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German Pages 312 [316] Year 2003
Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft Band 4
Romantische Identitätskonstruktionen: Nation, Geschichte und (Auto-)Biographie Glasgower Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft
Herausgegeben von Sheila Dickson und Walter Pape
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2003
Umschlagabbildung: »Caspar David Friedrich: Wanderer über dem Nebelmeer (um 1818), Kunsthalle Hamburg«.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-10857-6
ISSN 1439-7889
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2003 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Walter Pape, Köln Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Nadele Industrie- und Verlagsbuchbinderei, Nehren
Inhalt
Vorwort
VII
N A T I O N A L E IDENTITÄTEN
Dieter Martin Vom Beistand altdeutscher »Biederleute« bei der romantischen Suche nach nationaler Identität
3
Klaus Peter Die alte Bäuerin: Zur Identität des >Volkes< in Brentanos »Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl«
13
Jürgen Knaack Achim von Arnim, die britischen und die preußischen Freiwilligen in den Kriegen gegen Napoleon
31
Renate Moering Reisespuren in Arnims englischen Lyrik-Heften
37
Ritchie Robertson Antisemitismus und Ambivalenz: Zu Achim von Arnims Erzählung »Die Majoratsherren«
51
Holger Schwinn Arnims Orientalinnen
65
BIOGRAPHIE U N D GESCHICHTE
Claudia Nitschke Die Erreichbarkeit von Gemeinschaft: Die Konstruktion von >Volk< und Individualität im »Wintergarten«
89
Yvonne Pietsch Von einem der auszog, das Dienen zu lernen: Arnims Posse »Jann's erster Dienst« und John Lockes Vertragstheorie . . 105
VI
Inhalt
Ulfert Ricklefs »Was war ich? was bin ich? was werde ich?« Identität als Progression: Romantische Identitätskonzepte bei Arnim . . . 117 Sheila Dickson, Christof Wingertszahn »Selig sind Deine Selbsttäuschungen«: Carl Otto Ludwig von Arnim (1779-1861)
139
D I E ERZÄHLERISCHE KONSTRUKTION (AUTO)BIOGRAPHISCHER IDENTITÄT
Michael Andermatt Wer erzählt? Erzähltes Erzählen und Identitätskonstruktion bei Achim von Arnim
163
Gerhard Schulz Anmerkungen zur Interaktion von Leben und Literatur bei Heinrich von Kleist oder: Über die Schwierigkeiten, eine Biographie über Kleist zu schreiben
175
Ricarda Schmidt Biographie, Autobiographie, Fiktion: Die Funktion von Rousseaus »Confessions« für die Konstruktion von Identität in E. T. A. Hoffmanns »Kater Murr«
193
Uwe Japp Die Identität des Künstlers: Arnims Erzählung »Raphael und seine Nachbarinnen«
217
Barbara Becker-Cantarino Erotisierte Freundschaft in der Konstruktion romantischer Identität am Beispiel Bettina von Arnims
229
Wolf Gerhard Schmidt Der Sammler, der Dichter und die verlorene Jugend: Arnims Poetik im Kontext seiner Beschäftigung mit Macphersons »Ossian«
247
Richard Littlejohns Marbot und Wainewright: Zum Verhältnis von Identität und Authentizität in der Biographie
271
Literaturverzeichnis
279
Register
295
Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger
303
Vorwort
»Es frappiert mich selber,« (sagt' ich, als ich mein System während eines Fußbades flüchtig überblickte, und sah bedeutend auf die Fußzehen, deren Nägel man mir beschnitt) »daß ich das All und Universum bin; mehr kann man nicht werden in der Welt als die Welt selber (§ 8) und Gott (§ 3) und die Geisterwelt (§ 8) dazu. [...] Welch ein Wesen, das, sich ausgenommen (denn es wird nur, und ist nie), alles macht, mein absolutes, alles gebärendes, fohlendes, lammendes, heckendes, brechendes, werfendes, setzendes Ich!«
Jean Pauls komische Parodie auf Fichtes Absolutsetzung des Ich in der Clavis Fichtiana zeigt wie in einem Brennspiegel die komplexe Identitätsproblematik, der sich die Romantik auf allen Gebieten zum ersten Mal konsequent stellte. Beim vierten Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft in Glasgow standen Fragen biographischer und nationaler Identität, kultur- und sozialpolitischer Kodifizierung, Fragen von Ausgrenzung und Gemeinschaft zur Debatte. Neben komparatistischen Beiträgen, die sich auf intertextuelle Zusammenhänge konzentrieren, stehen solche, die sich interdisziplinär vor allem mit den historischen, politischen, sozialen und kulturellen Kontexten und deren Mitwirkung bei (autobiographischer, erzählerischer und nationaler Identitätskonstruktion auseinandersetzen. Die Krisenerfahrung der Napoleonischen Kriege stärkte den Rückbezug auf die eigene literarische Tradition und deren - unter heutigem Blickwinkel - so problematische Rezeption. Die Fremdheitserfahrung (Arnims Englandbild, Juden und Zigeuner bei Arnim) zwingt geradezu zur Identitätsbildung auf nationaler, gemeinschaftlicher und individueller Basis. Viele Essays diskutieren auch, weshalb in der Romantik und speziell bei Arnim fast durchweg eine Verschiebung auf ästhetische (statt philosophisch-politische) Identitätsangebote stattfindet. Die Förderung Nationaler Identität geschah, wie DIETER MARTIN in seinem Beitrag untersucht, durch Rückgriff auf die Vergangenheit, speziell durch eine patriotisch-identitätsstiftende Barockrezeption. Verbunden wurden Vergangenheit und Gegenwart durch gemeinsame Kriegs- und Krisenerfahrungen der Napoleonischen Kriege bzw. des Dreißigjährigen Kriegs. Daß aber auch durchaus Vorbilder für die nationale Identität in der Gegenwart gesucht wurden, zeigt JÜRGEN KNAACKS Beitrag; er legt dar, daß die britischen Freiwilligen für die preußischen Landwehr- und Landsturm-Bewegungen als Modell dienten, auch und vor allem weil die Britische Verfassung für Arnim »das Beste mit heilig siegender Kraft durch alle Klassen der Einwohner frei mitteilt«. Inwiefern die »schwärmerische England-Begeisterung seiner Schul- und Studien-Zeit« durch seinen Aufenthalt in G r o ß b r i t a n n i e n ( 1 8 0 3 / 0 4 ) m o d i f i z i e r t w u r d e , l e g t RENATE MOERING a n h a n d d e r
Vili
Vorwort
lyrischen Verarbeitung seiner Reiseerlebnisse dar. Die Textbeispiele verdeutlichen Arnims kritische Bewunderung der englischen Verhältnisse. Wie sehr ästhetische Konstruktion und Idealisierung den romantischen Volksbegriff bestimmten, ist bekannt. KLAUS PETER demonstriert anhand eines eindrücklichen Beispiels, der Figur der alten Bäuerin in Brentanos Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl, wie »die Identität des >Volkes< [...] bei Brentano von der Kunst der Erzählung wesentlich bestimmt« ist. Der »Versuchung, die romantischen Fiktionen in Realität zu verwandeln«, erlag vor allem eine dem >Volk< nur scheinbar zugetane germanistische >Forschung< seit den zwanziger Jahren. Der Heidelberger Romantik, die gegenüber der Jenaer angeblich bodenständiger sei, sozialistische Züge zu attestieren lag für DDR-Germanistik ebenso nahe. Daß selbst Arnims vielbeschriebener und vielbeschrieener Antisemitismus im ästhetischen Kontext ein anderes Gesicht bekommt, macht RITCHIE ROBERTSON am Beispiel der Erzählung Die Majoratsherren deutlich. Er sieht in der Ambivalenz der Darstellung eine tiefe Faszination durch die jüdische Tradition. Ganz ähnlich vermag HOLGER SCHWINN Arnim und seine >Zigeunerromantik< für das Schlegelsche Programm der Versöhnung von Orient und Europa zu retten: Seine >Orientalinnen< werden ihm zu »Wegweisern zu einer über-nationalen, romantischen Identität«. Die Beiträge zum Komplex >Biographie und Geschichte< weiten die Fragestellung aus zum komplizierten Verhältnis zwischen dem einzelnen und dem Ganzen von Kultur und Gesellschaft. Im Rückgriff auf Niklas Luhmann sieht CLAUDIA NITSCHKE die Festgemeinschaft in Arnims Wintergarten als Symbol für ein gesellschaftliches Ganzes: Die neue funktional ausdifferenzierte Gesellschaft der Gegenwart wird utopisch in der ästhetischen Welt des Wintergartens durch eine Synthese des >Volksmäßigen< und der unverbrüchlichen Identität des einzelnen aufgehoben. YVONNE PIETSCH nimmt mit vergleichbarem Ziel einen anderen Text Arnims zum Ausgangspunkt, die Posse Jann 's erster Dienst, die sie als Versuch der Etablierung einer eigenen sozialen Identität gegenüber der Vätergeneration auslegt. Der sich daran anschließende grundlegende Beitrag von ULFERT RICKLEFS stellt Arnims Identitätskonzepte ebenfalls in den Kontext der auch im Gefolge der preußischen Reformen zwischen 1807 und 1814 gewandelten Gesellschaftsstruktur und der Legitimationskrise des Adels. In detaillierter Untersuchung der Mikroebene von Arnims Texten weist er nach, daß >Verlust der Identität< immer auf einem Verlust von (kulturellen, gesellschaftlichen) Kontexten beruht. Ricklefs zeichnet nach, wie Arnim eine politisch und poetologisch gleichermaßen überzeugende Theorie über das Verhältnis des Alten und Neuen im Rahmen einer Verzeitlichung von Identität entwickelt. Wie sich im Kontext der eigenen Biographie, in Abgrenzung vom Bruder Carl Otto, die eigene (und auch des Bruders) Identität auch auf politischem, gesellschaftlichen und ästhetischem Terrain bildete, zeichn e n SHEILA DICKSON u n d CHRISTOF WINGERTSZAHN d e t a i l l i e r t n a c h .
Im Rahmen des Themas »Die erzählerische Konstruktion (autobiographischer Identität« stellt MICHAEL ANDERMATT an die unterschiedlichsten Erzähltexte Arnims die grundlegende Frage »Wer erzählt?« Es geht also nicht um die Kon-
Vorwort
IX
struktion einer fiktiven (biographischen) Identität, sondern um die Instanz, die erzählt. Andermatt liest »Herausgeberfiktion, Semifiktionalität, Aufsplitterung der Erzählerrolle und Rückgriff auf eine anonyme Erzähltradition« als modernes Verfahren, in dem Autorschaft wie erzählerische Identität gleichermaßen aufgelöst werden. So ist romantischer Identitätskonstruktion das Bewußtsein des konstruktiven Charakters von vornherein eingeschrieben. Auf der anderen Seite sind es, bei der erzählerischen Konstruktion einer literarischen Biographie, die die Interferenzen zwischen Biographie, Werken und geschichtlicher Position des Schreibenden die Identität des >Be-Schriebenen< bestimmen, wie G E R H A R D SCHULZ in seinem Beitrag »Anmerkungen zur Interaktion von Leben und Literatur bei Heinrich von Kleist« deutlich macht, zunächst an einem Vergleich zwischen verfügbaren Informationen über die Lebensumstände Arnims und Kleists, um dann die Selbstzeugnisse Kleists als »Produkte subjektiver Identitätskonstruktion« ernst zu nehmen. Die Verflechtungen zwischen Autobiographie und fiktionaler Biographie werden von R I C A R D A S C H M I D T in einem Beitrag aufgegriffen, der vorführt, wie stark Rousseaus Confessions »mit ihrem epochemachenden präromantischen Anspruch auf universale Geltung von Individualität« Ε. T. A. Hoffmanns Kater Murr und speziell den Kreisler-Teil geprägt haben. Sie macht plausibel, daß es sich bei der Kreisler-Figur um »eine spätromantische Weiterentwicklung der in Rousseaus Autobiographie thematisierten Künstlerproblematik« handelt. U W E J A P P demonstriert die doppelte Gebrochenheit der Identität des Künstlers am Beispiel von Arnims Erzählung Raphael und seine Nachbarinnen·, der Künstler wird zum einen durch einen vorgeschobenen >Biographen< präsentiert, zum anderen wird er auf phantastische Weise mit einem Doppelgänger ausgestattet - eine sinnbildliche Darstellung des Problems der Selbstidentität des Künstlers. Dagegen begreift B A R B A R A B E C K E R - C A N T A R I N O Bettina von Arnims Goethes Brießvechsel mit einem Kinde, Die Günderode und Clemens Brentanos Frühlingskranz als Beispiele >echter< Korrespondenzen und Biographien und arbeitet die Rolle der Freundschaft, besonders der Frauenfreundschaft, für die Subjektkonstitution und Identitätsbildung heraus. Vor allem die Freundschaft mit der Günderode erweist sich für Bettina als subjektstabilisierend und identitätsstiftend. Wie Ricarda Schmidt von einem intertextuellen Ansatz ausgehend, legt W O L F G E R H A R D S C H M I D T in einer minuziösen Recherche erstmals konsequent den oft geleugneten Einfluß von Macphersons Ossian auf Arnims Werke dar. Der Beitrag schließt damit an die Essays zur Identität von Volk und Nation an, wenn er Arnims >modernes< Vergangenheitsverständnis mit Macphersons Vorstellung vom Dichter und Kollektor kontrastiert. Den Aporien der Erkenntnis wie des Problems biographischer >Authentizität< widmet sich R I C H A R D LITTLEJOHNS in einem subtilen Vergleich von Andrew Motions Wainewright the Poisoner und Hildesheimers Marbot. Im >ErkenntnisgewinnRealität< durch Fiktion erweist sich eine spielerische erzählerische Identitätskonstruktion - sei es als biographisch untermauerter Fiktion oder als fiktionalisierte Biographie - scheinbar >objektiven< Biographien überlegen, vor allem im Fall »ambivalenter und zerrütteter Lebensläufe«.
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Vorwort
Was diese knappe Übersicht über die Themen und Beiträge dieses Bandes nicht wiedergeben kann, ist die Atmosphäre des Glasgower Kolloquiums. Die englischen und schottischen Kolleginnen und Kollegen waren ebenso wie die Mitarbeiter des Glasgower Goethe-Instituts freundliche Gastgeber für die anderen Romantikforscher. Daß man in Schottland am rechten Ort war, dafür bürgt Herder, der einen Ort in einer Anmerkung zu einem schottischen Volkslied als »eine Romantische Gegend, wie in Schottland so viele« beschrieb. Die Teilnehmer kehrten Glasgow nur ungern den Rücken; in Arnims Majoratsherren kehrt »der Verlobte der schönen Esther [...] ganz zerlumpt von einer Reise nach England« zurück. Daß im Gegenteil alle auf der britischen Insel reiche Ernte mit heimbrachten, dafür kann auch der vorliegende Band Zeugnis ablegen. Caspar Davids Friedrichs vieldeutiges und viel gedeutetes Bild Wanderer über dem Nebelmeer (um 1818), das den Umschlag des vorliegenden Bandes ziert, ist nicht nur die Darstellung eines Betrachters in einer kaum Orientierung bietenden zerklüfteten undurchdringlichen Nebelwelt. Der altdeutsche Rock, den der Unbekannte trägt, weist ebenso wie die altdeutsche Tracht bei einer ähnlich in der Landschaft verlorenen weiblichen Rückenansicht Friedrichs (Frau in der Morgensonne, um 1820) darauf hin, daß Identität, hier die nationale, durch Kleid und Kontexte erst konstruiert wird. Friedrichs Bild ist aber auch Sinnbild für den Literaturwissenschaftler, der, wenn ihm sein Geschäft gelingt, den geheimnisvollen literarischen Rückenansichten schließlich doch ins Gesicht sehen kann. Köln und Glasgow, im September 2003 Walter Pape und Sheila Dickson
NATIONALE IDENTITÄTEN
Dieter Martin
Vom Beistand altdeutscher »Biederleute« bei der romantischen Suche nach nationaler Identität
Mitten in den Befreiungskriegen, im Jahre 1814, veröffentlichte Ernst Moritz Arndt eine politisch scheinbar unverdächtige Broschüre Ueber Sitte, Mode und Kleidertracht. Doch rückt dies Wort aus der Zeit keineswegs von jener propagandistischen Linie ab, die Arndt etwa in Der Rhein. Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Gränze (1813) bezogen hatte. Denn Arndts kleine Schrift gründet auf der Erkenntnis, daß »eine teutsche Sprache und eine teutsche Kleidertracht« die »für die Tugend des teutschen Geschlechts zunächst wichtigsten Dinge« seien.1 Um die nationale Identität zu fördern, um die zersplitterte und überfremdete Nation durch sozial-symbolische >acts of identity< zu einigen und zu neuer Stärke zu fuhren, fordert Arndt die Rückbesinnung auf altdeutsche Sitte, Mode und Kleidertracht. Man solle dem erwachenden Nationalgefuhl habituellen Ausdruck verleihen und umgekehrt durch einen traditionellen, spezifisch deutschen Habitus das verschüttete Bewußtsein nationaler Identität zurückgewinnen. Diese Argumentationsfigur ist um 1815 ebenso wenig neu wie die Fixierung eines Nationalcharakters auf bestimmte Habitus-Stereotypen.2 Neu ist aber - das darf man in der aktuelle Debatte zum deutschen Nationalismus vor dem Nationalismus betonen3 - zum einen die aggressive Schärfe, mit der Arndt die eigene Identität durch forcierte Abgrenzung von einer auszumerzenden Alterität konstruiert; und neuartig ist zum anderen, wie Arndt seinen patriotischen Appell durch Texte des 17. Jahrhunderts fundiert, um sich so des Beistands altdeutscher »Biederleute« zu versichern: Ich habe einige Worte angehängt von Biederleuten, die vor zweihundert und vor einhundertundfünfzig Jahren lebten, zur Zeit, als das teutsche Unwesen und die jammervolle Aefferei
' Arndt: Sitte, Mode und Kleidertracht, S. 49 (Hervorhebungen im Original). Zu der von Arndt überaus stark akzentuierten »strukturellen Homologie« zwischen Kleidungsstil, Sprache und Sozialverhalten vgl. die Sicht der modernen Kultursoziologie bei Bourdieu: Soziologische Fragen, S. 187-196 (>Haute Couture< und >Haute CultureVolksaufklärung< gerade verschüttet. Wenn das Volk dem Gehalt solcher Sagen skeptisch begegnet, müssen die Dichter die »Erinn'rung« 37 wachhalten. Zwar bleibt dem Poeten eine militärische Rolle versagt. Doch indem er sich den Sagenstoff visionär aneignet, wird er zum Vorreiter der patriotischen Sache. Nicht die alten Heroen, sondern die Dichter, die von ihnen singen, fuhren nach Fouqués Version die unterlegene Nation zu neuem, in Mythos und Geschichte verankertem Selbstbewußtsein. Festzuhalten ist: An der exemplarisch vorgeführten Rezeption des barocken Ala mode Kehrauß ist eine doppelte Funktionalisierung älterer Literatur in der nationalen Krisen- und Aufbruchszeit des frühen 19. Jahrhunderts zu erkennen. Zum einen dienten die - ihrer Fiktionalität beraubten - Strafreden archaischer Helden als direkte, patriotisch aufrüttelnde Appelle an die eigene Gegenwart. Zum anderen wurde mit der poetischen Aktualisierung einer barocken Nationalsage dem Dichter eine identitätssichernde Vorreiterrolle in bewegter Zeit zugeschrieben. Gemeinsam ist beiden Formen der Aneignung aber die Konstruktion einer dauernden Alterität zum Feind jenseits des Rheins wie auch ein historischer Brükkenschlag von der eigenen Gegenwart der Napoleonischen Kriege zurück zum Dreißigjährigen Krieg, den man sinnstiftend zum Beginn einer nun beendeten Epoche der Fremdherrschaft und des nationalen Niedergangs erklärt - ein Brükkenschlag, der die Aneigung der Literatur des 17. Jahrhunderts noch vielfach prägt: so etwa am Vorabend des zweiten Weltkriegs, als Johannes R. Becher frei nach Andreas Gryphius Tränen des Vaterlandes Anno 1937 vergießt, 38 und so, wenn Günter Grass' Erzähler zu Beginn des barockisierenden Treffens in Telgte (1979) konstatiert: »Unsere Geschichten von heute müssen sich nicht jetzt zugetragen haben. Diese fing vor mehr als dreihundert Jahren an. Andere Geschichten auch. So lang rührt jede Geschichte her, die in Deutschland handelt«. 39
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Fouqué: Burg Geroldseck - Ausgewählte Werke Bd. 12, S. 118. Bechers Doppelsonett, das auf Andreas Gryphius' Threnen des Vatterlandes / Anno 1636 antwortet und zuerst im Moskauer Exil gedruckt wurde (Internationale Literatur. Deutsche Blätter 7 [1937], H. 10, S. 48), findet sich wieder in Becher: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 13f. Den Titel von Gryphius' Sonett adaptierte Becher auch für eine spätere Anthologie: Tränen des Vaterlandes. Deutsche Dichtung aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Eine Auswahl. Hrsg. von Johannes R. Becher. Berlin: Rütten & Loening 1954. - Vgl. Szyrocki: Die Dichter des Dreißigjährigen Krieges in Bechers Werk. Grass: Treffen in Telgte, S. 7. Vgl. Mannack: Barock in der Moderne, S. 109-113 und S. 148 (Literatur).
Klaus Peter
Die alte Bäuerin: Zur Identität des >Volkes< in Brentanos »Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl«
Sie fallt auf. Eine Bäuerin allein in der Stadt, 88 Jahre alt, mit einem sonderbaren Benehmen. Für die Leute, die um sie herumstehen und Fragen stellen, ist sie ein Rätsel. Es ist 11 Uhr nachts, die Leute, offenbar alles Männer, kommen aus dem Wirtshaus, außer ihnen und dem Nachtwächter ist niemand mehr unterwegs. Die Frau fragt nach keiner Unterkunft, sondern läßt sich ohne weiteres auf den Türstufen eines größeren Gebäudes nieder und bereitet sich darauf vor, hier zu schlafen. Daß die neugierigen Männer sie mit Fragen überschütten, ihr helfen wollen, stört sie nicht. Sechs Meilen ist sie gelaufen, sie ist müde. Offenbar fehlt ihr das Geld für ein Zimmer im Wirtshaus und sie scheint fremd in der Stadt zu sein, hat jedenfalls keine Verwandte oder Freunde hier, bei denen sie übernachten könnte. So nimmt sie ihre Schürze als ein Mäntelchen um, zieht ihren großen, schwarzen, wachsleinenen Hut ins Gesicht und legt sich ihr Bündel unter dem Kopf zurecht. Alles dies, ohne sich um die Leute zu kümmern, mit größter Ruhe und Selbstverständlichkeit. Schließlich zerstreuen sich die Zuschauer, nur der Erzähler selbst bleibt bei der Frau zurück. So beginnt Brentanos Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. Erst allmählich lüftet sich das Geheimnis der alten Bäuerin. Der Erzähler bringt sie zum Reden. Die Stadt und selbst das Gebäude, auf dessen Türstufen sie eigentlich hat schlafen wollen, sind ihr durchaus nicht unbekannt. Vor 70 Jahren, sie war 17, diente sie als Magd in diesem Haus und hier, auf dieser Treppe, lernte sie damals ihren späteren Mann kennen. Er war Soldat, Grenadier bei der Garde des Herzogs, vor dieser Tür wartete sie dann abends immer auf ihn. Vier Söhne und eine Tochter hatte sie mit ihrem Mann, alle sind tot, drei der Söhne waren Soldaten und sind im Krieg fur den Herzog gefallen. Sie erinnert sich genau an diese Vergangenheit, ja behauptet gar, seit damals habe sich nichts geändert. Wie damals erscheint die Runde, eine Abteilung Soldaten, aus deren Mitte ihr einst der Grenadier, ihr späterer Mann, eine Rose zuwarf, und wie damals singt sie das Lied von der Auferstehung. Und wie damals erhält sie eine Rose, diesmal von dem Offizier der Runde, dem Grafen Grossinger, einem Fähnrich, der, wie sich herausstellt, ein Bekannter des Erzählers ist. Wie damals ist die Frau eine Fremde in der Stadt: Sie gehört nicht zu den Stadtbewohnern, die hier zu Hause sind, eigene Häuser oder wenigstens eigene Wohnungen besitzen, auch Rang und Namen haben, jedenfalls nicht besitzlos sind und gar im Freien schlafen müssen. Die Bäuerin unterscheidet sich von ihnen nicht nur durch ihr auffalliges Verhalten. Sie
14
Klaus Peter
gehört ihrer Herkunft nach einer ganz anderen Welt an, einer Welt, von der die Städter keine Vorstellung haben. Was ist das fur eine Welt? Der Erzähler steht sofort im Bann des Anderen. Ihm erscheint die Frau nicht nur sonderbar, wie den übrigen Männern, sie hat vielmehr »etwas sehr Befremdendes, ja schier Großes«, wie sie »so sehr wußte, was sie wollte«. 1 Ihre Ruhe und alles, was sie tut, beeindruckt ihn derart, daß er, noch bevor er sie näher kennengelernt hat, an ihre Erscheinung weitreichende, j a geradezu religiöse Überlegungen knüpft. Dabei spielt nicht nur der Kontrast zu den anderen Leuten, den Städtern, eine Rolle, sondern vor allem der Kontrast der alten Frau zu ihm, dem Erzähler, selbst. So lautet die bekannte Stelle: Ich wandelte nachdenkend unter den Bäumen des vor mir liegenden Platzes auf und nieder; das Wesen der Bäuerin, ihr bestimmter ernster Ton, ihre Sicherheit im Leben, das sie achtundachtzigmal mit seinen Jahreszeiten hatte zurückkehren sehen, und das ihr nur wie ein Vorsaal im Bethause erschien, hatten mich mannichfach erschüttert. Was sind alle Leiden, alle Begierden meiner Brust, die Sterne gehen ewig unbekümmert ihren Weg, wozu suche ich Erquickung und Labung und von wem suche ich sie und für wen? Alles was ich hier suche und liebe und erringe, wird es mich je dahin bringen, so ruhig, wie diese gute fromme Seele, die Nacht auf der Schwelle des Hauses zubringen zu können, bis der Morgen erscheint, und werde ich dann den Freund finden, wie sie. Ach, ich werde die Stadt gar nicht erreichen, ich werde wegemüde schon in dem Sande vor dem Tore umsinken und vielleicht gar in die Hände der Räuber fallen.2
U m zu verstehen, worum es geht, bedarf es des historischen Kontextes. Entscheidend ist hier Brentanos Idee des >VolkesVolk< die Masse der Bevölkerung, die vom Erziehungs- und Bildungsprozeß der Aufklärung ausgeschlossen blieb und deshalb auch als >Pöbel< denunziert wurde. Bekanntlich haben zuerst Moser und Herder gegen diese Geringschätzung des >Volkes< protestiert und im Gegenzug das >Volk< als Träger einer ganz eigenen Kultur entdeckt. Im Unterschied zur Kultur der gebildeten Elite an den Höfen, die oft französisch sprach, an den Universitäten und unter höheren Beamten, sollte sich die >VolksVolksVolk< gerade am Ausgang des 18. Jahrhunderts und in der Romantik am Beginn des 19.? Es war eine Zeit des Umbruchs. Zu Ende kam die Welt des Feudalismus mit ihren starren Hierarchien, die absolute Herrschaft von Thron und Altar, und an ihre Stelle trat die Welt des Bürgertums mit ganz neuen Freiheiten. Man erlebte auf diese Weise den Übergang von der sogenannten einfachen Tauschgesellschaft, in der das Leben der Menschen von den traditionellen Abhängigkeitsverhältnissen beherrscht wurde und der Markt kaum eine Rolle spielte, zur sogenannten modernen Tauschgesellschaft, dem Kapitalismus, in dem wesentlich nur noch für den Markt produziert wird. Karl Marx hat die grundsätzliche Bedeutung dieser Entwicklung für die bürgerliche, die moderne Gesellschaft einmal folgendermaßen beschrieben: Wenn gesellschaftliche Verhältnisse betrachtet werden, die ein unentwickeltes System des Austausche, der Tauschwerte und des Geldes erzeugen, oder denen ein unentwickelter Grad derselben entspricht, so ist es von vornherein klar, daß die Individuen, obgleich ihre Verhältnisse persönlicher erscheinen, nur als Individuen in einer Bestimmtheit in Beziehung zueinander treten, als Feudalherr und Vasall, Grundherr und Leibeigner etc. Im Geldverhältnisse, im entwickelten Austauschsystem [...] sind in der Tat die Bande der persönlichen Abhängigkeit gesprengt, zerrissen, Blutsunterschiede, Bildungsunterschiede etc. 4
Die Auflösung der traditionellen Abhängigkeitsverhältnisse und damit die Zerstörung alter Bindungen, das Ziel der triumphierenden Aufklärung, offenbarte am Ende des 18. Jahrhunderts jedoch auch bereits eine bedrohliche Kehrseite: die Isolation des Individuums, das, was später Entfremdung heißt. Die wachsende Bedeutung der Idee des >Volkes< um die Jahrhundertwende war eine Reaktion auf diese Entwicklung. Gesucht wurden neue Bindungen, gesucht wurde jedoch auch nach Momenten der Dauer in einer Welt des Wechsels. Die Idee des >Volkes< versprach beides. So reflektierte sie von allem Anfang an die Enttäuschung über die Aufklärung, über Fortschritt und neue Freiheit, und vertrat in der beginnenden Moderne ein konservatives Moment. Unterstützt wurde die Neubesinnung auf die Tradition nach 1800 durch die Eroberungskriege Napoleons. Die Unterwerfung der deutschen Staaten durch die Franzosen förderte in Deutschland die Entstehung eines neuen Selbstbewußseins. Schriftsteller wie Friedrich Schlegel, Adam Müller, Kleist und Görres, auch Fichte und Arnim, mobilisierten die deutsche Vergangenheit gegen die französische Gegenwart. Auch Volkslied und Volksmärchen sollten dazu beitragen, daß Deutschland deutsch blieb und nicht französisch wurde.5
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Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 80f. Vgl. Klaus Peter: Deutschland in Not. Fichtes und Arnims Appelle zur Rettung des Vaterlandes. In: Pape (Hrsg.): Arnim und die Berliner Romantik, S. 3-22.
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Klaus Peter
Dieser Kontext bildet auch die historische Voraussetzung von Brentanos Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl, die Voraussetzung für die alte Bäuerin und das >VolkVolk< von den Städtern unterscheidet, stammt die große Ruhe der alten Frau. Für den Erzähler aber, einen Städter, dessen Leben vom raschen Wechsel des jeweils Aktuellen und Modischen geprägt ist, kann es Ruhe nicht geben. Alle Sehnsucht danach muß vergeblich bleiben. Diese Erkenntnis ist es, die den Erzähler so »mannichfach« erschüttert. Was bedeuten alle seine Leiden, seine Begierden angesichts der Sterne, die ewig unbekümmert ihren Weg gehen? Kein Streben wird ihn jemals dahin bringen, wo die alte Frau ist, nämlich »so ruhig, wie diese gute fromme Seele, die Nacht auf der Schwelle das Hauses zubringen zu können, bis der Morgen erscheint«. Daß hier Religiöses mitschwingt, ist offenkundig. Schließlich sieht der Erzähler sich in der Rolle des Menschen, der die Stadt erst gar nicht erreicht und nach Lukas 10,30 gar »wegemüde« vor dem Tor umsinkt und in die Hände von Räubern fällt. Was unterscheidet die alte Bäuerin derart von anderen Menschen? Ihr hohes Alter wurde genannt. Mit der Erfahrung des Immergleichen verbindet sich jedoch auch eine eigentümliche Erfahrung der Zeit. Darauf wies schon Richard Alewyn in seiner eindringlichen Interpretation der Erzählung mit Nachdruck hin. 8 Zwei Zeitrechnungen stehen sich gegenüber. Da ist einmal die Zeit, die vergeht, während die Frau dem Erzähler die so ungleichen Geschichten von Kasperl und Annerl vorträgt. Die Stundenfolge wird durch den Nachtwächter genau angegeben. Der Erzähler trifft die Frau nachts um 11 Uhr, die Hinrichtung Annerls soll am
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Brentano: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl - Werke, Bd. 2, S. 776. Ebenda, S. 778. Richard Alewyn: Brentanos >Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerk
Die alte Bäuerin
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nächsten Morgen um 4 stattfinden. Dagegen kann von einer geordneten Chronologie in dem, was die alte Frau erzählt, keine Rede sein. Sie erzählt, wie sie sich erinnert, und nur, was ihr wichtig erscheint: sie greift vor, unterbricht, schweift ab, geht zurück, so daß man auf Ahnungen, Vermutungen und Befürchtungen angewiesen ist, bis sich erst langsam der Zusammenhang enthüllt. Von den völlig unterschiedlichen Lebensläufen Kasperls und Annerls, die sich kaum berühren, erfährt man nur Bruchstücke und viele Fragen bleiben unbeantwortet. Soviel steht früh fest: Die beiden jungen Leute liebten sich und wollten heiraten. Unter welchen Umständen sie sich trafen, was sie zusammen trieben, wie sie sich ihre Zukunft dachten, ob sie Briefe austauschten, das alles bleibt ungesagt. Wichtig erscheint im Falle Kasperls allein seine extreme Ehrsucht und was damit zu tun hat, im Falle Annerls das bereits dem Kind vorhergesagte Ende durch den Scharfrichter und wie es dazu kommt. Die entsprechenden Episoden stehen weitgehend isoliert nebeneinander, verbunden nur durch die Erzählung der alten Frau. Für sie hat die Zeit in ihrem chronologischen Ablauf und die logische Reihenfolge des Geschehens keine Bedeutung. Psychologische Motivierungen der verschiedenen Personen liegen ihr fern. Wichtige Fragen nach dem Warum dessen, was Kasperl und Annerl taten, bleiben in vielen Fällen offen. Diese Einstellung zur Zeitfolge und Logik des Geschehens, das mythische Ineinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Bewußtsein der alten Bäuerin, die Welt des Immergleichen, bildet das eine wesentliche Moment, das die Frau charakterisiert. Während anderen Menschen die Zeit nur allzu rasch vergeht und sie deshalb nie Zeit haben, verfugt die alte Frau über eine Zeit, die völlig unbegrenzt ist. Ihre Ruhe und Selbstsicherheit haben hier ihren Grund. Hinzu kommt freilich ein weiteres Moment, das mit dem ersten aufs engste zusammenhängt: ihre Religiosität. Gleich zu Beginn fallt ihr Gebet auf und die feste Überzeugung, daß Gott es erhört hat, als der Erzähler ihr einen Taler schenkt. Aber es ist hauptsächlich das zentrale Motiv der Erzählung, das die Religiosität der alten Bäuerin kennzeichnet: die Auferstehung der Toten. Davon handelt das Lied, das sie damals sang und heute singt: Wann der Jüngste Tag wird werden, Dann fallen die Sternelein auf die Erden. Ihr Toten, ihr Toten sollt auferstehn, Ihr sollt vor das Jüngste Gerichte gehn, Ihr sollt treten auf die Spitzen, Da die lieben Engelein sitzen; Da kam der liebe Gott gezogen Mit einem schönen Regenbogen, Da kamen die falschen Juden gegangen, Die führten einst unsern Herrn Christum gefangen, Die hohen Bäum' erleuchten sehr, Die harten Stein' zerknirschten sehr. Wer dies Gebetlein beten kann, Der bet's des Tages nur einmal,
Klaus Peter
18 Die Seele wird vor Gott bestehn, Wann wir werden zum Himmel eingehn. Amen.9
Die Auferstehung der Toten ist der eigentliche Grund, der die alte Bäuerin in die Stadt brachte. Sie will sicherstellen, daß Kasperl, ihr Enkel, und Annerl, ihr Patenkind, ein »ehrliches« Grab 10 erhalten. Das Problem im Falle Kasperls ist, daß er Selbstmord aus Verzweiflung beging und deshalb »auf die Anatomie«" soll, im Falle Annerls, daß der Scharfrichter ihren Kopf vom Rumpf trennen wird. Außerdem sind beide durch ihr jeweiliges Schicksal weit von einander getrennt. Die alte Frau will deshalb, »daß zwei Liebende bei einander ruhen sollen, [...] damit man seine Glieder beisammen hat, wenn es heißt: ihr Toten, ihr Toten sollt auferstehn, ihr sollt vor das Jüngste Gerichte gehn«. 12 Denn der Glaube an die Auferstehung der Toten ist bei ihr verknüpft mit dem, daß sie nur möglich sei, wenn die Körper ganz, d. h. nicht zerstückelt im Grab ruhen. Kasperl und Annerl sollen also nicht vor dem Tod gerettet werden: Das wäre ohnedies unmöglich, im Falle Kasperls, weil er bereits tot ist, im Falle Annerls, weil für sie dieser Tod seit ihrer Kindheit feststeht. Auch dieser Zusammenhang beweist, wie wenig der alten Bäuerin das diesseitige, das irdische Leben gilt. Auch die Religion ist ein Grund für ihre Ruhe. Dabei folgt sie jedoch nicht allein den Lehren der Kirche. Christliches verschmilzt bei ihr mit Heidnischem und bildet eine eigentümliche Mischung von Glauben und Aberglauben. Vor allem Ereignisse im Leben Annerls lassen sich mit den Lehren der Kirche kaum vereinbaren: das Hin- und Herschwanken des Richtschwertes in ihrer Kindheit und der abgeschlagene Kopf des Jägers Jürge, der sich am Rock des Mädchens festbiß, so daß Annerl »mit den Zähnen«, wie es öfters heißt, in den Tod gerissen wird. 13 Auch diese Mischung von Glauben und Aberglauben, die bei einfachen Leuten auf dem Land noch lebendig war, weist auf die Quelle einer solchen Religion hin, auf das >VolkVolksGeschichte vom braven Kasperl und dem schönen Anneri*, S. 104. Heinz Rölleke: Quellen zu Brentanos >Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Anneri*.
Die alte
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Joseph, lieber Joseph, was hast du gedacht, Daß du die schöne Nanerl ins Unglück gebracht. Joseph, lieber Joseph, mit mir ists bald aus, Und wird mich bald führen zu dem Schandthor hinaus. Zu dem Schandthor hinaus, auf einen grünen Platz, Da wirst du bald sehen, was die Lieb hat gemacht. Richter, lieber Richter, rieht nur fein geschwind, Ich will j a gern sterben, daß ich komm zu meinem Kind. Joseph, lieber Joseph, reich mir deine Hand, Ich will dir verzeihen, das ist Gott wohl bekannt. Der Fähndrich kam geritten und schwenket seine Fahn, Halt still mit der schönen Nanerl, ich bringe Pardon. Fähndrich, lieber Fähndrich, sie ist j a schon todt: Gut Nacht, meine schöne Nanerl, deine Seel ist bei Gott. 16 I m W u n d e r h o r n - M a t e r i a l ist e i n e N o t i z B r e n t a n o s erhalten, w o N a n n e r l n o c h A n n e l heißt. D a ß d a s L i e d , d a s B r e n t a n o v o n e i n e m H i r t e n j u n g e n hatte, d i e G e s c h i c h t e A n n e r l s b e s c h r e i b t , l i e g t a u f der H a n d . J o s e p h lautet d e n n a u c h der V o r n a m e d e s F ä h n r i c h s G r a f G r o s s i n g e r in der E r z ä h l u n g . E i n a n d e r e s W u n d e r h o r n L i e d i m 1. B a n d der S a m m l u n g m i t d e m Titel Abendlied
enthält in der 5. u n d 6.
S t r o p h e d i e G e s c h i c h t e A n n e r l s in der Stadt, w o h i n s i e s i c h u m der Ehre w i l l e n » v e r m i e t e t « hatte 1 7 u n d w o s i e d e m K a s p e r l , d e n s i e für tot hielt, untreu w u r d e . E s spricht K a s p e r l : Daß mich mein Schatz verlassen hat, Das kömmt wohl daher, Sie dacht sich zu verbessern, Betrog sich gar sehr. Des Abends, wenn es dunkel wird, Steht er wohl vor der Thür, Mit seinem blanken Schwerdte, Als wie ein Offizier. 18 D e r S p r u c h » G i b G o t t a l l e i n d i e E h r e ! « ' 9 , d e n d i e alte B ä u e r i n d r e i m a l w i e d e r h o l t u n d der, i m G e g e n s a t z z u K a s p e r l s w e l t l i c h e m V e r s t ä n d n i s der Ehre, a l s L e i t m o t i v durch d i e E r z ä h l u n g g e h t , s t a m m t a u s d e m A l t e n T e s t a m e n t , w a r aber h a u p t s ä c h -
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Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn (Kritische Ausgabe, Reclam), Bd. 2, S. 194f. Der Kommentar Röllekes S. 491. Brentano: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl - Werke, Bd. 2, S. 786. Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhom (Kritische Ausgabe, Reclam), Bd. 1, S. 291. Der Kommentar Röllekes S. 523f. Brentano: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl - Werke, Bd. 2, S. 781.
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lieh durch ein Kirchenlied v o n N i c o l a u s D e c i u s (um 1523) bekannt; es beginnt mit diesem Spruch. 20 Eine Form des in der Erzählung s o wichtigen Liedes v o m Jüngsten Gericht, das die alte Bäuerin singt und das Grossinger v o n Annerl kennt, hatte Brentano w o h l in B ö h m e n gefunden, w o er 1 8 1 1 - 1 3 die böhmische Folklore eingehend studierte. Folgende Strophen eines böhmischen V o l k s l i e d e s sind überliefert: Wann der jüngste Tag soll werden, Da fall'n die Stemlein auf die Erden, Da neigen sich alle Bäumelein, Da singen die lieben Engelein, Da kommt der liebe Gott gezogen Auf einem schönen Regenbogen. »Ihr Todten, Ihr Todten, sollt auferstehn Und sollt vor Gottes Gerichte gehn. Heran, heran auf diesen Plan, Gott nimmt alle Sünder in Gnaden an!« Als Jesus in den Garten ging, Sein bitt'res Leiden sich anfing. Da trauerte Laub und grünes Gras Und alles was auf Erden war. Da kamen die falschen Juden gegangen, Die haben den Herrn Jesum gefangen. Sie führten ihn in des Richters Haus, Mit blanken Schwertern wieder heraus. Sie führten ihn vor den Kreuzesstamm, Mit Nägeln wurd' er angehang'Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Anneri, S. 249. Abgedruckt ebenda, S. 252f.
Die alte Bäuerin
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Auch hier ist die Verbindung zu dem Lied der alten Bäuerin ohne weiteres klar. Unter weiteren Quellen, die Rölleke nennt, sind die Memoiren eines Nürnberger Scharfrichters aus dem 17. Jahrhundert, die 1801 erschienen waren. Der Scharfrichter, der Meister Frantz hieß, wie der in Brentanos Erählung, berichtet hier unter anderem von dem Pferdediebstahl in einer Mühle. Auch Details der Hinrichtung des Jägers Jürge sind in den Memoiren vorgegeben. Es ist bekannt, daß Brentano die Memoiren besaß. Auch daß sich das Schwert eines Scharfrichters bewegt, um eine zukünftige Hinrichtung anzuzeigen, ist als Volksweisheit belegt und keine Erfindung Brentanos. Und Grossingers wilder Ritt zum Richtplatz hat sein Vorbild schließlich in einem Märchen der Brüder Grimm: Die drei Handwerksburschen.11 Diese Hinweise bezeugen Brentanos bekannte Arbeitsweise auch für die Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. Nicht nur in Des Knaben Wunderhorn dichtete er zusammen mit Arnim Relikte der Vergangenheit um und weiter. Auch in seinen Erzählungen und Märchen suchte er auf diese Weise den Anschluß an die >VolksVolk< selbst, das durch die Bäuerin zu Wort kommt. Daß der Dichter hinter die Anonymität des >Volkes< zurücktreten, dem >Volk< gewissermaßen beim Dichten den Vortritt lassen solle, entspricht dem Selbstverständnis der Heidelberger Romantik insgesamt. Unumstritten freilich war die auf diese Weise produzierte Synthese von Historischem und Eigenem auch damals nicht. So haben die
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Grimm: Kinder- und Hausmärchen, S. 572-574. Zu den Märchen der Grimms siehe Heinz Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm. Brentano: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl - Werke, Bd. 2, S. 782. Zum biographischen Kontext dieser Problematik siehe Hartwig Schultz: Schwarzer Schmetterling, bes. die Kapitel 16 und 17, S. 349-407. Schultz schreibt über Brentanos damaliges Selbstverständnis als »Schreiber«: »Mit größtem Ernst und rigoroser Konsequenz widmete er sich seiner neuen, selbstdefinierten Aufgabe als >SchreiberVolkes< wird von diesen Differenzen nicht berührt. Die Frau gleicht in dieser Rolle der Dorothea Viehmann, einer alten Bäuerin aus dem nahe bei Kassel gelegenen Dorf Zwehrn, der die Grimms einige ihrer Märchen verdankten. Wie sehr aber dieses >VolkVolkes< auf ein so zentrales Problem der Moderne antwortete, die Isolation des Individuums, seine Entfremdung, hatte gerade die Heidelberger Romantik eine lange Wirkung bis ins 20. Jahrhundert. Des Knaben Wunderhorn und die Märchen der Brüder Grimm definieren bis heute, was ein Volkslied und was ein Volksmärchen ist. Eine höchst fatale Renaissance erlebte die Romantik und speziell die Heidelberger Romantik jedoch in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die äußeren Umstände wiesen gewisse Parallelen auf: damals die siegreichen Franzosen unter Napoleon und die Besetzung großer Teile Deutschlands, in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts der verlorene Krieg von 1914-18. Die Unterschiede sind freilich groß. Inden 20er Jahren war Deutschland zwar besiegt, aber nicht besetzt. Im Gegenteil: eine Revolution hatte stattgefunden und in Deutschland gab es erstmals eine Republik. Aber weil viele Deutsche diese Weimarer Republik nicht als eine positive sondern entschieden als eine negative Folge des verlorenen Krieges betrachteten, Deutschland von den siegreichen Westmächten aufgezwungen, galt sie als fremd und undeutsch. Gegen die Republik wurde daher die deutsche Tradition aufgerufen und insbesondere die Romantik in Stellung gebracht. Die Idee des >Volkes< wurde zum Schlachtruf der Reaktion. In dieser Situation spielte die Germanistik eine bedeutende Rolle, und die Interpretation der Romantik wurde zur nationalen Aufgabe. Das war freilich in den 20er Jahren nicht ganz neu. Nachdem im liberaleren 19. Jahrhundert Interpreten wie Heine und Gervinus die Romantik als reaktionär verurteilt hatten - wobei sie hauptsächlich an den späten Friedrich Schlegel und an Adam Müller, die beiden Propagandisten der Metternichschen Restauration, dachten, aber auch an den katholischen Brentano der Restaurationszeit - fand ab 1871, mit der Reichsgründung, in der Germanistik eine grundsätzliche Neubewertung der Romantik statt. Zunehmend wurde sie als >deutsche< Bewegung gegen die kosmopolitische Aufklärung ausgespielt. Schon Wilhelm Scherer setzte 1870 in diesem Zusammenhang die Heidelberger Romantik von der Jenaer ab und feierte deren >Nationalismus< als Beginn der >RevolutionVolkes< Politik, und die Germanistik lieferte dazu die entsprechenden Texte. Es waren vorzugsweise die der Heidelberger Romantik. Ralf Klausnitzer stellte dies in seinem Buch Blaue Blume unterm Hakenkreuz detailliert dar.27 Das Programm entwarf in diesem Zusammenhang Walther Linden in dem Aufsatz »Umwertung der deutschen Romantik«, der 1933 in der Zeitschrift für Deutschkunde erschien. Linden betonte hier zunächst die fundamentale Bedeutung der Romantik überhaupt. In ihr habe sich das »Wollen« des Deutschen Idealismus, der »die Idee der organisch-irrationalen Lebenstotalität als Grundlage eines neuen religiösen Kosmos« anstrebte, vollendet. Die deutsche Romantik sei damit angetreten gegen »die westeuropäische Verweltlichung und Rationalisierung des Lebens«, so daß sie in »ihrem tiefsten Sinne« den letzten und stärksten »Gegenschlag des deutschen Geistes gegen die entleerende und veräußerlichende westeuropäische Aufklärung« darstelle.28 Allerdings müsse, damit dies richtig klar werde, eine »Umwertung« innerhalb der Romantik stattfinden. Nicht mehr dürfe, wie bisher, die Frühromantik mit Friedrich Schlegel, den Linden einen »heimatlosen Bohémien« nennt, im Mittelpunkt der Forschung stehen, Aufmerksamkeit verdiene jetzt vor allem die »Hochromantik«, womit außer Adam Müller hauptsächlich die Heidelberger Romantik gemeint ist. Die »Hochromantik«, so heißt es entscheidend, habe die fatale Nähe der Frühromantik zur Aufklärung, den einseitigen Subjektivismus Friedrich Schlegels, überwunden, und sei »die eigentliche Erfüllung des romantischen Hauptstrebens: aus den Mitteln des modernen Subjektivismus die neue Einheitswelt in religiösirrationalistischer Totalität zu erbauen«. Erst die »Hochromantik« habe ein Verständnis für »den Wert des Schollenverhafteten, Naturgetragenen« entwickelt und ein Gefühl für »den religiösen Sinn alles Geschichtlichen«. Und auch nur hier
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Wilhelm Scherer: Die deutsche Literaturrevolution, S. 340. Martin Doehlemann: Germanisten in Schule und Hochschule, S. 90. Das Zitat stammt von U. Peters. Ralf Klausnitzer: Blaue Blume unterm Hakenkreuz, bes. S. 107-148. Walther Linden: Umwertung der deutschen Romantik (1933). Wieder abgedruckt in Helmut Prang (Hrsg.): Begriffsbestimmung der Romantik, hier S. 244.
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finde daher eine Wertschätzung »des Nationalen, das heißt der Einbettung aller Einzelmenschen in den unlöslichen religiösen Zusammenhang der Gemeinschaft und Geschichte eines Volkes« statt.29 Linden berief sich mit diesen Ausführungen nicht auf Scherer sondern auf Autoren der 20er Jahre, vor allem auf Alfred Baeumler, der am weitesten von allen neueren Forschern in die erstrebte Richtung vorgedrungen sei.30 Gemeint ist Baeumlers berühmt-berüchtigte Einleitung in Manfred Schröters Bachofen-Ausgabe von 1926. In der Tat hat Baeumler den Übergang von der Jenaer zur Heidelberger Romantik auf fulminante Weise beschrieben: Der Witz, das leichte Spiel, das kühne Versprechen haben Abschied genommen. Die Worte sprühen und leuchten nicht mehr; schwer fließen die Perioden dahin. Eine neue Seele redet, eine erdgebundene, ringende, eine, die der Wirklichkeit verhaftet ist, die erkannt hat, daß im Leben die Arbeit und der Tod mitgesetzt sind. Es ist als ob die schützende Hülle der humanistischen Begriffskultur mit einemmal zerrissen wäre und der Mensch unmittelbar mit der Mutter Erde in Berührung gekommen sei. Die Kräfte strömen wieder aus dunkler Tiefe, der Mensch fühlt sich wieder dem Geheimnis des Lebens verbunden; an Stelle des Klanges wohlgeformter Perioden vernimmt das Ohr jetzt das Rauschen des Blutes. Was für verschiedene Schriftsteller sind nicht die Grimms neben dem glänzenden Essayisten Friedrich Schlegel! Mit dem Gefühl der Ehrfurcht im Herzen - und Ehrfurcht ist der herrschende Affekt der echten Romantiker - stilisiert man nicht.31
Das Neue in der Heidelberger Romantik ist bei Baeumler verbunden mit den Namen Görres, Arnim, Arndt und Grimm. Linden nahm außerdem dann nur noch Adam Müller mit seiner Staatsphilosophie in diese Reihe der >wahren< Romantiker auf. Brentano fehlt bei beiden. Bei Des Knaben Wunderhorn wird immer nur Arnim genannt.32 Ich komme darauf zurück. Entscheidend in beiden Arbeiten, bei Baeumler und bei Linden, ist die Betonung der Wirklichkeit, gegenüber der Frühromantik die Bindung an die >ErdeNation< und >Volkwahre< Romantik, so Linden, »den unzerbrechlichen, religiös unterbauten, organisch - irrationalen Lebenszusammenhang eines Volkes entgegen«.33 Wie legitim ist die Berufung dieser Leute, Baeumlers und Lindens und mit ihnen praktisch der gesamten damaligen Germanistik auf die Romantik, speziell auf die Heidelberger Romantik? Mit anderen Worten: entspricht die Idee des >Vol-
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Ebenda, S. 254f. Ebenda, S. 249. Es handelt sich um Alfred Baeumler: Einleitung zu Manfred Schroeter (Hrsg.): Der Mythus von Orient und Occident, 1926. Andere Autoren, die nach Linden Ansätze und Vorarbeiten zu der von ihm angestrebten Umwertung der Romantik vorgelegt hatten, sind Josef Nadler, Erich Rothacker, Paul Kluckhohn, Jakob Baxa und Günther Müller. Vgl., S. 247f. Ebenda, S. CLXXI. Vgl. auch Paul Kluckhohn: Das Ideengut der deutschen Romantik (1941), 5., unver. Aufl., 1966, S. 107: »Solcher Glaube an das deutsche Volk, ja Ehrfurcht vor ihm und seinen Traditionen verbindet die Heidelberger Romantiker, besonders Arnim und Görres, mit den Brüdern Grimm und Savigny, den Männern der Historischen Schule.« Auch hier fehlt Brentano! Linden: Umwertung der deutschen Romantik, S. 255.
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kes< in Brentanos Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl dem, was Baeumler und Linden meinten, wenn sie vom >Volk< sprachen? Diese Fragen erlauben keine einfache Antwort. Denn natürlich gibt es Übereinstimmungen. Vor allem im Hinblick auf die Motivation: das >Volk< als Retter des isolierten und entfremdeten Individuums der Moderne. Gerade bei Brentano aber, bei dem dieses Motiv eine so bedeutende Rolle spielt, läßt sich auch der Unterschied zwischen >Volk< hier und >Volk< dort besonders gut demonstrieren. In der Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl wird die Idee des >Volkes< von Brentano bewußt konstruiert, zusammengesetzt aus Dokumenten, schriftlichen und mündlichen. Die alte Bäuerin ist dergestalt erfunden, daß ihr hohes Alter und ihre spezifische Religiosität eine Welt entstehen läßt, die es so nie gegeben hat. Die Mythisierung der Frau ist eindeutig das Werk des Dichters. Ein Hauptmotiv Brentanos und Arnims für das Sammeln von Volksliedern war ja die Erfahrung, daß sie etwas aufbewahrten, was eigentlich verloren war. Dasselbe gilt für das Sammeln der Märchen durch die Grimms. Die alte Bäuerin auf ihrer Treppe erscheint den Umstehenden, d. h. den Städtern, Leuten der modernen Welt, die auch von Bauern erwarten, daß sie in der Gegenwart leben, »blödsinnig«, »müde«, »kindisch« und »schwach«. 34 Nur dem Erzähler, dem Dichter also, erscheint sie »groß« und bedeutend. 35 Der Unterschied zwischen dem >Volk< hier und dem >Volk< dort beschreibt somit ein unterschiedliches Verhältnis zur Realität. Auch Brentano bemühte sich, in der Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl die Idee des >Volkes< aus der Vergangenheit in die Gegenwart und damit in die Realität zu holen. Der Handlungsverlauf, der die Geschichten von Kasperl und Annerl, die wesentlich in der Vergangenheit spielen, mit der Gegenwart verbinden soll, ist dadurch begründet. Die Handlung freilich, die am Ende alle Wünsche der Frau erfüllt, kommt damit weder in der Gegenwart noch in der Realität an, sondern - mit der herzoglichen Intervention und dem symbolträchtigen Grabmal - im Märchen. Die reale Gegenwart war und ist anders. Das wußte auch Brentano. Baeumler und Linden dagegen ging es, wenn sie vom >Volk< sprachen, nicht um Vergangenheit und Märchen: Sie wollten Gegenwart und Realität. Deshalb ihre Rede von Erde und Scholle, von Blut und Boden. Ihre Polemik gegen die sogenannte Subjektivität der Frühromantik hat hier ihren Grund. Schon damals, in den 30er Jahren, gab es einzelne Forscher, die an der von Baeumler und Linden propagierten »Umwertung der deutschen Romantik« Kritik übten. So lehnte Oskar Watzel z. B. in mehreren Arbeiten die scharfe Trennung von Jenaer und Heidelberger Romantik ab. Er verteidigte Friedrich Schlegel und wies z. B. darauf hin, daß es auch in der Frühromantik schon um Objektivität und kollektive Bindungen gegangen sei.36 Die Auseinandersetzung Friedrich Schlegels und Novalis' mit der Philosophie Fichtes liefere dafür ein beredtes Zeugnis. Baeumler und Linden brauchten jedoch
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Brentano: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl - Werke, Bd. 2, S. 774f. Ebenda. Zur Auseinandersetzung Walzels mit den Thesen Baeumlers und Lindens siehe Klausnitzer: Die blaue Blume unterm Hakenkreuz, S. 121-125.
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die scharfe Trennung von früherer und späterer Romantik, weil sie nur mit Hilfe dieser Trennung die gewünschte Objektivität des >VolkesVolk< der Lieder und Märchen. Görres' und Müllers Engagement für die Politik hat mit den Fiktionen ihrer jeweiligen Philosophie nur mittelbar zu tun und führte, besonders bei Müller, zu gravierenden Widersprüchen. 37 Aber nicht nur wurde durch die Unterschlagung des Subjektiven in der Idee des >Volkes< (bzw. der Mythen und des Staates) das fiktive Moment, das Dichterische, eliminiert, auch daß dieses >Volk< anonym sein sollte, ist falsch. Abgesehen von Brentanos und Arnims Bearbeitungen der Volkslieder hat die Forschung in vielen Fällen die Autoren der Lieder nachgewiesen. Auch die Märchen der Brüder Grimm stammen nicht alle von der einen Dorothea Viehmann sondern von vielen verschiedenen Beiträgern, darunter sehr gebildeten, und z. T. aus internationalen Quellen. Damit steht auch das spezifisch Deutsche dieser Märchen in Frage. Es scheint, daß hier auch die seltsame Ignorierung Brentanos durch die Autoren des Dritten Reiches ihren Grund hat. Das Italienische in seiner Herkunft ließ ihn verdächtig erscheinen, ungeeignet, wesentlich Deutsches zu repräsentieren. Auch seine Biographie war wohl kaum nach dem Geschmack der Nazis. Die Wichtigkeit des so emphatisch betonten Realismus bei den Autoren des Dritten Reiches tritt noch deutlicher in Erscheinung, wo sie die biologische Natur des >Volkes< behaupteten. So z. B. Heinz Kindermann in dem Buch Dichtung und Volkheit: Grundzüge einer neuen Literaturwissenschaft, das 1939 in zweiter Auflage erschien. Kindermann schrieb hier über »die neuen Wertgrundlagen«: Wir haben uns also von den vorausgegangenen Zeiten dadurch zu unterscheiden, daß wir literarische Wertgrundlagen schaffen und anerkennen, die nicht bloß vom Formal-Artistischen, sondern die vom seelisch-geistigen Gehalt, von der volkhaft-weltanschaulichen Haltung, vom rassisch bedingten Menschenbild und der ihnen gemäßen, von ihnen durchbluteten Gestaltungen ihren Ausgang nehmen.« 38
Wie ernst solche »Wertgrundlagen« genommen wurden, beweist schließlich der Holocaust. Der »biologische Standpunkt« 39 Kindermanns plädierte offen für den Antisemitismus.
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Speziell zu Adam Müller vgl. Benedikt Koehler: Ästhetik der Politik. Und Klaus Peter: Einleitung zu Klaus Peter (Hrsg.): Die politische Romantik in Deutschland, bes. S. 48-52. Heinz Kindermann: Dichtung und Volkheit. Ein Auszug daraus in Sander L. Gilman (Hrsg.): NS-Literaturtheorie, das Zitat hier S. 23. Ebenda, S. 22.
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Den Antisemitismus allerdings gab es auch bereits in der Romantik. Nicht in der Frühromantik, aber in der Heidelberger. Gerade Brentano und Arnim sind bekannte Beispiele dafür. Die Idee des >Volkes< beschrieb von Anfang an, so scheint es, eine exclusive Gemeinschaft und Schloß diejenigen aus, die nicht dazu gehörten: die Anderen. Die Anderen aber waren in Deutschland die Juden. Antisemitische Äußerungnen sind sowohl von Brentano wie von Arnim überliefert, bei beiden gab es skandalöse Vorfälle mit Juden, bei Brentano mit Rahel Levin, bei Arnim mit Moritz Itzig. 40 Des Knaben Wunderhorn enthält Antisemitisches ebenso wie die Märchen der Brüder Grimm. 41 Und in der Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl singt die alte Bäuerin in ihrem Auferstehungs-Lied von den »falschen Juden« 42 . Geht das in dem Lied auf das Neue Testament zurück, so stellt der Kontext der Romantik, zumal der Heidelberger, die Beschimpfung der Juden auch in einen anderen Zusammenhang. Und damit in die Tradition, die zum Holocaust führte. Obwohl für diesen die »Umwertung der deutschen Romantik« à la Linden, der Entfiktionalisierung des >VolkesVolkes< bei Brentano und Arnim bereits die Keime enthielt, die dann fruchtbar wurden. Die peinliche Frage, ob Brentano und seine alte Bäuerin deshalb mitschuldig wurden an den Verbrechen der Nazis, kann man so beantworten oder so. Niemand konnte damals ahnen, daß die Fiktion des Volkes, die die Romantik als Kunst produzierte, einmal mehr sein sollte als Fiktion. Im Rückblick freilich zeigt sich, daß das schwankende Schwert des Scharfrichters nicht nur den Tod Annerls ankündigte, daß es nicht nur Annerl mit den Zähnen ins Unglück gerissen hat. Die Erzählung nimmt hier den Wahnsinn vorweg, der die Zukunft verdunkeln wird. Im Namen des >Volkes< entwickelt sie eine Vernichtungskrafit, deren Gewalt das Happy End nicht verdecken kann. Die so eigentümliche Religion der Bäuerin, die irrationale Mischung aus Glauben und Aberglauben, offenbart in diesem Kontext Züge, die, in die Realität umgesetzt, in die Barbarei mündeten. Der Versuchung, die romantischen Fiktionen in Realität zu verwandeln, erlag auch die Forschung in der DDR. Ebenso wie die Interpreten des Dritten Reiches trennte sie scharf zwischen Frühromantik und späterer, d. h. hauptsächlich Heidelberger Romantik. Auch die Gründe sind vergleichbar. So heißt es z. B. in dem 1967 erschienen kollektiven Band Romantik in der Reihe »Erläuterungen zur deutschen Literatur«:
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Zum Antisemitismus in der Romantik siehe Günter Oesterle: Juden, Philister und romantische Intellektuelle. Brentanos Verhältnis zu Rahel Levin beschreibt Hartwig Schultz: Schwarzer Schmetterling, S. 304-316. Zu Arnims Affaire mit Moritz Itzig siehe Hildegard Baumgart: Arnims »Judengeschichte«. In: Walter Pape (Hrsg.): Arnim und die Berliner Romantik, S. 71— 94. In Des Knaben Wunderhorn siehe das Lied »Die Juden in Passau«. In: Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn (Kritische Ausgabe, Reclam), Bd. 1, S. 86-88. In den Märchen der Brüder Grimm siehe das Märchen: »Der Jude im Dorn«. In: Grimm: Kinder- und Hausmärchen, S. 534-541. Brentano: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl - Werke, Bd. 2, S. 777.
