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German Pages [236] Year 1964
ANGLISTISCHE STUDIEN HERAUSGEGEBEN
VON
ARNO
ESCH
BAND
2
UND
HELMUT
PAPAJEWSKI
TRAGISCHE
WIRKLICHKEIT
ALS G R O T E S K E V E R F R E M D U N G BEI SHAKESPEARE
VON RAINER
LENGELER
® 1964
BÖHLAU
VERLAG
KÖLN
GRAZ
Gedruckt mit Unterstützung der Arbeitsgemeinschaft f ü r Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1964 by Böhlau Verlag, Köln Gesamtherstellung: Druckerei Josef Schiefeling, Engelskirchen Printed in Germany
INHALT I. Einleitung
1
II. Voruntersuchung
4
A. Wortuntersuchung „grotesque" „antic"
4 4 6
B. Motivuntersuchung
24
Antike Chaos-Vorstellungen und christliche Teufelslehre Mittel der Darstellung Das Chaos-Motiv und der neuplatonische Schöpfungsmythos Nachträge zur Wortuntersuchung Ergebnisse der Wort- und Motivuntersuchung III. Die Gestaltung des Grotesken in den großen Tragödien . . A. Hamlet Die Geistererscheinung und Hamlets Wahnsinn „Antic disposition" Das Spiel im Spiel „Scourge and minister" Wahnsinn als Selbsttod Zusammenfassung B. Othello Jago als Verkörperung des Vice Die Versuchungsszenen Die Magie des Tuches Zusammenfassung C. König Lear Die Abdankung Die Sturm- und Wahnsinnsszenen Lears Heilung und erneuter Wahnsinn Zusammenfassung
24 31 36 48 55 57 57
57 64 84 86 95 107 110 110 120 131 140 141 141 147 168 175
D. Macbeth Die Begegnung mit den Hexen Die Mordszenen „Equivocation of the fiend" Zusammenfassung
177 177 185 195 202
IV. Zusammenfassung und Ausblick
208
Quellennachweis
216
Namen- und Sachregister
224
I.
EINLEITUNG
Nach Kaysers grundlegender Arbeit über das Groteske 1 könnte jede weitere Untersuchung über das Problem versucht sein, seine Definitionen zu übernehmen und auf andere, von ihm nicht untersuchte, Werke zu übertragen. Ein solches Vorgehen begäbe sich der Möglichkeit, Neues zur Diskussion über das Groteske beizutragen. Abgesehen von der methodischen Fragwürdigkeit, liefe man Gefahr, die spezifische Ausformung, die das Groteske zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Autoren erfährt, zu verkennen. D a ß aber mit historisch unterschiedlichen Ausprägungen des Grotesken zu rechnen ist, hat Spitzer in seiner Besprechung von Kaysers Buch nachgewiesen2. Für die vorliegende Untersuchung bedeutet das, daß nur eine historische Annäherung an das Problem des Grotesken im 16. Jahrhundert in Frage kommt. Dabei stoßen wir sofort auf eine Grundschwierigkeit: in der Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts, zumindest was England anbetrifft, wird das Problem des Grotesken nicht ausdrücklich behandelt. Das Groteske als „Unnatur" liegt außerhalb einer Theorie, die die Kunst als „imitatio naturae" begreift. Die wenigen Äußerungen zum Grotesken in der Kunsttheorie sind randständig und reichen für unsere Untersuchung nicht aus3. Es bleibt uns als möglicher Ersatz für eine zeitgenössische „Theorie des Grotesken" der indirekte Weg über eine Wortuntersuchung. Da aber das Wort „grotesque" um 1600 im Englischen noch kaum heimisch war, hat es eine Wortuntersuchung weniger mit ihm als mit seinem Vorgänger und Konkurrenten „antic" zu tun. Bei einer Sichtung des Belegmaterials, das aus den verschiedensten Quellen stammt, wenn auch naturgemäß kunsttheoretische Schriften und Wörterbücher überwiegen, ergibt sich, daß das Wort „antic" recht ') WOLFGANG KAYSER, Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Oldenburg 1957. 2
a
) LEO SPITZER, G ö t t i n g i s c h e G e l e h r t e A n z e i g e n 1 9 5 8 . 2 1 2 . J g . ( 1 9 5 8 ) , 9 5 — 1 1 0 .
) Vgl. S. 36—37.
1 Lengeier, Tragische Wirklichkeit
l
verschiedene Dinge bezeichnet, wobei sich allerdings ein letztlicher Bezug zu dem Motiv vom Urchaos noch erschließen läßt. Die sich anschließende Untersuchung über dieses Motiv führte in den Bereich neuplatonischer Vorstellungen, die auch in den Werken Shakespeares und seiner Zeitgenossen eine wichtige Rolle spielen. Es zeigte sich namentlich, daß das Groteske Ausdruck einer dämonischen Unwirklichkeit im Sinne der neuplatonischen Chaosvorstellung ist. Damit hat die Voruntersuchung den historischen Hintergrund aufgezeigt, von dem aus sich die Gestaltung des Grotesken bei Shakespeare erschließen läßt. Erst nachdem dieser Hintergrund ins Blickfeld der Untersuchung gekommen war, konnte die Frage nach Shakespeares Gestaltung des Grotesken innerhalb des tragischen Geschehens von Othello, Hamlet, König Lear und Macbeth ins Auge gefaßt werden. Ursprünglich war vorgesehen, eine größere Zahl von Werken Shakespeares in die Untersuchung einzubeziehen. Es zeigte sich jedoch bald, daß dies rein umfangmäßig den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde. Zu der Wahl der vier „Meistertragödien" hat den Verfasser vor allem der Widerspruch gegen das landläufige Urteil bestimmt, nach dem das Groteske mit „großer Kunst" unvereinbar sei. Hatte bereits die Voruntersuchung auf die Bedeutung bestimmter Motive und Topoi aufmerksam gemacht, so stellte sich im Laufe der eigentlichen Interpretationen erst recht die Notwendigkeit einer Kenntnis der Shakespeareschen Topik heraus, wenn es um die Frage ging, ob eine bestimmte Szene oder Figur grotesk sei oder nicht. Die mangelnden Vorarbeiten auf diesem Gebiet haben dazu geführt, daß die Arbeit gegen die ursprüngliche Absicht des Verfassers in zunehmendem Maße auch eine Untersuchung über die Topik geworden ist. Abschließend sei noch auf terminologische Besonderheiten verwiesen. Wir unterscheiden zwischen den Ausdrücken „eine Rolle agieren, verkörpern" und „eine Rolle spielen, darstellen", ebenso zwischen den Wörtern „lächerlich" und „komisch". Wir brauchen das Wort „lächerlich" in dem Sinne, wie wir von etwas Ungeheuerlichem sagen, es sei lächerlich, d. h., „lächerlich" impliziert eine Abwehrreaktion des Sprechers gegenüber dem „Komischen", das bloß Lachen erregt. Das Lächerliche in diesem Sinne ist eine Abart des Grotesken, es steht auf der Grenze zwischen der ästhetischen und der ontischen Ebene. Die Unterscheidung zwischen „Abbild" und „Verkörperung", die sich im normalen Sprachgebrauch weitgehend verloren hat, wird erforderlich durch die elisabethanischen Topoi vom 2
Schauspieler und Zuschauer. Der Schauspieler verkörpert seine Rolle, er ist deren leibgewordene Inkarnation, er i s t die Rolle, sie macht sein Wesen aus. Hingegen s p i e l t der „Schauspieler-Zuschauer" bewußt eine Rolle, als deren Abbild er wiedererkannt wird.
3
II.
V O R U N T E R S U C H U N G E N
A. W o r t u n t e r s u c h u n g . . . Grotesca (as the Italians) or Antique worke (as we call it) . . . „g r o t e s q u e"
Der Versuch, eine „Theorie des Grotesken" aus dem Wortgebrauch von „grotesque" im Englischen um 1600 zu entwickeln, scheitert an dem zu geringen Belegmaterial. Der erste Beleg des NED ist zwar bereits 1561 datiert, aber wirklich in die Sprache eingedrungen ist das Wort selbst hundert Jahre später noch nicht. Das mag zum Teil damit zusammenhängen, daß es sich um einen Spezialausdruck der bildenden Künste handelt. Die frühesten Belege stammen aus den Inventarverzeichnissen der königlichen Haushaltungen. So heißt es in einem Verzeichnis des schottischen Hofes aus dem Jahre 1561: Item t w a p a i n t i t b r o d d i s the ane of the muses a n d the uther of crotesque or conceptis 4 .
Unter dem Datum 1578 findet sich die Eintragung: A n e little pece of b r o d e r i e w e r k grotesque 5 .
Daß diese frühen Belege schottischen Ursprungs sind, kann Zufall sein, da die wenigsten englischen Inventarverzeichnisse aus der Zeit im Druck zugänglich sind. Bei der Kärglichkeit der vorliegenden frühen Belege läßt sich auch nichts Verbindliches über den Weg der Rezeption sagen. Das „grotesque" in dem Beleg von 1561 scheint auf französische Vermittlung hinzuweisen, dodi kann auch das nicht als gesichert gelten, da — wie das NED schreibt — auch Florio in den beiden Auflagen seines Wörterbuches von 1598 und 1611 die Form „crotesca" statt „grottesca" als italienisches Wort anführt 6 . 1603 erscheint Florios Ubersetzung Montaignes, in der er französisches „crotesques" mit „antike Boscage or Crotesco works" wiedergibt 7 . Auf *) A Collection of Inventories and other Records of the Royal Wardrobe and Jewelhouse; . . . 1488—1606, Edinburgh 1815, p. 70. ') ibid. p. 239. 8 ) Vgl. NED s. v. grotesque. 7 ) Montaigne-Florio (1615), ed. G. Saintsbury, London 1892, p. 89.
4
diese Florio-Stelle wiederum scheint Folkingham zurückgegriffen zu haben, wenn er in seiner Art of Survey von 1610 schreibt: „Compartiments are Blankes or Figures bordered with Anticke Boscage or Crotesko-woorke" 8 . Wie wenig geläufig das Wort den Engländern war, erhellt aus verschiedenen Kriterien. Zum einen sind da die vielfältigen, zum Teil noch fremdländischen Formen „crotesque", „grotesque", „crotesca", „crotesco work", „grootes". Diese letzte Form findet sich in Robert Peakes Ubersetzung von Serlios Book of Architecturesie weist nicht auf romanische, sondern niederländische Beeinflussung. Peake weist selber im Titel darauf hin, daß er nicht das italienische Original, sondern die niederländische Übersetzung benutzt habe. Es handelt sich wahrscheinlich um die Übersetzung PeeterCoekes van Aelst von 1553. Dieser übersetzt italienisches „che si dicono grotesche"10 mit „diemen grotesschen noempt" 11 . Da Peake offensichtlich Niederländisch konnte, liegt es nahe, daß er für das ihm neue Wort die niederländische Aussprache mit übernahm (grotesen) und sie in der Schreibung dem englischen Lautstand anpaßte. Andererseits ist der gelehrte Ben Jonson von den großen Dichtern seiner Zeit der einzige, der das Wort in seinen Schriften benutzt 11 . Alle anderen, vor allem Shakespeare, Spenser, Sidney, Donne, verwenden an seiner Stelle noch „antic". So wird man kaum fehlgehen, wenn man das langsame Eindringen von „grotesque" im Englischen nicht zuletzt auf die Konkurrenz von „antic" zurückführt. Florio umschreibt italienisches „crotesca" mit „antique, fretted, or carued worke" 13 , und noch 1624 schreibt Wotton: fl
) W. FOLKINGHAM, Feudigraphia or The Art of Survey (1610), p. 58. ) ROBERT PEAKE, The first Booke of Architecture, made by Sebastian Serly, entreating of Geometrie. Translated out of Italian into Dutch, and out of Dutch into English. London 1611, Bk. IV, § 11. 10 ) Architettura di M. Sebastiano Serlio Bolognese. Venetia 1551. n ) D e n eersten boeck van Architecturen Sebastiani Serlij tracteerende v a n Geometrye. Ouergesedt w t e n Italiaensche in nederlandrs duer Peeter Coeke v a n Aelst doen ter tijt Schildere der K. Maiesteyt. Antwerpen 1553. 12 ) BEN JONSON, Works V I I I , p. 611. Discoveries: „See where he (Vitruv) complaines of their painting Chimaera's, by the vulgar unaptly called Grottesque". Ben Jonsons Worte stehen im Widerspruch zu unserem Befund. In Wirklichkeit ist der Ausspruch ein v o n Ben Jonson nicht gekennzeichnetes Zitat aus Possevino, der seinerseits Armenini zitiert: , D e Chimeris, quas vocant grottesche . . . ' (vgl. Wks. ed. Herford-Simpson X I , 259). Nicht im Englischen, sondern im Italienischen der Zeit ist damit das Wort „grotesk" volkssprachlich. 13 ) JOHN FLORIO, A Worlde of Wördes, London 1598; Queen Anna's N e w World of Words, London 1611, s. v. crotesca. E
5
N o w for the Inside, heere growes another doubt, whether Grotesca the Italians)
or Antique
worke
(as
(as we call it) should be received, against
the expresse authoritie of Vitruvius himselfe, lib. 7 cap. 5 14 .
Bevor wir nun zu dem Wort „antic" übergehen, sei noch erwähnt, daß „grotesque" im Englischen als Stilbegriff zuerst um 1650 auftaucht, etwa in Blounts Wörterbuch von 1656, wo er die Dichtungen Cleavelands als grotesk charakterisiert 15 . Im übrigen wird noch auf die Umstände, die „grotesque" zum Durchbruch auch im Englischen verholfen haben, im Zusammenhang mit „antic" zurückzukommen "»ein13. „a n t i c"
Vom modernen Sprachgebrauch ausgehend, unterscheiden die Herausgeber des N E D zwischen den beiden Wörtern „antic" und „antique". So berechtigt diese Unterscheidung für den gegenwärtigen Sprachgebrauch sein mag, so irreführend kann sie für eine bedeutungsgeschichtliche Untersuchung sein. Laut N E D liegt von Anfang an eine doppelte Rezeption 17 vor, was die Bedeutung anbetrifft. Für diese These spricht, daß die vom N E D gebrachten Erstbelege für beide „Grundbedeutungen" so gut wie gleichzeitig liegen. Dagegen aber sprechen möglicherweise erstens die mannigfachen Schreibungen, die in beiden Fällen willkürlich durcheinander gehen, und zweitens die Aussprache, die in jedem Fall auf der ersten Silbe lag18. Dagegen sprechen vor allem aber die Belege, in denen eine eindeutige Zuordnung zu einer der beiden Bedeutungen nicht gelingt und die das N E D einfadi nicht berücksichtigt19. Um nur ein Beispiel anzuführen, wenn Theseus im M N D sagt: I never m a y believe these antique fables, nor these fairy toys . . . ,
so mag in diesem „antique" die Bedeutung „alt" durchaus anklingen, darüber hinaus weist aber der Umtext („fable, fairy toys") vor allem 14 ) HENRY WOTTON, Elements of Architecture, London 1624, p. 77 (meine Sperrung). 15
) THOMAS POPE BLOUNT, G l o s s o g r a p h i a , L o n d o n 1 6 5 6 , s. v . grotesque.
16
) Vgl. S. 52 ff. 17 ) Die gleiche Meinung vertritt auch MARIO PRAZ in „The Italian Element in English", Essays and Studies 15 (1929), p. 55. la ) Vgl. N E D s. v. antique. '") Das N E D kennt keine Rubrik „old and quaint" wie etwa Schmidts Shakespeare-Lexicon. Am nächsten käme einer solchen Rubrik noch die Bedeutung 3) von Antique. Der Erstbeleg datiert aber erst aus dem Jahre 1647.
6
auf ein phantastisches Element, das so etwas wie ein Bindeglied zwischen den Extrembedeutungen „alt" und „grotesk" darstellt. Bei dem uns vorliegenden Belegmaterial will eine Lösung der aufgeworfenen Probleme nicht gelingen. Nachdem wir auf die Problematik der Zweiteilung aufmerksam gemacht haben, wenden wir uns deshalb dem Wort in der Bedeutung „grotesk" zu, wobei an gegebener Stelle die Aufwertung von selber wieder in die Diskussion hereinkommen wird. In der Bedeutung „grotesk" gibt es laut NED das Wort „antic" im Englischen seit 1529. Es kommt als Substantiv, Adjektiv und sogar als Verb vor; daneben gibt es auch das Adverb „anticly". Bei der Uberprüfung des Belegmaterials zeigt sich, daß das gleiche Etikett „antic" so verschiedene Dinge bezeichnet wie eine bestimmte Ornamentart in den bildenden Künsten und Kleidermoden, Wasserspeierfiguren und Mauriskentänze, Brunnenaufsätze und die dichterische Einbildungskraft, Mythen und Ammenmärchen, Tod, Teufel und Clown. Zum besseren Verständnis ordnen wir das Belegmaterial in folgende 4 Punkte: 1. Antic als Terminus technicus der bildenden Künste 2. Antic im Bereich der mimisch-szenischen Künste 3. Antic als Bezeichnung der Einbildungskraft 4. Der Tod als Antic. 1. A n t i c a l s T e r m i n u s t e c h n i c u s d e r b i l d e n d e n K ü n s t e : a n t i c w o r k 2 0 . In der festen Verbindung antic work, in der „work" soviel bedeutet wie „ornament"21, bezeichnet „antic" eine bestimmte Art des Ornaments. Für eine zeitgenössische Definition greifen wir auf Henry Peachams Art of Drawing (1606) zurück, die für viele andere stehen kann: T h e f o r m e of it is a generali, and (as I m a y say) an unnatural
or
v n o r d e r l y composition for delight sake, o f me, beasts, birds, fishes, flowers, & without (as we say) R i m e or reason, for the greater v a r i e t y y o u shew in your inuention, the more you please, but remembring t o observe a method or continuation of one and the same thing throughout your whole work without change or altering.
Uber die Verwendung dieses Ornaments drückt sich Peacham wie folgt aus: 2 0 ) Als Synonyma zu antic work tauchen auf „moresque work" (vgl. S. 34), „landskip work" (vgl. S. 33), „wild work" (vgl. S. 34), „savage work" (vgl. S. 34) und Verbindungen mit dem Wort „curious". « ) N E D s. v. work 15 a & b.
7
. . . it hath the principall vse in plate, clocks, armour, all manner of compartimentes, curious Architecture, borders or maps, & . . . ! 2 .
Kennzeichnend f ü r diese A r t des Ornaments ist also die heterogene Komposition, die deshalb als unordentlich und unnatürlich, ungereimt und unsinnig bezeichnet wird. Andere Autoren wandeln Peachams „without Rime or reason" in „without anie peculiar sence, or meaning, but onely to feed the eye" 2 3 ab, was auf eine Ausschaltung des Verstandes zu Gunsten des bloßen Sinneseindruckes hinzudeuten scheint. Noch andere Belege 24 deuten darauf hin, daß die verschiedenen Formen im antic work nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern ineinander übergehen, das Blatt in ein Tier und dies in einen Menschen oder ein Fabelwesen. Wir stoßen damit auf das M o t i v der V e r w a n d lung. Ein drittes Moment, das Peachams Definition besonders herausstellt, ist die Vielfalt der Einfälle. Ausdrücklich betont Peacham, daß das Vergnügen des Beschauers um so größer ist, je mannigfacher die Formverbindungen sind. Bei späteren Autoren 2 5 tritt an Stelle des Terminus „invention" der der künstlerischen Einbildungskraft („artificer's f a n c y " ) . Als letzten wichtigen Punkt fordert Peachams Definition Methode v o m Künstler, die Wiederholung bestimmter Formmotive. G e r a d e die Wiederholung legitimiert diese A r t der Ornamentik als K u n s t . Sie garantiert bei der Unnatur der einzelnen Motive ihre Wiedererkennbarkeit und damit ihren mimetischen Charakter. T r o t z der Beliebtheit, der sich diese A r t der Ornamentik im 16. Jahrhundert erfreute, waren die Kunsttheoretiker keineswegs alle bereit, das antic work als künstlerisch anzuerkennen. Wo es zugelassen wird, beschränkt man seine Verwendung meist auf ganz bestimmte Bereiche der bildenden Künste. So fragt H e n r y Wotton 1624 in seinen Elements of Architecture:
22
)
H E N R Y PEACHAM, T h e A r t o f D r a w i n g ,
London
1606, p. 35
f.
