als eine gewöhnliche und überall wiederkommende Eintheilung des Begrifs der Anschauung. Sie sind also Arten der Religion, aber nicht bestimmte Formen, und das Bedürfniß, weswegen wir diese suchen würde auch dadurch, daß Religion auf diese dreifache Weise vorhanden ist, gar nicht befriediget werden. Einzelne Anschauungen haben wol in einer Jeden von ihnen einen eignen Charakter, und deswegen muß jede bestimmte Form der Religion sich zu Einer von diesen Arten halten: aber eine eigne Beziehung und Lage der verschiedenen Anschauungen gegen einander wird durch sie keinesweges ausschließend bestimmt, und in diesem Betracht bleibt nach dieser Eintheilung Alles noch eben so unendlich und eben so vieldeutig als vorher. — Mehr Schein mögte es vielleicht haben, daß der Personalismus und die ihm entgegengesezte Pantheistische Vorstellungsart in der Religion uns zwei solche individuelle Formen derselben an die Hand gebe; aber Schein ist es doch auch | nur. Diese Vorstel- 257 lungsarten gehen ja durch alle drei Arten der Religion hindurch, und können schon um deswillen keine Individuen sein, weil doch unmöglich ein Individuum drei verschiedene specielle Charaktere in sich vereinigen kann. Bei genauer Betrachtung müßt Ihr aber auch sehen, daß durch sie ebenfalls keine bestimmte Beziehung mehrerer religiöser Anschauungen auf einander gegeben sei. Ja, wenn die Idee von einer persönlichen Gottheit eine einzelne religiöse Anschauung wäre, dann freilich wäre der Personalismus in jeder von den drei Arten der Religion eine völlig bestimmte Form, denn aller religiöse Stoff wird in ihm auf diese Idee bezogen: aber ist denn das? Ist diese Idee eine einzelne Anschauung des Universums, ein einzelner Eindruk von demselben, den etwas bestimmtes Endliches in mir hervorbringt? So müßte ja der Pantheismus, der jenem gegenüber gestellt wird, auch eine sein? so müßte es für beide gewiße bestimmte Wahrnehmungen geben, woraus sie geschöpft würden; und wo sind diese je aufgezeigt worden? so müßte es einzelne Anschauungen der Religion geben die einander entgegengesezt sind, was nicht sein kann. Auch sind diese beiden Vorstellungsarten gar nicht verschiedene Anschauungen des Universums im | Endlichen, nicht 258 Elemente der Religion, sondern verschiedene Arten das Universum, indem es im Endlichen angeschaut wird, zugleich als Individuum zu denken, da denn die eine ihm ein eigenthümliches Bewußtsein beilegt und die andere nicht. Alle einzelnen Elemente der Religion bleiben in Absicht auf ihre gegenseitige Lage eben so unbestimmt, und keine von den vielen Ansichten derselben wird dadurch realisirt daß der eine oder der andere Gedanke sie begleitet; wie Ihr das überall sehn könnt wo etwas religiös und zugleich rein

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deistisch dargestellt sein soll, wo Ihr finden werdet, daß alle Anschauungen und Gefühle, und besonders — welches der Punkt ist, um den sich in dieser Sphäre Alles zu drehen pflegt — die Anschauungen von den Bewegungen der Menschheit im Einzelnen und von der Einheit in dem, was über ihre Willkühr hinaus liegt, in ihrem Verhältniß gegeneinander völlig im Unbestimmten und Vieldeutigen schweben. Sie sind also beide ebenfalls nur allgemeinere Formen, deren Gebiet erst mit den individuellen und bestimmten angefüllt werden soll, und wenn Ihr auch dieses Gebiet dadurch einschränkt daß Ihr sie mit einer von den drei bestimmten Arten der Anschauung einzeln verbindet, so sind auch diese aus verschiedenen | Eintheilungs- 259 gründen des Ganzen zusammengesezte Formen doch nur eigne Unterabtheilungen; aber keinesweges durchaus bestimmte und geschloßene Ganze. Also weder der Naturalismus — ich verstehe darunter die Anschauung des Universums in seiner elementarischen Vielheit ohne die Vorstellung von persönlichem Bewußtsein und Willen der einzelnen Elemente — noch der Pantheismus, weder die Vielgötterei noch der Deismus, sind einzelne und bestimmte Religionen, wie wir sie suchen, sondern nur Arten, in deren Gebiet gar viele eigentliche Individuen sich schon entwikelt haben, und noch mehrere sich entwikeln werden. — Merkt es wol, daß der Pantheismus und der Deismus keine bestimmte Formen der Religion sind, um Eurer natürlichen Religion, wenn sich etwa finden sollte, daß sie nichts ist als dieses, ihren gebührenden Plaz anweisen zu können. Daß ichs kurz sage: ein Individuum der Religion, wie wir es suchen, kann nicht anders zu Stande gebracht werden, als dadurch, daß irgend eine einzelne Anschauung des Universums aus freier Willkühr — denn anders kann es nicht geschehen weil eine jede gleiche Ansprüche darauf hätte — zum Centraipunkt der ganzen Religion gemacht, und Alles darin auf sie be-|zogen wird. Dadurch kommt auf einmal ein bestimmter Geist 260 und ein gemeinschaftlicher Charakter in das Ganze; Alles wird fixirt was vorher vieldeutig und unbestimmt war; von den unendlich vielen verschiednen Ansichten und Beziehungen einzelner Elemente, welche Alle möglich waren, und Alle dargestellt werden sollten, wird durch jede solche Formation Eine durchaus realisirt; alle einzelnen Elemente erscheinen nun von einer gleichnamigen Seite, von der, welche jenem Mittelpunkt zugekehrt ist, und alle Gefühle erhalten eben dadurch einen gemeinschaftlichen Ton und werden lebendiger und eingreifender in einander. N u r in der Totalität aller nach dieser Construction möglichen Formen kann die ganze Religion wirklich gegeben werden, und sie wird also nur in einer unendlichen Succeßion kommender und wieder vergehender Gestalten dargestellt, und nur was in einer von diesen Formen liegt trägt zu ihrer vollendeten Darstellung

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etwas bei. Jede solche Gestaltung der Religion, wo in Beziehung auf eine Centraianschauung Alles gesehen und gefühlt wird, wo und wie sie sich auch bilde, und welches immer diese vorgezogene Anschauung sei, ist eine eigene positive Religion; in Beziehung auf das Ganze eine Häresis — ein Wort das wie-|der zu Ehren gebracht werden sollte — weil etwas höchst 261 willkührliches die Ursach ihrer Entstehung ist; in Rüksicht auf die Gemeinschaft aller Theilhaber und ihr Verhältniß zu dem, der zuerst ihre Religion gestiftet hat, weil er zuerst jene Anschauung im Mittelpunkt der Religion sah, eine eigne Schule und Jüngerschaft. Und wenn nur in und durch solche bestimmte Formen die Religion dargestellt wird, so hat auch nur der, welcher sich mit der seinigen in einer solchen niederläßt, eigentlich einen festen Wohnsiz und daß ich so sage ein aktives Bürgerrecht in der religiösen Welt, nur E r kann sich rühmen zum Dasein und zum Werden des Ganzen etwas beizutragen; nur E r ist eine eigne religiöse Person mit einem Charakter und festen und bestimmten Zügen. Muß also doch Jeder, werdet Ihr ziemlich bestürzt fragen, in deßen Religion eine Anschauung die herrschende ist, zu einer von den vorhandenen Formen gehören? Mit nichten; aber eine Anschauung muß in seiner Religion die herrschende sein, sonst ist sie so gut als Nichts. Habe ich denn von zwei oder drei bestimmten Gestalten geredet, und gesagt daß sie die einzigen bleiben sollen? Unzählige sollen sich ja entwikeln von allen Punkten aus, und derjenige, der | sich nicht in eine von den schon vorhandenen 262 schikt, ich möchte sagen, der nicht im Stande gewesen wäre, sie selbst zu machen, wenn sie noch nicht existirt hätte, der wird gewiß auch zu keiner von ihnen gehören, sondern eine neue machen. Bleibt er allein damit und ohne Jünger: es schadet nicht. Immer und überall existiren Keime desjenigen, was noch zu keinem weiter ausgebreiteten Dasein gelangen kann: aber sie existiren doch, und so existirt auch seine Religion, und hat eben so gut eine bestimmte Gestalt und Organisation, ist eben so gut eine eigene positive Religion als ob er die größte Schule gestiftet hätte. Ihr seht, daß diese vorhandenen Formen keinen Menschen durch ihr früheres Dasein hindern, sich eine Religion seiner eigenen Natur und seinem Sinn gemäß auszubilden. O b er in einer von ihnen wohnen, oder eine eigne erbauen werde, das hängt lediglich davon ab welche Anschauung des Universums ihn zuerst mit rechter Lebhaftigkeit ergreift. Dunkle Ahndungen, welche ohne das Innere des Gemüths zu durchdringen unerkannt wieder verschwinden, und wol jeden Menschen oft und früher umschweben, mögen vom Hörensagen entstehn, und bleiben ohne Beziehung, sind auch nichts individuelles; aber wenn Einem der | Sinn fürs Universum in einem klaren Bewußtsein und in 263 einer bestimmten Anschauung für immer aufgeht, so bezieht er auf diese hernach Alles, um sie her gestaltet sich Alles, durch diesen Moment wird seine Religion bestimmt, und ich hoffe Ihr werdet nicht sagen daß darauf etwas Natürliches oder Ererbtes Einfluß haben könne, und Ihr werdet auch