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Während die Frühromantik auf ihre gesellschaftliche Umwelt hauptsächlich ablehnend, mit radikaler Gegenposition< und ohne >echte produktive Wirkung auf die Wirklichkeit reagierte, sahen sich die jüngeren Romantiker unmittelbar von ihrer Zeit angesprochen, mittels der Literatur einen Beitrag zur Lösung der nationalen Probleme zu leisten.43
Noch deutlicher heißt es wenig später: Der die Frühromantik kennzeichnende chiliastische Zukunftsglaube sowie die spekulative Hoffnung auf eine idealistisch-utopische Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse hatten sich endgültig als weltfremd und untauglich erwiesen; die Alternative für die jüngeren Romantiker bestand in der mehr oder weniger bewußten Orientierung auf die real existierenden sozialpolitischen und ideologischen, vorwiegend restaurativ-reaktionären Stützpfeiler des Antikapitalismus bzw. auf bürgerlich - liberale Kräfte des Antifeudalismus. 44
In der Jenaer und der Heidelberger Romantik stehen sich also wieder - wie bei Baeumler und Linden - abstrakte Philosophie und Leben bzw. Realität gegenüber. Kein Wunder demnach, daß die Autoren des Bandes in Brentanos Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl sozialistische Züge entdeckten. Auf Grund »eines leidenschaftlichen Strebens nach Volksnähe« wird die Erzählung trotz aller Vorbehalte gegenüber der »Mystik« des romantischen >VolksKlassenbewußtsein< heraus und erkennt den tiefen Gegensatz zwischen einer >natürlichen< Ordnung der Dinge und den herrschenden Zuständen. Trotzig verweist sie immer wieder auf die höhere Gerechtigkeit, die sie in die Worte kleidet: >Gib Gott allein die Ehre.Dorfgeschichte< und Freiligraths Gedicht, das die Erzählung zu den Vorläufern der Geschichten Berthold Auerbachs zählt.48 Damit wird Brentano ganz und gar im Realismus des 19. Jahrhunderts angesiedelt und seine Erzählung auf das Milieu des Bauerndorfes festgelegt. Mit Realismus haben jedoch Brentano und die Idee des >Volkes< in der Heidelberger Romantik nichts zu tun, weder mit dem des >Blut und Boden< noch mit dem sogenannten bürgerlichem oder sozialistischem- das sollte deutlich geworden sein. Hier ist der Vergleich mit einer kleinen Erzählung von Bettine von Arnim, der Schwester Brentanos und der Frau Arnims, aufschlußreich, der Erzählung vom Heckebeutel, die in den 40er Jahren entstand. Werner Vordtriede deutete als erster auf die Verwandtschaft dieser Erzählung mit Brentanos Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl hin.49 Gemeinsam ist beiden Erzählungen die alte Frau, eine Bäuerin, die in die Stadt kommt, allerdings aus jeweils anderem Grund. Beide Frauen sind ungefähr gleich alt - 88 bzw. 89; beide waren mit einem Grenadier verheiratet und haben oder hatten vier Söhne und eine Tochter. Söhne beider Frauen sind als Soldaten im Krieg gefallen. Beide Frauen kümmern sich notgedrungen um die Enkelkinder, da auch die Mütter tot sind. Beide Frauen sind arm und fromm und fallen durch ungewöhnliches Verhalten und großes Selbstvertrauen auf. Die Armut jedoch, die bei Brentano kaum eine Rolle spielt, steht bei Bettine von Arnim im Mittelpunkt der Erzählung, bildet ihr Thema. Die Autorin nennt ihre Erzählung geradezu eine »kleine Armengeschichte«. 50 Die Frau kommt in die Stadt, um zu betteln. Die Erzählerin, offenbar eine wohlhabende Dame mit Kontakten zum Hof, besitzt einen »Heckebeutel« mit Geld für die Armen. Aus diesem Beutel empfängt die alte Frau, wenn sie in die Stadt kommt, immer wieder fünf bis sechs Taler, womit sie sich anscheinend mit ihrer Familie über Wasser zu halten vermag. Bettine von Arnim, die versichert, daß es sich um eine >wahre< Geschichte handelt, möchte mit der Erzählung zeigen, daß es die Frau, die ohne ihre Schuld in Armut gefallen ist, nicht schafft, sich aus eigener Kraft zu helfen. Das stellte sie realistisch dar. Man erfährt historisch genau, in welchen Schlachten die Männer der Familie gefallen sind: Es handelt sich um
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Ebenda Ebenda, S. 271. Bei dem Gedicht handelt es um Ferdinand Freiligrath: »Dorfgeschichten« (1843). An Berthold Auerbach. In 12 Strophen gibt Freiligrath hier einen Überblick über die Entwicklung der »Dorfgeschichte«. Strophe 4 lautet: »Dann kam Brentano! Wie mit Blutestropfen / Schrieb der sein Annerl in gewalt'gen Zügen! / Der wußt' es wohl, wie niedre Herzen klopfen, / Und wie so heiß des Volkes Pulse fliegen! / Der warf zuerst aus grauer Bücherwolke / Den prächt'gen Blitz: die Leidenschaft im Volke!« Abgedruckt in: Gerhard Kluge: Clemens Brentano. »Geschichte vom braven Kasperl...«, S.146. Bettina von Arnim: Die Erzählung vom Heckebeutel - Bettina von Arnims Armenbuch, S. 124-136. Vordtriedes Beobachtung zur Verwandtschaft mit Brentanos Erzählung S. 136. Ebenda, S. 135.
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bekannte Daten der preußischen Geschichte im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Die unentwegten Anstrengungen der Frau, sich und ihre Familie zu ernähren, werden detailliert geschildert. Der Kontrast zu Brentanos Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl ist nur allzu klar. Während Brentano das Material seiner Erzählung kunstvoll verarbeitete, die so unterschiedlichen Lebensläufe Kasperls und Annerls brillant durch die Art, wie die alte Bäuerin erzählt, aufeinander bezieht und zu einer Einheit zusammenfugt, führt Bettine von Arnim die relevanten Fakten ihrer Erzählung direkt und nüchtern vor, ohne künstlerischen Anspruch, als bloße Dokumentation gleichsam. Die Identität des >Volkes< ist bei Brentano von der Kunst der Erzählung wesentlich bestimmt. Daß die historische Situation, Kasperls Teilnahme an den Kriegen gegen die Franzosen, eher vage bleibt, entspricht dem geringen Wert alles Historischen bei der alten Frau. Fern von allem Realismus, erfand Brentano diese Frau so, daß sie das >Volk< symbolisieren konnte, das es geben sollte, aber nicht (mehr) gab. Was es gab, ist die Frau in Bettine von Arnims kleiner »Armengeschichte«. Insofern bedeutet die kleine Erzählung vom »Heckebeutel« eine Korrektur der Erzählung von Kasperl und Annerl. Aber das läßt dieser Kontrast noch einmal sehr deutlich werden: Brentano ging es nicht um Realismus. Ihm ging es, wie der Romantik insgesamt, um die Erfüllung einer Sehnsucht, der Sehnsucht nach dem Ende des Leidens an der Welt, wie er sie damals, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, erfuhr, der Sehnsucht nach dem Ende von Isolation und Entfremdung.
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Knaack
Achim von Arnim, die britischen und die preußischen Freiwilligen in den Kriegen gegen Napoleon
Der preußische König Friedrich Wilhelm schrieb am 17. März 1813 den Aufruf An mein Volk, in dem er alle seine Untertanen zum Krieg gegen die Franzosen aufrief. Um in diesem Kampf alle Kräfte aufzubieten und das bestehende Heer zu unterstützen, wurde in Preußen die allgemeine Bewaffnung der Bürger in drei Schritten vorgenommen. Zunächst beschloß im Februar 1813 ein vom Freiherrn vom Stein initiierter Landtag in Königsberg einen vom General von Clausewitz ausgearbeiteten Plan zur allgemeinen Volksbewaffnung, einer Landwehr, worauf am 17. März dann die Verordnung zur Landwehr erschien, die alle Männer zwischen 17 und 40 Jahren verpflichtete, ohne Sold ihrer Heimatgemeinde für Kriegsdienste zur Verfügung zu stehen. Waffen und Ausrüstung sollten ihnen zur Verfugung gestellt werden. Und knapp einen Monat später, am 13. April 1813, wurde der Landsturm per Verordnung einberufen. Das waren alle Männer, die nicht zum Militär oder zur Landwehr gehörten. Damit war die Forderung des Generals Gerhard von Scharnhorst, die gesamte männliche Bevölkerung zur Befreiung des Landes einzusetzen, quasi erfüllt. Auch der zweiunddreißigjährige in Berlin lebende Dichter und Familienvater Achim von Arnim, der über keinerlei militärische Ausbildung oder Erfahrungen verfügte, wurde zum Landsturm einberufen. Er wurde Hauptmann und Vizechef eines der insgesamt 32 Landsturm-Bataillone1 in Berlin und befehligte 128 Männer, die mit fünf Gewehren und 109 Piken ausgerüstet waren. Besonders in Berlin gab es eine Fraktion aus Adligen und Bürgern, die aus verschiedenerlei Besorgnissen gegen die Einrichtung einer solchen allgemeinen Volksbewaffnung war. Vor allem fürchtete sie die mehr oder weniger unkontrollierte Bewaffnung aller Bevölkerungsteile, die natürlich auch zu einem eigenen Machtpotenzial im Staate wachsen könnte. Viele Adlige und Bürger verließen deshalb mit ihren Familien die Stadt. Am 15. Mai überreichte eine Berliner Deputation des Magistrats dem König eine Bittschrift, in der Bedenken gegen bestimmte Vorschriften des Landsturmedikts vorgebracht wurden. Arnim war eindeutig ein Befürworter des Landsturms, und er hat in einem Aufsatz, der zur Veröffentlichung bestimmt war, eindeutig Stellung genommen. Dieser ist in zwei getrennt aufbewahrten handschriftlichen Teilen erhalten. Der erste kürzere ist Landsturm überschrieben und befindet sich im Goethe- und
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Blumenthal: Der Preußische Landsturm von 1813, S. 67.
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Schiller-Archiv in Weimar, 2 der zweite heißt Der erste Auszug brittischer Freiwilligen im Jahre 1803 ein Gemälde von Ströhling und befindet sich im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt. 3 Beide Teile gehören mit größter Wahrscheinlichkeit zusammen, weil die Papiere ein identisches Wasserzeichen haben und der Hinweis im ersten Teil auf »das folgende Blatt«4 eindeutig auf den zweiten Teil verweist. Geschrieben ist der gesamte Artikel im Mai oder Juni 1813, obwohl Arnim so tut, als sei der zweite Teil schon im Jahr 1803 entstanden und Teil seines Tagebuchs. Im Taschenbuch aus der Zeit seines Aufenthaltes in England findet sich auch eine viel kürzere Notiz, 5 die Arnim als Vorbild für den ausführlichen Aufsatz genommen hat. Arnim schreibt über ein Bild, das Gemälde eines deutschen Malers, gemalt wohl 1803 in England. Er hat diesen Ersten Auszug brittischer Freiwilligen im Jahre 1803 wahrscheinlich 1803 oder 1804 in England ausgestellt gesehen. Der Maler soll der Düsseldorfer Peter Eduard Ströhling gewesen sein, der auch Arnims Porträt gemalt hat, das heute im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt hängt. Hinweise auf die Existenz des Bildes sind bis heute nicht gefunden worden, Arnim beschreibt das Bild jedoch so detailliert und plastisch, daß zunächst an der ehemaligen Existenz nicht gezweifelt werden muß. Was jedoch auch nicht ausschließt, daß Arnim dieses Bild nur dem deutschen Maler zuschreibt, um einen größeren Effekt bei den Lesern hervorzurufen. Letztendlich ist die wirkliche Existenz des Bildes für Arnims Intention auch nicht so wichtig. Viel wichtiger ist die Situation, die das Bild beschreibt. Es geht um die britischen Freiwilligen, die Arnim 1803 in Großbritannien gesehen hat und deren Auftreten ihn so nachhaltig beeinflußt hat, daß er noch zehn Jahre später eine gleiche Einrichtung für Preußen fordert. Das Gemälde zeigt sechzig Männer aller Stände als freiwillige Soldaten, die Abschied von Frau und Kind nehmen. Unter ihnen auch die Politiker Pitt und Fox unter der britischen Fahne. Für Arnim ist es ein Wunder, daß so viele sich als Freiwillige gemeldet haben. Aber er hat auch eine Erklärung dafür. Es ist die britische Verfassung, wo sich alles und demnach das Beste mit heilig siegender Kraft durch alle Klassen der Einwohner frei mitteilt, weil jeder sich in seinem Kreise als ein tätiger Bürger für das öffentliche Wohl fühlen kann, weil jeder mitwirkend auch mitfühlend vor dem beweglichen Bilde der allgemeinen Weltbegebenheiten steht und aus seinem Standpunkte es fassen muß, weil er davon ergriffen und fortbewegt wird.6
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Signatur GSA 97,2, gedruckt in Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 41 Of. Signatur FDH 7715,11, gedruckt in Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 411-415. Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 411. Signatur FDH, Β 69, gedruckt in ebenda, S. 1233. Ebenda, S. 413.
Britische und preußische Freiwillige in den Kriegen gegen Napoleon
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Linda Colley hat in ihrem Buch Britons über die Entstehung der britischen Nation in dem Kapitel »Manpower« sehr ausfuhrlich über die britischen Freiwilligen geschrieben: Wie kann eine große Anzahl von Menschen, die an der Armutsgrenze leben, dazu gebracht werden, Leib und Leben für die Nation zu riskieren, die ihnen eine aktive Staatsbürgerschaft nicht zubilligt? Welche Art von Appellen kann sie zur Aufnahme der Waffen bewegen? Und welche Bedeutung misst man ihrem Einsatz und ihrem möglichen Opfer bei?7
Diese zunächst provokant scheinenden Fragen beantwortet Colley mit der detaillierten Auswertung von Fragebögen, die von der britischen Regierung während der Bedrohung durch Frankreich in den Jahren 1798 und 1803 landesweit erstellt worden waren. 1798 befahl die britische Regierung, daß lokale Offizielle jeden annehmbaren Mann zwischen 15 und 60 befragen sollten, ob er willens sei, bei einer Invasion mit Waffen zu kämpfen. 1803 befahl der Staat weitere Befragungen, dieses Mal für alle annehmbaren Männer zwischen 17 und 55. Das Ergebnis von Colleys Auswertung der erhaltenen Fragebögen ist unter anderem, daß es durchaus Männer gab, die aus ganz persönlichen Gründen nicht an der freiwilligen Verteidigung des Landes teilnehmen wollten, daß jedoch die überwiegende Mehrheit dazu willens war. Um 1804 waren etwa 500 000 Männer bereit, freiwillig außerhalb der festbesoldeten Armee zu kämpfen. Die Ausgangssituation in Preußen als besetztes Land im Jahre 1813 war natürlich zunächst eine völlig andere, man konnte schlecht unter den Augen der Besatzer die Bevölkerung fragen, ob sie mit einer allgemeinen Bewaffnung aller Männer einverstanden wäre. Arnim setzt dieses jedoch als gegeben voraus. »Die Zeit der Löhnsoldaten ist [...] vorbey, die Menschen haben gelernt, was ein Vaterland, diese Liebe lässt sich nicht besolden.« 8 Dieses schreibt Arnim in seinem englischen Tagebuch 1803/04. Und genau diesen Gedanken greift er 1813 in seinem Aufsatz über Ströhlings Bild wieder auf: Solche Liebe läßt sich so wenig belohnen und erzwingen als berechnen, sie ist freiwillig und allgemein, [...] solche Liebe zum Vaterland ist der schöne Preis heilig bewahrter Gesetze in ihrer fortschreitenden Entwicklung, wie sie in England durch den Geist der Ausgezeichneten in der Prüfung aller sich bilden. 9
Noch wieder siebzehn Jahre später schreibt Arnim 1830 in einer Rezension zu einer Biographie des Generals Scharnhorst, einen der geistigen Urheber der allgemeinen Bewaffnung in Preußen, daß es ein Irrtum sei, anzunehmen, ein einziger Mann könne »einem Volk einen Geist einhauchen« 10 , sondern nur der versöhnte Geist des Volkes in der Lage sei, solche Vorschläge wie zur Einrichtung eines Landsturms anzunehmen. Der Geist des Volkes hat Scharnhorsts »Einrichtungen freudig aufgenommen, aber er war vor ihm, blieb nach ihm und geht nicht unter.«11
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Colley: Britons, S. 300. Signatur FDH Β 69, S. 21. Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 413. Ebenda, S. 1020. Ebenda, S. 1023.
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Arnim hat die detaillierten Ergebnisse der Befragungen der britischen Bevölkerung durch die Regierung 1803 nicht kennen können, weil sie laut Colley nie veröffentlicht wurden. Aber er hatte ja die praktische Auswirkung mit eigenen Augen gesehen: Ich reiste durch das Land, sah überall mit Staunen, wie Großbritannien bloß durch das Beispiel und den Gedanken einiger seiner ausgezeichnetsten Männer bis zum kleinsten Landsitze durchdrungen, eine neue staunenswerte Kriegsmacht ohne öffentliche Unterstützung sich gebildet hatte, die vereint mit dem Heere jeder drohenden Landung der Franzosen ruhig die Stirn bieten konnte. 12
Diese positive Schilderung, die den Vorbildcharakter betont, hielt Arnim siebzehn Jahre später nicht davon ab, sich in der Erzählung Die Ehenschmiede, die 1803 in Schottland zur Zeit der erwarteten napoleonischen Landung spielt, über die britischen Freiwilligen lustig zu machen.13 Vom Federdrachen, der waffentechnischen Erfindung des Ingenieurs Rennwagen, erhofft sich ja einer der Schotten eine Befreiung »von dem verdammten freiwilligen Drillen«' 4 , das er dann im folgenden dem Erzähler sehr sarkastisch schildert. Es ist in der Forschung bisher weitgehend unberücksichtigt, inwieweit Großbritannien Vorbild für die preußische Landwehr- und Landsturmbewegung gewesen ist. Immerhin wird 1813 in der Denkschrift des Staatsrates Christian Friedrich Scharnweber, in der er für die Aufhebung des Landsturmedikts plädiert, bei einem Vergleich der Truppenstärken England ganz lapidar als »das blühendste Reich der Erde«15 bezeichnet. Der Publizist Ernst Moritz Arndt war einer der glühendsten und erfolgreichsten deutschen Propagandisten zur Befreiung von der französischen Besatzung. Arndt, der die Notwendigkeit einer allgemeinen Bewaffnung des Volkes und die Schaffung milizartiger Verbände neben dem stehenden Heer mit seinen Schriften begründete, leitete die Möglichkeit eines erfolgreichen Volkskrieges aus geschichtlichen Erfahrungen her. Vorbild waren ihm die Aktionen der spanischen Guerillas gegen die französischen Eindringlinge, die Erhebung der Tiroler Bauern unter Andreas Hofer, die österreichische Landwehr von 1809 und vor allem die 1812 bewaffneten russischen Bauern und Bürger. Ende Januar 1813, also kurz vor dem Königsberger Landtag, veröffentlichte er erstmals seine Schrift Was bedeutet Landsturm und Landwehr? Diese sechzehnseitige Flugschrift zündete zuerst in Ostpreußen, wurde unmittelbar nach ihrem Erscheinen in Königsberg zunächst in Elbing und dann im Laufe des Jahre dutzendfach in Deutschland nachgedruckt. Als mit der Aufstellung der Landwehr- und Landsturmverbände im März und April 1813 begonnen wurde, wuchs das Bedürfnis und die Nachfrage nach Arndts Landwehr-Broschüre sprunghaft an. Ende März tauchte sie bereits zweimal in Berlin auf, abgedruckt in einem Sammelwerk Zur Befreiung Deutschlands und in 12 13 14 15
Ebenda, S. 412. Ebenda, Bd. 4, S. 890. Ebenda, S. 890. Blumenthal: Der Preußische Landsturm von 1813, S. 93.
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der Zeitschrift Rußlands Triumph oder das erwachte Europa. Eine viel beachtete Initiative ging von Georg Barthold Niebuhr aus, der durch eine Subskription 200 Taler zusammenbrachte und dafür Ende März 1813 rund 50 000 Exemplare der Schrift drucken ließ. Zur selben Zeit gründete Niebuhr den Preußischen Correspondenten, der erstmals am 2. April erschien. Arndt schreibt zu Beginn seiner Flugschrift: Nachdem die Franzosen zehen Jahre gewüthet und sich selbst und alle Nachbarländer unglücklich gemacht hatte, ward Napoleon Bonaparte ihr Herr, welcher alle Völker unterjochen und die Welt bezwingen wollte. Dieser drohete zuerst gegen England; aber die Engländer boten die Volkswehr auf, und binnen einem halben Jahre standen, außer der großen Flotte und dem stehenden Heere, 400.000 Engländer unter Waffen, und der stolze Tyrann fürchtete sich und dachte nicht weiter daran übers Meer zu gehen. 16
Woher Arndt seine Informationen zu Großbritannien hatte, ist mir nicht bekannt. Doch bereits im Mai 1804 wurde das britische Parlament darüber informiert, daß 176 000 Briten in Großbritannien bei den Milizen, der regulären Armee und in diversen privaten freiwilligen Corps dienten. Weitere 482 000 hatten ihre Bereitschaft erklärt, sich im Falle einer Invasion zu bewaffnen, und viele übten bereits in staatlich unterstützten freiwilligen Corps. Mehr als 200 000 Freiwillige hatten Feuerwaffen, die in den Zeiten zwischen den Übungen in den Kirchen aufbewahrt wurden. Und diese Zahlen waren natürlich auch europaweit bekannt geworden. Arndt schrieb seine Schriften überwiegend im Auftrag vom Freiherrn vom Stein, und für diesen hatte Arnim ja bereits in Königsberg 1806 Aufsätze zur Neuordnung des Heeres gemacht. Und schon damals schrieb er im Aufsatz Indem ich die Feder ansetze: »[...], nicht daß ich den frommen Glauben gehabt hätte, Vasallen könnten noch in unseren Tagen eine brauchbare Landwehr abgeben, [...] insbesondere zur Mobilmachung des ganzen Landes schien es mir notwendig.« 17 Arnim kannte 1813 mit Sicherheit Arndts Propagandaschrift, vielleicht wollte er mit seinem Aufsatz über Ströhling diese mit dem englischen Vorbild unterstützen. Denn es ist sicher, daß er veröffentlicht werden sollte, vielleicht sogar in Niebuhrs Preußischen Correspondentes, denn von Arnims eigener Hand steht als Notiz an den Setzer über dem zweiten Teil der Handschrift »mit kleinster Schrift«. Es ist jedoch auch ziemlich sicher, daß der Aufsatz nicht veröffentlicht wurde. Erstens hat sich bis heute kein Druckort gefunden, und zum zweiten ist die Tatsache, daß ein Manuskript in Arnims Nachlaß erhalten ist, ein deutlicher Hinweis, das es nicht gedruckt wurde. Daß der Freiheitskampf in Spanien und Tirol in Deutschland eher als Vorbild diente als die britische Freiwilligen Bewaffnung, lässt sich natürlich leicht erklären. In beiden Ländern wurde tatsächlich gekämpft und teilweise Erfolge erzielt, Großbritannien hatte allein durch seine öffentlich demonstrierte Macht Erfolg und mußte auf eigenem Boden so gut wie gar nicht dafür kämpfen, nicht besetzt zu werden. 16 17
Arndt: Was bedeutet Landsturm und Landwehr?, S. 3. Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 196.
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Nachdem die direkte Bedrohung Preußens durch Frankreich geschwunden war, wurde der Landsturm auch bereits im Juli 1813 wieder aufgelöst, die Angst der Herrschenden vor einer dauernden allgemeinen Bewaffnung der Bevölkerung war zu groß. Für Arnim war der Landsturm, wie ein späteres undatiertes Manuskript über die Wiederherstellung des Landsturms in den Städten zeigt, durch die »gegenseitige Berührung mannigfaltig getrennter Menschen« ein »Grundstein der Verfassung«,18 für die er Zeit seines Lebens eingetreten ist. Und hierfür war eben auch Großbritannien ein Vorbild, wie an diesem einen kleinen Beispiel zu zeigen war. Liest man Arnims Schilderung des Gemäldes von Ströhling, dann ist man leicht versucht, die Beschreibung des berlinischen Landsturms durch Arnims Frau Bettine in einem Brief an ihre Schwester Meline aus dem Jahre 1814 als Pendant und zumindest durch Arnims Aufsatz beeinflußt zu sehen: [...] wärend Land Sturm und Landwehr in Berlin errichtet wurden war auch ein seltsames Leben da, da waren alle Tage auf offner Straße Männer und Kinder (von 15 Jahren) von allen Ständen versammelt die dem König und Vaterland schwuren in den Tod zu gehen. Mich hats manchmal bis ins Marek der Knochen geschaudert, wenn ich im vorbeigehen auf großen sonst einsamen Pläzzen einen solchen Eid, darauf ein herzliches vivat gegen Himmel schallen hörte. Auch war es seltsam anzusehen wie bekannte Leute und Freunde mit allen arten von waffen zu jeder Stunde über die Straße liefen, so manchen von denen man sichs vorher kaum dencken konnte daß sie Soldaten wären, stelle Dir z. B. in gedancken Savigny vor der mit dem Glockenschlag 3 wie besessen mit einem langen Spieß über die Straße rennt (eine sehr algemeine Waffe bei dem Landsturm, der Philosoph Fichte mit einem eisernen Schild und langen Dolch, der Philolog Wolf mit seiner langen Nase hatte einen Tyroler Gürtel mit Pistolen, Messern aller Art und Streitäxten angefüllt, der Theolog Marheinecke [...] war auch Hauptmann, Pistor [...] trug einen Panzer von Elendstierhaut mit vielen englischen resorts, einen Spieß und zwei Pistolen, dieser war auch Hauptmann und exerzierte seine companie alle Tage vor meinem Hause. Bei Arnims companie fand sich allemal ein Trupp junger Frauenzimmer, die da fanden, daß das militair Wesen ihm von vorne und hinten gut anstand."
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Signatur GSA 97,2, gedruckt in Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 1232. " Schmidt: Zwei Briefe Bettinas, S. 81 f.
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Reisespuren in Arnims englischen Lyrik-Heften
Im Arnim-Nachlaß des Goethe- und Schiller-Archivs liegen acht kleine - von unbekannter Hand in Sütterlinschrift als »Skizzenhefte« bezeichnete - Bändchen, die neben anderen Texten vor allem Gedichte aus der Zeit von Arnims Aufenthalt in Großbritannien (1803/04) enthalten und deshalb praktischerweise als »Englische Lyrik-Hefte« bezeichnet werden.1 Einige haben im Papier das Wasserzeichen »1802«, manche Wasserzeichen sind als englisch zu erkennen, z. B. »Wise«, »Buttanshaw«, »GR«. Die Einträge sind nicht datiert, die Numerierung 1-8 stammt sicher nicht von Arnim, stimmt mit der mutmaßlichen Chronologie jedenfalls nicht überein. Werkbruchstücke von Dramenskizzen - wie dem Polterabend der Mythen - , aber auch von Gedichtentwürfen, die über verschiedene Hefte verstreut sind, machen überdies deutlich, daß Arnim keineswegs ein Heft nach dem anderen vollschrieb, sondern offenbar abends im Gasthaus irgendeines herauszog, um seine Einfalle aufzuschreiben. Besonders mühsam zu entziffern sind Einträge, die er in der Kutsche mit Bleistift notierte und die er zum Teil später selbst nicht mehr lesen konnte; ich zitiere ein Distichon aus seinem Brief an Clemens Brentano vom 27. Dezember 1803, das er zuerst in Heft 6 schrieb: Lieder, die besten verträum ich, die bessern zerreiben im Bleystift, Wozu nüzet der Rest, der sich der Feder gefugt? 2
Andere Gedichte sind mit fast unleserlich blasser Tinte geschrieben, wohl weil Arnim in das trockene Tintenfaß Wasser nachgegossen hatte, als ihm an der schottischen Grenze das Geld ausging, wie er dem Onkel schrieb,3 oder weil es in der 1
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Signatur GSA 03/183. Sie sind in braune Ledereinbände gebunden. Das Heft 8 ist dicker, der Umschlag mit gepreßter Bordüre verziert. In diesem Aufsatz werden alle Gedichte ohne Varianten wiedergegeben. Der teils sehr komplizierte Entstehungsprozeß wird in der Edition der Weimarer Arnim-Ausgabe dokumentiert werden. Für die freundliche Genehmigung zu Zitaten und einer Abbildung danke ich Herrn Direktor Dr. habil. Jochen Golz vielmals. Handschrift im Freien Deutschen Hochstift, Signatur FDH 7358. Herangezogen wurde fur Arnims Briefwechsel dieser Jahre: Arnim: Briefwechsel 1802-1804 - Werke und Briefwechsel, Bd. 31, Brief Nr. 327: London 24.-27. Dezember 1803; Band im Druck; vgl. Schultz (Hrsg.): Freundschaftsbriefe, S. 184. Die Vorstufe des Zweizeilers in Heft 6, Bl. 20r . Vgl. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 1041. Der Zweizeiler wurde integriert in ebenda., Nr. 166: Die Laute-, vgl. den Druck in Arnim: Gedichte, S. 229. Handschrift GSA 03/1050. Arnim an Hans Graf von Schlitz, vermutlich November oder erste Häfte Dezember 1803: »Hier an der Grenze von Schottland ist uns das Geld ausgegangen [...].« Er spricht weiter von »Baumwollenmühlen« und »Kohlenmienen« (Arnim: Briefwechsel 1802-1804 - Werke und Briefwechsel, Bd. 31, Nr. 324.K.).
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Wildnis des Berglands keine Tinte zu kaufen gab. Diejenigen Gedichte, die Arnim später überarbeitete, sind in den Heften passagenweise kaum zu entziffern, weil er die Angewohnheit hatte, auf die Wörter einfach draufzuschreiben, ehe er eine frische Abschrift nahm. Daß er überdies oft zwischen den Wörtern die Feder nicht absetzte, ist auch aus anderen Handschriften hinlänglich bekannt. Die Lektüre gleicht daher gelegentlich einem Abenteuer im Urwald. Die Hefte sind keine Tagebücher, obwohl sie in der Aufnahme und Verarbeitung des Erlebten und Gesehenen sowie in der Selbstvergewisserung Eigenschaften des Tagebuchs zeigen. Wenn man sie auf Spuren der Reise untersuchen will, ist man auf inhaltliche Details angewiesen, die auch in anderen Zeugnissen auftauchen, vor allem im gleichzeitigen Prosa-Taschenbuch, das im Freien Deutschen Hochstift liegt und mit der Signatur Β 69 zitiert wird,4 sowie den Briefen. Nur enthält das Taschenbuch Β 69 ebenfalls keine Datierungen, und selbst die Briefe der Reisezeit vom August bis zu Weihnachten 1803 sind nicht datiert, so daß man Gefahr läuft, mit seinen Überlegungen im Kreis herumzulaufen. In seinem langen Weihnachtsbrief, in dem Arnim Brentano eine ganze Reihe von Gedichten mitteilt, teils im Anfang als Prosatextkollage, schreibt er dem Freund am 27. Dezember 1803: »Ich bin drey Monate herumgereist das ist die Ursache meines langen Schweigens, ich bin herumgehezt worden, wie ein Wilddieb, den man an einen Hirsch angeschmiedet durch die Wälder jagt [,..].«5 Das »herumgereist« bedeutet möglicherweise, daß die Brüder Arnim keine planvolle Route verfolgten; jedenfalls lassen sich derzeit nur Punkte ausmachen. Daß die Brüder überhaupt - anders als vom Onkel geplant - noch von Frankreich aus nach England Weiterreisen konnten, erklärt sich als Konsequenz des Studiums in Göttingen, welches nach dem an der preußischen Universität Halle auch erst erkämpft werden mußte.6 Göttingen gehörte zum Königreich Hannover, damals in Personalunion mit Großbritannien. Diese Tatsache wird noch in Arnims letzter Erzählung Die Ehenschmiede thematisiert, die in Schottland spielt und in der dem Erfindergeist aus Göttingen und Großbritannien eine tragende Rolle zukommt. Die Erfindungen waren es, die Arnim beim Gedanken an Großbritannien, das Land des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts, faszinierten. Für Arnims Onkel, der für die Ausbildung der Brüder Vaterstelle vertrat, war dieser Aspekt vermutlich deshalb akzeptabel, weil die Brüder später die Verwaltung des Grundbesitzes übernehmen sollten. Der Sommer 1803 brachte Arnim den Anblick des Meeres, d. h. des Ärmelkanals, den er zuerst in Boulogne sah; die Überfahrt ging von Calais nach Dover. Nach ein paar Wochen in London reiste Arnim im Juli auf die Insel Wight. Das Heft 3 nennt als Orte der Reise: »Schlechteres Wirthhaus in der Gegend bey Ride« (d. i. Ryde im Norden der Insel; Bl. 8r, alles in Bleistift) sowie »Die beste Ansicht Bissit Bücher Trinkgeld. Das verschwindende Land und die Schiffe Anfahrt nach Portsmouth« (Bl. 8v). Das Erlebnis des sommerlichen Meers hinterließ einige 4 5 6
Daraus hatte schon Christof Wingertszahn zitiert: Wingertszahn: Arnim in England, passim. Handschrift FDH 7358 - Werke und Briefwechsel, Bd. 31, Brief Nr. 327; Band im Druck. Vgl.: Arnim: Briefwechsel 1788-1801 - ebenda, Bd. 30, S. 75-80, Nr. 71-72; 74K1-75K.
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Spuren in den Gedichten, nicht nur die Schiffsreisen, sondern auch Flora und Fauna, z. B.: 7 Meerthiere Lasst mich nicht Sammlungen sehn es sey denn mit Fleisse der Jahre, Aber das einzelne Thier zeigt nur am eigenen Ort. Nein ich kann es nicht sagen wie hoch mich erfreuet die Thiere, Und die Pflanzen zugleich in dem gewaltigen Meer Sorglich deckt sie die Fluth und nährt sie, wies jegligem dienet, Doch die Liebe zum Mond ziehet das Wasser zurück. Rothe Sterne dann decken das Land, wo Winde sich jagen, Neidisch über den Sand, den sie endlich erreicht, Spinnen tragen die Kinder im Arme zu sicheren Höhlen Jene Träume der Welt, Häuslige Liebe ist hier Sehet die Pflanze hier an, sie hat nicht Adern und Lagen, Nur sich scheidend im Blat setzet sie längs sich fort. Eben so einfach die Wurzel, denn das ist immer Verhältniß Einfach wie jemals Natur wirkt sie ein grosses Geschick. Sie bereitet den Boden den künftigen grossen Geschlechtern, Ohne sie wäre die Welt noch in Steinen ein Meer. Wie die Pfanze ist einfach so künstlich sind hier die Thiere, Von dem Meerthier erlernt Mensche jeglige Kunst. Jagt und Fischen und Bau von Festung und Häuser Alles erzählt euch ein Thier das am Felsen hier klebt. Ist es gestorben so bleibet sein Hauß ein ewges Denkmahl, Schnecken legen hinein ihre kleinlige Brut Andre haben die Festung mit sich im festeren Harnisch, Wie die Auster sie schliest an dem Boden sich an Andre röthlig gefärbt mit tausend geschäftigen Armen Holen wie Vögel herab Feinde ihres Geschlechts Aber den Ackerbau selbst ihn lehren die prächtigen Schalthier Seine Waffen es braucht sich zu verschafen ein Feld, Auf der Schale der wachsen so mancherley grünlige Faden, Und es duket so schlau sich dem nahenden Feind Freilich was mehr ihr noch übt zu bauen den Acker für andre Eure Pikenicks selbst kennen die Meerthiere nicht Darum reisst sie nicht los von ihrem geheiligten Boden Bürger sind sie schon jezt einer künftigen Welt. In London fühlte sich Arnim sehr unwohl; einerseits scheint ihm das Klima in der Metropole nicht bekommen zu sein, zum anderen sah er sich außerhalb der deutschen Kreise - Bankiers und Diplomaten, mit denen sich offenbar keine geistige Übereinstimmung ergab - zu einer bislang nicht gekannten Stummheit verdammt. Besonders sein Brief v o m 5. Juli 1803 an Brentano gibt darüber Aufschlüsse: A u f einem Themseschiff kann er einer schönen Witwe seine Verehrung nicht mitteilen; aus der gerade erschienenen Sammlung von Walter Scott, Minstrelsy of the Scottish Border* - Wunderhorn-Anregung und Quelle für mehrere Publikationen 7 8
Heft 8, Bl. 17v-18v. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 1008. Erstdruck: Bd. 1 u. 2: 1802; Bd. 3: 1803. Arnim erwarb wohl die zweite Auflage, Edinburgh: James Ballantyne 1803.
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in der Zeitung für Einsiedler und dem Wintergarten -, möchte er »ein Englisch lernen, das kein Mensch verstehen soll, damit ich mich an den Engländern räche und ihnen beweise, daß sie eigentlich gar keine Sprache reden«, 9 wie er - doch etwas unreif - meint. Die Not war aber auch zu groß: Gleich im ersten Satz des Briefs klagte er: »[...] ich bin schon geschlagen genug, weil ich nicht einmal weiß oder fragen kann, wo ich mein Wasser abschlagen soll«. In dieser äußersten Bedrängnis griff Arnim zum Wörtenbuch und versuchte, sich die nötigsten Vokabeln herauszuschreiben, und so beginnt das Heft 6 mit: »Wasser lassen Make water«. Nach der Sommerreise nach Wight ging Arnim das Lernen systematisch an, quartierte sich in einer Schule in Tooting südlich von London ein und paukte. Mit der ihm eigenen Lernintensität (die wir nun durch seine Schülerarbeiten kennen 10 ) kam er schnell voran; die meisten Schulaufzeichnungen wird er weggeworfen haben, aber das Heft 6 enthält z. B. einen fiktiven englischen Brief." Arnim vertiefte den Sprachunterricht durch intensive Lektüre. Auch hierüber geben die Hefte Aufschluß, sie enthalten Büchertitel nicht nur zu englischer Literatur, sondern auch zu Biologie und Mathematik, zur Landeskunde und zu dem hier nicht mehr so fernen Indien. Wie kritisch er las, zeigen seine Notizen im Taschenbuch Β 69 über William Godwins History of Chaucer, dessen bibliographische Angabe sich im Heft 2 befindet. Dennoch blieb während des Jahrs auf der Insel die Isolierung groß, da es ihm an Gesprächen mit Gleichgesinnten fehlte. Der Bruder Carl Otto, der ihn doch die ganze Zeit begleitete, wird nur in einem Briefkonzept ein einziges Mal erwähnt, als negative Erinnerung, als ein Mensch, der seine Entwicklung gehemmt hätte.12 Seine Einsamkeit schafft Arnim zu einer trotzigen Freiheit um: Sprache Schaffe dir eigene Sprache die Worte den Freyen nicht binden Ewig die Menschheit besteht sinket auch Sprache und Volk.13
Oder pessimistischer: Sprache Ewig versuchet den Bau vom Babylonischen Thurme, Menschen verstehen sich nicht wenn die Sprache ist eins.14 9
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Handschrift FDH 7356. Arnim: Briefwechsel 1802-1804 - Werke und Briefwechsel, Bd. 31, Nr. 314. Vgl. Arnim: Schriften der Schüler- und Studentenzeit - ebenda, Bd. 1. Bl. 3 lr. Im Briefkonzept fur Clemens Brentano, London, 2. März 1804 (nicht abgesandt; Handschrift UB Heidelberg, Signatur 2110,3; Arnim: Briefwechsel 1802-1804 - Werke und Briefwechsel, Bd. 31, Nr. 334.K): »Milde und sorgsam mich aufzog das Hauß der Mutter der Mutter. Ungleich war mein Gemüth von ihrem[J vom Bruder[,] was ich im Innern geliebt, riß aus den Armen der Streit [...]«. Heft 8, Bl. 7v. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 1279. Vgl. den Druck in: Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 93. Heft 2, Bl. lr. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 598. Integriert als Zeile 1 und 6 in das Gedicht Sprache, vgl. den Druck in Arnim: Gedichte, S. 221.
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Gegen Ende August begann vermutlich die große Reise der Brüder, die sie bis ins schottische Hochland und zur Insel Staffa führte, wo Arnim die Fingals-Höhle sah (zu erschließen nach der Elegie aus einem Reisetagebuche in Schottland in der Zeitungfiir Einsiedler). Vermutlich brach man von London zunächst nach Westen auf, das Heft 6 erwähnt das »Wallis«15; auch die Rahmenhandlung von Arnims Erzählung Owen Tudor spielt während einer Postkutschenfahrt durch diesen Landstrich: Wallis Grünend seh ich den Berg getheilet von dichtesten Hecken, Seh die Lüfte verdeckt von dem Rauche des Heerds, Sah die Wege belastet mit starrend eisernen Waffen Seh die Burgen durchgründ seh die Weg sich heben, Seh voll Schiffe das Meer, seh voll Gluthen viel Gras (?) Seh die Mantelchen voll Kräuter (?) von den Weibern im Abend, Seh das schwarze Har von den Männern gar schön, Eines fühlte mir nur was ich im Herzen vermisset, Daß den heiteren (?) Sinne sträfliche Rede gestöret, Ach es ist uns lieb, wenn uns Faulheit erlaubt.
Ferner werden in diesem Heft Bath und Wocester erwähnt. Ein Gedicht Denkmahl auf den deutschen Erfinder der Schuzblattern, d. i. der in Berkley in Gloustershire lebende Arzt Eduard Jenner, läßt vermuten, daß Arnim durch diese Stadt reiste.16 Auch den Lake District im Nordwesten durchstreiften die Brüder Arnim. Zweimal taucht in den Heften der Name des Dörfchens Buttermere auf, einmal in einem ländlichen Idyll:17 Buttermere Wandrer frage da drüben im Hause im Thale, Sage du grüssest von mir sicher bewirthen sie dich. Unsere Schafe sie mischen sich oben, so sagte der Hausherr Schafe weiden hier wild, bleiben doch immer noch fromm.
Das zweite Gedicht, ein langer Entwurf mit der Überschrift Marie von Buttermere, wird von Arnim später unter der Überschrift Hippolita in seinen Roman Gräfin Dolores aufgenommen (IV 1). Es handelt von einer jungen Frau, deren Mann, ein angeblicher Offizier, nach der Hochzeitsnacht verschwindet und sich als Bigamist zu erkennen gibt. Sie ist die Tochter eines Wirts, bei dem der Graf bei seiner Wallfahrt einkehrt. In den Worten des Wirts klingt auch das idyllische Gedicht an: Seht nur da drüben den Nachbar Walther, der da seine Schaafe in die Hürde treibt, dem war sie bestimmt; ich hatte so lange ich lebe meine Schaafe mit den Schaafen seines Vaters zusammen getrieben, und dachte gewiß, unsre Kinder würden sich heyrathen. Es hat nicht seyn sollen!"
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D. i. Wales, Heft 6, Bl. 6v. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 706. Heft 8, Bl. 24r. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 1308. Heft 8, Bl. 35r. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 1532. Arnim: Armuth, Reichthum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores, S. 130f.
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Arnim erzählt weiter über die junge Frau: »In der ganzen Gegend, der sie sonst als ein stolzes Muster bekannt gewesen, wurde sie seitdem verachtet und verspottet.«19 Im Roman läßt Arnim Hippolita ein Lied singen,20 das er in einem ersten Entwurf in sein Reisetagebuch geschrieben hatte. Eine existente Frauengestalt gab ihm die Anregung zu dieser Figur: Am 2. Oktober 1802 heiratete der angebliche Colonel Augustus Hope, schottisches Parlamentsmitglied und Bruder des Earl of Hopetown, Mary Robinson, die wegen ihrer Schönheit bereits in einem Reiseführer 1792 (von Joseph Palmer) gepriesene, damals 15jährige Tochter des Wirts des Gasthauses »The Fish« in Buttermere. Weil Samuel Taylor Coleridge am 11. Oktober in der Londoner Zeitung Morning Post über diese sensationelle Heirat schrieb, enthüllte am 6. November die Londoner Sun, daß der wirkliche Colonel Hope sich im Ausland befände, der Ehemann hingegen der bankrotte Hochstapler John Hatfield sei, der schon verheiratet war. Hatfield wurde wegen Bigamie und Betrug verurteilt, damals beides Kapitalverbrechen; im September 1803 wurde er gehenkt. Mary kehrte zunächst in ihr Elternhaus zurück und half in der Wirtschaft; sie heiratete später ein zweites Mal und starb 1837.2' Arnim griff also einen hochaktuellen Stoff auf, der ihn sicher sehr bewegte. Seine Niederschrift im Heft 2 ist flüchtig und wurde später überarbeitet; diese Überarbeitung ist nicht vollständig ausgeführt; sie führt zu dem Text im Roman. Hier wird die frühe Niederschrift wiedergegeben: Marie von Buttermere Zehn Tage hat gedauert Die Liebe Ehre Pracht Dann habe ich getrauert Sie haben mich verlacht. Warum so kurz die Freude Warum so lang das Leid, Doch gröser war die Freude Viel kleiner ist das Leid. Ich fuhr in hohem Wagen Mein Lieber führte ihn, Die Rappen wiehernd jagen Und hell die Sonne schien Tief unten blieb die Hütte Hinauf nur zog ihr Rauch, Aus ihrer stillen Mitte Ich zog ich flog nun auch Die Kirche irisch gestreuet, Mit bunten krausen Sand, Mein Herz vom Ja befreiet, Und reicht nun kalt die Hand O wein nicht Mutter gebleichet, Der Hochzeitring ist leicht
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Ebenda, S. 131. Ebenda, S. 133-136. Das Lied besteht im Roman aus zwei Teilen: Hippolita und Ein Pilger. Freundliche Mitteilung von Frederick Burwick, Los Angeles.
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Das Gold vom Kranz sich neiget, Den Kranz der Schwester zeigt. Es grüssen ihre Blicke Die da allein nur blieb, Der Priester trit zurücke Sein Glückwünschen noch blieb. O Glück wer kann dich wünschen Der Dich noch nicht gekannt, Die Mädchen alle wünschen Sich doch des Mannes Hand Doch fort am andern Morgen Er zog eh ich erwacht, Ich träumte keine Sorgen Mein Aug der Sonne lacht. Wo gingst du Lieber im Morgen, Es hat dich keiner gesehn Wo starb das Kind mir in Sorgen, Ich sah es nicht in den Wehn. Ich sitze zwischen Seen, Es ist dasselbe Haus, Muß dienen und muß gehen Und gehe nie mehr aus. 22
Im Roman wird Hippolita bei einer Wallfahrt als Sängerin gefeiert; so gab Arnim der Geschichte in der Heimat ein versöhnliches Ende, während er Mary in Buttermere noch im größten Unglück getroffen hatte. Vom Lake District reisten die Brüder Arnim vermutlich weiter ins westliche Schottland. Die Grenze zu Schottland gibt Anregung zu einem Gedicht: Grenzen Nur ein Flüßgen Jahrhunderte schied Schotland von England Meere trennen doch nicht Indien von englischen Fesseln. Wisset der freye Mann sezt sich nur selber die Grenze, Achtet Remus sie nicht fallt er in Romulus Schwerdt. 23
Daß er Gretna Green besuchte, geht aus der späten Erzählung Die Ehenschmiede hervor. Deren Beginn, die Fußwanderung mit den Schotten, die nach Amerika auswandern, ist vermutlich genau nach Erlebnissen gestaltet. Auch aus den LyrikHeften ist ersichtlich, daß durch die Gebirge oft keine Straßen und Wege mehr führten. In einem Gedicht, das Arnim später überarbeitet in die Elegie aus einem Reis etagebuche in Schottland aufnahm,24 gibt er eine Darstellung der ungewohnten Lebensbedingungen; auch diese Handschrift trägt Spuren einer späteren Bearbeitung, die hier negiert sind:
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Sofortkorrekturen inclusive; Heft 2, Bl. 6r-6v. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 1190. Heft 6, Bl. 20r. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 1188. Vgl. den Druck in: Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 98. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 672; Zeitung für Einsiedler, H. 9 vom 30. April, Sp. 65-68.
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Mond Wanderer Mond, du schreitest hinunter die Berge, Nimmer du brauchest ein Hauß, dich zu stärken mit Wein. Alle Wolken sie tränken dich froh mit schimmernden Säften, Und dein Ueberfluß fällt thauend zur Erde herab. Siehe mein Leiden hier an bey klirrend gebrochnen Scheiben, Ekelt mir Speise und Trank, was ich wünsche mir fehlt. Schlucken kann ich auch nicht der Hals ist schrecklig geschwollen, Wenn gesperret der Weg fehlt es an Pfaden noch nie.25 Ganz besonders lag Arnim das schottische Volk am Herzen, das nach dem Anschluß Schottlands an England ein elendes Leben führte. D o c h erlebte er dort wohl den Willen zur Freiheit und die Gastfreundschaft schlichter Menschen. Anrührende Details hielt er im Gedicht fest: Kreuz flir die Schafe Wenn vom Berge herab der Winterschnee treibet im Sturme Ist hier gebauet ein Kreuz daß es beschiize das Schaf, Kreuz wo finden wir dich das noch die Unschuld beschüze, Alle drücket das Kreuz weil sie schwächlig und krank.26 Die Verarmung eines Teils der Bevölkerung war teilweise die Schuld der Adligen, ursprünglich nur die Sprecher der Clans, die nun die Schafzucht der Rinderzucht als ertragreicher vorzogen. Die verarmten Bauern wurden vertrieben. Davon handelt auch das folgende Gedicht, das offenbar ein Erlebnis beim Schloß des Duke o f Argyll (oder: Argyle) aus dem Campbell-Clan, bei Inverary gelegen, beschreibt: Herzog von Argyle Wenn dem Fremdling erscheint an der Küste im regnenden Nebel, Hoch ein Berg auf dem Berg stehet ein Wachthauß dem Feind Unter der grünenden Wolke ein Schloß von grauligen Steinen Vier der Thürme die rund, der in der Mitte geeckt Alle Schornsteine rauchen es rauschet ein Flüßgen drüben Und die Schafe so weiß stehen wie Steine im Park: Nimmer verweile er da wie in Tagen des ältgen Hofes Bringt er Emfehlung selbst mit, ihm wird die Thür sich nicht öffnen, Und kein Mädgen ihm wäscht seinen ermüdeten Fuß, Sondern sie werfen ihm Kleider hin wie dem Bettler, Soll es denn besser ihm gehn als es den heimischen geht. Sehe auf Bergen die Hütten wie traurig sie fallen, Helden wohnten da einst wo die Schafe jezt gehn Aus sind die Feuer gegangen, das Volk hinzog in die Fremde, Oder ins Elend hinab, zu den Geweben des Stuhls, Wodurch wurdet ihr groß ihr Herren durch die Arme der vielen, Nun ihr die Brücke gebraucht werft ihr sie nieder am Fluß27
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Heft 8, Bl. 21v. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 1531. Heft 8, Bl. 34v. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 1658. Heft 8, Bl. 13v-14r. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 1626.
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In Edinburgh sah Arnim den Holyrood Palace, wie aus Gedichten auf Maria Stuart hervorgeht, die sich in verschiedenen Heften finden. Dort zeichnete er den Blick vom Calton Hill auf die Stadt. 28 Im Bergland - vermutlich im kühleren Osten erlebten die Brüder Arnim den Schneeeinbruch, weswegen sie mit Schlitten weiterfahren mußten. In Industriegebieten - wichtige Ziele für die Ausbildung - lernte Arnim neben Bergwerken vermutlich die ersten Eisenbahntrassen sowie die eiserne Brücke in Sunderland kennen. 29 Die Gedichte der Englischen Hefte bestehen im wesentlichen aus zwei Gruppen: gereimte Gedichte und Elegien oder Epigramme. Die gereimten Gedichte sind teilweise Lieder mit mehreren Strophen, häufiger aber frei fallende Gebilde mit kurzen Zeilen in der Nachfolge Tiecks. Sie sind meist durch verschiedene Empfindungen vor der Natur angeregt und haben häufig die Liebe zum Thema; ein Beispiel für diese Form, eine Bleistiftskizze: Reise Klar ist der Tropfen Dunkel die Fluth In (?) Liebe Schweifen Schäumende Streifen Freundligem Leben Bin ich ergeben Eilenden Stunden Bin ich gebunden Soll ich der30
Die Niederschriften sind oft Dichtungsübungen, assoziativ, mit wechselnden Perspektiven oder Sprechern und mit grammatikalischen Inkonsequenzen. Diese Art zu dichten stellt eine Vorstufe der surrealistischen Technik dar; Arnim ließ Worte und Gedanken auf sich einströmen. Doch sind die Texte in diesem Stadium nicht für ein Publikum gedacht. Überarbeitungen machen das deutlich, bei denen nur noch bestimmte Teile der ersten Fassung übernommen und in klare Form gebracht werden. Beim ersten Vers glaube er nie an den zweiten, meint Arnim gegenüber Brentano im Brief aus London von Ende April / Anfang Mai 1804.31 Doch finden sich in diesen Skizzen schon die Keimzellen späterer lyrischer Perlen wie: »Wenig Töne sind verliehen meinem Herzen [...]«32 und »Ja winkt nur, ihr lauschenden 28 29
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Tinte über Bleistift; Heft 8, Bl. 38. Heft 6, Bl. 16r: Eiserne Wege. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 936; Zitat s. u. Vgl. den Abdruck der überarbeiteten Fassung Eiserner Wille in Arnim: Gedichte, S. 228, danach in der Anthologie von Minaty (Hrsg.): Die Eisenbahn, S. 33, als frühestes bekanntes Gedicht zu diesem Gegenstand. Heft 3, Bl. 7v. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. Fragment 82. Handschrift UB Heidelberg 2110,3. In Heft 5 und Heft 1. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 1624. Vgl. die überarbeiteten Fassungen in der Vertonung von Johann Friedrich Reichardt in dessen Liedersammlung Le Troubadour italien, français et allemand, Berlin 1805, sowie den Druck in Arnims Roman Gräfin Dolores - Arnim: Armuth, Reichthum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores, Bd. 2, S. 79. Vgl. Moering: Die offene Romanform von Arnims »Gräfin Dolores«, S. 194-196 und Abbildung der Komposition S. 250.
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B ä u m e ...« 33 . Z w e i originelle Gedichte möchte ich noch anfuhren, das
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Feiferlied,
offenbar durch Dudelsackspieler angeregt, das beginnt: Die Scheiben erzittern Die Wolken gewittern Du wirbelndes Trommel Spiel Du schneidend die Pfeifen viel Die Fransse ihr hebet Die Herzen ihr reget Ja schwebet so fest Zum schallenden Fest Wir hören die Gäste Hellklingender Feste [,..]34 U n d einen weiteren dichterischen Versuch aus Schottland, das Rollenlied eines Mädchens: Der Rothkopf. Ein Abendroth umreinet, Des blauen Himmels Kreis, Die Wimper so erscheinet, Die Sterne klar und weiß, Dein goldnes Haar es winket, Wie herbstlich rothes Laub, Eh es zum Moose sinket, Es fallt zu meinem Raub, Und Nordlicht nun aufblinket, In seinem Barte kraus, Ein Kuß zu meinem Glücke, Entstrahlet oft daraus. Die Rothe ich nur liebe, Sie ist so jugendwarm, Ein schwarzes Har ist trübe Ein weisses wachset arm Und alle wechseln Farben Das Rothe nur besteht, Wie rothe Weizengarben, Es dicht am Berge steht. In Wangen und im Abend, Im Regenbogen roth, Mir zeiget auch so labend Es war mir steht so noth. 3S
Zur Form der Epigramme gehört, daß v o n Beobachtungen auf Grundsätzliches geschlossen wird, ζ. B.:
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In Heft 1. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 923. Zu den überarbeiteten Fassungen und Drucken - in Reichardts Troubadour sowie in Arnims Drama Die Befreiung von Wesel vgl.: Moering, »Ja winkt nur, ihr lauschenden Bäume ...«. Heft 8, Bl. 16v. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 346. Heft 8, Bl. 49r. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 456.
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Eiserne Wege Jenem bahnet das Schwerdt den Weg und diesem der Spaten, Wo die Wege unmöglich da spannet ihr eiserne Spur Wo auch dieses nicht geht da spannet ihr eiserne Bogen, Also der eiserne Will schaffet sich immer den Weg. 36 Arnim war beeindruckt v o m B e g i n n des Eisenbahnbaus, v o n d e m er Brentano schon am 19. August 1803 aus Tooting berichtet hatte. In e i n e m längeren Gedicht (Reppetition)
beschreibt er den B e s u c h im Bergwerk, vermutlich bei N e w c a s t l e on
Tyne, w i e aus Β 6 9 hervorgeht: Sähest du jemals das schwarze Geäder der Bronchien, Siehe also das Gras wächst in den Bronchien der Erd. Gestern sank ich hinab am dünnen schnarrenden Seile, In die beleuchtete Nacht einer unendligen Kluft Lichter da tanzeten rings von schwarzen Gestalten gehalten An dem blinkenden Glanz gräulige Salze mich an Salzig wie Thränen mir fielen von oben die Tropfen, Jeder so rusige Stein äzte die Zunge so scharf. Aber das alles es ruhet auf festem irdenen Tohne, Und wie im Tone so ruht, jegliches bittere Leid Heute im länglichen Kahne mich treiben an dichten Gerollen, Stossend an Ringen mich fort, wie die allmächtige Zeit Sah ich sich heben und rollen um hell zu blitzen am Tage, Jenes zerflammende Schwarz, Stein und Kohle zugleich Flammende Dämpfe da steigen sich zünden am Lichte des Bergmanns, Wie der Pöbel sich oft an der Weisheit verbrennt, Wehe dem Weisen und wehe dem Bergmann, Liegend in Todesnoth schwer, keiner sich waget zu nahn. Hier war der Eingang so sicher auf ruhig gehemmeten Wasser, Doch der Ausgang ganz naß zeigt, was das Schlingern sey [...]" Steinkohle und Braunkohle sind ihm würdige Gegenstände für Epigramme w i e die G e o l o g i e überhaupt. Einige Gedichte sind s o überschrieben, bei anderen ist das Wort » G e o l o g i e « neben den Titel notiert. Vielleicht wollte Arnim eine Gruppe zusammenstellen. Ein ebenso wichtiges Thema ist das der Meteorologie, auch beide verbunden k o m m e n vor; es hat den Anschein, als habe er damals sozusagen nach einer Weltformel gesucht, ζ. B.: Wolken und Berge Geologie Wolken scheinen euch oft im Abend wie fernere Gletscher, Wie zum Wasser das Eis, so die Wolken zu Luft Aehnlige Stufen der Bildung sich zeigen in ähnligen Formen, Und der Berg selbst erscheint wie ein Gletscher gebaut. Seht ihr die Schichten das Sinken das Kreuzen der mancherley Jahren, Wahrlig die Erde ist drin wie die Metalle gestreut 36 37
Heft 6, Bl. 16r. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 936. s. o. Heft 2, Bl. 8r-9r. Fehlt in Ricklefs: Arnims lyrisches Werk; dort versehentlich zum Gedicht Fabriken (ebenda Nr. 1483) gezählt.
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Und die Kristallung sie laufet hinaus wie Streifen der Wolken, Bald hinunter und bald auch zur Seite gestreift. 38 S o kompromißlos w i e in diesen Monaten hat Arnim sonst nicht gedichtet. A u c h physiologische Vorgänge sind ihm Gegenstand der Beobachtung und der Kunst, nicht nur der - kritisch beurteilte - Bordellbesuch (später Bagnio
genannt, hier
Eket)\ Ekel emfindest du jezt nachdem du die Liebe genossen, Warum genössest du sie, wenn dir die Speise zu hart.39 Sogar die Tätigkeit auf d e m Abtritt wird bedichtet, inspiriert durch ein luftiges Klosett über einem Fluß in Schottland (das Gedicht steht nach d e m über Argyle): Abtrit Unten rauschet der Fluß ich hänge von Flügeln getragen, Alles was irdisch an mir lasse ich sinken hinab Leichter erheb ich mich dann Vergessenheit kühl mich umschauert, Nektar wird mir der Trunk, Speise Ambrosia mir40 oder in Träume der nächtliche Samenerguß: Steigen die Götter herab von ihren Bergen im Blize, Da erzittert dein Herz wie die Eiche im Frost. Steigen sie nieder im heimisch heiigen Vergessen Schauest du freundlich vertraut Väter und Kinder zugleich, Kenntlig scheint dir die Bildung, sie sprechen in eigenen Worten, Wachst du auf ach das Wort mit der Stimme verhallt, Du bist Wiederhall nur O laß sie frey dich erfüllen, Denn wie leer ist dein Sinn ohne das göttlige Wort. Wisse die tausend der Kinder die alle du zogest im Schooße, Können nur wenige dir sichtbar erwachen im Weib. Doch der grössere Theil er reist von der kreisenden Scheibe Die vollendete Form löst ihn vom trägeren Stoff: Nicht verloren sie sind, sie steigen göttlig wie Opfer, Die der strahlende Mohn Engeldurchschattet erscheint, Auch sie verlassen dich nicht sie kennen den Vater schon wieder Zeigen die Händchen ihm wohl zeigen in Falten den Zug, O so seyd dann gelobt ihr holden Gespinste der Liebe, Die Vergessenheit trieb wie den Sommer der Herbst. 41 B e i der späteren Umarbeitung für den Wintergarten
werden aus den »tausend der
Kinder die alle du zogest im S c h ö ß e « »tausend der Formen, die alle mir treiben im
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Heft 8, Bl. 17r. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 1830. Heft 6, S. 20v. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 524. Integriert in Bagnio; vgl. den Druck dieser späteren Fassung in Arnim: Gedichte, S. 232. Heft 8, Bl. 14r. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 1703 ohne diese Handschrift; vgl. den Druck der überarbeiteten Fassung in Arnim: Gedichte, S. 232. Heft 8, Bl. 28r. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 1388.