) RÄNDLE COTGRAVE, A Dictionarie of the French and English Tongues, 1611, s. v. Grotesques. 23
THOMAS
POPE
BIOUNT,
Glossographia,
London
1 6 5 6 , s. v .
grotesques.
) HENRY COCKERAM, The English Dictionarie, L o n d o n 2 1626: Anticke worke, A w o r k in painting or carving of divers shapes of Beasts, Birds, Flowers, & vnperfectly mixt, and m a d e one of another. 24
2R>
) EDWARD PHILLIPS, T h e
New
World
of
Words, London
'1720,
s. v .
Anticks
or Antick-work. JOHN HARRIS, L e x i c o n Technicum, L o n d o n
2
1 7 0 8 — 1 0 , s. v .
Grotesque.
NATHAN BAILEY, A n Universal E t y m o l o g i c a l English Dictionary, L o n d o n 1721, s. v. Anticks, Antick-work.
8
N o w f o r the Inside, heere growes another doubt, w h e t h e r Grotesca (as the Italians) or A n t i q u e w o r k s (as w e call it) should be received, against the expresse authoritie of V i t r u v i u s himselfe, lib. 7 cap. 5 2 6 .
Fassen wir zusammen: kennzeichnend für den künstlerischen Entstehungsprozeß des antic work ist das freie Schweifen der Phantasie auf Kosten der Vernunft; dem entspricht bei der Aufnahme durch den Beschauer das Uberwiegen des reinen Sinneseindruckes. Die Struktur des antic work erscheint als Unnatur, die eine Vielfalt heterogener Dinge zu einer Einheit verbindet. Außer in der festen Wendung antic work taucht „antic" im Bereich der bildenden Künste auch in Ausdrücken wie antic image, antic head . . . auf. Besonders häufig erscheint es auch als Bezeichnung für „gargoyle", Wasserspeier. His (Dibutades) invention it w a s to set up Gargils or Antiques at the top of a G a v i l l end, as finiall to the crest tiles, which in the beginning he called Protypa
(i. Moulds or patternes) 2 7 .
Diese Wasserspeier an Kirchen und Wohnhäusern waren in den meisten Fällen Fratzengesichter. Interessant ist, daß in der Predigtliteratur des 17. Jahrhunderts solche „antics" ein beliebtes Beispiel für die Verstellung sind: A s then, on the one side, w e m a y not so obdure ourselves as to be like the S p a r t a n boys, w h o w o u l d not so much as change a countenance at their beatings so, on the other side, w e m a y not be like to those Antics of stone, which w e see c a r v e d out under the end of great beames in vast buildings, which seem to make w r y and wrenched faces, as if they w e r e h a r d put to it w i t h the weight, w h e n as indeed t h e y bear little or nothing 2 8 .
Ein weiterer Platz, an dem im 16. Jahrhundert „antic images" erschienen, waren Brunnenaufsätze 29 . Als Beleg zitieren wir Cotgraves Wörterbuch von 1611 unter dem Wort „Marmouset": 26 )
HENRY WOTTON, Elements of Architecture, 1624, p. 77. The Historie of the World. Commonly called, The Naturall Historie of C. Plinius Secundus. Translated into English by Philemon Holland, London 1601, p. 552. Vgl. dazu F. CABROL & H. LECLERCQ, Dictionnaire d'archéologie chrétienne et de liturgie, Paris 1903—1953, art gargouilles. 2A) JOSEPH HALL, Christian Moderation, London 1640, p. 130. Die gleiche Verwendung der „gargoules" als exemplum der Predigt findet sich übrigens bereits im 14. Jahrhundert in der Summa Predicantium des Dominikaners Bromyard. Vgl. dazu G. R. Owst, Literature and Pulpit in Medieval England, Oxford 1961, p. 2 3 8 . 29 ) Vgl. HENRY HAVARD, Dictionnaire de l'Ameublement et de la Décoration depuis le 13e siècle jusqu'à nos jours, Paris s. d., art. Fontaine. 27 )
9
The cocke of a cesterne, or fountaine, made like a womans dug; any Anticke Image, from whose teats water trilleth; any Puppet; or Anticke; any such foolish, or odde representation; also, the Minion, fauorite, or flatterer of a Prince; as in Marmoset.
Wir stoßen hier auf das im Zusammenhang mit „antic" wichtige Element der äffischen Nachahmung. 2. A n t i c i m B e r e i c h d e r m i m i s c h - s z e n i s c h e n K ü n s t e . Wie der marmoset-Beleg aus Cotgrave zeigt, decken sich die Begriffe „antic" und „apish" so sehr, daß „antic" sogar zur Bezeichnung für den Affen wird. Das Wesen der „antic resemblance" als äffischer Nachahmung liegt in der bloß äußerlichen Ähnlichkeit. Diese Ähnlichkeit verdeckt in Wirklichkeit aber nur den Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier. Der A f f e wird damit zum Bild verständnisloser Nachahmung oder gar der Verstellung. 'Tis not the holding of thy hands so hye, Nor yet the purer squinting of thine eye; 'Tis not your mimick mouthes, your antick faces, Your scripture phrases, or affected Graces, Nor prodigall up-banding of thine eyes, Whose gashfull bals doe seeme to pelt the skyes; Such puppet-playes to heaven are strange and quaint, Their service is unsweet and foully taint; Their words fall fruitlesse from their idle braine, But true repentance runs in other straine30.
Das Moment der blinden Nachahmung erklärt auch, warum Modeexzesse als „antic" verschrieen werden. Diesem Sprachgebrauch zugrunde liegt die alte Vorstellung, daß das Kleid dem Wesen des Trägers angemessen zu sein hat, daß die Erscheinung Ausdruck des Wesens sein soll. Demgegenüber stellt die „antic fashion" nur sich selber zur Schau und verdeckt das Wesen des Trägers 31 . Dazu paßt, daß beispielsweise Robert Cawdrey in der Table Alphabeticall von 4 1617 „antic" mit „disguised" umschreibt. Bei der Bedeutung, die dem Element der Nachahmung in „antic" zukommt, 30
) FRANCIS QUARLES, A Feast for Wörmes, London 1642, Meditation 9, p. 41. ) Vgl. etwa Lafews Kennzeichnung von Parolles in Ende gut, alles gut, II, 5, 43 f.: „the soul of this man is his clothes". Parolles' Aeußeres usurpiert die Stelle, die dem „Idealwesen" zukäme. Vgl. weiter das gleiche Motiv in Swifts Tale of a Tub (Section VI), wo in diesem Zusammenhang audi der Ausdruck „antic medley" auftaucht. 31
10
ist es nicht erstaunlich, daß das Wort besonders im Bereich der Schauspielkunst auftaucht. Als Substantiv kann es sowohl die lustige Person32, deren Handlungen33, als auch eine bestimmte Art der theatralischen Aufführung bezeichnen. In dieser letzten Bedeutung ist an ein Schaustück in der Art der Commedia dell'Arte oder auch ein Maskenspiel34 zu denken. Don Armado in Love's Labour's Lost rückt das „Antic" als Spiel ausdrücklich in die Nähe von „show" und „pageant"35. The very all of all is . . . . . . that the king would have me present the princess, sweet chuck, with some delightful ostentation, or show, or pageant, or antic, or firework 36 .
Armados ebenso großsprecherische wie weitschweifige Ankündigung erweist sich dann als Rüpelspiel über die Sieben Worthies, das unwillkürlich an sein Gegenstück im Mittsommernachtstraum erinnert. Wie wenig diese Art von Schaustück als eigentliche Literatur anerkannt wurde, zeigt der Angriff Ben Jonsons im Vorwort zum Alchemist und vier Jahre später in der Induktion von Bartholomew Fair (1616). Im Alchemist hatte Ben Jonson sich noch zurückgehalten und nur von den Stücken gesprochen: Wherein the Concupiscence of Daunces, and Antickes so raigneth, as to runne away from Nature, and be afraid of her, is the onely point of art that tickles the Spectators 37 .
In dem erneuten Angriff vier Jahre später aber liegt die Anspielung auf die späten Shakespeare-Stücke offen zutage: If there bee neuer a Seruant-monster
sayes; nor a nest of Antiquesf Playes,
i'the Fayre;
who can helpe it? he
Hee is loth to make Nature afraid in his
like those that beget Tales,
Tempests,
and such like Drolleries,
to
mixe his head with other mens heeles, let the concupiscence of Igges and Dances, raigne as strong as it will amongst you 38 . 3!)
The Taming of the Shrew, Ind. 1, 98—99. Fear not, my lord; we can contain ourselves, Were he the veriest antic in the world. Volpone III, 7, 2 1 9 — 2 2 1 , and my dwarf shall dance, M y eunuch sing, my fool make up the antique . . . 33 ) cf. NED s. v. antic sb. 2. 34 ) Für den Sonderfall der „anti-masque" oder „antick-masque", wie es abwechselnd heißt, s. S. 38. M ) cf. Milton, L'Allegro 128: „With mask and antique pageantry". 3") L . L . L . V. 1. 104—108. 37 ) Alchemist, To the Reader, 6—8. 38 ) Bartholomew Fair, Induction, 127—32.
11
Die Herausgeber der großen Ben Jonson-Ausgabe schreiben dazu: H e r e the allusion to Caliban in The Tempest Antiques"
is clear, and the „nest of
is the dance of the t w e l v e satyrs in the sheep-shearing scene of
The Winter's
Tale ( I V . Iv. 334) 3 ".
Als weiteres Indiz könnte man noch das Wort „Drolleries" anführen, das bei Shakespeare nachweislich nur zweimal, und zwar in der Bedeutung „pageant" vorkommt. Der eine Beleg findet sich dabei im Tempest I I I . 3. 21 und bezeichnet den Tanz der „several strange Shapes, bringing in a banquet", das dann später die Harpyen auf die gleiche geheimnisvolle Weise wieder verschwinden lassen. Auch sonst taucht das Wort „drollery" im Zusammenhang mit „antic" auf". Cotgrave (1611) übersetzt fr. „draulerie" mit: Waggerie, also, the Figure of a Maske, Satire, Monkie, or sudi like apish visages, and anticke resemblances, set o n the top of a Scutcheon, or coat of Armes.
Damit stoßen wir wieder auf das Moment der äffischen Nachahmung, die in der Kunst nicht Mimesis, sondern Unnatur ist. Wenn Ben Jonson das „antic" in der strengen Kunstübung nicht anerkannte, geschah dies weniger wegen des Einbruchs von Tänzen und Gesängen in das hohe Drama als wegen des „runne away from Nature", das der Definition der Kunst als imitatio naturae zuwiderlief. In den Maskenspielen hingegen, namentlich in den antick-masques, ließ auch er seiner Phantasie freien Lauf. Wie unsere Jonson-Belege bereits gezeigt haben, gehört der Tanz, namentlich der „antic dance" zum „antic pageant". W. J. Lawrence 41 dürfte recht haben, wenn er annimmt, daß Ben Jonson bei seiner Kritik an Shakespeare nicht nur den Tanz im Wintermärchen und die Maskenspiele im Sturm im Auge hat, sondern audi die interpolierten Hexengesänge und -tanze in Macbeth, wo ja der Terminus „antic round" (IV. 1.130) ausdrücklich fällt. Auch dieses Vorkommen des Tanzes im „antic pageant" weist auf stärker mimischen, ja, sogar pantomimischen Charakter. Das bestätigt ein Beleg von 1633 aus Prynnes
Histriomastix:
The Third ( u n l a w f u l circumstance in the acting of Plays), is the apparent vanity,
follie,
and
fantastique lightnesse
28
which
appeares
in those
(m)
) Wks. X, 51 f. ) Vgl. DEKKER THOMAS, The Bel-man of London, 1608, pt. I (Temple Classics), p. 86: „The whole Roome showed a farre o f f . . . like a Dutch peece of Drollery: for they sat at table as if they had beene so many Anticks". 40
")
BEN JONSON, W k s . X ,
52
12
ridiculous,
antique,
mimicall,
smiles,
nods,
motions
which
Players
use,
ordinate
laughter,
gestures
and
foolish
of the eyes, of purpose
gestures,
head,
feete,
to provok
complements, hands,
their
embracements,
& whole
Spectators
entire
to profuse
which absurd irrationall, unchristian, if not
actions,
more
fit
for
skittish
goates
then
mere
body in-
inhumane or
sober
Christians, if grave men, if reason or religion m a y be judges, are in truth naught else but the v e r y (n) extremitie of folly, of v a n i t y , if n o t of B e d l a m frenzy 4 2 .
Für den radikalen Theaterverächter Prynne ist kennzeichnend, daß auch die ernste Schauspielkunst auf der Stufe des „ antic pageant" steht. Gerade daher gewinnt seine Ansicht für unser Thema solche Bedeutung. Prynnes Charakterisierung des Schauspiels rückt dieses deutlich in die Nähe der Pantomime und der Commedia dell'Arte. Dazu paßt, daß Elisha Coles in seinem lateinisch-englischen Wörterbuch von 2 1679 den Ausdruck „A meer Antick" mit „Ineptus, Pantomimus" übersetzt. Andererseits kommt der Bezug zur Commedia dell'Arte eindeutig in einem Beleg Thomas Brownes zum Ausdruck, in dem er Antick mit Pantalone gleichsetzt. . . . the W o r l d to m e is but a dream or mock-show, and we are all therein but Pantalones and Anticks, to m y severer contemplations 4 3 . ( D e n Ausdruck „ p a n t a l o n e " erklärt B r o w n e selber als „ A french w o r d for Anticks".)
Um zu Prynnes Ausspruch zurückzukommen: was an seiner Kennzeichnung des Schauspielers auffällt, ist die übertriebene Gestik, die Auflösung der Einheit des Körpers in eine Vielfalt von Bewegungen der verselbständigten Glieder. Das Ergebnis dieses Widerstreits zwischen Einheit und Vielfalt ist absurd, irrational, „unmenschlich". Prynne erwähnt als weiteres wichtiges Moment das unregierte Lachen des Zuschauers, das die Schauspieler anstreben. Damit berührt er ein Problem, mit dem sich auch Sidney in seiner Apology for Poetry auseinandersetzt: for as in Alexanders
picture well set out wee delight without laughter,
and in t w e n t y m a d Anticks we laugh without delight, so in
Hercules,
painted w i t h his great beard and furious countenance, in womans attire, spinning
at
Omphales
commaundement,
it
breedeth
both
delight
and
laughter 4 4 .
Die „twenty mad Anticks" gehören in eine Gruppe mit der „extreame shew of doltishnes, indeed fit to lift vp a loude laughter, 42
) op. cit. p. 877.
43
)
44
) G. G. SMITH, Elizabethan Critical Essays, O U P . 1959, I, p. 2 0 0 .
THOMAS BROWNE, R e l i g i o M e d i c i i n W k s . I , 6 0 .
13
and nothing els"45. Gerade darin aber unterscheidet sich das Lächerliche für Sidney vom Gegenstand der Darstellung, der „delight" bereitet, daß es an Dingen haftet, „most disproportioned to our selues and nature"46. Sidney versteht unter Natur die Idee im platonischen Sinn47. So läßt sich das Groteske, die „twenty mad Anticks", als Nicht-Natur, als verzerrte Idealwirklichkeit definieren. Seine Darstellung belehrt nicht („delightful teaching"), sondern erregt bloß Lachen, was im Grunde auf einen rein passiven Zustand des Zuschauers hinausläuft. Wenn wir unsere bisherigen Beobachtungen über das Wort „ antic" im mimischen Bereich zusammenfassen, so ergibt sich ein ähnliches Bild wie im Bereich der bildenden Künste. Der Schauspieler als „antic" verliert sich an seine Rolle, wie der Zuschauer seine Zuschauerrolle vergißt. Das Agieren selber aber des „antic" erscheint in seinem Widerspruch von Einheit und Vielfalt, der eine eigentliche Identität nicht zuläßt, als unnatürlich, irrational, ja, sogar unmenschlich, teuflisch. Bei unserer bisherigen Betrachtung des Wortes „antic" ist das Moment der Magie, das eine Reihe von Belegen impliziert, außer acht geblieben. Im Falle der erwähnten Macbeth-Stelle meint „antic round" einen Hexentanz. Eine genauere Beschreibung eines solchen Hexenreigens gibt Ben Jonson in The Masque of Queenes (1609): . . . a magicall
Daunce,
full of praeposterous change, and gesticulation,
but most applying to their (witches) property: who, at theyr meetings do all thinges contrary to the custome of Men, dauncing, back to back, hip to hip, theyr handes ioyn'd, and making theyr circles
backward, to the left
hand with strange phantastique motions of theyr heads, and bodyes 48 .
Ben Jonson betont, daß es sich um einen magischen Tanz handelt. Das äußere Kennzeichen des Hexentanzes aber ist sein Umkehrungscharakter, der alle normal-natürlichen Bewegungen des Tanzes in ihr Gegenteil wendet. Die außer dem Hexentanz gebräuchlichste Form des „antic dance" ist der sogenannte Mauriskentanz49. Wie die saltatio pyrrhica, der " ) Ibid. p. 199. " ) Ibid. p. 199. 47 ) H. S. WILSON, „Some Meanings of .Nature' in Renaissance Literary Theory" in J H I 2 (1942), pp. 430—448. « ) BEN JONSON, W k s . V I I , 3 0 1 .
) Florio (1598). Moresca, a kind of morice or fashion. 49
antique dance, after the moorish or ethiopian
14
antike Schwertertanz, mit dem er in lateinisch-englischen Wörterbüchern wiederholt gleichgesetzt wird50, war auch der Mauriskentanz ursprünglich magischer Natur. Was nun das „magische" Element bei der „antic performance" anbetrifft, so verbergen sich dahinter in vielen Fällen bloße Gaukeleien und Taschenspielertricks. Darauf weisen solche Wörterbucheintragungen hin, die das Wort „antic" mit „A buffoon, a Juggler" umschreiben. Mit eben solchen Taschenspielertricks unterhalten in der 1. Szene des IV. Aktes des anonymen Stückes The Birth of Merlin Merlin und sein „little antick Spirit" das Publikum, indem sie abwechselnd dem Clown die Pfennige aus der Tasche luchsen. In Greenes James IV. treten Oberon „King of Fayries" und seine „Antiques" an die Stelle Merlins. Ihre Taten sind aber keineswegs mehr Taschenspielertricks. Ihre Rolle gegen Ende der Tragödie ist eher die des deus ex machina: sie entführen Slipper, den Clown, im Augenblick, wo er von den Henkern des Königs aufgehängt werden soll. Interessant ist, daß hier auf der komischen Ebene Oberon und seine „puppets", wie die Antics auch genannt werden, die Rolle spielen, die in Marlowes Fausttragödie den Teufeln zukommt. Eine noch stärker ins Übernatürliche gehende Rolle spielen die Antics der Brüder John a Kent und John a Cumber in dem gleichnamigen Stück von Anthony Munday aus dem Jahre 1595. Mit Hilfe ihrer Antics bringen sich die beiden gerissenen Zauberer nacheinander in den Besitz der Stadt Ludlow. Ebensolche „spirits" beschäftigt auch Prospero in seinem Dienst: Spirits, whidi by mine Art I have from their confines call'd to enact My present fancies51.