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nicht meinen, die Religion eines Menschen sei deshalb weniger eigenthümlich und weniger die seinige, wenn sie in einer Gegend liegt wo schon Mehrere versammelt sind. Wenn aber auch Tausende vor ihm, mit ihm und nach ihm ihr religiöses Leben mit derselben Anschauung anfangen, wird es deswegen in Allen daßelbe sein, und wird sich die Religion in Allen gleich bilden? Erinnert Euch doch, daß in jeder bestimmten F o r m der Religion nicht etwa nur eine beschränkte Anzahl von Anschauungen zu derselben Ansicht und Beziehung auf Eine gestattet werden solle, sondern die ganze unendliche Menge derselben: gewährt das nicht einem Jeden Spielraum genug? Ich wüßte nicht, daß es schon einer einzigen gelungen wäre, ihr ganzes Gebiet in Besiz zu nehmen und Alles ihrem Geiste gemäß zu bestimmen und darzustellen: Wenigen nur ist es vergönnt gewesen in der Zeit ihrer Freiheit | und ihres beßeren Lebens nur das Nächste am Mittelpunkt recht auszubil- 264 den und zu vollenden. Die Erndte ist groß, und der Arbeiter sind wenige. Ein unendliches Feld ist eröfnet in jeder dieser Religionen, worin Tausende sich zerstreuen mögen; unbebaute Gegenden genug werden sich dem Auge eines Jeden darstellen, der etwas eigenes zu schaffen und hervorzubringen fähig ist, und heilige Blumen duften und prangen in allen Gegenden wohin noch keiner gedrungen ist um sie zu betrachten und zu genießen. Aber so wenig ist Euer Vorwurf, als ob innerhalb einer positiven Religion der Mensch die seinige nicht mehr eigenthümlich ausbilden könnte, gegründet, daß sie nicht nur, wie Ihr eben gesehen habt, für einen Jeden Raum genug laßen: sondern daß auch grade in so fern der Mensch in eine positive Religion eintritt und aus demselben Grunde, die seinige noch in einem andern Sinne ein besonderes Individuum nicht nur sein kann, sondern auch von selbst werden wird. Betrachtet noch einmal den erhabenen Augenblik in welchem der Mensch überhaupt zuerst in das Gebiet der Religion eintritt. Die erste bestimmte religiöse Ansicht, die in sein Gemüth mit einer solchen Kraft eindringt, daß | durch einen einzigen Reiz sein Organ 265 fürs Universum zum Leben gebracht und von nun an auf immer in Thätigkeit gesezt wird, bestimmt freilich seine Religion; sie ist und bleibt seine Fundamental-Anschauung in Beziehung auf welche er Alles ansehen wird, und es ist im Voraus bestimmt, in welcher Gestalt ihm jedes Element der Religion sobald er es wahrnimmt, erscheinen muß. Das ist die objektive Seite dieses Moments; seht aber auch auf die subjektive: so wie durch ihn in jener Rüksicht seine Religion in so fern bestimmt wird, daß sie zu einem in Rüksicht des unendlichen Ganzen völlig geschloßnen Individuum gehört, aber doch nur als ein unbestimmtes Bruchstük deßelben, denn nur mit mehreren vereint kann es das Ganze darstellen: so wird durch denselben Moment auch seine Religiosität in Rüksicht der unendlichen religiösen A n -

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läge der Menschheit als ein ganz eignes und neues Individuum zur Welt gebracht. Dieser Augenblik ist nemlich zugleich ein bestimmter Punkt in seinem Leben, ein Glied in der ihm ganz eigenthümlichen Reihe geistiger Thätigkeiten, eine Begebenheit, die, wie jede andere, in einem bestimmten Zusammenhange steht mit einem Vorher, einem Jezt und Nachher; und da dieses Vorher und Jezt in Jedem Ein-|zelnen etwas ganz eigenthümliches 266 ist, so wird es das Nachher auch; da sich an diesen Moment, und an den Zustand in welchem er das Gemüth überraschte und an seinen Zusammenhang mit dem früheren dürftigern Bewußtsein das ganze folgende religiöse Leben anknüpft und sich gleichsam genetisch daraus entwikelt: so hat es auch in jedem Einzelnen eine eigene durchaus bestimmte Persönlichkeit, so wie sein menschliches Leben selbst. So wie, indem ein Theil des unendlichen Bewußtseins sich losreißt und als ein endliches an einen bestimmten Moment in der Reihe organischer Evolutionen sich anknüpft, ein neuer Mensch entsteht, ein eignes Wesen, deßen abgesondertes Dasein unabhängig von der Menge und der objektiven Beschaffenheit seiner Begebenheiten und Handlungen, in der Einheit des fortdauernden und an jenen ersten M o ment sich anschließenden Bewußtseins, und in der eigenthümlichen Beziehung jedes Späteren auf ein bestimmtes Früheres, und in dem Einfluß dieses Früheren auf die Bildung des Späteren besteht: so entsteht auch in jenem Augenblik, in welchem ein bestimmtes Bewußtsein des Universums anhebt, ein eignes religiöses Leben, eigen, nicht durch unwiderrufliche Beschränkung auf eine besondere Anzahl und Auswahl von An-|schauungen 267 und Gefühlen, nicht durch die Beschaffenheit des darin vorkommenden religiösen Stoffs, den er mit allen gemein hat, welche mit ihm zu derselben Zeit und in derselben Gegend der Religion geistig geboren sind; sondern durch das, was er mit Keinem gemein haben kann, durch den immerwährenden Einfluß des Zustandes, in welchem sein Gemüth zuerst vom Universum begrüßt und umarmt worden ist, durch die eigene Art wie er die Betrachtung deßelben und die Reflexion darüber verarbeitet, durch den Charakter und T o n , in welchen dies die ganze folgende Reihe seiner religiösen Ansichten und Gefühle hineinstimmt, und welcher sich nie verliert, wie weit er auch hernach in der Anschauung des Universums fortschreitet über das hinaus, was die erste Kindheit seiner Religion ihm darbot. Wie jedes intellektuelle endliche Wesen seine geistige Natur und seine Individualität dadurch beurkundet daß es Euch auf jene Vermählung des Unendlichen mit dem Endlichen als auf seinen Ursprung zurükführt, auf jenes unbegreifliche Faktum über welches hinaus Ihr die Reihe des fendlichen nicht weiter verfolgen könnt, und wobei Eure Fantasie Euch versagt wenn Ihr es aus irgend etwas Früherem, es sei Willkühr oder Natur, erklären wollt: |

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eben so müßt Ihr Jedem ein eigenthümliches geistiges Leben zugestehn, 268 der Euch als Dokument seiner religiösen Individualität ein eben so unbegreifliches Faktum aufzeigt wie auf einmal mitten unter dem Endlichen und Einzelnen das Bewußtsein des Unendlichen und des Ganzen sich ihm entwikelt hat. Jeden, der so den Geburtstag seines geistigen Lebens angeben und eine Wundergeschichte erzählen kann vom Ursprung seiner Religion, die als eine unmittelbare Einwirkung der Gottheit und als eine Regung ihres Geistes erscheint, müßt Ihr auch dafür ansehn daß er etwas eigenes sein und daß etwas besonderes mit ihm gesagt sein soll: denn so etwas geschieht nicht, um eine leere Doublette hervorzubringen im Reich der Religion. Und so wie jedes auf jene Art entstandene Wesen nur aus sich erklärt, und nie ganz verstanden werden kann, wenn Ihr nicht so weit als möglich auf die ersten Äußerungen der Willkühr in den frühesten Zeiten zurükgeht: so ist auch die religiöse Persönlichkeit eines Jeden ein geschloßenes Ganze und ihr Verstehen beruht darauf daß Ihr die ersten Offenbarungen derselben zu erforschen sucht. Darum glaube ich auch, daß es Euch nicht Ernst ist mit dieser ganzen Klage gegen die positiven Religionen; es ist wol nur | ein vor- 269 gefaßter Begrif: denn Ihr seid viel zu sorglos um die Sache als daß Ihr dazu berechtigt sein solltet. Ihr habt wol nie den Beruf gefühlt Euch anzuschmiegen an die wenigen religiösen Menschen, die Ihr vielleicht sehen könnt — obgleich sie immer anziehend und liebenswerth genug sind — um etwa durch das Mikroskop der Freundschaft oder der näheren Kenntniß die ihr wenigstens ähnlich sieht genauer zu untersuchen wie sie fürs Universum und durch daßelbe organisirt sind. Mir, der ich sie fleißig betrachtet habe, der ich sie eben so mühsam aufsuche und mit eben der heiligen Sorgfalt beobachte, welche Ihr den Seltenheiten der Natur widmet, mir ist es oft eingefallen, ob nicht schon das Euch zur Religion führen könnte, wenn Ihr nur Acht darauf gäbet, wie allmächtig die Gottheit den Theil der Seele in welchem sie vorzüglich wohnt, in welchem sie sich in ihren unmittelbaren Wirkungen offenbart und sich selbst beschaut, auch als ihr Allerheiligstes ganz eigen erbaut und absondert von allem was sonst im Menschen gebaut und gebildet wird, und wie sie sich darin durch die unerschöpflichste Mannigfaltigkeit der Formen in ihrem ganzen Reichthum verherrlicht. Ich wenigstens bin immer aufs neue erstaunt über die vielen merkwürdigen Bildüngen auf dem so wenig | bevölkerten Gebiet der Religion, wie sie sich 270 von einander unterscheiden durch die verschiedensten Abstufungen der Empfänglichkeit für den Reiz deßelben Gegenstandes, und durch die größte Verschiedenheit deßen was in ihnen gewirkt wird, durch die Mannigfaltigkeit des Tons den die entschiedene Ubermacht der einen oder der andern Art von Gefühlen hervorbringt und durch allerlei Idiosynkrasien der Reiz-