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Hirne«.42 Das Unerhörte dieser Verse besteht darin, daß der Gegenstand nicht in komischer oder frivoler, sondern in ernster Form erscheint. Besonderheiten der unterschiedlichen Kulturen werden natürlich von diesem Reisenden aufgespürt; besonders in den Städten entstehen Epigramme zu Eß- und Trinkgewohnheiten, zu Musik und Tanz, zu Uniformen und Dudelsackspiel. Am Ende kehrt er ziemlich ernüchtert von der Reise nach Preußen zurück.43 Von der schwärmerischen England-Begeisterung seiner Schul- und Studien-Zeit ist wenig übergeblieben, wie er Brentano schreibt;44 erst in der Erinnerung wird ihm der Aufenthalt Stoff zu einigen seiner originellsten Erzählungen liefern. Es ist auf der Reise in ihm der Entschluß gereift, durch Leistung sein Volk zu erheben, wie es folgendes Epigramm andeutet: Nationalität Das was ist das hebt sich in Völkern in Menschen zur Gleichheit. Aber was eben erst wird das nur zeichnet sie aus 45
Nach der Rundreise wieder in London, schrieb Arnim über die Epigramme an Brentano (27. Dezember 1803): » Ich habe manchen dumpfen Tag, aber auch helle Augenblicke verlebt, die mir eine Unzahl von Sinngedichten diktirt, ich erschrekke überhaupt vor meinen Papieren, ich zweifle sie jemals ins Reine bringen können, derohne habe[n] sie doch gar keinen Werth, weil sie unendlich flüchtich und zerstreut aufgesezt [,..]«. 46 Darauf folgt das im Anfang zitierte Gedicht über die im Bleistift zerriebenen Gedichte. Es gab noch sehr viel mehr Reisegedichte Arnims, jedoch vernichtete er zahlreiche auf lose Blätter geschriebene im Jahr 1818, als er seine jugendlichen Dichtungsexperimente kritisch betrachtete: Ich habe in diesen Tagen soviel verunglückte Liederansätze aus meinen Reisejahren vernichtet, daß ich mit den Papierspänen einen Abtrit vergiften könnte. Es gab eine Zeit, wo ich täglich zur bestimmten Zeit ein Paar schrieb, das ist das Schlechteste, worum ich je die Feder gemißbraucht habe, zur Busse dafür habe ich nachher soviel Geschäftssachen schmieren müssen, darüber ist mir solcher Muthwille vergangen. Auch der Rest, den ich noch wegen einzelner Zeilen bewahre, soll bald auf der Kapelle abgetrieben werden. Es wird mir dabey wohl, als ob ich aus einem Bade käme. Entweder Göthe hat nie in solcher Kunstirre sich befunden, oder er hat es wenigstens sehr gut versteckt, freilich sagt er, daß er dreimal seine
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Vgl. Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 207. So schreibt er an Barbara Juliane von Krüdener am 1. Mai 1804 aus London (Handschrift in der Biblioteka Jagiello ska, Krakau; Arnim: Briefwechsel 1802-1804 - Werke und Briefwechsel, Bd. 31, Nr. 341 .K): »Ich habe hier beynahe ein ganzes elendes Jahr verlebt, vieles habe ich gethan um mich zu erfrischen, aber frischer blieb mir Vergangenheit und ich kehre mit Wonne in mein Vaterland zurück [...].« UB Heidelberg Sign. 2110,3; Arnim: Briefwechsel 1802-1804 - Werke und Briefwechsel, Bd. 31, Nr. 342.K. London, 18. Mai 1804: »Du erhälst meinen lezten Brief von London [...], wir erwarten nur Geld und diese Welt liegt hinter uns. [...] Wie will ich die deutsche Erde küssen, da gilt noch etwas andres als Geld.« Heft 5, Bl. lr. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 232. Handschrift FDH 7358 - Arnim: Briefwechsel 1802-1804 - Werke und Briefwechsel, Bd. 31, Brief Nr. 327; Band im Druck.
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Renate Moering Manuscripte mit dem Feuer gereinigt habe. Mir zur Entschuldigung dient das eigen Unstäte, was Reisen allen Beschäftigungen geben, wo ich länger und ruhiger gewohnt, ist gleich alles viel besser: Die Zerstreutheit von mancherlei Eindrücken, dabey der Wunsch das Dichten als Fertigkeit zu üben, hat dieses Embrionenkabinett mir zugeführt.47
Bei den verhältnismäßig wenigen Gedichten aus diesen Heften, die Arnim publizierte oder zumindest überarbeitete - sie erschienen dann vor allem in den beiden Gedichtbänden der Sämtlichen Werke - , griff er stark ein. Er fugte getrennte Gedichte zusammen oder kürzte andere. Durch die Unabhängigkeit vom Kontext erscheinen sie oft von dem Land gelöst, in dem sie ursprünglich entstanden. So ist z. B. bei dem Weihnachtsgedicht »Nachhall im Walde [...]« die Wendung: »Auf den versteinerten Fluthen des caledonischen Landes« 48 weggelassen. In das oben zitierte Distichon Sprache etwa werden vier Zeilen eingefügt, in denen von einer »Schwäbin« die Rede ist.49 Gerade bei dieser zum Allgemeinen drängenden Gedichtform war Arnim wohl der fur alle Menschen gültige Sinn später wichtiger als eine pittoreske Darstellung kultureller Besonderheiten. Vollends die Experimente mit der Sprache und seine phantasievollen Improvisationen mutete er seinen zeitgenössischen Lesern nicht zu. So sind diese Gedichthefte für uns ein Feld fur die Entdeckung seiner poetischen Kühnheit.
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An seine Frau Bettine aus Wiepersdorf am 2. Mai 1818. Handschrift FDH 11974. Heft 8, Bl. 37r. Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, Nr. 1126. Vgl. Arnim: Gedichte, S. 213f.; Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 476. Arnim: Gedichte, S. 227.
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Antisemitismus und Ambivalenz: Zu Achim von Arnims Erzählung »Die Majoratsherren«
In der Geschichte des Antisemitismus steht Achim von Arnim an einer Wasserscheide. Eine Reihe von Schriften, die um 1810-11 erschienen sind, vor allem die berüchtigte Tischrede Über die Kennzeichen des Judentums, blicken zum einen auf die aus der Antike stammenden und vom mittelalterlichen Christentum mit neuem Inhalt aufgeladenen antisemitischen Schmähungen zurück, zum anderen aber deuten sie auf den wirtschaftlichen Antisemitismus voraus, der im 19. Jahrhundert zum Kern einer reaktionären Kritik der Modernität werden sollte. Insofern beteiligt sich Arnim an der Reaktion der romantischen Generation gegen den Toleranz- und Humanitätsgedanken der Aufklärung. Arnims 1819 verfaßte Erzählung Die Majoratsherren, in der das Judentum noch einmal thematisiert wird, kann gewissermaßen als Nachklang seiner früheren antisemitischen Auslassungen verstanden werden; dennoch ist das Verhältnis zwischen der Schmährede Über die Kennzeichen des Judentums und der späteren Erzählung alles andere als eindeutig. Von beiden sprechen die Kommentatoren in Superlativen. Ist Arnims Rede von Heinz Härtl als »der schlimmste antisemitische Text der Romantik«' bezeichnet worden, so gilt seine Erzählung allgemein und gewiß nicht zu Unrecht als »Arnims genialste[r] Wurf«.2 Trotz der unleugbaren Kontinuität mit den früheren antisemitischen Schriften behandelt die Erzählung Die Majoratsherren die jüdische Thematik mit einer künstlerischen Meisterschaft und zugleich mit einem Grad von Ambivalenz, die eine tiefe Faszination durch die jüdische Tradition durchblicken läßt und jeden Versuch, den Text auf antisemitische Positionen vereinfachend zu reduzieren, von vornherein vereitelt. Obwohl man der berechtigten Entrüstung der jüngsten Kommentatoren Rechnung tragen und eine Verharmlosung solcher >Scherze< vermeiden muß, geht es mir hauptsächlich darum, Arnims Einstellung zum Judentum historisch zu verorten und die verschiedenen Komponenten seines Antisemitismus zu unterscheiden.3 Historisch gesehen gehören seine antisemitischen Texte zu der Welle der Judenfeindschaft, die in der späteren Phase der Berliner Aufklärung einsetzte und vor allem auf die von jüdischen Gastgeberinnen geleitete Salonkultur zielte. Als erster Vorbote dieses Gesinnungswechsels ist Karl Grattenauers 1803 anonym erschienenes Pamphlet Wider die Juden anzusehen, ein verworrenes, mit Pseudo1 2 3
Härtl: Romantischer Antisemitismus, S. 1162. Arnim: Sämtliche Romane und Erzählungen, Bd. 3, S. 756. Unter den jüngsten Kommentatoren seien Och: Imago judaica, S. 283-288, und Berghahn: Grenzen der Toleranz, S. 287-291, hervorgehoben.
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Ritchie Robertson
Wissenschaft ausgeschmücktes Machwerk, das alle möglichen antisemitischen Schmähungen, von der von antiken Historikern erhobenen Anklage der kollektiven Leprakrankheit über die mittelalterlichen Ritualmord-Beschuldigungen bis zur modernen Polemik gegen den jüdischen Handelsgeist aufwärmt und mit erstaunlicher Boshaftigkeit vorträgt. Zu Grattenauers wichtigsten Gewährsleuten gehört Johann Andreas Eisenmenger, dessen von barocker Gelehrsamkeit strotzendes Riesenwerk über die jüdischen Traditionen und Bräuche, Entdecktes Judenthum (1700), auch Arnim reichliches Quellenmaterial liefern sollte. Zwar hatte Grattenauer schon seit 1791 gegen die Juden polemisiert, aber seine Hetzschrift von 1803 markierte einen ersten Höhepunkt der antisemitischen Propaganda, was auch der preußische Minister Hardenberg ebenso sah, der im September 1803 weitere solche Publikationen verbot. Bald darauf aber wurde die Gesetzgebung, die den Juden weitgehend bürgerliche Rechte zuerkannte, in äußerlich zivilerer Form angegriffen, so zum Beispiel von dem Berliner Historiker Christian Friedrich Rühs, der den aufklärerischen Toleranzgedanken und dessen universalistische sowie merkantilistische Voraussetzungen verwarf und stattdessen den christlich-germanischen Staat predigte, worin die Juden keine Bürgerrechte, sondern höchstens eine Sonderstellung als fremde Minderheit genießen könnten: »Die Juden können zu Deutschland in keiner andern Beziehung gedacht werden, als in der eines geduldeten Volks.«'' Viele Zeitgenossen vermuteten einen engen Zusammenhang zwischen solchen antijüdischen Äußerungen und den im Sommer 1819 in verschiedenen Städten Süddeutschlands, auch in Hamburg und Kopenhagen, ausbrechenden >Hep-HepScherzeernsten< Schluß der Rede zu entlasten,7 schlägt fehl, denn Arnims Behauptung, es gebe doch auch achtenswerte Juden wie Spinoza und Mendelssohn, gehört zum Arsenal der Antisemiten, die sich immer auf Ausnahmejuden berufen können. Hat man erst Arnims Antisemitismus in den historischen Kontext gestellt, kann man dessen verschiedene Komponenten analysieren. Die erste ist die theologische. Arnim huldigt noch der von den Kirchenvätern stammenden Vorstellung von der besonderen Rolle der Juden in der Heilsgeschichte: Zum einen sollten sie durch ihr fortdauerndes Elend für ihre Verachtung Christi büßen und dadurch Zeugnis ablegen von dessen göttlichem Status; zum anderen sollten sie kurz vor dem Jüngsten Gericht zum Christentum übertreten und so die Ankunft des Messias anbahnen. Im Schauspiel Halle und Jerusalem tritt der ewige Jude Ahasver auf, der sich jetzt aus Reue zum Christentum bekehrt hat und dennoch keine Ruhe wird finden können, bis sämtliche Juden der Welt gleichfalls die Heilsbotschaft Christi angenommen haben. Die Schattenseite dieser heilsgeschichtlichen Vorstellung tritt in Erscheinung, wenn Arnim in seiner Rede Über die Kennzeichen des Judentums die aus dem christlichen Mittelalter stammenden Judenverunglimpfungen - Ritualmord, Hostienfrevel, Brunnenvergiftung - in scherzhaftem Ton aufzählt. Bald darauf wird die sogenannte Frankfurter >JudensauAntisemitismus< bei Achim von Arnim, S. 62. Darauf weist Och: Imago judaica, S. 285, hin; Textauszüge bei Rohrbacher und Schmidt: Judenbilder, S. 252-255.
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re, weniger auffallige, immer als Juden zu identifizieren. Weil ihm die »seltene Kunst [der Juden], sich zu verstecken«, ihre »Kunst, sich zu verheimlichen«, so beunruhigt, 9 drückt Arnim, allerdings ohne den notorischen gelben Fleck zu erwähnen, sein Bedauern aus, daß die noch Anfang des 18. Jahrhunderts geltenden Kleiderordnungen hinfallig geworden sind. Immerhin zeichnen sich nach Arnim die assimilierten Juden gerade durch ihre übertriebene Anpassung an die moderne Kultur aus: Die seiner Meinung nach verwerfliche »Neugierde« der Juden zeige sich in ihrem »Bücherlesen« und vor allem in ihrem Interesse an den allerneuesten Publikationen; 10 er habe bei einem Konzert »einen eleganten Judenjüngling« gesehen, der sich durch übertriebene Höflichkeit lächerlich machte." Auch der Handelsgeist der Juden wird noch einmal betont, wenn Arnim behauptet, der sprechende Frosch in einer jüdischen Legende müsse ein jüdischer Handlungsreisender gewesen sein - »ein Voyageur, der für ein gutes Mittagessen seines Handelshauses Interesse und Spekulationen [...] verraten mußte«. 12 Was aber die Juden vor allem kenntlich, ja unverkennbar macht, ist nach Arnim ihre Körperlichkeit. Auch wenn die assimilierten Juden sich bemühen, durch Aneignung geistiger Attribute wie Bildung und tadelloser Sitten ihre Herkunft zu verschleiern, bleibt sie dank der unverwischbaren jüdischen Leiblichkeit den scharfen Sinnen des Beobachters nicht verborgen. Die »Fresserei« der Juden soll sogar tierische Formen annehmen: »[S]ie bewahren gewisse Arten der Bonbons, die sich weit verschreiben und lecken daran wie Böcke«. 13 Nicht nur dem Auge, sondern auch dem Ohr verraten sich die Juden, und zwar durch ihre angeblich schwierige, von den Speicheldrüsen erschwerte Stimmproduktion (»das Schwere, Zischende in der Zunge, das geschickte Schauspieler den Juden leicht nachmachen« 14 ). Hier weist Arnim voraus auf Wagners Aufsatz Das Judenthum in der Musik, der den nachchristlichen Antisemitismus einleitet und als locus classicus des von Sander Gilman geprägten Begriffs der »verborgenen Sprache der Juden« gelten darf. 15 Daß der >foetor judaicusAussatzArnimsarmut< zu einem geflügelten Wort wurde. Heinz Härtl berichtet, daß eine undatierte Liste der Arnimschen Wechselgläubiger eine Gesamtschuldensumme von 43 635 Reichstalern ausweist. Seine Gläubiger bezeichnet Arnim schlechtweg als »Juden«.21 Er versteigt sich sogar zu der Behauptung, daß die Juden bereits die Wirtschaft Europas beherrschen: »Auch jetzt ist beinahe das gesamte Vermögen der Nationen wieder in der Juden Hände gekommen [...]«.22 Kurz: Arnim fühlt sich unbehaglich in der modernen Welt, die einerseits vom wertneutralen Wirtschaftsdenken und vom undurchsichtigen Finanzwesen beherrscht, andererseits von assimilierten und unkenntlichen Juden unterwandert wird. Dennoch sind die verschiedenen Aspekte von Arnims Antisemitismus durch die Körperlichkeit auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, denn die Körperlichkeit des Juden stellt einerseits einen Gegensatz zu der vom Geist geprägten christlichen Religion dar, andererseits aber verkörpert sie den überhandnehmenden Materialismus der Moderne, die die geistigen Traditionen der Vergangenheit zu ersticken droht. Diese Angst vor der Moderne kommt, ungleich differenzierter, in der Erzählung Die Majoratsherren zum Ausdruck. Die Erzählung fangt an mit einer Klage über die Gleichförmigkeit der modernen Zeit, im Gegensatz zu der alten Welt, »ehe die allgemeine Revolution, welche von Frankreich den Namen erhielt, alle
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Ebenda, S. 379. " Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 783-804, hier S. 786. 20 Ebenda, S. 382-383. 21 Härtl: Romantischer Antisemitismus, S. 1166. 22 Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 386.
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Formen zusammenstürzte«. 23 Das im Titel genannte Majorat erscheint zunächst als ein Bollwerk gegen die gesellschaftlichen Umwälzungen, für die die Französische Revolution nur als ein Symptom dient. Ein Majorat war eine Erbfolgeordnung, wonach ein Gut oder ein Vermögen nur vom ältesten Sohn geerbt werden und niemals veräußert, zerstückelt oder durch Verkauf verkleinert werden durfte. Diese Erbfolgeordnung, im europäischen Adel des 17. Jahrhunderts häufig eingeführt, um den Grundbesitz vor möglichen Gefahren zu sichern, hatte vom Standpunkt des Wirtschaftsliberalismus aus den Nachteil, daß das so vererbte Vermögen nur totes Kapital darstellte, das nicht investiert werden konnte. Immerhin hätte man vielleicht von dem konservativen Edelmann Arnim erwartet, daß er mit einer solchen Maßnahme einverstanden gewesen wäre. Tatsächlich aber litt er selbst unter den Folgen einer solchen Regelung, die seine Großmutter mütterlicherseits getroffen hatte und die seine finanziellen Probleme nur noch vergrößerte. 24 Dementsprechend heißt es in Arnims Erzählung: »Überhaupt schien das Majorat wenig Segen zu bringen, denn die reichen Besitzer waren selten ihres Reichtums froh geworden, während die Nichtbesitzer mit Neid zu ihnen aufblickten.« 25 Am Schluß der Erzählung wird das linke Rheinufer von den Franzosen besetzt, die Majorate werden in Folge der Einführung des Code Napoléon aufgehoben, die Juden werden, wie Arnim mit ironischem Nachdruck erwähnt, aus dem Ghetto »befreit«, und das Majoratshaus wird von der so geschäftstüchtigen wie gewissenlosen Jüdin Vasthi gekauft, damit sie dort eine Salmiakfabrik anlegen kann - wieder eine Anspielung auf den >foetor judaicusverjudete< Moderne, sondern auch einen in demselben Sinn >verjudeten< Adel, der an Seelenlosigkeit und Tierhaftigkeit der Verkörperung des jüdischen Materialismus, der alten Vasthi, kaum nachsteht. Dem Leutnant wird überdies ein krasser Antisemitismus zugeschrieben, der alles Interesse für die jüdische Lebensweise ausschließt. Als er dem Majoratsherrn den Blick von seinem Haus auf die Judengasse zeigt, erklärt er: Nichts als Juden, [...] das ist die Judengasse, da sind sie zusammengedrängt, wie die Ameisen; das ist ein ewig Schachern und Zänken und Zeremonienmachen, und immer haben sie so viel Plackerei mit ihrem biß'chen Essen; bald ist es ihnen verboten, bald ist es ihnen befohlen, bald sollen sie kein Feuer anmachen; kurz, der Teufel ist bei ihnen immer los.30
Im Gegensatz dazu vertritt der Majoratsherr die versöhnliche Überzeugung: »Aller Glaube, der geglaubt wird, kommt von Gott«;31 später deutet er eine Art Synkretismus an: »O, sie sind alle wahr, die heiligen Geschichten aller Völker!« 32 An dieser Stelle wird der Multiperspektivismus sichtbar, auf den Christof Wingertszahn hingewiesen hat.33 Der Majoratsherr selbst ist hier der Sprecher der geistigen Bestrebungen des achtzehnten Jahrhunderts, das, durch den Rationalismus der Aufklärung dem orthodoxen Christentum entfremdet, bei Geistersehern wie Mesmer, Swedenborg und anderen »die tief geheime Sehnsucht des Herzens« 34 , wie Arnim sie nennt, zu befriedigen suchte. Der Majoratsherr kommt aus Paris, dem Zentrum des Mesmerismus, und verfugt selber über mesmerische Kräfte, die er auf seine eigenen »Kranken« 35 angewendet haben soll. Um seine Sehergabe zu erklären, hat man auf Gotthilf Heinrich Schuberts Theorie vom tierischen Magnetismus und von den höheren geistigen Regionen, die in der Liebe erahnbar werden, sowie auf Jung-Stillings >Geisterkunde< und Swedenborgs Lehre von der Geisterwelt hingewiesen. 36 Dank seiner Sehergabe nimmt er in halluzinatorischen Gesichten das
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Ebenda, S. 119. Ebenda, S. 113-114. Ebenda, S. 114. Ebenda, S. 137, Hervorhebung im Original. Wingertszahn: A m b i g u i ® und Ambivalenz. Arnim: Die Majoratsherren - Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 107. Ebenda, S. 114. Dazu Frye: Mesmerism and Masks.
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innere Wesen jedes Menschen, der ihm begegnet, wahr. So sieht er um den Kopf der alten, treuen Aufwärterin einen Heiligenschein, und als er die Hofdame zum ersten Mal besucht, hält er ihren schwarzen Pudel fur »eine Incarnation des Teufels« 37 . Auf dem Kopf der alten Vasthi sieht er einen Raben, eigentlich aber trägt sie ein schwarzes Tuch mit langen Zipfeln. Er behauptet, er sei »bis zu der innern Welt vorgedrungen, - wenn auch noch scheinbar lebend«38. Auch bei heilichtem Tag sieht er überall Geister. Charakteristischerweise stellt sich sein Vetter die Geister nur in physischer Gestalt (etwa als Krankheitskeime) vor, »als ob die Geister, wie der Schnupfen, in der Luft lägen«.39 An vier Abenden hintereinander blickt der Majoratsherr aus seinem Fenster über die Judengasse in das Fenster von Esthers Schlafzimmer und erlebt Halluzinationen, die die geheimnisvolle geistige Verwandtschaft zwischen den beiden unterstreichen. Diese Verwandtschaft wird sogar von Esther als Identität gedeutet, indem sie zu dem Majoratsherrn sagt: »Ich bin Sie und Sie sind ich«.40 Beiden ist die Unkenntnis der eigenen Identität gemeinsam. In einer Art Umkehrung der Verwandtschaftsverhältnisse in Lessings Nathan der Weise stellt sich nämlich heraus, daß Esther keine Jüdin ist, sondern die rechtmäßige Tochter des alten Majoratsherrn; weil dieser seinem Vetter, dem Leutnant, seinen Besitz nicht vererben wollte und keinen eigenen Sohn hatte, verkaufte er seine Tochter an einen jüdischen Rosshändler und nahm an ihrer Stelle das uneheliche Kind der Hofdame zu sich. Dieses Kind, das in der Erzählung nur unter seiner falschen Identität als >Majoratsherr< erscheint, muß die Sünden seiner Eltern büßen, indem er mit Esther im Tode vereint wird. Wie Günter Oesterle festgestellt hat, ist es Arnims Verdienst, durch seine produktive Rezeption der jüdischen Mythologie der Romantik ein neuartiges Bildreservoir erschlossen zu haben. 4 ' Eine theoretische Legitimation dieses Verfahrens war bei der zum Synkretismus neigenden romantischen Mythenforschung zu finden, zu dessen Hauptvertretern Joseph Görres zählt. In der 1810 erschienenen Abhandlung Mythengeschichte der asiatischen Welt, die Arnim nachdrücklich lobte, wird der Versuch unternommen, die Mythen von ganz Asien, nicht nur von Indien und Persien, China und Japan, sondern auch des alttestamentarischen Israel und sogar der angeblich aus Asien ausgewanderten skandinavischen Völker zu vergleichen und einen allen gemeinsamen Kern zeitloser, transzendenter Wahrheit herauszuschälen. Was aber je in der Zeit zum Bestand gekommen, ist vor ihr und fortdauernd noch über ihr ungleich herrlicher in Gott nach der Idee, auch jene Anschauungen, zu denen die Weisen des Alterthums in ihren Meditationen sich erhoben, sind in Gottes Wort in jener Herrlichkeit mit schöpferischer Kraft gegeben, menschliche Rede, auch mit höchster Harmonie gesprochen, ist nur dumpfer Nachklang dieser Himmelssprache, und die heiligen Bücher nur irdische
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Arnim: Die Majoratsherren - Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 130. Ebenda, S. 114. Ebenda, S. 115. Ebenda, S. 128. Oesterle: >Illegitime Kreuzungen^ S. 26.
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Abschrift jener göttlichen Schriften, die über den Anfang der Erdenzeit hinaus in Gottes lebendigem Wort begriffen sind. 42
Laut Görres enthalten die dauerhaften, in verschiedenen Kulturen wiederkehrenden Elemente der Mythologie einen Kern von Wahrheit, wogegen die lokale »Zierde« oder »Stafirung«, die auf »individuell menschliche Gesinnung« zurückgeht, »Irrtum« enthalten kann, der aber vergänglich und insofern harmlos ist.43 Aufgrund dieser Voraussetzungen entwirft Görres einen großartigen Synkretismus, wobei die wesentlichen Komponenten nichtchristlicher Religionen sich als vereinbar mit dem Christentum erweisen, während sich ihre zeit- und ortsgebundenen Aspekte relativieren lassen. Auf diese Weise büßt die Mythologie des Alten Testaments ihren Anspruch auf absolute Gültigkeit ein, ohne daß die Sonderstellung des Christentums gefährdet wird. Das schöpferische Wort des Ersten Buches Mose gilt aufgrund indischer und chaldäischer Analogie als Grundelement der Religion, während die materiellen Attribute Jahwes ihn als einen Gott ausweisen, der »aus der Wurzel ausgegangen« 44 sei. Als Arnim im Oktober 1811 Görres in Koblenz besuchte, sprach dieser von seiner nächsten Arbeit, die die christliche Mythologie aus indischen Überlieferungen herleiten und nach Arnims Meinung nicht nur den jüdischen Messiasglauben als Trugbild entlarven, sondern auch theologische Streitigkeiten innerhalb des Christentums versöhnen sollte, indem sie das Christentum als den eigentlichen Gegenstand der religiösen Wahrsagungen und Wunschvorstellungen aller Völker erklärte. Vor diesem Hintergrund wird der Synkretismus des Majoratsherrn verständlich, wenn er behauptet: »O, sie sind alle wahr, die heiligen Geschichten aller Völker!« 45 Dank dieser Legitimation konnte sich Arnim mit der jüdischen Mythologie befassen, ohne seinen Protestantismus in Frage zu stellen. Die »Stafirung« der Grundwahrheiten ließ sich zu ästhetischen Zwecken umfunktioneren. Besonders die Todesrituale der Juden übten auf Arnim eine starke Faszination aus. Er hatte bei Eisenmenger über den Glauben an den Todesengel gelesen. Den Todesbräuchen der Juden widmet Eisenmenger ein ganzes Kapitel unter dem Titel: »In diesem Capitel wird der Sammaël als der Engel des Todes beschrieben / und darbey angezeiget / was die thörichte [sie] Juden von den Todten lehren«. 46 Von dem Todesengel heißt es: Es wird von dem Engel des todts gesagt / daß er voll äugen seye / und zur zeit / wann der krancke stirbt / zu seinen haupten stehe / und sein schwert in seiner hand bloß halte / an welchem ein tropffen gall hange. Wann nun der krancke denselben siehet / so zittere er / und
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Joseph Görres: Mythengeschichte der asiatischen Welt, S. 300-310. Ebenda, S. 237. Ebenda. Achim: Die Majoratsherren - Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 137, Hervorhebung im Original. Zu diesem Satz und seiner Beziehung zum Synkretismus Arnims und Görres' vgl. Sternberg: >auch wenn wir entschiedene Protestanten sind.< Achim von Arnim zu Religion und Konfession. - In: Burwick und Fischer (Hrsg.): Neue Tendenzen der Amimforschung, bes. S. 44. Eisenmenger: Entdecktes Judenthum, Bd. 1, S. 854.
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Ritchie Robertson thue seinen mund auff / alßdann lasse der Engel des todts denselbigen tropffen in desselben mund fallen / von welchem er sterbe / verfaule / und ein bleiches angesicht bekomme. 47
Der Todesengel, wie er hier beschrieben ist, wird in der Erzählung genau nachgebildet, nur daß er zu Häupten der sterbenden Esther »wartend tiefsinnig« sitzt, »wie ein Erfinder am Schlüsse seiner mühevollen Arbeit«; und er erinnert dabei an die Gestalt der Melancholie, wie sie aus Dürers berühmtem Bild bekannt ist.48 Sowohl in den Mythen als auch in der Ikonographie neigt der Erzähler Arnim zum Synkretismus. Nicht nur die jüdischen Traditionen, sondern auch jüdische Bräuche spielen in der Erzählung eine bedeutende Rolle. Der Vetter des Majoratsherrn erklärt, daß die alte Vasthi die Hälse der Sterbenden zudrücke, damit sie nicht lebendig begraben werden, denn das jüdische Gesetz erfordere, daß sie binnen drei Stunden nach dem Tod begraben werden. 49 Angeblich um sie vor dem Scheintod zu hüten, erwürgt Vasthi Esther; in diesem Falle aber handelt es sich um Mord. Um das Problem des Scheintodes bei den Juden gab es zu Arnims Zeit eine lebhafte Kontroverse. Die jüdische Tradition verlangte, daß Juden zwar nicht drei Stunden nach dem Tod, aber immerhin noch am Todestag begraben werden sollten. Diese Forderung ging zum Teil auf die Reinlichkeitsgesetze zurück, welche die Toten und diejenigen Menschen, die die Toten berührten, für unrein erklärten, zum Teil auf die Überzeugung, daß die Seele des Gestorbenen nicht eher erlöst werde, bis der Tote begraben worden ist.50 Eisenmenger erklärt dazu: Es pflegen die Juden ihre todten nicht über nacht liegen zu lassen / sondern bald zu begraben; warum aber solches geschehe / solches ist aus dem Sohar [...] zu sehen. [Hebräisches Zitat] Die Seele kommet nicht hinein (nemlich in den Paradeis) vor den heiligen gebenedeyeten Gott / sie kann auch nicht in einem anderen leib seyn (und in denselben versetzt werden) biß daß der erste (leib) begraben seye «c. So lang aber der leib nicht begraben ist / so schmerzet es die seele / und ist der unreine geist bereit darüber sich auffzuhalten / und denselben zu verunreinigen. Weil nun der unreine geist fertig ist / (denselben zu besudelen/) so soll der mensch nicht begehren den leib über nacht liegen zu lassen / dieweil der unreine geist bey der nacht sich einfindet / und auff die ganze erde sich außbreitet / umb einen leib ohne seele zu finden / denselben zu verunreinigen / und wird (ein solcher leib) sehr besudelet. 51
Man warnte immer häufiger vor der Gefahr, daß Menschen, die nur scheintot waren, lebendig begraben werden könnten. Im Jahre 1772 bat ein Hamburger Missionar den Herzog von Mecklenburg, die sofortigen Beerdigungen aus diesem Grund zu verbieten, worauf der Herzog seinen jüdischen Untertanen befahl, eine Leiche erst nach drei Tagen zu begraben. Als die entrüsteten Juden den Philosophen Mendelssohn um Vermittlung baten, erklärte dieser, man solle sich dem Befehl des Herzogs fugen, denn einerseits entbehre der Brauch der frühen Beerdigung
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Ebenda, Bd. 1,S. 872-873. Dazu Oesterle: >Illegitime KreuzungenErkundung< Napoleons 1798/99, mit der die Aufmerksamkeit auf den Orient gelenkt wurde, eingesetzt - unter anderem mit verstreuten Reflexionen in Schlegels literarischen Notizheften (»Alle orientalische] φ [Philosophie] nur π [Poesie].«48 - »Die ächte orientalische π [Poesie] hieroglyphisch - die unächte fantastisch«49) und der Herausarbeitung der poetischen Existenz der Araber im Ofterdingen (»ihre reine starke Empfänglichkeit für die Poesie des Lebens«50). Wackenroder hatte diesem bedeutenden Projekt der Romantik den Weg gewiesen, indem er in den Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst konstatierte: »Das Morgenland ist die Heimath alles Wunderbaren, in dem Alterthume und der Kindheit der dortigen Meynungen findet man auch höchst seltsame Winke und Räthsel, die immer noch dem Verstände, der sich für klüger hält, aufgegeben werden.«51
2. Das Morgenland ist Arnim - wenn wir in die Werke schauen - zunächst einmal ein Flucht-Punkt, und zwar nicht nur, was nahe liegt, fur die Phantasie, wie in den Träumen der Isabella dargestellt, sondern den handelnden Figuren auch ein realer, das heißt ein Reiseziel. In Armuth, Reichthum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores flieht der Graf P... vor seinen Gläubigern - und offenbar auch aus einer nicht sonderlich erfüllten Ehe - nach Ostindien, und wiederholt sind es aus einer unglücklichen Verbindung beziehungsweise Liebe Flüchtende, die der Dichter in den Orient, nach Asien reisen läßt, oder doch zumindest in den orientalisch beeinflußten, mediterranen Raum, der dann gleichsam als Pars pro toto fungiert. Auch die widerwillig >linker Hand< verheiratete Isabella reist Richtung Ägypten ab. (Daß sie und ihre Begleiter dort auch ankommen und das weitere Schicksal der 46 47
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Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, S. 319f. Vgl. Härtl: Übereuropäisches bei Arnim und Bettina. - In: Härtl/Schultz (Hrsg.): »Die Erfahrung anderer Länder«, S. 220f. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 16, S. 274. Ebenda, S. 321, Hervorhebungen im Original. Novalis: Schriften, Bd. 1, S. 236. Wackenroder: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 201.
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>Zigeuner< erfahrt der Leser allerdings, was gern übersehen wird, nur aus dem unglaubwürdigen Bericht des »berühmten Reisenden Taurinius« 52 .) Und im Denken des Kreuzfahrers Plesse war der Orient, als ihn die unerfüllbar scheinende Liebe zur Gräfin von Neugleichen in die Ferne zog, sogar zum letzten FluchtPunkt geworden: »Zum Morgenland, aus dem kein Wiederkehren«, 53 wie eine Formulierung der Gräfin aus einem Dialog mit dem nach zehnjähriger Reise verwundet heimgekehrten Ritter in Die Gleichen lautet. Ebenso wie den Ritter Plesse führt Arnim auch den während eines Kreuzzugs in Ägypten verschollenen und versklavten Grafen von Neugleichen und den totgeglaubten Grafen P... aus der Fremde zu den Ihren zurück, letzteren mit seiner neuen, schönen ostindischen Frau Moham und den gemeinsamen Kindern. Dabei gelingt in der Gräfin Dolores eine interessante Komposition. Arnim ordnet nämlich dem zurückgekehrten Grafen P... sowohl die im Roman eingeschaltete Elegie aus einem Reisetagebuche in Schottland als auch die Sage vom Grafen von Gleichen zu. Während das Gedicht in einer erweiterten Fassung entschieden die Sehnsucht nach den erinnerten romantischen Gefilden artikuliert und die erneute Abreise P...S - diesmal nach Sizilien - vorbereitet, ruft sich der Zurückgekehrte die Sage in Erwartung der Begegnung mit einer Zurückgelassenen mit durchaus zwiespältigen Gefühlen ins Gedächtnis, denn erst jetzt gedachte er ernstlich in seinem leichtsinnigen Gemüte, wie er seine neue Frau, seiner ersten vorstellen solle, die beide nichts von einander wußten, wenn diese vielleicht noch am Leben sei. Die Geschichte des Herrn von Gleichen, der seiner Frau aus den Kreuzzügen heimkehrend eine Sarazenin zuführte, die ihn aus Liebe von der Sklaverei befreit, und dafür aus Dankbarkeit von der ersten Frau als Mitgenossin ihres Ehebettes anerkannt wurde: diese Geschichte, die seinem Leichtsinne bis dahin als genugtuend für alle Fälle vorgeschwebt hatte, wollte ihn nicht ganz beruhigen. 54
Arnims Schauspiel-Adaption des Gleichen-Stoffs, der 1807 durch Wilhelm von Schütz' Drama Der Graf und die Gräfin von Gleichen zu neuer Bekanntheit gelangt war, ist insbesondere darin originell, als in dem 1819 erschienen Stück der Bruder der Gräfin von Neugleichen die Orientalin heiratet, nicht der in den Augen des Dichters schuldig, weil in seinem Denken und Planen untreu gewordene Graf. In Die Gleichen führt der Graf von (Neu-)Gleichen die Tochter eines arabischen
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Arnim: Isabella von Ägypten - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 740. Vgl. dazu: Ebenda, S. 1309; Neumann: Legende, Sage und Geschichte, S. 311. Allein schon auf Grund der romantischen Ironie, mit der die Heimkehr der >Zigeuner< in einem fingierten Bericht überliefert wird, erscheint mir die Deutung Claudia Bregers äußerst fragwürdig, Arnim habe »nach Kräften am imperialistischen Projekt der Eroberung von Raum, Zeit und den sie bevölkernden Menschen« mitgewirkt, indem er in der Isabella von Aegypten »die >ZigeunerGlut/Hitze< bildet die Schnittmenge von Orientalischem und Sinnlichem. »Sind meine Lippen nicht verbrannt«, wundert sich Karl nach der Berührung durch das »Gespenst«: »ich schwöre euch, es hat mich geküßt, daß mir vor Seligkeit das Herz stieg.«61 Mit der männlichen Projektion der >Glut der Orientalinnen spielt Arnim ironisch, indem die aus Lehm erschaffene Golem-Bella, das seelenlose Abbild der >Zigeunerprinzessin< und Ausgeburt an »Hochmut, Wollust und Geiz« 62 , den nichts ahnenden Karl »in niedrer Glut an sich zieht« 63 . In der schlichten Feststellung »[d]er Tag war [...] ungewöhnlich heiß« 64 ist in der Melück-Novelle analog zur Hitze-und-Glut-Metaphorik der nächtlichen, gespenstischen Begegnung in Bellas Gartenhaus die erste Liebesnacht zwischen Saintree und Melück Maria Blainville vorbereitet (die Verführungsszene und der Nachname der Verführerin erinnern an den William Lovell65); und auch die Jugenderinnerungen des Grafen von Gleichen variieren die GlutMetapher: Mit diesem Eichenschatten kommt das Bild, Das ich mit meiner Jugend lang genährt,
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Arnim: Die Gleichen, IV/2, S. 132. Ebenda, 1/4, S. 32. Ebenda, IV/2, S. 132. Ebenda, II/l.S. 59. Arnim: Melück Maria Blainville - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 755. Arnim: Isabella von Ägypten - ebenda, S. 633. Ebenda, S. 634. Ebenda, S. 689. Ebenda, S. 709. Arnim: Melück Maria Blainville - ebenda, S. 752. Siehe 2. Buch, 22. (»Die Comtesse Blainville an Rosa.«), Tieck: Schriften, Bd. 6, S. 93f. Vgl. Fischer: Literatur und Politik, S. 110 (Hinweis auf die Verführerin Blainville im William Lovell). Arnim hatte Tiecks Briefroman erstmals im Sommer 1802 in Bern gelesen (vgl. den Brief an Brentano, Mitte August 1802, Schultz [Hrsg.]: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 31 f.).
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Von einer Morgenländerin mir wieder, Die hier vorüberzog mit fremden Pilgern, Und auf den Schooß mich nahm mit süßer Wollust, Und mir erzählte von dem Wuchs der Palme, Und von der Ruhe in der heißen Gluth[.] 66
Auch wenn Arnims Orient-Wahrnehmungen in erster Linie sinnlich-visuell geprägt erscheinen, so bemüht er sich doch im Gegensatz zu den Figuren in seinen Werken um eine psychologisch differenzierte Sicht der Orientalinnen. Das zeigt sich in deren Verhalten, in ihrer Entwicklung, aber auch zum Beispiel darin, daß Isabella, die Tochter eines >Zigeunerherzogs< und einer niederländischen Adligen, offensichtlich Züge Bettina von Arnims trägt. »Der Weinstock ist ein Fremdling voller Ehren, / Gleich Isabella, die ich will erheben«, 67 lauten die programmatischen Verse, in denen die >Zigeunererzählung< angekündigt ist. Und im Zuge der Apotheose Bellas zur Marienfigur werden dann auch die anfangs mit ihr verbundenen erotischen Assoziationen weitgehend zurückgenommen. Stereotyp dagegen sind die Schilderungen des orientalischen Lebens und des Orients selbst, etwa die Szene mit Bassa, Favorite, Fatme und Roxane im Abschnitt »Der Harem des Bassa von Jerusalem. Ein türkisches Familiengemälde« 68 in Halle und Jerusalem oder die lakonische Bühnenbildanweisung »Alkair. Sklavenhütte und Garten neben dem Harem des Sultans von Aegypten« 69 in Die Gleichen. Die ironische Verwendung solcher Klischees durch Arnim und der mögliche Einfluß von Wielands Versepos Oberon wurde von der Forschung bereits aufgezeigt. 70 In diesen Zusammenhang gehören auch die Feststellung des Pferdehirten Gottschalk »im Morgenlande giebt es der Weiber gleich zu tausenden in einem Hause, da sind die Männer eine rechte Seltenheit« 7 ' und die Ballade Amra mit den Versen »Daß er eine Frau nur hatte, / Dessen lacht die Heidenbraut, / Denn ihr Vater war als Gatte / Manchem Dutzend Fraun vertraut«. 72 Mit solchen Worten parodiert Arnim die Stereotypen des zeitgenössischen Exotismus, das heißt die kulturbedingten intensiven emotionalen Wahmehmungsvorgänge und Vorstellungsbildungen unbekannt-geheimnisvoller außereuropäischer und nicht-modemer Welten und [...] die kulturellen Repräsentationen, die bei den kulturkonsumierenden Rezipienten ähnliche Gefühlsregungen auszulösen vermochten. 73
Dem ironisch-klischeehaften Blick auf das Exotisch-Andere steht die entlarvende Perspektive des Fremden gegenüber. Die ahnungslose Isabella von Ägypten beispielsweise gerät in Gent und Buik zwischen Frachtwagen, Wirtshäusern und Bor-
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Amim: Die Gleichen, III/2, S. 94, Hervorhebung im Original. Amim: Isabella von Ägypten - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 620. Siehe Arnim: Halle und Jerusalem, S. 378-387. Amim: Die Gleichen, 1/4, S. 30. Vgl. Schönemann: L. Achim von Arnims geistige Entwicklung, S. 10, 101. Arnim: Die Gleichen, IV/2, S. 131f. Arnim: Gedichte. Zweiter Teil, S. 44, Hervorhebung im Original. Rincón: Exotisch/Exotismus, S. 338.
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dellen in ein Treiben, in dem die Kutschen plötzlich »dreifach bezahlt werden müssen« (und »nur die wenigsten konnten sich der Bequemlichkeit eines Wagens erfreuen«, fügt der Erzähler hinzu, »die meisten mußten sich in langen Reihen einen Weg durch das Korn drängen, um nicht im Staube des Fuhrweges zu erstikken«74). Bellas kindlich-naiver Blick eröffnet dem Leser eine pittoresk-abgründige Perspektive, läßt ihn ihm vertraute Mechanismen mit den Augen der >Zigeunerin< neu entdecken: Seht Euch doch um ihr Kinder, rief jetzt Braka, Euch ist es was Neues und ihr achtet nicht darauf: seht den lieben Reichtum rings an der Stadt, die Frachtwagen ziehen so breit, daß wir ihnen kaum ausweichen können. Aber Cornelius und Bella sahen nur nach den zierlichen Reitern, die ihre Pferde tummelten; nach den Schafen, die von den Metzgern zur Schlachtbank getrieben wurden; ein Wagen voller Kälber, die jämmerlich auf einanderliegend blökten, erschreckte Bella, so auch das Lärmen in den Wirtshäusern der Vorstädte, wo der tägliche Erwerb schon früh Zank und Schlägerei erweckt hatte.75
Isabella bemerkt die Schattenseiten des »lieben Reichtums«, aber sie ahnt und fühlt nur, erkennt nicht die Ursachen und Zusammenhänge: »[S]ie freute sich in die Welt einzutreten, aber sie fürchtete, die sie umgaben, und das Gefühl, daß sie ihr zu schlecht wären, überraschte sie sehr schmerzlich«. 76 Der »Verfremdungse f f e k t der Identifikation des Lesers mit dem Fremden, potenziert durch die Einführung unwirklich-wirklicher Figuren in die Handlung der Isabella von Aegypten (des egoistischen Alraun Cornelius Nepos, des vom Geld besessenen Bärnhäuters und der unbeseelten Golem-Bella), entlarvt die Triebkräfte und Mechanismen einer prosaischen Wirklichkeit; Bella dagegen »verkörpert die kindliche Unschuld als Gegenbild zu einer geschichtlichen Entwicklung, die den Menschen immer weiter entfernt hat von seinem göttlichen Ursprung.« 77 »Golddurst als Zeichen des Abfalls von Gott und Büß- oder Erlösungssymbolik sind die konstitutiven Faktoren der Erzählung.« 78 Das reiche Gent des sechzehnten Jahrhunderts bietet hierfür die ideale Kulisse. Die Anschaulichkeit ihrer Darstellung verdanken wir wohl nicht zuletzt des Dichters Reise durch die Niederlande im Jahr 1804. Antwerpen besuchte Arnim, wie er in dem gleichnamigen Aufsatz berichtet, 1828 erneut.79 In Antwerpen erinnert er an »Schiller's lebendige Beschreibung« 80 der Belagerung von 1584/85, enthalten in der zweiten Auflage der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung. Die Schrift aus den Jahren 1788 und 1801 (die erweiterte, zweite Auflage) könnte bereits für die Beschreibung des flämischen Gent, der Geburtsstadt Karls V., in der Isabella fruchtbar geworden sein. Denn darin findet sich die folgende - im folgenden stark gekürzt wiedergegebene - historische Schilderung des 74 75 76 77 78 75 80
Arnim: Isabella von Ägypten - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 672. Ebenda, S. 665. Ebenda, S. 658. Freund: Phantastische Geschichtsschreibung, S. 47. Haustein: Romantischer Mythos und Romantikkritik, S. 39. Siehe Arnim: Antwerpen - Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 1062f. Ebenda, S. 1067.
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benachbarten brabantischen Antwerpen, im Zeitalter der Reformation die führende Handelsstadt Europas: Antwerpen empfing im sechszehnten Jahrhundert den Handel, den die Üppigkeit der flandrischen Städte verjagte, und unter Karl des Fünften Regierung war Antwerpen die lebendigste und herrlichste Stadt in der christlichen Welt. Ein Strom wie die Scheide, deren nahe breite Mündung die Ebbe und Flut mit der Nordsee gemein hat und geschickt ist, die schwersten Schiffe bis unter seine Mauren zu tragen, machte es zum natürlichen Sammelplatz aller Schiffe, die diese Küste besuchten. Seine Freimessen zogen aus allen Ländern Negotianten herbei. Die Industrie der Nation war im Anfang dieses Jahrhunderts zu ihrer höchsten Blüte gestiegen. Der Acker- und Linnenbau, die Viehzucht, die Jagd und die Fischerei bereicherten den Landmann; Künste, Manufakturen und Handlung den Städter. Nicht lange, so sah man Produkte des flandrischen und brabantischen Fleißes in Arabien, Persien und Indien. [...] Mit dem Warenhandel stieg auch der Geldhandel. [...] Im Jahr 1531 wurde die Börse gebaut, die prächtigste im ganzen damaligen Europa [...]. Das flutende Leben, die Welt, die sich unendlich hier drängte, übersteigt allen Glauben. Zwei-, drittehalbhundert Mäste erschienen öfters auf einmal in seinem Hafen [...]. Täglich fuhren zweihundert und mehrere Kutschen durch seine Tore; über zweitausend Frachtwagen sah man in jeder Woche aus Deutschland, Frankreich und Lothringen anlangen, die Bauerkarren und Getreidefuhren ungerechnet, deren Anzahl gewöhnlich auf zehentausend stieg. [...] An Marktabgaben, Zoll und Akzise gewann die Regierung jährlich Millionen.81
»Geld, Geld schreit die ganze Welt«82, stimmt die alte Braka ihr Loblied des Zahlungsmittels an: »[D]a kann man eingehen, wo man will, das ist der wahre Hauptschlüssel, die wahre Springewurzel, bei deren Berührung, die Türen aufspringen.«83 Im »Sündenfall durch die Vergötterung des Geldes, der [...] vom ursprünglich Geistigen ins Menschlich-Politische herüberspielt«, hat Werner Vordtriede »das geheime Grundmotiv der ganzen Erzählung«84 erblickt. Das in der Isabella gestaltete Symptom der von Novalis (Die Christenheit oder Europa) und Schlegel (Reise nach Frankreich) diagnostizierten Verkümmerung der »höhern Organe« in Europa faßt in Die Gleichen Plesse in der mittelalterlichen Handelsstadt Venedig in die Worte: »Fremdartige Gewalt des Geldes, gleich / Dem Tode lähmst du edle Unternehmung«.85 Arnims Orientalen in der Fremde werden als Randfiguren des allgemeinen merkantilen Treibens gezeigt. Entweder sie leben in Armut, wie die durch die Wälder des zweiten Bands der Kronenwächter ziehenden >ZigeunerMorgenland/Schatz< eine Konstante in den Werken. Der Graf P... kehrt mit »erworbenen Schätze[n]«86 aus Indien zurück, der Graf von Gleichen aus Ägypten
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Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 58-60. Arnim: Isabella von Ägypten - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 649. Ebenda, S. 635. Vordtriede: Achim von Arnim, S. 328. Ausführlich dazu Fischer: Literatur und Politik, S. 96-108. Arnim: Die Gleichen, II/l, S. 53. Arnim: Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores - Werke in sechs Bänden, Bd. 1,S. 51 lf.
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(»Gold, Perlen Edelsteine [...], / Nie ist in Deutschland solch ein Schatz erschienen«87). Auch in dem mit den Versen »Nach Cairo's alter Sitte / Werden Kranke ausgestellt / Auf des Marktes hoher Mitte, / Die kein Arzt für heilbar hält« eingeleiteten Gedicht Antra ist jene Korrelation evident, und zwar im Zusammenhang mit einer erneuten Variation der Glut-Metapher: Amra seht heut unterm Throne Auf dem Markte ausgestellt; Seht der Sultan hat zum Lohne Haufen Golds dazu gesellt, Dem verheissen, der sie rettet, Diese Tochter aus der Gluth, Die den Geist mit Wahn umkettet Drängend alles Jugendblut.88
»Nach Mecca, zum Grabe des Propheten« ziehen in Halle und Jerusalem die muslimischen Pilger mit ihren Kamelen, »da duftet Weihrauch aus den Felsenspalten, die Häuser sind mit Gold gedeckt, sein Sarg hängt an dem Himmel, getragen von unsichtbar ewger Kraft.«89 Die orientalischen Schätze sind in Arnims Werken Sinnbilder des Reichtums an Religion und Phantasie. Wolfgang Frühwald deutet Melück als eine »Figuration der Phantasie«, und im »Thema vom tödlichen Kampf rationalistisch-utilitaristischer Gespenster gegen die Phantasie« sieht er »das gewichtigste zeitkritische Element in den Erzählungen Achim von Arnims«.90 Damit ist der übergeordnete Konflikt auch der MeliickNovelle, der »Zwillingsschwester«91 der Isabella von Aegypten, benannt, welcher, mit Hilfe von Schlegels Reise nach Frankreich gelesen, zugleich ein Konflikt unterschiedlicher kultureller Identitäten ist. Melück, die Tochter eines gestürzten Emirs, die es nach Frankreich verschlagen hat, ist »durch ihre orientalische Abstammung im Mythischen behaust«92, in Religion und Poesie beheimatet. In der Fremde aber sucht sie zunächst vergeblich das ihrer Identität Entsprechende: im geregelten Klosterleben, das sie vor Ablauf der einjährigen Probezeit wieder verläßt, und auf der klassizistischen Bühne, wo sie trotz ihres »ausgezeichnete[n] Talent[s]«93 im entscheidenden Moment versagt. Ihre Religion und Poesie sind anders, ursprünglicher, und erst in der Liebe, im Verhältnis mit Saintree und in der Rache nach dessen Zerbrechen - der Graf wendet sich wieder »seiner geliebten Mathilde«94 zu - kann sich »ihre fremdartige Natur«95 voll entfalten, auch in ihren dunkel-magischen Seiten: »Melück [...] blickte auf ihn, daß er für einige Augen-
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Arnim: Die Gleichen, 1/4, S. 32. Arnim: Gedichte. Zweiter Teil, S. 40. Arnim: Halle und Jerusalem, S. 359f. Frühwald: Achim von Arnim und Clemens Brentano, S. 150. Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 744. Vordtriede: Achim von Arnim, S. 323. Arnim: Melück Maria Blainville - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 748. Ebenda, S. 755f. Ebenda, S. 747.
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blicke erblindete und in einem Krampfe niederstürzte.« 96 Der Orientkenner Frenel, »ein blinder Theoretiker« 97 und damit ebenso Melücks Gegenspieler wie die aufziehende Revolution, offenbart dann dem Grafen das Ungeheuerliche aus seiner Sicht: Er sei Opfer »einer herzfressenden Zauberin« geworden und einer »Kunst«, wie sie »im Morgenlande häufig geübt werde, um Untreue zu rächen«. 98 Es zeigt sich in der Folge, daß das Leben des herzlosen Saintree tatsächlich vom Herzen der Araberin abhängt, im wahrsten Sinne des Wortes, mehr noch, »daß ihr beider Leben notwendig mit einander verbunden« ist, »daß er ohne sie nicht leben« kann. 99 Das Symbol des gemeinsamen Herzens steht hier, betrachtet man die Akteure der Novelle als Erscheinungsformen und Bestandteile einer »ideelen Konfiguration«, für die »konfigurative Synthese der beiden Figuren« 100 , die Verbindung von Phantasie und Empfindung auf der einen, Ratio und Empfindungsarmut auf der anderen Seite, von Orient und Europa. Wie Isabellas unverdorbener Lebenswandel, so bietet auch derjenige der »schönen Heidin« 101 Amra im nichtaristotelisch aufgebauten Schauspiel Die Gleichen ein Kontrastbild zu einer von Besitz- und Machtstreben korrumpierten Welt. Aus Liebe tritt die Morgenländerin zum Christentum über; um, wie sie sagt, in »frommer Gluth« den »wilden Frost« (den sie hinhaltenden Grafen) zu bezwingen, gibt sie ihr behütetes Leben am Hofe ihres Vaters, des Sultans von Ägypten, auf. »Hab' Sprach' und Glauben so um dich gelernt,« stammelt sie dem Grafen von Neugleichen gegenüber liebenswert unbeholfen: »Ein sel'ger Glaube ists, ein Mann ein Weib.« 102 Sie folgt ihm, dem sie Befreierin und Fluchthelferin war, in die Fremde. Er aber wird, was er ihr nicht mitgeteilt hat, von seiner Ehefrau erwartet. Als er dann schließlich mit schlechtem Gewissen der Gräfin auf der Burg Neugleichen gegenübertritt, bleibt ihm kaum noch etwas anderes übrig, als sich in Wahnvorstellungen und Teufelsbeschwörungen zu flüchten: Sie legt sich an dein Herz die tück'sche Schlange, Sie beißt hinein, du ahndest es nur nicht, Die deutschen Schlangen haben so kein Gift. Ist dies ein Teufelsschein, ich banne ihn, Bey Gott ich bin noch nicht im Dienst des Bösen. 103
Wie in Isabella und Meliick gestaltet Arnim auch im Schauspiel das Orient-Thema als Geschlechterverhältnis, wie in den Erzählungen bedient er sich dabei der klassischen Konstellation des Mannes zwischen zwei Frauen (Melück, Mathilde) beziehungsweise einer Frau (Isabella) und deren Zerrbild (Golem-Bella). Und wie Saintree - dieser »behauptete, die ganze Welt sei von zweierlei Liebe besessen; 96 97 98 99 100 101 102 103
Ebenda, S. 760. Ebenda, S. 769. Ebenda, S. 761. Ebenda, S. 774. Riley: Idee und Gestaltung, S. 109. Arnim: Die Gleichen, 1/4, S. 33. Ebenda, 1/4, S. 36. Ebenda, III/2, S. 98f.
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unbeschadet der höheren, glaubte er sich der Araberin in dem niederen Sinne ergeben zu können«104 - scheint auch der Graf von Gleichen zwischen einer ihm dämonisch erscheinenden Verkörperung der Sinnenliebe und einer der Seelenliebe hin- und hergerissen. Einen Ausweg aus Sicht des Grafen hätte die geplante, dann aber wieder verworfene doppelte Ehe bieten können; dann hofft er, »sich schuldlos behaupten zu können, indem er die Doppelehe mit Amra und der Gräfin nicht vollzieht und in geistiger Gemeinschaft mit ihnen lebt. Aber es ist für Arnim kennzeichnend, daß er diese Lösung nicht als endgültig betrachtet.«105 Der Graf geht ins Kloster, und die Araberin steht im fünften Aufzug des Dramas plötzlich mitten in einem Kampf, in dem sich die Spannungen um Besitz und Macht zwischen den Burgen Altgleichen und Neugleichen entladen und aus dem der Ritter Bernhard heldenhaft hervorgeht. Die vom Verfasser negativ gezeichneten, unehelichen Söhne der Gräfin von Altgleichen, Norbert und Gangolph, dagegen finden den Tod. Ritter Bernhard heiratet Amra, Ritter Plesse - nachdem die nicht vollzogene Ehe mit dem Grafen von Neugleichen aufgelöst ist - die Gräfin von Neugleichen, dessen Schwester. Daß in Arnims Œuvre die Verbindung von Orient und aufgeklärtem Okzident, von Phantasie und Vernunft, Religiösem und Materiellem, nicht wirklich gelingt, liegt nicht zuletzt in dem Netz von Schuld und Versagen begründet, mit dem der Dichter seine Geschichten durchwoben hat. Eine Versöhnung kommt deshalb nur teilweise zustande (Amra heiratet eine Nebenfigur, nicht den Protagonisten), im Leben vorübergehend oder nach diesem (symbolisiert in der ersten Liebe, im gleichzeitigen Tod von Isabella und Karl, von Melück und Saintree). Was bleibt, ist die Hoffnung auf eine Versöhnung, künftigen Generationen überantwortet und verkörpert von Joseph, dem romantischen Sohn der Gräfin von Altgleichen, der den Drei-Brüder-Schatz der Gleichen findet, von Lrak, dem Sohn der Isabella, und den Kindern Mathildes mit ihren »morgenländischen Augen«106. Den drei orientalischen Heldinnen bleiben Hingabe, Entsagung und Aufopferung aus Liebe, ihrem ureigensten Element, und die zunehmende Integration in eine christliche Ordnung. Eine produktive Auseinandersetzung mit dem ursprünglichen Glauben Melücks und Amras findet nicht statt. Er fallt einer romantischen Europakonzeption zum Opfer, die sich als christlich-abendländisch versteht. Die unüberbrückbar erscheinenden Differenzen zum Islam entladen sich in Halle und Jerusalem folglich in Spott: »Christen. Wunderbar ist stets die Lüge, doch die Wahrheit wunderselten und doch überall, Wahrheit ist das größte Wunder. [...] / Mahomedaner. Wer für seinen Glauben stirbt, hat Wahrheit. / Christen. Wer für seine Wahrheit lebt, hat Glauben. / Mahomedaner. Lebt wohl. / Christen. Sterbt selig.«'07 Der Ausruf Amras »Prophet, Gott, Alla, Christus, alle helft«108 verhallt in den Werken folgenlos. Arnims Dialog der Kulturen ist kein Dialog der Religionen,
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Arnim: Melück Maria Blainville - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 755. Falkner: Die Dramen Achim von Arnims, S. 124. Arnim: Melück Maria Blainville - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 766. Arnim: Halle und Jerusalem, S. 360. Arnim: Die Gleichen, 1/4, S. 37.
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denn nur im Zeichen des Christentums erschien ihm eine geistige Versöhnung von Morgen- und Abendländischem in Europa sinnvoll. Damit steht er in der Tradition einer Ergänzung Tiecks zu Friedrich Schlegels vom 13. September 1802 datierender Einschätzung , »daß der Norden und der Orient in jeder Weise, in moralischer und historischer Rücksicht die guten Elemente der Erde sind - daß einst alles Orient und Norden werden muß«:' 09 Ich glaube immer mehr, daß der Orient und der Norden sehr genau zusammenhängen und sich gegenseitig erklären, auch die ganze alte und neue Zeit erläutern. Nur glaube ich gibt es zum Verständnis für das Herz nur einen Mittelpunkt, welchen du bis jetzt wohl noch nicht anerkennen willst, und dieses sind die Offenbarungen des Christentums.110
Jahre später hat sich Arnim des Orientthemas mit den Lalla-Rukh-Sonetten und in der Erzählung Martin Mártir (anläßlich des orientalischen Festzugs in Berlin 1821) noch einmal angenommen," 1 ohne jedoch an die »ideelen Konfigurationen« um das Gegensatzpaar >Orient/Europa< der >Novellensammlung von 1812< und des Gleichen-Stücks anzuknüpfen.