Prosperos eigene Worte über seine Kunst geben einen wichtigen S e h r v i e l a u s f ü h r l i c h e r ist THOMAS B L O U N T
1656:
Morisco (Span.) a Moor; also a Dance so called, wherein there were usually 5 men, and a Boy, dressed in a Girles habit, whom they call the Maid Marrian or perhaps Morian, from the Ital. Morione a Head-peece, because her head was wont to be gaily trimmed up. The common people call it a Morris Dance. Daneben gilt auch der „matachina" als antic dance. Vgl. Coles (1676) „Matachin, f. an antick or morrice dance". 6 0 ) RICHARD HVLOET, Huloets Dictionarie, newely corrected . . . , London 1572, s. v. Morice daunce. Pyrricha saltatio; vgl. audi Edward Phillips (1658) s. v. Morisco (Span.) a Moor, also a kind of Dance whidi seemeth to be the same with that which the Greeks call Pyrricha, we vulgarly call it the Morris Dance, as it were the Moorish Dance. " ) Tempest, IV, I, 120—22.
15
Fingerzeig, in welcher Richtung unsere Untersuchung über das magische Element in „antic" weiterzuführen ist: er setzt das Tun der Geister ausdrücklich in Bezug zu seinen Einbildungen. 3. A n t i c a l s B e z e i c h n u n g d e r E i n b i l d u n g s k r a f t . Bereits wiederholt deutete sich ein Bezug von „antic" zur Einbildungskraft eher als zur Vernunft an. O f t spielen dabei Märchenelemente eine Rolle, wie audi in dem folgenden Beleg aus dem Prolog zum 2. Buch der Faerie Queene: Right well I wote, most mighty Soveraine, That all this famous antique history Of some th'aboundance of an ydle braine Will judged be, and painted forgery, Rather then matter of just memory; A n d thou, O fayrest Princesse vnder sky! In this fayre mirrhour maist behold thy face, And thine owne realmes in lond of Faery, And in this antique ymage thy great auncestry 6 2 .
Die Bedeutung des Wortes „antic" ist merkwürdig schillernd. Spencer weiß, daß das dargestellte Geschehen nicht geschichtlicher, sondern allegorischer Art ist. Seine FQ ist so etwas wie eine Aeneis des Elisabethanischen Englands. Wie bei Vergil geht es im 2. Buch der FQ um eine Darstellung der mythischen Vorwelt der Ahnen, die in der Gegenwart wirksam bleibt. Spencers Wortgebrauch von „antic" steht im 16. Jahrhundert keineswegs allein da, wie es das folgende Zitat aus dem Mittsommernachtstraum beweist: I never may believe These antique fables, nor these fairy toys. Lovers and madmen have such seething brains, Such shaping fantasies, that apprehend More than cool reason ever comprehends. The lunatic, the lover, and the poet, Are of imagination all compact. One sees more devils than vast hell can hold; That is the madman. The lover, all as frantic, Sees Helen's beauty in a brow of Egypt. The poet's eye, in a fine frenzy rolling, Doth glance from heaven to earth, from earth to heaven; A n d as imagination bodies forth
" ) FQ II, Prol. I, 1—5 & IV, 6—9. 16
The forms of things unknown, the poet's pen Turns them to shapes, and gives to airy nothing A local habitation and a name 53 .
Manche Glossare verstehen das „antique" einfach im Sinne von „alt" trotz der Synonymität zu „fairy toys". Bei dieser Deutung kommt der Exkurs über die Einbildungskraft einigermaßen überraschend, abgesehen davon, daß der Bezug zu den Ereignissen im Spiel verloren geht. Denn diese „Feenpossen", wie Schlegel-Tieck übersetzt, sind nichts anderes als die wunderbaren Ereignisse im nächtlichen Wald um Athen. An dem Zitat selber interessant ist nun weniger, daß der Dichter wie der Verliebte und der Wahnsinnige „of imagination all compact" ist, sondern daß von drei Aspekten dichterischer Schöpfung die Rede ist. Der dichterische Wahn bedeutet eine visionäre Schau, der (auf der Subjektseite) die Einbildungskraft entspricht. Diese ergreift das Unbekannte als Formprinzip, gebiert es als anschaubare Form aus sich, der dann allerdings erst die dichterische Feder Namen und bleibende Gestalt verleiht. Es zeigt sich dabei, daß bei der dichterischen Neuschöpfung der Vernunft eine eminente Rolle zukommt. Durch die Angleichung der Vorstellungen an die vernünftigen Kategorien von Raum und Zeit werden sie wirklich, d. h. in ihrer Wirklichkeit als Bild wiedererkennbar, was in der Namengebung zum Ausdruck kommt. Wenn nun Theseus die Ereignisse im Walde von Athen als „antique fables" bezeichnet, wobei „fable" vor allem den fiktiv-unwirklichen Charakter herausstellt, so liegt es nahe, das „antique" mit dem Furor der dichterischen Schöpfung in Verbindung zu bringen. Diese Annahme findet ihre Bestätigung in der Induktion von Peeles Old Wives' Tale, in der die drei Clowns die sprechenden Namen Antic, Fantastic und Frolic tragen. Diese Induktion ist eine Einführung im eigentlichen Sinne des Wortes, der eine ganz bestimmte Auffassung von Dichtung, ihrem Entstehungsprozeß und den sie konstituierenden Elementen zugrundeliegt. Die drei Clowns haben sich bei Nacht im Walde verirrt und werden von Clunch, dem Schmied, aus ihrer mißlichen Situation befreit, der sie zu sich nach Hause führt. Nach einem Rundgesang im Hause des Schmiedes fordert Antic dessen Frau Madge auf, ihnen ein Märchen („winter's tale") zu erzählen. Diese willigt ein, schickt aber ihren 5S
) MND, V, 1, 2—17.
2 Lengeier, Tragische Wirklichkeit
17
Mann sowie Antic vorher zu Bett. Madge beginnt ihre Erzählung, wobei die Figuren der Erzählung unversehens als handelnde Charaktere auftreten und das eigentliche Stück, die „merry conceited comedy", beginnt. Für den Verlauf der Komödie bleiben Madge und ihre beiden Begleiter als Zuschauer auf der Bühne. Die allegorische Bedeutung der einzelnen Personen der Induktion läßt sich z. T. aus ihren Namen, z. T. aber auch aus ihrem unterschiedlichen Verhalten im Walde einerseits und im Hause des Schmieds andererseits erschließen. Die Deutung wird kaum fehlgehen, wenn sie Frolic und Fantastic mit der komischen, bzw. fiktiven Komponente der „merry conceited comedy" von Peele in Verbindung bringt. Die Bedeutung von Madge andererseits erhellt aus ihrer Funktion als Märchenerzählerin. Sie kann, wenn man ihre zukünftige Rolle als Zuschauerin auf der Bühne zusätzlich in Betracht zieht, als Personifizierung des künstlerischen Bewußtseins bezeichnet werden, wobei Bewußtsein und Kunstebene in Korrelation zueinander stehen. Mit Frolic und Fantastic teilt Madge dieses rationale Element. Sie wacht darüber, daß die beiden nicht über der Erzählung einschlafen, d. h., daß das rationale Element nicht ausgeschaltet wird, was einem Zurücksinken auf die vorkünstlerisdie Ebene gleichkäme. Das ist der Sinn ihrer Aufforderung an die beiden, sich gelegentlich zu räuspern; in diese Richtung weisen auch die wiederholten Kommentare der drei Zuschauer auf der Bühne während der Aufführung der eigentlichen Komödie. Zum Unterschied von Madge, Frolic und Fantastic verschlafen Clunch und Antic das Märchen, was im Falle Clunchs auch ohne große Schwierigkeiten einleuchtet. Der Schmied ist der Vertreter der Alltagswirklichkeit. Als solcher braucht er der Dichtung keineswegs ablehnend gegenüberzustehen, wie seine Ehe mit Madge, der Märchenerzählerin, und auch seine Beteiligung am Rundgesang zeigen. Aber die dichterische Fiktion kann für ihn nur im Traume wirklich werden, nur im Traume kann er als Vertreter der Wirklichkeit sich mit ihr identifizieren. Es liegt nun nahe, in Antic so etwas wie die Verkörperung eben des Fiktiven zu sehen, um so mehr, als er es ist, der Madge auffordert, ein Märchen zu erzählen. Was hat es dann zu bedeuten, daß Antic sich willig Madge fügt und mit Clunch zusammen schlafen geht? Es läßt sich unschwer erkennen, daß das Geschehen der Induktion sich auf den drei aufeinanderfolgenden Ebenen des Unbewußt-Unwirklichen, des Bewußt-Wirklichen und des Künstlerischen abspielt. 18
Die Verirrung im Walde 54 bedeutet eine vorrationale Wahnstufe, die durch das Auftreten Clunchs mit „lantern and candle" durch die Stufe rationaler Erkenntnis und damit der Wirklichkeit abgelöst wird. Die Begegnung mit Madge schließlich bedeutet das Erreichen der „künstlerischen" Ebene. Der Zustand Frolics auf der Ebene des Unbewußten wird als Wahnsinn bezeichnet: „. . . doth this sadness become thy madness?" 6 5 . Die Verirrung führt im Falle Frolics zu einer Umkehrung seiner eigentlichen N a t u r : aus dem Bruder Lustig ist eine Verkörperung der Verzweiflung geworden. Für Fantastic hingegen ist auf dieser Ebene charakteristisch, daß die Dinge austauschbar, ohne eigentliche Identität sind: „Hush! a dog in the wood, or a wooden (wood in) dog!" 5 6 . Einzig Antic scheint ganz in seinem Element zu sein. Frolics Klagegesang: „ O man in desperation", beantwortet er mit dem alten Spruch: „Three merry men . . . " " ; gegenüber Fantastics „phantastischen" Spielereien verraten seine Worte eine klare Erkenntnis der Situation: „What though we have lost our way in the woods?" 5 8 . Beim Ubergang von der vorrationalen auf die rationale Erkenntnisebene ändern sich jedoch die Vorzeichen. Auf Frolics Frage: „ . . . be thou ox or ass that appeareth, tell us what thou art?", antwortet Clunch einfach: „What am I! why, I am Clunch the smith" 5 9 . Seine Art des Sprechens verrät deutlich die rationale Kausalität der Alltagswirklichkeit, deren Vertreter er ist: Well, masters, it seems to me you have lost your way in the w o o d : in consideration whereof, if you will go with Clunch to his cottage you shall have house-room and a good fire to sit by, although we have no bedding to put you in 60 .
Frolics Haltung steht und fällt mit der des Schmiedes 61 . N u r in Verbindung mit der Wirklichkeit kann er seine eigentliche N a t u r wiederfinden. Von der größten Bedeutung für unser Problem ist die Antwort Antics auf die Frage des Schmiedes nach ihrer Identität. 6 4 ) Ober den T o p o s des „wilden W a l d e s " als Bild der Unwirklichkeit s. unten S. 31 f f . 5 5 ) O W T , 1—2. 5 8 ) O W T , 22. ) Vgl. oben SS. 6 f. u. 43. ) N E D s. v. antic. 4 Lengeier, Tragische Wirklichkeit
49
das der letztliche Bezug zum Urchaos immer wieder verwies, zum andern aber das Dämonische als konstitutive Merkmale fest. Wir sagten, das Groteske ist die Unwirklichkeit als dämonische Realität. Gerade diese Identität von Unwirklichkeit und Dämonie kennzeichnet auch das Bild von der Antike, das sich namentlich das frühchristliche Mittelalter macht. Indem das Christentum die antiken Mythen in das Reich der Fabeln verwies, reduzierte es die heidnischen Gottheiten von sinngebenden Realitäten zu lächerlichen Einbildungen. Auf die antike Kunst angewandt, bedeutet das, daß sie ihren Mimesis-Charakter verliert und zur bloßen Chimäre wird. Auf der anderen Seite galt alles, was mit dem Heidentum in Verbindung stand, als teuflisch-dämonisch, ja, wenn wir an den Kampf der frühen Kirchenväter gegen die bildenden Künste oder audi gegen das Theater denken, so ist gerade das Fiktive mit dem Dämonischen identisch. Auf diese Verbindung des Fiktiv-Unwirklichen mit dem Dämonischen verweist jener Synkretismus, der die christliche Teufelsvorstellung in Bezug setzt zur antiken Chaos-Vorstellung, wobei bezeichnenderweise das gleiche Adjektiv „antiquus" zum Kennwort beider Dinge wird. In die gleiche Richtung aber weisen auch die wenigen vorliegenden sprachlichen Belege, in denen mit. „antiquus" mehr als bloß „alt" bedeutet. In dem früher angeführten Beleg aus Guilleaume d'Auvergne, in dem er das dämonische Totenheer als „exercitus antiquus" bezeichnet, stellt er gleichzeitig auch seinen Charakter als Fabel und Altweibergeschichte heraus3. Es ist weiter eine bekannte Tatsache, daß das Mittelalter antike Altertümer und Kunstgegenstände mit Magie in Verbindung brachte. During the middle ages (and even up to a very recent time) antiquities were always objects of superstition. Great earthworks, or extraordinary structures, were the work of demons. Tumuli were guarded by dragons, or were the abode of fairies. Ancient vessels needed consecrating before a christian would dare to use them. Engraved gems were looked upon as magical amulets, and the finders endeavoured to preserve and take advantage of, rather than to dispel, the charm 4 .
Als Glanzperiode mittelalterlicher Antiquitätenfunde gilt nach Zappert die 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts 5 . Zu dieser Zeit beginnen ) V g l . S. 36. ) THOMAS WRIGHT, „ O n A n t i q u a r i a n E x c a v a t i o n s and Researches in the Middle A g e s " in Archaeologia 30 (1844), p. 448. 6 ) G . ZAPPERT, „ Ü b e r A n t i q u i t ä t e n f u n d e im Mittelalter" in Sitzungsberichte der k. A k a d e m i e der Wissenschaften, phil.-hist. K l a s s e V , Wien 1850, p . 764. 3 4
50
in den Ritualien der Kirche Exorzismen für die Reinigung antiker im Boden gefundener Gefäße aufzutreten. Dabei werden sowohl die Fundgegenstände als auch die Fundorte durch das Beiwort „antiquus" gekennzeichnet6. Solche Fundorte waren in manchen Fällen auch Grotten, die als „cryptae antiquae subterraneae" bezeichnet werden7. Es kommt noch ein weiteres hinzu. Besonders gut gelungene Kunstgegenstände — dazu gehören namentlich auch Automaten aller Art — gelten in den mittelalterlichen Romanzen als Werk von Zauberern, Feen und Teufeln. Besonders wunderbare Kunstwerke werden Feen oder Zauberern zugeschrieben, und an diese letzteren haben wir auch zu denken, wenn in diesem Zusammenhang von „Poeten" die Rede ist 8 .
Das bekannteste mittelalterliche Beispiel für den Zauberer-Künstler ist die Legende vom Zauberer Vergil 9 . Die Gestalt Prosperos im Sturm zeigt übrigens, daß die gleiche Vorstellung der Renaissance durchaus noch geläufig ist. Als besonders gut gelungen gilt ein Kunstwerk dann, wenn es den Eindruck des Lebendigen macht, wenn es den Betrachter über seinen Abbildcharakter täuscht. Gerade in der Täuschung der bloßen Erscheinung ist aber auch die magische Dämonie begründet. Ein Beispiel für einen solchen magischen Gegenstand ist das Taschentuch im Othello, das auch einmal als „antique token" 10 bezeichnet wird. Unsere bisherigen Beobachtungen haben gezeigt, daß das Groteske deshalb zum Synonym für „antikisch" werden konnte, weil das frühe Christentum die beiden konstitutiven Elemente des Grotesken, das Unwirkliche und das Dämonische, auch als Wesensmerkmale der Antike ansah. So gesehen, hätte die Entdeckung der sogenannten Grotesken am Ausgang des 15. Jahrhunderts ebenso wie das immer wieder •) „Benedictio super vasa reperta in locis antiquis" in Surtees Society 10 (1840), p. 97 u. 140 (1927), p. 97; vgl. auch ADOLF FRANZ, Die kirchlichen Benediktionen des Mittelalters, Graz 1960, I, 621 f.; weiter JEAN ADHEMAR, Influences antiques dans l'art du moyen âge français, The Warburg Institute, London 1940, p. 132. ' ) THOMAS WRIGHT, op. cit. p. 440 f. Wir erinnern in diesem Zusammenhang an die Etymologie des Wortes „grotesque" aus it. grotta, grutta, das seinerseits auf eben dieses mit. crypta, crupta zurückgeht. 8 ) OTTO SÖHRING, »Werke bildender Kunst in altfranzösischen Epen" in RF 12 (1899—1900), p. 499; J . D. BRUCE, „Human Automata in Classical Tradition and Mediaeval Romance" in MP 10 (1912—13), pp. 511—526; M. B. OGLE, »The Perilous Bridge and Human Automata" in MLN 35 (1920), pp. 129—136. •) J . W. SPARGO, Virgil the Necromancer, Cambridge 1934, Harvard Studies In Comparative Literature 10. " ) V, 2, 217; vgl. weiter unten S. 139.
51
zitierte Zeugnis des Vitruv durchaus so etwas wie eine nachträgliche Bestätigung für die Rechtmäßigkeit des Ausdrucks „antikisch" sein können, denn bei ihnen kam der Charakter des Phantastisch-Monströsen auch in der Erscheinung klar zum Ausdrudk. Wenn sich nun aber im Italienischen die Neuprägung „grottesco" durchsetzte, dann hing das damit zusammen, daß inzwischen, zumindest was Italien anbetraf, die Renaissance angebrochen war. Diese brachte zusammen mit einer neuen Diesseitsbejahung 11 auch eine neue Einstellung der geschichtlichen Vergangenheit, namentlich der Antike gegenüber. Nicht nur werden in der Renaissance zum ersten Mal wieder antike Kunstformen und antike Inhalte, die das ganze Mittelalter hindurch getrennt worden waren12, wieder vereinigt, vielmehr wird, nicht zuletzt unter neuplatonischem Einfluß13 die Antike auch zum zeitlosen Mythos, zur Verkörperung der nationalen Idee. Bestimmend für die neue Geschichtsauffassung, wie sie sich in den verschiedenen nationalen Abstammungsmythen abzeichnet, ist nicht mehr ihr Zeitcharakter, die Unwirklichkeit des einmal Vergangenen, sondern gerade ihr Charakter als zeitlose Realität, ihr Ursprungscharakter (Archetypos), der auch in der jeweiligen historischen Gegenwart wirksam bleibt14. Als Folge des neuen Verständnisses der Antike setzt sich im Laufe des 16. Jahrhunderts 15 , vor allem aber nach der Jahrhundertwende, „antique" in der Bedeutung „alt-ehrwürdig", „vorbildhaft" mehr und mehr durch. Eine Rolle spielt hier auch der Einfluß der neuklassizistischen italienischen Kunsttheorie 1 ', die neben Montaigne 17 am meisten zur Verbreitung des Wortes „grotesque" im Englischen des 17. Jahrhunderts beigetragen hat. Seit ca. 1650 wird „antic" als Fachausdruck im Englischen von „grotesque" verdrängt. In mancher Hinsicht für l l ) D a z u JEAN SEZNEC, op. cit. p. 181 f f . " ) V g l . d a z u oben S. 45 f. 1 4 ) V g l . oben S. 46 f. ) Vgl. oben S. 46. I 5 ) Ein früher H i n w e i s findet sich in T h o m a s Eliots lateinisch-englischem Wörterbuch aus dem J a h r e 1538: „antiquus, a, u m : auncient or olde, sometime it signifieth noble or w o r s h i p f u l " . 1 9 ) Vgl. OGDEN H . V. S. & M. S., „ A Bibliography of Seventeenth-Century Writings on the Pictorial Arts in E n g l a n d " in A r t Bulletin 29 (1947), pp. 197 f f . 17) Ein Beispiel f ü r die Rolle, die M o n t a i g n e bei der Verbreitung des Wortes „grotesque" im Englischen gespielt hat, ist seine V e r w e n d u n g bei T h o m a s Browne. In einer U r f a s s u n g der Religio Medici (JEAN-JACQUES DENONAIN, U n e Version primitive de Religio Medici, Publ. de la Faculté des Lettres d'Alger 36, Paris 1958, p. 35) heißt es: „There is noe g a p p e in nature, nor anie thing f r a m e d to fill up emptie cantons and unnecessary spaces." In den späteren Fassungen ist dann das Wort „ g a p p e " durch „ g r o t e s c o " (A & B ) b z w . „grotesques" ersetzt. Bereits die anonymen Anmerkungen von 1654 weisen auf Montaigne, Essais 1 . 3 . c. 1. als Q u e l l e hin, wo sich aber das W o r t „grotesque" nicht findet. Dennoch weist der Hinweis 13
52
die Entwicklung bezeichnend scheint mir John Harris' Lexicon Technicum. In der Ausgabe von 1704 erscheint „Anticks" noch als der Fachausdruck, während „grotesque" fehlt. Hingegen ist es in der Ausgabe aus dem Jahre 1710 bereits umgekehrt. Eine Eintragung über „antic" fehlt; dafür heißt es bezeichnenderweise unter dem Stichwort „Grotesque, or Grotesca Work" „is the same with what is sometimes call'd Antick . . .". Darüber hinaus findet sich nun eine weitere Eintragung über das Wort „antique", von dem es heißt: is a Word much used by Architects, Sculptors, and Painters and by it they mean all the Ancient Pieces of Architecture, Sculpture, and Painting from the Time of Alexander the Great to the Irruption of the Goths; as also Intaglios within that Time: All which they call Antique; and whatever is done in Imitation of the Great Masters of That Age, they say is after the Antique Manner.