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barkeit und Eigentümlichkeiten der Stimmung, indem bald Jeder seine eigene Situation hat worin die religiöse Ansicht der Dinge ihn vorzüglich beherrscht. Dann wieder wie der religiöse Charakter des Menschen oft etwas ganz eigenthümliches in ihm ist, wie abgeschieden von Allem was er in seinen übrigen Anlagen entdekt, wie das ruhigste und nüchternste Gemüth hier des stärksten der Leidenschaft ähnlichen Affektes fähig ist; wie der stumpfste Sinn für gemeine und irdische Dinge hier innig fühlt bis zur Wehmuth und klar sieht bis zur Entzükung und Weißagung; wie der schüchternste Muth in allen weltlichen Angelegenheiten von heiligen Dingen und für sie oft bis zum Märtyrerthum laut durch die Welt und das Zeitalter hindurch spricht. Und wie wunderbar oft dieser religiöse Charakter selbst geartet und zusammengesezt ist, Bildung und | Rohheit, Capacität und Beschränkung, Zartheit und Härte in jedem auf eine eigne Weise unter einander gemischt und in einander verschlungen. W o ich alle diese Gestalten gesehen habe? In dem eigentlichen Gebiet der Religion, in ihren bestimmten Formen in den positiven Religionen die Ihr für das Gegentheil verschreit, unter den Heroen und Märtyrern eines bestimmten Glaubens, unter den Schwärmern für bestimmte Gefühle, unter den Verehrern eines bestimmten Lichtes und individueller Offenbarungen, da will ich sie Euch zeigen zu allen Zeiten und unter allen Völkern. Auch ist es nicht anders, nur da können sie anzutreffen sein. So wie kein Mensch als Individuum zur Existenz kommen kann ohne zugleich durch denselben Actus auch in eine Welt, in eine bestimmte Ordnung der Dinge und unter einzelne Gegenstände versezt zu werden; so kann auch ein religiöser Mensch zu seiner Individualität nicht gelangen, er wohne denn durch dieselbe Handlung sich auch ein in irgend eine bestimmte Form der Religion. Beides ist die Wirkung eines und deßelben Momentes, und kann also Eins vom Andern nicht getrennt werden. Wenn eines Menschen ursprüngliche Anschauung des Universums nicht Kraft genug hat sich selbst zum Mittelpunkt | seiner Religion zu machen um den sich Alles in ihr bewegt, so wirkt auch ihr Reiz nicht stark genug um den Prozeß eines eignen und rüstigen religiösen Lebens einzuleiten. Und nun ich Euch diese Rechenschaft abgelegt habe, so sagt mir doch auch wie es in Eurer gerühmten natürlichen Religion um diese persönliche Ausbildung und Individualisirung steht? Zeiget mir doch unter ihren Bekennern auch eine so große Mannigfaltigkeit stark gezeichneter Charaktere! Denn ich muß gestehen, ich selbst habe sie unter ihnen niemals finden können, und wenn Ihr rühmt daß sie ihren Anhängern mehr Freiheit gewähre sich nach eignem Sinn religiös zu bilden, so kann ich mir nichts anders darunter denken als — wie denn das Wort oft so gebraucht wird — die Freiheit auch ungebildet zu bleiben, die Freiheit von jeder Nöthigung nur überhaupt irgend etwas bestimmtes zu sein, zu sehen und zu empfinden. Die Religion spielt doch in ihrem Gemüth eine gar zu dürftige Rolle. Es ist als

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ob sie gar keinen eignen Puls, kein eignes System von Gefäßen, keine eigne Circulation und also auch keine eigne Temperatur, und keine aßimilirende Kraft für sich hätte, und keinen Charakter; sie ist überall mit | ihrer Sittlich- 273 keit und ihrer natürlichen Empfindsamkeit vermischt; in Verbindung mit denen, oder vielmehr ihnen demüthig nachtretend, bewegt sie sich träge und sparsam, und wird nur gelegentlich tropfenweise abgeschieden von jenen zum Zeichen ihres Daseins. Zwar ist mir mancher achtungswerthe und kräftige religiöse Charakter vorgekommen, den die Bekenner der positiven Religionen, nicht ohne sich über das Phänomen zu verwundern, für einen Bekenner der natürlichen ausgaben: aber genau betrachtet erkannten ihn diese nicht mehr für ihres gleichen; er war immer schon etwas von der ursprünglichen Reinheit der Vernunftreligion abgewichen und hatte einiges Willkührliche und Positive in die seinige aufgenommen, was nur Jene nicht erkannten, weil es von dem ihrigen zu sehr verschieden war. Warum mißtrauen sie gleich Jedem der etwas eigenthümliches in seine Religion bringt? Sie wollen eben auch Alle gleichförmig sein — nur entgegengesezt dem Extrem auf der andern Seite, den Sektirern meine ich — gleichförmig im Unbestimmten. So wenig ist an eine besondere persönliche Ausbildung zu denken in der natürlichen Religion, daß ihre ächtesten Verehrer nicht einmal mögen, daß die Religion des Menschen eine eigene Geschich-|te haben 274 und mit einer Denkwürdigkeit anfangen soll. Das ist ihnen schon zu viel: denn Mäßigkeit ist ihre Hauptsache in der Religion, und wer so Etwas von sich zu sagen weiß kommt schon in den üblen Geruch, daß er einen Ansaz habe zum leidigen Fanatismus. Nach und nach soll der Mensch religiös werden, wie er klug und verständig wird und Alles andere was er sein soll; durch den Unterricht und die Erziehung soll ihm das Alles kommen; nichts muß dabei sein was für übernatürlich oder auch nur für sonderbar könnte gehalten werden. Ich will nicht sagen, daß mir das, von wegen des Unterrichts und der Erziehung die Alles sein sollen, den Verdacht beibringt, als sei die natürliche Religion ganz vorzüglich von jenem Übel einer Vermischung, ja gar einer Verwandlung in Philosophie und Moral befallen; aber das ist doch klar, daß sie nicht von irgend einer lebendigen Anschauung ausgegangen sind, und daß auch keine ihr fester Mittelpunkt ist, weil sie gar nichts wißen unter sich, wovon der Mensch auf eine eigne Weise müßte ergriffen werden. Der Glaube an einen persönlichen Gott, das wißen sie selbst, ist nicht das Resultat einer bestimmten einzelnen Anschauung des Universums im Endlichen; darum fragen sie auch Keinen, der ihn | hat, wie 275 er dazu gekommen sei; sondern so wie sie ihn demonstriren wollen, meinen sie auch, er müße Allen andemonstrirt sein. Sonst einen andern und bestimmteren Mittelpunkt, den sie hätten, möchtet Ihr wol schwerlich aufzeigen können. Das Wenige, was ihre magre und dünne Religion enthält steht für sich in unbestimmter Vieldeutigkeit da: sie haben eine Vorsehung überhaupt, eine Gerechtigkeit überhaupt, eine göttliche Erziehung überhaupt;

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alle diese Anschauungen sehen sie gegen einander bald in dieser bald in jener Perspektive und Verkürzung, und sie gelten ihnen bald Dies bald Jenes; oder wenn ja eine gemeinschaftliche Beziehung auf einen Punkt darin anzutreffen ist, so liegt dieser Punkt außerhalb der Religion, und es ist eine Beziehung auf etwas fremdes, darauf daß die Sittlichkeit ja nicht gehindert werde, und daß der Trieb nach Glükseligkeit einige Nahrung erhalte — Dinge wornach wahrhaft religiöse Menschen bei der Construktion der Elemente ihrer Religion niemals gefragt haben, Beziehungen wodurch ihr kärgliches religiöses Eigenthum noch mehr zerstreut und auseinder getrieben wird. Sie hat also für ihre religiösen Anschauungen keine Einheit einer bestimmten Ansicht, diese natürliche Religion, sie ist also auch keine bestimmte | Form, keine eigne individuelle Darstellung der Religion, und die, 276 welche nur sie bekennen, haben keinen bestimmten Wohnsiz in ihrem Reich, sondern sind Fremdlinge, deren Heimath, wenn sie eine haben, woran ich zweifle, anderswo liegen muß. Sie kommt mir vor wie die Maße, welche zwischen den Weltsystemen dünn und zerstreut schweben soll, hier von dem einen, dort von dem andern ein wenig angezogen; aber von keinem stark genug, um in seinen Wirbel fortgerißen zu werden. Wozu sie da ist, mögen die Götter wißen; es müßte denn sein, um zu zeigen, daß auch das Unbestimmte auf gewiße Weise existiren kann. Eigentlich aber ist es doch nur ein Warten auf die Existenz, zu der sie nicht anders kommen könnten, als wenn eine Gewalt stärker als jede bisherige und auf andere Weise sie ergriffe. Mehr kann ich ihnen nicht zugestehn, als die dunkeln Ahndungen, welche jener lebendigen Anschauung vorangehn, die dem Menschen sein religiöses Leben aufthut. Es giebt gewiße dunkle Regungen und Vorstellungen, die gar nicht mit der Persönlichkeit eines Menschen zusammenhängen, sondern gleichsam nur die Zwischenräume derselben ausfüllen, und in Allen gleichförmig eben daßelbe sind: so ist ihre Religion. Höchstens ist sie Naturreli-|gion in dem Sinne wie man auch sonst, wenn 277 man von Naturphilosophie und Naturpoesie redet, den Äußerungen des rohen Instinkts diesen Namen vorsezt, um sie von der Kunst und Bildung zu unterscheiden. Aber auf das Beßere warten sie nicht etwa, und achten es höher im Gefühl es nicht erreichen zu können: sondern sie widersezen sich ihm aus allen Kräften. Das Wesen der natürlichen Religion besteht ganz eigentlich in der Negation alles Positiven und Charakteristischen in der Religion, und in der heftigsten Polemik dagegen. Darum ist sie auch das würdige Produkt des Zeitalters, deßen Stekenpferd eine erbärmliche Allgemeinheit und eine leere Nüchternheit war, die mehr als irgend etwas in allen Dingen der wahren Bildung entgegenarbeitet. Zweierlei haßen sie ganz vorzüglich: sie wollen nirgends beim Außerordentlichen und Unbegreifli-