3. Von der Ankunft der ersten >Zigeuner< bei Basel unterrichtet uns eine alte Chronik wie folgt: »Ein frömbd / gescheid vnd vnnütz Volck / die Zigeiner genannt / kam erstlich / im 1422 jar / gehn Basel [...] / hatten ein Obersten / der sich Hertzog Michael von Egypten nennet / darzu vom Bapst vnd Rom. König Paßworte / daher man sie [...] duldet vnd ziehen liesse.« Neben dem Namen Herzog Michael, der in die ein Jahrhundert später (1515 bis 1558) angesiedelte Handlung der Isabella von Aegypten Eingang gefunden hat, erwähnt Christian Wurstisens Baßler Chronick auch die auf apokryphe Überlieferungen zurückweisende Ägyptenlegende, die ein wesentliches Element der Arnimschen Erzählung bildet: »Sie gaben für / Ihr vrsprung were von denen Egyptern / welche Joseph vnd Maria (da sie für Herodis grimm mit dem neuwgebornen Herren Jesu in ihr Landt entflohen) kein Herberge geben wollen / deßhalb sie Gott weißloß in das Ellendt Verstössen hette.« An diese Feststellung schließt die folgende beachtenswerte Betrachtung an: »Von dieser zeit an / ist dieses schwartz / vngestaltet vnnd wildschweiffige Gesind / welches mit der zeit jhe lenger jhe frecher worden / vnd nun / zweifeis on / nichts anders dann allerley zusamen geloffene Bößwichte / Dieb vnd Räuber seind / in Teutschen Landen mit grosser beschwerung frommer Leuten herumb gestrichen [,..].«" 2 Auch die Unterscheidung von edleren Ankömmlingen und späteren
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Holtei (Hrsg.): Briefe an Ludwig Tieck, Bd. 3, S. 325, Hervorhebungen im Original. An Schlegel. - Zitiert nach: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 7, S. XLV. Siehe Grus: Der Masken Wirbelwind. Achim von Arnims »Lalla Rukh«-Sonette. - In: Härtl/Schultz (Hrsg.): »Die Erfahrung anderer Länder«. Wurstisen: Baßler Chronick (Basel 1580) - Zitiert nach: Gronemeyer: Zigeuner im Spiegel früher Chroniken und Abhandlungen, S. 39 (fotomechanischer Nachdruck eines Auszugs).
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Schurken hat in der Erzählung eine Entsprechung: in dem >Zigeunerherzog< Michael (»der in rastloser Tat für sein armes Volk, in steter Mühe und Not für die Seinen, um das Unbedeutendste einem Reichen zu entfremden, allzu ehrlich und stolz gewesen war«" 3 ) und seiner Tochter Isabella auf der einen, >wilden< Figuren wie dem Dieb Happy und der Kupplerin Braka auf der anderen Seite (wobei der Erzähler diese Gruppe sympathischer zeichnet als der Chronist). Gleichwohl ist nicht bekannt, ob Arnim das im zweiten Versteigerungskatalog der Brentano-Bibliotheken aufgeführte Buch Wurstisens 114 zu Rate gezogen hat, auch nicht, ob es Bestandteil der Büchersammlung Clemens Brentanos war, als die >Liederbrüder< 1809/11 gemeinsam in der Mauerstraße 34 in Berlin wohnten. Die in der Literatur genannten Quellenschriften zur Isabella von Grellmann (Die Zigeuner) und Crusius (Schwäbische Chronick) freilich referieren explizit den zitierten Auszug aus der Baßler Chronick (wobei alle Angaben über eine ägyptische Herkunft der Fremden allerdings von ersterem umgehend als erdichtet verworfen werden" 5 ). Von daher stellt sie in jedem Fall eine primäre Quelle zur >Zigeunerproblematik< der Erzählung, der Ortlosigkeit der Fremden, dar. »Und Urstisius [sie, nach der lateinischen Vorlage] sagt, sie seyen unter Anführung eines gewissen Obristen, welcher sich >Hertzog Michael von Egypten< nannte, An. 1422. mit Päbstlichen und Kayserlichen Paßports oder Geleits-Brieffen zu erst nach Basel gekommen«, berichtet Martin Crusius über die >ZigeunerZigeuner< angehängt, zum andern wird das jüdische Volk indirekt fur die Abweisung der Heiligen Familie verantwortlich gemacht, da angeblich die >Zigeunervorfahren< »die Heiligen fur Juden hielten, die in Ägypten auf ewige Zeit nicht beherbergt werden, weil sie die geliehenen goldnen und silbernen Gefäße auf ihrer Auswanderung nach dem gelobten Lande mitgenommen hatten.«122 Allein schon auf Grund der Konstruktion >Geld/JudenZigeunerprinzessin< die Spektralfarben eines Halo erblicken, in denen ein Regenbogen, also das biblische Symbol des Bundes von Gott und den Menschen und der Versöhnung nach der Sintflut,126 bedeutungsvoll gespiegelt ist:
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Ebenda, S. 28f. Vgl.: Ricklefs: Kunstthematik und Diskurskritik, S. 145; Gronemeyer: Zigeuner im Spiegel früher Chroniken und Abhandlungen, S. 32,43. Grellmann: Die Zigeuner, S. 167. Görres: Mythengeschichte der asiatischen Welt, Bd. 2, S. 406. Ebenda, S. 435. Vgl.: Grellmann: Die Zigeuner, S. 182-185; Neumann: Legende, Sage und Geschichte, S. 306. Arnim: Isabella von Ägypten - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 624. Fischer: Literatur und Politik, S. 93. Saul: Leiche und Humor, S. 132. Arnim: Isabella von Ägypten - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 624. Vgl. 1. Mose 9,12-17.
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Holger Schwinn [S]ie wußte auch das alte Verbrechen ihres Volks, daß sie der heiligen Mutter Maria auf ihrer Flucht nach Ägypten kein Obdach geben wollten, als sie mit ihrem seligmachenden Kinde im starken Regen einritt; da erhob aber dieses seine Hand im Kreise und über ihnen stand ein Regenbogen, der keinen Tropfen auf sie niederfallen ließ. Ist unsre Schuld noch nicht gebüßt! seufzte Bella, und rings um den Mond erblickte sie einen wunderbaren farbigen Kreis, daß ihr Herz aufjauchzte und ohne Worte betete.127
Die »Versöhnung des Bösen in Christus«128, und damit indirekt auch jenes »alte Verbrechen« der >ZigeunerÄgypter< plötzlich zu Äthiopiern 130 (Abessiniern) mutiert sind und im Vorwort der >Novellensammlung von 1812< sämtliche Erzählungen als von einem >Zigeuner< übermittelt ausgegeben werden. Die Keimzelle zu den >Zigeunererzählungen< Isabella von Aegypten und Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter mag die gemeinsame Böhmenreise Arnims und Brentanos 1810 gewesen sein. Es gibt Hinweise darauf, daß Arnim sich mit dem >ZigeunerLiederbruder< hat sich damals mit dem Gegenstand befaßt.132 Begegnungen mit >Zigeunern< jedenfalls waren im Böhmischen alltäglich und dürften inspirierend gewesen sein, wenngleich diese augenscheinlich mit den in der Zeitung für Einsiedler besungenen frommen >Zigeunerinnen< nicht viel gemein hatten: »Es ist oft so schön hier, daß man den Rhein vergißt«, eröffnete Brentano Jacob und Wilhelm Grimm nach der Reise, »und doch mag ich nicht da leben, denn die Zigeuner sind alle zum Galgen reif und gar nicht romantisch.«' 33 Dieser Beobachtung trug Arnim insofern Rechnung, als er die Handlung der Isabella in der Reformationszeit ansiedelte. Hier konnte er Isabella und Michael glaubhaft als ehrenwerte Nachkommen der frühen pilgernden >Zigeuneranführer< auftreten lassen. Beide Namen finden sich bei Grellmann.' 34 Die Hinweise dort auf die Verfolgung der >Zigeuner< unter dem fünften Karl135 und darauf, »daß der Zigeuner keine Person heyrathet, die nicht ebenfalls, wie er, aus ächtem Zigeunergeschlecht ist«,'36 hat Arnim auf eigene Art
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Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 658f. Ebenda, Bd. 5, S. 1353. Vgl. Zeitung fur Einsiedler, H. 9 vom 30. April, Sp. 67. Vgl. dazu Grellmann: Die Zigeuner, S. 201-212. Vgl. Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 1487, Bd. 3, S. 1246. Vgl. Saul: Leiche und Humor, S. 113, 135. Brief vom 3. bis etwa 11. Sept. 1810, Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 32, S. 281. Vgl. Grellmann: Die Zigeuner, S. 99, 101-103, 164. Vgl. ebenda, S. 136f. Ebenda, S. 89.
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und Weise gestaltet, aber zahlreiche Details der Isabella dürften unmittelbar auf Grellmann zurückgehen. So schildert dieser zum Beispiel die orientalische Bekleidung aus zerfetzten Tüchern, daß die >Zigeuner< Hunde mit sich führten, gerne Brandwein trinken, ihren Hochmut, ihre Begierde nach schillernden Kleidern137 und die Erziehung der Töchter »zu einem Opfer der Wollust«138. Besonders hervor hebt er die Verdienste der >Zigeuner< um die Musik und ihre Gewohnheit, aus dem Stegreif zu dichten.'39 Vieles davon und vieles andere war Arnim natürlich auch aus der literarischen Zigeunerromantik von Cervantes (La gitanilla) über Grimmelshausen (Courasche, Springinsfeld) bis zu Goethe (Götz von Berlichingen) und auch aus eigener Anschauung bekannt: »[I]ch erinnere mich noch ihrer nächtlichen Feuer im Walde«, berichtet er in Von Volksliedern von seinen Begegnungen mit >ZigeunernMensch< spiegelt. Parallel dazu wird die Vorstellung einer organischen Gemeinschaft zu einem virulenten (und problematischen) Postulat: Nicht nur der auf seine Funktion reduzierte Einzelne, auch das Volk der Deutschen ist in diesem Sinne in seiner Einheit in Frage gestellt: »[K]ein Volk, das zerrißner wäre, wie die Deutschen« (Hervorhe-
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Hölderlin: Hyperion - Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 754f. Schroer: Das Individuum der Gesellschaft, S. 226.
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bung von C. Ν.). Bei Hölderlin findet die von Hyperion kritisierte, fehlgeleitete Rationalitätskultur und der ultimative Entfremdungszustand der Deutschen in Diotimas ästhetisch-religiöser Lebensautonomie en miniature ihre kompensatorische Entsprechung: Mit dem häuslichen Ideal Diotimas verweist Hölderlin auf eine Zukunftsperspektive (und zieht sie mit dem Tod Diotimas für die unmittelbare Gegenwart zurück), die es über ein individuelles Bildungskonzept kollektiv auf einer höheren (sowohl Diotimas spezifische Natürlichkeit als auch die entfremdende Reflexionsphase transzendierenden) Stufe zu erreichen gilt: In dieser Entwicklungsbedürftigkeit steht auch das Volk der Deutschen als edukativer Zielaspekt zur Disposition; die dabei unterstellte Evolutionsfähigkeit markiert im Hyperion das letztlich optimistisch ausdeutbare Potential der desolaten Gegenwart. Ebenfalls im Kontext dieser sogenannten >Sattelzeit< entstanden reagiert auch der Wintergarten auf die diskursiven Problemfelder der Zeit: Auch seine utopischen Konstrukte stehen im Kontext einer komplexen Zeitstruktur mit ausgesetztem Ende, 3 transzendieren aber - anders als im Hyperion - als ästhetische Inszenierungen die fiktive Realität: Es wird zu zeigen sein, daß die Gemeinschaftsbildung und kontemplative Abschottung der Wintergesellschaft als gesellschaftliche Initiation vorgeführt wird: Die Öffnung des Textes, d. h. die Aussetzung seines Endes in der fiktiven Realität mit der Auflösung der Erzählrunde, funktioniert dabei als Appell, dessen ästhetisch antizipiertes Ende es sowohl in der fiktiven wie in der faktischen Wirklichkeit umzusetzen gilt.
1. Volk und Individualität als semantische Formationen Um Arnims utopische Anworten auf die Herausforderung der Zeit aus der heterogenen Novellensammlung zu extrahieren, bedarf es des Rückgriffs auf zwei semantische Formationen der > Sattelzeitc der Liebe und des >Volkeszeitgemäß< zu ergänzenden) kulturellen Erbes muß im Zuge eines längerfristigen Projekts gedeutet werden, dessen Wurzeln sich bis zur historisierenden Anknüpfung an den germanischen Mythos in Ariels Offenbarungen zurückverfolgen lassen, der - in unkonventioneller und für Arnim typischer Weise
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alles Gemeinsamen, Volksmäßigen darzustellen«10- wie es in der Zeitungßr Einsiedler formuliert wird - , liegt zudem implizit das Konstrukt >Volkvolkstümlicheren< Anstrich als die Vorlage, in denen diese Elemente nur in begrenztem Umfang oder gar nicht vertreten sind. Arnim änderte außerdem alle Namen der dramatis personae, wenn auch zum Teil sehr geringfügig. So erscheint der Titelheld Jann bei Arnim nicht mit dem Zusatz »Posset«, sondern mit dem Familiennamen »Erdwurm«. 13 Außerdem fugt Arnim dem Stück weitere Figuren hinzu und ändert die Struktur der Personenkonstellation: Aus dem »reich Nachbaur« 14 Herr Friderich bei Ayrer wird von Emmerichs Schwager von Brandeis. Grethe und ihre elf Kinder sind eine Zutat Arnims, ebenso wie die auf den ersten Blick sehr unmotiviert erscheinende Verlobung JannGrethe hinter der Bühne. In Ayrers Faßnachtspil ist Jann bereits verheiratet und wird von seiner dominanten Frau gepeinigt. Kinder werden in Ayrers Stück nicht erwähnt. Hinsichtlich der stukturellen Komposition nimmt Arnim gegenüber Ayrer wesentliche Änderungen vor. Ayrers Stück läßt sich in zwei thematisch unterschiedliche Handlungsstränge aufteilen, wobei Arnim nur am ersten, der Darstellung von Janns Dienstantritt, interessiert ist und ausschließlich dieses Szenario für sein Stück verwendet. Der zweite Teil des Ayrerschen Faßnachtspils setzt etwas unvermittelt mit einer Episode aus Janns Eheleben ein, was in der Arnimschen Neufassung zugunsten einer konsequent zu Ende geführten Handlung der ersten Episode ausgespart bleibt. Während Ayrers Stück den Eindruck erweckt, als seien zwei unfertige szenische Sequenzen in einem Willkürakt aneinandergefügt worden, wirkt Arnims Jann 's erster Dienst im Ganzen homogener.
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Märchen: Die Umwandlung des Namens »Ela« (Ayrer: Opus Theatricum, S. 105, Sp. 4) in »Grethe« macht das Wortspiel »Hans [Jann -» Johannes -> Hans] und Grethen« (Arnim: Schaubühne, S. 12) möglich, das an die Grimmschen Kinder- und Hausmärchen erinnert (vgl. die Geschichten Hansel und Grethel oder Der gescheidte Hans (Grimm: Kinder und Hausmärchen, Bd. 1, S. 49-58; S. 138-142). Ähnlich parodistisch gebrochen erscheint das Märchenmotiv des ausziehenden Jünglings, der sich »in der Welt versuchen« (Arnim: Schaubühne, S. 5) will, aber nur bis zum Hause des Nachbarn vordringt (ergänzend: Bottermann: Die Beziehungen des Dramatikers Achim von Arnim zur altdeutschen Literatur, S. 54). »Posset« (engl, für Milchsuppe, gemischt mit Bier) als Name fur eine Theaterfigur entstammt der englischen Wanderbühnentradition, der Ayrer in einer Vielzahl seiner Stücke verpflichtet ist. Die Figur des Jann entstand im altenglischen Theater durch die Verschmelzung von Clown und »fool« (Narr) und wurde zum »Inbegriff all der komischen Eigenschaften, die in den Augen der damaligen Aristokraten oder aristokratisch denkenden Dichter einfachen Leuten anhaften, wenn sie mit Höherstehenden zusammentreffen« (Eckhardt: Die lustige Person im älteren englischen Drama, S. 22-24). Interessanterweise wird bei Arnim nicht etwa der Bauernsohn, sondern die Adelsschicht lächerlich gemacht, wie noch zu zeigen sein wird. Der Name »Posset« tritt bei Arnim - leicht verändert - lediglich im Untertitel des Stückes (»Posse«) auf. Hierin könnte ein Beispiel für Arnims spielerischen und assoziativen Umgang mit der Vorlage gesehen werden. Ayrer: Opus Theatricum, S. 105, Sp. 4.
Von einem der auszog, das Dienen zu lernen
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2. Jann 's erster Dienst - die Personenkonstellation >Herr-Diener< Als Grundlage der weiteren Abhandlung soll nun ein längerer Ausschnitt aus Arnims Posse zitiert werden. Es handelt sich dabei um eine Szene, die zwar in Ayrers Stück auch vorhanden ist, in Arnims Adaption jedoch an einer wesentlich zentraleren Stelle steht: Als die schriftliche Fixierung des Dienstverhältnisses zwischen Jann und Herrn von Emmerich abgeschlossen ist, kommt es zu folgender Szene: [...] ([Emmerich] steht hastig auf, der Stock gleitet ihm aus, er fallt.) Jannchen, heb mich auf, schnell, ich kann nicht allein aufstehen. Jann. Herr, lest mir erst aus meiner Obstruktion vor, ob ich dazu angenommen bin, ich hab sie recht gut behalten, ich soll euch aufmerksam begleiten, wohin ihr geht. Nun ja, ich begleite euch, ich bin aufmerksam, ihr habt euer Wort gegeben, daß ich eher weniger, als mehr zu thun haben sollte; wollt ihr nicht von selbst aufstehen, ich lasse euch liegen. Emmerich. Schlingel, reich mir wenigstens den Stock, er ist mir aus der Hand geflogen. Jann. Davon steht nichts in meinem Papiere, und wenn ich in einem nachgebe, da bin ich verloren, das hab ich vom Vater gelernt, wenn er mit euch Streit hatte. Emmerich. Reich mir nur einen Finger, um mir aufzuhelfen. (Vor sich) Ich wollte ihm kein gutes Wort geben, wäre nur jemand zu errufen. Jann. Wenn ich euch einen Finger reiche, so nehmt ihr die ganze Hand, dennoch mag es darum gewagt seyn, aber weil ich nun so viel thue, was ich nicht nöthig habe, so lasst es auch einmal gut seyn, wenn ich viel vergesse, was ich thun sollte. (Er hebt ihn auf). 15
Die zitierte Szene bildet eine zentrale Stelle der Posse. Der adlige Herr liegt vor seinem Diener auf dem Boden und bittet ihn um Hilfe. Statt dieser Bitte gleich nachzukommen, verweist Jann auf den schriftlich fixierten Vertrag, der seine Rechte und Pflichten seinem Herrn gegenüber genau festlegt und verweigert ihm zunächst jegliche Hilfe. Diese Szene zieht ihr Konfliktpotential aus dem Vorhandensein eines Vertrages. Die Personenkonstellation >Herr-Diener< respektive >Adliger-Bauernsohn< steht hier, wie zu zeigen sein wird, fur das Verhältnis zwischen der politischen Führungsschicht und den politisch Geführten, für den Kontrast zwischen Besitz und Mittellosigkeit, zwischen Rechten und Pflichten. Im folgenden sollen anhand der zitierten Textstelle und weiteren Beispielen aus Arnims Posse drei Themenkomplexe diskutiert werden: 1. Handelt es sich bei Arnims Jann 's erster Dienst um eine Posse ohne »jegliche[...] thematischef...] Wichtigkeit« und »ohne philosophischen Gehalt«,16 ist das Stück also wirklich so oberflächlich, so daß es bisher in der Forschung weitestgehend vernachlässigt wurde?17 15 16 17
Arnim: Schaubühne, S. 10. Ehrlich: Ludwig Achim von Arnim als Dramatiker, S. 204. Jann's erster Dienst wird lediglich von Bottermann: Die Beziehungen des Dramatikers Achim von Arnim zur altdeutschen Literatur (1895) und von Ehrlich: Arnim als Dramatiker (1970) analysiert. Während Bottermann oft über das deskriptive Moment nicht hinausgeht, bietet Ehrlich eine sowohl ausfuhrliche wie auch kritische Analyse der Posse. Ehrlich hält die von Arnim hinzugefugten Episoden insofern fur gelungen, als sie dem Stück den Anstrich von volkstümlicher Natürlichkeit angedeihen zu lassen (vgl. Ehrlich: Arnim als Dramatiker, S. 206).
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2. Ist es möglich, gesellschaftspolitische Aspekte wie etwa die Etablierung einer sozialen Identität in Jann 's erster Dienst nachzuweisen und wenn ja, wie verträgt sich dies mit der Gattung Posse? 3. Kann der von Herrn von Emmerich und Jann ausgehandelte Vertrag als ein Sozialvertrag, etwa im Sinne von John Locke interpretiert werden? Natürlich muß im Bezug auf Frage 1 bemerkt werden, daß sich in Jann 's erster Dienst zahlreiche Merkmale für die Gattung Posse finden, so etwa vordergründige Charakter- und Situationskomik, der Verzicht auf Belehrung oder das Prinzip des Wörtlich-Nehmens einer Aussage. Schnell entsteht dadurch der Eindruck von thematischer und stofflicher Oberflächlichkeit. Die komödienhafte Gattung wählt Arnim insofern bewußt, als sie 1813 seiner Intention entspricht, den ernsten Zeiten mit »erheiternden kleinen Stücken« 18 gegenübertreten zu wollen. Dennoch kann in der Posse eine dialektische Verknüpfung von Vernunft und Unvernunft, Ernst und Unernst nachgewiesen werden. Den >ernsteren< Themenkomplexen, die u. a. Aspekte wie die Etablierung einer eigenen Identität bei der Figur Jann und gleichzeitig deren soziale Begrenzung aufgreifen, soll deshalb anhand der zweiten Fragestellung nachgegangen werden. Kann die dritte Frage, ob sich moderne Vertragstheorien auf Arnims Posse beziehen lassen, positiv beantwortet werden, ergeben sich daraus Konsequenzen, die zu einer partiellen Revision in der Beurteilung des Stückes als gehaltlos fuhren und einen gewissen Aufschluß über Arnims staatstheoretisches Denken zulassen. Es könnte auch der Grund dafür gefunden werden, warum Arnim aus dem Opus Theatricum von Ayrer, einem dramatischen Werk, das sich in der Druckausgabe von 1618 aus über 66 kleinen Stücken und Fastnachtsspielen zusammensetzt, gerade dieses auswählte und der von ihm in den Anmerkungen betont hervorgehobenen freien Bearbeitung unterzog. Die zitierte Szene wie auch das gesamte Verhältnis zwischen Herr und Diener werden in Arnims Adaption des Ayrerschen Textes wesentlich stärker ausgespielt und gewinnen dadurch, wie zu zeigen sein wird, an sozialkritischer Relevanz.
3. John Lockes Vertragstheorie Der methodische Rückgriff auf John Locke, der mit seiner politischen Theorie zur Entwicklung der Grundprinzipien der liberalen repräsentativen Demokratie Wesentliches beitrug, als den ersten im Ansatz liberal denkenden Vertragstheoretiker scheint insofern gerechtfertigt, als Lockes politische Theorie Grundprinzipien aufstellt, die für die Struktur einer funktionierenden Gesellschaft geltend gemacht werden können. Die Darstellung von Grundprinzipien und -problemen der Gesellschaft finden sich auch in der Posse Jann 's erster Dienst. Arnim hat sich darüber hinaus in seiner Schülerzeit mit Locke nachweislich auseinandergesetzt. In einer auf lateinisch abgefaßten Schülerarbeit mit dem Titel Quam librorum copiam in bibliotheca studiosis literarum bonarum aperta reperi18
Arnim: Schaubühne, S. 307.
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undam quisque desideraret, quid contra conservationi usuique ejus deberi putet19 wird Locke mit zahlreichen anderen Philosophen als einer der >lesenswerten* Autoren der Literatur- bzw. Philosophiegeschichte genannt. Auch Friedrich Raumers Berichte über seine Locke-Lektüre in Briefen an Arnim aus den Jahren 1797 und 1798 zeigen, 20 daß Locke für Arnim kein Unbekannter war. Trotz allem kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden, ob Arnim Lockes Konzept der Vertragstheorie gekannt hat - in seinen schriftlichen Äußerungen findet sich kein genauerer Aufschluß, welche bzw. welches von Lockes Werken von ihm gelesen wurde. Deshalb kann man auch nicht von einer direkten Abhängigkeit Arnims von Locke ausgehen. Statt dessen soll Lockes Theorie im folgenden als Beispiel für eine Denktradition gelten, die als Kontext für das Verständnis von Arnims Posse von Vorteil sein kann. Lockes Vertragstheorie findet sich in den Two Treatises of Government dargelegt, die 1689 publiziert wurden. Die erste Abhandlung ist eine Polemik gegen Sir Robert Filmers Patriarchaltheorie, wonach die königliche Gewalt so zu verstehen wäre wie die Gewalt eines Patriarchen über seine Familie und sein Land. Menschen, so widersprach Locke, sind nicht in derselben Weise Eigentum wie ein Gegenstand. Soweit väterliche Gewalt über die Kinder besteht, ist sie zeitlich beschränkt, denn jeder Mensch muß einmal mündig werden. 21 Freiheit, Mündigkeit und Selbsterhaltung werden so zu Lockes zentralen Begriffen, die auch nach der Etablierung einer politischen Ordnung den Bürgern eines Staates zugestanden werden müssen. Wie andere Vertragstheoretiker vor und nach ihm22 geht Locke vom Naturzustand des Menschen aus, in dem die Menschen frei und gleich sind und von der Natur mit ungefähr gleichen Fähigkeiten ausgestattet worden sind. Die Gesellschaftsordnung des Naturzustandes gerät nach Einfuhrung des Geldes und dem dadurch einsetzenden Kampf um vermehrten Kapital- und Landbesitz ins Wanken. 23 Durch die Errichtung einer Staatsgewalt, die Ruhe und Sicherheit zu garantieren vermag, also durch Abschließen eines Gesellschaftsvertrags, stabilisiert sich die bürgerliche Gesellschaft. Für Locke ergibt sich, daß der Vertrag die Vergesellschaftung als solche nicht erst begründen muß. Ferner besteht nicht die Notwendigkeit, sich einem Herrscher bedingungslos zu unterwerfen, wenn dieser sich nicht an die ihm auferlegten Pflichten hält.
" Übersetzt lautet das Thema: Welchen Bestand an Büchern ein jeder in einer Bibliothek, die für Studierende der schönen Literatur offen ist, zu finden wünschen würde, was er hingegen zu ihrer Erhaltung und Nutzung wohl für erforderlich hält. (Handschrift im Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar. Signatur: 03/291.) Für die Möglichkeit zur Einsicht in das sich im Druck befindliche Manuskript fur Band 1 der Weimarer Arnim-Ausgabe (Schriften der Schüler- und Studentenzeit) bedanke ich mich bei Sheila Dickson, fur die Übersetzung bei Manfred Simon. 20 Vgl. Arnim: Briefwechsel I (1788-1801) - Werke und Briefwechsel (WAA), Bd. 30, S. 59, 69. 21 Locke: Two Treatises of Government, S. 303-318, § 52-76. 22 Vgl. Euchner: John Locke, S. 17. Einen Überblick gibt Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. 23 Vgl. Locke: Two Treatises of Government, S. 292-293, §36.
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Das Abschließen des Gesellschafts- und Herrschaftsvertrages wiederum führt dazu, daß die wichtigsten Rechte der Bürger, die im Naturzustand gegolten haben, keine Bedeutung mehr haben: 1. Die Wahrnehmung des Rechts auf Selbsterhaltung nach eigenem Gutdünken und das Recht auf eigenhändige Bestrafung von Rechtsbrechern gemäß eigenem Richterspruch. 24 2. Das Selbsterhaltungsrecht wird durch die von der Gesellschaft bzw. deren Repräsentanten erlassenen Gesetze geschützt, die Strafbefugnis durch die Exekutivgewalt der Gesellschaft ersetzt. Bei Locke besteht zwischen der Gesellschaft und den von ihr eingesetzten Regierungsinstanzen ein nicht genauer definiertes Vertrauensverhältnis. Dieses Verhältnis ist jedoch nicht statisch, sondern kann durchaus Auswirkungen haben. Wird es von der Obrigkeit verletzt, sind die Bürger dazu berechtigt, ihre Gehorsamspflicht aufzukündigen. 25
4. Lockes Vertragstheorie in bezug auf Arnims Posse Um Arnims Posse nun in Beziehung zu Lockes Vertragstheorie zu stellen, muß zunächst Klarheit darüber gewonnen werden, um welche Form von Vertrag es sich in Arnims Posse handelt. Wie wir gesehen haben, gliedern sich die Elemente der Sozialvertragstheorie in drei Stufen: 1. Zunächst wird der Naturzustand der Menschen angenommen. 2. Durch eine Krise entwickelt sich der Abschluß eines von Locke fiktiv verstandenen Gesellschaftsvertrags. 3. Die so zustande gekommene Gesellschaft als Kollektiv schließt mit den künftigen Inhabern der politischen Gewalt einen Herrschaftsvertrag ab, in dem die Prinzipien der Machtausübung festgelegt werden. Der in Jann 's erster Dienst dargestellte Vertrag beruht auf schriftlicher Fixierung. Er ist nicht, wie die Vereinbarung des Gesellschaftsvertrages bei Locke, eine Entwicklung, die sich in einer Gesellschaft mehr oder weniger unbewußt verwirklicht. Bei Arnim handelt es sich um die Darstellung der dritten Stufe, den Vollzug eines Herrschaftsvertrags. Die soziale Hierarchie ist bereits durch den Adelstitel von Emmerich und die bäuerliche Herkunft Janns festgelegt und von beiden Parteien anerkannt - jedenfalls scheint es sich auf den ersten Blick so zu verhalten. Die Darstellung des Vertragsabschlusses und der damit verbundenen Folgen stellt jedoch eine Persiflage einer sonst ernst zu nehmenden sozialen Grundsituation dar. Der Vertragsabschluß, der mit zahlreichen Mißverständnissen verbunden ist, nimmt ein Drittel der gesamten Posse ein. Quantitativ gesehen kommt ihm also ein hoher Stellenwert im Stück zu. Der Vertrag beinhaltet jedoch keine auf Vernunft ausgerichteten Richtlinien. Er umfaßt ein Sammelsurium der unterschiedlichsten Tätigkeiten, das durch die mit Kontrasten spielende Aneinanderreihung absurd wirkt. So heißt es im Vertrag: 24 25
Vgl. Euchner: Locke zur Einfuhrung, S. 84. Vgl. Euchner: Naturrecht und Politik bei John Locke, S. 214.
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Emmerich (liest) Da nun der Müßiggang aller Laster Anfang ist, so soll er [Jann] in Nebenstunden der Köchin helfen, Boten laufen, Holz hauen, Mist laden, die gnädige Frau frisiren, Sonntags in der Kirche die Balgen treten und [dem] Schwager Brandeis die spanischen Fliegen auflegen, Butterbrodt schmieren und Stiefel wichsen, wird eine Magd krank, im Nothfall die Kühe melken, und den Bratenwender drehen; wird gebauet, den Mauern [sie] zur Hand gehen und der Gesellschaft bei Tische aufwarten; die Kirschbäume bei Tage und das Haus in der Nacht bewachen; Wurst machen und das Kind [des] Sohnes abhalten, Spitzen knöppeln und dreschen.26
Weder Emmerich noch Jann halten sich jedoch an den Vertrag: Emmerich bittet Jann, ihm beim Aufstehen zu helfen, obwohl diese Aufgabe nicht im Vertrag fixiert wurde. Damit verletzt er Janns Recht auf persönliche Freiheit, die diesem jenseits des Vertrags zusteht. Jann wiederum vergeht sich an fremdem Eigentum, indem er die Birnen ißt. Er verletzt dadurch in gleicher Weise Emmerichs Freiheit, die auf seinem Recht auf Aneignung von Eigentum zur Selbsterhaltung basiert.
5. Die Etablierung einer sozialen Identität Kommen wir nun eingehender auf die zentrale Aussage des Sozialvertrags im Sinne von Locke zu sprechen, um weitere Bezugs- bzw. Kontrastpunkte zu Arnims Posse aufweisen zu können. Locke verfolgte hauptsächlich die Absicht, die politische Herrschaft zu legitimieren und rational zu begründen. Die Wurzel der Sozialvertragstheorie des 17. Jahrhunderts ist dabei in der zunehmenden Relevanz von Rechtsgeschäften im erstarkenden Bürgertum zu sehen. 27 Locke setzt dabei gleichberechtigte Vertragspartner voraus. Eine weitere Bedingung, um vertragsberechtigt zu sein, ist der Besitz von Eigentum, d. h. von Land. Diese Aspekte erfüllt die Personenkonstellation >Herr-Diener< in Jann 's erster Dienst nicht. Jann und Emmerich unterscheiden sich grundlegend hinsichtlich Erziehung, Bildung und Benehmen. Sie treten sich also nicht als gleichberechtigte Vertragspartner gegenüber. Ferner gehört Jann nicht zur landbesitzenden Bevölkerungsschicht. Sein Vater hat zwar fast ebensoviel Geld wie von Emmerich, aber der väterliche Geiz ist so groß, daß Jann bei ihm wie ein Knecht arbeiten mußte. Als er das Elternhaus verläßt, fuhrt er nur, ganz dem Märchen-Topos entsprechend, ein »Bündelchen an einer langen Stange« 28 mit sich. Als »Zehrpfennig« 29 erhält er vom Vater eine Tracht Prügel. Bereits durch diese mißlichen Voraussetzungen und sozialen Bedingungen erweist sich das bei Arnim dargestellte System innerhalb der Personenkonstellation >Herr-Diener< als gestört und konfliktträchtig. Ungeachtet dieser Diskrepanzen sind die Lockeschen Zentraltermini Freiheit, Mündigkeit und das Recht auf Selbsterhaltung auch zentrale Aspekte in Arnims
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Arnim: Schaubühne, S. 9. Vgl. Euchner: Locke zur Einfuhrung, S. 80. Arnim: Schaubühne, S. 2. Ebenda, S. 3.
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Posse. Janns Handeln ist auf Selbsterhaltung und -behauptung, auf die Etablierung einer eigenen sozialen Identität gegenüber der Vätergeneration ausgelegt. Zu den Personen, die ihn in seinen Rechten einschränken, gehören sein Vater Erdwurm und Herr von Emmerich. Wie vollzieht sich nun der Konflikt zwischen diesen Personen und Janns Streben nach Selbsterhaltung, betrachtet man ihn vor der Folie der Gesellschaftstheorie Lockes? Jann tritt durch seinen Dienst bei Emmerich aus dem Zustand der Unmündigkeit heraus, er verläßt das patriarchalisch geführte Elternhaus und macht seine ersten Erfahrungen im außerfamiliären, im gesellschaftlichen Bereich. Dies entspricht der Lockeschen Position, daß Kinder von den Eltern nicht als Eigentum angesehen werden dürfen und nach Erreichen der Volljährigkeit ein Recht auf persönliche Freiheit besitzen. Gemäß den Gesetzmäßigkeiten der Gattung Posse wird dieser Aspekt jedoch parodiert: Jann ist bereits dreißig Jahre alt, als er seinen Eltern den Rücken kehrt. Darüber hinaus kommt er am Ende wieder zu seinen Eltern zurück, obwohl er ihnen geschworen hatte, daß sie ihn nie mehr Wiedersehen würden. 30 Im Zuge der Etablierung seiner sozialen Identität verlobt sich Jann außerdem mit Grethe. So wird aus dem dreißigjährigen >MuttersöhnchenBrand/Eis< offenbart sich bereits der widersprüchliche
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als Repräsentant des einfachen Volkes, gibt sich in Auseinandersetzung mit den beiden Adligen nicht geschlagen. Zudem überwindet er am Ende als erster den Anfall von Traurigkeit, wendet sich an die Zuschauer und singt: »Dieses war mein erstes Probestück, / Morgen suche ich ein andres Glück.« 39 Eine moralische Tendenz wird so zugunsten einer heiteren Liedeinlage vermieden. Der Ausblick, daß sich Jann am nächsten Tag ein andres Glück suchen wird, verweist darauf, daß er es weiterhin so treiben wird wie bisher. Zum Schluß soll noch einmal auf die drei Fragestellungen zu Beginn zurückgekommen werden. Aus den vorangegangenen Ausführungen wird ersichtlich geworden sein, daß Arnims Jann 's erster Dienst durchaus ein Potential aufweist, das auf der einen Seite über die bloße Diktion einer Posse hinausweist. Auf der anderen Seite wird die Darstellung ernster Sachverhalte immer wieder persifliert. Anhand des Versuchs einer Applikation von Lockes Vertragstheorie auf Jann 's erster Dienst konnten indes gesellschaftspolitische Intentionen in Arnims Posse aufgedeckt werden. Vor diesem Hintergrund kann die Arnimsche Posse keineswegs als bloß oberflächlich gelten. Sie ist Ausdruck von Arnims Beschäftigung mit gesellschaftlichen Problemen und dem Verhältnis des einzelnen zum Staat. 40 Dieses Interesse belegen u. a. die Aufzeichnungen in seinen Taschenbüchern. Bei seinen Versuchen, einen Beitrag zur Reform der Gesellschaftsstruktur zu liefern, erweist sich Arnim nicht zuletzt als ein >Kind seiner ZeitIntimität< gehört; was in selbstreflexiven und realitätsanalytischen Diskursen und Entwürfen sprachlich nicht zur Objektivierung gelangt, bleibt sakrosankt. Die Bereiche sind nicht nur selbstentzogen, sondern auch für andere weithin unzugänglich. >Der Andere< bleibt seiner Umgebung und Lebenswelt, um wieviel mehr als historische Person, die kein Gegenstand unmittelbarer Erfahrung sein kann, verschlossen. Gegeben sind >die Texte< als Dokumente der Artikulation und Versprachlichung. Sie sind das versuchte Einholen der entzogenen Bereiche mittels Selbstreflexion und Sprachentwürfen. Dies geschieht in den Bahnen der zeitüblichen, der zeitmöglichen Diskurse. Auch Texte der Mitlebenden zählen dazu, der Freunde und nahen Zeitgenossen. So ist die Mikroebene der Texte mit ihren ideellen, gedanklich-motivischen und ideologischen Signalen vorzüglich das Medium, in denen sich lebensgeschichtliche Identität konstituiert. 1 Für den Literaturhistoriker ist dies Medium (samt allen autorfremden Texten und Kontexten, die auf die autoreigenen Texte direkt oder indi-
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rekt Bezug haben) allein der Gegenstand; er folgt den Verführungen der Texte. Die moralisch-religiöse Identitätsfrage, die nach Selbstübereinstimmung und Authentizität, ist indiskret und interessiert nicht weiter; sie ist irrelevant angesichts der Diskursobjektivationen der Texte. >Mit sich selbst identisch zu seinVerlust der Identität hat mit Kontextverlusten zu tun, und die Identitätsfrage selbst ist der stärkste Hinweis auf die Selbstentzogenheit und Außenbestimmtheit menschlicher Subjekte. Identitäten entstehen ursprünglich weniger durch Akte der Selbstbestimmung als durch Abhängigkeitsfelder. »Warum kann ich nicht leichtsinnig seyn wie andre, der entsetzliche Ballast von Charackter, Folge, Bestimmtheit drücken das arme Schiff zu Grunde, doch ich trete dreyfach fester, wilder und stolzer auf, weil mir schwindelt, bis ich in deine Arme falle und wir nur einander stützen wie zwey Dachsparren und wir haben keine Sparren zuviel.« 3 Und Brentano über den Freund: »Wird Dich nicht der Staat und der Stand gefangen nehmen? werden Dich nicht die todten Finger Deiner Ahnen festhalten?« 4 Einige Motive und Gesichtspunkte, prägende Gegebenheiten, Ideen und Instanzen sollen betrachtet werden, die das Persönlichkeitsbild, Arnims Identität, als einen Schnittpunkt wirksamer Ideen, elementarer Haltungen, prägender Diskursformationen, bestimmender Faktoren und gleitender Formulierungsversuche greifbarer werden lassen. Die Einsicht, daß dichterische Texte vermittelte Identitätsaussagen darstellen, wird in solchem Kontext Voraussetzung jeder analytischen Fragestellung sein. Die poetischen Texte in den Mittelpunkt zu stellen, dazu ist es zu früh; zunächst sind aufschlußreicher die direkten Formulierungen in den selbstreflexiven, autobiographischen, theoretischen und wirklichkeitsbeschreibenden Texten, weil sie sich einfacher in ein plausibles Bezugssystem übertragen lassen und der traditionellen Biographie näher stehen. Auf die sich während des 18. Jahrhunderts entwickelnde. Legitimationskrise des Adels einzugehen, muß ich verzichten. Arnims Roman Die Gräfin Dolores (1810) ist seine bedeutendste Antwort darauf. Radikale preußische (parallel dazu außerpreußische) Reformen in den Jahren 1807 bis 1814 führten zu Änderungen in der Gesellschaftsstruktur und Adelsstellung, die Arnim in der Berufsfrage unmittelbar betrafen. Arnim reagierte nicht vergangenheitsfixiert, er entwickelte eine politisch und poetologisch gleichermaßen gültige Theorie über das Verhältnis des Alten und Neuen, sieht »das ruhige Anschließen an das Vergangene, um zur Zu-
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Streller: Drama, S. 110. Arnim und Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 2, S. 456. Steig/Grimm (Hrsg.): Arnim und die ihm nahe standen, Bd.l, S. 42.
»Was war ich? was bin ich? was werde ich?«
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kunft zu gelangen« 5 als Leitfigur, fugt sich dem Notwendigen und anerkennt das Recht des Zukünftigen: Zu Hardenbergs Reformen: »Niemand denke, daß diese neuere Gesetzgebung ein vorübergehender Schein sey, wir können nicht mehr zurück, das fühle ich deutlich überall, sey es der Untergang oder ein besseres Leben unsres Staats, diese Hoffnungen und Versprechungen dem Bauernstand gegeben verbreiten sich schon weiter, fast über ganz Sachsen und wenn ich heute an Hardenbergs Stelle träte, müste ich trotz allem Aerger, daß ein Apfel vom Baum der Versuchung gebrochen, jetzt doch die ganze Ernte machen, um die Kerne zu säen.« 6 Eine Gefahr, daß die toten Finger der Ahnen ihn umklammerten, lag vor den Reformjahren in den beschränkten Berufsmöglichkeiten für einen jungen Adligen, der traditionell zum Verwalter seiner Güter, zum Militär oder zum Hofdienst, Regierungsdienst und diplomatischen Dienst, bestimmt schien. Die Gutsverhältnisse Arnims blieben lange ungeklärt, das Militär stieß ihn ab wegen der »gemeinen Menschenschlächterei«. 7 Es diente trotzdem topisch als der Tat-Pol, in Briefen und in der Erzählung Juvenis: »Statt des Buches hätte ich das Schwerdt nehmen sollen, jetzt ist es doch eigentlich zu spät, die Gewohnheit hat mich mit Millionen unsichtbarer Fäden so fest angezogen, daß ich mich nicht mit völliger Freiheit je davon trennen könnte; mitten in der Schlacht würde ich bedauern, daß ich sie nicht dargestellt lesen oder sehen könnte.« 8 Das Erkenntnismotiv, jenes Bewußtsein, im Zuschauen und Schreiben auf der anderen Seite zu stehen, nicht das Leben, sondern das Märtyrer- und Prometheus-Los des Schriftstellers gewählt zu haben, prägt lebenslang derartige Reflexionen. Zu handeln, anstatt zu schreiben, bleibt aber lange eine Versuchung für ihn; dies mündet in die Wiepersdorfer Doppelexistenz. Auch für den Staatsdienst interessierte Arnim sich im Umgang mit Wilhelm von Humboldt: »sobald ich hier in diese unseligen Mauern [Berlins] komme, ergreift mich eine Lust zum Einrichten des Staats, die sich auf alle Art anbaut und sich an jede Möglichkeit schwalbenartig anhängt« 9 (15.1.09). Das schwalbenartige Anbauens erscheint in den Majorats-Herren als irdisches Integrationssymbol, der spirituellen und künstlerischen Transzendenz entgegengesetzt. Stärker als die traditionellen Berufsorientierungen wirkte der innere Zwang, für das Gemeinwohl, für das Allgemeine tätig zu sein. Darüber später mehr. Das Erkennntnismotiv siegte, Arnim, obwohl im Fach Jurisprudenz eingeschrieben, verschrieb sich der modernen Naturwissenschaft und entschied sich dann, der Philosophie gegenüber skeptisch gestimmt, für die Literatur. Hollin 's Liebeleben war es, »wo ich zuerst [...] meine Furchtsamkeit überw[a]nd eine ideelle Aussicht darzustellen, die von Jugend auf mein Gemüth beschäftigt haben in so einer seligen
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Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 202. Arnim: Briefe an Savigny, S. 142. Brief vom 18. November 1816. Bettine und Achim von Arnim: Briefe der Freundschaft und der Liebe, Bd. 2, S. 211. An Bettine, 12. Juli 1809. Ebenda, S. 144. An Bettine, 10. März 1809; Steig/Grimm (Hrsg.): Arnim und die ihm nahe standen, Bd. 2, S. 268. Bettine und Achim von Arnim: Briefe der Freundschaft und der Liebe, Bd. 2, S. 112. An Bettine, 15. Jan. 1809.
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Unbestimmtheit, während ich mich überzeugt glaubte: Kein Heil ausser der Wissenschaft!« 10 1802 sagte ihm Winkelmann: »Du bist ernst? O mein Freund du scheinst mir ein neuer Herkules am Scheidewege - hier die Heiterkeit mit der Poesie und dort der Ernst mit der Politick. Kannst Du wählen? Bleibe heiter.« Die Literatur, so mag man sagen, ist Politik und Staatslehre des Möglichen und Philosophie des Lebendigen und Konkreten. Das Publikum die zu bildende Gesellschaft, das Volk nach naturpoetischer Auffassung Raum der Literatur, der Publizist ein Reformer und Kommunikator. Mit Görres, Brentano, den Grimms und Savigny fand Arnim herausragende Gefährten, in Reichardt und Goethe Förderer. Die Rolle Reichardts, der indirekt, über Arnims Vater, den zeitweiligen Generalintendanten des Schauspiels und der Oper in Berlin, mit Arnim in Kontakt kam, bei der Knüpfung des Netzes der Bekanntschaften und Freundschaften ist kaum zu überschätzen. Ohne Reichardt wohl kein Aufenthalt in Königsberg, jedenfalls kein Hallenser Dichterparadies mit dem vielseitigen Bezugsnetz. Der junge Adlige fand auf der europäischen Reise (Madame de Staël, Frau von Krüdener in der Schweiz, Fr. Schlegel, Napoleon in Paris, Kontakte in London) und in der Berliner Gesellschaft leichter Zugang zu bedeutenden Zirkeln und Persönlichkeiten als jeder Bürgerliche. Der Rahmen einer Legitimationskrise des Adels wandelte sich zum Problem der Legitimierung einer universell und öffentlich ausgelegten Kunst. Im Gesamtwerk überraschen der politische und geschichtliche Gehalt, das Öffentliche und Kosmische, die allegorisch gespiegelten universalen Problemstellungen und Lösungen. Dies trotz der Modernität in Sprachauffassung und Poetik, die man als symbolistisch, medial, traumhaft und antikonventionell kennzeichnen kann. Die Kunst implizierte für ihn ein Welterneuerungsprogramm, das neue Schöpfung wahrlich nicht herstellt, aber versunkene und verschüttete Potentiale wieder wirksam werden läßt, »Der Schöpfung ewges Werde« fortsetzt." Ob dies in eigener Dichtung oder an vorhandenen Traditionen geschieht, gilt gleichviel. Während Tieck die volkstümlichen Stoffe für die höheren Stände künstlerisch aufbereiten wollte, Schleiermacher die Religion der armen Leute den Gebildeten unter ihren Verächtern erschloß, ist Arnim vom umgekehrten Weg überzeugt: die alte Sprache, ihre Lebendigkeit, Kraft und Sicherheit jenseits des subjektiven, empfindsamen Elendwesens und rhetorischen Leerlaufs, sollte den kränkelnden Zeitgeschmack reformieren. Die vorhandenen, aber vergessenen Traditionen aus dem 16. Jahrhundert, dem Barock und Mittelalter, auch Satire und Scherz, das Kirchenlied, die volksnahen, d. h. ehemals kollektiv und breit wirksamen Texte, Dramen, Lieder, sogenannte Volksbücher und Epenstoffe, Legenden und Mystisches, Religiöses von Tauler und anderen, alles was Wahrheit und Echtheit der Überzeugung, des Glaubens, der Lebenskräftigkeit atmet, sollte neues Leben in die von Konvention und Verfeinerung abstrakte, scheinlebende Gesellschaft pumpen. Dies sei die wahre Antwort auf die Herausforderung der großen Revolution. Ein Irrtum war es wohl, daß Arnim auch seiner traumhaft symbolistischen, vom Geister- wie
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Arnim und Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 69. Grammatisch unausgeglichener Satz. Arnim: Halle und Jerusalem - Kluckhohn (Hrsg.): Dramen von Clemens Brentano und Ludwig Achim von Arnim, S. 298.
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Lebensglauben inspirierten Dichtung, fur die seine Zeit nicht reif war, diese Erneuerungskraft unmittelbar zutraute. die Worte bedeuten mir etwas andres als den meisten, ich spreche ihre Sprache wie sie und sie verstehen mich nicht, die Worte leben mir frisch und flammend, die jenen abstarben, keine Silbe ist mir zum leeren Mechanismus geworden, jede baut und bildet in mir und es quällen Gestalten daraus hervor [...] ich möchte sagen daß jedes Wort mir zur That wird und wenige haben daher so viel Thaten erkämpft als ich ohne daß ich etwas that. [...] ich sprach auch oft meine innerste Meinung aus, aber die Leute verstanden immer etwas andres dabey oder eigentlich gar nichts und blieben bey dem Ihren stehen. Dann geben sie solche Worte[,] woran sich ein ungeheures Gewicht von allerley nichts würdigen Dingen hängtf,] wie Jean Paul [,..]«.12 Für Arnims Bewußtsein ist dies besondere Sprachverhältnis auch Ausdruck einer Differenz zwischen der poetischen Imagination, dem Innenreich der Ideen und Gedanken, und dem Verlust bei der sprachlichen Formulierung, so sehr letztere sich dem Diktat der inneren Hellsicht und nicht der rhetorischen Willkür verdankt. »Lieder die besten verträum' ich, die bessern zerreiben im Bleistift, / Wozu nützet der Rest, der sich der Feder gefugt.« 1 3 Vor allem undisziplinierbar chaotisch erscheint dem Autor das Feld der Imaginationen und inneren Erfahrungen. So ist das entfliehende Ich, die Unfestigkeit des allbeweglichen Imaginationsraums, dessen fester Kern kaum j e zu fassen ist, eine Grunderfahrung des frühen Arnim. Sie bezieht sich auf die Dichterexistenz, kommt in Poesiesymbolen und kunstthematischen Reflexionen zur Sprache. Ich habe oft so recht fest und tief in einen Wassersturz geblickt, und ich glaubte mich zu begreifen; ich weiß wahrlich nichts von mir, ob ich Wasser oder Dunst oder Eis oder ein Stück des glühenden Regenbogens bin, aber ich glaube, daß ich wechselnd eins nach dem andern werde [...] in jedem erkenne ich mich, ich muß endlich verzweiflungsvoll daran zweifeln, mich selbst zu finden; ich muß mich darin ergeben, daß ich nicht mehr lebe, daß ich wie ein Traum über die Menschen hinlaufe, worin die Gegenwart mit ihrer zweiten Natur erscheint [...] wer in der Welt kann einen Traum fest machen [...] ich habe einmal solchen Kern gekannt, aber ich weiß nicht, ob er gewachsen ist zum Baume, ob er schattet und blüht. Die Zeit ist verlaufen und manche Wolke verregnet.14 Die ihm früher lächerliche »ewige Predigt«, woran einer seiner Lehrer »arbeitete: Was war ich? Was bin ich? Was werde ich?« berührte ihn schon 1802 ernster. »Ja wer das beantworten kann der muß sich in der Welt sehen lassen, es muß sich die
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GSA 03/226, 8 - frühere Zählung. Druck: Streller, Drama, S. 1 lOf. - Vgl. Ariel's Offenbarungen, S. 148. Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 497. Steig/Grimm (Hrsg.): Arnim und die ihm nahe standen, Bd. 2, S. 3 u. Arnim und Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 27. Der >glühende Regenbogem ist Poesiesymbol. - In der äußeren Biographie ist das Motiv im Besuch des Rheinfalls von Schaffhausen verankert. Vgl. das Lied des Herzogs in Ariel's Offenbarungen (S. 76-78). Der Blick (von Zweifel und »tiefen Trübsinn« getrieben, »sie ging fast bewußtlos«) »in die Strudel des schäumenden Wasserfalls, als rolle sich ihre Geschichte da ab, und sie hoffte bald das Ende der Rolle zu sehen«, begegnet auch 1812/13 in der »Päpstin Johanna« (Arnim: Sämmtliche Werke, Bd. 19, S. 433).
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Menschheit an ihn wie an ihren Kernkristall [sonst bei Arnim ein Bild für den Kunstprozeß] anlegen, jede Fluth und jede Ebbe muß aufhören.« 15 Die Flüchtigkeit des Ich, darin im Hintergrund sowohl der ästhetische Moment wie der geschichtliche Wandel in seiner Entzogenheit, scheinen als existentielle Bedrohung empfunden. Eine prinzipiellere Akzentuierung des Identitätsthemas ist kaum denkbar: Wer die Frage nach dem Kern lösen könnte, müßte als Wunderwesen in der Welt angestaunt werden, die Menschheit müßte sich nach ihm richten, sich an ihn klammern. Vorausblickend wird hier bereits verständlich, wie eng die Identitätsfrage bei Arnim mit dem Konzept der Naturpoesie, der natura naturans, und mit dem Thema der Ausbildung des höheren, geistigen Menschen, universalgeschichtlich mit der geistigen Erlösung und progressiven Poetisierung, aber auch mit dem Thema des Sicheren in der Welt verknüpft ist. »Es gibt eine Tiefe, wo wir standen, eine Höhe, wohin wir streben, die sich gegenseitig ewig fliehen und nie auf einander stürzen.« 16 Die Formulierung erinnert an Schellings Satz im Schlußteil des SystemfsJ des transzendentalen Idealismus (1800) von der Odyssee des Geistes durch die Natur, »der wunderbar getäuscht, sich selber suchend, sich selber flieht«, was sich in der >geheimen, wunderbaren Schrift< der Natur verschlossen kundtut. 17 Wie in der A>one«wäc/?ter-Einleitung, so reflektierte Arnim bereits 1803 die mögliche Folgenlosigkeit poetischer Ideenproduktion in der Welt, fand damals bereits die Hypothese von der Ewigkeit der Gedankenwelt: »meine besten Gedanken, wenn ich sie nicht gleich aufschreibe, sind mir nach einer Runde im Strudel des Lebens völlig vergessen. Wohin sind sie gegangen? Irgendwo müssen sie seyn, denn daß sie ins Nichts gehen ist eben so zu wiederlegen wie das Ende des Raum« (so variiert er die Kantische Antinomie der reinen Vernunft von der Unendlichkeit und Endlichkeit des Raumes). 18 Trotz Arnims wiederholt geäußerter Ansicht, daß die beständige Rezeption über Jahrhunderte die Güte der Texte entscheide, scheint er die Legitimation der Poesieproduktion, statt in der Bewährung im praktischen Leben, in der metaphysischen Unvergänglichkeit des Geistes geglaubt zu haben, in der unsichtbaren, dem willkürlichen Zugriff entzogenen Sphäre der Innenwelt, der poetischen Schöpfungen oder des Geistes, der sie hervorbrachte. So fuhren die extremen Lebens-, Kunst- und Identitätszweifel des RedtelBriefs 19 vom August 1801 und des Weihnachtsbriefs 20 1803 an Brentano auf das Nihilismusmotiv, das sich im Ewigkeitspostulat jedoch selbst widerlegt. Vom Wasser bis zum glühenden Regenbogen reichen die Poesiemetaphern in den Texten, zugleich Bewußtseinskorrelate für das im Strudel verschlungene Ich. Das Momenthafte und die Vergänglichkeit des Ästhetischen gelten fur ausgemacht: »wie fallende Tropfen einen bunten Schimmer geben, und dann von der Verges15
Steig/Grimm (Hrsg.): Arnim und die ihm nahe standen, Bd. 2, S. 3 und Arnim und Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 28. 16 Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 151. 17 Schelling: System des transzendentalen Idealismus, S. 297. 18 Arnim und Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 186. " Arnim: Werke und Briefwechsel (WAA), Bd. 30, S. 174-176. 20 Arnim und Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 181—210.
»Was war ich? was bin ich? was werde ich?«
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senheit eingesogen werden«. 21 Mit dieser Variante des topischen Bildes von den aufsteigenden bunten Blasen (s. u.) charakterisierte Arnim das unterhaltsame Pariser Intriguenstück, dessen Wirkung nur einen Abend andauert. Angesichts der Möglichkeit eines festen Berufs, »ergeben in eine gewisse Lebensart, gebunden an einen gewissen Ort«, erweist sich die Innenwelt als übermächtige Versuchung: ausgeprochen in derselben Metapher, die auch die poetische Phantasie bezeichnete: »ein Tröpflein Honig, das mir herniederthaut, bringt das ganze [Pandora-] Gefäß meiner Wünsche wieder in Gährung, die Blasen steigen farbig auf«. 22 Die Verbindung der Ich-, Traum- und Lebensthematik auf der einen Seite, des Themas der Extensionen der Zeit und der Gewinnung einer wahren Gegenwart auf der anderen, mit der Herkunftsthematik, dem Baum, der wurzelt und dessen Kronen von Wasser und Boden genährt werden - durchzieht das Frühwerk und in gewandelter Symbolik die mittleren Jahre. Die Wasserspinne 23 ist mehrfach auftauchendes Bild, sie strebt stets voran, bleibt aber auf der gleichen Stelle. So verrinnt die Zukunft in die Vergangenheit, und der Schein der Gegenwart, ihre Fixierung auf das Nächste und Übernächste, bestimmt das Bewußtsein. Am Anfang seiner dichterischen Karriere - in der Walpurgisnachtszene des Hollin schon angedeutet 24 - schaffte Arnim sich eine poetische Identitätsfigur, den »reisenden Sänger und Tänzer Ariel«. 25 Er hielt bis zum Wintergarten und praktisch bis zur Versöhnung in der Sommerfrische an ihr fest. Noch 1811 wird der Autor in Görres Würdigung von Halle und Jerusalem als »Ariel« apostrophiert. 26 Der Tanz Ariels ist Lebenstanz, Naturpoesie. Das dionysische Sonett 62,1 in der Einsiedler-Beilage drückt die universale Bewegung aus, in der der Dichter, den Welttanz spiegelnd, seinen Ort hat: »Wie ist im Him, im Schooße mir ein Drang! Ist meine Braut mir weich im Schooß gegeben? [...] Mir tanzt die Welt in Melodieenzwang. [...] Befreyt mich Blitz aus Mutterleibes Haft«. 2 7
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Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 145. Steig/Grimm (Hrsg.): Arnim und die ihm nahe standen, Bd. 2, S. 291 ; Bettine und Achim von Arnim: Briefe der Freundschaft und der Liebe, Bd. 2, S. 182. An Bettine, 25. Mai 1809. Es geht um sein künftiges Wirken in Berlin. Arnim und Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 28 - vgl. zwei abweichende hs. Konzepte dazu. - Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 428; an Görres, Sept. 1815 (Görres: Gesammelte Briefe, Bd. 2, S. 449): »Die Lage meines Vermögens ist so sonderbar durch die Zeitläufte bestimmt, daß ich wie eine Wasserspinne mich unsäglich abmühe, ohne weiter zu kommen. Er [Savigny] meinte, es wäre mir gut, mein Auskommen durch eine Civilstelle zu suchen und das Uebrige der Zeit zu überlassen; dazu meint er noch, daß ich an allen Orten, wo etwas frisch anfange ohne weitläuftige traditionelle Umständlichkeit, nicht ohne Geschick fiirs praktische Geschäft sei, und, was so genannt wird, dem Vaterlande nützlich dienen könnte. Nimm aber die Schwierigkeit, welche insbesondere hier im Wege steht, daß ich einen unüberwindlichen Eckel gegen Hardenbergs Civilverwaltung in mir trage, daß ich ihn für einen tirannischen Schleicher halte, wie je einer an oberster Stelle saß, [...]«. Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 1, S. 48f.; vgl. Ricklefs: Kunstthematik, S. 20-22. Ebenda, S. 59-80. Brief vom 11. Mai 1810. Steig (Hrsg.): Görres' Briefe an Achim von Arnim, S. 139-143. Zeitung für Einsiedler, Beylage Sp. 25.