Aus den Eintragungen des Lexicon Technicum geht eindeutig hervor, daß die Bedeutung „grotesk" infolge der Aufwertung der Antike ernstlich bedroht ist. So gesehen, ist auch die Verdrängung des Wortes „antic" durch „grotesque" wie auch die nach 1700 eintretende Differenzierung in der Lautung und in der Schreibung von „antic" und „antique" ein Symptom dieser Bedrohung der Bedeutung „grotesk" durch die Bedeutung „antik". Wenn sich die Bedeutung „anticgrotesk" im Englischen des 18. Jahrhunderts erhalten sollte, mußte aber vor allem jeder Bedeutungsbezug zum Phänomen der Antike verschwinden. In diesem Zusammenhang ist es nun interessant zu verfolgen, wie sich im 18. Jahrhundert statt dessen ein Bezug zum gotischen Mittelalter andeutet. Das Wort taucht nach 1700 weniger im Zusammenhang mit antiken Gottheiten, Faunen, Satyrn . . . als mit dem mittelalterlichen Hexen- und Zauberspuk und den Märchengestalten der Volkssagen auf 18 . Es findet ein auf die „emptie cantons" bei Browne eindeutig auf Montaigne und den A n f a n g des Kapitels über die Freundschaft in den Essais: „. . . and all void places about it ( = picture) he filleth up with antike Boscage or Crotesco works;" (Florio, 1615). Das Ganze wird noch erhärtet durch einen zweiten Beleg in Brownes Pseudodoxia Epidemica (Wks. ed. Sayle II, 74), in dem wiederum der Hinweis auf die „empty spaces" im Zusammenhang mit dem Grotesken erfolgt: „in their (seahorses) common descriptions, they are but Crotesco deliniations which fill up empty spaces in Maps, and meer pictorial inventions, not any Physical shapes." ,8 ) So heißt es im Vorwort der englischen Übersetzung der Gotengeschichte des Olaus Magnus von 1658: „Wherefore, it belongeth of right to Your Honour, to patronize the Description of those Countries . . . seeing that so Learned a P r e l a t e . . . hath in this Elaborate Work exposed to publick view, the Acts of their famous Heroes, the strange Eccentrick Customs, Fashions Attire, Sports, Battels, Feasts, Marriages, Religion, and Trades of these N o r t h e r n Nations: together with horrid
53
Refugium in der Art v o n Literatur (im weitesten Sinne des Wortes), die man mit Dryden und Addison „the fairy kind", b z w . „ w a y of writing" nennen könnte 19 . There is a kind of writing wherein the poet quite loses sight of Nature, and entertains his reader's imagination with the characters and actions of such persons as have many of them no existence but what he bestows on them; such are fairies, witches, magicians, demons, and departed spirits.20. V o n dieser Art der Dichtung, die noch Hobbes in seiner A n t w o r t auf D'Avenants Gondibert-Vorwort verurteilt hatte 21 , die aber Addison und Dryden nun als legitim anerkennen, sagt Addison, daß sie weniger typisch für die Antike als das Mittelalter seien: The ancients have not much of this poetry among them, for, indeed, almost the whole substance of it owes its original to the darkness and superstition of later ages, when pious frauds were made use of to amuse mankind, and frighten them into a sense of their d u t y . . . There was not a village in England that had not a ghost in it, the churchyards were all haunted, every large common had a circle of fairies belonging to it, and there was scarce a shepherd to be met with who had not seen a spirit 22 . Mit diesem H i n w e i s auf die Umstände, die um 1700 dazu führten, daß die beiden Bedeutungen des Wortes „antique" nun auch in SchreiApparitions of Divels, the Antick Prestigations of Conjurers, and Magical Inchantments . . ." (OLAUS MAGNUS, A Compendious History of the Goths, Swedes, & Vandals, and other N o r t h e r n Nations, London 1658, Dedicace). — Ich verdanke diesen Beleg D r . Josef Haslag, der mich audi darauf aufmerksam macht, d a ß im 18. J a h r h u n d e r t vereinzelt das Wort „gothic" synonym mit „grotesque" wird. Für Beispiele s. JOSEF HASLAG, „Gothic" im 17. und 18. J a h r h u n d e r t : eine w o r t - und ideengeschichtliche Untersuchung, in: Anglistische Studien 1, hrg. H . Papajewski, Köln 1963, SS. 96 f. u. 184 f. 10
)
JOHN DRYDEN, W k s . V , 114 f. u. V I I I ,
20
1 2 0 ; JOSEPH
ADDISON, S p e c t a t o r
419.
) Spectator 419. 21 ) J. E. SPINGARN, Critical Essays of the Seventeenth Century, 3 vols., O x f o r d 1908, II, 61 f. 22 ) a.a.O. p. 113 f. Es besteht kein Zweifel, d a ß Addisons Plaidoyer f ü r den „ fairy way of Writing" das alte Problem des Chimärischen und Grotesken in der Kunst weiterführt, audi wenn in diesem Zusammenhang keines der beiden Wörter „antic" und „grotesque" fällt. In früheren Diskussionen darüber w a r immer wieder von Altweibergesdiiditen die Rede. D a s Motiv klingt in dem R a t an, den Addison dem Dichter gibt: „Besides this, he ought to be very well versed in legends and fables, antiquated romances, and the traditions of nurses and old women . . ." Neben dem Phantastischen ist es auch bei Addison das Unheimliche, das diese Art der Dichtung kennzeichnet: „These descriptions raise a pleasing kind of horror in the mind of the reader, and amuse his imagination with the strangeness and novelty of the persons who are represented in them."
54
bung und Aussprache differenziert wurden und andererseits das Wort „antic" mehr und mehr durch „grotesque" verdrängt wurde, schließen wir die Wortuntersuchung ab.
Ergebnisse
der W o r t -
und M o t i v u n t e r su c h u ng
Bevor wir an die Einzelinterpretationen der Shakespeareschen Tragödien herangehen, fassen wir noch einmal die Ergebnisse der Wortund Motivuntersuchung für das Problem des Grotesken zusammen. Wir können danach das Groteske definieren als Dämonie des Unwirklichen. Alle die Züge, die die Autoren des 16. Jahrhunderts namentlich am Schulbeispiel der Horazschen Chimäre herausstellen, die heterogene Komposition, der Widerstreit zwischen Einheit und Vielfalt, das Unnatürliche und Monströse, das Phantastische und Lächerliche, sind ebenso viele Erscheinungsweisen der gleichen phantastisch-dämonischen Unwirklichkeit, wie sie sich im besonderen mit der Vorstellung vom Urchaos verbindet. Als bevorzugte Darstellungsmittel erscheinen zum einen die Topoi vom wilden Wald, vom Traum, von der Altweibergeschichte und vom Schauspiel, zum andern die antiken Saturn-, Proteus- und Panmythen. Ein spezifisch christlicher Einschlag ist die Verbindung zum Teuflischen, in deren Gefolge auch die allegorischen Laster zu Verkörperungen des Grotesken werden können. Eine besondere Rolle für das Groteske im 16. Jahrhundert kommt weiter dem Neuplatonismus zu mit seiner Setzung der Ideen als der eigentlichen Wirklichkeiten. Wirklich ist nicht die flüchtige Erscheinung, sondern die zeitlos dauernde Idee als das Archetypische (antique pattern). Entsprechend läuft das Ausgeliefertsein an die Zeitlichkeit auf groteske Unwirklichkeit hinaus, wie sie die Topoi vom Leben als Traum, Einbildung, Schauspiel, Verirrung im Wald versinnbilden. Solche Unwirklichkeit kommt einem Rückfall in das vorschöpferische Chaos gleich. Nun spielt gerade der Schöpfungsmythos im Neuplatonismus der Renaissance eine zentrale Rolle. Er erscheint zum einen als Kampf zwischen den kosmischen Mächten der Liebe und der Zwietracht. Den Begriffen von Liebe, Kosmos, Wirklichkeit zugeordnet ist weiter die Vorstellung einer göttlichen Vorsehung, der Zwietracht und chaotischen Unwirklichkeit hingegen der Glaube an ein blindes Schicksal. 55
Zum andern aber wird die Weltschöpfung in Analogie zur Kunstschöpfung gesehen und umgekehrt. Die Welt entsteht als Abbild der Idee des göttlichen Demiurg. Dabei ist diese göttliche Vorstellung mit der schöpferischen T a t identisch. Gott spielt als Schöpfer gleichzeitig die Rolle des erkennenden Betrachters. In Analogie zu dieser Gottesvorstellung wird auch der Mensch als schöpferisches Wesen definiert, dessen Schaffen in der Erkenntnis der Idealwelt gründet. Sinnbild des menschlichen Schöpfertums ist der Künstler in der Rolle des erkennenden Betrachters (vgl. Madge als Betrachter auf der Bühne des Geschehens in Peeles OWT) 1 3 . In diesem ästhetischen System, dessen Wesenskern in dem Bildcharakter der Kunst liegt, bedeutet das Groteske die Aufhebung des Bildcharakters, die Verdunklung der Idee. Sie macht, daß das „Kunstwerk" von einem Abbild der Wirklichkeit, sprich Idee, auf die Einbildungsebene zurücksinkt, daß es zur Verkörperung chaotisch-dämonischer Unwirklichkeit wird. Eine letzte Einschränkung betrifft die erwähnten Darstellungsmittel und -inhalte. Diese sind nicht als Ausdruck bloßer Unwirklichkeit bereits grotesk. Wohl aber bringen sie die „Disposition" 2 4 zum Grotesken mit. Sie sind grotesk in dem Maße, wie in ihnen das Unwirkliche mit dem Dämonischen identisch ist.
2 3 ) D i e Vorstellung, daß der schaffende Künstler Autor und Zuschauer in einer Person ist, impliziert umgekehrt eine entsprechende schöpferische Tätigkeit des Publikums. Es ist dies eine Vorstellung, die in der modernen Kunstkritik f a s t ganz in Vergessenheit geraten ist. Eine Ausnahme bildet PERCY LUBBOCK (The C r a f t of Fiction, C o m p a s s Ed. repr. N e w Y o r k 1962, p. 17), der nachdrücklich die Nachschöpfung seitens des kritischen Lesers fordert in der Doppelrolle des KünstlerZuschauers: „no artist (and the skilful reader is an artist) can a f f o r d to be swayed and beset by his material, he must stand above it." 24
) W . KAYSER, o p . cit.
195.
56
III. D I E G E S T A L T U N G IN
DEN
DES
GROSSEN
GROTESKEN
TRAGÖDIEN
A. H a m l e t Die G ei st e r e r sch e in u n g und H a m l e t s
Wahnsinn
Am Anfang von Shakespeares Hamlet steht die Erscheinung des Geistes, der als Requisit bereits die Disposition zum Grotesken mitbringt. Die Wirkung des Geistes auf die Wache wie auf das Publikum ist die eines Verfremdungseffektes, eine Mischung von Überraschung und Furcht. In diesem Zusammenhang verdient die besondere Weise seines ersten Auftretens auf die Bühne hervorgehoben zu werden: In dem gleichen Augenblick, in dem Barnardo in seinem Bericht über die früheren Erscheinungen auf das eigentliche Erscheinen des Geistes zu sprechen kommt, tritt dieser auf die Bühne, d. h., der epische Bericht schlägt an dieser Stelle in die dramatische Vergegenwärtigung um. Wir kennen das gleiche Verfahren aus Peeles OWT 25 . Es steht zu erwarten, daß sich hier wie dort die gleiche Dichtungstheorie dahinter verbirgt. Kennzeichnend für die Erscheinung des Geistes im ersten Akt des Hamlet ist, wie bereits gesagt, der Verfremdungseffekt. Horatio und die Wache sprechen von „fear and wonder" 26 , „tremble and look pale"", „fear-surprised eyes,"28 „they distilled Almost to jelly with the act of fear" 29 , „amaze" 30 . Hamlet selber ist noch ausführlicher, wenn er sagt: w hat may this mean T h a t thou, dead corse, again in complete steel Revisits thus the glimpses of the moon, Making night hideous, and we fools of nature So horridly to shake our disposition With thoughts beyond the reaches of our souls 31 ?
Die Erscheinung ist als lebendiger Leichnam monströs-unheimlich. Ihr Wesen ist die Unnatur, die Vereinigung von Wirklichkeit und Unwirklichkeit. Abwechselnd wird sie als „this thing" 32 , „fantasy" 35 , " ) Vgl. S. 18. 2a ) I, 2, 203. 31 ) I, 4, 51—6.
2C
27
29
3
) I, 1, 44. ) I, 2, 204—5. ' 2 ) I, 1, 21.
) I, 1, 53. °) I, 2, 236. 33 ) I, 1, 23.
57
„dreaded sight" 34 , apparition" 35 , „something more than fantasy" 3 ", „illusion" 37 , „spirit" 38 und „vision" 38 bezeichnet. Sie selber sagt von sich: „I am thy father's spirit" 40 . Wichtiger als der Streit darüber, welche Bezeichnung nun zutrifft, ist die Feststellung, daß in der gegenwärtigen Situation diese Zwielichtigkeit und Unnatur für den Geist kennzeichnend ist. Der Geist ist Bild für den Einbruch einer dämonischen Macht, die in die menschliche Welt einbricht und den Beschauer (die Wache, Horatio, Hamlet) überwältigt, da er sich von einer Störung der Weltordnung bedroht sieht. Auf diese bedrohte Weltordnung weisen die Worte Horatios: „This bodes some strange eruption to our state" 41 , ebenso wie sein Bericht über die Ereignisse in Rom kurz vor der Ermordung Caesars42. Andeutungsweise streift auch Claudius dieses Problem, wenn er in seiner Thronrede Hamlets späteres: „The time is out of j o i n t . . . " vorwegnimmt: N o w follows that you know, young Fortinbras, Holding a weak supposal of our worth, O r thinking by our late dear brother's death Our state to be disjoint and out of frame, H e hath not failed to pester us with message Importing the surrender of those lands . . . 43 .
Hierher gehören auch die Kriegsvorbereitungen, von denen im Zusammenhang mit der Geisterer scheinung die Rede ist: Well may it sort that this portentous figure Comes armed through our watch so like the king That was and is the question of these wars 44 .
Einen weiteren Zusammenhang zwischen der gestörten Weltordnung und der Erscheinung implizieren Horatios Worte an den Geist: „What art thou that usurp'st this time of night . . ." 45 ? Der Geist usurpiert die Erscheinung des alten Königs, er ist verabsolutierte, d. h., dämonische „Erscheinung". Die Verfremdung, die er verkörpert, ist Bild für die Verfremdung, die Verdunklung der Idealwirklichkeit, die sich hinter der Usurpation des Claudius verbirgt. Der Terminus „Verfremdung" bietet sich aus mehreren Gründen an. Shakespeare selber verwendet den Ausdruck „'Tis strange" im ZuM)
I, I, 40) I, «) I, S7)
1, 25. 1, 127. 5, 9. 2, 17—23.
«) 38) 41) ")
I, I, I, I,
1, 28; I, 2, 211. 2, 255. 1, 69. 1, 109—111. 58
3«)
I, 1, 54. »») I, 5, 137. " ) I, 1, 112—125. " ) I, 1, 46.
sammenhang mit der Geistererscheinung nicht weniger als dreimal 4 ', um eben damit den außergewöhnlichen Charakter, wir würden mit Kayser 47 sagen, die groteske Natur der Erscheinung, zu kennzeichnen. Weiter spielt die Verfremdung in der Rhetorik und Dichtungstheorie eine Rolle, namentlich wenn es darum geht, die Aufmerksamkeit des Publikums zu erregen48. Wir werden sehen, daß gerade die Geistererscheinung zu Beginn des Hamlet Bild eben auch dafür ist. Schließlich taucht der Terminus „Verfremdung" im Neuplatonismus der Renaissance auf. Die Verstellung des eigentlichen, d. h., des idealen Wesens, die Verdunklung der Idealwirklichkeit wird als Verfremdung, oft speziell als Wahnsinnsverfremdung bezeichnet4'. Hier stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Hamlets Wahnsinn und der Geistererscheinung. Dieser Wahnsinn wird vorbereitet durch die Melancholie, die von Hamlet seit dem plötzlichen Tod seines Vaters und der schnellen Wiederheirat seiner Mutter Besitz ergriffen hat. Die tiefere Ursache für diese Melancholie ist ihm selber, wie er später zu Güldenstern und Rosenkranz sagt50, unbekannt. Er gleicht darin Antonio im Kaufmann von Venedig, dessen „sadness" aber ausdrücklich mit der mangelnden Selbsterkenntnis in Verbindung gebracht wird51. Das gleiche platonische Thema des nosce teipsum steht auch hinter Hamlets Melancholie und Selbstmordgedanken: O, that this too too solid 5 2 flesh would melt, T h a w and resolve itself into a dew, O r that the Everlasting had not fixed His cannon 'gainst self-slaughter 5 3 . 4 e ) I, 1, 6 4 ; I, 2, 2 2 0 ; I, 5, 28. I m letzten F a l l bezieht sich das „ s t r ä n g e " auf die U n n a t u r des B r u d e r m o r d e s . " ) W . KAYSER, o p . cit. 1 9 8 : „ d a s G r o t e s k e ist die e n t f r e m d e t e W e l t " . 4S) Vgl. HEINRICH LAUSBERG, H a n d b u c h der literarischen R h e t o r i k , München 1960, 2 Bde., I, §§ 1 2 1 9 — 1 2 2 5 . 4 9 ) THOMAS WALKINGTON, T h e Optick G l a s s e o f H u m o r s (1631?). D a s Werk soll nach W i n g ( S T C ) in erster A u f l a g e 1607 erschienen sein. „ A n d sure it is that whiles this m i n d e of ours hath his a b o d e in this d a r k s o m e d u n g e o n , this vile m a n s i o n o f our b o d y , it can never act his p a r t well, till it step v p o n the h e a v e n l y stage, it will be like I o in O v i d , w h o being turned into a heefer, when she c o u l d not expresse her m i n d e to I n a c u s her f a t h e r in w o r d s . . . H e r f o o t e did speake as on the s a n d she r a n g e d , H o w she p o o r e soule w a s f r o m herselfe e s t r a n g e d " (p. 21). Für die V e r w e n d u n g des Wortes im Z u s a m m e n h a n g mit H a m l e t s Wahnsinn und „ a n t i c d i s p o s i t i o n " vgl. I, 5, 164 u. 170 f f . ; V , 1, 151 f f . 8N
) I I , 2,
299—3C0.
« ) Merch. I, 1, 1 — 7 . 5 2 ) I d i f i n d e Wilsons E m e n d i e r u n g ebenso unnötig wie wenig ü b e r z e u g e n d u n d bleibe deshalb bei der L e s u n g der F t . ")
I, 2,
129—133.