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chen anfangen; und was sie auch sein und treiben mögen, so soll nirgends eine Schule hervorschmeken. Das ist das Verderben, welches Ihr in allen Künsten und Wißenschaften findet, es ist auch in die Religion gedrungen, und sein Produkt ist dies gehaltleere und formlose Ding. Autochthonen und Autodidakten möchten sie sein in der Religion; aber sie haben nur das Rohe und Un-|gebildete von diesen: das Eigenthümliche hervorzubringen 278 haben sie weder Kraft noch Willen. Sie sträuben sich gegen jede bestimmte Religion welche da ist, weil sie doch zugleich eine Schule ist; aber wenn es möglich wäre, daß ihnen selbst etwas begegnete, wodurch eine eigne Religion sich in ihnen gestalten wollte, würden sie sich eben so heftig dagegen auflehnen, weil doch eine Schule daraus entstehen könnte. U n d so ist ihr Sträuben gegen das Positive und Willkührliche zugleich ein Sträuben gegen Alles Bestimmte und Wirkliche. Wenn eine bestimmte Religion nicht mit einem Faktum anfangen soll, kann sie gar nicht anfangen: denn ein Grund muß doch da sein, und es kann nur ein subjektiver sein, warum irgend etwas hervorgezogen und in die Mitte gestellt wird; und wenn eine Religion nicht eine bestimmte sein soll, so ist sie gar keine, sondern nur loser unzusammenhängender Stoff. Erinnert Euch, was die Dichter von einem Zustande der Seelen vor der Geburt reden: wenn sich eine solche gewaltsam wehren wollte in die Welt zu kommen, weil sie eben nicht Dieser und Jener sein möchte, sondern ein Mensch überhaupt; diese Polemik gegen das Leben ist die Polemik der natürlichen Religion gegen die | positiven, und dies 279 ist der permanente Zustand ihrer Bekenner. Zurük also, wenn es Euch Ernst ist die Religion in ihren bestimmten Gestalten zu betrachten, von dieser erleuchteten zu den verachteten positiven Religionen, wo Alles wirklich, kräftig und bestimmt erscheint; w o jede einzelne Anschauung ihren bestimmten Gehalt und ein eignes Verhältniß zu den übrigen, jedes Gefühl seinen eignen Kreis und seine besondere B e ziehung hat; wo Ihr jede Modifikation der Religiosität irgendwo antreft, und jeden Gemüthszustand in welchen nur die Religion den Menschen versezen kann; wo Ihr jeden Theil derselben irgendwo ausgebildet und jede ihrer Wirkungen irgendwo vollendet findet; wo alle gemeinschaftliche A n stalten und alle einzelne Äußerungen den hohen Werth beweisen, der auf die Religion gelegt wird bis zum Vergeßen alles übrigen; wo der heilige Eifer, mit welchem sie betrachtet, mitgetheilt, genoßen wird, und die kindliche Sehnsucht mit welcher man neuen Offenbarungen himmlischer Kräfte entgegensieht Euch dafür bürgen, daß keines von ihren Elementen, welches von diesem Punkt aus schon wahrgenommen werden konnte, übersehen worden, und keiner von ihren Momenten verschwunden ist ohne ein | Denkmal zurükzulaßen. Betrachtet alle die mannigfaltigen Gestalten, in 280

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welcher jede einzelne Art das Universum anzuschauen schon erschienen ist; laßt Euch nicht zurükschreken weder durch geheimnißvolle Dunkelheit, noch durch wunderbare groteske Züge, und gebet dem Wahn nicht Raum, als möchte Alles nur Fantasie und Dichtung sein: grabet nur immer tiefer, wo Euer magischer Stab einmal angeschlagen hat, Ihr werdet gewiß das Himmlische zu Tage fördern. Aber, daß Ihr ja auch auf das Menschliche seht, was die Göttliche annehmen mußte; daß Ihr ja nicht aus der Acht laßt, wie sie überall die Spuren von der Bildung jedes Zeitalters, von der Geschichte jeder Menschenart an sich trägt, wie sie oft in Knechtsgestalt einhergehen mußte, an ihren Umgebungen und an ihrem Schmuk die Dürftigkeit ihrer Schüler und ihres Wohnsizes zur Schau tragend, damit Ihr gebührend absondert und scheidet; daß Ihr ja nicht übersehet wie sie oft beschränkt worden ist in ihrem Wachsthum, weil man ihr nicht Raum ließ ihre Kräfte zu üben, wie sie oft in der ersten Kindheit kläglich vergangen ist an schlechter Behandlung und an Atrophie. Und wenn Ihr das Ganze umfaßen wollt, so bleibt ja nicht allein bei denen Gestalten der Religion stehn, wel-|che Jahrhunderte lang geglänzt und große Völker beherrscht haben, 281 und durch Dichter und Weise vielfach verherrlicht worden sind: was historisch und religiös das merkwürdigste war, ist oft nur unter Wenige getheilt und dem gemeinen Blik verborgen geblieben. Wenn Ihr aber auch auf diese Art die rechten Gegenstände und diese ganz und vollständig ins Auge faßt, wird es immer noch ein schwieriges Geschäft sein den Geist der Religionen zu entdeken und sie durchaus zu verstehen. Noch einmal warne ich Euch, ihn nicht abstrahiren zu wollen aus dem, was Allen, die eine bestimmte Religion bekennen, gemeinschaftlich ist: Ihr verirrt Euch in tausend vergeblichen Nachforschungen auf diesem Wege, und kommt am Ende immer anstatt des Geistes der Religion auf ein bestimmtes Quantum von Stoff; Ihr müßt Euch erinnern, daß keine je ganz wirklich geworden ist, und daß Ihr sie nicht eher kennt, bis Ihr, weit entfernt sie in einem beschränkten Räume zu suchen, selbst im Stande seid sie zu ergänzen, und zu bestimmen, wie dies und jenes in ihr geworden sein müßte, wenn ihr Gesichtskreis so weit gereicht hätte; Ihr könnt es Euch nicht fest genug einprägen, daß Alles nur darauf ankommt ihre Grundanschauung zu finden, | daß Euch alle Kenntniß vom Einzelnen nichts hilft 282 so lange Ihr diese nicht habt, und daß Ihr sie nicht eher habt bis Ihr alles Einzelne aus Einem erklären könnt. Und selbst mit dieser Regel der Untersuchung, die doch nur ein Prüfstein ist, werdet Ihr tausend Verirrungen ausgesezt sein: Vieles wird Euch entgegenkommen gleichsam absichtlich 27 des Geistes] Kj zum Geiste (so 2.-4.

9 f Vgl. Phil 2,7

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um Euch zu verführen, Vieles wird sich Euch in den Weg stellen, um Euer Auge auf eine falsche Seite zu richten. V o r allen Dingen bitte ich Euch, den Unterschied ja nicht aus den Augen zu laßen zwischen dem, was das Wesen einer einzelnen Religion ausmacht sofern sie eine bestimmte Form und Darstellung derselben überhaupt ist, und dem, was ihre Einheit als Schule bezeichnet und sie als solche zusammenhält. Religiöse Menschen sind durchaus historisch: das ist nicht ihr kleinstes L o b ; aber es ist auch die Quelle großer Mißverständniße. Der Moment in welchem sie selbst von der Anschauung erfüllt worden sind, welche sich zum Mittelpunkt ihrer Religion gemacht hat, ist ihnen immer heilig; er erscheint ihnen als eine unmittelbare Einwirkung der Gottheit, und sie reden nie von dem was ihnen eigenthümlich ist in der Religion, und von der Gestalt die sie in ihnen gewonnen hat, ohne auf ihn | hinzuweisen. Ihr könnt also denken, wie viel heiliger 283 noch ihnen der Moment sein muß, in welchem diese unendliche Anschauung überhaupt zuerst in der Welt als Fundament und Mittelpunkt einer eignen Religion aufgestellt worden ist, da an diesen die ganze Entwikelung dieser Religion in allen Generationen und Individuen sich eben so historisch anknüpft, und doch dieses Ganze der Religion und die religiöse Bildung einer großen Maße der Menschheit etwas unendlich größeres ist, als ihr eignes religiöses Leben und das kleine Fragment dieser Religion, welches sie persönlich darstellen. Dieses Faktum verherrlichen sie also auf alle Weise, häufen darauf allen Schmuk der religiösen Kunst, beten es an, als die reichste und wolthätigste Wunderwirkung des Höchsten, und reden nie von ihrer Religion, stellen nie eins von ihren Elementen auf, ohne es in Verbindung mit diesem Faktum zu sezen und so darzustellen. Wenn also die beständige Erwähnung deßelben alle Äußerungen der Religion begleitet, und ihnen eine eigene Farbe giebt; so ist nichts natürlicher als dieses Faktum mit der Grundanschauung der Religion selbst zu verwechseln; dies hat nur nicht Alle verführt, und die Ansicht fast aller Religionen verschoben. Vergeßt also nie, daß die Grundanschauung einer Religion | nichts sein 284 kann, als irgend eine Anschauung des Unendlichen im Endlichen, irgend ein allgemeines Element der Religion; welches in allen andern aber auch vorkommen darf, und wenn sie vollständig sein sollten, vorkommen müßte, nur daß es in ihnen nicht in den Mittelpunkt gestellt ist. — Ich bitte Euch, nicht Alles, was Ihr bei den Heroen der Religion oder in den heiligen Urkunden findet für Religion zu halten, und den unterscheidenden Geist darin zu suchen. Nicht Kleinigkeiten meine ich damit, wie Ihr leicht denken könnt, noch solche Dinge, die nach jedes Ermeßen der Religion ganz fremd sind; sondern das, was oft mit ihr verwechselt wird. Erinnert Euch wie absichtslos jene Urkunden verfertigt sind, daß unmöglich darauf gesehen werden konnte alles daraus zu entfernen was nicht Religion ist, und bedenkt, wie jene Männer in allerlei Verhältnißen gelebt haben in der Welt, und unmöglich bei jedem Wort, was sie sprachen, sagen konnten: das ist