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»[W]enn sich im Fruchtboden des Weibes die Zukunft[,] aus Wolken der Bliz bildet«, heißt es an anderer Stelle, so ist es »die ganze Natur«, die darin wirkt, und »sie macht das alles, wie ich es denke«28 - derart konstruiert Arnim einen metaphysischen Parallelismus zwischen der naturpoetischen Schöpfung und den Gedanken in seinem Hirn. Arnim bekennt, daß es ihm ernst geworden sei mit der Poesie, er habe ihren Zauberklang gehört und aus ihrem Becher getrunken, »und ich tanze nun, wie es das unendliche Schicksal will, [...] meinen Reihen herunter«.29 Desgleichen der Sänger Ariel in den Offenbarungen·, »welche Zunge erreichte den Urgesang der herrlichen Natur, ich tanze herab ihren lebensvollesten Reihen, [...] wie das allgewaltige Schicksal aufspielt, und so treu, wie das Lärmen der regsamen Welt ihn zu hören gestattet, [...] , mein Leben ist frisch und flammend, und meine Worte sind Flammenzüge, die mir in der Nacht leuchten.«30 Die Flammenmetaphorik für das Leben und die Flammenschrift der Worte folgen einer natur- bzw. geistpoetischen Logik. Der Mythos vom Mutterleben hat entscheidenden Stellenwert im Frühwerk. Die einsame, mutterlose und vom Vater unbeachtete Jugend generierte zahlreiche autobiographisch-allegorische Motive, darunter einen Muttermythos der Präexistenz, den viele Freunde belachten, doch der wie ein Moment- und Zukunftsbild seiner geistigen Produktion in ihm auftaucht: »ich fühle mich im Leben wie im Schooße der Mutter sinnend über mir, nicht übergehend in raschen Thaten wie andere, [...] Meine Art des Lebens zu jener verhält sich wie Traum zu That«. 3 ' Brentano bedeutet dabei »That«, so kann Arnim nicht mit ihm leben, »da ich noch im Schooße der Mutter (Leben, Freude) läge«. Der Traum hat sich selbst erzeugt, wie jene Idee, daß die Kinder die Eltern zur Liebe entzünden, d. h. »daß die Gegenwart durch die Zukunft entsteht«.32 Durch den Gegensatz von Traum und Tat sieht Arnim auch »das Reich der Weiber« geprägt, von dem eine englische Tagebuchnotiz kündet, »vielleicht ist dies das tausendjährige Reich, vielleicht wird dann der ewige Friede in den Thaten geschlossen und der ewige Krieg in den Träumen beginnt, das Wirken hat dann einen Mittelpunkt, das Denken kennt aber dann die Wahrheit nicht mehr.«33 Daß dem Denken die Wahrheit abhanden kommt, spielt auf die neuartige Versprachlichung der Welt, auf sprachgeleitetes, nicht mehr metaphysisch garantiertes Vernunftdenken an, auf das damit gegebene Chaos, die unendliche Potentialität und den Einbruch des Historismus in der geistigen Welt um 1800.
2. Das mediale Ich. Identität im Schreiben Das Subjekt von Leben und Schrift ist medial aufgefaßt, es findet seine Identität in den Instanzen, die diese Medialität beherrschen. Dies ist einmal die Zeit. Keiner 28 29 30 31 32 33
Arnim und Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 185. Ebenda, S. 10. Arnim: Ariel's Offenbarungen, S. 148. Arnim und Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. I, S. 187f. Ebenda, S. 188. FDH Hs-B 69, S.95f. Kursivierung U. R.
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kann seiner Zeit entrinnen. So widerstreiten der Zeitgeist und der Volksgeist, zwei hypothetische Konstrukte, einander. Die Zeit scheint auch als formales Prinzip der Individualisierung gesehen zu sein, das Individuum ist durch seine raumzeitliche, ζ. B. geographische und milieuhafte Position, ist durch seine »Lage« bestimmt: »die Zeit ist das Subjektivste in der Welt und ich lebe in der Zeit, welchen Kalender ich annehmen mag, und wenn ich auch gar keinen annehme.« 34 Die Zeit ist das formale Prinzip, ihr Gegensatz ist die Natur im Sinne der natura naturans, das substanzielle Lebensprinzip. »Was uns quält ist die unendliche Masse der Individuen in der Welt, die waren, die sind, die werden; vielleicht sehen wir das alles durch ein Kaleidoskop, mir wird es klar, daß die Bestimmten nur in verschiednen Lagen gesehen diese unendliche Mannigfaltigkeit bilden und durch alle Zeitalter durchgehen.« 35 Entsprechend dem seit Herder verbreiteten Geschichtsmodell dient die Universalgeschichte der zeitlichen und substanziellen Ausdifferenzierung der einen All-Natur in die Unendlichkeit der individuellen Prägungen. Dem folgt Friedrich Schlegels Romankonzept der progressiven Universalpoesie, und dem folgt Arnims Lebensprogramm der Versprachlichung von Wirklichkeit und Erfahrung. Neben Zeit und Natur resp. Leben sind Größen wie Familie, Volk, Vaterland, literarische Gruppe, Sprache, die Gegenwart und Vergangenheit der Texte (europäische und nationale Literatur und Literaturgeschichte) und viele andere Faktoren identitätsbildend. Die Natur, ein vieldeutig reicher Begriff, umfaßt alle Lebensvorgänge, so die Körperlichkeit, das Vor- und Unterbewußte, alles Ursprunghafte, will sagen Unwillkürliche, Mediale bis hin zur Sprachwelt und zu den kulturellen und geistigen Phänomenen innerhalb des All-Einheits-Konzeptes. Sie wirkt im erlebenden, sinnenden, vorstellenden, denkenden, wach- und schlafträumenden Bewußtsein - »durch uns hin zieht der leichte Elfenflug der Gedanken«. 36 Alle poetologischen Konzepte und Motive in Arnims Schriften, Natur- und Kunstpoesie, das Wesen der Kritik, Genie und Kunst, Traum und Ahndung sind darauf bezogen. Als Wertmaßstab, Grundmaxime und transzendentales ethisches Postulat gilt: »nichts ist ein Irrtum was jemand lieb«.37 Daraus abgeleitet sind Toleranz und Kritikvermeidung. Dieser historistisch-pantheistische Glaube besagt, daß jede unverkrümmte, freie Individualität ihren Sinn und ihr Recht im Prozeß der Selbstentfaltung Gottes, der Weltgeschichte, hat. Hier liegt die Basis flir Arnims hermeneutisches Kunstkritikideal, das Begreifen der Individualität und des Eigentümlichen, die Würdigung des Guten, Besserung des Mißlungenen, Akzeptieren der Mannigfaltigkeit des Individuellen. Das heißt auch, daß Gegensätze wie das Klassische und das Romantische, trotz aller Betonung der Zeitverhaftung des Individuellen, vordergründig und künstlich sind. Indem das natura naturans-Konzept grenzenlose Toleranz gegenüber allen originären, spontanen, indidividuellen Lebensmanifestationen nahelegt, verfallt jedoch jede Verkehrtheit und Perversion,
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Streller: Drama, S. 110. Arnim: Taschenbuch FDH Hs-B44, S. 81 des Typoskripts, um 1828. Kursivierung U. R. Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 141. Amim und Brentano: Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 287.
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die groteske Mechanisierung und skurrile Verselbständigung, die nichtige Ersatzhandlung, eitle Nachahmung und leere Emphase einer unnachsichtigen Kritik. Der Spiegelglanz der Päpstin Jo/iarcmj-Handlung und Figuren der Nachahmung des Heiligen in der Einsiedler-Zeitung sind Beispiele dafür. Groteske Verzerrung und Erstarrung des Lebens, der Philister und der Gelehrte mit seinem Eigentumswesen etc., berühren die Sphäre eines modernen Teufels. 38 Arnims säkulares, ästhetisches Offenbarungskonzept (»Ariel's Offenbarungen« etc.) ist kontextuell doppelt geprägt, von der natura naturans wie von der religiösen Ursprungsbedeutung, der Geistbegabung. Die Dichotomie von Erkennen und Leben beunruhigt Arnim, das Zusammengehörige wie der Widerstreit darin. Arnim thematisiert Träumen und Erleben, Denken und Schreiben, Diskurswelt und tatenbestimmtes Leben, Schein und Täuschung, Fiktion und Geschichte, Traum, Konzept und Äußerung. Bloß willkürliche Täuschung gilt als leeres Machen, jede poetische Fiktion ist medial, bestimmt und begründet durch eine der Willkür entzogene Sphäre. Jenes Motiv des »Mutterlebens« im Schoß der Mutter, auf der Schwelle zur Geburt, im Übergang vom Traumleben zu Äußerung, zu Tat und hellem Bewußtsein variiert in persönlicher Mythologie das mediale Konzept. Solche Urpoesie wirkt schließlich noch in der leersten, rationalen Art der Poesie, selbst bei Voß und Ramler. 39 So gilt die komplimentäre Zusammenbindung der Gegensätze. Naturpoesie kommt nicht zur Erscheinung, d. h. bleibt blind ohne Kunstpoesie, Kunstpoesie ist leer ohne Naturpoesie, beide sind eins und unterschieden wie Stoff und Form, Notwendigkeit und Freiheit. Absichtslosigkeit und Spontaneität sind Höchstwerte, selbst in der Manuskriptkorrektur begegnet kein Feilen und Tüfteln. Imaginäre Hellsicht schafft intuitiv aus dem erhöhten Augenblick. Eine prinzipielle Unübersichtlichkeit und Unabgeschlossenheit bewahren den Kontakt zur schaffenden Potenz, der Offenheit, eben Potentialität angemessen ist. Nicht allein um die Differenz von Erkenntnis und Sein, Beobachten und Handeln, Schreiben und Teilnehmen geht es hier jedoch, sondern um die heikle Berührung jener Kunst- und Sprachwelt mit der Wirklichkeit, der >eigenen Zeitzweite Welthöheren Stände< und zählen mit sichtlichem Vergnügen adlige Geschichten auf; etliche davon sind erotischer Natur. Ein spezielles Interesse hatte er an den Affären der Adligen mit ihren Mätressen. (Er war selbst Vertreter der Mätressenwirtschaft als Nachfolger seines Vaters.) Oft handeln die Anekdoten vom Gegensatz des alten Adels zum Frankreich unter Napoleon Bonaparte. Nicht ohne Grund nennt Arnim Pitt in einem Brief an Humboldt ein wandelndes Gesellschaftslexikon. 39 Die Anekdoten leben vor allem aus den porträtierten Persönlichkeiten, zeigen typische Verhaltensweisen des Adels; relativ häufig zeichnet Pitt auch Aussprüche Napoleons auf. Ein gewisses Sensorium für die in der Französischen Revolution manifest gewordenen Legitimationskrise des Adels hatte auch er. Während seines Aufenthalts in Paris bemerkte er in den Tuilerien den von der Französischen Revolution noch blutgetränkten Boden; 40 fassungslos hielt er fest, wie eine Adlige aus Starrsinn die Rettung aus der Bastille versäumte: Furcht. Die Prinzessin Lubomirska sollte hingerichtet werden, Herr von der mit ihr im Gefangnisse saß, hatte sich eine Art von Strikleiter mit Knoten gemacht, an welcher er sich alle Abend herunter, und des Morgens wieder heraufließ; um seine Güter nicht zu verliehren kam er immer wieder weil er gewiß zu entkommen wüste, sobald sein Tod beschlossen war, den Abend vor der Hinrichtung der Prinzessin Lubomirska beschwor er sie sich seiner Strikleiter zu bedienen, sie solle sich auf seine Schultern setzen und so unfehlbar gerettet werden. Die augenblikliche Furcht aus der vierten Etage sich herabzulassen überwog bei ihr die Schrekken vor der Guillotine, genug, sie wolte nicht und eins der schönsten Weiber ward Tages darauf dem Messer der Guillotine preißgegeben.41
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Vgl. Arnims Brief an Louise von Schlitz vom November 1801: »Ich habe meine Flügel auf kurze Tage in der Dresdner Hofsonne geschwungen und bemerkte, daß sie nicht warm und nicht kalt und fast so langweilig wie das Mondlicht ist.« (Arnim: Briefwechsel 1788-1801 Werke und Briefwechsel, Bd. 30, S. 188). Härtl: Zwischen Tilsit und Tauroggen, S. 295. Liber II, S. 39: »Merkwürdig ist der Cour auf linker Hand wenn man aus dem Schlosse der Thuilerien in den Garten körnt, auf ihn fielen die unglüklichen Schweizer, welche aus dem Schlosse der Tuilerien heruntergeworfen wurden, noch klebt das Blut an ihm und nichts hat es vertilgen können.« Liber II, S. 36f.
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Arnim nahm für die Schotten Partei angesichts der Verelendung des Lands durch die Vertreibung der Bauern und die Einführung der Schafzucht. 42 Während der jüngere Arnim in »die Erdhütten der Bergschotten kroch«43, ist von Pitt nichts Vergleichbares überliefert. Der Ältere schlug sich später ganz auf die Seite der Restaurateure der preußischen Monarchie. Manifest enthalten die Aufzeichnungen keine Gründe für die Distanz der Brüder zueinander. Die mögliche persönliche Animosität der Brüder abgerechnet, läßt sich nur indirekt Arnims Schweigen deuten. Für die Selbstdefinition des Romantikers scheint Carl Otto eine Fassade, die ihm erst die eigenen Lebenswünsche vor Augen fuhrt. Die Bildungsreise der Brüder fällt in eine historisch bedeutsame Umbruchzeit, eine >SattelzeitLiederbruder< Clemens Brentano prophetisch in Achim Arnims erträumtes Leben als Poet eingreifen sah. Die gegensätzlichen Positionen mündeten im Streit über die Rolle Preußens. Am 12. Januar 1808 schrieb Achim dem Bruder:
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Vgl. Wingertszahn: Arnim in England, S. 91-93. Vgl. ebenda, S. 100. Liber II, S. 46-48; Zitat S. 46 nach Tieck (Hrsg.): Phantasien über die Kunst, S. 8. Wackenroder: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 155. Vgl. Anmerkung 38. Bettina berichtet am 15. Februar 1822 an Arnim, daß Pitt zum »Vortänzer aller Polonaisen diesen Winter ernannt« sei, er sei »daher so übermütig und so leichtfüßig, daß er keine Minute still stehen kann« (Arnim und Brentano: Achim und Bettina in ihren Briefen, Bd. 1, S. 338). Clemens Brentano an Arnim, 6. September 1802. Schultz (Hrsg.): Freundschaftsbriefe, Bd. 1, S. 34.
»Selig sind alle Deine Selbsttäuschungen«
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Ich erkenne leider noch immer das alte Berlin an Deinem Urtheile [...], lernt doch von der gewaltigen Zeit, denn darin liegt keine Treue, und kein Charakter daß man sich gegen das Fremde die Ohren verstopft, sondern daß man es entweder mit Aufopferung überwindet oder es in sich aufnimmt, wie käme es sonst, daß der Charakterloseste Hof, der unsre, so viele feste unwandelbare Meinungen hat, daß, wenn man nicht mehr drüber weinen konnte, man drüber lachen müste. 49
Nach der Bildungsreise nahm Pitt die Verwaltung der Arnimschen Güter in die Hand. Diese Aufgabe entsprach seinen Interessen nicht. Die Brüder näherten sich allmählich aneinander an, bedingt durch den Tod des Vaters 1804, die Notwendigkeit gemeinsamer Verwaltung der ererbten Güter und den Tod der Großmutter 1810. Die ökonomische Abhängigkeit voneinander, die sich in Carl Ottos Erzählung der Geldverwickelungen in den Jahren 1806-181450 dokumentiert, sorgte gleichzeitig für Spannungen. Innerhalb der Familie scheint Achim immer als die stärkere Persönlichkeit beurteilt worden zu sein; Äußerungen der Verwandtschaft kritisieren Carl Otto mehr oder weniger unverblümt. Die Großmutter Caroline von Labes wandte sich 1808 an ihren jüngeren Enkel als den zuverlässigen, reifen Bruder mit der Bitte, dem anderen in Zukunft beizustehen: [LJeicht möglich ist dieses mein letzter brief in dieser Arth an dir, möge er nicht ohne Würckung bei dir bleiben, möge er mit auf deinen bruder würcken Amen. Stehe ihn mit wahren brüderlichen Rath bei, so viehl N B du bei ihn zu würcken vermagst, und rette wo du N B kanst, ich vermag nichts mehr - liebt Euch stets brüderlich und lebt einträchtig, nicht N B nach der Arth der Arnims 51
Die Unzuverlässigkeit Pitts kritisiert Arnim - eher verdeckt - in seinen Briefen an den Bruder, aber auch der Rechts- und Vermögensberater der Brüder Savigny. Auch Bettina meldete Distanz gegenüber ihrem Schwager Carl Otto an. Mit ihren äußerst farbigen und pointierten Charakteristiken Pitts hat sie das Bild von Arnims Bruder entscheidend geprägt: »[E]r ist ein guter Teufel und lebt vergnügt in seiner Haut und richtet seine Einsichten nach seiner Bequemlichkeit ein«52. Pitt macht den Eindruck eines harmlosen Epikureers, leichtfertig, planlos, prinzipiell gutmütig, der aber seine Umgebung mit seinen Marotten und seinen fest verwurzelten Vorurteilen zur Verzweiflung treiben konnte. Die Unzugänglichkeit gegenüber rationalen Argumenten mag auch Arnims Distanz zum Bruder entscheidend geprägt haben. Sie versperrte ihm letztlich die Karriere im Auswärtigen Dienst. Pitt absolvierte als Diplomat eine kurze und erfolglose Laufbahn in Schweden und danach in England an der Londoner Gesandtschaft, über die wir bisher aus Arnims
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Härtl: Zwischen Tilsit und Tauroggen, S. 274. In: Arnim: Arnims Briefe an Savigny 1803-1831, S. 205-209. Von Caroline von Labes, 21.-23. April 1808. Riley: Jugend- und Reisejahre, S. 177. An Arnim, 4. Juni 1822. Arnim und Brentano: Achim und Bettina in ihren Briefen, Bd. 2, S. 377-379.
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Sheila Dickson
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Bericht in einem Brief an Wilhelm von Humboldt wußten. 53 Nach den Akten läßt sich dieses Kapitel in anderer Akzentuierung darstellen. Aus patriotischen Motiven reichte Pitt im März 1813 ein Gesuch um Anstellung ohne Gehalt an der Londoner Botschaft ein, was die preußische Verwaltung gerne annahm. 54 Sein Engagement endete 1816 mit einem Knallefekt, als er wegen einer >affaire d'honneur< den Posten aufgeben mußte. Eine Wiederanstellung, um die sich auch Achim in einer Petition an Wilhelm von Humboldt bemühte, gelang nicht. Die Akten der preußischen Verwaltung belegen, daß es sicher nicht nur diese Affare war, die Pitts Karriere behinderte: Er war insgesamt für den Posten nicht geeignet. Der auf französisch geführte Schriftwechsel des preußischen Gesandten Jacobi-Kloest mit dem Staatskanzler Karl August von Hardenberg macht das sehr deutlich, als Pitt 1814 eine feste Anstellung als Legationssekretär beantragte. Das Gesuch wurde nicht gewährt und die vertrauliche Darstellung des Gesandten nennt ohne Umschweife die Gründe. Carl Otto ließ bisher die für das Amt nötigen Eigenschaften (Intelligenz, Bescheidenheit, Fleiß, Takt und Verschwiegenheit) vermissen: Un sécretaire de légation, devant être intelligent, modeste, laborieux, ayant du tact - je pense que le candidat en question est encore loin d'avoir ces qualités. Il n'a encore aucune routine; je ne doute pas, qu'il ne soit laborieux, mais les habitudes qu'il a prises depuis son existence, de vivre dans le monde, d'y prononcer son sentiment fortement et de ne pas sentir la nécessité de se taire - voilà ce qui, à mon faible avis, est déjà dans le caractère du candidat.55
Trotz solcher Mißerfolge unternahm Pitt mehrere Versuche, sich zu profilieren. Er beantragte die Versetzung nach Lissabon, erbat sich einen Orden, um seine Stellung in der Gesellschaft zu verbessern; er überschüttete Hardenberg mit Briefen, und als Napoleon 1815 aus Elba wiederkehrte, wollte er am Krieg teilnehmen, zog sich dann aber zurück, als der Sieg errungen war. Die >affaire d'honneur< zertrümmerte endgültig Pitts Karriere als Diplomat. Sie führte dazu, daß Pitt mit Arrest bedroht wurde, obwohl die preußische Diplomatie sein Verhalten doch nur als »chevaleresque« 56 bezeichnete. In den folgenden Briefen schildern Pitt und sein Vorgesetzter die >affaireNovellensammlung von 1812Novellensammlung von 1812< gehört, wird vom oben erwähnten unkundigen Reiter auf dem Rhein den Damen vorgetragen. Abgesehen davon, daß der Erzähler erklärt, er habe seine Geschichten über den Wolken von einem Zigeuner empfangen, erfährt man von ihm noch, daß er ein »Schüler des Horaz« 29 ist und gerne dem »Johannisberger Risling« 30 zuspricht. Das alles mag hingehen, auch die paar Ungereimtheiten und Fehlurteile, die er immer wieder kommentierend zu seinen Figuren abgibt.31 Wahrlich seltsam wird es dann aber am Schluß seiner Erzählung, wo er zur Beglaubigung der Geschehnisse um Isabellas Tod sein Erzählen an eine Reihe äußerst ominöser Gewährsmänner delegiert. So stützt er sich in wörtlicher Übernahme auf einen Bericht des »berühmten Reisenden Taurinius« 32 , welcher wiederum sein Wissen von einem ägyptischen Priester haben will, dessen Dokument, eine alte Pergamentrolle, Taurinius - ohne sie gänzlich zu verstehen - ins Deutsche übersetzt und deshalb von einem Experten, einem »Magister Uhsen[,] wieder übersehen und sehr verbessern« 33 lassen muß.
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Zur fur die Goethezeit topischen Gleichsetzung des pindarisch-genialischen Dichters mit dem Adler vgl. Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens, S. 286. Vgl. Arnim: Der Wintergarten - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 243f. Arnim: >Die Novellensammlung von 1812< - ebenda, Bd. 3, S. 618. Ebenda, S. 620. Vgl. dazu Andermatt: Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose, S. 42 ff. und S. 489f. Arnim: Isabella von Ägypten - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 740. Ebenda, S. 741.
Wer erzählt? Erzähltes Erzählen und Identitätskonstruktion
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In der Arnimforschung weiß man, daß der »berühmte[ ] Taurinius«, auf den der Text fiktionsironisch verweist, bei Arnims Zeitgenossen eher berüchtigt als berühmt war.34 Es handelt sich bei ihm um einen damals bekannten Hochstapler, einen schreibenden Buchdruckergesellen, der eigentlich Zacharias Damberger hieß und zur Aufwertung seiner dubiosen Reisebücher vorgab, der 1758 in Ägypten geborene Sohn eines Kopten zu sein.35 Der genannte Magister Uhse wiederum ist als jener Erdmann Uhse (1677-1730) zu identifizieren, der als Verfasser der Regelpoetik Erdmann Ohsens wohlinformierter Poet (1715) von Clemens Brentano in seiner P/»7wfór-Satire (1811) als phantasieloser Schulmeister verspottet wurde.36 Halten wir fest: Arnim inszeniert seinen Erzähler in Isabella von Ägypten in für die Leser leicht zu durchschauender Konstruktion 37 als uninformiert und unzuverlässig. Dieser Erzähler ist als Vermittler des rapportierten Geschehens fragwürdig, sein Urteil ist offensichtlich in manchem falsch, sein Text folgt in wichtigen Passagen einem Hochstapler und einem Pedanten.
4. Auffallend häufig wird die Handlung von Arnims Erzählungen unterbrochen durch Binnenerzählungen. Arnims Figuren setzen zu Lebenserzählungen an und konstruieren auf diese Weise im Erzählen ihrer Vergangenheit für sich und ihre Zuhörer und mittelbar auch für die Leser eine selbstbestimmte Identität. Anders als in den Rahmenhandlungen, in denen Arnim die erzählerische Identität gezielt hintertreibt, fuhrt Arnim an seinen Binnenerzählern demonstrativ vor, daß von ihnen Identität konstruiert wird. Identität als Konstrukt aber erweist sich bei Arnims Figuren als falsche Identität, denn sie verfälscht und beschönigt oder verschlimmert die Wirklichkeit und fuhrt bei den Betroffenen öfter zu Wahnsinn oder gar Tod. Der Versuch, Identität selbst zu bestimmen, schlägt bei Arnims Figuren mithin um in die Zerstörung von Identität. Ein frühes Beispiel für diese Art mörderischer Selbstkonstruktion findet sich im Roman Hollin. Als Romanfigur tut Hollin im Prinzip nichts anderes, als sein Leben zu erzählen. Er konstruiert seine Identität in den Briefen an seinen Freund Odoardo, und beim Lesen dieser Briefe gerät man als Rezipient in die unangenehme Rolle, zuschauen zu müssen, wie einer sich zunehmend selbst betrügt, wie er langsam wahnsinnig wird und sich schließlich umbringt. Arnim macht am Schluß
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Vgl. Wingertszahn: Ambiguität und Ambivalenz, S. lOOf. Vgl. dazu den Kommentar von Migge in: Arnim: Sämtliche Romane und Erzählungen, Bd. 2, S. 907. - Migge weist in seiner Anmerkung darauf hin, daß schon Dambergers Verleger im Vorwort zu dessen Reisebuch Beschreibung einiger See- und Landreisen nach Asien, Afrika und Amerika (Leipzig 1799/1801) die Glaubwürdigkeit seines Autors anzweifelte. Vgl. dazu die eingehende Anmerkung von Moering in: Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 1309f. Neumann beurteilt die Reiseberichtsfiktion als eine »von zeitgenößischen Lesern leicht zu durchschauende Hilfskonstruktion«. Vgl. Neumann: Legende, Sage und Geschichte, S. 311.
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Michael Andermatt
des Romans fast überdeutlich klar, daß Hollin in seinen Selbstentwürfen das Finden einer eigenen Identität verfehlt, denn er läßt ihn in der Rolle von Schillers Mortimer einen falschen Theatertod sterben. Selbstentfremdet stirbt Hollin als Mortimer den Tod einer fremden Identität. Die Rolle, das falsch konstruierte Ich, tötet ihn. Weniger dramatisch enden die Lebenserzählungen in Die Einquartierung im Pfarrhause, j a man erhält vorerst sogar den Eindruck, daß in diesem Fall die Identitätskonstruktion der Figuren zu Erfolg und Glück führt, denn schließlich findet über das Erzählen von Lebensläufen eine Familie zusammen, die vom Krieg auseinandergerissen wurde. Aber auch hier signalisiert Arnim am Schluß seiner Erzählung deutlich, daß Identitätskonstruktion mit Wahnsinn und Tod verbunden ist. Er führt das vor an der Figur der Großmutter, die infolge ihrer Taubheit eine heile Welt konstruiert, wo doch vor allem Krieg, Tod und Trennung das Geschehen bestimmen. Während die getäuschte Großmutter eine glückliche Familienidentität sieht, in der »alles in der Ordnung« 3 8 ist, heißt es dagegen vom Oberst, dessen Selbstentwurf durch das überstürzte Geschehen rund um das Wiedersehen und den Tod seiner Frau erschüttert wird: Dem Obersten schauderte bei den Worten [der gesprächigen Alten] [...], die Stube schien ihm ein Grab, worin er lebend begraben die Gespräche der Verweseten höre, ihm war wie einem Sterblichen, der unbewußt in die Gesellschaft von Geistern geraten ist und nicht weiß, ob es Täuschung sei, ob er die Täuschung stören könne und dürfe und doch furchtet wahnsinnig in diesem Umgange zu werden. 39
Identität erweist sich nur zu leicht als Scheinwirklichkeit oder Täuschung. Arnim hat in seinen späteren Texten diesen Sachverhalt zunehmend in groteskkomischer Form gestaltet. Die schönsten Beispiele dafür findet man in der Erzählung Die Ehenschmiede (1830). Hier versuchen die Figuren eine überaus kontingente und turbulente Wirklichkeit in ihren Berichten immer wieder zu einer durchschaubaren Welt umzuorganisieren. Je nach Interesse oder Parteinahme der erzählenden Figur erhält das Geschehen in willkürlicher Setzung unterschiedliche Begründungen. Bemerkenswert etwa ist die identitätsstiftende Rede bei der Figur Rennwagen, fur die Arnim in deutlicher Ironie daraufhinweist, wie er in seinen Berichten »mit Einsicht die Übergänge zeichnete« 40 . Diese >Einsicht< besteht etwa darin, daß Rennwagen den Verlust seiner Geliebten Aura an einen englischen Grafen mit der herrschenden Engländer-Mode begründet 41 und dem Vater der Braut mit der geplanten Ehe politische Absichten unterstellt. So behauptet Rennwagen: Der Professor [Auras Vater] glaubte seinen politischen Werken auf diesem Weg Eingang in England zu verschaffen, die schottischen Rezensenten durch die Tochter zu gewinnen, er
38 39 40 41
Arnim: Die Einquartierung im Pfarrhause - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 916. Ebenda, S. 916. Arnim: Die Ehenschmiede - ebenda, Bd. 4, S. 893. Vgl. ebenda, S. 893.
Wer erzählt? Erzähltes Erzählen und Identitätskonstruktion
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hoffte ganz England durch Vermittelung der Tochter zu erneuern, wes wegen er die Verbindung forderte. 42
Eine andere Figur der Ehenschmiede, Lady Gurli, begründet ihren überstürzten Entscheid, den Ich-Erzähler Robinson zu heiraten, mit der Erklärung, es sei ihres Vaters Wunsch gewesen, daß sie einen Deutschen heirate, »da er [sie] wegen eines deutschen Schauspiels, das ihn nach Indien geführt und dadurch reich gemacht, Gurli genannt«. 43 Der Erzähler meint dazu »mit hüpfendem Herzen«: »Gurli, Gurli, [...] hätte ich doch nimmermehr gedacht, daß dieses fatale Schauspiel, die Indianer in England, mir eine so liebevolle schöne herrliche Braut zuführen sollte -«, 4 4 Mögen die Erklärungen noch so absurd sein: In den Identitätskonstruktionen der Figuren geht alles auf, hat alles seinen Grund und findet alles seinen Zweck. Daß es sich dabei unverkennbar um Täuschung und Fehlkonstruktion handelt, macht Arnims Text den Lesern deutlich, indem er Figurenrede und Geschehen markant auseinander treten läßt. Wo die Figuren ihre Rede verlassen und aktives Handeln gefragt wäre, entwickelt sich das Geschehen sehr schnell in ungeplanter Richtung und entlarvt damit die planvolle Rede als verfälschende Konstruktion und Selbsttäuschung.
5. Arnims Verfahren der erzählerischen Identitätsauflösung ist Ausdruck romantischer Autoreflexivität; es erhellt sich im Kontext der romantischen Konzeption von Ironie. Im Zentrum der romantischen Ironie, wie sie Friedrich Schlegel verstand, steht das Prinzip der Negation. Ironie bedeutet »Selbstbeschränkung« im Wechselspiel von »Selbstschöpfung und Selbstvernichtung«. 45 Mit dieser Haltung verbunden ist das »Bewußtsein der Endlichkeit und Begrenztheit des Subjekts« 46 oder der Identität. Schlegel spricht deshalb von der »künstlerischen Selbstbeschränkung [als] einer bewußten Herauslösung aus der gegenständlichen oder erlebnisbedingten Darstellung« 47 . Arnims erzähltes Erzählen ist Ausdruck der »Selbstbeschränkung« in diesem Schlegelschen Sinne. Es setzt sich entschieden ab von einer ungebrochen erlebnisbedingten Darstellungsart und inszeniert dagegen Mittelbarkeit des Geschehens, und zwar in der Herausgeberfiktion, in Vervielfachungen oder Verschachtelungen der Erzählinstanz, in sich zwiespältigen oder zweifelhaften Erzählstimmen, in fingierter Historisierung oder Mythisierung sowie in der Verwischungen der Textgrenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Schlegels Forderung, daß sich »das 42
Vgl. ebenda, S. 893.
43
Vgl. ebenda, S. 935. Vgl. ebenda, S. 935. Schlegel: Schriften zur Literatur, S. 9. Schuller: Romanschlüsse in der Romantik, S. 33. Strohschneider-Kohrs: Die romantische Ironie, S. 89.
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Michael
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Andermatt
Produzierende mit dem Produkt« darzustellen habe, Poesie »in jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit darstellen« soll, 48 wird auf diese Weise eingelöst. Geradezu mustergültige realisiert Arnim Schlegels Ironiekonzept in der »Anrede an meine Zuhörer« seiner Novellensammlung von 1812. Arnim reflektiert im Typus des dilettierenden Erzählers, des Sammlers fremder Geschichten, seine eigene - oft an ihm kritisierte - Erzählweise und nimmt dabei in teilweise paradox anmutender Gedankenbewegung in Anspruch, mittels Kunst überindividuelle Wahrheit gestalten zu können. Vorgetragen sind seine durchaus theoretischen Überlegungen in der Bildsprache der Poesie. Auf diese Weise »vereinigt« sich, wie Schlegel das postuliert hatte, »die Poesie mit der Philosophie«. 49 Im Gegensatz zu Schlegel war Arnim bekanntlich kein Theoretiker. Er selbst würde sich deshalb vermutlich dagegen verwahrt haben, wenn man ihn mit romantischer Theorie in Verbindung gebracht hätte. Seine wenigen poetologischen Skizzen, die er vor allem in Abgrenzung gegen die Grimm-Brüder formulierte, lassen sich von ihren Ideen her indes durchaus mit den hier vorgetragenen Thesen verbinden, wenn auch eher komplementär zum eben skizzierten Kontext der romantischen Ironie und nicht ganz ohne Widersprüche. So vertritt Arnim gegenüber Jacob Grimm (»Sammeln und Dichten sind unverträglich miteinander« 50 ) die Auffassung, daß ein Autor mit historischen Quellen frei umgehen dürfe, da sein Schaffen der »Wahrheit der Phantasie« 51 folge. In der Einleitung zu den Kronenwächtern (1817) liest man dazu: »Dichtungen sind nicht Wahrheit, wie wir sie von der Geschichte und dem Verkehr mit Zeitgenossen fordern«, 52 sondern »geahndete Füllung der Lücken in der Geschichte«. 53 Arnims >Ahndung< und >Wahrheit der Phantasie< haben dabei nichts zu tun mit dichterischer Freiheit oder gar Willkür. Ein Schriftsteller plant nicht und setzt sich auch nicht ins Zentrum, 54 sondern er folgt der Eingabe seiner Phantasie. Arnim findet für diesen Sachverhalt bekanntlich die paradox klingende Formulierung einer »Phantasie, [die] täuschend sich selbst täuscht« 55 . Genau dies aber gestaltet Arnim auch mit seinem erzählten Erzählen, nämlich dort, wo er den einen Autor und das
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51 52 53 54
Schlegel: Schriften zur Literatur, S. 50. Ebenda, S. 37. Brief vom 21. Dez. 1812. In: Steig/Grimm (Hrsg.): Achim von Arnim und die ihm nahe standen, Bd. 3, S. 257. Arnim: Theoretische Untersuchung - Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 401. Arnim: Dichtung und Geschichte -ebenda, Bd. 1, S. 519. Ebenda, S. 520. »Sehr unsinnig scheint mir der Gedanke von Rühs [...] was er freie Dichtung nennt, gerade in der Art unsinnig, wie das was sich manche unter Willensfreiheit denken; sie setzen die Unendlichkeit von Möglichkeiten und sich in die Mitte, und daß sie etwas ebensogut wählen können als andere.« (Brief vom 25. Nov. 1812. In: Steig/Grimm (Hrsg.): Achim von Arnim und die ihm nahe standen, Bd. 3, S. 244.) - Friedrich Rühs (geb. Greifswald 1.3. 1781, gest. Florenz 1. 2. 1820), schwedischer Historiker, publizierte u. a. Die Edda nebst einer Einlei-
tung über nordische Poesie und Mythologie (1812) und Über den Ursprung der isländischen Poesie aus der angelsachsischen 55
(1813).
Arnim: Theoretische Untersuchung - Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 401. - Vgl. dazu Ricklefs: Magie und Grenze.
Wer erzählt? Erzähltes Erzählen und Identitätskonstruktion
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planende Ich zu Gunsten der undurchschaubaren Reihe unterschiedlichster Erzählstimmen mit Vermittlercharakter und der damit verbundenen Entindividualisierung des Erzählprozesses auflöst. Daß diese Auflösung als literarisches Verfahren allerdings alles andere als spontan, naiv oder unkontrolliert verläuft, sondern vielmehr in selbstreflexiver romantischer Ironie, bildet zum postulierten Automatismus inspiratorischer Selbstaufgabe offensichtlich einen Widerspruch.56
56
Arnim vertritt bekanntlich die Auffassung, der Autor müße sich beim Schreiben bis zur Selbstaufgabe zurücknehmen: »Ich kann mich erst beruhigen, wenn ich durch die Begebenheiten so weit fortgerissen bin, daß ich Gottes Barmherzigkeit anrufen möchte, um mir herauszuhelfen. Dann habe ich erst ein Gefühl, daß ich den Sinn und das Leben der Geschichte getroffen habe, und endlich findet sich doch immer ein Ausgang.« (Steig/Grimm (Hrsg.): Achim von Arnim und die ihm nahe standen, Bd. 3, S. 459) Es formuliert sich hier ähnlich wie bei Schlegel die ans Paradoxe grenzende Dialektik von ironischer Selbstaufgabe und Selbstschöpfung: »Was unbedingte Willkür, und sonach Unvernunft oder Übervernunft scheint und scheinen soll, muß dennoch im Grunde auch wieder schlechthin notwendig und vernünftig sein; sonst wird die Laune Eigensinn, es entsteht Illiberalität, und aus Selbstbeschränkung wird Selbstvernichtung.« (Schlegel: Schriften zur Literatur, S. 11 ) Die von Schlegel monierte »Illiberalität« und »Selbstvernichtung« schlägt in Arnims Auffassung offenbar um zur freien Schöpfung, wo »der Erfindung und Begeisterung Raum [ge]lassen [wird], bis sie fertig ist.« (Schlegel: Schriften zur Literatur, S. 11).
Gerhard Schulz
Anmerkungen zur Interaktion von Leben und Literatur bei Heinrich von Kleist oder: Über die Schwierigkeiten, eine Biographie über Kleist zu schreiben
1. Vorbemerkung über Geschichte, Biographie, Literatur, Leben und Tod sowie über Arnim, Fouqué und Heinrich von Kleist Die folgenden Anmerkungen zu Kleist sind vorgetragen worden als Einleitung zu dem im vorliegenden Band zusammengefaßten Symposium »Konstruktion von Identität«, das sich mit »Geschichte und Biographie in der Romantik« befaßt. Die modernen Erfahrungen mit Geschichte gebieten Skepsis hinsichtlich der Erkennbarkeit, ja überhaupt des Vorhandenseins irgendwelcher Gesetze, denen Geschichte unterworfen sein könnte; die historiographischen Konstruktionen von >Zeitaltern< mit einem sie beherrschenden Prinzip oder >GeistRomantik< generell in Anspruch genommen, deren historische Entwicklung wie internationale Erscheinungsformen indessen außer acht bleiben. Überdies werden dabei häufig die Grenzen und Unterschiede zwischen dem Kunstwerk und der Biographie seiner Urheber fahrlässig verwischt. Was immer an Wert aus solchen Untersuchungen für die Entstehung und Ausbildung modernen Bewußtseins in Bezug auf die Geschlechterbeziehungen zu gewinnen ist, ließe sich auch ohne den pauschalen, teilweise irreführenden und eher metaphorischen Gebrauch des Begriffes >romantisch< erzielen, ja würde dadurch sogar noch an wissenschaftlicher Präzision gewinnen. Für Kleists realen Tod sollte der Begriff >romantischromantische Liebeverführte< sie Kleist in den wirklichen Tod und überwand damit die »Ambivalenz des Suizidenten«, 44 die Teil des präsuizidalen Syndroms ist. Erst dadurch eskalierten in Kleist gedankliche Reaktionen auf Konfliktsituationen bis zu dem Punkt, wo das nur Imaginierte dann zu konkreten Plänen führte. Wie immer ekstatisch und euphorisch die beiden sich auf den gemeinsamen Tod vorbereiteten, wie sehr
43
44
Vgl. insbesondere Luhmann: Liebe als Passion, und Günter Dux: Geschlecht und Gesellschaft. Thomas Bronisch: Der Suizid, S. 35-36.
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Gerhard Schulz
ihnen die subjektive Aufrichtigkeit ihrer Empfindungen füreinander geglaubt werden muß - in ihren im Unterbewußten gegründeten Motivationen waren sie doch wohl beträchtlich voneinander entfernt. Mit >Liebestod< als Entschluß zu gemeinsamem Sterben, weil die gesellschaftliche Realität das Zusammensein aus diesem oder jenem Grunde unmöglich macht - und nur in diesem Sinn ist der Begriff seit Wagners »Tristan und Isolde« gebräuchlich 45 - hat dieses tragisches Ende jedenfalls nichts zu tun und mit Romantik erst recht nicht. Der literarhistorische Begriff Romantik ist freilich nicht gänzlich fehl am Platze im Zusammenhang mit Heinrich von Kleist, wenngleich nur in einem größeren Kontext. Voraussetzung sind dabei Vereinbarungen über den Gebrauch des Begriffes, der sich aus seinem Ursprung herleitet. Die Idee von einer romantischen Kultur in Europa seit dem Mittelalter entstand auf dem Hintergrund fundamentaler Veränderungen der politischen und sozialen Lebensverhältnisse wie des philosophischen und wissenschaftlichen Weltverständnisses im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Auch die Konzepte von einer neuen, auf die Zukunft gerichteten romantischen Kunst der Gegenwart, die um 1800 aus solchen Voraussetzungen hervorgingen, sind davon nicht zu trennen und spiegeln auf vielfaltige Weise den großen Wandel der »Denkungsart« wider, von dem Kant einmal in seinem Aufsatz Was ist Auflclärung? gesprochen hat. Kleists Suche nach sich selbst, nach einer Instanz außerhalb seiner selbst zur Beglaubigung aller Selbstkonstruktionen verband sich durchaus mit jener aus Kantschen und Fichteschen Quellen gespeisten Erfahrung einer Selbstentfremdung, die er an sich immer wieder erfuhr, und er teilte dergleichen durchaus mit vielen seiner Altersgefahrten unter den deutschen Intellektuellen und Künstlern dieser Tage. 46 Den Novalisschen Glauben, daß daraus neue menschliche Nähe und Vereinigung entstehen werde, teilte er dabei nicht, und ein geheimnisvolles Buch wie dasjenige, in dem Novalis' Heinrich von Ofterdingen schon die eigene Lebensgeschichte vorgezeichnet findet, wäre bei ihm kaum denkbar. Die Schwierigkeiten, eine Biographie über Heinrich von Kleist zu schreiben, sind beträchtlich. Sie haben ihre Ursache nicht nur in einem Mangel an Kenntnis über ihn und sein Leben, so beträchtlich dieser Mangel auch stellenweise sein mag. Sie haben ebensowenig ihre Ursache allein in jenen Mystifikationsversuchen, die er selbst mit sich angestellt hat. Die größte Schwierigkeit dürfte es sein, ihm in der Nacherzählung seines Lebens ein Mitgefühl entgegenzubringen, das weder mit sich selbst kokettiert noch aber der historischen Erkenntnis seines Werks im Wege steht, jenes Werks, um dessentwillen wir uns allein für ihn interessieren. Unbestimmbares, Rätselhaftes, Widersprüchliches wird bleiben in Kleists Persönlichkeit und seinem Werk, ganz einfach wohl weil dieses Werk in der Gestaltung seelischer Realitäten und Komplexitäten so unerschöpflich reich ist. »Der Dichter hat mehr auszusprechen, als das besondere uns in engen Schulen anempfundene Gute und Schöne. Alles Vortreffliche fuhrt etwas Befremdendes
45 46
Vgl. dazu Gerhard Schulz: Liebestod. Gedanken zu einem literarischen Motiv. Vgl. dazu Klaus Peter: Sehnsucht nach dem Gott. Kleist, der Mythos und eine Tendenz der Forschung.
Interaktion von Leben und Literatur
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mit sich, am meisten in Zeiten, wo die Wunder der Poesie der großen Mehrzahl der Menschen auf Erden fremd geworden sind.« 47 Heinrich von Kleist hat es aus Anlaß von Arnims Drama Halle und Jerusalem geschrieben.
47
Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3, S. 589.
Ricarda
Schmidt
Biographie, Autobiographie, Fiktion: Die Funktion von Rousseaus »Confessions« für die Konstruktion von Identität in E. T. A. Hoffmanns »Kater Murr«
Obwohl, wie Roy Pascal feststellte, Rousseaus Schriften eine der Hauptquellen für die deutsche Kultur der Goethezeit waren,1 und E. T. A. Hoffmann Jean-Jacques Rousseaus 1782 und 1789 in zwei Teilen erschienenen und bereits 1782 und 1790 ins Deutsche übersetzten Bekenntnisse nach eigenen Angaben dreißig Mal gelesen hat,2 hat sich die Sekundärliteratur außer mit dem direkten Verweis auf eine bestimmte Episode aus den Confessions (Kreislers Versuch, wie Rousseau eine Oper im Schlaf zu komponieren) wenig mit der Bedeutung dieser Autobiographie für Kater Murr auseinandergesetzt. In meinem Beitrag will ich drei Problemkomplexe behandeln: Zum einen untersuche ich, wie aus einem ernsten Hypotext durch Anwendung eines hohen Stils auf einen niedrigen Gegenstand im Murr-Teil ein komischer Hypertext wird und frage nach dem Ziel der komischen Degradierung. Zum anderen analysiere ich das Moment der Faszination und der Identifikation, das Rousseau für Hoffmann darstellte, und das im Kreisler-Teil zum Ausdruck kommt. Ich zeige, daß in einer Mythisierung von Hoffmanns eigener Biographie Lebensumstände, Charaktereigenschaften und Erfahrungen Kreislers dem Paradigma Rousseaus nachgebildet sind. Drittens gehe ich der Frage nach, welche Verschiebungen hinsichtlich der Umsetzung von Rousseaus zentralen Schreibintentionen (Wahrheit und Rechtfertigung des Subjekts) sich im Kreisler-Teil durch den Genre-Wechsel von Autobiographie zu fiktionaler Biographie sowie aus dem Bezug von Kreisler- und Murr-Strang aufeinander ergeben. Aus diesen Untersuchungen sollen abschließend Folgerungen hinsichtlich der Stellung von Kater Murr in der literarischen Tradition gezogen werden. Nicht nur Rousseaus Autobiographie, sondern sein Gesamtwerk schimmert in Murrs fiktionaler Autobiographie wiederholt als Intertext durch. Hier werden Rousseaus philosophische Höhenflüge auf kätzische Niederungen des Alltags projiziert, und diese Inkonkruenz zwischen philosophischer Abstraktion und animalischer Lebenswirklichkeit produziert ein komisches Empfinden des Ungehörigen. Murrs Sentenz »Je mehr Kultur, desto weniger Freiheit«3 ist offensichtlich von Rousseaus Skepsis gegenüber zivilisatorischem Fortschritt in seiner ersten Abhandlung von 1751 inspiriert.4 Murr scheint Rousseau auch in der gattungs1 2 3 4
Vgl. Pascal: Goethes's Autobiography and Rousseau's Confessions, S. 147. Vgl. Hoffmann: Tagebücher, S. 73. Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 39. Vgl. Rousseau: Les Confessions - Œuvres complètes, vol. 1, S. 351 und Rousseau: Discours sur les sciences et les arts - ebenda, vol. 3.
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Ricarda Schmidt
mäßigen Vielfalt seines Werkes nachzueifern, wenn auch die Reihenfolge der Werkproduktion in den diversen Gattungen bei Murr eine andere ist: Damit die Welt sich dereinst nicht zanke über die Zeitfolge meiner unsterblichen Werke, will ich hier sagen, daß ich zuerst den philosophisch sentimental didaktischen Roman schrieb: »Gedanke und Ahnung oder Kater und Hund«. Schon dieses Werk hätte ungeheures Aufsehen machen können. Dann, in allen Sätteln gerecht, schrieb ich ein politisches Werk unter dem Titel: »Über Mausefallen und deren Einfluß auf Gesinnung und Tatkraft der Katzheit«, hierauf fühlt' ich mich begeistert zu der Tragödie: »Rattenkönig Kawdallor«. 5
Rousseau hat bekanntlich seine - im Gegensatz zum bloß subjektiven Potential von Murrs nicht veröffentlichten Werken (»hätte können«) tatsächlich aufsehenerregenden - philosophischen und politischen Abhandlungen vor seinen beiden philosophisch sentimental didaktischen Romanen veröffentlicht: über die Wissenschaften und die Künste 1751, über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen 1755, La Nouvelle Héloïse 1761, Emile 1762. Im gleichen Jahr wie der zweite Roman erschien Rousseaus vielleicht bedeutendstes politisches Werk Du Contrat social. Eine Tragödie hat er nicht verfaßt, wohl aber die Komödie Narcisse (1752) und Libretto und Musik für die Oper Le Devin du village, die 1752 erfolgreich vor dem König aufgeführt wurde. 6 Der Hauptgedanke in Murrs politischem Werk, daß nämlich Mausefallen, »jene tote Maschinen, in ihrem pünktlichen Treiben, eine große Schlaffheit in den Kateijünglingen hervorbrachten«, 7 übersetzt sozusagen Rousseaus Kritik in seiner ersten Abhandlung am degenerierenden Einfluß der Zivilisation auf die moralische Beschaffenheit der Menschen ins banale Kätzische. Explizit erwähnt der Kater Rousseaus Confessions nur einmal und zieht von Rousseaus Bändchen-Affaire Parallelen zu seinem Leben sowie der Schwierigkeit, als Autobiograph Negatives über sich selbst einzugestehen: Jean Jaques Rousseau gesteht, als er in seinen Bekenntnissen auf die Geschichte von dem Bande kommt, das er stahl und ein armes unschuldidges Mädchen für den Diebstahl züchtigen sah, den er begangen ohne die Wahrheit zu gestehen, wie schwer es ihm werde über diese Untiefe seines Gemüts hinweg zu kommen. - Ich befinde mich eben jetzt in gleichem Fall mit jenem verehrten Selbstbiographen. - Habe ich auch kein Verbrechen zu gestehen, so darf ich doch, will ich wahrhaft bleiben, die große Torheit nicht verschweigen, die ich an demselben Abende beging und die lange Zeit hindurch mich verstörte, j a meinen Verstand in Gefahr setzte. - Ist es aber nicht eben so schwer j a oft noch schwerer eine Torheit zu gestehen als ein Verbrechen? 8
Murr argumentiert hier übrigens nicht ganz textgenau, denn das Mädchen wird auf die Beschuldigung Rousseaus hin entlassen, nicht geschlagen. Murrs Torheit besteht darin, in einer vornehmen Hundegesellschaft Anerkennung für sein künst-
5 6 7 8
Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 44. Vgl. Rousseau: Les Confessions - Œuvres complètes, vol. 1, S. 367-380. Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 95. Ebenda, S. 432.
Biographie, Autobiographie, Fiktion
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lerisches Talent zu suchen und darüber hinaus sich dort in das Windhundfräulein Minona verliebt zu haben - was zugleich eine ins Parodistische verzerrte Anspielung auf Rousseaus hoffnungslose Liebe für eine Dame aus der höheren Gesellschaft, Sophie d'Houdetot, darstellt. Darüber hinaus gibt es Anklänge an Motive aus den Confessions, die auf Nebenfiguren verschoben sind. So begeht nicht Kater Murr selbst, sondern sein Freund, der Pudel Ponto, Mundraub im Hause seines Herrn 9 wie Rousseau bei seinem strengen Lehrherrn. 10 Auch Rousseaus Wahrheitsemphase in den Confessions (»voilà ce que j ' a i fait, ce que j ' a i pensé, ce q u e j e fus. J'ai dit le bien et le mal avec la même franchise. Je n'ai rien tu de mauvais, rien ajouté de bon [...]. Je me suis montré tel q u e j e fus, méprisable et vil quand j e l'ai été, bon, généreux, sublime, quand j e l'ai été«") wird von Kater Murr aufgenommen. Doch durch die Anwendung des hehren Wahrheitsideals auf die sexuellen Triebe eines Tieres und das Ersetzen der emphatischen Sprachformel von Hand und Herz durch den tiergerechten Neologismus von Pfote und Herz wird das Pathos komisch unterlaufen: Des ehrlichen Biographen erste Pflicht ist, aufrichtig zu sein, und sich beileibe nicht selbst zu schonen. Ganz aufrichtig, Pfote aufs Herz, will ich daher gestehen, daß trotz des unsäglichen Eifers mit dem ich mich auf die Künste und Wissenschaften legte, doch oft der Gedanke an die schöne Miesmies, plötzlich in mir aufstieg und mein Studium unterbrach ganz und gar.12
Wer oder was ist jedoch das Objekt der durch Komik implizierten Kritik? Rousseaus Betonung der Rechte des Individuums, vor allem auch der emotionalen und irrationalen Aspekte des Menschen? Rousseaus Wahrheitsstreben? Rousseaus Tendenz zur Selbstgefälligkeit? Oder all die kleinen Seelen, die sich wie der Kater einen zu großen Mantel umhängen? Die autobiographische Modewelle um 1800?13 Hoffmann hat sich immer bemüht, zwischen einem großen originellen Geist und unbegabten Nachahmern zu differenzieren. In seinem Kreislerianum Über einen Ausspruch Sacchini 's, und über den sogenannten Effekt in der Musik von 1814 diskutiert der Erzähler die Wirkung von Gluck und Mozart auf das Musikleben seiner Zeit und kommt zu der folgenden nüchtern-skeptischen Einschätzung:
9 10 11 12 13
Vgl. ebenda, S. 393. Vgl. Rousseau: Les Confessions - Œuvres complètes, vol. 1, S. 34-35. Ebenda, S. 5. Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 237. Vgl. Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert, S. 52-57. Niggl nennt zwischen 1782 und 1795 vier verschiedene Aufrufe und Projekte, die Autobiographien von möglichst vielen verschiedenen Menschen zu sammeln: Karl Philipp Moritz' Aufruf von 1782 fuhrt zu Veröffentlichungen in seinem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Der Aufruf des Königlichen Hofrats und Garnisonsmedikus Johann Gottlieb Fritze von 1790 an seine Freunde, ihr Leben zu beschreiben, wird 1795 in der Deutschen Monatsschrift gedruckt. Herder regt seinen Schüler Johann Georg Müller an, eine Sammlung von Selbstgeständnissen möglichst verschiedener Männer zu veröffentlichen. Schiller veröffentlicht 1790-95 Memoiren vom 12. Jahrhundert bis zur Gegenwart als historisches Quellenmaterial. Vgl. auch Ulrich: Die Entwicklung der deutschen Selbstbiographie.
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Ricarda Schmidt
Jene Wahrheit, daß die Oper in Wort, Handlung und Musik als ein Ganzes erscheinen müsse, sprach Gluck zuerst in seinen Werken deutlich aus; aber welche Wahrheit wird nicht mißverstanden, und veranlaßt so die sonderbarsten Mißgriffe! Welche Meisterwerke erzeugten nicht in blinder Nachahmerei die lächerlichsten Produkte! Dem blöden Auge erscheinen die Werke des hohen Genie's, die es nicht vermochte in einem Brennpunkt aufzufassen, wie ein deformiertes Gemälde, und dieses Gemäldes zerstreute Züge wurden getadelt und nachgeahmt. Göthe's Werther veranlaßte die weinerlichen Empfindeleien jener Zeit; sein Götz von Berlichingen schuf die ungeschlachten, leeren Hämische, aus denen die hohlen Stimmen der biderben Grobheit und des prosaisch tollen Unsinns erklangen. Göthe selbst sagt, (Aus meinem Leben dritter Teil,) die Wirkung jener Werke sei meistens stoffartig gewesen, und so kann man auch behaupten, daß die Wirkung von Glucks und Mozarts Werken, abgesehen von dem Text, in rein musikalischer Hinsicht nur stoffartig war. Auf den Stoff des musikalischen Gebäudes wurde nämlich das Auge gerichtet, und der höhere Geist, dem dieser Stoff dienen mußte, nicht entdeckt. 14
Könnte es sein, daß Kater Murrs komische Selbstüberschätzung - in Analogie zu den Nachahmern Goethes, Glucks und Mozarts - weniger Rousseau direkt, sondern, in einer Triangulierung von Hoffmanns Rousseau-Rezeption, die Oberflächlichkeit seiner Epigonen karikiert, nämlich eine Kultur, die sich in rousseauistischen Phrasen ergeht, in der weder die kleinen autobiographischen Adepten noch ihre Leser die Diskrepanz zwischen sich (bzw. ihnen) und den kulturellen Größen erkennen? Hettner hat in seiner Literaturgeschichte bei praktisch jedem deutschen Autoren der Goethezeit Rousseau-Einfluß konstatiert, doch nur bei Stilling und Moritz eine direkte Verbindung zwischen ihren romanhaften Selbstbiographien und Rousseaus Confessions gezogen. 15 Bereits 1787 wird in Karl Philipp Moritz' Magazin zur Erfahrungsseelenkunde beklagt, »daß Rousseau so viele, freylich sehr unrousseauische Nachahmer gefunden hat«.16 Doch namentlich genannt werden nicht sie, sondern nur die positiv bewerteten Selbstgeständnisse von Basedow, Semler, Jung. Spätere Autobiographieforscher heben ebenfalls hervor, daß Rousseaus Confessions »weithin vorbildlich«17 wirkten, ohne jedoch diese breite Wirkung im einzelnen nachzuweisen. Theodor Klaiber formuliert 1921 als Forschungsdesiderat: »Inwieweit Rousseaus Bekenntnisse im einzelnen auf die deutsche Selbstbiographie der unmittelbaren Folgezeit gewirkt haben, bedarf noch genauer Forschung.«18 Beyer-Fröhlich geht kaum über diesen Stand hinaus, wenn sie 1930 feststellt, daß Rousseaus Bekenntnisse »ein so ungeheures Aufsehen gemacht haben, daß mehrere Generationen ethisch und ästhetisch unter ihrem nicht in jeder Hinsicht günstigen Einfluß stan-
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Hoffmann: Über einen Ausspruch Sachini's, und über den sogenannten Effekt in der Musik - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2/1, S. 441. Vgl. Hettner: Literaturgeschichte der Goethezeit, S. 3 - 4 , 20-23, 90-91, 96, 110, 168, 171, 180-181, 205-206, 209, 216, 217, 224-225, 227-230, 250, 252-255, 263, 288, 292, 314, 326, 331, 3 9 8 , 4 0 1 , 4 0 3 , 543, 547, 564, 566, 567, 569, 573, 582, 588, 591. Pockels: Nachtrag zur Fortsetzung der Revision - In: ΓΝΏΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, 5. Bd., 3. Stück, S. 274. Klaiber: Die deutsche Selbstbiographie, S. 86. Ebenda, S. 87.
Biographie, Autobiographie, Fiktion
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den«, 19 dann aber nur an Salomon Maimons Lebensgeschichte (2 Teile, 17921793) eine an Rousseau gemahnende Eitelkeit im Bericht eigener Fehler anmerkt. 20 In seinem Vergleich von Rousseaus und Goethes Autobiographien weist Martin Sommerfeld 1935 daraufhin, daß Goethe sich bei ihrem Erscheinen von Rousseaus Bekenntnissen tief beeindruckt gezeigt habe, sie aber 30 Jahre später in seiner Autobiographie gar nicht erwähne; Sommerfeld vermutet die Ablehnung der selbstanalytischen Haltung Rousseaus als Grund für Goethes Totschweigen seines Vorgängers. 2 ' Selbst Günter Niggl konstatiert in seinem 1977 veröffentlichten Standardwerk zur Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert nur pauschal den starken »modische[n] Einfluß Rousseaus« 22 , um sich dann auf die Artikulationsformen von Skepsis gegenüber einer öffentlichen psychologischen Selbstenthüllung à la Rousseau zu konzentrieren. 23 Niggl nennt einzig Ulrich Bräkers Lebensgeschichte (1781/85) als im Beichtcharakter ihres Schlußteils »unter dem aktuellen Einfluß von Rousseaus Confessions« stehend. 24 Könnten Hoffmann die oben genannten Autobiographien als Anlaß fur eine karikierende Behandlung gedient haben? Oder die, ihn als Musiker gewiß interessierende, Lebensbeschreibung von Karl Ditters von Dittersdorf? Ein Merkmal, das fast alle diese Autobiographien teilen, ist die außergewöhnliche Begabung des Autobiographen. Durch weitgehend autodidaktisches Studium hebt sie ihn über sein kleinbürgerliches soziales Milieu hinaus und ermöglicht ihm, die Standesgrenzen überschreitend, Kontakt mit den intellektuellen, künstlerischen und politischen Größen seiner Zeit. Diesen Mythos schier unbegrenzter Bildsamkeit und sozialer Mobilität treibt der Murr-Teil durch seine Anwendung auf ein Tier offensichtlich ins Parodistische. Aber mit Ausnahme von Jung-Stillings exzessivem Vorsehungsglauben, der ihn zu einem Erwählten Gottes macht, bezeugt jede dieser Autobiographien zwar Stolz über das Erreichte, doch ein Selbstbewußtsein, das sichtlich nach kritischer Integrität strebt. In Murrs Autobiographie wird dagegen ein Selbstbewußtsein lächerlich gemacht, dessen Anspruch der Realität drastisch widerspricht. Wenn der Kater ausgerechnet unter Berufung auf Rousseau und im faktischen Gegensatz zu Rousseaus Diktum vom positiven Naturzustand danach strebt, seine Katzennatur aufzugeben zugunsten einer ihm nicht angemessenen menschlichen Kultur, ist dies durchaus als Satire auf eine Kultur zu lesen, die beständig die Formel >Natur< im Munde fuhrt. Daß Kater Murr mit den steigenden kulturellen Bedürfnissen sogleich die natürlichen Ausscheidungsbedürfnisse assoziiert, 25 daß sein »musikalisches Talent« ihm aus seinem »innern Trieb«
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Beyer-Fröhlich: Die Entwicklung der deutschen Selbstzeugnisse, S. 150. Vgl. ebenda, S. 196-198. Vgl. Sommerfeld: Jean Jacques Rousseaus Bekenntnisse und Goethes Dichtung und Wahrheit, S. 14 und 17. Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert, S. 105. Vgl. ebenda, S. 104-110, 129-133. Ebenda, S. 85. Vgl. auch Wuthenow: Das erinnerte Ich. Wuthenow sieht Bräker (S. 93) und Jung-Stilling »in gewisse[r] Nähe zu Rousseau« (S. 212). Ebenda, S. 39.