59
In diesen Worten klingt der Topos vom Körper als Gefängnis der Seele an, der später auf Dänemark und die ganze Welt ausgedehnt wird 54 . Hamlets Melancholie wie auch sein Wahnsinn, mit dem sie letztlich identisch ist, ist kein rein psychologisches Phänomen. Der ursächliche Bezug zum Tod seines Vaters und zu der Wiederheirat seiner Mutter, vor allem aber die Gleichsetzung der Eltern mit mythologischen Figuren weisen auf die tiefere Bedeutung. Hamlet vergleicht seinen Vater und Claudius mit Hyperion, bzw. einem Satyr 55 . Horatio gegenüber nennt er seinen Vater: A' was a man, take him for all in all, I shall not look upon his l i k e again 56 .
Seiner Mutter gegenüber fällt der Unterschied zwischen den beiden Brüdern noch drastischer aus. Dabei machen seine Worte in III, 4 besonders deutlich, daß wir in Hamlets Vater die Verkörperung der Idee vom Mann (im Sinn des Piatonismus) zu sehen haben: A combination and a form indeed, Where every god did seem to set his seal To give the world assurance of a man 57 .
Der Tod von Hamlets Vater kommt daher dem gleich, was wir in der Voruntersuchung als Verdunklung der Idee bezeichnet haben. Hamlets Melancholie, sein Wahnsinn ist Ausdruck dieser Verdunklung der Idealwirklichkeit. Ihr entspricht, wenn man so will, auf der kosmischen Ebene der Einbruch des Dämonischen in der Gestalt des Geistes und auf der staatlichen Ebene die Usurpation und die drohende Kriegsgefahr 58 . Zwischen der Geistererscheinung und Hamlets Wahnsinn besteht nun insofern noch ein besonderer Zusammenhang, als Hamlet bei der Begegnung mit dem Geist zum ersten Mal die Züge eines „klinischen" Wahnsinns verrät. Nachdrücklich warnt Horatio den Freund, dem Geist zu folgen: What if it . . . . . . assume some other horrible form, Which might deprive your sovereignty of reason, And draw you into madness 5 "? 55 56 II, 2, 246—250. ) I, 2, 140. ) I, 2, 187—188. ) III, 4, 60—62. Vgl. S. 37, Fußnote 57. 58 ) Auch sonst findet sich der Parallelismus von Krieg und Wahnsinn bei Shakespeare. Im 4. Akt des König Lear irrt der wahnsinnige Lear im Niemandsland zwischen den Fronten der feindlichen Heere seiner Töchter umher. Eine Potenzierung des Parallelismus, die im wesentlichen mimetischen Charakter hat, ist die große Wahnsinnsszene IV, 6, wo Lear in seinen Gesichten Krieg gegen seine Töchter führt. 5 ») I, 4, 69—74. K7
60
Und in der Tat ist Hamlets Zustand nach dem Verschwinden des Geistes ein Zustand halben Wahnsinns: Remember thee? Ay thou poor ghost whiles memory holds a seat In this distracted globe"0.
Die Begegnung mit dem Geist seines Vaters ist eine Begegnung mit dem Dämonischen, dem gegenüber Hamlet nicht er selber, sondern lächerlicher „fool of nature" 61 ist. Wie bereits kurz angedeutet wurde, unterliegt dem Wahnsinn Hamlets im Zusammenhang mit der Geistererscheinung ebenfalls ein rhetorisdi-dichtungstheoretischer Aspekt. Der Eindruck des Geistes auf die Wache und Hamlet entspricht dem der Tragödie zugeordneten Affekt der Furcht. Hamlet und seine Begleiter versinnbilden auf der Bühne den von Furcht überwältigten Zuschauer, der sich von der Störung der Weltordnung bedroht sieht. Den Rhetorikern zufolge erreicht der Dichter die erschütternde Furchtwirkung durch die „cpavtam« in concipiendis visionibus" 62 , durch ein visionäres Phantasieerlebnis. Damit sehen wir Shakespeare hier gewissermaßen in die Werkstatt. Der Geist ist als „Erscheinung" Bild für ein solches Phantasieerlebnis, er ist „vision", wie Hamlet selber sagt83, wobei in dem Wort beide Bedeutungsmöglichkeiten anklingen. Doch sind damit die dichtungstheoretischen Bezüge noch keineswegs erschöpft. Der höchste Grad des Verfremdungseffekts ist die ekstasis. In diesem Zusammenhang ist interessant, daß Hamlets Wahnsinn gerade auch im Zusammenhang mit der Geistererscheinung mehrfach als „ecstasy" bezeichnet wird". „Besonders der ) ")
1132.
I, 5, 5 - 6 . op. cit. I, § 1223. Vgl. SMITH, op. cit. I, 171 f. u. 390. Vgl. auch die Deutung S. Vgl. S. 77 f. Vgl. I, 1, 145. Vgl. MND V, 1, 1 ff.
62
91.
durchaus eine Realität, ja, sogar eine grotesk-dämonische im Hinblick auf Hamlets Wahnsinnsverfremdung. Erkenntnismäßig ist die Erscheinung Bild für die Einbildung. Hier werden die Worte Horatios bedeutsam, als Hamlet sich nicht davon abhalten läßt, dem Geist zu folgen: „ H e waxes desperate with imagination" 72 . Charakteristisch für Hamlets gegenwärtige Lage ist nun, daß er die Erscheinung („vision") für wahr nimmt: . . . toudiing this vision here, It is an honest ghost that let me teil you™.
Die Wahr-nehmung als Zustand des halben Wahnsinns rechtfertigt Hamlets späteres Mißtrauen, wenn er die Botschaft des Geistes als mögliche dämonische Einflüsterung ansieht74. Nur wenn übersehen wird, daß weder Hamlets Ahnung75 noch die Worte des Geistes eine Vernunft-, und d. h., Wirklichkeitserkenntnis darstellen, kommen Hamlets spätere Zweifel überraschend. Die Verdunklung der Idealwirklichkeit, von der im Zusammenhang mit der Usurpation und Hamlets Melancholie die Rede war, bedeutet auf der Erkenntnisebene, daß das Wahrnehmen von Erscheinungen an die Stelle der Erkenntnis von Wirklichkeiten getreten ist. Vernünftiges Erkennen ist das Wiedererkennen der Ideen (Urbilder) in den Erscheinungen. Mit der Verdunklung der Idee aber usurpieren die flüchtigen Erscheinungen die Stelle der Ideen. Als Wirklichkeit erscheint nun der faktische Verlauf der Welt. In dieser Perversion liegt auch die Wurzel von Hamlets Pessimismus und Zynismus 76 . Diese Wirklichkeit-Unwirklichkeit ist aber nicht nur eine Welt, in der Krieg und Mord an der Tagesordnung sind, es ist auch eine Welt, die dem blinden Zufall und den Einbrüchen dämonischer Mächte (Geistererscheinung) ausgeliefert ist. Was bedeutet in diesem Zusammenhang Hamlets Entschluß, „to put an antic disposition on" 77 ?
) I, 4, 87. ) I, 5, 137—8. 7 4 ) I I , 2, 602 f f . I, 2 passim und I, 5, 40. , e ) Vgl. H a m l e t s M o n o l o g I, 2, 129 f f . , die Selbstmordgedanken, den Vergleich der Welt mit einem „unweeded g a r d e n " , das verallgemeinernde „ f r a i l t y thy name is w o m a n " . Dieser Pessimismus steigert sich im V e r l a u f des D r a m a s zum Zynismus (vgl. I I , 2 ; I I I , 1; V , 1). E r verschwindet a m Schluß mit der Anerkennung einer göttlichen Vorsehung (Wiederentdeckung der Idealwirklichkeit). " ) I, 5, 172. 72
73
63
„Antic
disposition"
Die Deutung der „antic disposition", die die Hamlet-Forschung seit jeher bewegt78, erfordert einige wort- und motivgeschichtliche Vorbemerkungen. Das Wort „disposition" taucht im 16. Jahrhundert als terminus technicus in einer Reihe von Wissenschaften auf, unter anderem in der Rhetorik, in der Medizin und Psychologie wie auch in der Kosmologie. Dabei ist in unserem Zusammenhang gerade die Synonymität zu dem Wort „order" von Bedeutung79, die den Ausdruck „antic disposition" in den Bannkreis des für Shakespeare so zentralen ordoGedankens rückt. Der Ausdruck ist eine concordia discors, er symbolisiert in der Vereinigung von Gegensätzen einen chaotischen Zustand. Das erhellt eindeutig aus der Umschreibung, die Claudius Rosenkranz und Güldenstern gegenüber gebraucht: „Get from him why he puts on this confusion" 60 , und in der auch die gleiche Formel „to put on" auftaucht. Das Wort „confusion" ist ein bei Shakespeare und audi sonst im 16. Jahrhundert vorkommendes Synonym für „chaos". Hamlets „antic disposition" als Wahnsinn spiegelt auf der personalen Ebene die verstellte Ordnung, das Chaos im Staat Dänemark. Dieser Zusammenhang mit dem Chaos-Motiv kommt nach unserer Voruntersuchung über das Wort „antic-grotesk" nicht überraschend, doch ist damit die Vieldeutigkeit des Ausdrucks noch nicht ausgeschöpft. Von unserer Voruntersuchung her ist uns auch das Schwanken zwischen den Bedeutungen „grotesk" und „alt, ursprünglich" geläufig, die das Wort „ antic" in einer Reihe von Belegen aufweist 81 . Speziell vom Ganzen der dramatischen Handlung her schillert auch hier das Wort „ antic" mehrdeutig. In der Bedeutung „grotesk" weist der Ausdruck, wie wir sahen, auf eine verstellte Ordnung, auf die Verdunklung der Idee vom Menschen im Sinne des Piatonismus 82 . Platonisch ist auch der Gedanke, das Wesen einer Sache aus ihrem Ursprung zu definieren. 7 6 ) V a r i o r u m E d . I I , 1 9 5 — 2 3 5 ; J . D . WILSON, op. cit. chap. I V ; H . D . F. KITTO, F o r m and Meaning in D r a m a , L o n d o n 1960 (University Paperbacks), p. 2 9 0 ; H . LEVIN, T h e Q u e s t i o n of H a m l e t , N e w Y o r k 1959, p p . 111—128. Nicht zugänglich war mir SIDNEY THOMAS, T h e Antic H a m l e t and Richard I I I , N e w Y o r k 1943. 7 9 ) Wir begnügen uns mit einem Beispiel aus HANIBALL ROMEIS T h e Courtiers Academie in der Ubersetzung von J o h n K e p e r s (1598): „ N o w the principal and most perfect part, as well in the minde of diuine, as humane Architect is proportion, because in it order and disposition are comprehended" (p. 26). 8 °) I I I , 1, 2. 8 1 ) Vgl. S S . 16 f.; 42 f f . fi2) Vgl. S. 38.
64
Wie es Ficino ausdrückt: „. . .each thing rests in its especial origin" 83 . Mag der Mensch sich auch noch so sehr in der Materialität des Irdischen verstricken, es bleibt ihm doch eine letzte Ahnung seines ursprünglich geistigen Wesens. Diese platonische Vorstellung unterliegt der immer wieder in den Tragödien Shakespeares zu machenden Beobachtung, daß auch in den größten Selbsttäuschungen und Verirrungen seiner Helden eine „richtige" Ahnung mitklingt, deren Bedeutung dem Zuschauer aber erst vom Ganzen der Dichtung her aufgeht 84 . Eben solche Vieldeutigkeit kennzeichnet auch die „ antic disposition" im Hamlet. Hamlet, wie Edgar im König Lear, greift zu der grotesken Maske des Wahnsinns, um sich dahinter in Sicherheit zu bringen. Letztlich aber verbirgt sich hinter dem „to put an antic disposition on" der Versuch, die „antique disposition", die ursprüngliche Ordnung im Sinne der platonischen Idee wiederherzustellen. Erst von hier aus erhellt die ganze Tragweite von Hamlets Entschluß als Antwort auf die Enthüllung des Geistes. Der Ausdruck „to put an antic disposition, (this confusion) on" weist weiterhin auf eine Shakespearesche Eigenart, geistige Haltungen und Einstellungen wie Kleidungsstücke oder Masken an- und abzulegen85. Es dürfte sich dabei um Varianten der umgreifenden Bühnenmetaphorik handeln, deren Bedeutung im Werk Shakespeares und seiner Zeitgenossen noch kaum erkannt worden ist86. Das Verständnis des Schauspiel-Topos ist m. E. auch geeignet, Licht in die alte Streitfrage zu bringen, ob Hamlets Wahnsinn wirklich oder nur gespielt ist. Neuerdings hat Kitto wieder eine säuberliche Trennung zwischen „madness" und „antic disposition" behauptet 87 . When he is assuming the antic disposition, Hamlet's mind is conspicuously clear and quick; there is such ,method in his madness' that his speedi is full of double meanings; he talks to the audience, so to speak, over the heads of his interlocutors. But his real ,madness' is something much deeper 88 .
Diese Trennung widerspricht Shakespeares Wortgebrauch, der abwechselnd von „antic disposition", „madness", „confusion", „melan8:1 ) Zitiert nach The Renaissance Philosophy of Man, ed E. Cassirer, P. O. Kristeller, J. H . Randall, Jr., Chicago 1961 (Phoenix Books), p. 201. 84 ) Vgl. SS. 167 f. u. 173. 85 ) Vgl. Lr. I, 4, 241; Jul. Caes. II, 1, 255. D a z u H . LEVIN, op. cit. 112: „Attributes and attitudes are habitually put on and taken o f f , as if they were clothes, in Shakespeare's imagery." 6C
) Auch
die neuere
Untersuchung
von
A N N E RIGHTER, S h a k e s p e a r e
and
the
Idea of the Play, London 1962, erschöpft keineswegs die Bedeutung des Bühnenvergleichs in der Motivik, Bilder- und Gedankenwelt Shakespeares. 87 88 ) op. cit. 290. ) ibid. 5 Lengeier, Tragische Wirklichkeit
65
choly", „ e c s t a s y " , „ l u n a c y " spricht und dabei immer wieder auf das gleiche Grundphänomen Bezug nimmt. D a b e i ist nicht in Abrede gestellt, daß dieses gleiche Grundphänomen, das wir der Einfachheit halber als „ W a h n s i n n " bezeichnen, in den verschiedenen dramatischen Situationen, in denen es auftaucht, verschiedene Ausprägungen erfährt, keineswegs aber bloß zwei, wie K i t t o postuliert. Mir ist keine Deutung bekannt, der es gelungen wäre, die in F r a g e kommenden Szenen der „antic disposition" einerseits und der „ m a d n e s s " andererseits eindeutig zuzuordnen. Auch die von K i t t o ins F e l d geführten „double meanings" sind kein brauchbares Kriterium. K i t t o übersieht, daß die Wortspiele und Vieldeutigkeiten ihrerseits Ausdruck einer chaotischen Weltordnung sind und daß die „antic disposition" zunächst einmal eine bloße Variante von H a m l e t s „ W a h n s i n n " ist. Dieser Wahnsinn aber bedeutet, wie es die Wahnsinnsszenen im Hamlet und audi sonst bei Shakespeare zeigen, die Verfremdung des Helden von seinem eigentlichen Wesen, die Verdunklung der Idealwirklichkeit im Sinne des Piatonismus. Diese Verdunklung unterliegt H a m l e t s Melancholie und Pessimismus ebenso wie seinen vielzüngigen Wortspielen, seinem Zynismus etwa in der „nunnery scene" und auch seinem Verhalten beim R a t t e n m o r d und beim Z w e i k a m p f mit Laertes im G r a b e Ophelias. Wir erinnern in diesem Zusammenhang noch einmal an die in der Wortuntersuchung erwähnte Stelle aus Puttenham 8 ", in der von der „cuill and vicious disposition of the braine" die Rede war: Euen so is the phantasticall part of man (if it be not disordered) a representer of the best, most comely, and bewtifull images or appearances of thinges to the soule and according to their very truth. If otherwise, then doth it breede Chimeres & monsters in mans imagination, & not onely in his imaginations, but also in all his ordinarie actions and life which ensues90. Alle diese Züge, das Phantastisch-Irreale, das Unnatürlich-Monströse, das K r a n k h a f t - B ö s e , das Vieldeutig-Chaotische, das LächerlichUnheimliche, finden sich in den verschiedensten Wandlungen in H a m lets Wahnsinn. Sie alle enthüllen diesen als chaotisches Gegenbild zu der Idealwirklichkeit im christlich-platonischen Sinn, in der die Ideen des Seins, des Schönen und Guten, des Ewigen und des Einen zusammenfallen. Z u dem Mißverständnis, die „ antic disposition" von H a m l e t s Wahnsinn zu trennen, hat nicht zuletzt die Wendung „to put . . o n " e
») V g l . S . 3 6 .
«») SMITH, o p . c i t . , I I , 19 f .
66
beigetragen, die die Deutung eines gespielten Wahnsinns nahelegt. Dabei ist die Mehrdeutigkeit, die gerade der Schauspiel-Topos impliziert, übersehen worden. In dem Maße, wie Hamlet den Wahnsinn verkörpert, wie die Maske zu seinem eigentlichen Wesen wird, ist er „wahnsinnig" (im Sinne des Piatonismus); am anderen Pol steht als Ziel, hinter der Maske des Wahnsinns den Zuschauer zu spielen, ähnlich wie Edgar im König Lear. In dem Maße, wie Hamlet das gelingt, wird er in der Rolle des Schauspieler-Kommentators zum Abbild des idealen Menschen als eines Vernunftwesens. Damit ist das Rätsel, ob gespielter oder wirklicher Wahnsinn, bereits gelöst. Anfänglich gelingt es Hamlet nur augenblicksweise in der „antic disposition" die Doppelrolle zu spielen. Kennzeichnend ist vielmehr die Vieldeutigkeit, das chaotische Gegeneinander von Vernunft und Wahnsinn. Exemplarisch erreicht er hingegen die Harmonisierung beim Spiel im Spiel, von dem noch die Rede sein wird. Vorher gilt es jedoch, die Szenen, in denen Hamlet den Antic agiert, im einzelnen zu untersuchen. Die erste in Frage kommende Szene ist Ophelias Bericht in der ersten Szene des zweiten Aktes, in dem Hamlet als wahnsinnig gewordener Liebhaber erscheint81. Die tiefere Bedeutung dieser „Rolle" Hamlets wird klar, wenn man weiß, welche Funktion die Liebe überhaupt bei Shakespeare spielt. Wilson Knight hat in seinem Aufsatz „The Shakespearian Metaphysic" darauf verwiesen, daß der Liebende sein eigenes Selbst im Geliebten erst erkennt82. Wir können ergänzen, daß der Mensch erst durch die Liebe zu sich selber kommt. Das deckt sich mit der neuplatonischen Auffassung der Renaissance, nach der der Liebende sich auf geistige Art in den Geliebten verwandelt 93 . 91 ) II, 1, 74—97. Zu Hamlets Aufzug vgl. J . D. WILSON, What Happens in Hamlet, C U P 1959 (Paperback), pp. 96—97. 92 ) WF, p. 262 f. B3 ) Kepers, der Übersetzer Romeis (op. cit. p. 66 f.), erklärt die Verwandlung des Liebenden in den Geliebten wie folgt: „Notwithstanding, you (faire Lady) beholding in mine eies, may see your goodly shape, as in a most cleare glasse . . . . Nowe this your beautiful Image, is transported, by meane of the most subtile vitall spirites, and imprinted in the inward organe, that is, the intrinsecate part of the braine, which also becommeth like vnto her, and from thence receiued into my soule, my soule her selfe taketh of you the whole similitude so that we may say, that while I see and behold you present, my soule wholy transfigured into you, is no other but the true pourtraiture of yourselfe . . . By this which I haue expounded vnto you . . . you may easily comprehend the transformation of the louer into the beloued. For it is not a reall, but a spiritall transformation: For the true louer bearing always the representation of the beloued imprinted in his soule, and neuer ayming his thoughtes but towardes his beloued obiect, in that state hee commeth to bee transformed into it."