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nicht Religion, und wenn sie also Weltklugheit und Moral reden, oder Metaphysik und Poesie, so meint nicht das müße auch in die Religion hineingezwängt werden, und darin müße auch ihr Charakter zu suchen sein. Die Moral soll wenigstens überall nur Eine sein,' und nach ihren Verschiedenhei-|ten, welche also immer etwas sind, das hinweggethan werden soll, 285 können sich die Religionen nicht unterscheiden, die nicht überall Eine sein sollen. — Mehr als Alles aber bitte ich Euch, laßt Euch nicht verführen von den beiden feindseligen Principien, die überall, und fast von den ersten Zeiten an, den Geist jeder Religion haben zu entstellen und zu versteken gesucht. Überall hat es sehr bald Solche gegeben, die ihn in einzelnen Lehrsäzen haben umgränzen, und das, was noch nicht ihm gemäß zur Religion gebildet war, von ihr ausschließen wollen, und Solche, die, es sei nun aus Haß gegen die Polemik, oder um die Religion den Irreligiösen angenehmer zu machen, oder aus Unverstand und Unkenntniß der Sache und aus Mangel an Sinn, alles Eigenthümliche als todten Buchstaben verschreien, um aufs Unbestimmte loszugehn. V o r Beiden hütet E u c h : bei steifen Systematikern, bei seichten Indifferentisten werdet Ihr den Geist einer Religion nicht finden; sondern bei denen, die in ihr leben als in ihrem Element, und sich immer weiter in ihr bewegen, ohne den Wahn zu nähren, daß sie sie ganz umfaßen könnten. O b es Euch mit diesen Vorsichtsmaaßregeln gelingen wird, den Geist der Religionen zu ent-|deken? Ich weiß es nicht: aber ich fürchte daß auch 286 Religion nur durch sich selbst verstanden werden kann, und daß Euch ihre besondere Bauart und ihr charakteristischer Unterschied nicht eher klar werden wird, bis Ihr selbst irgend einer angehört. Wie es Euch glüken mag die rohen und ungebildeten Religionen entfernter Völker zu entziffern, oder die vielerlei religiösen Individuen auszusondern, welche in der schönen Mythologie der Griechen und Römer eingewikelt liegen, das läßt mich sehr gleichgültig, mögen ihre Götter Euch geleiten; aber wenn Ihr Euch dem Allerheiligsten nähert, wo das Universum in seiner höchsten Einheit angeschaut wird, wenn Ihr die verschiedenen Gestalten der systematischen Religion betrachten wollt, nicht die ausländischen und fremden, sondern die welche unter uns noch mehr oder minder vorhanden sind: so kann es mir nicht gleichgültig sein, ob Ihr den rechten Punkt findet, von dem Ihr sie ansehen müßt. Zwar sollte ich nur von Einer reden: denn der Judaismus ist schon lange eine todte Religion, und diejenigen, welche jezt noch seine Farbe tragen, sizen eigentlich klagend bei der unverweslichen Mumie, und weinen über sein Hinscheiden und seine traurige Verlaßenschaft. Auch | rede ich 287 nicht deswegen von ihm, weil er etwa der Vorläufer des Christenthums wäre: ich haße in der Religion diese Art von historischen Beziehungen, ihre Nothwendigkeit ist eine weit höhere und ewige, und jedes Anfangen in ihr ist ursprünglich: aber er hat einen so schönen kindlichen Charakter, und

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dieser ist so gänzlich verschüttet, und das Ganze ein so merkwürdiges Beispiel von der Corruption und vom gänzlichen Verschwinden der Religion aus einer großen Maße, in der sie sich ehedem befand. Nehmt einmal alles Politische, und so Gott will, Moralische hinweg, wodurch er gemeiniglich charakterisirt wird; vergeßt das ganze Experiment den Staat anzuknüpfen an die Religion, daß ich nicht sage an die Kirche; vergeßt daß das Judenthum gewißermaßen zugleich ein Orden war, gegründet auf eine alte Familiengeschichte, aufrecht erhalten durch die Priester; seht bloß auf das eigentlich Religiöse darin, wozu dies Alles nicht gehört, und sagt mir, welches ist die überall hindurchschimmernde Idee des Universums? Keine andere, als die von einer allgemeinen unmittelbaren Vergeltung, von einer eigenen Reaction des Unendlichen gegen Jedes einzelne Endliche, das aus der Willkühr hervorgeht, durch ein anderes Endliches, das nicht als aus der | Willkühr hervorgehend angesehen wird. So wird alles betrachtet, Ent- 288 stehen und Vergehen, Glük und Unglük, selbst nur innerhalb der menschlichen Seele wechselt immer eine Äußerung der Freiheit und Willkühr und eine unmittelbare Einwirkung der Gottheit; alle andere Eigenschaften Gottes, welche auch angeschaut werden, äußern sich nach dieser Regel, und werden immer in der Beziehung auf diese gesehen; belohnend, strafend, züchtigend das Einzelne im Einzelnen, so wird die Gottheit durchaus vorgestellt. Als die Jünger einmal Christum fragten: Wer hat gesündiget, diese oder ihre Väter, und er ihnen antwortete: meint Ihr, daß diese mehr gesündigt haben als Andere. — Das war der religiöse Geist des Judenthums in seiner schneidendsten Gestalt, und das war seine Polemik dagegen. Daher der sich überall durchschlingende Parallelismus, der keine zufällige Form ist, und das Ansehn des Dialogischen, welches in Allem was religiös ist, angetroffen wird. Die ganze Geschichte, so wie sie ein fortdauernder Wechsel zwischen diesem Reiz und dieser Gegenwirkung ist, wird sie vorgestellt als ein Gespräch zwischen Gott und den Menschen in Wort und That, und alles was vereinigt ist, ist es nur durch die Gleichheit in dieser Be-|handlung. Daher die Heiligkeit der Tradition in welcher der Zusam- 289 menhang dieses großen Gesprächs enthalten war, und die Unmöglichkeit zur Religion zu gelangen als nur durch die Einweihung in diesen Zusammenhang, und noch in späten Zeiten der Streit unter den Sekten ob sie im Besiz dieses fortgehenden Gesprächs wären. Eben von dieser Ansicht rührt es her, daß in der jüdischen Religion die Gabe der Weißagung so vollkommen ausgebildet ist als in keiner andern; denn im Weißagen sind doch die Christen nur Kinder gegen sie. Diese ganze Idee nemlich ist höchst kindlich, nur auf einen kleinen Schauplaz ohne Verwikelungen berechnet, wo bei einem einfachen Ganzen die natürlichen Folgen der Handlungen nicht

6 - 8 Vgl. Gedanken

I, Nr. 139 (oben 33,1 f )

21f Vgl. Job 9,2

22f Vgl. Lk 13,2

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gestört oder gehindert werden: je weiter aber die Bekenner dieser Religion vorrükten auf den Schauplaz der Welt, unter die Verbindung mit mehreren Völkern, desto schwieriger wurde die Darstellung dieser Idee, und die Fantasie mußte dem Allmächtigen das Wort, welches er erst sprechen wollte, vorwegnehmen, und sich den zweiten Theil deßelben Moments, aus weiter Ferne vors Auge holen und Zeit und Raum dazwischen vernichten. Das ist eine Weißagung, und das Streben darnach mußte nothwendig so lange noch immer eine | Haupterscheinung sein, als es möglich war jene Idee und mit 290 ihr die Religion festzuhalten. Der Glaube an den Meßias war ihre lezte mit großer Anstrengung erzeugte Frucht: ein neuer Herrscher sollte kommen um das Zion w o die Stimme des Herrn verstummet war in seiner Herrlichkeit wieder herzustellen, und durch die Unterwerfung der Völker unter das alte Gesez sollte jener einfache Gang wieder allgemein werden in den Begebenheiten der Welt, der durch ihre unfriedliche Gemeinschaft, durch das Gegeneinandergerichtetsein ihrer Kräfte und durch die Verschiedenheit ihrer Sitten unterbrochen war. Er hat sich lange erhalten, wie oft eine einzelne Frucht, nachdem alle Lebenskraft aus dem Stamm gewichen ist, bis in die rauheste Jahreszeit an einem welken Stiel hängen bleibt und an ihm vertroknet. Der.eingeschränkte Gesichtspunkt gewährte dieser Religion, als Religion, eine kurze Dauer. Sie starb, als ihre heiligen Bücher geschloßen wurden, da wurde das Gespräch des Jehova mit seinem Volk als beendigt angesehen, die politische Verbindung, welche an sie geknüpft war, schleppte noch länger ein sieches Dasein, und ihr Äußeres hat sich noch weit später erhalten, die unangenehme Erscheinung einer | mechanischen Bewegung 291 nachdem Leben und Geist längst gewichen ist. Herrlicher, erhabener, der erwachsenen Menschheit würdiger, tiefer eindringend in den Geist der systematischen Religion, weiter sich verbreitend über das ganze Universum ist die ursprüngliche Anschauung des Christenthums. Sie ist keine andere, als die des allgemeinen Entgegenstrebens alles Endlichen gegen die Einheit des Ganzen, und der Art wie die Gottheit dieses Entgegenstreben behandelt, wie sie die Feindschaft gegen sich vermittelt, und der größer werdenden Entfernung Grenzen sezt durch einzelne Punkte über das Ganze ausgestreut, welche zugleich Endliches und Unendliches, zugleich Menschliches und Göttliches sind. Das Verderben und die Erlösung, die Feindschaft und die Vermittlung, das sind die beiden unzertrennlich mit einander verbundenen Seiten dieser Anschauung, und durch sie wird die Gestalt alles religiösen Stoffs im Christenthum und seine ganze Form bestimmt. Die physische Welt ist abgewichen von ihrer Vollkommenheit und unvergänglichen Schönheit mit immer verstärkten Schritten; aber alles Übel, selbst das, daß das Endliche vergehen muß ehe es den

28 f Vgl. Gedanken I, Nr. 87 (oben 25,8f)