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zu miauen ersichtlich ist,26 daß er seinen Egoismus rechtfertigt mit der Behauptung, »daß es Frevel ist, der Mutter Natur zu widerstreben«, 27 daß aber andererseits die »freie Natur« für ihn »das Dach« ist,28 persifliert eine Kultur, die sich Rousseaus Naturbegriff falschlich aneignet und in Verkennung der Differenzen zwischen Natur und Kultur eine fur die andere ausgibt, mit der Absicht, sich moralisch aufzuwerten. Eine solche Verwendung findet sich nun gerade bei August von Kotzebue und A. W. Iffland, 29 Autoren, die Hoffmann aus der Bamberger Aufführungspraxis gut gekannt hat, aber nicht besonders schätzte. Eine negative Beurteilung Ifflands läßt sich auch aus einer wegwerfenden Bemerkung Kreislers schließen, der, statt einen Grund für seine väterliche Vernachlässigung zu nennen, seinen Freund darauf verweist, daß er »ähnliches in manchem verbrauchten Familienroman, oder in irgend einer Ifflandschen Hauskreuzkomödie nachlesen« 30 könne. Der triefende Edelmut, der Ifflands dramatische Rührstücke heute so ungenießbar macht, charakterisiert auch seine 1798 erschienene Autobiographie Über meine theatralische Laußahn. Die Eitelkeit über die Auffuhrung seines ersten Stückes verbrämt Iffland hinter edlen Gefühlen: »Die schöne Wirkung, viele Menschen für Seelenleiden und Menschenschicksale erwärmt, laut und herzlich erklärt zu sehen, riß mich hin, machte mich unaussprechlich glücklich.« 31 Die Aufnahme seines wohl bekanntesten Schauspiels, Verbrechen aus Ehrsucht, am 9.3.1784 in Mannheim produziert die folgende >edle< Freude in seinem Autor: Mehr als tausend Menschen nach und nach zu Einem Zwecke gestimmt, in Thränen des Wohlwollens für eine gute Sache, allmählich in unwillkürlichen Ausrufungen, endlich schwärmerisch in dem lauten Ausruf, der es bestätigt, daß jedes schöne Gefühl in ihnen erregt sey, zu erblicken - das ist ein herzerhebendes Gefühl. Die meisten Menschen verlassen mit innigem Wohlwollen die Versammlung, bringen es mit sich in ihren häuslichen Zirkel, und verbreiten es auf ihre Angehörigen. Lange noch tönt die Stimmung nach, welche sie in den dicht gedrängten Reihen empfangen haben, und schon vertönt, wird, wenn auch später ähnliche Gefühle an dieser Saite vorüber ziehen, diese nun leichter ergriffen, und antwortet in vollerem Klang. [...] an dem Tage habe ich mir selbst das Gelübde gethan: die Möglichkeit, auf eine Volksversammlung zu wirken, niemals anders als in der Stimmung für das Gute zu gebrauchen. Mit meinem Wissen habe ich dieses Gelübde nicht gebrochen. 32
Kater Murrs Autorstolz streicht seine eigene Gemütstiefe nur ein klein wenig direkter heraus als Iffland. Er gibt der Hoffnung Ausdruck, »daß jeder meiner gütigen Leser die Musterhaftigkeit dieses herrlichen Sonetts, das aus der tiefsten Tiefe meines Gemüts hervorfloß, einsehen, und mich um so mehr bewundern wird,
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Ebenda, S. 54. Ebenda, S. 58. Ebenda, S. 53. Vgl. Iffland: Über meine theatralische Laufbahn. Vgl. auch Kotzebue: Mein literarischer Lebenslauf und Kotzebue: Das merkwürdigste Jahr meines Lebens. Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 109. Iffland: Über meine theatralische Laufbahn, S. 52. Ebenda, S. 55.
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wenn ich versichere, daß es zu den ersten gehört, die ich überhaupt verfertigt habe.«33 Auch er appelliert an die empfindsame Tugendhaftigkeit seiner Rezipienten, nur buchstabiert er deren ersehnte Konsequenz deutlicher aus als Iffland: » - Leser! - Jünglinge, Männer, Frauen unter deren Pelz ein fühlend Herz schlägt, die ihr Sinn habt fur Tugend - die ihr die süßen Bande erkennet, womit uns die Natur umschlingt, ihr werdet mich verstehen und - mich lieben!« 34 Die Propagierung edler Gesinnung und heroischer Taten in seinen Schriften hat überdies für den Kater (und wohl auch andere laut posaunende Autoren) eine angenehme Nebenwirkung: daß nämlich, »da ich so kräftig gesprochen, es wohl keinem einfallen konnte, von mir zu verlangen, daß ich selbst ein Beispiel des von mir ausgesprochenen Heroismus im Handeln geben solle.«35 Ifflands zahlreiche Gelegenheitsstücke zur Krönung, Vermählung oder zum Jubiläum regierender Fürsten und vor allem seine gefühlvolle Schilderung der Wirkung eines seiner Stücke auf die darin geehrte pfalzgräfliche Familie sind noch besonders hervorzuheben: Die jungen Fürstinnen küßten die Hand ihrer Großtante, welche in Thränen schwamm - laut weinend umarmten sich die fürstlichen Brüder - der Jubel erneuerte sich - die Vorstellung mußte innehalten und die Gefühle des Volkes walten lassen. [...] Das Stück endete im Jauchzen des Volks, welches auf den Vorplätzen, auf den Treppen des Hauses und auf dem Theater wiederhallte. Die Fürsten umarmten ihre Gattinnen öffentlich und herzlich, und huldigten ihrer Großtante, welche sie als Mutter betrachteten. Diese führte die Pfalzgräfin dicht an die Gallerie der Loge; der schöne Engel verneigte sich in Anmuth, Anspruchslosigkeit und Wahrheit, tief vor dem Volke, und wurde im Jubelgeschrey zur beglückten Mutter der Pfalzgrafen eingesegnet; zu ihrer Seite streckte der gute Maximilian seine Arme herab, sah mit Augen, die von Thränen schimmerten, über die ganze Versammlung, als möchte er jede aufgehobene Hand in die seine fassen, dem Volke danken, und für seine Zukunft der Menschheit huldigen zu ihrem Dienst - Schloß seine Gattin in die Arme, und wurde nun von der Familie umgeben. 36
Hierin läßt sich unschwer die Vorlage erkennen, die im mißglückten Fest am Anfang von Kater Murr persifliert wird. Denn in diesem Fest wird wort-wörtlich das unterste zuoberst gekehrt und so die angestrebte Wirkung verfehlt. Eine Feuerlilie fällt dem Fürsten auf die Nase und überstäubt sein Gesicht wie mit Schminke. Bei der Theaterauffuhrung zu Ehren des Namensfestes der Fürstin sieht er daher wie ein Operntyrann stets zornig aus, so daß die rührendsten Reden, die zartesten Situationen, welche häusliches Glück auf dem Throne allegorisch darstellten, rein verloren schienen; Schauspieler und Zuschauer gerieten darüber in nicht geringe Verlegenheit. Ja selbst, wenn der Fürst bei den Stellen, die er sich zu dem Behuf in dem Exemplar das er in der Hand hielt, rot angestrichen, der Fürstin Hand küßte und mit dem Tuch eine Träne von dem Auge wegdrückte; schien es in verbissenem
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Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 91. Ebenda, S. 53. Ebenda, S. 96. Iffland: Über meine theatralische Laufbahn, S. 66-67.
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Ingrimm zu geschehen; so daß die Kammerherrn, die diensttuend ihm zur Seite standen sich zuflüsterten: O Jesus, was ist unserm gnädigsten Herrn!37
In Kotzebues bereits 1796 (im Alter von 35 Jahren) veröffentlichtem Literärischen Lebenslauf lassen sich ebenfalls zahlreiche Aspekte finden, die im MurrStrang durch die Anwendung auf ein Tier noch die schmeichelhafte Lüge und unfreiwillige Lächerlichkeit von Kotzebues Autobiographie steigern. Kotzebue zitiert (wie Murr) Rousseau als sein verehrtes Muster38 und kultiviert einen pompösen, selbstgefälligen Stil, voll empfindsamen Pathos. So erinnert er sich an seine »ersten Thränen der Rührung« 39 , während Murr sich an sein erstes Sehen erinnert.40 Kotzebue behauptet, den »Geschmack am Lesen fast mit der Muttermilch«41 eingesogen zu haben und bezeichnet Schreiben als seine Natur.42 Von da ist es nur ein ganz kleiner Schritt zu Murrs »angeborene[m] Hang zur höhern Kultur«43. Kotzebue fuhrt, wie Kater Murr, von ersten Dichtversuchen als Sechsjähriger44 bis zur Liste seiner neuesten Veröffentlichungen 45 seine sämtlichen veröffentlichten und unveröffentlichten Werke auf. Einen ernst gemeinten Liebesbrief des 7jährigen Kotzebue an seine künftige Tante liest seine stolze Mutter ihren Gästen vor, die darüber in schallendes Gelächter ausbrechen 46 - ein Gelächter, das bei Meister Abraham widerklingt, als ihm der Professor der Ästhetik Murrs ebenfall ernst gemeintes Sonett »Sehnsucht nach dem Höheren« vorliest.47 Beide Autoren wohnen dieser Lesung bei und sind in ihrem Stolz durch die Reaktion der Hörer verletzt. Kotzebue rechtfertigt sich am Ende fur das Erwähnen von Kleinigkeiten: Den Vorwurf, daß ich unbedeutende Kleinigkeiten geschrieben, und, wie man Marivaux Schuld giebt, mich beschäftigt habe, à péser des riens dans des balances de toile d'araignée, kann ich freylich nicht ganz entkräften: aber außerdem, daß es mir für den Beobachter immer nicht uninteressant scheint, zu sehen, wie und wodurch ein Mensch das wurde was er ist, es sey nun wenig oder viel; weiß ja auch jeder Leser, der dieses Buch kauft, schon im Voraus was er zu erwarten hat; es sind Kinder meiner Laune, und wenn ich also den Titel nicht Lügen strafen will, so darf ich mich nach keiner fremden Laune richten.48
Kater Murr stellt eine ähnliche Formulierung an den Anfang seiner Autobiographie, doch mit dem Unterschied, daß er Geistesgröße als Rechtfertigung angibt die Kotzebue trotz seiner expliziten Abwehr wohl unbewußt gemeint hat. Kater 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48
Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 31. Vgl. Kotzebue: Mein literarischer Lebenslauf, S. 125-126. Ebenda, S. 131. Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 21. Kotzebue: Mein literarischer Lebenslauf, S. 130. Vgl. ebenda, S. 207. Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 39. Vgl. Kotzebue: Mein literarischer Lebenslauf, S. 137. Vgl. ebenda, S. 241. Vgl. ebenda, S. 139-140. Vgl. Hoffmann: Kater Mun - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 90-91. Kotzebue: Mein literarischer Lebenslauf, S. 242. Hervorhebung im Original.
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Murr scheint Kotzebues »hanebüchene Benevolenz gegenüber dem Menschen, de[n] Ausverkauf des humanitären Vokabulars, die zusammen machen, daß selbst aus dem Leben gegriffene Stücke wie in Szene gesetzte Allegorien des Bürgerlieben, Seelenguten, Erdenschönen wirken«, 49 zu persiflieren, wenn es heißt: Es ist nehmlich wohl höchst merkwürdig und lehrreich, wenn ein großer Geist in einer Autobiographie über alles, was sich mit ihm in seiner Jugend begab, sollte es auch noch so unbedeutend scheinen, (sich) recht umständlich ausläßt. Kann aber auch wohl einem hohen Genius jemals unbedeutendes begegnen? Alles, was er in seiner Knabenzeit unternahm oder nicht unternahm, ist von der höchsten Wichtigkeit, und verbreitet helles Licht über den tiefem Sinn, über die eigentliche Tendenz seiner unsterblichen Werke. 50
Selbst die Vermischung von Fremdem und Eigenem, die Kater Murrs Autobiographie bei ihrer Veröffentlichung erfahrt, hat Kotzebue selbst erlitten. Er berichtet, wie bei einer Wiederauflage seiner Erzählungen der Verleger »einige meiner eigenen Gedichte weggelassen, dagegen aber nicht weniger als hundert drey und fünfzig Seiten mir völlig unbekannte Dinge hinzu gefügt hat.«51 Kotzebue gibt die folgende humoristische Erklärung für dieses Geschehen: Nach langem Hin- und Hersinnen, erkläre ich mir das so: ein großer Theil der Auflage meiner mittelmäßigen Erzählungen blieb Herrn Dyk auf dem Halse; mit einem andern Buche, dessen Titel ich nicht kenne, gieng es ihm vermuthlich eben so. Da nun mein Name, viele Jahre nachher, eine Art Celebrität erlangte, so hielt er diesen Zeitpunct für den bequemsten, nicht allein meinen jugendlichen Versuch los zu werden, sondern auch bey dieser Gelegenheit noch einen andern Ladenhüter hinzuzufügen. Flugs schmolz er seine beyden Ladenhüter in einen zusammen, setzte meinen Namen davor, und ließ sie so in die Welt laufen. Ich bewundere diese mercantilische Speculation; aber das Verfahren selbst kann ich unmöglich bewundern. 52
Hoffmann dagegen hat dies von Kotzebue beklagte Verfahren offensichtlich inspiriert, aus einer merkantilistischen eine ästhetische Spekulation zu schaffen. Kater Murr bezieht sich wahrscheinlich auch auf einen autobiographischen Bericht Kotzebues von 1801, der seinerzeit ein internationaler Bestseller war und eine lebhafte Auseinandersetzung in den Feuilletons hervorrief. Trotz seiner kafkaesken Verhaftung und Verbannung nach Sibirien, ohne daß er irgendeines Verbrechens angeklagt wurde, trotz des Eigennutzes so vieler Menschen, die ihm begegneten, hat Kotzebue sich seinen rousseauschen Glauben an die gute, edle Natur des Menschen ungebrochen bewahrt und ruft pathetisch aus: »O, wie bedaure ich die armen schwarzgalligen Philosophen, die der menschlichen Natur eine angeborne Verderbtheit andichten.« 53 Manche Sätze dieses Berichts lesen sich in ihrem exzessiven Selbstwertgefühl durchaus als unfreiwillige Selbstpersiflage so, als
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Promies: Nachwort. - In: Kotzebue: Das merkwürdigste Jahr meines Lebens, S. 302. Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 38 Kotzebue: Mein literarischer Lebenslauf, S. 203. Ebenda, S. 204-205. Kotzebue: Das merkwürdigste Jahr meines Lebens, S. 195.
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kämen sie aus Kater Murr: »Man muß wie ich immer den feinsten, ausgesuchtesten Umgang genossen haben, um zu fühlen, daß das Unangenehme meiner Lage durch eine solche Gesellschaft einen nicht geringen Zuwachs erhielt.« 54 Wenn Kotzebue seine eigene »Freigebigkeit, die meinem Hauswirte selten schien, die aber bloß eine meiner Gewohnheitstugenden ist«,55 lobt, dann ist das auf einer Ebene mit Murrs »[m]ein Herz ist zu gut, ich bin ein zu empfindsamer Kater«, 56 und in Murrs Behauptung, sich »überall selbst, als, freilich unerreichbares, Muster, als Ideal der Vollkommenheit, hinstellen« 57 zu können, ist Kotzebues schmeichelhaftes Selbstgefühl nur leicht übertrieben. Daß Kotzebue selbst in den entferntesten Winkeln Sibiriens, in Tobolsk und Kurgan, auf Leser seiner Werke trifft oder zumindest auf Menschen, die von ihm gehört haben, 58 wird in Murrs Autobiographie lediglich etwas deutlicher als Murrs Bedürfnis ausgedrückt, »davon [zu] reden, was mir das Höchste im Leben war, nehmlich von mir selbst und meinen Werken«. 59 Hoffmann mag auch durch manche autobiographische Texte im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde zu seiner komischen Katerautobiographie inspiriert worden sein. Zu nennen wären hier zahlreiche nicht besonders bedeutende Kindheitserinnerungen; 60 ein Professor Wähner aus Göttingen, der im Schlafe zwei griechische Verse gemacht hat, die sich als besser erweisen als alle Versuche, im Wachen zu schreiben (vgl. dazu die weiter unten diskutierte doppelte Episode des Komponierens im Traum in Kater Murr)·, sowie die Rousseau im Titel direkt allud i e r e n d e n - A - J - K Bekenntniße, die ausschließlich »Ehrgeitz, Sucht nach Beifall, Eitelkeit«61 thematisieren - also in ernster, direkter Form genau das behandeln, was durch die Projektion auf ein Tier in Kater Murr komisch und indirekt gestaltet wird. Daß Hoffmann das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als Inspiration für seinen Roman genutzt hat, geht auch aus der Verwendung des Motivs des musikalischen Ohrwurms beim jungen Kreisler hervor, das C. F. Pockels im Magazin psychologisch erläutert. 62 54 55 56 57 58 59 60
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Ebenda, S. 113. Ebenda, S. 140. Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 197. Ebenda, S. 197. Vgl. Kotzebue: Das merkwürdigste Jahr meines Lebens, S. 136, 142, 166, 172, 196. Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 76. Vgl. Erinnerungen, aus den ersten Jahren der Kindheit. - In: ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Bd. 3, S. 223-226; Erinnerungen aus den frühesten Jahren der Kindheit, von K. St. - In: Ebenda, Bd. 8, S. 63-68; Erinnerungen aus den Jahren der Kindheit. - In: Ebenda, S. 166-173. - A - J - K - B e k e n n t n i ß e . - In: Ebenda, Bd. 5, S. 62. Hervorhebung im Original. In diesem Beitrag wird auch die Funktion von Frauen als Beifallspender und die Abneigung gegen gelehrte Frauen eingestanden (S. 64-65), die Hoffmann im Sandmann an Nathanael ironisch vorfuhrt. Vgl. Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 111 : Kreisler geht das erbärmliche Lied »Ich liebte nur Ismenen« nicht aus dem Kopf. Vgl. Pockels: Fortsetzung der Revision der ersten drei Bände dieses Magazins - In: ΓΝΏΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, Bd. 5, S. 195-196: »Es geschieht nämlich oft, daß uns ein gewisser Ausdruck, ein gewisser Ton der Stimme gleichsam so fest in der Seele sitzt, daß wir ihn mit
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Daß nicht Rousseau selbst, sondern seine unverständigen Nachahmer das Hauptziel der Karikatur in Murrs Autobiographie sind, erweist sich auch an jenen Anklängen an Rousseau, die dem Geist Rousseaus diametral entgegenstehen. Bei Kater Murrs Beschäftigung mit dem sprachgeschichtlichen Modethema seiner Zeit, nämlich dem Ursprung der Sprache, klingt für den gebildeten Leser Anfang des 19. Jahrhunderts neben Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache von 177263 der Titel von Rousseaus Anfang der 60er Jahre des 18. Jahrhunderts verfaßtem, doch erst posthum 1781 veröffentlichtem, Essai sur l'origine des langues64 an. Wenn Kater Murr in seinem Werk »Gedanke und Ahnung, oder Kater und Hund« 65 beweist, »daß da Sprache überhaupt nur symbolische Darstellung des Naturprinzips in der Gestaltung des Lauts sei, mithin es nur eine Sprache geben könne, auch das kätzische und hündische in der besonderen Formung des pudelischen, Zweige eines Baumes wären«,66 überträgt er Herders Gedanken der menschlichen Sprachentwicklung auf die der Tiere. Dabei ignoriert er aber bezeichnenderweise die für einen gebildeten Kater erniedrigende Differenzierung Rousseaus zwischen den natürlichen Sprachen der Tiere, die sich nicht verändern, und den erworbenen konventionellen Sprachen der Menschen, die der Veränderung unterliegen und daher Fortschritt ermöglichen. 67 Hier erweist sich also weniger Rousseaus Denken als Murrs verzerrender Eklektizismus als Ziel der Parodie. Murrs eklektische autodidaktische Bildung knüpft an den jungen Rousseau an, der seine Wahllosigkeit bei der Lektüre herausstellt: »La Tribu, fameuse loueuse de livres, m'en fournissoit de toute espéce. Bons et mauvais, tout passoit; je ne choisissois point : je lisois tout avec une égale avidité.«68 Dies wird durch die wortwörtlich blinde Wahl des Katers und seine sich selbst entlarvende großspurige Ignoranz ins Parodistische gesteigert:
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aller Mühe nicht wieder wegbringen können, - ja, daß er durch das Bestreben, ihn zu entfernen, oft noch stärker in uns tönt. Die Ursach von dieser innern starken und bleibenden Impression liegt, wie im erzählten Fall, nicht immer an der Wichtigkeit und Größe des Gegenstandes, oder Gedankens, sondern sehr oft wohl darin, daß bei der allerersten Impression die Seele ganz müßig und unthätig war, undjene, da sie von keinen Nebenideen verwischt, oder auch geschwächt wurde, desto tiefer in unser Gehirn eindringen konnte. [...] So habe ich mehrere auch unmusicalische Leute gekannt, welche oft, ohne daran zu denken, die Claviermelodien der Asmusischen und Schulzischen Volkslieder sangen, und bey dem ernsthaftesten Nachdenken in die Melodie derselben wie halb Begeisterte einfielen.« Hervorhebung im Original. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache - Werke in zehn Bänden, Bd. 1. Vgl. zur Entwicklung der sprachlichen Vielfalt aus einem Stamm besonders S. 791-810. Vgl. Rousseau: Les Confessions - Œuvres complètes, vol. 1, S. 560 und Rousseau: Essai sur l'origine des langues - Œuvres complètes, vol. 5. Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 44. Ebenda, S. 73. Hervorhebung im Original. Vgl. Rousseau: Essai sur l'origine des langues - Œuvres complètes, vol. 5, S. 379: »[Les langues des animaux] sont naturelles, elles ne sont pas acquises; les animaux qui les parlent les ont en naissant, ils les ont tous, et partout la même: ils n'en changent point, ils n'y font pas le moindre progrès. La langue de convention n'appartient qu'à l'homme. Voilà pourquoi l'homme fait des progrès soit en bien soit en mal, et pourquoi les animaux n'en font point.« Rousseau: Les Confessions - Œuvres complètes, vol. 1, S. 39.
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Zur Belehrung der hoffnungsvollen Kateijugend, kann ich nicht unbemerkt lassen, daß ich, wollte ich studieren, mit zugedrückten Augen in die Bibliothek meines Meisters sprang, und dann das Buch, was ich gekrallt, herauszupfte und durchlas, mochte es einen Inhalt haben wie es wollte. Durch diese Art zu studieren gewann mein Geist diejenige Biegsamkeit und Mannigfaltigkeit, mein Wissen den bunten glänzenden Reichtum, den die Nachwelt an mir bewundern wird. Der Bücher, die ich in dieser Periode des dichterischen Schwermuts hintereinander las, will ich hier nicht erwähnen, teils, weil sich eine schicklichere Stelle vielleicht finden wird, teils, weil ich auch die Titel davon vergessen, und dies wieder gewissermaßen darum, weil ich die Titel meistenteils nicht gelesen, und also nie gewußt habe."
Kater Murr beläßt jedoch hier ein Leseverhalten in naiver Selbstzufriedenheit, das später bei Rousseau von einer pubertären Gier zu einer selbstkritischen, bewußten Lernmethode im Erwachsenenalter entwickelt wurde. Rousseau schrieb: J'avois trouvé quelques livres dans la chambre que j'occupois: le Spectateur, Puffendorf, St. Evremond, la Henriade. Quoique je n'eusse plus mon ancienne fureur de lecture, par désœuvrement je lisois un peu de tout cela.™ Ne rien savoir à près de vingt-cinq ans et vouloir tout apprendre, c'est s'engager à bien mettre le tems à profit. [...] Il faut queje ne sois pas né pour l'étude; car une longue application me fatigue à tel point qu'il m'est impossible de m'occuper demi-heure de suite avec force du même sujet [...]. Mais que des sujets différens se succedent, même sans interruption, l'un me delasse de l'autre, et sans avoir besoin de relâche je les suis plus aisement. Je mis à profit cette observation dans mon plan d'études, et je les entremêlai tellement que je m'occupois tout le jour et ne me fatiguois jamais.71
Murr hat diese Methode Rousseaus offensichtlich nie begriffen. Da er seinen Rousseau nur oberflächlich gelesen hat und das, was bei Rousseau ein pubertäres Durchgangsstadium war, stolz zum Selbstzweck erhebt, ist offensichtlich, daß an dieser Stelle nur er selbst - bzw. all die kleinen Geister wie er, die einen großen Geist so sehr mißverstehen - das Ziel der Kritik ist, nicht etwa Rousseau. Wenn man aber nur die Transformationen im Murr-Teil des Doppelromans untersuchte, die aus einem ernsten Hypotext durch Anwendung eines hohen Stils auf einen niedrigen Gegenstand einen komischen Hypertext machen, könnte man trotz der zum Teil eindeutigen Differenz zwischen Kater Murr und Rousseau einerseits und der Karikatur des trivialisierten post-rousseauistischen Diskurses (vor allem der Rousseau-Epigonen Kotzebue und Iffland) andererseits dennoch auf den Gedanken verfallen, Hoffmanns Roman lege es darauf an, Rousseau ad absurdum zu fuhren. Ich denke jedoch, daß dies eine allzu einfache Sicht auf Hoffmanns Verhältnis zu Rousseau ist. Denn obwohl Anfang des 19. Jahrhunderts die RousseauBegeisterung in Deutschland abgeflaut war, gibt es zwischen Rousseau und Hoffmann einige wichtige geteilte Überzeugungen und Verfahrensweisen. Wie Klein Zaches deutlich macht, teilte Hoffmann Rousseaus Zweifel an den Segnungen des aufgeklärten Absolutismus und seinen erzieherischen und wirtschaftlichen Pro69 70
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Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 70. Rousseau: Les Confessions - Œuvres complètes, vol. 1, S. 110-11. Hervorhebungen im Original. Ebenda, S. 234-235.
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grammen zur moralischen Verbesserung der Menschen. 72 Sowohl Rousseau als auch Hoffmann arbeiten mit dem Mythos des goldenen Zeitalters als einer Abstraktion, die - obwohl sie keiner Realität entspricht - dennoch eine richtungweisende Funktion in der Kritik des Status quo hat. 73 A m Beispiel von Hoffmanns Rekurs auf Rousseau in seinem unvollendeten Roman läßt sich m. E. auch grundsätzlich die Fragwürdigkeit von Tendenzen in der Hoffmann-Forschung demonstrieren, von der ironischen Behandlung einzelner Motive eines Intertextes auf Hoffmanns absoluten Bruch mit dem Autor oder der Tradition, in der der jeweilige Intertext steht, zu schließen. Denn was sich allein aus dem Murr-Teil ablesen läßt, ist primär jenes »entschiedene Gefühl des Ungehörigen« 74 , das sich als »schadenfrohe Verspottung« 75 artikuliert, die der Biograph des Kreisler-Teils Abraham Liscov in dessen jüngeren Jahren nachsagt. Selbst wenn man primär Rousseaus Epigonen, und nicht Rousseau selbst als Objekt der Verspottung sieht, ergibt sich daraus aber, fur sich genommen, noch nicht der von Hoffmann so hoch geschätzte Humor, nämlich »jene seltne wunderbare Stimmung des Gemüts, die aus der tieferen Anschauung des Lebens in all' seinen Bedingnissen, aus dem Kampf der feindlichsten Prinzipe sich erzeugt«. 76 Ich gehe von der Vermutung aus, daß Hoffmann nicht einen Text 30 mal liest und sich mit ihm identifiziert (vgl. Hoffmanns Tagebucheintrag vom 13.2.1804: »Ich lese Rousseaus >Bekenntnisse< vielleicht zum 30sten mahl - ich finde mich ihm in manchem ähnlich - Auch mir verwirren sich die Gedanken, wenn es darauf ankomt, Gefühle in Worte zu fassen! - ich bin sonderbar bewegt!« 77 ), nur um ihn dann der Lächerlichkeit preiszugeben und sich grundsätzlich von ihm zu distanzieren oder auch nur, um seine Epigonen lächerlich zu machen. Um also das Moment der Faszination und Identifikation, das Rousseau für Hoffmann darstellte, zu erforschen, will ich mich hier besonders mit dem Kreisler-Teil beschäftigen. 78 Denn um aus einem ernsten Hypotext nicht einfach eine Parodie, sondern einen ebenfalls ernst gemeinten, wenn auch humorvollen Hypertext zu machen, müssen dessen Elemente in einen ästhetisch neuen Kontext gestellt werden, wie es hier in der fiktiven Biographie geschieht. Ich werde hier zum einen auf die Rousseau nachgebildeten Lebensumstände, Charaktereigenschaften und Erfahrungen Kreislers abheben, zum anderen auf die Umsetzung von Rousseaus zentralen Schreibintentionen (Wahrheit und Rechtfertigung des Subjekts) in eine andere Form. Darüber hinaus will ich dann skizzieren, wie in potenzierter Reflexion Rousseaui-
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Vgl. Hoffmann: Klein Zaches genannt Zinnober - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 531-649. Vgl. diesen Mythos bei Hoffmann in: Der goldene Topf - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2/1; Klein Zaches - ebenda, Bd. 3, bes. S. 542-543; Prinzessin Brambilla - ebenda, S. 767-912. Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 129. Ebenda, S. 129. Ebenda, S. 129. Hoffmann: Tagebücher, S. 73. Wie weitverbreitet eine identifikatorische Rousseau-Rezeption um 1800 war, zeigt Hentschel: ...da wallfahrte ich hin, oft mit der neuen Héloïse in der Tasche...
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stische Themen, Motive und Strukturen im Murr- und im Kreisler-Teil aufeinander bezogen sind. Die Forschung ist sich einig, daß Hoffmann Teile von sich selbst in die Kreisler-Gestalt des Romans projiziert hat.79 Meine These ist, daß dabei Rousseaus Confessions - mit ihrem epochemachenden präromantischen Anspruch auf universale Geltung von Individualität, die einzig durch das Gefühl, nicht durch gesellschaftliche Privilegien oder religiöse Rechtfertigung legitimiert ist80 - als Medium der Identifikation und der Identitätskonstitution fungiert haben. Es handelt sich also auch hier wieder um eine Triangulierung von Hoffmanns Rousseau-Bezug, die die Komplexität von Hoffmanns literarischem Verfahren charakterisiert. In einer Mythisierung von Hoffmanns eigener Biographie sind Elemente der fiktionalen Kreisler-Biographie dem Paradigma Rousseaus nachgebildet. Dies zeigt sich gleich bei seinem ersten Erscheinen in Sieghartsweiler; denn Kreisler kommt mit dick bestäubten Schuhen nach einem langen Fußmarsch an, dabei an Rousseaus häufige Fußwanderungen gemahnend. 81 Zunächst soll auf einige Gemeinsamkeiten in den Lebensumständen verwiesen werden. Rousseau, Hoffmann und Kreisler sind alle drei bei nur einem Elternteil aufgewachsen. Ihr tiefes Interesse für Musik geht auf frühkindliche Eindrücke zurück, die eine musikalische Tante geprägt hat. Rousseaus Tante Suson sang Lieder, an die sich noch der Erwachsene mit großer Rührung erinnert. 82 Kreislers Tante Sophie (genannt Tante Füßchen) war Lautenistin, 83 deren Tonzauber der kleine Johannes, »ein Kind von noch nicht drei Jahren« »in begierigen Zügen einschlürfte«. 84 Hoffmann hatte auch eine Tante, die starb, als er drei Jahre alt war. Sie wird in der Forschung gemeinhin als das Urbild von Kreislers Tante Füßchen gesehen. 85 Allerdings war es nicht Hoffmanns Tante Sophie, die starb, sondern die jüngere Schwester seiner Mutter, Charlotte Wilhelmine Doerffer. Sowohl Rousseau als auch Kreisler und Hoffmann wurden der Obhut von Onkeln übergeben: Rousseaus Vater ließ ihn als 10jährigen in der Vormundschaft seines Onkels Bernard zurück, der ihn zusammen mit seinem eigenen Sohn beim
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Vgl. Steinecke: Kommentar zu Lebens-Ansichten des Katers Murr. - In: Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 927-932. Steinecke nennt neben Hoffmanns Selbstprojektion die folgenden literarischen Vorbilder für Kreisler: Rameaus Neffe, Shakespeares Narren und Melancholiker Jacques, Probstein und Hamlet (vgl. S. 932). Vgl. Holdenried: Autobiographie, S. 149. Die divergierenden Einschätzungen der Romantik werden in der Sekundärliteratur auch auf Rousseau angewandt. Vgl. die pejorative Identifizierung Rousseaus mit primitivistischen romantischen Tendenzen, denen kritische Rationalität und Differenzierung abgehe, bei Babbitt: Rousseau and Romanticism, S. 77-80 und die Identifizierung von Romantik und Moderne im Sinne einer Antizipation moderner Identitätskonzepte als fiktional konstruierte bei Williams: Rousseau and Romantic Autobiography, S. 3. Keine dieser beiden Monographien untersucht Rousseaus Wirkung auf Autobiographien oder fiktionale Prosa der Romantik. Vgl. Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 65 und 81, 85-86. Vgl. Rousseau: Les Confessions - Œuvres complètes, vol. 1, S. 11-12. Vgl. Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 103-104. Ebenda, S. 103. Vgl. Safranski: E. T. A. Hoffmann, S. 23; Harich: E. T. A. Hoffmann, Bd. 1, S. 19.
Biographie, Autobiographie, Fiktion
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Pfarrer Lambercier in Kost gab. 86 Hoffmanns Vater nahm nach der Scheidung seinen ältesten Sohn mit sich, während er den damals erst 2jährigen Ernst Theodor Wilhelm seiner Frau überließ, die ihn im Hause ihrer Mutter aufzog, in dem der Onkel Otto Wilhelm Doerffer mehr schlecht als recht Vaterstelle vertrat.87 Kreisler verweist statt einer Erklärung fiir das Verhalten seines Vaters auf die Literatur: Weshalb aber mein Vater mich ganz dem Bruder meiner Mutter überließ, oder überlassen mußte, darf ich dir nicht sagen, da du ähnliches in manchem verbrauchten Familienroman, oder in irgendeiner Ifflandschen Hauskreuzkomödie nachlesen kannst. Es genügt, dir zu sagen, daß, wenn ich meine Knaben-ja einen guten Teil meiner Jünglingsjahre, im trostlosen Einerlei verlebte, dies wohl eben dem Umstände zuzuschreiben, daß ich Elternlos war. Der schlechte Vater ist noch immer viel besser, als jeder gute Erzieher, mein' ich, und mir schauert die Haut, wenn Eltem in lieblosem Unverstände ihre Kinder von sich lassen und verweisen in diese, jene Erziehungsanstalt, wo die Armen ohne Rücksicht auf ihre Individualität, die j a niemanden anders als eben den Eltern recht klar aufgehen kann, nach bestimmter Norm zugeschnitten und appretiert werden. 88
Mit diesem Urteil wird implizit zugleich das Verhalten des erwachsenen Rousseau kritisiert, der bekanntlich all seine fünf Kinder in Findelhäuser gab. Rousseau, Hoffmann und Kreisler haben in frühen Jahren eine Beziehung mit einer älteren Frau gehabt, die ihr Leben geprägt hat. 89 Alle drei haben beruflich keinen geraden Weg genommen, sondern sind erst spät und auf einem professionellen und geographischen Irrweg zur Entfaltung ihres künstlerischen Talentes gekommen. Alle drei haben an Feindseligkeit und Intrigen von vermeintlichen Freunden sowie an Verfolgung durch Institutionen gelitten. Rousseau glaubt, das Opfer von Intrigen früherer Freunde und Gönner zu sein, und gegen Kreisler intrigiert tatsächlich eine frühere Gönnerin und Freundin. 90 Hoffmann hat sich besonders in seiner Bamberger Zeit sowohl von seinem Konzertmeister Dittmayer als auch von den Familien seiner Gesangsschülerinnen an den Rand gedrängt gesehen.91 Sowohl Rousseau als auch Kreisler fehlt Unterwürfigkeit im Verhalten sozial Höherstehenden gegenüber. Sie erheben einen Anspruch auf Gleichheit auf intellektueller und moralischer Ebene, die ihre auf Standesunterschiede eingeschworene Gesellschaft nicht zugesteht. Bei Rousseau artikuliert sich sein Tabubruch primär schriftlich. Er schreibt Briefe von atemberaubender Arroganz an die höheren
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Vgl. Rousseau: Les Confessions - Œuvres complètes, vol. 1, S. 12. Vgl. Safranski: E. T. A. Hoffmann, S. 15-20. Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 109-110. Vgl. Rousseau: Les Confessions - Œuvres complètes, vol. 1, S. 48; vgl. auch Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 81-82, 133; Safranski: Ε. T. A. Hoffmann, S. 85-96; Harich: Ε. T. A. Hoffmann, Bd. 1, S. 46-48; Hoffmann: Briefe, Bd. 1, S. 68, 75-77. Vgl. Rousseau: Les Confessions - Œuvres complètes, vol. 1, S. 491 und Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 77-97, 270-280, 311-312. Vgl. Safranski: E. T. A. Hoffmann, S. 226 und 230; Hoffmann: Tagebücher, S. 95; Hoffmann: Briefe, Bd. 1, S. 255-259, 283-288, 396-397.
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Kreise der Gesellschaft. 92 Kreisler drückt sich vor allem mimisch eindrucksvoll aus: Er verunsichert den Fürsten Irenäus, indem er ihm entgegen der Etikette gerade ins Auge blickt, und er quittiert den herablassenden Gruß des Prinzen Hektor mit einer so ausgesucht tiefen Verbeugung, daß die Höflichkeit zur Karikatur wird. 93 Hoffmanns Frechheit, die aristokratischen Größen Posens zeichnerisch zu karikieren, hat ihn seine Stelle gekostet und seine Verbannung in die Provinz zur Folge gehabt. 94 Die gesellschaftliche Randstellung des Künstlers hat Hoffmann in den Fantasiestücken ironisch behandelt. 95 Rousseau und Kreisler ist ferner ein komplexer, widersprüchlicher Charakter gemeinsam, der in einer Diskrepanz zwischen ihrer Wirkung auf andere einerseits und ihren wahren Fähigkeiten und ihrem inneren Wesen andererseits resultiert. Sie stellen sich gegen Korruption, und Wahrhaftigkeit gilt ihnen mehr als Höflichkeit. Dies wirkt oft als Schroffheit auf andere, die ihre andere Seite, ihre Empfindungstiefe, nicht wahrnehmen können. Rousseau konstatiert an sich einen freien, republikanischen Geist, Stolz, Unbeugsamkeit, Mut, Kraft. 96 Andererseits kann er Zärtlichkeiten nicht widerstehen, 97 ist weich, schwach und schlaff, 98 für Freundschaft höchst empfanglich. Er vereint schmutzigen Geiz mit Verachtung des Geldes,99 Dummheit und Dreistigkeit, 100 feuriges Temperament und langsames Denken,' 01 tugendtrunkene, beißende Sarkasmen mit Nachgiebigkeit und Schüchternheit,102 leichte Erregbarkeit mit Zaghaftigkeit. 103 Sogar in seiner Selbsteinschätzung spiegelt sich eine solche Gespaltenheit; denn während Rousseau einerseits selbst wiederholt die Widersprüchlichkeit seines Charakters konstatiert, hebt er andererseits auf eine Einheit seines Charakters ab, die nur scheinbar 104 widersprüchlich ist oder gar von seinen Feinden böswillig und falschlich als widersprüchlich verschrien wird.105 92
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Vgl. Rousseau: Les Confessions - Œuvres complètes, vol. 1, S. 524. (Brief vom 8.12.1759 an Frau von Luxembourg) Vgl. Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 146 und 179. Vgl. Safranski: E. T. A. Hoffmann, S. 142-146. Vgl. bes. Hoffmann: Johannes Kreisler's, des Kapellmeisters musikalische Leiden - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2/1. Vgl. auch Hoffmann: Gedanken über den hohen Wert der Musik - ebenda, S. 45-52. Vgl. Rousseau: Les Confessions - Œuvres complètes, vol. 1, S. 9 und 12; auch S. 647. Vgl. auch Munteano: Les »Contradictions« de J.-J. Rousseau. - In: Jean Jacques Rousseau et son œuvre, S. 95-112. Vgl. Rousseau: Les Confessions - Œuvres complètes, vol. 1, S. 654. Vgl. ebenda, S. 12. Vgl. ebenda, S. 37. Vgl. ebenda, S. 38. Vgl. ebenda, S. 113. Vgl. ebenda, S. 416-418. Vgl. ebenda, S. 446. Vgl. ebenda, S. 128: »Je crois avoir déjà remarqué qu'il y a des tems où je suis si peu semblable à moi-même qu'on me prendroit pour un autre homme de caractère tout opposé.« Vgl. ebenda, S. 640: »Ceux qui me reprochent tant de contradictions ne manqueront pas ici de m'en reprocher encore une. J'ai dit que l'oisiveté des cercles me les rendoit unsupportables, et me voila recherchant la solitude uniquement pour m'y livrer à l'oisiveté. C'est pourtant ainsi queje suis; s'il y a là de la contradiction, elle est du fait de la nature et non pas du mien;
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Auch Kreisler erinnert sich in seiner kleinen autobiographischen Binnenerzählung bereits an ein frühkindliches Schwanken zwischen toller Ausgelassenheit und trostlosem Weinen, und er führt dies ursächlich auf einen »wirre[n] rätselhafte[n] Traum von einem Paradies der höchsten Befriedigung« 106 zurück. Vor allem jedoch wird Kreislers Widersprüchlichkeit von einer Reihe von anderen Menschen konstatiert und erlangt damit einen höheren Grad an Verbindlichkeit als in Rousseaus (trotz allen Bemühens um Wahrheit der Selbstbeobachtung dennoch auch von Selbstverkennung geprägten) Confessions. Benzon stellt bei Kreisler »Herz zerschneidende[ ] Ironie« 107 fest, hofft aber, »daß hinter der Satyrmaske am Ende ein sanftes weiches Gemüt verborgen«, 108 wie es der Name Johannes verspricht. Der kleine Geheime Rat konstatiert bei einer Gelegenheit Kreislers »unbeschreibliche[ ] Sanftmut« 109 sowie sein mildes und gemütliches Wesen, 110 ehe er wieder in »die verdammte Sorte von Humor«'" verfallt, die dem Rat den Atem versetzt. Julie beklagt die Stimmungsschwankungen Kreislers »von einem Extrem zum andern«" 2 , gewinnt aber später im Traum die Einsicht, »wie sein schalkisch scheinender Humor, von dem mancher sich oft verwundet fühle, aus dem treusten herrlichsten Gemüte komme«." 3 Und die Person, die ihn am besten kennt, nämlich Meister Abraham, sagt zu Rätin Benzon: Seht, der Kreisler, trägt nicht eure Farben, er versteht nicht eure Redensarten, der Stuhl den ihr ihm hinstellt damit er Platz nehme unter euch, ist ihm zu klein, zu enge; ihr könnt' ihn gar nicht für eures Gleichen achten, und das ärgert euch. Er will die Ewigkeit der Verträge die ihr über die Gestaltung des Lebens geschlossen, nicht anerkennen, j a er meint, daß ein arger Wahn, von dem ihr befangen, euch gar nicht das eigentliche Leben erschauen lasse, und daß die Feierlichkeit mit der ihr über ein Reich zu herrschen glaubt, das euch unerforschlich, sich gar spaßhaft ausnehme, und das alles nennt ihr Verbitterung. Vor allen Dingen liebt er jenen Scherz, der sich aus der tiefern Anschauung des menschlichen Seins erzeugt und der die schönste Gabe der Natur zu nennen, die sie aus der reinsten Quelle ihres Wesens schöpft. Aber ihr seid vornehme emste Leute, und wollet nicht scherzen - Der Geist der wahren Liebe wohnt in ihm [...]. Ihr möget den Kreisler nicht, weil euch das Gefühl des Übergewichts, das ihr ihm einzuräumen gezwungen, unbehaglich ist, weil ihr ihn, der Verkehr treibt mit höheren Dingen als die gerade in euern engen Kreis passen, furchtet." 4
Meister Abraham nennt hier zum einen eine Gemeinsamkeit, die Kreisler mit Rousseau teilt, nämlich den rebellischen Non-Konformismus und das In-Frage-
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mais il y en a si peu que c'est par là précisément que je suis toujours moi. L'oisiveté des cercles est tuante, parce qu'elle est de nécessité. Celle de la solitude est charmante, parce qu'elle est libre et de volonté.« Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 82. Ebenda, S. 77. Ebenda, S. 77. Ebenda, S. 97. Ebenda, S. 100. Ebenda, S. 101. Ebenda, S. 155. Ebenda, S. 214. Ebenda, S. 257.
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Stellen sozialer Übereinkünfte. Sein Verweis auf eine andere zentrale Charaktereigenschaft Kreislers, nämlich die Fähigkeit zum Humor, markiert zugleich die entscheidende Differenz zwischen Rousseau und Kreisler sowie zwischen dem Stil von Rousseaus Autobiographie und Hoffmanns fiktiver Biographie Kreislers. Zwar ist Rousseau gelegentlich leichter Selbstironie fähig, doch überwiegt die ernsthafte Selbstbeobachtung sowie zunehmend die apologetische Tendenz gegen eine feindliche Umwelt. Kreisler dagegen tritt nur gelegentlich als autobiographischer Erzähler auf und dann stets als einer, der zu der Zeit des erzählten Erlebens eine humorvolle Distanz gewonnen hat. An die Stelle von Selbstbeobachtung tritt aber in Hoffmanns Roman vor allem die Beurteilung durch andere fiktive Romanfiguren, die selbst natürlich vom Leser auf ihre Einsicht und Verläßlichkeit hin beurteilt werden müssen, sowie die Beurteilung durch den Biographen. So wird durch den Genre-Wechsel das Wahrheitspathos der Autobiographie beim Eingestehen von schweren Verfehlungen ersetzt durch die Komik des wahrheitsbeflissenen, doch unzureichend informierten Biographen. Rousseau hatte den Anspruch erhoben, mit seiner Autobiographie in der Hand beim Jüngsten Gericht vor den höchsten Richter zu treten, denn: »J'ai dit le bien et le mal avec la même franchise. Je n'ai rien tu de mauvais, rien ajouté de bon«." 5 Zwar gesteht er später ein, daß sein chaotisches Leben sowie wirre oder fehlende Erinnerung manchmal eine ordentliche Chronologie verhindert haben und ihn zu assoziativem Schreiben zwingen," 6 doch von solch einzelnen streßbedingten Erinnerungsschwächen abgesehen, gilt der Anspruch, die volle Wahrheit über sich zu vermitteln, durchgängig. Kreislers Biograph dagegen ist sich seines Materials nicht sicher, muß er doch »wie auf einen wilden Füllen reitend hin und her sprengen [...], über Stock und Stein, über Äcker und Wiesen, immer nach gebahnten Wegen trachtend, niemals sie erreichend.«" 7 Obwohl durch diesen Verzicht auf einen allwissenden Erzähler die Lückenhaftigkeit von Erkenntnis komisch thematisiert wird, steht ihr andererseits das Motiv des geheimen Fadens entgegen, das auf eine Kohärenz verweist, die sich erst am Ende des durch Hoffmanns Tod Fragment gebliebenen Romans
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Rousseau: Les Confessions - Œuvres complètes, vol. 1, S. 5. Vgl. ebenda, S. 622, 627, 634. Rousseaus Eingeständnis, gelegentlich seine mangelnde Erinnerung mit Phantasie ausgefüllt zu haben, hat eine Reihe von Analysen inspiriert, die untersuchen, inwieweit die Gattung des Romans auf die der Autobiographie eingewirkt habe und umgekehrt. Vgl. hierzu Glagau: Das romanhafte Element der modernen Selbstbiographie im Urteil des Historikers, S. 60-63. Vgl. auch Voisine: De la confession religieuse à l'autobiographie et au journal intime: entre 1760 et 1820. Vgl. zur literarischen Autobiographie im allgemeinen: Müller: Autobiographie und Roman. Vgl. zu Rousseaus Wahrhaftigkeit Gagnebin: Vérité et véracité dans les Confessions. - In: Jean-Jacques Rousseau et son œuvre, S. 7-21. Im Gegensatz zu Gagnebins historischer Untersuchung, die Rousseau Wahrhaftigkeit bescheinigt, kommt MacCannell in ihrem poststrukturalistischen Aufsatz (History and SelfPortrait in Rousseau's Autobiography) zu dem Ergebnis, daß Rousseau in seinen autobiographischen Schriften eine fiktionale Identität konstituiert. Vgl. auch zur literarischen Technik der Leseransprache in Rousseaus Autobiographie Voisine: Le dialogue avec le lecteur dans Les Confessions. Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 58.
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aus dem Bezug aller Teile aufeinander ergeben würde. 118 D. h. Hoffmann verlagert bewußt den Anspruch auf Wahrheit vom Bewußtsein einer einzigen Person in eine lückenhafte, chaotisch erscheinende, doch tatsächlich sehr bewußt geplante, komponierte Struktur. Der Autor Hoffmann erreicht durch sie jedoch eine positivere Sicht auf den Künstler, als sie Rousseau von sich selbst gegeben hat. Denn schwerwiegende Verfehlungen (die etwa Rousseaus Beschuldigung einer Unschuldigen in der Bändchenaffäre oder aber der Übergabe seiner fünf Kinder an ein Findelhaus gleichkämen) hat der Biograph von Kreisler nicht zu berichten. Rousseaus apologetische Tendenzen, die seine Persönlichkeit als extrem egozentrisch, wenn nicht paranoid, bloßstellen, werden ebenfalls auf die Kunstfigur des Biographen verschoben. Ähnlich wie die (Ich-)Erzähler aus Hoffmanns früheren Erzählungen, die keinesfalls mit dem Autor Hoffmann identisch sind, hat der Biograph die Funktion, zwischen einem exaltierten Künstler und einer phlegmatischen Leserschaft zu vermitteln. So kritisiert der Biograph Kreislers angeblich übertrieben hohe Meinung von Julias Gesang und damit sein künstlerisches Urteil: Gegenwärtiger Biograph ist leider genötigt, seinen Helden, soll das Portrait richtig sein, als einen extravaganten Menschen darzustellen, der, vorzüglich was die musikalische Begeisterung betrifft, oft dem ruhigen Beobachter beinahe wie ein Wahnsinniger erscheint. Er hat ihm schon die ausschweifende Redensart nachschreiben müssen, daß »als Julia sang, aller sehnsüchtiger Schmerz der Liebe, alles Entzücken süßer Träume, die Hoffnung, das Verlangen, durch den Wald wogte und niederfiel wie erquickender Tau in die duftenden Blumenkelche, in die Brust horchender Nachtigallen.« Kreislers Urteil über Julias Gesang scheint hiernach eben nicht von sonderlichem Wert. 1 "
Doch was der Biograph zum Beweis seiner Kritik vorbringt - daß nämlich selbst ungemein solide Leute sich bei Julias Gesang wie junge Fantasten und Versmacher gebärden 120 - , bestätigt unter der Hand gerade Kreislers Urteil und lädt so die Leserinnen ein, seiner als beschränkt decouvrierten Kritik gerade nicht zu folgen und Kreisler positiver zu beurteilen, als der Biograph es zu tun vorgibt. Erreicht wird durch diese Verschiebungen ein größerer Sympathiebonus für den Helden, d. h. eine Rechtfertigung für den Künstler als Außenseiter nicht mit den Mitteln der Empfindsamkeit und subjektiven Authentizität, sondern der Komik und Distanz. Neben den vielen Ähnlichkeiten in den Lebensumständen und im Charakter zwischen Rousseau und Kreisler, 121 gibt es eine implizite, doch für Rousseau-Leser unmißverständliche Distanzierung sowohl Kreislers als auch des Autoren Hoffmann gegenüber Rousseau: Sie äußert sich in Kreislers Tadel von Eltern, die
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Vgl. ebenda, S. 125, 132-133, 148, 205, 2 2 9 , 2 6 9 - 2 7 0 , 302, 343. Ebenda, S. 148. Vgl. ebenda, S. 148-149. Vgl. auch die Abwandlung des Motivs der Starrsucht in Nebenfiguren: Grimms vermutlich eingebildete Starrsucht (vgl. Rousseau: Les Confessions - Œuvres complètes, vol. 1, S. 370) kontrastiert mit Hedwigas Starrsucht als wahrer Ausdruck ihres Unbewußten (vgl. Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 243-248 und 256).
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ihre Kinder an Findelhäuser abgeben 1 2 2 s o w i e in der fiktionalen Ausgestaltung des L o s e s von Kindern, die fern v o n ihren Eltern erzogen werden und ihre wahre Herkunft nicht kennen ( A n g e l a B e n z o n , Hedwiga). Einen namentlichen B e z u g auf Rousseaus Confessions
gibt es s o w o h l im
Murr- als auch im Kreisler-Teil des R o m a n s j e w e i l s nur einmal. Kreisler fielen in der Bibliothek seines Onkels Roußeaus Bekenntnisse in der deutschen Übersetzung in die Hände. Ich verschlang das Buch, das eben nicht fur einen zwölfjährigen Knaben geschrieben, und das den Samen manches Unheils in mein Inneres hätte streuen können. Aber nur ein einziger Moment aus allen, zum Teil sehr verfänglichen, Begebenheiten erfüllte mein Gemüt so ganz und gar, daß ich alles Übrige darüber vergaß. Gleich elektrischen Schlägen traf mich nehmlich die Erzählung, wie der Knabe Roußeau von dem mächtigen Geist seiner innem Musik getrieben, sonst aber ohne alle Kenntnis der Harmonik, des Kontrapunkts, aller praktischen Hülfsmittel, sich entschließt, eine Oper zu komponieren, wie er die Vorhänge des Zimmers herabläßt, wie er sich aufs Bette wirft, um sich ganz der Inspiration seiner Einbildungskraft hinzugeben, wie ihm nun sein Werk aufgeht, gleich einem herrlichen Traum! [...] Genug, ich kam dahin, es meinem Vorbilde nach machen zu wollen. Als nehmlich, an einem stürmischen Herbstabend, der Oheim wider seine Gewohnheit das Haus verlassen, ließ ich sofort die Vorhänge herab, und warf mich auf des Oheims Bette, um, wie Roußeau, eine Oper im Geiste zu empfangen. So vortrefflich aber die Anstalten waren, so sehr ich mich abmühte, den dichterischen Geist hinanzulocken, doch blieb er im störrischen Eigensinn davon! - Durchaus summte mir, statt aller herrlichen Gedanken, die mir aufgehen sollten, ein altes erbärmliches Lied vor den Ohren, dessen weinerlicher Text begann: »Ich liebte nur Ismenen, Ismenen liebt' nur mich«, und ließ, so sehr ich mich dagegen sträubte, nicht nach. [...] Mich weckten laute Stimmen, indem ein unerträglicher Geruch mir in die Nase fuhr und den Atem versetzte! Das ganze Zimmer war von dickem Rauch erfüllt [...].123
W u l f Segebrecht liest diese Szene als H o f f m a n n s endgültige Abgrenzung g e g e n Rousseau, 1 2 4 und ein paar Jahrzehnte später deutet Anneli Hartmann sie in ihrem bedeutenden Aufsatz als A b s a g e H o f f m a n n s an die Position des romantischen Künstlers. 125 W e n n wir uns j e d o c h die S z e n e bei Rousseau ansehen, auf die sich Kreislers A n e k d o t e bezieht, dann stellen wir fest, daß Rousseaus Komponieren >im Schlafe< gar nicht nicht v o n seiner Knabenzeit datiert, sondern als in der Mu-
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Vgl. ebenda, S. 109-110. Vgl. ebenda, S. 110-111. Vgl. Segebrecht: Autobiographie und Dichtung, S. 66 und 67: »Mit dieser bei Rousseau (im siebenten Buch) ernstgemeinten Passage vollzieht Hoffmann endgültig die Abgrenzung gegen Rousseau, und er tut es mit dem Humor, den er nun freilich in den Bekenntnissen vergeblich suchen mußte. [...] Kreisler überwindet Rousseau; der Kater erreicht ihn gar nicht erst.« Vgl. Hartmann: Geschlossenheit der »Kunst-Welt« und fragmentarische Form, S. 181-182: »Die absoluten Ansprüche des romantischen Künstlers gelten nicht mehr uneingeschränkt. So wird beispielsweise auf der einen Seite die >hohe Begeisterung< als für die Schaffung gültiger Kunstwerke unabdingbar vorgestellt [...], auf der anderen Seite wird aber gerade diese Begeisterung in Zweifel gezogen; nicht nur durch die lächerlich wirkende, >antrainierte< poetische Schwärmerei Murrs, sondern auch, indem der Biograph den romantischen Gestus kritisch relativiert [...] und Kreislers durch die Lektüre von Rousseaus Bekenntnissen angeregter Inspirationsversuch in der Jugendzeit mit lebhaftem Widerwillen >gegen die Begeisterung des Komponierens überhaupt< [...] endet.«
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sik erfahrener 30jähriger, der selbstkritisch bereits zwei von ihm komponierte Opern verbrannt hatte (eine weitere Parallele zu Kreisler), bei dieser Gelegenheit jedoch »je me donnai le tems de méditer mon plan« 126 - also eine der Bedingungen Hoffmanns für künstlerisches Gestalten erfüllt - und schon den ersten Akt der Oper begonnen hatte, ehe er sich seinem schöpferischen Schlaf überließ. Bereits Rousseau stellte selbstironisch fest, daß die kompositorische Ausbeute nach dem Erwachen mager war: »II ne resta le matin dans ma tête qu'une bien petite partie de ce que j'avois fait«. 127 Ob die verzerrte Erinnerung an Rousseau auf das Konto des Anekdoten-Erzählers Kreislers geht (ihn somit als unzuverlässigen Erzähler markierend), auf das des Biographen oder auf das des einige Erzählebenen höher angesiedelten realen Autors Hoffmann, muß wohl offen bleiben. Wenn wir sodann untersuchen, wie diese Anekdote vom Komponieren im Schlafe auf arabeske Weise mit dem übrigen Roman verknüpft ist, wird deutlich, daß sie eher ein ironisches Licht auf jugendliche Naivität wirft, denn eine endgültige Zurückweisung Rousseauistischer oder romantischer Positionen zum Thema künstlerischer Inspiration konstituiert. Kreisler entlarvt sich nämlich selbst in dieser Anekdote humoristisch als einen, der in seiner Jugend genau das tat, was Kater Murr als Reaktion von strebenden Jünglingen auf die Autobiographie eines großen Geistes beschrieben hat: sich an banalen äußerlichen Parallelen zu orientieren und damit den Glauben an das eigne Genie zu nähren. Kater Murr konstatiert: Herrlicher Mut geht auf in der Brust des strebenden Jünglings, den bange Zweifel quälen, ob die innere Kraft auch wohl genüge, wenn er lieset, daß der große Mann als Knabe auch Soldat spielte, sich in Naschwerk übernahm und zuweilen was weniges Schläge erhielt, weil er faul war ungezogen und tölpisch. »Gerade wie ich, gerade wie ich«, ruft der Jüngling begeistert aus und zweifelt nicht länger, daß auch er ein hoher Genius ist trotz seinem angebeteten Idol. 128
Auf Grund dieser Verzahnung, die ironischerweise Murr zum kritischen Kommentator des Knaben Kreisler macht, meine ich, daß in dieser Anekdote nicht die Confessions selbst oder romantische Vorstellungen vom Künstler, wohl aber deren naive Rezeption karikiert werden. Kreislers Desillusionierung gegenüber der Begeisterung des Komponierens ist, im Gegensatz zu Hartmanns (oben zitierter) Behauptung, nur ein heilsames pubertäres Durchgangsstadium. Denn das Motiv der Inspiration im Schlafe wird im zweiten Band des Romans noch einmal durchgespielt: Ganz erfüllt von dem Hochamt, das er zu setzen begonnen, aber noch lange nicht vollendet hatte, träumte er [Kreisler] in einer Nacht, der Heiligentag, fur den die Komposition bestimmt, sei da, das Hochamt eingeläutet, er stehe am Pult, die fertige Partitur vor sich, der Abt, selbst die Messe lesend, intoniere und sein Kyrie fange an. Satz auf Satz folge nun, die Aufführung gediegen und kraftvoll, überrasche ihn, reiße ihn fort bis zum Agnus dei. Da gewahre er zu seinem Schreck in der Partitur weiße Blätter, keine
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Rousseau: Les Confessions - Œuvres complètes, vol. 1, S. 294.. Ebenda, S. 295. Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 38.
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Ricarda Schmidt Note aufgeschrieben, die Brüder schauten ihn, der plötzlich den Taktstock sinken lassen, an, gewärtig, daß er endlich anfangen, daß die Stockung endlich aufhören werde. Aber bleischwer drücke ihn Verlegenheit und Angst nieder und er könne, ungeachtet er das ganze Agnus fertig in seiner Brust bewahre, nur es nicht herausbringen in die Partitur. Da erschiene aber plötzlich eine holde Engelsgestalt, trete an den Pult, sänge das Agnus mit Tönen des Himmels und diese Himmelsgestalt wäre Julia! - Im Entzücken hoher Begeisterung erwachte Kreisler und schrieb das Agnus auf, das im seligen Traum ihm aufgegangen. 1 2 '
Hier gelingt es Kreisler als Erwachsener, sogar besser als Rousseau und in enger, bezeichnenderweise aber säkularisierter, Anlehnung an Wackenroders Raphael,' 3 0 nach intensiver Arbeit an einem Werk die krönende Inspiration im Schlafe zu empfangen. D. h. die Verdopplung des Motivs von der Inspiration im Schlafe demonstriert ein unreifes sowie ein reifes und fruchtbares Nachfolgen in Rousseaus Fußstapfen. Überdies wird hier deutlich, wie eng verbunden Rousseauistische und frühromantische Motive sind. Hoffmann fand bei Rousseau viele für seinen Roman zentrale Themen vorgeprägt, nämlich den widersprüchlichen Charakter des Künstlers, dessen Anspruch auf menschliche Gleichheit und Wahrheit sowie den Antagonismus zwischen Künstler und Gesellschaft. Weder die eigene Ambivalenz noch die gesellschaftliche Entfremdung hindern den Künstler und Philosophen Rousseau an der Hervorbringung eines großen Werkes - solange er zumindest zeitweise Refugien und mitmenschlichen Zuspruch hat. Doch seine Leistung wird von der Gesellschaft letztendlich nicht honoriert. Diese bei Rousseau tragische Erfahrung des Auseinanderfallens der Produktion eines künstlerisch und philosophisch bedeutenden Werks und der fehlenden sozialen Anerkennung des Künstlers übernimmt Hoffmann als Idee für den Kreisler-Teil, formt sie aber in seinem Roman ästhetisch um. D. h. er grenzt sich nicht einfach parodistisch von Rousseau ab, sondern leuchtet Rousseaus vor der Französischen Revolution artikulierte Erfahrung anders aus. Hoffmanns post-revolutionäre und post-napleonische Situation in der Restauration ermöglicht es ihm, die feudale Gesellschaft in ihrer Hohlheit und Unbedeutendheit humoristisch zu entlarven. Da der sozialen Umwelt Kreislers sowohl wirkliche Macht als auch jegliche moralische Legitimität abgeht, ergibt sich aus diesem Konflikt zwischen Individuum und Welt nicht Paranoia wie bei Rousseau, sondern, zumindest auf der Erzählebene, wenn auch nicht auf der Handlungsebene des Fragment gebliebenen Romans, ein Subjekt-Objekt-Ausgleich, der in den Augen der Leser die Fähigkeiten des Außenseiters über die der komisch degradierten hohen Gesellschaft stellt. Hoffmann ersetzt überdies Rousseaus subjektzentrierte Zentralperspektive durch Polyperspektivität 131 und konterkariert so das tragische Lebensgefühl Rousseaus durch die Distanz einer Form, die viele verschiedene Standpunkte zur Anschauung bringt.