67
Umgekehrt kommt die „Trennung" der Liebenden einer Selbstverfremdung gleich: In every instance the hero suffers through a wrenching, a drawing out, of something deep within him: his love, bodied into a symbol, is banished thence and it is as the banishment of his own soul from himself. For the soul has perfext reality only when it is projected into some .shape' or .form'»4.
Gerade das kennzeichnet Hamlets Zustand in der vorliegenden Szene, daß er sieht, ohne zu erkennen. Die vergebliche Suche nach dem Bild der Geliebten 95 ist mit der Selbstverfremdung des Wahnsinns identisch, wie sie in seinem Aufzug, vor allem aber in der Zwiespältigkeit seines Tuns zum Ausdruck kommt 90 . Wir müssen für die Deutung der Szene im einzelnen weiter ausgreifen. Ophelia berichtet von einem Zustand Hamlets, „As if he had been loosed out of hell / To speak of horrors" 97 , wobei ihre Worte deutlich an die des Geistes in I, 5 anklingen 98 . Hamlet seinerseits sieht Ophelia bei der Begegnung so prüfend ins Gesicht, „As a' would draw it" 99 . Er stößt dabei einen erbarmungswürdigen Seufzer aus, „As it did seem to shatter all his bulk, / And end his being" 1 . Sein Verhalten beim Verlassen des Raumes schließlich erinnert an die Zwiespältigkeit, die „höllische Rebellion", als die er in III, 4 die Schuld seiner Mutter brandmarkt. Hamlets Verhalten ist mehr als rätselhaft, was nicht zuletzt durch die Perspektive der Darstellung unterstrichen wird: Ophelia erkennt nicht, was in Hamlet vor sich geht; ihr „als ob" bleibt bloße Andeutung. Was aber verbirgt sich hinter diesen rätselhaft-unheimlichen Andeutungen? Von dem Vorgang der entstehenden Liebe als einem Erkenntnisund Verwandlungsprozeß war bereits kurz die Rede. Auf ätherische Weise verläßt das Selbst des Liebenden den eigenen Körper, um über das Auge des Geliebten in diesen überzugehen. Im Spiegelbild des Geliebten erkennt sich nun der Liebende, sein Selbst wieder. Dieser Prozeß bedeutet gleichzeitig Tod und Wiedergeburt des Liebenden, ")
t,r
KNIGHT, W F , p . 2 6 2 f.
') „He falls to such perusal of my face As a' would draw it." (II, 1, 87—88). e6 ) „And with his head over his shoulder turned He seemed to find his way without his eyes, For out adoors he went without their helps, And to the last bended their light on me" (II, 1, 94—97). 08 »') II, 1, 80—81. ) I, 5, 9—20. »») II, 1, 88. ») II, 1, 92—93.
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wenn seine Liebe erwidert wird. Für den Fall aber, daß seine Liebe unbeantwortet bleibt, irrt er als Schatten, als sein eigener Geist, fern von seinem verlorenen Selbst umher 2 . Diese neuplatonische Vorstellungen verbergen sich audi hinter dem Rätsel der „closet-scene". Auf Anordnung ihres Vaters hat Ophelia Hamlet jeden weiteren Zutritt verboten 3 . Hamlet nimmt diesen Schein der Nicht-Liebe für wahr. Seine Liebe ist damit nicht mehr Liebe, sondern „fancy", „shadow-worship", „idolatry". Hamlet setzt an die Stelle der Geliebten eine Einbildung („fancy"), ein totes Bild („shadow", „idol") und macht damit aus seinem Liebesdienst einen Götzendienst 4 . Unmißverständlich kommt dieser Sachverhalt wenig später in Hamlets Brief zum Ausdruck, den Polonius den Majestäten vorliest: ,To the celestial, and my soul's idol, the most beautified Ophelia'. Hamlets eigene Worte kennzeichnen somit in dramatischer Ironie seinen gegenwärtigen Zustand als das, was er ist: Idolatrie. Nicht nur aber ist Hamlets Liebe Schattenverehrung, er selber ist damit auch zum Schattendasein des hoffnungslos Liebenden verurteilt. Seine Schattenexistenz ist wesentlich ein Zustand des Außer-sich-Seins, „ecstasy of love" 5 , wie es Polonius richtig kennzeichnet. Da aber diese Liebe nicht zum Ziele kommt, ist sie als Selbstverfremdung gleichzeitig Tod und Schrecken der Höllenstrafe, denn die Hölle ist für Shakespeare — wie wir auch im König Lear sehen werden — mit dieser Trennung von Selbst und Körper identisch. Von hier aus erhellt Ophelias „As if he had been loosed out of hell / To speak of horrors", ebenso wie das „As it did seem to shatter all his bulk, / And his being" und auch die Ähnlichkeit zu den Worten des Geistes in I, 5, 9—20. Es ist nicht so, als ob der Geist Hamlet einen Blick in seinen Strafort hätte tun lassen, er hatte sich das im Gegenteil gerade versagt 6 ; der Bezug zwischen den beiden Episoden ist vielmehr bildhafter 2
) Vgl. dazu MARIA WICKERT, „Das Schattenmotiv bei Shakespeare", Anglia 71 (1952/3), 289. 3 ) „No, my good lord, but as you did command I did repel his letters, and denied His access to me" (II, 1, 105—107). 4 ) Wie so oft, macht sich Shakespeare auch hier die Vieldeutigkeit der Wörter „fancy" 1. ,Einbildung', 2. .Zuneigung'; „shadow" 1. ,Schatten', 2. ,BiId'; „idol" 1. ,Idol', 2. ,Bild' zunutze. Der Zusammenhang Einbildung-Bild-Idolatrie kommt gut heraus in der folgenden Stelle aus Tr. & Cr. V, 1, 6—7: „Why, thou picture of w h a t thou seemest, and idol of idiot worshippers". Im übrigen verweisen wir auf die Arbeiten von M. WICKERT, op. cit. 274—309, und J. VYVYAN, Rose of Love, 5 p. 122 f. ) II, 1, 99. 6 ) „But this eternal blazon must not be T o ears of flesh and blood" (I, 5, 21—22).
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Art: der Geist, der dazu verdammt ist, des Nachts umherzuirren, tagsüber aber im Feuer geläutert wird, und die unheimlichen Qualen des Gefängnisses sind Bild für Hamlets Zustand der „ecstasy", sein Ausgeliefertsein als Geist seinerselbst an die „horrors" der Hölle, von denen Ophelia spricht. Das Gefängnis im besonderen („prison-house"), das der Geist erwähnt7, verweist auf den platonischen Topos vom Körper als Gefängnis der Seele, der hier die Züge der christlichen Höllen-Vorstellung angenommen hat: „Till the foul crimes done in my days of nature / Are burnt and purged away" 8 . Damit fällt von hier aus neues Licht auch auf die ganzen folgenden Ereignisse des Dramas als einen Läuterungsprozeß, der Hamlet zu sich selber führt. Noch in einer anderen Weise wird das Schattenmotiv in der vorliegenden Szene von Bedeutung. Der Liebende, dessen Liebe erwidert wird, wird nicht nur im Geliebten wiedergeboren, er^erkennt auch im Spiegel von dessen Auge sein Selbst wieder. Hier wie auch sonst erscheint die Schöpfung als Mimesis, als Spiegelung. Dieses Bild seines Selbst sucht Hamlet vergebens in den Augen Ophelias, deshalb der Hinweis auf das „As he would draw it"! Ähnliches findet sich auch sonst bei Shakespeare und seinen Zeitgenossen". Wir erinnern an die Kästchenwahl im Kaufmann von Venedig: Bassanio findet bei der richtigen Wahl „fair Portias's counterfeit" 10 in dem Kästdien. Umgekehrt steht im Falle der Nicht-Liebe kein Erkennen, sondern die Begegnung mit dem eigenen Geist11. Es bleibt uns als letzter wichtiger Zug der Szene, der zu klären ist, das Problem des Widerstreits der Sinne, wie es in Hamlets zwie7 e
) I, 5, 14. ) 1, 5, 1 2 — 1 3 .
•) V g l . M . 10
WICKERT,
op. cit.
288.
) Merch. I I I , 2, 115.
u ) W i r zitieren eine Stelle aus dem L e v i a t h a n . Ist für Shakespeare das Schillern zwischen N a t u r und Ü b e r n a t u r kennzeichnend, so polemisiert Hobbes in seiner Diskussion über das Bild — letztlich über alles menschliche Erkennen — gegen jede nichtempirische Deutung. Dabei faßt er gerade in der Polemik die alten Bedeutungen in aller Schärfe. „ A n image, in the most strict signification o f the w o r d , is the resemblance o f something visible: in which sense the phantastical forms, apparitions, or seemings o f visible bodies to the sight, are only images; such as are the show o f a man, or other thing in the w a t e r , by reflection, or refraction . . . A n d these are the images, derived from the language of the Grecians, with w h o m the w o r d £i signifieth to see. T h e y also are called phantasms, which is in the same language, apparitions (p. 4 2 5 f.). A n anderer Stelle polemisiert Hobbes gegen die U b e r n a t u r v o n Einbildungen als D ä m o n e n : „As if the dead o f w h o m they dreamed, were not inhabitants o f their o w n brain, but o f the air, or o f heaven, or hell; not phantasms, but ghosts; with just as much reason as if one should say, he saw his o w n ghost in a looking-glass . . ." (p. 4 1 9 ) .
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spältigen Verhalten zum Ausdruck kommt. Wir verwiesen bereits auf gewisse Ähnlichkeiten zu I I I , 4 hin, wo Hamlet seiner Mutter den Spiegel vorhält 12 . Nachdrücklicher als in der vorliegenden Szene erscheint dort Gertruds Zustand als Disharmonie: Eyes without feeling, feeling without sight, Ears without hands or eyes, smelling sans all . . -13.
An beiden Stellen fallen auch die Wörter „madness" und „ecstasy" 1 4 . Darüber hinaus stellt Hamlet seiner Mutter gegenüber auch den Bezug zur „rebellious hell" her 15 . Damit erhellen sich auch diese beiden Szenen gegenseitig. Hamlets Liebeswahnsinn in der „closet-scene" spiegelt in dem Widerstreit der Sinne die höllische Rebellion, von der er seiner Mutter gegenüber spricht. Dieses Bild des chaotischen Widerstreits aber erweist Hamlets Liebeswahnsinn eindeutig als Gegenbild zur erkennenden Liebe im neuplatonischen Schöpfungsmythos. Damit sind die Bildbezüge der Szene aufgedeckt, deren Kenntnis auch für die Bestimmung des Grotesken unerläßlich ist. Was an der Oberfläche als Liebeswahnsinn erscheint, als Dämonie unwirklicher Einbildungen, enthüllt sich bei schärferem Zusehn als Verlust des Selbst, als Begegnung mit den Schrecken des Todes und der Hölle. D a s Lächerliche an Hamlets Aufzug und Gebahren wird zum Ausdruck des Unheimlichen, dem sich der Zuschauer mit dem Helden unerwartet ausgeliefert sieht. Vor allem aber zeigt die Szene eindeutig, wie hier das Groteske bei Shakespeare durch den neuplatonischen Hintergrund seine besondere historische Ausprägung erfährt. D i e nächste Szene, in der Hamlet den Antic spielt, ist die sog. „fishmonger scene" (II, 2, 170—222). Bradley sah in ihr ein besonders gutes Beispiel für Hamlets „delight in freaks and twists of thought", „his tendency to perceive and play with resemblances in the most diverse objects and ideas" 1 6 . Die Vieldeutigkeit der Sprache weist auf eine concordia discors als entscheidenden Grundzug der ganzen Szene. In der T a t kennzeichnet die Vereinigung von Gegensätzen die einzelnen Strukturelemente ebenso sehr wie die Szene als Ganzes. Den vieldeutigen, teilweise obszönen Wörtern (fishmonger, honest, conception, sun, words, matter, walk out of the air) entsprechen auf der Ebene der Redefiguren und Bilder die O x y m o r a (kissing carrion, plentiful lack, a happiness that I2 14
) I I I , 4, 19. ) I I I , 4, 7 3 — 4 .
10
13
) I I I , 4, 7 8 — 7 9 . IIR, 4, 82.
) A. C. BRADLEY, Shakespearian Tragedy (Meridian Books), New York 1959,
p. 125.
71
madness hits on, method in madness) und solche Bilder wie das vom Leben im Hundekadaver und das vom Krebsgang 17 . In der Syntax kommt es an einer Stelle zu einer Teleskopierung eines Realis mit einem Irrealis (for yourself, sir, shall grow as old as I am . . . if like a crab you could go backward). Formal erscheint die Szene als Dialog, der aber in Wirklichkeit ein Antidialog ist, dauerndes Mißverstehen und An-einander-Vorbeireden. Den eigentlichen Gegenstand des Gesprächs bildet das, was man als die Wirklichkeit-Unwirklichkeit des Narren umschreiben kann; die diesem Gegenstand gemäße Ausdrucksweise ist die satirische Verzerrung als Mimesis solcher Scheinwirklichkeit. Auf die beiden letzten Punkte, das Narrentum und die Satire, sei kurz eingegangen. Am Beispiel des Wortes „fishmonger" läßt sich die satirische Verzerrung als Mimesis gut illustrieren. Wenn Hamlet den Polonius als Fischhändler identifiziert, so ist das eine phantastische Verzerrung der Realität. Auf der anderen Seite aber deutet gerade diese Verzerrung durch die Sprache auf einen anderen Zug an Polonius, dessen Abbild sie ist. Der Leser oder Zuschauer, der vor kurzem die Worte des Polonius gehört hat: „At such a time I'll loose my daughter to him" 18 , erkennt in dem zweideutigen „fishmonger" einen Bezug auch zu diesem zweiten Aspekt der Wirklichkeit. M. a. W. die Zweideutigkeit der Sprache spiegelt die Doppelnatur einer Realität, die wirklich und unwirklich zugleich und damit eben die Zeichen chaotischer Unwirklichkeit im Sinne des Neuplatonismus an sich trägt. Das adäquate Bild solcher Darstellung ist die Satire. In ihr schafft eben die Verzerrung den Abbildcharakter, ist die Einbildung des Antic, sein Wahnsinn mit der Erkenntnis identisch. Diesem närrischen Zustand entspricht die Mischung von LJnvernunft und Vernunft im Wahnsinn oder wie Shakespeare sagt, das „reason in madness" 19 . Der adäquate Gegenstand der Satire ist also nicht die Wirklichkeit, die als Bild der Idealwirklichkeit wiedererkannt wird, sondern jene zwiespältige Scheinwirklichkeit, die die Figur des Narren bei Shakespeare verkörpert. In diesem Zusammenhang verdient hervorgehoben 17 ) Für den „crab-fish" als Emblem vgl. SIDNEY, Wks. I, p. 164 f.: I tooke a Jewell, made in the figure of a Crab-fish, which, because it lookes one way and goes another, I thought it did fitly patterne out my looking to Mopsa, but bending to Pamela". 18 ) II, 2, 162. 19 ) King Lear IV, 6, 177; Polonius spricht von der Methode im Wahnsinn: „Though this be madness, yet there is method in't" (Z. 205).
72
zu werden, daß Hamlet zum Schluß der Szene Polonius ausdrücklich einen „tedious old fool" nennt, wie dies überhaupt seine bevorzugte Bezeichnung für Polonius ist. Umgekehrt ist die satirische Redeweise kennzeichnend für den Narren. M. a. W. Hamlets Satire in der „fishmonger scene" entlarvt nicht nur Polonius als Narren, sie kennzeichnet auch seine eigene gegenwärtige Situation als Narrentum. Der Narr bei Shakespeare vereinigt in seinem Wesen die beiden Gegensätze von Einbildung und Wirklichkeit, er verkörpert die verdunkelte Idee, das von der Erscheinung verstellte Wesen20. Die Wahrheit des Narren aber ist nicht eindeutig, ihr Wesen liegt vielmehr in der Vieldeutigkeit, in der Mischung von Vernunft und Wahrheit. Von ihr sagt Polonius im Zusammenhang von Hamlets „Methode im Wahnsinn": how pregnant sometimes his replies are! a happiness that o f t e n madness hits on, which reason a n d sanity could not so prosperously be delivered of 2 1 .
Diese Wahrheit wird gefunden, nicht erfunden, sie wird geboren („delivered"), nicht geschaffen. Mit dieser besonderen Art der Wahrheitsfindung des Narren, die keine aktive Vernunfterkenntnis ist, hängt auch das Problem von Hamlets gegenwärtiger Untätigkeit in der Rachefrage zusammen. Der Narr kann zum Sprachrohr von Mißständen werden, sie aktiv beseitigen kann er nicht. Bevor Hamlet zur Rache schreitet, muß er erst den Zustand des Narren überwinden, wie er sich in der „antic disposition" manifestiert. Es stellt sich zum Schluß unserer Deutung der „fishmonger scene" die grundsätzliche Frage, wie sich das Satirische vom Grotesken unterscheidet. Gegenüber Hamlets erstem Auftreten als Antic tritt der Charakter des bewußten Spiels in der „fishmonger scene" stärker in Erscheinung. Die Szene ist im wesentlichen satirisch und nicht grotesk. Hamlets eigene Worte: „. . . the satirical rogue says here . . geben ja audi bereits einen Hinweis. Wir haben das Groteske definiert als Dämonie des Unwirklichen. Gerade dieses unheimlich-dämonische Element aber fehlt der „fishmonger scene" mit Ausnahme von zwei Stellen: Unbehaglich wird dem Zuschauer, wenn Hamlet Ophelia in einem Atemzug nennt mit dem „good kissing carrion". Nicht geheuer ist dem Zuschauer weiter bei Hamlets Antwort auf die letzte Frage des Polonius: ) ) 23 ) Latin, 2 And mermaid-like awhile they bore her up, Which time she chanted snatches of old lauds, As one incapable of her own distress, Or like a creature native and indued, Unto that element 56 .
Das Wasser ist hier Symbol des unbewußten Seins". Das Unterbewußte ist zum eigentlichen Element der wahnsinnigen Ophelia geworden. Ihr Selbsttod ist Tat der Selbstverwirklichung, bedeutet die endliche Verwandlung in bloßes Sein. Gleichzeitig aber spiegelt er in dem Schein eines Selbstmords als Wahnsinnstat die wahre Natur von Laeftes' Mordabsichten. Denn Laertes' Mordpläne sind Wahnsinn, sie bedeuten die Unterdrückung seines eigentlichen Wesens durch sein Bewußtsein und werden am Schluß des Dramas zu seinem Tod als „Selbstmord" führen. Das Thema vom Selbstmord als Tat wird in der Totengräberszene fortgeführt in dem Streit über die Zulässigkeit eines christlichen Begräbnisses für Ophelia. It must be ,se offendendo', it cannot be else. For here lies the point, if I drown myself wittingly, it argues an act, and an act hath three branches, it is to act, to do, and to perform — argal, she drowned herself wittingly 5 8 .
Hinter diesem clownischen Unsinn birgt sich gleichwohl eine tiefere Bedeutung im Hinblick auf die „Idee" der Tat. Die ideale Tat ist eine Tat der Selbstwerdung im Untergang des bewußten Ich; sie ist sterben ) ) Merch. 5S) 66
57
IV, 7, 174—179. F ü r den T o d durch Ertrinken als Durchgang zu einem neuen Sein I I I , 2, 46 f f . und T p . I, 2, 399 f f . V, 1, 9 — 1 3 .
100
vgl.