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Kreis seines Daseins vollständig durchlaufen hat ist eine Folge des Willens, des selbst-|süchtigen Strebens der individuellen Natur, die sich überall los- 292 reißt aus dem Zusammenhange mit dem Ganzen um etwas zu sein für sich; auch der T o d ist gekommen um der Sünde willen. Die moralische Welt ist vom Schlechten zum Schlimmeren fortschreitend, unfähig etwas hervorzubringen worin der Geist des Universums wirklich lebte, verfinstert der Verstand und abgewichen von der Wahrheit, verderbt das Herz und ermangelnd jedes Ruhmes vor Gott, verlöscht das Ebenbild des Unendlichen in jedem Theile der endlichen Natur. In Beziehung hierauf wird auch die göttliehe Vorsehung in allen ihren Äußerungen angeschaut, nicht auf die unmittelbaren Folgen für die Empfindung gerichtet in ihrem T h u n , nicht das Glük oder Leiden im Auge habend welches sie hervorbringt, nicht mehr einzelne Handlungen hindernd oder fördernd, sondern nur bedacht dem Verderben zu steuern in großen Maßen, zu zerstören ohne Gnade was nicht mehr zurükzuführen ist, und neue Schöpfungen mit neuen Kräften aus sich selbst zu schwängern: so thut sie Zeichen und Wunder die den Lauf der Dinge unterbrechen und erschüttern, so schikt sie Gesandte in denen mehr oder weniger von ihrem eignen Geiste wohnt, um göttliche Kräfte auszugießen un-|ter die Menschen. Eben so wird auch die religiöse Welt vorge- 293 stellt. Auch indem es das Universum anschauen will strebt das Endliche ihm entgegen, sucht immer ohne zu finden und verliert was es gefunden hat, immer einseitig, immer schwankend, immer beim Einzelnen und Zufälligen stehn bleibend, und immer noch mehr wollend als anschauen verliert es das Ziel seiner Blike. Vergeblich ist jede Offenbarung. Alles wird verschlungen von irdischem Sinn, alles fortgerißen von dem inwohnenden irreligiösen Princip, und immer neue Veranstaltungen trift die Gottheit, immer herrlichere Offenbarungen gehn durch ihre Kraft allein aus dem Schooße der alten hervor, immer erhabnere Mittler stellt sie auf zwischen sich und den Menschen, immer inniger vereinigt sie in jedem späteren G e sandten die Gottheit mit der Menschheit, damit durch sie und von ihnen die Menschen lernen mögen das ewige Wesen erkennen, und nie wird dennoch gehoben die alte Klage, daß der Mensch nicht vernimmt, was vom Geiste Gottes ist. Dieses, daß das Christenthum in seiner eigentlichsten Grundanschauung am meisten und liebsten das Universum in der Religion und ihrer Geschichte anschaut, daß es die Religion selbst als Stoff für die Religion verarbeitet, und so gleichsam | eine höhere Potenz derselben ist, das macht 294 das unterscheidendste seines Charakters, das bestimmt seine ganze F o r m . Eben weil es ein irreligiöses Princip als überall verbreitet voraussezt, weil 31 Wesen] Kj Wesen zu

4 Vgl. Rom 5,12

32 f Vgl. 1 Kor 2,14

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dies einen wesentlichen Theil der Anschauung ausmacht auf welche Alles übrige bezogen wird, ist es durch und durch polemisch. — Polemisch in seiner Mittheilung nach außen, denn um sein innerstes Wesen klar zu machen, muß es jedes Verderben, es liege in den Sitten oder in der Denkungsart, vor allen Dingen aber das irreligiöse Princip selbst überall aufdeken. Ohne Schonung entlarvt es daher jede falsche Moral, jede schlechte Religion, jede unglükliche Vermischung von beiden wodurch ihre beiderseitige Blöße bedekt werden soll, in die innersten Geheimniße des verderbten Herzens dringt es ein und erleuchtet mit der heiligen Fakel eigner Erfahrung jedes Übel das im Finstern schleicht. So zerstörte es — und dies war fast seine erste Bewegung — die lezte Erwartung seiner nächsten Brüder und Zeitgenoßen, und nannte es irreligiös und gottlos eine andere Wiederherstellung zu wünschen oder zu erwarten als die zur beßeren Religion, zur höheren Ansicht der Dinge, und zum ewigen Leben in G o t t . Kühn führt es die Heiden hinweg über die Trennung die | sie gemacht hatten zwischen 295 dem Leben und der Welt der Götter und der Menschen. W e r nicht in dem Ewigen lebt, webt und ist, dem ist er völlig unbekannt, wer dies natürliche Gefühl, wer diese innere Anschauung verloren hat unter der Menge sinnlicher Eindrüke und Begierden, in deßen beschränkten Sinn ist noch keine Religion gekommen. So rißen sie überall auf die übertünchten Gräber und brachten die Todtengebeine ans Licht, und wären sie Philosophen gewesen, die ersten Helden des Christenthums, sie hätten eben so polemisirt gegen das Verderben der Philosophie. Nirgends gewiß verkannten sie die Grundzüge des göttlichen Ebenbildes, in allen Entstellungen und Entartungen sahen sie gewiß den himmlischen Keim der Religion; aber als Christen war ihnen die Hauptsache die Entfernung vom Universum, die einen Mittler bedarf, und so oft sie Christenthum sprachen gingen sie nur darauf. — P o lemisch ist aber auch das Christenthum, und das eben so scharf und schneidend, innerhalb seiner eignen Grenzen, und in seiner innersten Gemeinschaft der Heiligen. Nirgends ist die Religion so vollkommen idealisirt, als im Christenthum und durch die ursprüngliche Voraussezung deßelben; und eben damit zugleich ist immerwährendes Polemisiren | gegen Alles 296 Wirkliche in der Religion als eine Aufgabe hingestellt, der nie völlig Genüge geleistet werden kann. Eben weil überall das irreligiöse Princip ist und wirkt, und weil alles Wirkliche zugleich als unheilig erscheint, ist eine unendliche Heiligkeit das Ziel des Christenthums. Nie zufrieden mit dem Erlangten sucht es auch in seinen reinsten Anschauungen, auch in seinen heiligsten Gefühlen noch die Spuren des Irreligiösen, und der dem Universum entgegengesezten und von ihm abgewandten Tendenz alles Endlichen. Im Ton der höchsten Inspiration kritisirt einer der ältesten heiligen Schrift-

2 Vgl. Gedanken I, Nr. 141 (oben 33,6 f) 10 Vgl. Ps 91,6

16f Vgl. Apg 17,28 20f Vgl. Mt 23,27

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steller den religiösen Zustand der Gemeinen, in einfältiger Offenheit reden die hohen Apostel von sich selbst, und so soll Jeder in den heiligen Kreis treten nicht nur begeistert und lehrend, sondern auch in Demuth das Seinige der allgemeinen Prüfung darbringend, und nichts soll geschont werden auch das Liebste und Theuerste nicht, nichts soll je träge bei Seite gelegt werden, auch das nicht was am allgemeinsten anerkannt ist. Daßelbe, was exoterisch heilig gepriesen und als das Wesen der Religion aufgestellt ist vor der Welt, ist immer noch esoterisch einem strengen und wiederholten G e richt unterworfen, damit immer mehr unreines abgeschieden werde, und der Glanz der | himmlischen Farben immer ungetrübter erscheine an allen 297 Anschauungen des Unendlichen. Wie Ihr in der Natur seht, daß eine zusammengesezte Maße, wenn sie ihre chemischen Kräfte gegen etwas außer ihr gerichtet gehabt hat, sobald dies überwunden, oder das Gleichgewicht hergestellt ist, in sich selbst in Gährung geräth, und dies und jenes aus sich abscheidet: so ist es mit einzelnen Elementen und mit ganzen Maßen des Christenthums; es wendet zulezt seine polemische Kraft gegen sich selbst, immer besorgt durch den Kampf mit der äußern Irreligion etwas fremdes eingesogen, oder gar ein Princip des Verderbens noch in sich zu haben, scheut es auch die heftigsten innerlichen Bewegungen nicht um es auszustoßen. Dies ist die in seinem Wesen gegründete Geschichte des Christenthums. Ich bin nicht gekommen Friede zu bringen sondern das Schwerdt, sagt der Stifter deßelben, und seine sanfte Seele kann unmöglich gemeint haben, daß er gekommen sei, jene blutigen Bewegungen zu veranlaßen, die dem Geist der Religion so völlig zuwider sind: oder jene elenden Wortstreite die sich auf den todten Stoff beziehn, den die lebendige Religion nicht aufnimmt: nur diese heiligen Kriege, die aus dem Wesen seiner Lehre nothwendig entstehen, hat er vorausgesehn, und in-|dem er sie voraussah, be- 298 fohlen. — Aber nicht nur die Beschaffenheit der einzelnen Elemente des Christenthums ist dieser beständigen Sichtung unterworfen; auch auf ihr ununterbrochenes Dasein und Leben im Gemüth geht die Unersättlichkeit nach Religion. In jedem Moment, wo das religiöse Princip nicht wahrgenommen werden kann im Gemüth, wird das Irreligiöse als herrschend gedacht; denn nur durch das Entgegengesezte kann das was ist aufgehoben und auf Nichts gebracht werden. Jede Unterbrechung der Religion ist Irreligion; das Gemüth kann sich nicht einen Augenblik entblößt fühlen von Anschauungen und Gefühlen des Universums ohne sich zugleich der Feindschaft und der Entfernung von ihm bewußt zu werden. So hat das Christenthum zuerst und wesentlich die Forderung gemacht, daß die Reli23 gekommen sei,] gekommen, sei