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Ebenda, S. 303-304. Vgl. Wackenroder: Raphaels Erscheinung - Sämtliche Werke und Briefe Bd. 1, S. 55-58. Vgl. zur Polyperspektivität Diebitz: Versuch zur integralen Einheit der Lebens-Ansichten des Katers Murr, S. 38.
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Doch Hoffmann hat nicht nur auf Rousseau direkt reagiert und sich in ihm, vermittelt über die Kunstfigur Kreisler, gespiegelt, sondern er hat sich in einer Triangulierung der Rezeption auch auf Rousseau-Nachahmer und deren unkritische Leser bezogen. In der humoristischen Kontrastierung des Menschlichen mit dem Tierischen werden den Leserinnen Perspektiven vermittelt, die über Rousseaus Egozentrik hinausgehen, ohne die schmerzhafte Erfahrung des wahren Künstlers als sozialer Außenseiter zu leugnen, die aber angemaßte Größe komischscharf ins Licht rücken. Kater Murr verkörpert exzessive Eigenliebe, ein Konzept, dem N. J. H. Dent zufolge Rousseau die primäre erklärende Funktion zuspricht »in his examination of the character of the components and structures which comprise the (deformed) constitution of civilized man, and in his account of the forms that (degenerate) social and civil life characteristically take.«132 D. h. der Kater kann in diesem Sinne als komische Umsetzung von Rousseaus sozialpsychologischem Denken aufgefaßt werden. Gleichzeitig erlaubt diese Aufspaltung ins Menschliche und Tierische die Eliminierung von negativen Zügen bei Kreisler und deren Projektion auf den Kater, d. h. also eine personale Idealisierung einerseits, die aber andererseits strukturell unterminiert wird. An die Stelle von Rousseaus Selbstrechtfertigung und Wahrheit des Subjekts tritt in Hoffmanns Kater Murr die Rechtfertigung des Künstlers durch die fiktionale Struktur, deren Wahrheit zu erkennen dem Leser aufgegeben wird. 133 In dieser komplexen Struktur hat der Murr-Teil neben der Funktion, das tierische Pendant zu Kreisler zu bilden, vor allem die Aufgabe, Rousseaus Epigonen zu karikieren, nämlich all jene, die Rousseau »nur stoffartig«' 34 rezipierten, ohne seinen Geist zu begreifen. Gegen Ende des zweiten Bandes formuliert Kater Murr, der in ironischer Brechung laut Angaben des Herausgebers hier Kreisler plagiiert, geradezu eine Antwort auf das Lebensdilemma Rousseaus. Diese von Kreisler übernommene Einsicht deutet zugleich auch daraufhin, daß Kreisler als Künstler auf dem Wege ist, die souveräne Distanz zu sich selbst und zu seiner Zeit zu gewinnen, die den Künstlerfiguren in Hoffmanns anderen späten Werken (Prinzessin Brambilla und Signor Formica"5) eignet:136
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Dent: Rousseau, S. 85. In poststrukturalistischen Lesweisen wird oft die Bedeutung der Kreisler-Gestalt als romantischer Prototyp des Künstlers geleugnet. So etwa bei Kofman: Schreiben wie eine Katze. Aus dem von Meister Abraham mittels Hohlspiegel erzeugten Spiegelbild Kreislers schlußfolgert Kofman: »Im menschlichen Text ist also jeder >Beginn< Mimesis, und der >Held< der Biographie hat nichts von einem Helden; er ist konstitutiv verdoppelt - zerrissen, verrückt oder für verrückt gehalten [...]. Solche innere Zerrissenheit enteignet ihn seiner selbst« (S. 83f.). Hoffmann: Über einen Ausspruch Sachini's, und über den sogenannten Effekt in der Musik - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 2/1, S. 441. Hoffmann: Prinzessin Brambilla - ebenda, Bd. 3; Hoffmann: Signor Formica - ebenda, Bd. 4. Damit steht meine Lesweise Kreislers im Gegensatz zu der weitverbreiteten Tendenz, Kreislers Laufbahn als eine absteigende zu sehen, die darauf angelegt ist, im Wahnsinn zu enden. So sieht noch jüngst Walter Hoch im Verlauf des Festes, das Meister Abraham organisiert, »Kreislers Nichtheilung« als Kernthema des Kreisler-Stranges besiegelt, obwohl Kreislers Entwicklung im Kloster explizit als ruhig und besonnen von seinem früheren exaltierten Verhalten abgegrenzt wird, und die Vollendung ausgezeichneter Werke mit seiner früheren
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Ricarda Schmidt
Wie kommt es, sprach ich zu mir selbst indem ich sinnig die Pfote an die Stirn legte, wie kommt es, daß große Dichter, große Philosophen sonst geistreich, Lebensweise, sich im sozialen Verhältnis mit der sogenannten vornehmeren Welt so unbehülflich zeigen? [...] Der große Dichter oder Philosoph müßte es nicht sein, wenn er seine geistige Überlegenheit nicht fühlen sollte; aber eben so müßte er nicht das jedem geistreichen Menschen eigne tiefe Gefühl besitzen um nicht einzusehen, daß jene Überlegenheit deshalb nicht anerkannt werden darf, weil sie das Gleichgewicht aufhebt, das zu erhalten die Haupt-Tendenz der sogenannten vornehmeren Gesellschaft ist. [...] Nun meine ich ferner, daß der Unmut, der sich aus dem widersprechenden Gefühl der Überlegenheit und der ungehörigen Erscheinung, bildet, den in dieser sozialen Welt unerfahrnen Dichter oder Philosophen, hindert, das Ganze zu erkennen und darüber zu schweben. Es ist nötig, daß er in dem Augenblick seine innere geistige Überlegenheit nicht zu hoch anschlage und unterläßt er dies, so wird er auch die sogenannte höhere gesellschaftliche Kultur, die auf nichts anders hinausläuft als auf das Bemühen, alle Ecken, Spitzen wegzuhobeln, alle Phisiognomien zu einer einzigen zu gestalten die eben deshalb aufhört eine zu sein, nicht zu hoch anschlagen. Dann wird er, verlassen von jenem Unmut, unbefangen, das innerste Wesen dieser Kultur und die armseligen Prämissen, worauf sie beruhet, leicht erkennnen und schon durch die Erkenntnis sich einbürgern in die seltsame Welt, welche eben diese Kultur als unerläßlich fordert. 137
Damit verwirklicht aber nach meiner Analyse Hoffmanns Roman nicht die Parodie romantischer Paradigma, wie so oft behauptet wird,138 sondern eine spätromantische Weiterentwicklung der in Rousseaus Autobiographie thematisierten Künstlerproblematik. Eine Interpretation, die dem Roman eine pauschale Dekonstruktion von Rousseau bzw. von romantischen Positionen zur Kunst- und Subjekttheorie zuschreibt, ignoriert seine intrikate Verflechtung in die autobiographischen Diskurse um 1800 und kann von daher nur unzureichend der Reflexivität eines komplexen Textes gerecht werden, wobei daran erinnert sei, daß reflektieren »sich an etwas brechen, von da zurückstrahlen, d. h. von etwas her im Widerschein sich zeigen«' 39 bedeutet. In der montageartigen Verknüpfung der Gattungen von Autobiographie und Biographie, ihrer Verflechtung in die Diskurspraxis um 1800 sowie ihrer phantastischen Fiktionalisierung erreicht Hoffmanns Roman einen über die Einzelgattungen weit hinausgehenden Grad an epischer Totalität auch wenn der Roman Fragment geblieben ist. Mir scheint, der Roman tendiert dazu, den Wert des wahren Künstlers, seiner Inspiration und seiner Vision im Widerschein des Trivialen humoristisch zu bestätigen, doch die frühromantische Erwartung an die Gesamtutopie wird umgesetzt in die Vorstellung der in der Kunstproduktion und Kunstrezeption immer wieder nur momenthaft zu erfahrenden Transzendenz des Status quo.
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Tendenz, seine Kompositionen zu verbrennen, kontrastiert wird. Vgl. Hoch: Das Namenstagsfest in Hoffmanns Kater Murr, S. 82. Hoffmann: Kater Murr - Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 5, S. 427^128. Vgl. diese gängige, aber, wie ich zu zeigen versucht habe, unhistorische Auffassung bei Orosz: Identität, Differenz, Ambivalenz, S. 198: Orosz liest Kater Murr als »Parodie romantischer Grundannahmen über Bildung, Künstlertum, Vollständigkeit, Fragment, Ordnung und Chaos«. Vgl. dagegen den Versuch, die Romantik des Kater Murr auf der Schwelle zur Moderne, doch nicht in ihr zu situieren bei Schmidt: Ahnung des Göttlichen und affizierte Ganglien. Heidegger: Sein und Zeit. 17. Aufl. Tübingen: Niemeyer 1993, S. 1 2 . - Z i t i e r t nach Ricklefs: Leben und Schrift, S. 47.
Uwe Japp
Die Identität des Künstlers: Arnims Erzählung »Raphael und seine Nachbarinnen«
»Mehr erzählte Raphael mir nicht; [...].« Baviera 1. Einleitung Die Identität des Künstlers besteht in der Übereinstimmung des Künstlers mit sich selbst, also in seinem durch die Kunst vermittelten Selbstsein für sich und für andere. Diese Konzeption, die Erkennbarkeit und Unverwechselbarkeit vom Werk her garantiert, hat einen zweiten Fluchtpunkt in der Biographie des Künstlers, wie sie fur die Künstler der Renaissance (die »eccellenti pittori, scultori e architetti«) exemplarisch Vasari perspektiviert hat. Allerdings neigt bereits Vasari zur anekdotischen Dispersion, die durch die laudatorische Tendenz (Einheit durch Lob) korrigiert wird. Eine wiederum andere Form begegnet in der mit fiktionalen Lizenzen arbeitenden Yjinsüererzählung, da sich hier das Selbstsein des Künstlers als eine Implikation der Narration erweist. In Arnims Erzählung ist die Identität des Künstlers auf zweifache Weise gebrochen: einmal deshalb, weil er durch einen vorgeschobenen >Biographen< in der Erzählung wahrgenommen und präsentiert wird, zum anderen deshalb, weil er auf eine das Phantastische tingierende Weise mit einem Doppelgänger (genau genommen sind es sogar zwei) ausgestattet wird, wodurch die Übereinstimmung des Künstlers mit sich selbst direkt thematisch wird. Die eigentliche Originalität der Arnimschen Erzählung besteht indes darin, daß die Laufbahn des Künstlers mit der Existenz zweier »Nachbarinnen« verbunden wird - und zwar so, daß das auf den ersten Blick Akzidentelle solcher Bezüge im weiteren Verlauf sogar zum identitätsstiftenden Moment ausgearbeitet wird. Oder wie soll man es sonst nennen, wenn suggeriert wird, daß die Kunst des Künstlers weder ohne die eine noch ohne die andere das gewesen wäre, was sie ist oder zu sein scheint? Bei Vasari, an den sich Arnim ansonsten deutlich anlehnt, gibt es diese Konstellation nicht. Vasari berichtet vielmehr von der einen Geliebten und den vielen Frauen, denen Raffael auf solche Weise zugetan war, daß ihre Absenz die Kunstproduktion störte.1 Das deckt sich in etwa mit dem zweiten Abschnitt der Arnimschen Erzählung,2 während der erste und der dritte Abschnitt andere Optionen (und Erfindungen) zur Geltung bringen. Daß Raffaele Gemüt »sich leicht von der Liebe entflammen Hess«3, wird von Vasari eher skeptisch beurteilt und auch 1 2
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Vasari: Lebensläufe, S. 412. Arnim: Raphael und seine Nachbarinnen - Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 274-291 (»2. Zu Raphaels Madonnen«). Vasari: Lebensläufe, S. 412.
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erst vergleichsweise spät erwähnt. Die Anekdote, derzufolge Raffael mit der Ausmalung des Palazzo Chigi ins Stocken geriet, weil er seine Geliebte vermißte, steht jedenfalls in Vasaris Darstellung vereinzelt da. Sie wird zudem nicht um ihrer selbst willen vorgebracht, vielmehr gibt sie den Anlaß, die allzu große Nachsicht der Freunde Raffaels (die im soeben erwähnten Fall die Geliebte herbeizubringen wußten) zu rügen. Raffaels allgemeine Promiskuität wird dann sogar in ursächlichem Zusammenhang mit seinem frühen Tod gesehen. 4 Man sieht also, man muß nicht unbedingt zum Wackenroder/Tieckschen Klosterbruder vorauseilen, um ein Gegenbild zur Arnimschen Porträtkunst zu finden.5 Seine zweifelsfreie Vorlage, von der er so eklatant abweicht, beinhaltet es bereits. Wenngleich natürlich zutrifft, daß der »göttliche Raphael« 6 des Klosterbruders von den »hypergenialen Monstrositäten« 7 der Arnimschen Erzählung besonders weit entfernt ist. Vasari setzt auf der höchsten Höhe des laudatorischen Diskurses ein, indem er sowohl den Himmel als auch die Natur für eine dermaßen seltene Konjunktion von Genie und Liebenswürdigkeit, Kunst und edler Sitte verantwortlich machen will. Während sonst die Künstler häufig auf den dunklen Pfaden der Tollheit oder des Lasters anzutreffen seien, erscheine Raffael »im Glänze der höchsten Geistesgaben, [...] begleitet von so viel Anmut, Fleiss, Schönheit, Bescheidenheit und edler Sitte, dass es genügt hätte, jedes noch so scheussliche Laster und jeden noch so grossen Makel abzugleichen.« 8 Man versteht die Botschaft, gleichwohl bleibt es merkwürdig, daß im Zusammenhang des unbedingten Lobens überhaupt von Lastern und Makeln die Rede ist. Tatsächlich sieht es so aus, als dränge die Nachricht von Raffaels irdischen Passionen allzu frühzeitig und gleichsam contre coeur an die Oberfläche des Textes. Zwar liegt diese Lesart von den späteren einschlägigen Mitteilungen her nahe, Vasari will davon allerdings am Anfang seines Kapitels nichts wissen. Vielmehr läßt er an diesem frühen Ort die Evokation von Laster und Makel nur als rhetorische Maßnahme gelten: als Finte im Dienste des Lobes. Arnim ergreift diese Finte und wendet sie ins Zutreffende. Seine Exponierung der >unedlen< Kehrseite des »sterbliche[n] Gotte[s]« 9 hat also nicht nur die Form einer Kontrafaktur, sondern zugleich die einer Applikation - im Sinne einer ausführenden (und vor allem auch: ausführlicheren) Anwendung. Künstlererzählungen beantworten in der Regel Fragen nach der Entstehung des Genies (oder des Talents), nach der Art und Weise der kreativen Praxis und nach der Generalisierung des Singulären, anders gesagt nach der Genealogie, nach der Typologie und nach der Theorie. Ähnlich verhält es sich, mit einem gewissen generisch begründeten - Vorbehalt, mit dem Künstlerroman und dem Künstlerdrama. Angewandt auf Arnims Erzählung, müßten die genannten Fragen folgen4 5 6
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Ebenda, S. 424. Dazu: Simon/Stein: Zur Intertextualität in Arnims Raphael-Erzählung. Wackenroder: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders - Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 62 u. ö. So der Rezensent im Literarischen Conversations Blatt von 1823. Siehe den Kommentar zu Arnim: Raphael und seine Nachbarinnen - Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 1125f. Vasari: Lebensläufe, S. 373f. So Vasari über Raffael, ebenda, S. 374.
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dermaßen lauten: 1. Wie wird Raphael' 0 zum Künstler? 2. Was für eine Art Künstler ist Raphael? 3. Welche allgemeinen Maximen der Kunst ergeben sich aus dem speziellen (und vielleicht zu Teilen: allzu speziellen) Fall? Im Gegensatz zu manchen Erzählungen, die sich mit der Beantwortung oder Thematisierung der einen oder anderen Frage begnügen, durchläuft Arnims Text den ganzen Kursus. Die im Zusammenhang mit literarischen Künstlerdarstellungen ebenfalls immer virulente Frage nach der historischen oder fiktionalen Konsistenz des Künstlers ist zweideutig zu beantworten, da es sich bei Raffael zweifellos um einen historischen Künstler (mit Vita und Werkverzeichnis) handelt, andererseits der Araimsche Raphael mit evidenten Fiktionalisierungen individualisiert wurde, so daß also die Identität des Künstlers sich nicht als ein unvordenkliches Selbstsein ergibt, sondern allererst aus der Differenz zu einem jeweils anderen zu bestimmen ist. Eine letzte Frage, die hier zu stellen ist, betrifft das gute oder schlechte Ende. Tatsächlich gibt es viele Künstler in Erzählungen oder auf der Bühne, die einem spektakulären Scheitern zugeführt werden. Arnims Protagonist entzieht sich einer vorschnellen Zuordnung, da er zwar, wie alle Welt findet, zu früh stirbt, gleichwohl bis zum Schluß uneingeschränkt kreativ zu sein scheint; andererseits vermeidet die Erzählung einen regelrechten Schluß, da sie in dem Moment, in dem sie ihre genauere Fortsetzung ankündigt, abbricht. Hiermit ist man allerdings auf der für Arnims Erzählung entscheidenden Ebene der Narration angelangt. Alle zuvor genannten Fragen betreffen die Diegese, also das raum-zeitliche Universum der Erzählung. Da die Erzählung aber dazu tendiert, den Akt ihrer eigenen Hervorbringung fortwährend präsent zu halten, wird es notwendig, die Diegese im Prisma der Narration zu betrachten. 11
2. Genealogie Der >ichRaphael< den Arnimschen Protagonisten, mit >Raffael< den historischen Künstler zu bezeichnen " Zur Differenz zwischen Diegese und Narration siehe Genette: Die Erzählung.
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erzählt wird. Demzufolge erhält Raphael bereits seit längerer Zeit Unterricht von seinem Vater, der dazu als professioneller, wenngleich (wie aus den Worten des Töpfers hervorgeht) nicht sonderlich erfolgreicher Maler dazu hinreichend qualifiziert sein mag. Raphaels Vater zweifelt freilich selbst an seiner pädagogischen Eignung, indem er zu verstehen gibt, daß ihm sowohl die Vermittlung als auch die Ausübung seines Wissens schwerfalle. 12 Diese internen Graduierungen bewirken indes nur, daß der junge Raphael einem anderen Künstler zur Ausbildung übergeben wird, eben jenem Pietro Vannucci aus Perugia, den Raphaels Vater als »den besten Meister, der immer auf gebahnter Straße ebenmäßig fortschreitet« 13 , ansieht, während Baviera in dieser Sache eine auffallige Skepsis an den Tag legt,14 woraus wiederum hervorgeht, daß übereinstimmende Urteile (abgesehen in bezug auf Raphaels Unübertrefflichkeit) in Arnims Erzählung eher die Ausnahme sind. Wie dem auch sei, genealogisch ist klar, daß der alle(s) überragende Künstler seine souveräne Position dem Zusammenklang einer umsichtig applizierten Ausbildung mit dem inkalkulabel sich entäußernden Talent verdankt. Beide Elemente werden in der Töpfergeschichte genannt und nuancierend ins Verhältnis gesetzt. Bedenkt man den schon lange andauernden Unterricht, sodann die technischen Auskünfte, die Raphael einholt, um dem speziellen Material gewachsen zu sein, so ist hiermit die Kondition benannt, die sich mit der Inspiration verbindet bzw. dieser den Boden bereitet. Die Inspiration selbst erscheint in der Töpferanekdote als »Seele« 15 , denn dies ist die Differenzqualität, die Raphael der Gestalt der Statue auf dem bemalten Teller zu verleihen vermag. Die Seele schwebt über dem Stein und dem Fleisch und verweist solchermaßen, wie auch in anderen Künstlerdarstellungen, auf einen höheren, pneumatischen Bereich, der sich einer distinkten Bezeichnung entzieht. So verfällt auch die Erzählung, die an dieser Stelle übrigens in zweifacher Indirektheit verfährt, da Baviera die von Raphael erinnerte Jugendgeschichte wiedergibt (so daß man genau genommen nicht recht weiß, wer spricht), in einen quasipneumatischen Tonfall, demzufolge Raphael »Alles« zuflog »in göttlicher Lust und Behendigkeit« 16 . Daß Raphael alles >zuflogGöttlichen< auf beinahe formelhafte Weise mit Raffael verbunden (insbesondere bei Wackenroder), aber schon die Verschmelzung mit der Lust eröffnet Ausblicke, die nicht im Numinosen beharren, vielmehr die Sinnlichkeit als einen ebenfalls in Betracht kommenden Grund der Kunst ins Spiel bringen. Erst recht schert die »Behendigkeit«, von der man nicht genau weiß, ob sie an der Aura des Göttlichen partizipieren soll, aus der
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Arnim: Raphael und seine Nachbarinnen - Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 271 : »Was ich weiß, kann ich nicht lehren, kann selbst nie recht damit fertig werden, es auszuüben.« Ebenda. Ebenda, S. 265. Ebenda, S. 268. Ebenda.
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formulierten Verklärung genialer Kunstproduktion aus, da hiermit vielmehr Vorzüge evoziert werden, die auf zirzensischem Gebiet bemerkenswert sind, weshalb man vielleicht schon hier an den erst später in der Erzählung auftretenden malenden Affen denken darf. Der Künstler zwischen Gott und Tier, zwischen Genialität und Sinnlichkeit, dies ist ja augenscheinlich das Thema der Amimschen Erzählung, weshalb allenfalls verwundern könnte, daß dieser Zusammenhang schon in der Jugendgeschichte aufscheint. Es ist aber für Arnims Sicht der Dinge durchaus bezeichnend, daß die Entstehung des Künstlers nicht aus dem Offenbarwerden eines selbstbezüglichen Kunstimpulses erklärt wird, vielmehr schon aus genealogischer Sicht die Angrenzung der Kunst an den Eros Gestalt annimmt. Denn tatsächlich interessiert sich ja der junge Künstler nicht nur für die Kunst als solche, sondern mindestens ebenso für die junge Frau, der er die Produkte seines Talents zueignet, also Benedetta. Arnim entfaltet sogleich ein sinnlich-übersinnliches Ensemble: von der zarten Benedetta über die imposante Ghita zur wunderbaren und tatsächlich Wunder wirkenden - Statue. Die Statue, die sogar, wenn es darauf ankommt, den Finger krümmen kann,' 7 ist anscheinend antik, obwohl Raphael nicht recht weiß (oder zu wissen scheint), »ob es eine Muse, eine Psyche oder was sonst gewesen, da alle Kennzeichen ihr gefehlt hätten«. 18 Die Statue kommuniziert nicht nur mit Benedetta, sie dient auch dem jungen Künstler als Modell, der indes die fremde Gestalt sich erst künstlerisch anzueignen vermag, nachdem er sie zur Madonna umdeklariert und mit den Attributen der schönen Töpferin ausgestattet h a t . " Dieses interpretatorisch und phantasmagorisch generierte Mischwesen ist, so Baviera, der Ursprung der Raphaelschen Kunst, insbesondere seiner Madonnen: »Aus dieser Erinnerung schöpfte er Alles, was ihr später in seinen Madonnen bewundert habt und worin ihn nur selten der Einfluß anderer Schönheit störte.« 20 So jedenfalls Baviera, während sich Raphael an späterer Stelle ganz ähnlich über Ghitas Einfluß auf seine Kunstproduktion äußert. 21 Zwar ist die gegensätzliche Konzeptualisierung der beiden Nachbarinnen nicht zu übersehen, gleichwohl deutet sich schon in der Jugendgeschichte ein gewisser Austausch der Attraktionen
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Darin offenbar der Kleiderpuppe in Meliick Maria Blainville verwandt, die sogar die Arme zu schließen vermag. 18 Ebenda, S. 275. " »Benedettas Auge, Farbe und Haar«. Ebenda. 20 Ebenda. - Schon zuvor hat Raphael selbst, diesmal in wörtlicher Rede, aber allgemeiner, die Zeit der Töpferanekdote als den Grund seiner Kunst benannt: »>0, das war eine Zeit! rief er, rastlos und schlaflos. Was ich noch weiß, habe ich da empfunden und empfangen; mühsam rufe ich jetzt das Rechte zurück, das ich damals beim ersten Entwürfe gar nicht verfehlen konnte, und siehe her: auch diese Geschichte der Psyche, die ich eben zeichne, ist nur Erinnerung jener ersten Entwürfe auf den Tellern, und doch fehlt darin das Bild Benedettene, das mir damals als Psyche so leicht zu malen war, und das ich mir jetzt nicht mehr zurückrufen kann, obgleich ich mich deutlich aller gleichgültigen Leute aus ganz Urbino erinnere. Ob das meine Untreue verschuldet hat?«< Ebenda, S. 269f. Offensichtlich mischt sich hier auch das Problem des alternden Künstlers in das von ihm selbst gezeichnete >Portrait of the artist as a young manécriture automatique^ der er gelegentlich in seinen Gedichten zuzustreben scheint, imaginiert: als >peinture automatique^ die im Bild antizipiert, was als Text ein Signum der Avantgarde werden sollte. Wenn es in Arnims Text über den Automaten heißt, »es war etwas von Raphael in seinem Pinsel«, 40 so wird damit eine gewisse Durchlässigkeit (oder Permutabilität) der Identität des Künstlers angedeutet. Freilich bleibt der Sachverhalt, wie so oft bei Arnim, der ja in seinen Erzählungen regelmäßig das Historische mit dem Phantastischen verbindet, rätselhaft. Zwar signalisiert der verbindende Faden eine mediale Vermittlung, diese bleibt aber doch eher äußerlich. Noch rätselhafter ist der zweite Fall permutierter Identität, da Arnim hier nicht einmal einen noch so äußerlichen Faden gespannt hat. Daß Benedettas Bilder gleichwohl denjenigen Raphaels so erstaunlich gleichen, läßt deshalb einen anderen Transfer vermuten; insbesondere deshalb, weil Benedetta in ihrer Jugend lediglich dilettantische Figuren auf die Teller ihres Vaters zu praktizieren vermochte. Die Erzählung scheint nun andeuten zu wollen, daß als vermittelnde Instanz die Statue anzunehmen sei, da diese bereits früher den symbolischen Austausch zwischen Benedetta und Raphael gewährt hat - und offenbar seitdem in ihrer Nähe verblieben ist. Letztlich würde es nicht verwundern, wenn die Statue nicht nur einen Ring, sondern auch einen Pinsel halten könnte.
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Aristoteles: Poetik, S. 39 (Kap. 13). Vgl. auch die detaillierte Interpretation von Burwick: Dichtung und Malerei bei Achim von Arnim, S. 289ff. »Der Automat führte Alles genau aus, es war etwas von Raphael in seinem Pinsel.« Arnim: Raphael und seine Nachbarinnen - Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 306. Ebenda.
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4. Theorie Daß Raphael als >mittlerer Mann< erscheint, betrifft seine Stellung zwischen Erde und Himmel, nicht seinen Rang als Künstler. Die Frage ist allerdings, ob eine Unterscheidung in dieser Sache problemlos gelingt. Die Erzählung verfolgt sogar eine entgegengesetzte Strategie, indem ein extensiver Weltkontakt als eine produktive und vielleicht sogar notwendige Voraussetzung fur die Kunstproduktion angesehen wird. Einen vorläufigen Wink in diese Richtung gibt die Episode vom Spaziergang des Künstlers mit seiner Geliebten im ungepflegten Garten seines Hauses. Eine kunstferne Beschäftigung, sollte man meinen. Raphaels Kunstsinn ist aber derart dominant, daß er nur an solchen Stellen stehenbleibt, die den schönsten Ausblick eröffnen, so daß in der Spur des Spaziergangs ein idealer Gartenweg angelegt werden kann. Zwar ist es hier nicht so, daß die ästhetische Produktion ohne das amouröse Divertissement nicht hätte gelingen können, immerhin verhält es sich so, daß dieses jene nicht behindert, vielmehr dazu beiträgt, daß die Gestalt des Schönen gleichsam unbewußt realisiert wird. Deutlicher ist indes das anschließende Gelage, bei dem es sich im Grunde um eine reichlich skurrile Festivität handelt, das aber der Künstler fur die malerische Darstellung eines Bacchusfestes brauchen kann. Der ins Allgemeine gehende Kommentar des Künstlers lautet: »Ein Maler kann überall etwas absehen, und ich fühle hier recht, daß erst Etwas muß wirklich da gewesen sein auf der Welt, ehe es zu etwas Erdachtem, zu einem Bilde werden kann. Ohne diesen Zug gesehen zu haben, hätte ich nie ein Bacchusfest erfinden können.« 41 Raphael fertigt denn auch sogleich eine Skizze an, um an das Ereignis zu erinnern, obwohl nichts darin sich finden soll, »wie wir es eben gesehen haben«. 42 Die Wirklichkeit ist folglich unverzichtbar, sie darf aber nur verwandelt (transfiguriert) Gestalt annehmen, da nur so aus »Etwas« ein »Bild« wird. Kunsttheoretisch wird eine Art realistischer Idealismus (ähnlich dem Suprarealismus Vasarischer Provenienz) propagiert, dem allerdings jeweils das inkalkulable Talent zugrundeliegt. Anlaß dieses Kunstraisonnements ist zwar ein Gelage (mit Strauchdieben und einem Weinfaß), es ist aber nur auf sehr allgemeine Weise von der Wirklichkeit die Rede. Es fehlt folglich die Anwendung des Allgemeinen auf das Spezielle: auf die Erde bzw. das Brot der Ghita. Genau diesen Schritt vollzieht Raphael in einer zweiten kunsttheoretischen Einlassung. Vorhergegangen ist die abermalige Aufforderung des Kardinals Bibiena, er möge endlich Ghita verlassen (um die Nichte des Kardinals zu heiraten, die erstaunlicherweise mit der Tochter des Töpfers aus Urbino identisch ist), was Raphael auch zugesagt hat, allerdings nur, um sogleich das Unmögliche eines solchen Vorhabens einzusehen. Darauf heißt es: »Michel Angelo [...] mag sagen, daß die Kunst seine Geliebte sei, und daß er keiner anderen bedürfe, - zu Sibyllen und Propheten steigt man freilich nicht ins Fenster; - wer aber das große Geheimnis der Welt darstellen will, kann sich der Welt nicht verschließen, er darf nicht bei Muskeln und Adern, beim Ausdruck der Extreme stehen bleiben, er muß die Har-
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Ebenda, S. 288. Ebenda.
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monie zwischen Seele und Leib zu erfassen suchen.« 43 Erneut wird also der realistische Idealismus vorgestellt, diesmal appliziert auf die Liebe, auch in ihrer u n ordentlichem Verfaßtheit. Mit der Diskrepanz zwischen »Seele« und »Leib« wird noch einmal das Generalthema der Erzählung genannt, das aber gerade in seiner kunstspezifischen Zurüstung zu erfassen ist: Der Künstler beseelt die Wirklichkeit, wird aber von den Attraktionen der Leiblichkeit in dieser Richtung abgelenkt, um zu bemerken, daß die Sinne nicht nur stören, sondern geradezu eine unverzichtbare Voraussetzung der angestrebten Transfiguration bilden. So der Künstler, dessen Argumentation allerdings nur vor dem Hintergrund des realistischen Idealismus funktioniert, da Welthaltigkeit ja nicht notwendig eine Implikation der Kunst ist. Es ist leicht vorzustellen, daß der Kardinal hierüber anders denkt. 44
5. Narration Nicht nur der Künstler und der Kardinal sehen in Arnims Erzählung manches mit verschiedenen Augen an. Auch der Erzähler vertritt gelegentlich abweichende Positionen. So fallt auf, daß die anfangs proponierte - und auch favorisierte - Entsagungsthese mit der später (allerdings von Raphael) formulierten Theorie des realistischen Idealismus nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Zwar verdankt sich diese Diskrepanz dem Umstand, daß in der Erzählung verschiedene Erzählinstanzen laut werden, letztlich verantwortet aber Baviera die ganze Narration, in die so eine gewisse schwebende Inkohärenz hereinkommt. 45 Zudem hat Arnim einen Erzähler gewählt (oder erfunden), dessen Kenntnisse und Kompetenzen deutlichen Beschränkungen unterworfen sind. Zunächst einmal hat er Raphael nur in den letzten Jahren seines Lebens gekannt. Früheres muß er sich deshalb von ihm oder anderen erzählen lassen. Dabei mag manches durcheinander geraten sein. Hinzu kommt, daß er vieles nicht behalten, anderes auch wohl gar nicht erst bemerkt oder verstanden hat. »Es quält mich innerlich«, so Baviera, »daß ich Euch nur so wenig aus der Fülle von Erinnerungen aufzuschreiben verstand [,..].«46 Der Erzähler akzentuiert zu Recht, wenn auch vermutlich nicht auf eigene Kosten, daß die Operation des Erinnerns auch eine Funktion des Verstandes ist. In dieser Hinsicht ist die Zuständigkeit des ehemaligen Straßenbettlers, nachmaligen Malerjungen und derzeitigen Kupferstichhändlers nicht zu überschätzen; bedenkt er
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Ebenda, S. 300. Mit dem Wiedereintritt Benedettas (jetzt die Nichte des Kardinals) in die Erzählung deutet sich eine alternative Geschichte an: Raphaels Leben und Werk nicht unter dem Stern Ghitas (des Leibes), sondern dem Benedettas (der Seele). Hätte er besser und mehr gemalt? Und länger gelebt? Vielleicht. Aber vermutlich - zumindest nach der impliziten Kunstdoktrin hätte den Madonnen das Inkarnat gefehlt, die realistische Unterfütterung der pikturalen Transzendenz. Ob hierzu die Groteske ebenfalls erforderlich ist, erscheint fragwürdig, immerhin taugt sie zur Hervorbringung anderer Sujets. Die Bäbe-Novelle ist gleichsam der groteske Buckel auf dem Leib einer das (religiöse) Wunder ins Auge fassenden Künstlererzählung. Siehe dazu Begemann: Frauen-Bilder, bes. S. 400, S. 404 u. ö. Arnim: Raphael und seine Nachbarinnen - Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 260.
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des
Künstlers
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doch selbst, daß sein inneres Haus allzu sehr mit lärmenden Druckerpressen angefüllt sei. Manches scheint über die Verhältnisse des Majordomus im Nebenberuf zu gehen, so die Reflexionen über die beiden Wege des Malers am Anfang der Erzählung; wiederum anderes dokumentiert seine insistierende Naivität, so seine Überzeugung, er habe den Teufel in Gestalt einer Fledermaus an der Tür festgenagelt und so aus der Welt verbannt. Gänzlich erschüttert wird das Vertrauen in den Erzähler durch das folgende Bekenntnis: »Nach diesen Worten oder ähnlichen, denn ich gestehe Euch, daß ich in dergleichen Dingen nicht so genau bin, sondern mich gern der Sachen erinnere, wie sie mir am besten gefallen, - [...].«47 Kurz und gut, Arnim hat einen Erzähler installiert, der keineswegs glaubwürdig ist, der vielmehr als ein mnreliable narrator< in der Erzählung agiert, die er gerade vorträgt. 48 Arnim hat dadurch seiner Erzählung eine zusätzliche Ebene verliehen, eine artistische Brechung, die den Leser beständig zwingt, von der Biographie des Malers zum Akt des Erzählens hinzudenken. Eine letzte Volte vollführt die Erzählung mit dem merkwürdigen Schlußsatz, der schon deshalb eine besondere, aus der Sukzession der Erzählung ausscherende Bedeutung signalisiert, weil er, als Absatz eingerückt, in Klammern eingefaßt ist. Inhaltlich kommt es zu einem eklatanten Widerspruch. Dem emphatischen Versprechen, nunmehr weitere Einzelheiten aus Raphaels Leben (bzw. seiner diskursiven Vermittlung) preiszugeben, folgt der kurze Bescheid vom Abbruch der Mitteilungen, »da dergleichen Beurteilungen hinlänglich vorhanden sind«. 49 Da es wenig Sinn macht, dem Erzähler eine weitere Inkohärenz zu unterstellen, ist anzunehmen, daß an dieser (und nur an dieser) Stelle sich ein weiterer Erzähler (oder Herausgeber oder Redakteur) einschaltet, um so die den gesamten Text durchziehende Metatextualität punktuell explizit zu machen. 50
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Ebenda, S. 295. Vgl. Nünning (Hrsg.): Unreliable Narration. - Auch Wingertszahn registriert die Unzuverlässigkeit Bavieras (Ambiguität und Ambivalenz, S. 359). Ebenda, S. 315. Dies bestätigt der allgemeine Befund Michael Andermatts: »Insgesamt haben Arnims Erzählschlüsse autoreflexiven Charakter.« (Andermatt: Happy-End und Katastrophe, S. 15.) Allerdings berücksichtigt Andermatt Arnims Raphael-Erzählung nicht.
Barbara Becker-Cantarino
Erotisierte Freundschaft in der Konstruktion romantischer Identität am Beispiel Bettina von Arnims
Im November 1805 schrieb Bettina Brentano aus Marburg an Karoline von Giinderrode in Frankfurt: Du warst mir in meiner Einsamkeit oft, was das Echo dem Dichter sein möchte, der sich seine eigene Poesie wieder darstellen will, das heißt, ich sprach bei Dir alles, als wenn ich allein wäre, sprach nicht um Deinetwillen, sondern um Gottes willen, und in dieser Hinsicht ist mir auch das Echo ein großmütiger Freund, ein lieber Freund, dem ich ewig Dank schuldig bin und den ich zum Teil an Dir abverdienen will durch Treue, Wahrheit und Teilnahme an Deinem Schicksal, durch Ehrerbietung gegen Dein Gemüt, wenn Du Dich mir nur nicht entziehen willst, wenn Du nur immer Dein Vertrauen zu mir stärken und erhalten willst. 1
In diesem historischen Brief wirbt die damals knapp zwanzigjährige Bettina um die Freundschaft der fünf Jahre älteren, um eine auf gegenseitige Achtung, Zuneigung und Vertrauen gegründete Beziehung. Bettina artikuliert hier eine egalitäre, subjektstärkende Freundschaftskonzeption, wie sie zumeist zwischen nur zwei oder wenigen Menschen existieren und auch unabhängig von verwandtschaftlichen Bindungen und Liebesverhältnissen gebildet werden kann. Bettina ist die Werbende, die bittet: Ich weiß zwar nicht, ob Du genügsames Gewicht auf meine Freundschaft legst (das heißt so sehr als ich es verdiene), allein das macht mir um meinetwillen wenig Sorgen; wenn Du mich nicht fest glaubst, so werde ich Dich einstens mit der Wahrheit meines Daseins überraschen, wir müssen noch miteinander eine große Freiheit erringen, wir dürfen nicht als Vormünder unserer jugendlichen Natur sie um ihr Gut betrügen. 2
Gegenüber diesen offenen, vorbehaltslosen und emotionalen Freundschaftsbezeugungen Bettinas sind die erhaltenen brieflichen Äußerungen Karoline von Günderrodes zwar herzlich, aber eher distanziert aus der Position der Älteren, die eher belehrend wirkt und Abstand hält gegenüber der jüngeren, die Freundschaft suchenden Schülerin. Für Bettina war diese Beziehung - und andere enge, emotionale Bindungen - subjektstabilisierend und identitätsstiftend. Bekanntlich kündigte Karoline von Günderrode diese knapp zwei Jahre dauernde Freundschaft auf, getrieben von Creuzers Eifersucht auf die Brentanos, auf Clemens und auf Betti-
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Bettine von Arnim: Werke und Briefe, Bd. 1, S. 8 5 9 - 8 6 0 . Ebenda, Bd. 1, S. 856. Dieser Brief ist vom April 1804, Bettina schrieb ihn aus Trages, dem Gut Savignys bei Hanau, kurz vor der Hochzeit ihrer Schwester Gunda mit Savigny.
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na,3 und sie endete endgültig mit Karolines Tod schon am 28. Juli 1806. Erst etwa vierzig Jahre später hat Bettina von Arnim dieser kurzen Freundschaft und der Freundin ein literarisches Denkmal in ihrem >Erinnerungsbuch< Die Günderode (1840) gesetzt. 4 In meinen folgenden Ausführungen möchte ich einmal dem Freundschaftskonzept der jungen Bettina Brentano als historische Zeitgestalt in ihren Briefen nachgehen, das paradigmatisch ist für den Stellenwert von Freundschaft für Subjektkonstitution und Identitätsbildung für die Autorin in der Generation der Romantiker. Zum anderen soll ihre viel spätere literarische Umsetzung dieses Konzeptes betrachtet und verglichen werden, denn in den späteren Erinnerungsbüchern literarisiert die literarisch und politisch aktive, verwitwete Bettina von Arnim diesen Typ erotisierter Freundschaft. Es ist ein Freundschaftsverhältnis mit starker, gefühlvoller Attraktion der Partner zueinander, das die traditionellen Geschlechterverhältnisse umgeht und teilweise neu konstituiert oder zumindest doch beeinflußt, das intersubjektive Beziehungen mit konstituiert und wesentlich zur Identitätsbildung des Individuums beiträgt.
1. Erotisierte Freundschaft und Identitätsbildung Mit den Begriffen Individuum und Individualität meine ich das soziale Abgrenzungskriterium des einzelnen gegenüber der Gesellschaft in der westlichen Zivilisation, wie es etwa von Humboldt oder Schleiermacher zur Zeit der Romantik formuliert worden ist. In der philosophischen Anthropologie und der durch sie beeinflußten, romantischen Literatur wird die Konkretheit und Einzigartigkeit des Individuums angenommen; 5 jeder einzelne hat demnach eine einmalige, unverwechselbare, über verschiedene Rollen, Situationen und Zeiten relativ stabil und konstant bleibende Identität oder Selbst, wie sie es in der Sozialpsychologie heißt.6 3
Von Günderrodes Briefen haben sich keine aus dieser Zeit erhalten, aber Creuzers Worte sind eindeutig. Er schrieb an Karoline von Günderrode: »Daß das Weinen der Bettine dir schmerzlich war, begreife ich und fühle, wie ich Veranlassung bin. - Aber in sich verstehe ich dieses Weinen nicht. Zum Weinen hätte sie freilich Ursache genug. Sie könnte darüber weinen, sollte es sogar, daß sie eine Brentano geboren ist, ferner daß Clemens ihren ersten Informator gemacht, ingleichen und folglich, daß sie egoistisch ist, und kokett und faul, und entfremdet von allem, was liebenswürdig heist. - Seitdem ich sie einmal in Marburg in Savignys Stube hereintreten sah - seitdem ists aus mit mir«. Brief vom 23.6.1806; zitiert nach: Bettine von Arnim: Werke und Briefe, Bd.l, S. 865f.
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So Landfester: Selbstsorge als Staatskunst, S. 213. Diese Annahme der Einzigartigkeit des Individuums sei zum universalistischen Prinzip erklärt worden, erklärt etwa Luhmann: Liebe als Passion, S. 167, aus der Perspektive der Systemtheorie. Luhmann urteilt aus seinem System heraus und muß von daher andere Prinzipien negieren; die Existenz von Individuen und Beschaffenheit von Identität interessiert ihn nicht. Vgl. Erikson (Identität und Lebenszyklus), der den Begriff >Identität< benutzt und entwickelt hat, während in der Sozialpsychologie wie bei Mead (Mind, Self, and Society) bevorzugt von einem >Selbst< gesprochen wird. Ich greife damit auf den Identitätsbegriff in der amerikanischen Sozialpsychologie zurück, Identität als soziales und als psychologisches Organisationsprinzip des einzelnen Menschen zu definieren. Damit lasse ich auch die Diskussion um
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Freundschaft sind dann die freiwilligen, persönlichen Beziehungen zunächst zwischen zwei Menschen oder in einer kleinen Gruppe in wechselseitiger Wahl, denen übereinstimmend ein hoher ethischer Wert beigemessen (dessen Umkehrung und Gegenpole als Feindschaft, Haß und Aggressionen bezeichnet werden) und die zur Identitätsbildung einer Person beitragen. Freundschaft bedeutet nicht nur gemeinsame Interessen der Personen sondern gibt auch den Individuen einen Halt, eine gewisse Stabilität und Verläßlichkeit, Eigenschaften, die in der modernen Verhaltenspsychologie als wichtige Aspekte von Freundschaftsverhältnissen nachgewiesen worden sind und damit zum modernen Begriff des Individuums gehören. Der Soziologe Tenbruck konkretisierte in seinem klassischen Aufsatz zum Thema Freundschaft den Freundschaftsbegriff so: »Freundschaft ist die aus eigenständigen Gefühlen emporwachsende und im anderen Erfüllung der eigenen Individualität suchende und findende und deshalb auch dem anderen wiederum die Erfüllung seiner Individualität schenkende Beziehung.« 7 Tenbruck sah in den gesellschaftlichen Veränderungen des 18. Jahrhunderts eine »größere soziale Differenzierung und Heterogenität, die zu einer Freistellung der Individualität geführt« habe. 8 Der Mensch des 18. Jahrhunderts habe der Differenzierung der sozialen Struktur folgend begonnen, sich als Individuum zu erleben, sein »Ich« entdeckt. Das sei kein unproblematischer Prozeß, sondern durchaus auch mit hoffnungsloser Unsicherheit und Desorganisation in der bunteren sozialen Welt verbunden, die nun eine große Breite und Mannigfaltigkeit abgestufter Daseinsformen angeboten habe. Deshalb seien persönliche Beziehungen, insbesondere die Freundschaft wichtig geworden. Der Freund fungierte als anderes, stützendes Ich: »Der auf sich selbst zurückgeworfene Mensch [findet] in der sozial heterogenen Welt im Freunde nicht ein zweites Ich zu dem Ich, das er selbst schon besitzt, sondern überhaupt sein eigenes Ich erst, indem er im Freunde ein Ich entdeckt.« 9 Zwei Menschen richteten sich aufeinander aus, machten sich stets ein Bild von dem anderen, lebten mit dem Bild auch in dem Bewußtsein, daß der andere auch mit einem solchen Bild von ihm selbst lebe. Nach Tenbruck dient Freundschaft zur Stabilisierung des Individuums, ist die Freundschaft (und Liebe) die am höchsten individualisierte Form der persönlichen Beziehung. Tenbrucks auf Simmel fußende Ausführungen zur Freundschaft als Stabilisierungsprozeß des Ichs sind für literarische Freundschaften durchaus einleuchtend. Simmel hatte den Ausbau »differenzierter Freundschaften« als kürzerfristige, projektbezogene und am Individuum orientierte Gemeinschaften dargestellt. 10 Erst über den Weg der
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das >Einmalige< der Person und um universalistische Prinzipien (oder deren Negierung in der Philosophie der Postmoderne) beiseite. Tenbruck: Freundschaft. Ein Beitrag zur Soziologie der persönlichen Beziehungen, S. 437. Ebenda, S. 443. Ebenfalls weitgehend auf die literarischen Erscheinungen des 18. Jahrhunderts sich beziehend, spricht Albert Salomon: Der Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts in Deutschland, S. 282, von Freundschaft als »seelischer Lebensform«, die nicht auf objektive Werte bezogen ist und ihren Sinn aus der »reinen Individualität« erhält. Tenbruck: Freundschaft, S. 440. Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, S. 269. Interessant ist auch die Untersuchung von Nötzold-Linden: Freundschaft. Zur Thematisierung
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Literatur- und Kunstproduktion wurde eine Ausdifferenzierung von Individualität und Identität möglich, wie Georg Jäger erst wieder am Freundschafts-Paradigma gezeigt hat;11 besonders Freundinnen seien sich Spiegel gewesen, die sich in ihrer weiblichen Identität bestätigt hätten. Der Begriff weibliche Identität< sollte meines Erachtens jedoch vorsichtiger gebraucht und als weibliche Rolle in der Gesellschaft verstanden werden, denn das individuelle Rollenverständnis wurde sicher durch ähnliche Erfahrungen und Verhaltensweisen gegenseitig gestärkt. Nicht aber ist in irgendeiner Weise eine ontologischen Geschlechterdifferenz zu beobachten, die Freundschaft und Individualität um 1800 beeinflußt oder geprägt hätte. Problematisch ist auch Luhmanns These, der Code für Intimität habe im 18. Jahrhundert von Liebe auf innige Freundschaft umgestellt werden sollen, auf liebevolle Freundschaft, die den Unterschied der Geschlechter fast habe verschwinden lassen. 12 Wenn damit der Freundschaftskult der Literaten in Aufklärung und Empfindsamkeit gemeint ist - Luhmann stützt sich ausschließlich auf literarische und kulturhistorische Texte zumeist aus Frankreich, nicht auf historische Quellenforschung - , so ist zu bemerken, daß es sich nur um Männerfreundschaften handelte; deren Freundschaften mit Frauen waren Liebesverhältnisse, die hierarchisch strukturiert waren und von den Männern aus bestimmt wurden, man denke an Klopstock, Wieland, Bodmer, Boie oder den jungen Goethe, 13 und die unterschiedliche soziale Stellung der Geschlechter immer bewahrte. Neu war hier, daß wie bei einer Modeerscheinung viele (junge) Frauen das Begehren hatten, Freundschaften mit männlichen Literaten und auch untereinander einzugehen, die nicht unbedingt nur paarweise als Liebesverhältnisse konzipiert waren. - Luhmann konstatiert weiter, daß schließlich die »Liebe und nicht die Freundschaft das Rennen gemacht und den Code für Intimität gestellt« habe, weil Freundschaft sich als nicht abgrenzbar und als nicht ausdifferenzierbar erwiesen habe. 14 Daß Freundschaft nicht gesellschaftlich irgendwie verankert wurde, sondern eine offene Beziehung blieb, ist nur eine Seite. Daß die sog. >romantische Liebe und Ehe< in literarisch-kulturhistorischen Darstellungen dominiert und die vielen
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einer vernachlässigten soziologischen Kategorie; sie stellt historische, theoretische und empirische Befunde der Forschung zusammen und beschreibt ein Konzept der Freundschaft als nicht-familiale Privatbeziehung. Nötzold-Linden arbeitet akribisch die unterschiedlichen Forschungsansätze und Ergebnisse zum Thema Freundschaft ein. Georg Jäger geht leider weder auf Frauenfreundschaften noch auf Arnim oder die Brentanos ein (Jäger: Freundschaft, Liebe und Literatur von der Empfindsamkeit bis zur Romantik, S. 60-97). Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, S. 103. Vgl. hierzu Becker-Cantarino: Reliquien empfindsamer Freundschaft im Umkreis von Sophie La Roche. Luhmann: Liebe als Passion, S. 163. Der Freundschaftsbegriff ist von Luhmann beiseite geschoben und vernebelt worden, wenn Luhmann die persönlichen, intersubjektiven Beziehungen unterschiedslos vom Geschlecht des jeweiligen Individuums betrachtet. Eine solche Blindheit gegenüber den Geschlechtsrollen und geschlechtsspezifischer Entwicklung erstaunt um so mehr, als Luhmann von dem konfliktreichen »Doppelaspekt von Selbstsein und Nahweltentwurf« ausgeht und für »beide Probleme ein gemeinsames Kommunikationsfeld [...] unter Benutzung des semantischen Feldes von Freundschaft und Liebe« anvisiert (S. 18).
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erotisierten, offenen Freundschaften mißverstanden und verdeckt hat, eine weitere Seite: die erotisierten Freundschaften wurden aus der Perspektive der Ehe betrachtet, idealisiert und abstrahiert. (Dabei wird zugestanden, daß in den historischen Ehen der Romantiker die Männer immer auf ihrer >natürlichen< Vorherrschaft über die Frau in der Ehe bestanden und bei aller Romantik die Ehen bald hierarchisch und gesellschaftlich akzeptabel gestaltet wurden.) Bei Luhmanns Begriff der >amour passion< kommen die hohen ethischen Ansprüche, die ζ. B. Bettina von Arnim oder die Mitglieder des Tugendbundes in der erotisierten Freundschaft stellten, nicht in den Blick. Luhmann wiederholt nur, was Ricarda Huch und die geistesgeschichtliche Germanistik im frühen 20. Jahrhundert (Kluckhohn, Korff) als >romantische Ehe< gefeiert haben, wie abschließend noch weiter auszuführen ist. In folgenden werden die offenen, erotisierten Freundschaften Bettina Brentano-von Arnims auf ihre identitätsbildende Funktion hin untersucht.
2. D i e F r e u n d s c h a f t e n Bettina Brentanos An Bettina Brentano läßt sich zeigen, wie Freundschaft als Eigeninitiátive oder auch Privatsache der Beteiligten auch außerhalb und neben familiären, sozialen und politischen Institutionen entstand: als die große Brentano-Familie durch Todesfälle (die Mutter 1793, der Vater 1797, die mütterliche Schwester Sophie 1800, Freundin Günderrode 1806, die Schwägerin Sophie Mereau Brentano, die Großmutter La Roche 1807) und Heiraten (Clemens 1803, Gunda 1804, Lulu 1805, Meline und Bruder Christian 1810) auseinander ging, vereinsamte Bettina in Frankfurt, da die relativ geborgene Zeit der Kindheit bei Großmutter vom Juli 1797 bis zum November 1802 vorbei war, sie auch keiner Gruppe oder sozialen Institution angehörte (sie war nicht auf einer Schule oder Universität), und sie die ihr angetragenen Heiraten ablehnte, aber ohne Beruf oder sinnvolle Arbeit oder zukunftsweisende Lebensperspektive war. In dieser Leere und Unbestimmtheit ihrer Zukunft reiste sie viel, nahm alle möglichen Privatstunden (von ihrem Taschengeld bezahlt) und suchte bewußt Freundschaften. Zunächst Schloß sie sich Clemens an; schon 1797 bahnte sich die lange, sehr vertraute Freundschaft mit Clemens an, als Clemens die drei Brentano-Schwestern - Gunda, Meline und Bettina - bei der Großmutter La Roche in Offenbach besuchte. La Roche war von Clemens Einfluß auf Bettina wenig erbaut: »II [Clemens] s'est enfermé avec Bettine qu'il imbibe de ses principes, je l'avou, à ma grand chagrin.« 15 La Roche zeichnet hier eine intime, symbiotische Beziehung der Geschwister (enfermé), wobei Bettina die Prinzipien des Bruders »einsaugt«; dieser versuchte, sie an seinen Studienfreund Savigny zu verheiraten (Savigny wählte Gunda). Ab 1801 standen Bettina und Clemens im Briefwechsel, das gemeinsame Mißverhältnis zu den Brüdern Franz und Georg brachte sie näher zusammen; Clemens schrieb 1803 rückblickend an Sophie Mereau über seine Beziehung zu Bettina: »Wir [...] wollten uns gegenseitig in der Liebe geben, was wir nicht vom Le15
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ben erhielten, Treue und Stärke.« 16 Und an Achim von Arnim schrieb er 1802 über Bettina: »Sie ist durch und durch mißhandelt von ihrer Familie und erträgt es mit stiller Verzehrung ihrer selbst. Mich liebt sie, weil ich ihr alles bin, da ich ihr allein nahe bin.« 17 Sicher idealisierte oder idolisierte Clemens die Schwester als seine Muse, die ihm die imaginierte Einheit von Leben und Poesie bedeutete in der Zeit, als er Godwi schrieb; doch zeigen auch Clemens Äußerungen die emotionale Nähe, das einfühlsame Aufeinander-Zugehen und die erotische Attraktion füreinander. Die Zuwendung des großen, bewunderten Bruders war nach der Großmutter die wichtigste Freundschaft für die heranwachsende Bettina. Auch wenn mit Clemens' Heirat eine langsame Entfremdung der Geschwister begann, schrieb Bettina noch nach dem Tod von Clemens Kind (17.6.1805) oft an Clemens, »um mit [ihrer] Teilnahme ihn etwas zu trösten«. 18 Nach Clemens' Verheiratung 1803 trat sie selbst an Karoline von Günderrode heran; eine nähere Beziehung ist aber erst etwa fünf Jahre später für den Herbst 1804 dokumentiert, 19 als Bettina sie im evangelischen Damenstift in Frankfurt zu besuchen begann, wo Karoline seit Mai 1797 lebte. Bettina war erst Ende 1802 von ihrer Großmutter aus Offenbach nach Frankfurt in den Familiensitz übergesiedelt. Ihr ältester Stiefbruder, Vormund und Familienoberhaupt Franz ( 1765-1844) war an einer standesgemäßen Verheiratung interessiert, Bettina mehr an Studien der Philosophie und Geschichte und Privatunterricht in Zeichnen, Gesang und Komposition. Sie mokierte sich über die aus Versorgungsgründen arrangierten Ehen und fühlte sich von dem Frankfurter >Philisterleben< bedrückt und ohne rechte Zukunftsperspektive. Die Familie kritisierte Bettinas Verhalten: »Leichtfertig bis ins Unbegreifliche [...] sie hasset so ganz alles, was nur eine entfernte Ähnlichkeit mit sittlichem Zwang hat«. 20 Auch Karoline von Günderrode stand ihr zunächst ablehnend gegenüber. Bettina »wird mir immer unangenehmer« schrieb sie an die Gunda Brentano, 21 mit der sie sich eng befreundet hatte. Die freundschaftliche Annäherung zwischen Bettina und Karoline kam über gemeinsame
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Zitiert nach Bettina von Arnim: Werke 2, S. 913. Ebenda, S. 914. Bettina Brentano: Die Andacht zum Menschenbild, S. 36; das Zitat stammt aus einem Brief Bettina Brentanos an Savigny von Mitte Juli 1805; den Tod von Clemens Frau, Sophie Mereau, die bei der Geburt gestorben war, erwähnt sie bezeichnenderweise nicht, da die latente Eifersucht sie die Frauen des Bruders nie befreunden und eher abweisend behandeln ließ. Leider sind von dem originalen Briefwechsel der Geschwister in diesen Jahren nur Bruchstücke erhalten - bzw. nur in der von Bettina sehr stark überarbeiteten Form im Frühlingskranz. In einem späten Brief von 1840 erzählte Bettina von einer ersten Begegnung mit [Caroline von Günderrode, wie sie schon 1799 auf einem beliebten Ausflugsziel in der Nähe Frankfurts zusammengetroffen seien, wohl eine ihrer vielen phantasievoll ausgeschückten Reminiszenzen (an Philipp Nathusius; abgedruckt in: Bettina von Arnim. Werke 2, S. 789). Brief von Franz Brentano an Clemens vom 4.6.1803; Bettina Brentano: Die Andacht zum Menschenbild, S. 17. Brief vom 12.7.1803; Preitz: Karoline von Günderrode in ihrer Umwelt. I., S. 182. - Erst als Gunda und Savigny auf der Hochzeitsreise nach Italien waren - Karoline hatte deren Einladung, sie zu begleiten, abgelehnt - besuchte Bettina Karoline nachweislich zum erstenmal im Stift.
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Studien; Karoline wurde Bettinas Privatlehrerin und Mentorin, vielleicht von der Familie Brentano und als Gegenleistung für andere Gefälligkeiten dazu ermuntert, ähnlich wie die Großmutter La Roche Bettina und ihre Schwestern betreut hatte. Karoline und Bettina lasen gemeinsam und trieben Studien der Geschichte, Philosophie und Literatur zusammen. Bettina selbst hat an Savigny berichtet, daß sie »die Geschichte jetzt mit großem Eifer lerne, morgens für mich und nachmittags mit Günderrödchen« 22 und wenige Monate später: »Mit dem Günderrödchen bin ich alle Tage, es treibt mich sehr an zum Lernen«23. Da Bettina häufig Verwandte außerhalb Frankfurts besuchen konnte, schrieben sie sich Briefe, in denen Bettina sich Karoline bewundernd, vertraulich, fast aufdringlich zuwandte und öffnete, wie sie sich in den wenigen erhaltenen Originalbriefen an Karoline mit freundschaftlichen Gefühlen näherte. Freundschaft, Wahrhaftigkeit, Freiheit zu erringen und eine eigene Entwicklung waren die Anliegen Bettinas.24 Sie nannte die Freundin ihr Echo in ihrer Einsamkeit, verband mit der Freundschaft Treue, Wahrheit und Teilnahme am Schicksal der anderen. Der Bruch der Beziehung, Karolines ausdrückliche Zurückweisung Bettinas, kam auf Drängen von Karolines Liebhaber, des Altertums- und Mythenforschers Friedrich Creuzer, der gegen Bettina und Clemens eine regelrechte Abneigung hatte, sie in vertraulichen Briefen an Karoline »schwatzhaft« und »vorlaut« nannte und forderte: »Mache Dich frei von dieser Gesellschaft«. 25 Bei Creuzers Abneigung gegen Bettina mag auch die Eifersucht des Liebhabers auf die Freundin der Geliebten eine Rolle gespielt haben. Nach dem Bruch richtete Bettina noch einen verhaltenen, traurig-selbstbewußten Abschiedsbrief an Karoline, in dem sie um eine Viertelstunde für eine klärende Aussprache bat: Ich habe manches, was ich nicht für Dich verloren möchte gehen lassen, dies alles hat ja auch nichts mit unserem zerrütteten Verhältnis gemein, ich will auch dadurch nicht wieder anknüpfen, wahrhaftig nicht! Im Gegenteil, diese Ruinen {größer und herrlicher als Du vielleicht denkst) in meinem Leben sind mir ungemein lieb.26
Gerade noch in dem Bruch der Freundschaft artikuliert die junge Bettina, welche Bedeutung die Beziehung für sie gehabt hat. Sie hat ihre Briefe von Karoline zurückgefordert, in die sie »ihr Herz hineingeschrieben« hatte.27 Diese Briefe und die Erinnerung bildeten später den Kern von Bettinas Briefbuch Die Giinderode. Aus der Verlusterfahrung kam auch Stärkung, wenn Bettina im Oktober 1806 an Savigny schrieb: »Die traurige Geschichte der Günderrode zieht manchmal noch wie ein Herbstnebel vor mir auf und verzieht sich auch wieder wie ein solcher
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Brief an Savigny von Ende Okt. 1804; Bettina Brentano: Die Andacht zum Menschbild, S. 25. Brief an Savigny vom 15.4.1805; ebenda, S. 32. Vgl. die Zitate oben, auf S. 229. Brief vom Mai 1806; zitiert nach: Bettine von Arnim: Briefe und Werke, Bd. 1, S. 865. Brief an Karoline, Juni 1806; zitiert nach ebenda, S. 867. Ebenda.