„se defendendo". Hingegen ist Tun als bloßes Agieren schuldhaftes Sterben „se offendendo". Der Unsinn der Tölpel weist auf die Verdunklung der Idee der Tat, wie sie sowohl für Laertes als auch Hamlet im gegenwärtigen Stadium charakteristisch ist. Zum Zustand des Clowns gehört das Nicht-Unterscheiden-können zwischen Tun und Erleiden, gleichzeitig aber auch die Vertrautheit mit dem Tode 58 . Gerade in diesem Punkt aber werden sie zur Folie für Hamlet. Wir sahen, wie in Hamlets letztem großen Monolog IV, 4 gerade die mangelnde Todesbereitschaft, die Angst, sich selber aufzugeben, die Rachetat verhinderte. Der Anblick der Totenköpfe wird für Hamlet nun zur teilweise grotesken Vision, in der er die Lebensszene als Maskerade erkennt. Er greift damit ein Thema auf, das zu wiederholten Malen bereits angeklungen ist80. Die Rollen des Politikers, des Höflings, der Dame, des Rechtsanwalts sind ebenso viele Masken, hinter denen allen der gleiche Totenkopf grinst: Why, e'en so, and now my Lady Worm's, chopless and knocked about the mazzard with a sexton's spade; here's fine revolution an we had the trick to see't 61 !
Ebenso laufen die vielzüngigen Wortspiele (equivocation) des Clowns über die Frage, wem das Grab gehört, in dem er steht, letztlich auf den Gedanken von der Allgegenwart des Todes hinaus 62 . Diese Vieldeutigkeit aber, die auf eine Aufhebung der Grenze zwischen Wirklichkeit und Einbildung, Leben und Tod hinweist, ist identisch mit dem Wahnsinn des Zeitalters 93 und mit dem Hamlets. Die Vorstellung von der Welt als Grab wird ergänzt durch die andere vom Leben als Wahnsinn. Das bedeutet die ausdrückliche Erwähnung von Hamlets Wahnsinn im Zusammenhang mit seinen Lebensdaten' 4 69 ) V, 1, 65—68: H m . H a s this fellow no feeling of his business that a'sings in grave-making? H ö r . Custom hath made it in him a property of easiness. 60 ) Vgl. II, 2, 181—182; II, 2, 208—209; II, 2, 299—312; I I I , 1, 145—150; IV, 3, 16—36. el 62 e3 ) V, 1, 86—89. ) V, 1, 116—125. ) V, 1, 133—137. 64 ) V, 1, 137—157. Aus den Angaben des Totengräbers ergibt sich, daß H a m l e t 30 Jahre ist. Diese Zahl d ü r f t e nicht zufällig gewählt sein, wenn man sich an das saturnische Element im Hamlet erinnert. 30 Sonnenjahre machen ein Saturnjahr aus. Dieses Faktum konnten die Zeitgenossen Shakespeares in jedem mythologischen Nachschlagewerk finden, überdies wird es auch von den elisabethanischen Dichtern erwähnt (vgl. Marlowes Faustus ZZ. 665 in Wks. ed. Brooke, O x f o r d 1910). Wichtiger aber ist, daß die ganzen Ereignisse im Hamlet, die Melancholie, der Wahnsinn, die Gewaltherrschaft des Claudius . . . Ausdruck des Saturnischen sind. — In dem Spottvers nach dem Spiel im Spiel liegt ein versteckter Hinweis auf den Charakter von Claudius' H e r r s d i a f t als einer Saturnherrschaft:
101
ebenso wie der Seitenhieb auf Shakespeares Landsleute, daß in England Hamlets Wahnsinn nicht auffalle, weil die Leute dort genau so wahnsinnig seien wie er. Hamlets Liebe zum Leben erscheint symbolisiert in der Liebe des Knaben Hamlet zu dem Spaßmacher Yorick, dem „whoreson mad fellow" und „mad rogue", wie ihn der Totengräber bezeichnet. Beim Anblick von Yoricks Schädel aber tritt an Stelle dieser Liebe ein tiefer Abscheu, der gleichzeitig eine Absage an die Vergänglichkeit des Lebens bedeutet: Alas, poor Yorick! I knew him, Horatio — a fellow of infinite jest, of most excellent fancy. H e hath borne me on his back a thousand times, and now how abhorred in my imagination it is! my gorge rises at it . . . Here hung those lips that I have kissed I know not how oft . . . N o w get you to my lady's chamber, and tell her, let her paint an inch thick, to this favour she must come. Make her laugh at that 65 .
Die Liebe Hamlets zu Yorick war in dem Gefallen an dessen Einbildungen begründet. Damit ist über diese symbolhafte Liebe die Gleichsetzung der Welt mit Einbildungen gegeben und dem Wahnsinn. Der Schein der Welt wird zum Symbol von Hamlets Selbstverfremdung im Wahnsinn. Gleichzeitig fällt von hier aus auch neues Licht auf Hamlets Verhältnis zu Ophelia. Diese Liebe war, um auf eine Doppeldeutigkeit des elisabethanischen Sprachgebrauchs zurückzugreifen, „fancy", eine Einbildung, die Ophelia zum Grabe als ihrem Brautbett geführt hat 66 . Für Ophelia aber bedeutete ihr Tod, wie wir sahen, nicht das Ende ihres Seins, sondern gerade das Ende des Wahnsinns und die VerFor thou dost know, O D a m o n dear, This realm dismantled was Of Jove himself, and now reigns here A very, very — peacock. Wir erinnern in diesem Zusammenhang nodi einmal daran, d a ß H a m l e t in I I I , 4, 56 seinen Vater ausdrücklich mit Jupiter vergleicht. Alle Überlegungen, die sich an dieser Zahl 30 stoßen, weil sie im Gegensatz stehe zu Hamlets „jüngerem Wesen" (vgl. FURNESS, N e w Variorum H a m l e t I, 391 ff.; BRADLEY op. cit. pp. 324—6) sind abwegig, weil sie die wesentlich symbolische Bedeutung der Zahl verkennen. Die Zahl 30 an dieser Stelle des Dramas ist ein Hinweis darauf, d a ß sowohl die Saturnherrschaft des Claudius als auch die saturnische Selbstverfremdung Hamlets ihrem Ende zugeht. Darüber hinaus kündet sie den Anbruch eines neuen Saturnischen (goldenen) Zeitalters an, die Wiederherstellung der O r d n u n g unter Fortinbras, im Falle Hamlets aber die Selbstwerdung im Tod. (Vgl. S. 39). C5
) ) Knell" geburt M
V, 1, 178—189. V, 1, 239—240. D a m i t es zur dauerhaften Liebe kommt, muß erst „Fancy's ertönen. Eine ausführliche Darstellung der Liebe als Tod und Wiederfindet sich im Kaufmann von Venedig (III, 2).
102
Wandlung in ihr eigentliches Sein. Diese Verwandlung deutet Laertes an ihrem Grabe noch einmal an, wenn er sagt: Lay her i'th'earth, And from her fair and unpolluted flesh May violets spring! I tell thee, churlish priest, A minist'ring angel shall my sister be, When thou liest howling67. Gerade die Verwandlung in die Blume als Symbol unbewußten Seins deutet die eigentliche N a t u r ihres Todes an. Das Veilchen, das Laertes in der 3. Szene des 1. Aktes zur Charakterisierung der Kurzlebigkeit von Hamlets Liebe erwähnte 68 , gewinnt mit dem Tode Ophelias seine eigentliche Bedeutung als Symbol der Treue wieder 6 '. Ophelias Selbsttod bedeutet entgegen dem Urteil des Priesters nicht ewige Verdammung, sondern ewige Seligkeit als Engel. Diese Verwandlung in einen Engel aber ist identisch mit der Verwirklichung des eigensten Selbst70. Für Hamlet wie auch für Laertes verweist andererseits der Streit am Grabe Ophelias auf die Fortdauer des Wahnsinnszustandes. Wahnsinnseinbildung ist deutlich das, was ihre Erinnerung an die Liebe Ophelias kennzeichnet. Laertes' Liebe zu der toten Ophelia ist gleichbedeutend mit seinen Verwünschungen gegen Hamlet. Die „Prahlerei seines Schmerzes" 71 versetzt audi Hamlet in einen Zustand leidenschaftlichen Wahnsinns. In dem „ranting" des Laertes erkennt sich der von sich selber verfremdete Hamlet wieder: " ) V, 1, 232—236. et ) I, 3, 5 — 9 : For Hamlet, and the trifling of his favour, H o l d it as a fashion, and a toy in blood, A violet in the youth of primy nature, Forward, not permanent, sweet, not lasting, The perfume and suppliance of a minute, N o more. Vgl. IV, 5, 183 f. I w o u l d give you some violets, but they withered all, w h e n m y father died — 69 ) Vgl. H a m l e t ( N e w Variorum), I, 349. 70 ) Dahinter dürfte sich die diristlich-neuplatonische Vorstellung verbergen, die in der Verwandlung in einen Engel nach dem Tode die Wesensverwirklichung der menschlichen Idealnatur sieht. Wir zitieren eine Stelle aus C a s t i g l i o n e / H o b y : „Thus the soule kindled in the most h o l y fire of true heavenly love, fleeth to couple her selfe with the nature of Angels, and not onely cleane forsaketh sense, but hath no more neede of the discourse of reason, for being chaunged into an Angelí, she understandeth all thinges that may be understood:" ( T h e Book of the Courtier, ed W. H . D . Rouse, Everyman's Library 807, London 1956, p. 319). Diese Stelle w i r f t auch neues Licht auf Ophelias Wahnsinn und Selbsttod. D e r Wahnsinn erscheint als Vorstufe der Verwandlung des Menschen in das eigentliche 71 Selbst. ) V, 2, 79.
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What is he whose grief Bears such an emphasis? whose phrase of sorrow Conjures the wand'ring stars, and makes them stand Like wonder-wounded hearers? This is I, Hamlet the Dane72. Dover Wilson weist in den Anmerkungen seiner Ausgabe darauf hin, daß Hamlet sich hier mit dem Titel des Königs einführt. Aber in dem Ringkampf mit Laertes im Grabe Ophelias führt sich dieser Anspruch selber ad absurdum. Es ist gerade Hamlets Bewußtsein von sich selber, daß ihn daran hindert, er selber, König, zu sein, ebenso wie seine Worte über seine Liebe zu Ophelia eben diese Liebe verstellen: j i o v e c i Ophelia, forty thousand brothers Could not with all their quantity of love Make up my sum . . Eben in dieser Selbstverfremdung durch das Bewußtsein besteht der Wahnsinn, von dem Gertrud spricht; diese Selbstverfremdung ist grotesk, weil in ihr die Menschen nicht als sie selber erscheinen, sondern als lächerliche Puppen einer dämonischen Macht in ihnen. Sie ist eine Perversion der Liebe, die das Selbst nicht zu sich selber kommen läßt, wie dies auch Hamlets späteres Bedauern darüber, daß er sich Laertes gegenüber vergessen habe, impliziert 74 . Hamlets Seereise ebenso wie die Totengräberszene markieren die letzten entscheidenden Phasen seiner Hinwendung zur Rachetat und damit zu seinem eigensten Selbst. Die Ereignisse auf dem Meer führen zu dem festen Glauben an das Walten einer göttlichen Vorsehung: There's a divinity that shapes our ends, Rough-hew them how we will . . .75. Die Uberlistung von Rosenkranz und Güldenstern ist bereits wirkliche Tat. Interessanterweise wird auch diese Tat im Bilde des Schauspiels dargestellt. Being thus be-netted round with villanies — Or I could make a prologue to my brains They had begun the play78. Hamlets Rolle ist charakteristischerweise nicht nur die des Schauspielers, sondern auch die des Autors. Hamlet wird damit zum Abbild Gottes als des eigentlichen Akteurs des Weltgeschehens. Sein Tun fällt 7ä
73 ) V, 1, 248—252. ) V, 1, 263—265. ) V, 2, 75—76: But I am very sorry, good H o r a t i o , That to Laertes I forgot myself. 75 76 ) V, 2, 10—11. ) V, 2, 29—31. 74
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mit dem der Vorsehung zusammen; in die gleiche Richtung weisen auch die Hinweise auf sein „ K ö n i g t u m " , die sich jetzt mehren", denn Vorsehung im Staat zu spielen, ist im besonderen Maße Aufgabe des Königs 7 8 . Auf die klare Erkenntnis der Verbrechen seines Onkels folgt jetzt bei Hamlet die bewußte Identifizierung mit seiner Rächeraufgabe: H e that hath killed m y king, and w h o r e d my mother, P o p p e d in b e t w e e n t h ' e l e c t i o n a n d m y h o p e s , T h r o w n o u t his a n g l e f o r m y p r o p e r l i f e , A n d w i t h such c o z e n a g e — is't n o t p e r f e c t c o n s c i e n c e T o q u i t h i m w i t h this a r m ? a n d is't n o t t o b e d a m n e d , T o let this c a n k e r o f o u r n a t u r e c o m e In further evil79?
In Claudius, dem Usurpator, erkennt Hamlet jetzt das Krebsgeschwür in seinem eigenen Wesen wieder. Er ist zur Rache bereit, und das ist das Entscheidende, auch zum eigenen Tod. N o t a w h i t , w e d e f y a u g u r y . T h e r e is s p e c i a l p r o v i d e n c e in the f a l l o f a s p a r r o w . I f it b e n o w , 'tis n o t t o c o m e — if it b e n o t t o c o m e , it w i l l b e n o w — if it be n o t n o w , yet it w i l l c o m e — the r e a d i n e s s is all 8 0 .
Die scheinbar selbstmörderische Passivität 8 1 , mit der Hamlet auf die Pläne seiner Gegner eingeht, entspricht dem Glauben an eine göttliche Vorsehung ebenso wie der Erkenntnis von der Nichtigkeit des irdischen Lebens: „ A n d a man's life's no more than to say ,One' . . ." 8 ! . Auf der anderen Seite aber ermöglicht gerade diese „Passivität" als „Bereitschaft" wirkliches Handeln im entscheidenden Augenblick. Was Claudius und Laertes hingegen als Mordtat an Hamlet geplant haben, läuft auf einen Selbstmord hinaus. Nicht sie, sondern der Tod ist der eigentlich Handelnde: Y o u t h a t l o o k p a l e a n d t r e m b l e a t this chance, T h a t a r e b u t m u t e s o r a u d i e n c e to this a c t , H a d I b u t t i m e , as this fell s e r g e a n t ,
Death,
Is strict in his a r r e s t , O , I c o u l d tell y o u
—
" ) In diese Richtung weist etwa der Hinweis auf das königlidie Siegel in Z Z . 49—50. 7 S ) Vgl. Claudius Worte in IV, 1, 17—19: It will be laid to us, whose providence Should have kept short, restrained, and out of haunt This mad young man. e °) V, 2, 217—220. '») V, 2, 64—70. 8 1 ) Vgl. W. KNIGHT, WF, p. 323: „There is thus a suicidal quality in his revenge, which recalls the blend of suicide and fine action in his soliloquy." 8 2 ) V, 2, 74.
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But let it be; Horatio, I am dead, Thou livest, report me and my cause aright T o the unsatisfied 8 3 .
Auch hier erscheint der Fall als „ a c t " im Bilde des Schauspiels mit dem Tod als eigentlichem Akteur. Dieser Tod ist aber nicht mehr der Tod als Antic, sondern der „feil sergeant", der Bote des ewigen Richters 84 . Damit erscheint nun auch der Tod nicht mehr verfremdet, sondern in seiner eigentlichen Gestalt. An die Stelle dämonischer Einbildung tritt zum Schluß des Hamlet mit der Deutung der Ereignisse durch Horatio ihr Mimesis-Charakter: D a s ist der Sinn dieses Epilogs, der sich als Formtopos am Ende der Mehrzahl der großen ShakespeareTragödien findet 85 , den Zuschauern, die „nur stumme Hörer dieser H a n d l u n g " sind, wird der Abbild-Charakter der Ereignisse noch einmal ausdrücklich in Erinnerung gerufen. Hamlets Tod bedeutet wie der Ophelias Tat der Selbstwerdung. Darauf verweist zunächst einmal der Vollzug der Rache. Uber dieses Faktum hinaus geben uns Fortinbras und Horatio Hinweise, die in die gleiche Richtung weisen. Nach Hamlets Tod ist zum ersten Mal von seinem Soldatentum die Rede:
L e t f o u r captains Bear Hamlet like a soldier to the stage, For he was likely, had he been put on, T o have proved most royal; and for his passage, The soldier's music and the rite of war Speak loudly for him 86 .
Zu den Grundtugenden des Königs als Idealgestalt gehört bei Shakespeare die Tapferkeit und die „magnanimitas", die Furchtlosigkeit vor dem Tode 87 , die die besonderen Tugenden des Soldaten sind 88 . Dieser Umstand erklärt auch, warum der Soldat Fortinbras der Nachfolger des Claudius auf dem Thron wird 88 . ) V , 2, 332—338. ) M a l o n e zitiert Sylvesters D u B a r t a s : „ A n d Death, d r a d Serjant of th'eternall Iudge." 8 5 ) Vgl. Oth. V , 2, 339 f f . Mc. V, 9, 26 f f . Ant. V , 2, 351 f f . 8 6 ) V, 2, 393—398. 87) V g l . die 4. Szene des 4. Aktes, H a m l e t s M o n o l o g beim V o r b e i z u g der T r u p p e n des jungen Fortinbras. 8 8 ) Vgl. E . M. WAITH, „ M a n h o o d and V a l o r in T w o Shakespearean T r a g e d i e s " in ELH 17 (1950), pp. 2 6 2 — 2 7 3 . S 9 ) Außer Fortinbras wird nur H a m l e t s Vater als „ S o l d a t " gekennzeichnet (vgl. I, 1, 80 f f . ) . Noch sein Geist erscheint in „warlike f o r m " . Hingegen tritt der U s u r p a t o r Claudius z w a r als Politiker, aber nicht als Soldat auf. 83 84
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N e b e n der Rachetat u n d den H i n w e i s e n auf H a m l e t s S o l d a t e n u n d K ö n i g t u m stehen noch H o r a t i o s A b s c h i e d s w o r t e a n den Freund: N o w cracks a noble heart. G o o d night 90 , sweet prince, A n d flights of angels sing thee to thy rest 91 ! W i r lernten i m Z u s a m m e n h a n g m i t O p h e l i a s Begräbnis den E n g e l als S y m b o l des eigentlichen Selbst kennen. S o deutet w o h l auch H o r a t i o s E r w ä h n u n g der Engel darauf, d a ß die Seligkeit v o n der H a m l e t selber spricht 92 , ein Z u s t a n d des Selbstseins ist.
Zusammenfassung D i e Frage nach d e m G r o t e s k e n i m H a m l e t ist auf d e m u m f a s s e n deren H i n t e r g r u n d der P r o b l e m a t i k v o n Sein u n d Nichtsein, v o n der in H a m l e t s M o n o l o g i m 3. A k t die R e d e ist, z u sehen. Es geht u m die für den christlichen N e u p l a t o n i s m u s der Renaissance zentrale Frage, w i e der einzelne zur E r f ü l l u n g seines idealen Wesens k o m m t . D a b e i w i r d solche Selbstverwirklichung g a n z i m Sinne des N e u p l a t o n i s m u s als P r o z e ß z u n e h m e n d e r Selbst- u n d W e l t e r k e n n t n i s gesehen, der i m gleichen M a ß e auch schöpferische T a t ist. D a s M o d e l l , an d e m dieses A n l i e g e n b e i s p i e l h a f t v o r g e f ü h r t w i r d , ist i m Falle des Hamlet
die D u r c h f ü h r u n g des Racheauftrages. D a b e i
ist die A u s f ü h r u n g des A u f t r a g e s i m tragischen U n t e r g a n g identisch m i t der S e l b s t w e r d u n g des tragischen H e l d e n . D e r S e l b s t w e r d u n g i m 90 ) Horatios Gute-Nacht-Gruß weist auf den Topos vom Tod als Schlaf, der in Hamlets großem Monolog III, 1 als Sein gegenüber dem Todestraum als Nichtsein gekennzeichnet wird. Interessant ist, daß sich Ophelia im Wahnsinn ähnlich verabschiedet: „Good night, ladies, good night. Sweet ladies, good night, good night." (IV, 5, 71—72). Vgl. weiter Lr. V, 3, 235. 91 ) V, 2, 357—358. 92 ) V, 2, 345. Mit aller Entschiedenheit möchte ich der neuerdings von VYVYAN, The Shakespearean Ethic, London 1959, vorgetragenen Deutung entgegentreten, die den Hamlet ausschließlich als „death-play" (p. 55) sieht. Das Buch verdient Anerkennung namentlich, was die Herausarbeitung der „allegorischen" Elemente anbetrifft. Um so erstaunlicher aber ist die Einseitigkeit, mit der Vyvyan dabei verfährt und erklärt: „Critics who think they see signs of regeneration in the course of Hamlet are ignoring the symbolical indications that Shakespeare gives. Hamlet is a study in degeneration from first to last, and that is the tragedy" (p. 55). Alle Hinweise, die auf eine positive Entwicklung verweisen, namentlich das „taint not thy mind" (I, 5, 85), die erneute Anerkennung der Vorsehung zum Schluß, die Vollbringung der Tat, die Topoi, ignoriert Vyvyan oder deutet sie im Sinne seiner Interpretation um. In Wirklichkeit enthüllt sich das tragische Geschehen, die Verstrickung in zunehmendem Maße auch als Selbstwerdung, gehört der Hamlet zu den „death-plays", die gleichzeitig auch „birth-plays" sind.