21 Mt 10,34

33 Entgegengesezte] Entgegen gesezte

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giosität ein Continuum sein soll im Menschen, und verschmäht noch mit den stärksten Äußerungen derselben zufrieden zu sein, sobald sie nur gewißen Theilen des Lebens angehören und sie beherrschen soll. Nie soll sie ruhen, und nichts soll ihr so schlechthin entgegengesezt sein, daß es nicht mit ihr bestehen könne; von allem Endlichen sollen wir aufs Unendliche sehen, allen Empfindungen des Gemüthes, woher sie auch entstanden seien, | allen Handlungen auf welche Gegenstände sie sich auch beziehen mö- 299 gen, sollen wir im Stande sein religiöse Gefühle und Ansichten beizugesellen. Das ist das eigentliche höchste Ziel der Virtuosität im Christenthum. Wie nun die ursprüngliche Anschauung desselben, aus welcher alle diese Ansichten sich ableiten, den Charakter seiner Gefühle bestimmt, das werdet Ihr leicht finden. Wie nennt Ihr das Gefühl einer unbefriedigten Sehnsucht die auf einen großen Gegenstand gerichtet ist, und deren Unendlichkeit Ihr Euch bewußt seid? Was ergreift Euch, wo Ihr das Heilige mit dem Profanen, das Erhabene mit dem Geringen und Nichtigen aufs innigste gemischt findet? und wie nennt Ihr die Stimmung, die Euch bisweilen nöthiget diese Mischung überall vorauszusezen, und überall nach ihr zu forschen? Nicht bisweilen ergreift sie den Christen, sondern sie ist der herrschende Ton aller seiner religiösen Gefühle, diese heilige Wehmuth — denn das ist der einzige Name, den die Sprache mir darbietet — jede Freude und jeder Schmerz, jede Liebe und jede Furcht begleitet sie; ja in seinem Stolz wie in seiner Demuth ist sie der Grundton auf den sich Alles bezieht. Wenn Ihr Euch darauf versteht aus einzelnen Zügen das | Innere eines Gemüths 300 nachzubilden, und Euch durch das Fremdartige nicht stören zu laßen, das ihnen Gott weiß woher beigemischt ist: so werdet Ihr in dem Stifter des Christenthums durchaus diese Empfindung herrschend finden; wenn Euch ein Schriftsteller der nur wenige Blätter in einer einfachen Sprache hinterlaßen hat, nicht zu gering ist um Eure Aufmerksamkeit auf ihn zu wenden: so wird Euch aus jedem Worte was uns von seinem Busenfreund übrig ist dieser Ton ansprechen; und wenn je ein Christ Euch in das Heiligste seines Gemüthes hineinbliken ließ: gewiß es ist dieses gewesen. So ist das Christenthum. Seine Entstellungen und sein mannigfaltiges Verderben will ich nicht beschönigen, da die Verderblichkeit alles Heiligen sobald es menschlich wird ein Theil seiner ursprünglichen Weltanschauung ist. Auch will ich Euch nicht weiter in das Einzelne desselben hineinführen; seine Verhandlungen liegen vor Euch, und den Faden glaube ich Euch gegeben zu haben, der Euch durch alle Anomalien hindurchführen, und unbe-

11 bestimmt] bestimmen

30 je] ja

26—30 Das Johannesevangelium schichte Jesu.

war für Schleiermacher

das maßgebliche

Zeugnis der Ge-

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sorgt um den Ausgang Euch die genaueste Ubersicht möglich machen wird. Haltet ihn nur fest, und seht vom ersten Anbeginn an auf Nichts, als auf die Klarheit, die Mannigfaltigkeit und den Reichthum | womit jene erste 301 Grundidee sich entwikelt hat. Wenn ich das heilige Bild deßen betrachte in den verstümmelten Schilderungen seines Lebens, der der erhabene Urheber des Herrlichsten ist, was es bis jezt giebt in der Religion: so bewundere ich nicht die Reinigkeit seiner Sittenlehre, die doch nur ausgesprochen hat, was alle Menschen, die zum Bewußtsein ihrer geistigen Natur gekommen sind, mit ihm gemein haben, und dem weder das Aussprechen noch das Zuerst einen größeren Werth geben kann; ich bewundere nicht die Eigenthümlichkeit seines Charakters, die innige Vermählung hoher Kraft mit rührender Sanftmuth; — jedes erhaben einfache Gemüth in einer besondern Situation muß einen großen Charakter in bestimmten Zügen darstellen; das Alles sind nur menschliche Dinge: aber das wahrhaft Göttliche ist die herrliche Klarheit, zu welcher die große Idee, welche darzustellen er gekommen war, die Idee daß Alles Endliche höherer Vermittlungen bedarf um mit der Gottheit zusammenzuhängen, sich in seiner Seele ausbildete. Vergebliche Verwegenheit ist es den Schleier hinwegnehmen zu wollen, der ihre Entstehung in ihm verhüllt, und verhüllen soll, weil aller Anfang in der Religion geheimnißvoll ist. Der vorwizige Frevel, der es | gewagt hat, konnte nur das 302 Göttliche entstellen, als wäre Er ausgegangen von der alten Idee seines Volkes, deren Vernichtung Er nur aussprechen wollte, und in der That in einer zu glorreichen Form ausgesprochen hat, indem er behauptete der zu sein, deßen sie warteten. Laßt uns die lebendige Anschauung des Universums, die seine ganze Seele erfüllte, nur so betrachten, wie wir sie in ihm finden zur Vollkommenheit ausgebildet. Wenn alles Endliche der Vermittlung eines Höheren bedarf um sich nicht immer weiter vom Universum zu entfernen und ins Leere und Nichtige hinausgestreut zu werden, um seine Verbindung mit dem Universum zu unterhalten und zum Bewußtsein derselben zu kommen: so kann ja das Vermittelnde, das doch selbst nicht wiederum der Vermittlung benöthigt sein darf, unmöglich bloß Endlich sein; es muß Beiden angehören, es muß der göttlichen Natur theilhaftig sein, eben so und in eben dem Sinne, in welchem es der Endlichen theilhaftig ist. Was sah er aber um sich als Endliches und der Vermittlung bedürftiges, und wo 20—24 Anspielung vermutlich auf die anonyme Schrift „Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger" (Braunschweig 1778), die Gotthold Ephraim Lessing (1729—1781) mit dem Untertitel „Noch ein Fragment des Wolfenbütteischen Ungenannten" während seines Streites mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze (1717—1786) herausgab und die er dem Manuskript „Apologie oder Schutzschrift der vernünftigen Verehrer Gottes" von Hermann Samuel Reimarus (1694—1768) entnommen hatte. Vgl. ζ. B. dazu: „Demnach hat Jesus wohl wissen können, daß er die Juden durch solche rohe Verkündigung des nahen Himmelreichs, nur zur Hoffnung eines weltlichen Messias erwecken würde; und folglich hat er auch die Absicht gehabt sie dazu zu erwecken." (II § 2, S. 131; Lessing: Werke 7,546)

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war etwas Vermittelndes als Er? Niemand kennt den Vater als der Sohn, und wem Er es offenbaren will. Dieses Bewußtsein von der Einzigkeit seiner Religiosität, von der Ursprüng-|lichkeit seiner Ansicht, und von der 303 Kraft derselben sich mitzutheilen und Religion aufzuregen, war zugleich das Bewußtsein seines Mittleramtes und seiner Gottheit. Als er, ich will nicht sagen der rohen Gewalt seiner Feinde ohne Hofnung länger leben zu können, gegenüber gestellt ward — das ist unaussprechlich gering; aber Er verlaßen, im Begrif auf immer zu verstummen, ohne irgend eine Anstalt zur Gemeinschaft unter den Seinigen wirklich errichtet zu sehn, gegenüber der feierlichen Pracht der alten verderbten Religion, die stark und mächtig erschien, umgeben mit allem was Ehrfurcht einflößte und Unterwerfung heischen kann, mit Allem was Er selbst zu ehren von Kindheit an war gelehrt worden, Er allein von nichts als diesem Gefühl unterstüzt, und Er ohne zu warten jenes Ja aussprach, das größte Wort was je ein Sterblicher gesagt hat: so war dies die herrlichste Apotheose, und keine Gottheit kann gewißer sein als die, welche so sich selbst sezt. — Mit diesem Glauben an sich selbst, wer mag sich wundern, daß er gewiß war nicht nur Mittler zu sein für Viele, sondern auch eine große Schule zu hinterlaßen, die ihre gleiche Religion von der seinigen ableiten würde; so gewiß, daß er Symbole stiftete für sie, ehe sie noch existirte, in der Über-|zeugung, daß dies hinreichen würde sie 304 zur Existenz zu bringen, und daß er noch früher von der Verewigung seiner persönlichen Denkwürdigkeiten unter ihr mit einem prophetischen Enthusiasmus redete. Aber nie hat er behauptet das einzige Objekt der Anwendung seiner Idee, der einzige Mittler zu sein, und nie hat er seine Schule verwechselt mit seiner Religion — er mochte es dulden, daß man seine Mittlerwürde dahin gestellt sein ließ, wenn nur der Geist, das Princip woraus sich seine Religion in ihm und Andern entwikelte nicht gelästert ward — und auch von seinen Jüngern war diese Verwechselung fern. Schüler Johannis, der doch die Grundanschauung Christi nur sehr unvollkommen theilte, sahen sie ohne weiteres als Christen an, und nahmen sie unter die aktiven Mitglieder der Gemeine auf. Und noch jezt sollte es so sein: wer dieselbe Anschauung in seiner Religion zum Grunde legt, ist ein Christ ohne Rüksicht auf die Schule, er mag seine Religion historisch aus sich selbst oder von irgend einem Andern ableiten. Nie hat er die Anschauungen und Gefühle die er selbst mittheilen konnte, für den ganzen Umfang der Religion ausgegeben die von seiner Grundanschauung ausgehn sollte; er hat immer auf die Wahrheit gewiesen, die nach ihm | kommen würde. So auch seine 305 Schüler; sie haben dem heiligen Geist nie Grenzen gesezt, seine unbe7 gegenüber] gegen über

l f Mt 11,27

9 gegenüber] gegen / über

5 - 1 6 Vgl. Mt 26,63f;