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durch die warmen Sonnenstrahlen meiner Freunde«. 28 Vordergründig meinte sie den Selbstmord, dahinter stand die Trauer über den Verlust der Freundschaft. Bettina suchte nach dem Bruch mit Karoline Umgang mit Goethes Mutter: »Ich habe mir die Rätin Goethe statt [der Günderrode] zur Freundin gewählt [...] und bin nun bei ihr wie ein Kind und laß mir wohl sein bei ihr wie Goethe, und von ihren mütterlichen Lippen fließt die Geschichte von Goethes Mai in herrlichen Worten.« 29 Bettina zeigt hier, wie sie durchaus überlegt und gezielt Freundschaften sucht, anknüpft und emotionalisiert. Schon nach ihrem ersten Besuch in Weimar 1807 schrieb Bettina Brentano an Goethe selbst: »Du guter großer herrlicher Freund, ich steh auf einem Felß in meiner Liebe, auf den ich mit Lebensgefahr gekommen bin, ans herunter klettern ist gar nicht zu Denken, da bräche ich auf allen Fall den Hals«. 30 Bettinas Begegnungen mit Goethe mit ihren kuriosen und auch komischen Aspekten sind ausgiebig dargestellt worden. 31 Es bleibt festzuhalten, daß auch diese Freundschaft - wie auch die mit Savigny - zu den sehr persönlichen, intersubjektiven Beziehungen gehört, die Bettina zur Stabilisierung ihrer Identität benutzte und die sie viel später mit Emotionalität und Expressivität in ihren Briefbüchern literarisiert hat. Signatur dieser Freundschaften ist eine immediate, frei artikulierte Emotionalität, jedenfalls auf Seiten Bettinas; eine (fast immer) gegenseitige, körperliche Attraktion; und eine erotische Aufladung der Beziehung, jedenfalls in der Phantasie, wobei daraus keineswegs auf eine sexuelle Beziehung geschlossen werden kann oder sollte und diese hier als solche weder ausgeschlossen noch angenommen wird. Diese Beziehungen wurden auch mit Liebe und ebenso mit Freundschaft bezeichnet.
3. Bettina von Arnims Briefbücher als Texte erotisierter Freundschaft Schon in Goethes Briefwechsel mit einem Kinde (1835) hatte Bettina von Arnim frei mit dem Material, dem originalen Briefwechsel und Texten aus dem Umfeld, geschaltet und sich höchst kunstvoll und phantasiereich als »wesenhaft poetische Kindfrau« 32 in der Figur der Mignon in den fiktiven Briefwechsel mit Goethes Mutter und mit Goethe eingeschrieben (datiert auf 1801 bis 1824) und ein rhapsodisches >Tagebuch< mit dem, wohl Goethes West-östlichem Divan entlehnten Untertitel >Buch der Liebe< angefügt. In der Synthese von sinnlicher und geistiger Liebe und der Bildung durch liebevolle, erotisierte Freundschaft knüpfte sie an romantische Vorstellungen ihrer Jugend an, und sah darin ihre kreative, produktive Fähigkeit als eine utopische Möglichkeit. Der >Geliebte< wurde von dem Ich >Betti28 29 30
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Bettina Brentano: Die Andacht zum Menschbild, S. 55. Bettina an Savigny im Juli 1806; ebenda, S. 44-^5. Bettina Brentano an Goethe, 21. Dezember 1807, Originalbrief; zitiert nach: Bettine von Arnim. Werke und Briefe, Bd. 2, S. 584. Zum minutiös aufgearbeiteten Verhältnis von Goethe und Bettina s. Hans Härtl in: Bettina von Arnim. Werke, Bd. 1, S. 629-720; Bäumer: Bettine, Psyche, Mignon: Bettina von Arnim und Goethe; und in: Bettine von Arnim: Werke und Briefe, Bd. 2, S. 573-1170. Landfester: Selbstsorge als Staatskunst. Bettine von Arnims politisches Werk, S. 183.
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ne< als eine Art Projektionsfläche des eigenen Begehrend und eigener Wunschvorstellungen. Sie nahm die Position einer kulthaften Hingabe an den großen Vater ein, der zum Inbegriff ihrer Verehrung wurde: »[...] ich auch tue alles, damit sein Andenken mir blühe. - Die Liebe tut alles sich zulieb, und doch verläßt der Liebende sich selber und geht der Liebe nach.« 33 Wie ein Narziß in der Hingabe an die eigene Liebe endet das Tagebuch. »Liebe« ist hier die erotisierte Beziehung zwischen der Ikone Goethe und der Kindfigur, in der die Autorin durch die Mignon-Figur sich zum Genius, zur Kunst anregenden Muse und zur Künstlerin, die die Welt durch Kunst neu erschafft, stilisiert. Mit ihrem Goethe-Buch trat Bettina von Arnim erstmals selbst als Schriftstellerin und Künstlerin auf, als Autorin des Lebens von Goethe, mit eigenem Schöpfertum in dem Wandel von der Kunstfigur Mignon zur kreativen Schriftstellerin, wie denn die Autorin Bettina von Arnim romantischer Kunstauffassung gemäß als Naturtalent, das allein von seinem Ingenium inspiriert wird, erscheinen wollte. Bettinas fiktionale, erotisierte Freundschaft mit Goethe gehörte natürlich zum Goethe-Kult ihrer Zeit und zur Schwärmerei für große Dichter und Vaterfiguren, für die sich viele literarisch interessierte Frauen (darunter auch Rahel Varnhagen, Sophie Mereau oder Karoline von Wolzogen) sowie auch Männer begeistert haben. Darunter war auch Karl Zelter, der in seinen Briefen Goethe apostrophierte als »mein Holdester, Guter, bester, Einziger!«, »göttlichen Freund«, »süßgeliebtes, freundliches Herz«, »mein Allerschönster«, »Allersüßester«, »Geliebtester« 34 und sich »wie eine Kind« fühlte, das »an Deiner Brust neue Lebensmilch eingesogen« habe. 35 Die stark emotive Sprache der Liebe muß nicht unbedingt mit einem Liebesverhältnis zwischen Goethe und Zelter oder Goethe und Bettina gleichgesetzt werden, obwohl Zeitgenossen das teilweise als Tabubruch verstanden. So tadelte Bruder Clemens seine Schwester nach dem Erscheinen des Goethe-Buches: [W]ird dem Ganzen dadurch irgendein Nutzen gebracht, daß alle Menschen in Europa wissen, daß Du nicht wohl erzogen auf dem Sofa sitzen kannst und Dich übel erzogen auf eines Mannes Schoß setzest [...]. Ich glaube, weder Achim noch Goethe würden eine solche Veröffentlichung gebilligt haben, und wie Savigny als Vormund der Kinder es konnte, weiß ich auch nicht. [...] gar nicht davon zu reden, daß Goethe ein verehelichter Mann gewesen.36
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Goethes Briefwechsel mit einem Kinde wird zitiert nach: Bettina von Arnim: Werke. Bd. 1, S. 573. Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832, S. 110, 156,214,225, 351,380, 562, 673. Ebenda, S. 354. Der Selbstvergleich mit einem Kind findet sich häufig bei dem Goethe-Bewunderer Zelter, dem Berliner Maurermeister, Komponisten und Musikpädagogen, dessen musikalische Urteile Goethe übernahm und dessen Vitalität er bewunderte. Beide planten die posthume Veröffentlichung der Briefe; Zelters Briefe sind z.T. in mehrern Konzeptvorlagen erhalten, was die Stilisierung und Literarisierung des Briefwechsels unterstreicht. Brief von Clemens an Bettina vom 17.6.1834; Bettina von Arnim: Werke. Bd. 1, S. 693. Clemens fand aber auch sehr anerkennende, einfühlsame Worte fur Bettinas poetische Sprache.
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Clemens Kritik richtet sich einmal gegen Bettinas erotisierte Darstellung ihrer Beziehung zu Goethe; Clemens spiegelt die Rezeptionshaltung eines Teiles des literarisch interessierten Publikums. 37 In der Darstellung ihrer Freundschaft mit Goethe, die durchaus als habe sie Anspruch auf Realität und historische Wahrheit gelesen wurde, hatte Bettina die Grenzen des Schicklichen in der Geschlechterbeziehung überschritten; eine fünfzigjährige Witwe und Mutter erwachsener Kinder sollte sich nicht in einer erotischen Freundschaft mit einem verheirateten Mann, einer kulturellen Ikone, zeigen. Zwar schüttelte Bettina die Einwände damit ab, daß Clemens »eine alte Schlafmütze« sei mit seinem »verehelichten Goethe und mit [seinem] wohlerzogenen Frauenzimmer auf dem Sopha«, 38 konnte damit aber nicht die vielfach als peinlich empfundene, aufdringliche Erotik aus dem Wege räumen. Was der romantischen Jugend noch erlaubt war, wurde bei der alternden Frau als unpassend empfunden und wurde aus der Perspektive einer ehelichen Beziehung beurteilt. Bettina hatte außerdem in ihrer Darstellung erotisierter Freundschaft die traditionelle Rollenverteilung der Geschlechter angerührt; ihre Kunstfigur Bettina will auch in ihrer erotischen Position als Anbeterin eher belehren statt belehrt zu werden, will ihren Geist an dem großen Goethe auslassen. Diese »Poetisierung des Faktischen« 39 ermöglichte der Autorin Bettina von Arnim eine selbstbestimmte Grenzüberschreitung und originäre Kreation ihres Goethe-Bildes, einmal im Text des Briefwechsels und dann in einem von ihr lange geplanten Goethe-Denkmal, ein Projekt, das aus heutiger Perspektive ebenso skurril erscheinen mag, wie ihre historischen Begegnungen mit Goethe. Dennoch hat auch die historische, erotisch aufgeladene Freundschaft der Selbstfindung und Identitätsbildung Bettinas geholfen, wie auch die später poetisierte und romantisierte Darstellung zeigt. Ganz ähnlich hat Bettina von Arnim in ihrem Günderode-Buch ihrer Freundschaft mit der Dichterin Karoline von Günderrode ein Denkmal gesetzt. Der nach historischem Kern erweiterte und transformierte Briefwechsel ist zu >Dichtung und Wahrheit< geworden, ohne die Form des chronologischen Fortschreitens durch ein Leben anzunehmen, wie es die traditionelle Biographie tut. Bettina schaltete frei mit den Resten der originalen Korrespondenz, indem sie die Briefe durch Weiterfuhrung und Zusetzung von Motiven, Poetisierung und Glättung der Sprache, neuer Komposition vieler Briefe und Stellen, Hinzufügung von Gedichten und Fragmenten Karoline von Günderrodes, eigenen Dichtungen und Texten von anderen zu einem Briefbuch komponierte und strukturierte. Das Briefbuch erhielt so die Form eines literarisierten Gedanken- und Gefuhlsaustausches zwischen den Kunstfiguren >Bettine< und >Günderode< mit nur ganz gelegentlich zeitlicher oder örtlicher Konkretisierung. Ein historisches, authentisches Porträt der 37
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Die Frankfurter Familie hatte sogar verlangt, Bettina solle die ganze Auflage vernichten, weil sie das Buch fur überspannt, zweideutig und gegen den katholischen Glauben hielten; ebenda, S. 692. Ebenda. So bezeichnet Bunzel Bettina von Arnims Verfahrensweise in seiner ausgezeichneten Analyse: »Phantasie ist die freie Kunst der Wahrheit.« Bunzel: Bettine von Arnims poetisches Verfahren in Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, S. 23.
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Freundin oder Freundschaft strebte Bettina von Arnim nicht an, sondern eine eigene, teilweise autobiographische aber eher noch poetisierte und literarisierte Darstellung einer Identitätsfindung in der Künstlerfigur.40 Es war eine eigene Dichtung im romantischen Poesieverständnis der Heidelberger Romantik, wie Clemens und Achim etwa in der Sammlung Des Knaben Wunderhorn Restauration und Neuschöpfung kreativ miteinander verbunden hatten. Es war auch eine bewußte Erinnerung und Rückwendung an die Romantik der Jugendzeit, wie sie an Clemens schrieb: »Die Briefe, die sich vorfinden zwischen mir und der Giinderode, wo sooft von Dir die Rede ist, hatten mir frühere Zeiten zurückgeführt, und dann sieht man in der Ferne oft die blauen wolkenberührten Berge für den Himmel an, und mehr dergleichen ereignet sich.«41 In diesem Zeugnis und Rettungsversuch der romantischen Epoche,42 ihrer eigenen Jugend und der romantischen Freundschaft hat sie eine Art von Selbstheilungsversuch unternommen und sich damit stabilisiert. Deshalb hat sie wohl im Giinderode-Buch den historischen Bruch der Freundschaft mit Karoline nicht thematisiert und deren Selbsttötung nicht beschrieben (das hatte sie im Goethe-Buch eingeschoben), während gerade der offene Austausch für die Beziehung zwischen den beiden Freundinnen charakteristisch ist. Für den »Selbstbildungsprozess«,43 den die Autorin im Giinderode-Buch dokumentiert, zieht sich das Thema Freundschaft wie ein Leitfaden durch das Buch. Es ist die Geschichte einer idyllischen Freundschaft, in der sich Bettine zunächst als Schüler, die ältere Dichterin als Lehrer verstehen, wie auch die auf den ersten Brief Karolines folgende Dichtung »Die Manen« impliziert.44 Die Manen - im antiken Rom die Seelen der Toten, die Genien oder Geister - führen in die erinnerte Vergangenheit ein, der Schüler sehnt sich »nach unmittelbarer Verbindung mit den Manen der großen Vorzeit«, hat die Gruft des großen Schwedenkönigs Gustav Adolf besucht und erschaudert vor der Vergänglichkeit allen Lebens, sogar dem Vergessen der Großen. Der Lehrer weist auf das Weiterleben der Vergangenen hin, wenn wir der Verbindung mit Verstorbenen gewahr werden durch den 40
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Auf die politische Dimension kann hier nicht eingegangen werden. Schon in der Widmungsvorrede »Den Studenten« weist Bettina von Amim ausdrücklich auf die politisch aktiven Studenten, auf die junge aufstrebende Generation national, demokratisch und freiheitlich gesinnter Akademiker, wie sie sich in dem Kreis junger Verehrer in Bettinas Salon gesammelt hatten. Ihre Vorrede war eine verschleierte, aber gewagte politische Stellungnahme, die die Zensur herausforderte. Brief vom 27.4.1839; Bettina von Arnim. Werke, Bd. 2, S. 799. Mit ihrem Verfahren des erdichteten Briefes als erfundenem Beleg wollte sie die Aktualität der Romantik beglaubigen und mit ihrer Rückbesinnung auf die Frühromantik wollte sie die Brücke zum Vormärz schlagen, wie auch Ludwig Tieck und Joseph von Eichendorff die Romantik in die neue Zeit mit herüberretten wollten. Landfester: Selbstsorge als Staatskunst, S. 212. Diesen Prosadialog, den Karoline von Günderrode schon 1804 in Gedichte und Phantasien von Tian unter ihrem Pseudonym publiziert hatte, hat die Autorin Bettina von Arnim mit erheblichen stilistischen Veränderungen in ihr Briefbuch eingeschoben. Sie könnte eine Abschrift mit Varianten besessen haben, wahrscheinlich hat sie jedoch die stilistische Glättung und Kürzung selbst vorgenommen. Alle Zitate nach: Bettina von Arnim: Werke, Bd. 2, S. 1215.
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»inneren Sinn, das tiefste und feinste Seelenorgan«. 45 Diese »Geistesgabe, Licht« aufzufangen, diese »Sinnenfahigkeit«, habe Religionen und »die prophetische Gabe, Gegenwart und Vergangenheit mit der Zukunft zu verbinden« entstehen lassen. Die Autorin Bettina von Arnim hat mit diesem (leicht überarbeiteten, damit angeeigneten) Text der Freundin ihr Konzept der erinnernden Freundschaft dargestellt und es in die Nähe von Religion und Dichtung gerückt. Sie hat die Trennung von Lehrer und Schüler, von Vergangenheit und Gegenwart, von Verstorbenen und Lebenden verwischt. Diese Verwischung entspricht dem Ideal harmonischer Übereinstimmung und geistiger Verbindung, der Sehnsucht nach Gemeinschaftlichkeit in der Freundschaft. Diese Freundschaft geht auf in Dichtung und Religion: »Wessen Geistesauge Licht auffangt, der sieht dem andern unsichtbare, mit ihm verbundene Dinge«. 46 Die Autorin Bettina von Arnim hat hier die ursprüngliche Fassung Karoline von Günderrodes fast unmerklich abgewandelt, sie hat deren philosophisches Lehrgespräch über die Vergänglichkeit und Grenzen des rational Erfaßbaren und den inneren Sinn, das Auge des Geistes, ein wenig verschoben, 47 indem sie es auf die Freundschaft bezogen und ihm poetisch-religiöse Töne verliehen hat. Die Thematisierung einer Frawe«freundschaft war ein neues, ungewöhnliches poetisches Sujet in der deutschen Literatur, die zwar im 18. Jahrhunderts auch oft auf Freundschaftstraktate (wie Ciceros Laelius. De Amicitia) und exemplarische Freundespaare aus der Antike (etwa Orest und Pylades) und Freundschaftsdichtung der Renaissance zurückgreifen und diese literarisieren und neu gestalten konnte, doch handelte es sich hier ausschließlich um Freundschafts- und Treuebündnisse zwischen Männern, wie etwa in Pyra und Langes Freundschaftlichen Liedern (1745) oder Schillers Ballade Die Bürgschaft. Besonders die Frühromantik kannte zeitweise symbiotische Freundschaftspaare (Tieck und Wackenroder, Friedrich Schlegel und Schleiermacher, Hölderlin und Sinclair, Achim von Arnim und Clemens Brentano). Für Frawewfreundschaft als eine zwischenmenschliche, geistig-seelische Beziehung zwischen gleichgesinnten, autonomen Frauen gab es jedoch (und gibt es) keine literarische Tradition, keine großen historischen oder mythologischen Vorbilder. Bettina von Arnim wußte um diese Traditionslosigkeit der Frauenfreundschaft und schrieb sich spielerisch-ironisch in die männliche Freundschaftsgeschichte ein, wenn sie ihrer Kunstfigur »Bettine« in den Mund legt: Wir beiden Philosophen halten [...] große tiefsinnige Spekulationen, wovon die Welt in ihren eingerosteten Angeln kracht, wenn sie sich nicht gar undreht davon . [...] Ich bin Dein lieb-
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Ebenda, S. 15. Ebenda. Karoline von Günderrodes publizierter Text lautete: »Wem also der innere Sinn, das Auge des Geistes aufgegangen ist, der sieht dem Andern unsichtbare und mit ihm verbundene Dinge« (Karoline von Günderrode: Sämtliche Werke und ausgewählte Studien, Bd.l, S. 35). Bettina von Arnim erweiterte den »inneren Sinn« zur »Geistesgabe, Licht zu empfangen«, zu einer dichterisch-prophetischen Gabe, wie sie die Romantik (Novalis, Friedrich Schlegel) dem Dichter zuschrieb.
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ster Freund und Schüler Dion; wir lieben uns zärtlich und lassen das Leben füreinander [...]. Für meinen Piaton, den großen Lehrer der Welt, den himmlischen Jünglingsgeist mit breiter Stim und Brust, mit meinem Leben einstehen!48 Die Autorin stellte ihren Text und ihre Freundschaft mit der Dichterin unbefangen in die große abendländische kulturelle Tradition von Philosophie, Lehre und Männerfreundschaft und belächelt die >eingerostete< Welt, das Unvermögen der rationalen Philosophie, die Welt erklären zu können. Das Günderode-Buch wurde das zum Paradigma der Frauenfreundschaft 49 geworden, eine Art Auratisierung im Stile der Goethe-Schiller-Freundschaft. 5 0 Die Freundschaft in Die Günderode ist eine Beziehung zwischen zwei sich gegenseitig schätzenden, gleichwertigen, autonom handelnden Frauen, die jedoch in Charakter, Temperament, Lebenserfahrung und -umständen sehr verschieden sind. Dagegen war die Paarbeziehung im Goethe-Buch eine hoch erotisierte Freundschaft zwischen einer Kindfrau und einem angebeteten, übergroßen Dichtervater, allerdings dargestellt mit spielerisch subversiver Übertreibung. 51 Im Günderode-Buch sind erotisch-sexuelle Anspielungen und Fantasien, wie sie noch im Goethe-Buch eine zentrale Rolle spielten, eher konventionellen Ausdrücken aus der traditionellen Paarbeziehung gewichen wie »mich quält Eifersucht«, »Untreue« oder »Sehnsucht«. 5 2 Doch variiert auch hier die Autorin den abgegriffenen Topos der Eifersucht, indem sie ihn auf >Bettines< Unvermögen (oder Unwillen) bezieht, den philosophischen Gedankengängen in dem Gedicht der Freundin Ein apokaliptisches Fragment folgen zu können (oder zu wollen). >Bettine< wirft der Freundin vor, daß ihr Denken außerhalb der Kreise schweife, w o sie sich begegnen könnten. Philosophie und Dichtung stehen zwischen den Freundinnen, nicht ein störender Dritter, ein Mann oder eine Frau. >Bettine< ist durchaus die Werbende, die sich immer wieder nähert, die Freundin umkreist, sie zu verstehen und
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Bettina von Arnim: Werke, Bd. 2, S. 50. Schon Christa Wolf interpretierte Die Günderode als eine utopische Frauenfreundschaft, die an der schlechten Wirklichkeit scheitern mußte: »Dieses Buch schildert ein Experiment, auf das zwei Frauen sich eingelassen haben, sich gegenseitig haltend, bestärkend, voneinander lernend. >UtopischBettine< als ursprünglich passiver Partner aus dem Verhältnis auszubrechen, denn am Anfang steht »in fast karikaturistischer Penetranz« 55 das Erziehungsprojekt der Kunstfigur >ClemensRestauration< des Vergangenen begreift, sondern als Versuch, dieses mit dem Modernen ästhetisch zu kontaminieren. So schreibt Arnim 1805 in seinem Aufsatz Von Volksliedern, der zunächst gekürzt in der Berlinischen Musikalischen Zeitung erscheint und dann vollständig als Anhang zu Des Knaben Wunderhorn:78 Es gehe ihm darum, den »Reichthum unsres ganzen Volkes« mitzuteilen, »was sie begleitet in Lust und Leid, Lieder, Sagen, Kunden, Sprüche, Geschichten, Prophezeiungen und Melodieen« - und zwar mit durchaus politischer Implikation, nämlich »zu dem allgemeinen Denkmahle des größten neueren Volkes, der Deutschen«.79 Im Sinne der >historia tripartita< erfüllen die Volkslieder daher eine dreifache Funktion: Sie sind »das Grabmahl der Vergangenheit, das frohe Mahl der Gegenwart, der Zukunft ein Merkmahl in der Rennbahn des Lebens«.80 Ähnliche Tendenzen bestimmen überdies die Zeitung fiir Einsiedler, die Arnim in Zusammenarbeit mit Brentano vom 1. April bis zum 30. August 1808 in Heidelberg herausgibt und die noch im selben Jahr unter dem Titel Trost Einsamkeit, alte und neue Sagen und Wahrsagungen, Geschichten und Gedichte an gleicher Stelle als Buch erscheint.81 Auch hier geht es in erster Linie darum, »die hohe Würde alles Gemeinsamen, Volksmäßigen darzustellen«.82 Der Kunstcharakter der Adaption gewinnt auf diese Weise den Vorzug gegenüber dem Konservierungsgehalt der Reproduktion. 83 Zur Legitimation des eigenen Projekts verweist Arnim auf die englische Literatur, in der die »Nachahmung der alten Romanzen« am eingehendsten betrieben worden sei. Das Muster ist - wie bereits erwähnt - Ossian, denn »unter allen diesem nachgemachten Alterthume ist nie etwas erschienen, was den Geist der Zeit so lebendig berührt hat wie Macpherson mit seiner Neumachung der alten Gedichte, das geht so weit, daß man jezt kaum die alten sehr merkwürdigen Fragmente lesen mag, die jezt unverändert erscheinen«.84 Arnim wendet sich also dezidiert gegen den Versuch, das gälische Original gegen Macphersons Übersetzung auszuspielen. Im Brief vom 28. Mai 1810 schreibt er daher an Joseph Görres: »Deine Rezension über Ahlwardts Ossian enthält viel Wahres zur Vertheidigung des Ossian und des Macpherson f...]. Es thut mir leid, daß Du den Johnson, der den armen Macpherson zu Tode quälte mit dummen Kritiken, nicht besonders bestraft hast«.85 Ähnlich sieht es Brentano, wenn er nur den bedeutenden Autoren ein »Talent für die Heiligkeit dieses ewigen Kindes, des ächten Romantischen Volkslieds« attestiert:
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Vgl. Arnim: Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 1135f. (Kommentar). Arnim: Von Volksliedern - Arnim/Brentano: Des Knaben Wunderhorn (Kritische Ausgabe, Reclam), Bd. 1, S. 414. Ebenda. Vgl. auch Kozietek: Das kulturpolitische Programm der »Zeitung fiir Einsiedler«. Arnim: An das geehrte Publikum - Zeitung für Einsiedler, Anhang der Buchausgabe, Sp XII. Vgl. Schultz (Hrsg.): Freundschaftsbriefe, Bd. 2, S. 490 (Brief Arnims vom 6. Februar 1808). Ebenda, S. 491. Görres: Gesammelte Briefe, Bd. 2, S. 104 (Brief vom 28. Mai 1810).
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Die meisten Menschen sind des Sinnes dafür beraubt, und müssen erst die Unschuld erlernen, die dazu gehört, die Schuld zu verlernen, und jene Lieder wieder zu hören, die vielen Ohren gar nicht hörbar sind. Daher kömmt es, daß nur immer die treflichsten Männer der Völker sie sammeln, Percy, Makperson [sie], bei den Engländern, Göthe, Herder, bei uns, - Schiller war es schon nicht mehr im Stande, seine Natur ist gewaltthätig, seine Poesie durch Reflexion unrein, mehr groß an uns, und an ihm, als an sich selbst, denn an sich ist nur das Einfache, Unschuldige groß.86
Durch die Adaption alter Poesie soll eine Gedächtniskultur etabliert werden, die das Vergangene für die Zukunft fruchtbar macht. Hieraus erklärt sich auch die der >Novellensammlung von 1812< eingefugte Szene kollektiver Erinnerung an Karoline von Günderrode. Denn beim Anblick der herbstlichen Landzunge, auf der die gemeinsame Freundin Selbstmord begangen hat, stimmt Arnim eine ossianisch inspirierte Klage wider das Vergessen an: Ein edles musenheiliges Leben sank da in schuldlosem Wahn, und der Strom hat den geweihten Ort ausgetilgt und an sich gerissen, daß er nicht entheiligt werde. Arme Sängerin, können die Deutschen unsrer Zeit nichts, als das Schöne verschweigen, das Ausgezeichnete vergessen, und den Ernst entheiligen? Wo sind Deine Freunde? Keiner hat der Nachwelt die Spuren Deines Lebens und Deiner Begeisterung gesammelt, die Furcht vor dem Tadel der Heillosen, hat sie alle gelähmt. Nun erst verstehe ich die Schrift auf Deinem Grabe, die von den Tränen des Himmels jetzt fast ausgelöscht ist, nun weiß ich, warum Du die Deinen alle nennst, nur die Menschen nicht!87
Arnim zitiert darüber hinaus den von der Günderrode selbst bestimmten Grabspruch aus Herders Gedanken einiger Brahmanen, ohne allerdings um dessen Provenienz zu wissen. Die Verbindung von Klage und Gedächtniskultur im Zeichen des keltischen Barden findet sich auch in Bettine von Arnims Roman Die Günderode (1840), der einen Neudruck des Gedichts Darthula nach Ossian enthält,88 das die Protagonistin 1801 verfaßt und 1804 nochmals leicht überarbeitet hat.89
5. Arnims poetisches Programm unterscheidet sich von dem Macphersons durch den positiven Finalismus, der zumindest auf Theorie-Ebene virulent ist90 und sich einer enthusiastischen Hölderlin-Rezeption verdankt. Denn hier wie dort sollen die für die zeitgenössische Gesellschaft konstitutiven Antagonismen überwunden und
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Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 31, S. 573f. (Brief vom 7. August 1806 an Johann Hugo Wyttenbach). Arnim: >Novellensammlung von 1812< - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 776. Vgl. Bettine von Arnim: Werke und Briefe in drei Bänden, Bd. 1, S. 550-556. Vgl. Günderrode: Darthula nach Ossian - Gedichte und Phantasien von Tian, S. 3-14. Auch in: [Bettine von Arnim:] Die Giinderode. Erster Theil, S. 426^134. Helga Halbfass postuliert für das spätere Werk - insbesondere das Romanfragment Die Kronenwächter - eine zunehmende ästhetische Desillusionierung Arnims (vgl. Ironie und Geschichte, S. 72-74).
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»die irdisch entfremdete Welt zu ewiger Gemeinschaft« 91 zurückgeführt werden. Bereits 1802 läßt Arnim seinen Romanprotagonisten diese Utopie verkünden: [F]rey ist die Natur, sie läßt ihre Früchte fallen und sie gehen in tausendfachen neuen Keimen auf, und wo die Kunst eine einige Natur wird, da ist mein Reich, da treibe ich Wurzeln in die Unendlichkeit, in die Vergangenheit bis zum Ursprünge, in die Zukunft bis zur Erneuerung der Welt, da ist mein Vaterland, da reichen ruhig einander die Steine zu dem ewigen blauen Tempel alle die wechselnden Geschlechter der Erde; - o da sey mein Abend, und es wird mir an einem Mahle nicht fehlen, wie heute.' 2
Dieser Akt einer ästhetischen Mediation des historisch Divergenten fuhrt zur weitgehenden Vermeidung extremer Gefühlssituationen. So konstatiert der Erzähler in Gräfin Dolores - wohl nicht zuletzt in Absetzung von Kleist: »Wir hassen alle schauderhaften Bilder, die das Gemüt trostlos verwirren; wir halten es gefahrlich sogar, den Menschen unnötig mit zerrissenem Herzen auszustellen, um die Mitmenschen zu rühren, oder ihn neugierig zu beobachten«. 93 Und auch die Künstlerthematik, die bei Arnim ohnehin nicht im Zentrum steht, wird - anders als bei E. T. A. Hoffmann - an keiner Stelle mit dem Wahnsinnsmotiv verbunden. 94 Das Geschichtsmodell bleibt >abgefedert< durch den Glauben an eine gute Vorsehung, die mächtiger ist als alles Böse. 95 Die Poesie vermag jedoch nur zu vermitteln, nicht zu euphemisieren. Die ästhetische Verbrämung der existentiellen Trauer über den Status Quo liegt außerhalb ihrer Möglichkeiten: »[W]ie ist die Kunst zu schwach den Abgrund zu bedecken mit schönen [sie] Schein, doch diese Kunst ist schrecklich, die betrügt, die rechte Kunst ist wahr, sie heuchelt nie den Frieden, wo sie ihn doch nicht geben kann«. 96 An dieser Stelle überlagern sich primäre und sekundäre Intertextualität, denn Arnims Betonung des Elegischen verweist nicht nur auf Ossian, sondern auch auf Schiller 97 und Hölderlin 98 . Nun gilt Macphersons Werk diesen beiden Autoren ebenfalls als Paradigma des Elegischen. Denn Ossian »sucht die Natur«, so Schiller in Über naive und sentimentalische Dichtung (1795-96), »aber als Idee und in einer Vollkommenheit, in der sie nie existiert hat, wenn er sie gleich als etwas Dagewesenes und nun Verlorenes beweint«. 99 Und auch Hölderlins Hyperion weist - wie schon Howard Gaskill überzeugend herausgearbeitet hat - eine Vielzahl ossianischer Pattems auf, die sich primär auf diesen Diskurs beziehen. 100 Im " Arnim: Die Kronenwächter - Werke in sechs Bänden, Bd. 2, S. 14. 92 Arnim: Ariel's Offenbarungen, S. 215. 93 Arnim: Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores - Werke in sechs Bänden, Bd. 1, S. 396. 94 Vgl. Weiss: Achim von Arnims Harmonisierungsbedürftiis, S. 84. 95 Vgl. Arnim: Landhausleben - Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 597. 96 Arnim: Der Wintergarten - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 421. 97 Vgl. Ricklefs: Kunstthematik und Diskurskritik, S. 6. 98 Vgl. Halbfass: Ironie und Geschichte, S. 60, 69 und 71. 99 Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 730. Vgl. hierzu auch Schmidt: >Menschlichschön< and >kolossalischjoy of griefumgekehrtem Erhabenen< darstellen und für die Erkenntnis der höheren Wahrheit unerläßlich sind. Dies gilt im übrigen gleichermaßen fur die Rezeption von Macphersons Dichtung. So mokiert sich Arnim im Städtchen Salamander {Szenen aus dem ländlichen Preußen) über den philologisch-historischen Ossiandiskurs, wenn er die skurrile Figur des Professors Lodbrag auftreten läßt, der »in schlechtem Englisch« berichtet, sein Begleiter der blauäugige Ossian stamme ab von uralten irländischen Barden, wisse die echten alten Gesänge, welche von Macpherson gänzlich verdorben wären, sie wären wunderschön nur könne er bis jetzt kein Wort davon verstehen, denn er leme langsam, behalte aber dann auch alles fiir die Ewigkeit. Der Lord hörte wenig auf seine Rede, denn seine ganze Seele fühlte sich von dem Irländer angezogen, so frei und herrlich stand er da wie der Mensch unter Tieren. Der Hintergrund seiner Augen schien wie ein verfinsterter Himmel große Ereignisse der Welt zu verbergen, aber der Leichtsinn jugendlicher Kraft spielte ihm um den trotzig aufgeworfenen Mund, in den Grübchen seiner Wangen und seines Kinns. Er schien mit innigem Vergnügen die ungelenken Bewegungen des Professors zu beobachten, und hatte doch sichtbar zu ihm eine Vorliebe wie ein edler eingefangener Löwe, der zur Schau umhergefuhrt wird immer noch lieber nach seinem Wärter sieht, so oft ihn dieser quält, als nach den wechselnden unbekannten Gestalten der Zuschauer. Aber unerwartet weckte ihn der Lord aus seiner Beschauung mit dem so lange nicht gehörten Rufe seines geliebten Vaterlandes, er redete ihn auf Ersisch an, erkundigte sich nach seinen Schicksalen und erfuhr Wunderdinge, als der junge Mensch sich von der ersten Überraschung erholt hatte. Gleich freudiges Erstaunen zog die buschigen Augenbraunen des Professors in die Höhe, den Mund nach den Ohren und diese Ohren wackelten in Hoffnung etwas von der Unterhaltung auffassen zu können. Aber vergebens, die wenigen Worte, die er erlernt hatte, mochten wohl in schneller Unterhaltung anders klingen, er verstand nicht ein Wort. Nach einiger Zeit unterbrach er die Unterhaltung indem er mit biedern deutschen Worten dem Lord seine rechte Hand darbot und ihn aufforderte die Ehre mit ihm zu teilen das erste deutsch ersische Wörterbuch und den ersten echten Ossian herauszugeben. 109
Arnim wendet sich hier erneut gegen die Vorstellung, man könne durch fundierte Quellenstudien ein letztgültiges gälisches Ossian-Original eruieren. Bereits 1811 äußert er Zweifel am Primat der Philologie: »Ob treue oder mitdichtende Uebersetzungen mehr gewirkt haben und länger bestanden, ist mir durchaus ungewiß, zu aller Zeit scheint religiöser Ernst mehr auf jene und spielende Lust lieber zu diesen hingetrieben, ich bin recht neugierig, wie der Ossian von Ahlwardt den Leuten erscheinen wird?«" 0 108 109 110
Arnim: Erinnerungen eines Reisenden - Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 822f. Arnim: Szenen aus dem ländlichen Preußen - Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 416f. Steig/Grimm (Hrsg.): Achim von Arnim und die ihm nahe standen, Bd. 3, S. 143 (Brief vom 18. August 1811 an Jacob Grimm).
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Darüber hinaus ironisiert Arnim mehrfach die durch Goethes Werther modisch gewordene Idolatrie des keltischen Barden. In der Erzählung Die zerbrochene Postkutsche >deklamiert< der als französische Dame verkleidete Mehlhorn den Beginn der Songs of Selma in verballhorntem Deutsch: »Stern der demende nackt, was Stern der dämmernden Nacht bezeichnen sollte«. 1 " Und in den Metamorphosen der Gesellschaft aus dem Landhausleben wird Picten, den man aufgrund einer Verwechslung für Arnims >Konkurrenten< Walter Scott hält, mit den Worten begrüßt: »Ossians Geister sausen in seinen Haaren!«" 2
6. Trotz solch burlesker Referenzen verbindet Arnim mit Macphersons Dichtung wie gesagt wesentliche Aspekte seiner Poetik: das Lamento über die verlorene Jugend und den Versuch einer adäquaten Aktualisierung des Vergangenen. Dies zeigt sich auch in den beiden Gedichten Lied von der Jugend (1804/1808-09) und Elegie aus einem Reisetagebuch in Schottland (1808/1810), in denen die OssianIntertextualität eine bedeutende diskursive Funktion besitzt. Die umfangreichste Adaption, das Lied von der Jugend, entsteht sehr wahrscheinlich bereits 1804, denn Brentano fragt Arnim im Brief vom 26. Dezember, in dem er »um die gütig versprochenen Beiträge zur bunten Reihe« bittet: »[T]äugten Deine Ossiana wohl dazu?«" 3 Und in einem Brief an Friedrich Carl von Savigny schreibt Brentano über seinen Freund: »Arnim besitzt eine solche Masse von poetischen Ausarbeitungen, als vielleicht nie ein Dichter besaß, und sein eigner Ossian übertrifft vielleicht den Schottlands«.' 14 Überliefert ist das Gedicht jedoch nur im neunten Abend des Wintergartens."5 Obwohl das Lied von der Jugend mitunter fast den Charakter einer Übersetzung besitzt, nimmt Arnim wesentliche Veränderungen gegenüber dem Quellentext vor. Er sucht hier sein eigenes poetologisches Konzept zu verwirklichen, wie es im »Schluss« mit Blick auf die von der Wintergarten-Gesellschaft zu beschreibenden Bilder entwickelt wird. Denn die schienen auf echt alten, die wahrscheinlich verdorben waren durch Nichtachtung, mit erneueter Kunstfertigkeit und brennender Farbenpracht aufgemalt und mit mancher Erfindung bereichert, alle in Wasserfarben auf Pergament wie in den Gebetbüchern alter Fürstenhäuser, das Gold war aber nie als Grundlage, einzig als Verzierung gebraucht; es sah uns an wie ein Werk von heute, was alle Kunstforderungen unsrer Zeit erfüllte und tief verschlossen in sich die ganze Tiefe, Würde und Wahrheit alter Kunst trägt." 6
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Arnim: Die zerbrochene Postkutsche - Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 101. Vgl. hierzu auch Brentano: Der Philister vor, in und nach der Geschichte - Werke, Bd. 2, S. 1009. Arnim: Metamorphosen der Gesellschaft - Werke in sechs Bänden, Bd. 4, S. 524. Steig/Grimm (Hrsg.): Achim von Arnim und die ihm nahe standen, Bd. 1, S. 124. Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 31, S. 403 (Brief vom 7. August 1806 an Johann Hugo Wyttenbach). Ricklefs: Arnims lyrisches Werk, S. 148 [Nr. 1212], Arnim: Der Wintergarten - Werke in sechs Bänden, Bd. 3,S. 413.
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Insgesamt kompiliert Arnim drei verschiedene Ossianpassagen: Zunächst große Teile aus dem War of Inis-thona"1 dann Fingais Kampf mit dem Geist von Loda," 8 den hier allerdings - in intentional bedeutsamer Alterität - der Enkel selbst fuhrt, und schließlich Ossians Lamento am Beginn des Berrathon Interessant ist auch der Kontext, denn im neunten Abend des Wintergartens wird - wie bereits erwähnt - nach eingehender Beschreibung der Schlacht von Culloden die Zerstörung der Highland-Kultur dargestellt. Ossian avanciert dabei zum Signum des zu beklagenden Verlusts der patriarchalischen Gesellschaftsform. 120 Und auch die Winter-Allegorie bezeichnet nach Ansicht von Wulf Segebrecht eine »innere Beschädigung der Gesellschaft« 121 , die um der Zukunft willen überwunden werden muß. Wie Herder, der in seinem späten Aufsatz Homer und Ossian die Geburt eines neuen Fingal erhofft, 122 fragt auch Arnim: »Wo mag der Held geboren werden, den jedes Herz ahndet[?]« 123 Im Lied von der Jugend wird Oskar zum Paradigma dieses Heroen, der sein Selbstverständnis aus der Vergangenheit bezieht, deren eigennütziges Kämpfertum aber zugunsten einer friedvollen, wenngleich nicht paradiesisch gedachten Zukunft verabschiedet. Mit Blick auf »sein untergegangenes Reich, das sein Mut gegen den Willen und das Schicksal einer Welt für kurze Zeit wieder aus dem Meere gehoben«, verläßt Prinz Karl die schottischen Berge. Mit ihm stirbt die Hoffnung auf jede Restauration des Alten. Was bleibt ist die »allgemeine Wehmut« und »die Erinnerung andrer großer Taten, die auch verschwunden«.124 Nach der Dominanz des Faktischen im Bericht der Kriegsgeschehnisse bleibt die Artikulation der Zukunftshoffnung der Poesie vorbehalten, dem Lied von der Jugend, das »ein alter Hochländer auf dem Verdecke vorsingt«125. Schon am Beginn des Gedichts findet sich die für Arnims Poetik konstitutive Überlagerung von mythischer Vorzeit, transitiver Gegenwart und wiedergewonnener Zukunftsperspektive. Sie wird verkörpert in dem greisen Helden Fingal, seinem Sohn, dem ebenfalls betagten Ossian, und seinem Enkel, dem jungen kriegsunerfahrenen Jäger Oskar. Der keltische Barde, Personifikation einer tatenlosen, vergangenheitsgläubigen Gesellschaft, imaginiert sich eine sonnige Jugend, wird aber von den Herbststürmen an deren Verlust erinnert: Da stehet er frierend und wischt sich die Augen Und schauet hinüber zum Aufgang der Sonne, Die ging ihm schon unter, verflogener Traum! O kehre mir wieder, O Jugend im Traum nur!' 26
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Vgl. Gaskill (ed.): The Poems of Ossian and related works, S. 115-117. Vgl. ebenda, S. 160f. Vgl. ebenda, S. 193. Vgl. Arnim: Der Wintergarten - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 362. Segebrecht: Die Thematik des Krieges in Achim von Arnims »Wintergarten«, S. 311. Vgl. Herder: Homer und Ossian - Werke in zehn Bänden, Bd. 8, S. 87. Arnim: >Novellensammlung von 1812< - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 743. Vgl. Arnim: Von Volksliedern - ebenda, Bd. 6, S. 174. Ebenda, Bd. 3, S. 396. Ebenda, S. 397.
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Ossian sucht nun - wie bei Macpherson - die alte Welt poetisch wiedererstehen zu lassen. Aber bereits hier zeigen sich erste Zweifel am Programm einer rein künstlerischen Evokation des Goldenen Zeitalters. Denn die »Sonn des Gesanges«, die bei Ossian die Erinnerungskultur allererst ermöglicht, geht bei Arnim »Wohl auf und wohl unter«, und die >joy of grief< wird wieder in ihre semantischen Einzelteile zerlegt, wenn es heißt: »[I]ch fühle die Wonne, / Die Schmerzen entstrahlender, blendender Zeit«. 127 Der junge Oskar hört das Lamento seines Vaters über die großen Taten der Vergangenheit und fühlt sich selbst berufen, diese Tradition zu erneuern. Auf den Knien bittet er seine Vorfahren, nun selbst Kriege fuhren zu dürfen, um Teil der etablierten Gedächtniskultur zu werden: O Fingal, du König der Helden und Ossian, Nächster im Kriege, ihr fochtet in Jugend, Ihr lebet im Sange die ewigen Tage, Doch Oskar erscheinet, verschwindet wie Nebel, Kein Sänger mich kennet, kein Mädchen mich nennet, Kein Jäger einst suchet mein Grab auf der Heide; O lasset mich fechten in Inisthona, Und sollte ich fallen in Inisthona, Ihr hört nicht mein Fallen im Lande so ferne, Die Tochter der Fremde soll sehen mein Grab, Und klagen die Jugend, die fern aus der Fremde, Ihr nahte in Taten, des Todes erfreut; Dann kommt einst ein Sänger zu dir aus der Fremde, Und rufet beim Feste: O höret die Taten, Von Oskar aus fernem umfluteten Land.128
Nachdem er von Fingal in der heroischen Ethik der Väter unterwiesen wurde, segelt er zu König Annir nach Inisthona. Dieser berichtet ihm vom Tod seiner beiden Söhne Ruro und Argon, die von Cormalo, dem Mann seiner Tochter, kaltblütig mit Pfeilen erschossen wurden, weil sie ihn im Kampf besiegt hatten. 129 Oskar verspricht Rache und macht sich auf den Weg zu Cormalo. In der Nacht die gesamte Mannschaft schläft bereits - »naht sich ein Windstoß, weitspannend die Schwingen, / Der stärkste der Geister«. 130 Der anschließende Dialog ist eine insgesamt sehr textnahe Adaption des Kampfes zwischen Fingal und dem Spirit of Loda (Odin) aus Carric-thura. Bei Arnim kämpft aber nicht der Großvater, sondern der Enkel; und auch der Geist ist nicht der machtbesessene Odin, sondern die »unstäte Göttin« der Jugend, »[d]ie alle verehren, die je sie verloren«. 131 Sie ermahnt Oskar, sich nicht länger unreflektiert vom Streben nach Ruhm leiten zu lassen, wodurch der heroische Kampf zum Selbstzweck verkomme. 132 Oskar po127 128 129 130 131 132
Ebenda. Ebenda, S. 398. Vgl. ebenda, S. 400f. Ebenda, S. 402. Ebenda. Vgl. ebenda, S. 402f.
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stuliert jedoch - ganz im Sinne der genealogischen Doktrin - das Primat der Reputation gegenüber der Liebe: Er rufet: Ich schiffe zu Taten der Zukunft, Entfliehe O Jugend, nie altert der Ruhm, Und Oskar legt vorwärts die Klinge des Schwertes, Er fühlet die dunkelen Speere des Geistes, Er schneidet sich strahlende Wege durchs Dunkel. Der Geist auf den Wolken gestaltlos entfliehet, Wie Säulen des Rauchs vom verlöschenden Feuer, Zerteilend sie jaget der Finger des Knaben, Doch rühret ihn fem noch die drohende Stimme, Ein rollender Felsen. [...]133
In den letzten beiden Versen deutet sich bereits an, daß Oskar nicht der endgültige Sieger des Kampfes sein wird. Während der Mensch in Macphersons Carric-thura und Goethes Prometheus-Ode das Göttliche in seine Schranken verweist,134 wird die Macht von Natur und Transzendenz in der literarischen Romantik retabliert. Denn auch in Ludwig Tiecks Gesang des Barden Congal unterliegt das FingalPendant Duchomar dem Geist von Loda.135 Für Arnim ist die gewalttätige Auseinandersetzung kein Patentrezept zur Lösung moderner Probleme. So konstatiert er im Brief vom 24. Dezember 1812 an Jacob Grimm: »Die Thaten des Friedens sprechen uns mehr zu, als die Thaten des Krieges«.136 Und auch Ariel gesteht im siebten Abend des Wintergartens·. »[I]ch wählte das Buch statt des Schwertes«.137 Doch der Krieg hat seine ästhetische Zukunftsvision für Deutschland zerstört.138 Hier liegt auch der Fehler Oskars, der sich - ohne persönlich betroffen zu sein - funktionalisieren läßt zur Fortsetzung der Gewalt. Während der Kampf der Heere denn auch mehr als Allegorie auf den ständigen Wechsel des Lebens erscheint,139 »trennt« Oskar dieses organische Gegeneinander zum Vollzug seines Racheauftrags. Das entscheidende Duell ist schnell vorüber, denn Cormalo läuft »verblendet« und »blind« in Oskars Schwert.140 Dieser muß bei seiner Rückkehr jedoch erfahren, daß die Liebe der Tochter Annirs zu ihrem getöteten Gemahl stärker ist als die zu ihren Brüdern. Sie stellt die >moderne< Frage nach dem Warum des endlosen Tötens und zeigt Oskar damit, daß die unbedachte Nachahmung bestehender Traditionen zutiefst fragwürdig ist: Ihr Brüder, so herrlich, du Argon und Ruro Ihr wäret j a alle, mir alle so lieb.
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Ebenda, S. 403. Vgl. Lund: Goethes Prometheus-Gedicht [sie] und Ossians Carric-Thura, S. 124f. Tieck: Ein Gesang des Barden Congal, S. 38*-48*. Steig/Grimm (Hrsg.): Achim von Arnim und die ihm nahe standen, Bd. 3, S. 250. Arnim: Der Wintergarten - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 322. Vgl. ebenda. Vgl. »Als wär es ein Küssen, so eng sie sich drängen, / Wie leuchtendes Feuer, so funkeln die Waffen, / Als säten sie Menschen, so fallen die Helden« (ebenda, S. 403). Ebenda, S. 404.
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266 Doch Cormalo liebt ich vor allen so innig; Was hast du erschlagen die herrlichen Brüder Was hast du erschlagen, du Fremdling, den Liebling? Sojammert sie lange, so starb sie in Tränen Und löschte die Flamme der ewigen Rache.
Oskar ist durch den Tod der Tochter erschüttert und erkennt die Sinnlosigkeit seines Handelns. 141 Arnim moniert hier die solipsistische Selbstgenügsamkeit des ossianischen Heroismus, der kaum eine Ausweitung ins Kollektive kennt: jeder Held kämpft nur für die eigene Reputation und gegen das Vergessen seines Namens. Daher konstatiert auch Ossian mit Blick auf seinen Vater und sich: »Wir freuten des Sieges uns immer allein«. 142 Oskar wird dagegen apathisch, weil »seine Jugend zerknickt« ist, und beschließt, zum »Brunnen der Jugend« zu segeln, denn »[e]in einziger Tropfen vom leuchtenden Springe / Gibt Jugendgenesen, wie Frühling die Blätter«.' 43 Mit infantiler Lust macht er sich auf die Suche nach dem »Nachtgeist der Jugend«. 144 Oskars Rückkehr zum >ewig Weiblichem ist Sinnbild der Interferenz von Vorzeit und Moderne. Das Alte muß zunächst erprobt werden und bildet als kritisch Reflektiertes die Basis zur Schaffung des Neuen. Die Gegenwart ist aber noch nicht am Ziel.145 Oskars Schiff wird ohne ihn ans Land getrieben. Es ist »verkehret«, »Auf Klippen zerspalten«, und nur der »Schild« befindet sich darin. Auch die Erinnerungskultur ist suspendiert, denn »kein Jäger kann suchen sein Grabmal«. An ihre Stelle tritt die Zukunftsorientiertheit, die »Quelle der Jugend«, von der Oskar »in hellem Gesang« getrunken hat.146 Mit der veränderten Perzeption des Enkels ändert sich auch die des Großvaters, denn es ist Fingal, der diesen positiven Finalismus als erster verkündet. Und auch Ossian blickt nun nicht mehr nur zurück, sondern akzeptiert die Möglichkeit einer positiven Zukunft, die er mit Oskars Rückkehr verbindet. Das Fehlen einer solchen Perspektive hatte Arnim bereits in dem frühen Gedicht Ossian (1803-04) moniert: Wo die Zweige des Baum [sie] beinahe die Erde berühren, Wahrlich da tanzeten nie Mädchen und Jünglinge umher, 141 142
143 144 145 146
Vgl. ebenda. Das Phänomen der Einsamkeit wird bei Arnim denn auch mehrfach ossianisch textualisiert. So klagt Ida in Ariel's Offenbarungen: »Allein mit Trauerlüften, / Von allen verlassen, / Allein bey frischen Grüften, / Wie einsam verlassen! / Mein Grablied singen Winde / Es thauet vom Monde nieder, / Die Asche streuen Winde / Durch trauernde Lieder« (S. 133). Und in dem zusammen mit Brentano verfaßten Text Verschiedene Empfindungen vor einer Seelandschaft von Friedrich, worauf ein Kapuziner (1810) konstatiert ein Herr: »Ossian schlägt vor diesem Bilde in die Harfe« (Brentano: Werke. Bd. 2, S. 1034). Aber auch der Erzähler selbst spricht beim Betrachten des Bildes von »unendlicher Einsamkeit«, einem »Anspruch, den das Herz macht«, und einem »Abbruch, den einem die Natur tut« (ebenda). Die Identifikation wird versagt und der Rezipient damit immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen (vgl. auch Kurz: Vor einem Bild). Arnim: Der Wintergarten - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 405. Vgl. ebenda. Vgl. auch Strack: Das »Wunder« der Geschichte, S. 303. Arnim: Der Wintergarten - Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 405.
Der Sammler, der Dichter und die verlorene
Jugend
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Wo sich Lieder herab zur sterbigen Erde hindrängen, Wahrlich da lebte nicht Kunst, die zum Himmel sie führt.147 In diesem Zusammenhang wird erneut die Mediatorfiinktion der Kunst betont, denn Ossians H o f f n u n g bleibt zunächst noch eine poetisch imaginierte: Entweichet, entfliehet ihr drückenden Wolken, Nicht Schmerzen allein nur, auch Freuden sie dauern, Oft denk ich des Tages, des Tages der Heimkehr Des stattlichen Oskar von Inisthona, Des kommenden Frühlings von Inisthona. Wie groß war die Freude; der erste ich sähe Die Segel des Oskar, wie leuchtende Wolken Dem irrenden Wandrer erscheinen im Morgen. Wir führten ihn singend durch Hallen des Schlosses, Sie tönten von hohen Gesängen der Tochter. Sie tönten wie Harfen des Abends hernieder, Es winket das Licht noch an rauschenden Buchen, Durch Eichen es strahlet, es ziehet auf Strömen; Jetzt singe, o Tochter, die lieblichen Lieder, Daß Schlaf mich umnachte inmitten der Freude, Daß Jugend mir kehre zurück im Gesänge!148 A u s d e m melancholischen Barden, der lediglich das Vergangene restaurieren will, ist nun ein moderner Dichter geworden, der sich der A m b i v a l e n z e n des Geschichtsverlaufs bewußt ist: Wie unstäte Sonne, so wandelt die Vorzeit Bald auf und bald unter, wie Frühling im Grünen; Du weckest mich Frühling mit Tropfen des Himmels, Doch nahen die Stürme, die mich bald entblättern, Es kommet der Wandrer, er sah mich erblühen, Er sieht mich verwelken. [...]'49 D i e s e intertextuelle Referenz auf Berrathon
- möglicherweise vermittelt über
Goethes Werther - wird von Arnim hier bewußt übertreten, indem die Vergänglichkeit des Individuellen als Teil eines urgesetzlichen Prozesses gesehen wird, der in sich sinnhaft ist und damit den partikularen Verlust kompensiert. Mit dieser Einsicht beschließt Ossian das Lied von der
Jugend:
Geschlechter sich heben, wie Wellen im Meere, Es bringet viel frische Geschlechter der Morgen, Am Ufer zerschellen sie Abends ermüdet, Ich sehe die wogenden Bäume des Ufers, Es sinket ein Kranz auf das sinkende Haupt: O Jugend wie gleichst du den Träumen des Alters.' 50
147 148 149 150
Arnim: Ebenda, Bd. 5, S. 94. Arnim: Der Wintergarten - ebenda, Bd. 3, S. 405f. Ebenda, S. 406. Ebenda, S. 406f.
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Das letzte Wort im neunten Abend hat allerdings der Winter, der die neue Erkenntnis bewußt umkehrt und seiner Frau in die Ohren flüstert: »O Alter, du gleichst den schönsten Träumen der Jugend!« Das Kapitel endet mit einer erneuten Affirmation des Vergangenen. Denn »Torheit ist's, das Alter trostlos und liebelos darzustellen. Nein, jetzt erst hindert der Körper den Geist nicht mehr, er kann sich ganz seiner ewigen Freude überlassen«. 151 Der Winter stirbt jedoch im »Schluss« wie der künstlich angelegte tropische Garten durch den hereinbrechenden nordischen Frühling - der eine wegen der Wärme, der andere wegen der Kälte." 2 Die Relativität der individuellen Wahrnehmung war schon die Basis von Ossians Erkenntnis der allgemeinen Naturgesetzlichkeit. Und auch die Blume, die sich auf dem letzten Bild befindet, das die Wintergarten-Gesellschaft beschreiben soll, heißt die »Zeitenlose«1".
7. Daß Arnim einer romantischen Glorifizierung der Highlands, wie sie Macpherson betreibt, kritisch gegenübersteht, zeigt u. a. auch die Elegie aus einem Reisetagebuch in Schottland, von der eine revidierte und leicht erweiterte Fassung in den Roman Gräfin Dolores (1810) integriert wird. Denn das lyrische Ich, im Roman die Figur Waller, träumt an der kaledonischen Küste vom sonnigen Genua, weil ihn in die unromantische Wirklichkeit der Highlands abstößt. 154 Der Kontext ist derselbe wie im Lied von der Jugend. Das lyrische Ich bedauert den Verlust der großen Vergangenheit, an den ihn die Rufe seiner Begleiter erinnern: »Fingal! Fingali klinget so hell, mir wird doch so trübe, / Frierend wähn ich mich alt, Jugend verlorene Zeit«. 155 Auch die imaginierte Heldentat des lyrischen Ichs, das die »feurige Frucht«, den Apfel der Versuchung und Erkenntnis, 156 nicht »zur Tiefe des Meers« wirft, sondern innerweltlich »das Böse versöhnet«, 157 bleibt letztlich nur ein Traum. Am Ende erwacht es wieder im zeitgenössischen Schottland, das mit der heroischen Erhabenheit der ossianischen Szenerie 158 kaum stärker kontrastieren könnte: 151 152 153 154
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Ebenda, S. 407. Vgl. ebenda, S. 422f. Ebenda, S. 413, Hervorhebung im Original. Vgl. Zeitung fìir Einsiedler, H. 9 vom 30. April, Sp. 65-68 - Arnim: Werke, Bd. 5, S. 560. Es handelt sich hierbei möglicherweise um eine ironische Anspielung auf Faujas de SaintFonds enthusiastische Reise durch England, Schottland und die Hebriden (Bd. 1-2. Göttingen 1799). Vgl. Schmidt: >Homer des Nordens< und >Mutter der RomantikNovellensammlung von 1812< und das >Landhausleben< von Achim von Arnim. Frankfurt a. M., Bern: Lang 1983 (Europäische Hochschulschriften. 1/593). Franklin, David: Painting in Renaissance Florence. 1500-1550. New Haven, London: Yale Univ. Press 2001. Freund, Winfried: Phantastische Geschichtsschreibung - Achim von Arnim: »Isabella von Ägypten« (1812). - In: Winfried Freund: Literarische Phantastik. Die phantastische Novelle von Tieck bis Storm. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 1990, S. 45-55. Frühwald, Wolfgang: Achim von Arnim und Clemens Brentano. - In: Karl Konrad Polheim (Hrsg.): Handbuch der deutschen Erzählung. Düsseldorf: Bagel 1981, S. 145-158. Frühwald, Wolfgang: Das Spätwerk Clemens Brentanos (1815-1842). Romantik im Zeitalter der Metternich'schen Restauration. Tübingen: Niemeyer 1977. Fuhrmann, Manfred: Ihr bösen Teutschen, man sollt euch peutschen. - In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 40 vom 16. Februar 2002, S. 52. Genette, Gérard: Die Erzählung. Aus dem Franz. von Andreas Knop. München: Fink 1994 (UTB für Wissenschaft. 8083). Genette, Gérard: Paratexte: Das Buch vom Beiwerk des Buches. Aus dem Französ. von Dieter Hornig. Frankfurt a. M., New York: Campus 1989. Giesen, Bernhard: Kollektive Identität. Die Intellektuellen und ihre Nation. Bd. 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999. Giesen, Bernhard, und Kay Junge: Vom Patriotismus zum Nationalismus. Zur Evolution der >Deutschen KultumationVolk< in den Schriften Achim von Arnims von 1805-1813. - In: Ulfert Ricklefs (Hrsg.): Universelle Entwürfe Integration - Rückzug, S. 89-99. Niggl, Günter: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung. Stuttgart: Metzler 1977. Nötzold-Linden, Ursula: Freundschaft. Zur Thematisierung einer vernachlässigten soziologischen Kategorie. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994 (Studien zur Sozialwissenschaft. 140). Nünning, Ansgar (Hrsg.): Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 1998. Oberhuber, Konrad: Raffael. Das malerische Werk. München, London, New York: Prestel 1999.
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