Mk 14,61 f ; Lk 22,70

25 f Mittlerwürde] Mittler würde

3 6 f Vgl. z.B. Joh 16,13

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schränkte Freiheit, und die durchgängige Einheit seiner Offenbarungen ist überall von ihnen anerkannt worden; und wenn späterhin, als die erste Zeit seiner Blüthe vorüber war und er auszuruhen schien von seinen Werken, diese Werke, soviel davon in den heiligen Schriften enthalten war, für einen geschloßnen Codex der Religion unbefugterweise erklärt wurden, geschah das nur von denen, welche den Schlummer des Geistes für seinen Tod hielten, für welche die Religion selbst gestorben war, und Alle, die ihr Leben noch in sich fühlten oder in Andern wahrnahmen, haben sich immer gegen dieses unchristliche Beginnen erklärt. Die heiligen Schriften sind Bibel geworden aus eigener Kraft, aber sie verbieten keinem andern Buche auch Bibel zu sein oder zu werden, und was mit gleicher Kraft geschrieben wäre, würden sie sich gern beigesellen laßen. — Dieser unbeschränkten Freiheit, dieser wesentlichen Unendlichkeit zu Folge hat sich denn die Haupt-Idee des Christenthums von göttlichen vermittelnden Kräften auf mancherlei Art ausgebildet, und alle Anschauungen und Gefühle von Ein Wohnungen der göttlichen Natur in der endlichen sind in-|nerhalb deßelben zur Voll- 306 kommenheit gebracht worden. So ist sehr bald die heilige Schrift in der auch die göttliche Natur auf eine eigne Art wohnte, für einen logischen Mittler gehalten worden, um die Erkenntniß der Gottheit zu vermitteln für die endliche und verderbte Natur des Verstandes, und der heilige Geist — in einer späteren Bedeutung des Wortes — für einen ethischen um sich ihr praktisch anzunähern; und eine zahlreiche Parthei der Christen erklärt noch jezt bereitwillig Jeden für ein vermittelndes und göttliches Wesen, der erweisen kann durch ein göttliches Leben oder irgend einen andern Eindruk der Göttlichkeit auch nur für einen kleinen Kreis der Beziehungspunkt aufs Unendliche gewesen zu sein. Andern ist Christus Eins und Alles geblieben, und Andere haben sich selbst oder dies und jenes für sich zu Mittlern erklärt. Wie oft in dem Allen in der Form und Materie gefehlt sein mag; das Princip ist ächt christlich so lange es frei ist. So haben andere Anschauungen und Gefühle sich dargestellt in ihrer Beziehung auf den Mittelpunkt des Christenthums von denen in Christo und in den heiligen Büchern nichts steht, und mehrere werden sich in der Folge darstellen, weil große Gegenden in der Religion noch nicht bearbeitet sind | fürs Christen- 307 thum, und weil es noch eine lange Geschichte haben wird troz Allem was man sagt von seinem baldigen oder schon erfolgten Untergange. Wie sollte es auch untergehn? Der lebendige Geist deßelben schlummert oft und lange, und zieht sich in einem Zustande der Erstarrung in die todte Hülle des Buchstabens zurük: aber er erwacht immer wieder, so oft die wechselnde Witterung in der geistigen Welt seiner Auflebung günstig ist und seine Säfte in Bewegung sezt; und das wird sie noch oft sein. Die

36-38 Vgl. 2 Kor 3,6

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Grundanschauung jeder positiven Religion an sich ist ewig, weil sie ein ergänzender Theil des unendlichen Ganzen ist, in dem Alles ewig sein muß: aber sie selbst und ihre ganze Bildung ist vergänglich; denn jene Grundanschauung grade im Centrum der Religion zu sehen dazu gehört nicht nur eine bestimmte Richtung des Gemüths; sondern auch eine bestimmte Lage der Menschheit, in welcher ja bis jezt allein das Universum eigentlich angeschaut werden kann. Hat diese ihren Kreis durchlaufen, ist die Menschheit so weit fortgerükt in ihrer fortschreitenden Bahn, daß sie nicht mehr wiederkehren kann: so ist auch jene Anschauung, ihrer Würde als Grundanschauung entsezt, und die Religion kann in | dieser Gestalt nicht mehr exi- 308 stiren. Mit allen kindischen Religionen aus jener Zeit wo es der Menschheit am Bewußtsein ihrer wesentlichen Kräfte fehlte, ist dies längst schon der Fall: es ist Zeit sie zu sammeln als Denkmäler der Vorwelt und niederzulegen im Magazin der Geschichte; ihr Leben ist vorüber und kommt nimmer zurük. Das Christenthum über sie alle erhaben, und historischer und demüthiger in seiner Herrlichkeit hat diese Vergänglichkeit seiner Natur ausdrüklich anerkannt: es wird eine Zeit kommen, spricht es, wo von keinem Mittler mehr die Rede sein wird, sondern der Vater Alles in Allem. Aber wann soll diese Zeit kommen? Ich fürchte, sie liegt außer aller Zeit. Die Verderblichkeit alles Großen und Göttlichen in den menschlichen und endlichen Dingen ist die eine Hälfte von der ursprünglichen Anschauung des Christenthums; sollte wirklich eine Zeit kommen wo diese — ich will nicht sagen gar nicht mehr wahrgenommen würde, sondern nur — sich nicht mehr aufdränge? wo die Menschheit so gleichförmig und ruhig fortschritte, daß kaum zu merken wäre, wie sie bisweilen durch einen vorübergehenden widrigen Wind etwas zurükgetrieben wird auf den großen Ozean den sie durchfährt, daß nur der Künstler, der ihren Lauf an den | Gestirnen berech- 309 net es wißen könne, und es den Übrigen nie eine große und merkwürdige Anschauung würde? Ich wollte es, und gern stände ich auf den Ruinen der Religion, die ich verehre. Daß gewiße glänzende und göttliche Punkte der ursprüngliche Siz jeder Verbeßerung dieses Verderbnißes sind, und jeder neuen und näheren Vereinigung des Endlichen mit der Gottheit, dies ist die andere Hälfte: und sollte je eine Zeit kommen, wo diese aus Universum anziehende Kraft so gleich vertheilt wäre unter die große Maße der Menschheit, daß sie aufhörte für sie vermittelnd zu sein? Ich wollte es, und gern hülfe ich jede Größe ebnen, die sich also erhebt: aber diese Gleichheit ist wol weniger möglich als irgend sonst eine. Zeiten des Verderbens stehen allem Irdischen bevor, sei es auch göttlichen Ursprungs, neue Gottesgesendete werden nöthig um mit erhöhter Kraft das Zurükgewichene an sich zu ziehn und das Verderbte zu reinigen mit himmlischem Feuer, und jede sol-

17f Vgl. 1 Kor 15,28

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che Epoche der Menschheit wird die Palingenesie des Christenthumes, und erwekt seinen Geist in einer neuen und schöneren Gestalt. Wenn es nun aber immer Christen geben wird, soll deswegen das Christenthum auch in seiner allgemeinen Verbreitung unendlich und | als 310 die einzige Gestalt der Religion in der Menschheit allein herrschend sein? Es verschmäht diesen Despotismus, es ehrt jedes seiner eignen Elemente genug um es gern auch als den Mittelpunkt eines eignen Ganzen anzuschauen; es will nicht nur in sich Mannigfaltigkeit bis ins Unendliche erzeugen, sondern sie auch außer sich anschauen. Nie vergeßend, daß es den besten Beweis seiner Ewigkeit in seiner eignen Verderblichkeit, in seiner eignen traurigen Geschichte hat, und immer wartend einer Erlösung aus dem Elende von dem es eben gedrükt wird, sieht es gern außerhalb dieses Verderbens andere und jüngere Gestalten der Religion hervor gehn, dicht neben sich, aus allen Punkten, auch von jenen Gegenden her, die ihm als die äußersten und zweifelhaften Grenzen der Religion überhaupt erscheinen. Die Religion der Religionen kann nicht Stoff genug sammeln für die eigenste Seite ihrer innersten Anschauung, und so wie nichts irreligiöser ist als Einförmigkeit zu fordern in der Menschheit überhaupt, so ist nichts unchristlicher als Einförmigkeit zu suchen in der Religion. Auf alle Weise werde das Universum angeschaut und angebetet. U n zählige Gestalten der Religion sind möglich; und wenn es nothwen-|dig ist, 311 daß Jede zu irgend einer Zeit wirklich werde, so wäre wenigstens zu wünschen, daß viele zu jeder Zeit könnten geahndet werden. Die großen M o mente müßen selten sein, wo Alles zusammentrift um Einer unter ihnen ein weit verbreitetes und dauerndes Leben zu sichern, wo dieselbe Ansicht sich in Vielen zugleich und unwiderstehlich entwikle, und sie von demselben Eindruk des Göttlichen durchdrungen werden. D o c h was ist nicht zu erwarten von einer Zeit, welche so offenbar die Grenze ist zwischen zwei verschiedenen Ordnungen der Dinge! Wenn mir erst die gewaltige Krisis vorüber ist kann sie auch einen solchen Moment herbeibringen, und eine ahndende Seele auf den schaffenden Genius gerichtet, könnte jezt schon den Punkt angeben, der künftigen Geschlechtern der Mittelpunkt werden muß für die Anschauung des Universums. Wie dem aber auch sei, und wie lange ein solcher Augenblik noch verziehe; neue Bildungen der Religion müßen hervorgehen, und bald, sollten sie auch lange nur in einzelnen und flüchtigen Erscheinungen wahrgenommen werden. Aus dem Nichts geht immer eine neue Schöpfung hervor, und Nichts ist die Religion fast in Allen der jezigen Zeit, wenn ihr geistiges Leben ihnen in Kraft und Fülle aufgeht. In Vielen wird | sie sich entwikeln aus Einer von unzähligen Veranlaßun- 312 gen, und in neuem Boden zu einer neuen Gestalt sich bilden. N u r daß die Zeit der Zurükhaltung vorüber sei und der Scheu. Die Religion haßt die Einsamkeit, und in ihrer Jugend am meisten, die für Alles die Stunde der Liebe ist, vergeht sie in zehrender Sehnsucht. Wenn sie sich in Euch entwi-

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kelt, wenn Ihr die ersten Spuren ihres Lebens inne werdet, so tretet gleich ein in die Eine und untheilbare Gemeinschaft der Heiligen, die alle Religionen aufnimmt, und in der allein Jede gedeihn kann. Ihr meint, weil diese zerstreut ist und fern, müßtet Ihr denn auch unheiligen Ohren reden? Ihr 5 fragt, welche Sprache geheim genug sei, die Rede, die Schrift, die That, die stille Mimik des Geistes? Jede, antworte ich, und Ihr seht, ich habe die lauteste nicht gescheut. In jeder bleibt das Heilige geheim, und vor den Profanen verborgen. Laßt sie an der Schale nagen, wie sie mögen; aber weigert Uns nicht den Gott anzubeten, der in Euch sein wird.

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Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter (1799)

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