107
U n t e r g a n g entspricht alles vorherige Geschehen als V e r f r e m d u n g s zustand, der durch die U s u r p a t i o n und den B r u d e r m o r d des C l a u d i u s ausgelöst wird. D i e Welt erscheint als letztlich unwirklich, d a s Geschehen in ihr als Traumgeschehen, als Wirken auch eines blinden Schicksals, dem die Menschen w i e P u p p e n ausgeliefert sind. D e m wesentlich unwirklichen C h a r a k t e r dieses V e r f r e m d u n g s z u s t a n d e s entspricht bis zu einem gewissen G r a d auch eine Dämonisierung. Nicht alle solche V e r f r e m d u n g ist grotesk. V o n G r o t e s k e muß aber gesprochen werden in all den Fällen, in denen die Unwirklichkeit ins Dämonische umschlägt, in denen sie zur unheimlichen Bedrohung des Menschen wird. D i e dramatische H a n d l u n g im Hamlet setzt ein mit der Erscheinung des Geistes, der — wie wir in der Voruntersuchung sahen — als R e quisit die Disposition z u m Grotesken mitbringt. E r ist als „ u n w i r k liche" Erscheinung gleichzeitig eine bedrohliche Realität, wenn wir an H a m l e t s wahnsinnsähnlichen Z u s t a n d denken. Beides, der Geist und H a m l e t s Wahnsinn als sein K o r r e l a t , enthüllen d a m i t die Einbildung, deren O b j e k t - und S u b j e k t a s p e k t sie bei der Entstehung des K u n s t werks symbolisieren, als eine letztlich groteske R e a l i t ä t a n a l o g auch zu der Allegorie in der I n d u k t i o n von Peeles OWT (vgl. S. 21). Wichtig, v o r allem im Hinblick auf sein nochmaliges Erscheinen in der 4. Szene des 3. A k t e s ist aber, d a ß der Geist auf dieser S t u f e des D r a m a s B i l d einer Wahr-nehmung in der ersten Bedeutung des Wortes ist. G e r a d e d a s rechtfertigt H a m l e t s spätere Bedenken ihm gegenüber als einer möglichen dämonischen Einflüsterung. I m F a l l e der verschiedenen Szenen, in denen H a m l e t den A n t i c spielt und in denen dem Grotesken eine mehr oder weniger große Bedeutung z u k o m m t , gilt es ebenfalls festzuhalten, daß das Agieren der „antic disposition" vor aller rationalen Erkenntnis liegt, und d a ß es, entsprechend der oben erwähnten K o p p e l u n g von Vernunfterkenntnis und t a t k r ä f t i g e m H a n d e l n , nicht H a n d e l n , sondern bloße Schauspielerei ist. D i e „antic disposition" läßt sich im Anschluß an den A u f t r i t t der Schauspieler in der 2. Szene des 2. A k t e s global kennzeichnen als Wahnsinnsverfremdung des schlechten Schauspielers, der sich mit seiner Rolle identifiziert, der wie der N a r r zur V e r k ö r p e r u n g , z u m bloßen Sprachrohr und Werkzeug seiner Einbildungen wird. Andererseits stellten wir im Z u s a m m e n h a n g mit dem M o t i v des N a r r e n t u m s fest, daß in eben den Einbildungen des N a r r e n auch seine Weisheit begründet ist, wie sie sich in seiner Satire äußert. D i e s e ist 108
als Verzerrung Abbild einer unidealen Realität, die im Sinne des Piatonismus wesentlich unwirklich ist. Die Rolle des Antic braucht nicht notwendig grotesk zu sein, wie namentlich die Satire der „fishmonger scene" erweist. Sie wird es aber überall, wo sie dämonische Züge annimmt, wo sie wie in der „closet scene" oder in der „nunnery scene" eine lächerlich unheimliche Unwirklichkeit spiegelt, die im Wahnsinn gleichzeitig als bedrohliche Realität erscheint. Gegenüber den verschiedenen Szenen der „antic disposition" bringt das Spiel im Spiel den Umschwung in der dramatischen Handlung. Hamlets Rolle des Zuschauers bedeutet zum ersten Mal die Überwindung des Einbildungszustandes. Sie bringt als schöpferische Erkenntnistat in der geglückten künstlerischen Darstellung die Entlarvung des Mörders Claudius. Claudius erscheint bei dem Zusammenfallen seiner Zuschauerrolle mit der des Schauspielers als N a r r in der Maske des Königs, als lächerlicher „king of shreds and patches". Dabei fehlen hier keineswegs unheimliche Obertöne, wenn wir an seine Rolle des Mörders denken. Er wird namentlich auch im Hinblick auf die Ereignisse der Schlußkatastrophe zum Werkzeug des Antic-Tod verfremdet. Einen erneuten Rückfall Hamlets auf die Ebene der Einbildung bedeutet der Mord an Polonius als „Rattenmord". Hamlet wird in der fiktiven Rolle des Rattenmörders zur Verkörperung des Mörders. Gerade die Schauspielerrolle ist die Einbruchstelle für das Groteske in die Welt des Menschlichen. Demgegenüber kann die nochmalige Erscheinung des Geistes nicht als eigentlich grotesk gelten. Denn das, was Gertrud als groteske Wahnsinnsverfremdung an Hamlet erlebt, erkennt der Zuschauer mit Hamlet als zwar unheimliche, aber nicht dämonische, d. h., absurd bedrohliche Realität des Geistes. — Der Fortgang der dramatischen Handlung wird bestimmt von einem zunehmenden Prozeß der Wirklichkeitserkenntnis Hamlets, wie er sich in seiner Anerkennung einer göttlichen Vorsehung und seiner Haltung der Bereitschaft den „unsichtbaren Ereignissen" der Zukunft gegenüber spiegelt. Nicht ausgeschlossen sind dadurch gelegentliche Rückfälle Hamlets auf die Ebene der Einbildungen, etwa seine Visionen in der Totengräberszene und der Streit mit Laertes im Grabe Ophelias, in denen vereinzelt auch wieder Groteskes auftritt. Im übrigen entspricht der zunehmenden Wirklichkeitserkenntnis bei Hamlet eine zunehmende Wesensverfremdung bei Claudius und 109
Laertes. Beides, die Wesenserkenntnis und die Wesensverfremdung, trifft sich in Ophelias Wahnsinn. Auf der einen Seite enthüllt ihr Wahnsinn den Verfremdungscharakter und das passiv-selbstmörderische Moment am Tun von Hamlets Gegnern. Auf der anderen Seite aber weist das prophetische Element ihres Wahnsinns ebenso wie ihr Freitod als Tat der Selbstwerdung voraus auf Hamlets Todestat. Diese erscheint als Uberwindung der Verfremdung, als Selbstwerdung im tragischen Untergang.
B. O t h e l l o Jago als V e r k ö r p e r u n g
des
Vice
Immer wieder ist in der Shakespeare-Forschung vereinzelt auf groteske Elemente bei Shakespeare hingewiesen worden, wenn es auch unseres Wissens außer einem Aufsatz von Wilson Knight über das Groteske im Lear1 keine eingehendere Untersuchung über das Problem gibt. Was die Tragödien anbetrifft, wird im Ernst kaum jemand bestreiten, daß es in Hamlet, Lear und Macbeth, vor allem aber in Timon von Athen und Titus Andronicus groteske Elemente gibt. D a ß aber auch im Othello, der „klassischsten" Shakespeare-Tragödie, das Groteske eine bedeutende Rolle spielen soll, dürfte einigermaßen überraschen. Das hängt nicht zuletzt mit dem landläufigen Vorurteil zusammen, daß das Groteske mit dem Wesen der Tragödie, ja, der Kunst überhaupt unvereinbar sei. Entsprechend sind zur Erklärung von grotesken Elementen bei Shakespeare oft genug alle möglichen ästhetischen, moralischen und psychologischen Kategorien herangezogen worden, die sich aber bei einer genaueren Uberprüfung als unzulänglich erweisen. Ein gutes Beispiel ist die Deutung von Jagos Charakter, der eine ausgesprochene crux der Othello-Forschung war, bis Spivack das Problem auf eine neue Grundlage gestellt hat 2 . Spivack teilt die bisherige Jago-Kritik in die beiden großen Richtungen der „subjektiven" und der „wörtlichen" Interpretation ein. Die Anhänger der wörtlichen Interpretation nehmen sämtliche Äußerungen und Handlungen Jagos für bare Münze und versuchen mit mehr oder weniger Glück, die Vielfalt der Beobachtungen zu ' ) G E O R G E W I L S O N K N I G H T , „King Lear and the Comedy of the Grotesque", in: WF (University Paperbacks), London 1960, pp. 160—176. 2 ) B E R N H A R D SPIVACK, Shakespeare and the Allegory of Evil, New York 1 9 5 8 .
110
einem einheitlichen psychologistischen Charakterbild zusammenzubringen. Trotz vieler Anstrengungen bleibt das Ergebnis unbefriedigend. Alle Versuche, Jago als Schurken aus verletztem Ehrgeiz, aus Eifersucht oder schlechthin aus H a ß hinzustellen, sind Vereinfachungen, die einzelne Züge auf Kosten anderer in den Vordergrund schieben. Wo aber eine solche Vereinfachung nicht geschieht, bleibt als Bild von Jagos Charakter ein disparates Konglomerat von psychologisch kaum vereinbaren Einzelzügen. Hatten die Vertreter der wörtlichen Interpretation jede Selbstaussage und jede Handlung Jagos auf die Goldwaagschale gelegt, so sehen die Verteidiger der subjektiven Interpretation, allen voran Coleridge und Bradley, darin nichts als den Ausdruck von Jagos Unkenntnis seiner eigentlichen Natur und der Suche nach seinem Wesen und den Gründen für sein Verhalten („motive-hunting"). Spivack verwirft diese These — unserer Ansicht nach zu Recht — weil sie eine völlige Mißachtung elisabethanischer Theaterpraktiken darstellt: namentlich stellt sie die traditionelle Funktion des Monologs als Mittel, das Publikum mit dem Wesen und den Beweggründen des Handelns der Schauspieler bekanntzumachen, völlig auf den Kopf. Gegenüber den rein psychologistischen Charakterdeutungen der beiden genannten Richtungen zieht Spivack den Ursprung des elisabethanischen „villain" aus dem Vice der früheren Allegorien für seine Deutung heran. Er leugnet keineswegs, daß Jago menschliche Charakterzüge aufweist, aber dies ist gewissermaßen nur ein äußerer Anstrich. Hinter dem „menschlichen" Jago wird eine andere Gestalt sichtbar, die nicht menschliche, sondern allegorische Züge trägt. The conventional incentives are not convincing because, among other reasons, they are superfluous. Beneath them and showing through them, like a dark ground lightly painted over, is the dominant Iago, and he is there with all the impulsion his archaic nature needs for his multiple aggression. The connection between the credulous virtue of his victims and his own self-proclaimed, ebullient villainy; his voluntary association with hell and his zest for „double knavery"; the vague dynamic of the „hate" that seems to propel him; his provocation in Cassio's „daily beauty" — they are all an archaeological stratum beneath the familiar motives of human life that time and changing dramatic convention sifted upon the primary configuration of Iago 3 .
Spivack zeigt, wie das Vice von seinen Ursprüngen her aus der Psychomachie des Prudentius und der allegorischen Predigtliteratur 3)
a.a.O. S. 23.
111
auch als dramatische Figur zunächst rein allegorischen Charakter trägt: His name and his role retain their subjective meaning as personification of a property in the nature of human beings who are his victims 4 .
Im Zuge der naturalistischen Strömung in der zweiten H ä l f t e des 16. Jahrhunderts, die die allegorische Dichtung weitgehend verdrängt, wandelt sich auch das Vice: „Assimilation is the keynote of the Vice's history from this time forth" 5 . Am Ende der Entwicklung steht die Figur des elisabethanischen „villain". The evolution of the Vice toward literalness has carried him to the point where he emerges as that familiar figure of the Elizabethan stage who joyfully proclaims his own villainy and baffles our modern scrutiny 6 .
Mit dieser Entwicklung des Vice hängt es zusammen, wenn es zu einer ausgesprochen hybriden Figur wird, in der neben menschlichen Zügen allegorische Merkmale stehen. Für unser Thema des Grotesken ist nun interessant, daß Spivack diesen hybriden Charakter mit dem Grotesken gleichsetzt: Each of these figures (Aaron, Barabas, H o f f m a n , Eleazar) is more or less grotesque because he is more or less hybrid — one part of him drawn in naturalistic perspective as a criminal member of the human race, the other in the outright homiletic bravury of moral allegory 7 .
Der hybrid-groteske Charakter der „familiy of Iago" läuft auf eine Verdunklung des ursprünglich allegorischen Sinnes des Vice hinaus. Die Sinngebung erfolgt nicht mehr aus einer dahinterstehenden Idee, sondern rein vordergründig aus den Erscheinungsweisen der agierenden Person. Das deckt sich mit der weiter oben entwickelten Definition des Grotesken als „Verdunklung der Idee". Bevor wir zu den Einzelanalysen übergehen, muß aber noch ein weiterer Punkt geklärt werden. Spivack hat bei seiner Aufzählung der hybriden Groteskfiguren Shakespeares Jago nicht erwähnt. N u n liegt bei dem Rangunterschied, der zweifelsohne Titus Andronicus etwa von Othello trennt, der Schluß nahe, daß mit dem Adjektiv „hybrid" bereits ein Werturteil impliziert ist. M. a. W. es könnte leicht der Eindruck entstehen, daß die von Spivack erwähnten Figuren gewissermaßen gegen den Willen ihrer Autoren zu Groteskfiguren geworden sind, einfach weil diese 4 ) a.a.O. S. 283. ») ibid. 298.
5
) ¡bid. 297. ') ibid. 357 f.
112
sich der Zeitentwicklung nicht entziehen konnten, die dahinging, aus der allegorischen Figur des Vice ein menschliches Wesen zu machen. Eine solche Deutung verkennt das bewußte Künstlertum elisabethanischer Dichter, namentlich Shakespeares. Gewiß war das Vorhandensein eines Materials, das hybride Züge trug, der Gestaltung von Groteskem förderlich. Aber wenn Shakespeare auch einem Jago etwa die Züge einer hybriden Figur gegeben hat, geschah das nicht aus Unvermögen oder weil er es nicht anders konnte, sondern weil er Jago als Groteskcharakter konzipierte. Wenn das Groteske aber als ästhetische Kategorie nicht nur in einem künstlerisch weniger befriedigenden Frühwerk wie etwa Titus Andronicus, sondern ebenso in den großen Meisterwerken erscheint, so ist das Vorurteil nicht länger aufrechtzuerhalten, das das Groteske eo ipso als unkünstlerisch oder weniger künstlerisch ansieht. Zum Charakter Jagos hat die Forschung bereits immer darauf hingewiesen, daß sein Verhalten nicht von sich gleichbleibenden Idealen, sondern von den Zufällen des Augenblicks her bestimmt wird. Das Fehlen von festen — im herkömmlichen Sinn positiven — Idealen besagt aber nicht, daß sich nicht gewisse Richtlinien, nach denen sein Tun ausgerichtet ist, feststellen lassen. Das führt zu Jagos Weltbild, wie es sich aus seinen Äußerungen und seinem Verhalten erschließen läßt. Grundlegend für Jagos Weltbild ist seine „Definition" der Wirklichkeit. Auf Cassios Klage nach seiner Entlassung aus Othellos Dienst: Reputation, reputation, I ha' lost my reputation! I ha' lost the immortal part, sir, of myself, and what remains is bestial 8 ;
gibt Jago zur Antwort: You have lost no reputation at all, unless you repute yourself such a loser 9 .
Diese Worte sind mehrdeutig. Von Cassios besonderer Situation her gesehen, scheinen Jagos Worte als „Trost" durchaus vernünftig. Dahinter aber verbirgt sich eine radikale Negierung jeder transzendentalen Wirklichkeit. Wirklichkeit ist nur, was das Individuum als wirklich setzt, m. a. W. wir stoßen hier auf den „phantastischen" Charakter von Jagos Wirklichkeit. Es ist deshalb auch nicht weiter verwunderlich, daß für Jago zwischen Einbildung und Wirklichkeit 8 ) II, 3, 254 ff. Zum Problem der Selbsterkenntnis vgl. unten SS. 124—125. ») II, 3, 262—263.
8 Lengeier, Tragisdie Wirklichkeit
keine feste Grenze gezogen ist. Jago weiß beispielsweise genau, daß der Verdacht, von Othello mit seiner Frau betrogen worden zu sein, bloße Vermutung ist. Dennoch verhält er sich ausdrücklich so, als ob diese Vermutung eine vollendete Tatsache sei: Yet I, for mere suspicion in that kind, Will do, as if for surety 10 .
Oder, um ein anderes Beispiel anzuführen, als Cassio die Hand Desdemonas bei deren Ankunft in Zypern küßt, kommentiert Jago: . . . yet again, your fingers at your lips? would they were clyster-pipes for your sake . .
Wenig später Roderigo gegenüber ist aus dem Wunsch bereits eine Tatsache geworden: Lechery, by this hand: an index and prologue to the history of lust and foul thoughts: they met so near with their lips, that their breaths embrae'd together 12 .
Wenn man Jagos Reden und Handeln als Lügen und Verleumdungen abtut, macht man sich die Sache zu einfach. Viel wichtiger ist die Feststellung, daß für ihn Einbildung und Wirklichkeit ineinander übergehen. Wir zitieren als ein letztes Beispiel II, 3, 58, wo er seinen Plan, alle zu verderben, selber als bloßen Traum bezeichnet, der aber nur von Erfolg gekrönt zu werden brauche, um wirklich zu werden. Damit wird für die Wirklichkeit der Welt Jagos der Zufall ein bestimmender Faktor. Und in der Tat hat die Shakespeare-Forschung bereits des öfteren darauf verwiesen, wie sehr doch der Zufall Jago in die Hand spiele. Man denke nur etwa an die Szene, in der Desdemona ihr Tuch verliert, just in dem Augenblick, wo Emilia vorbeikommt. Die Schlußkatastrophe ist nicht ausschließlich das Werk Jagos; der Zufall hat durchaus seinen Anteil daran. Was nun Jagos Pläne anbetrifft, so laufen sie in ihrer Vielfältigkeit doch alle auf das gleiche Schema hinaus: sie haben samt und sonders zum Ziel, bloße Möglichkeiten an die Stelle der Wirklichkeit zu setzen. Wir wollen gleich hinzufügen, daß mit „Wirklichkeit" eine Ideal Wirklichkeit gemeint ist im Sinne des Neuplatonismus. Eine ebensolche Usurpierung der Wirklichkeit durch bloße Möglichkeiten liegt auch Jagos pessimistischem Menschenbild zugrunde. Die Nachricht von Desdemonas Verschwinden aus dem Hause ihres Vaters überbringt Jago mit den Worten: 10
) I, 3, 387—8.
" ) II, 1, 175.
114
12
) II, 1, 254 ff.
I am one, sir, that come to tell you, your daughter, and the Moor, are now making the beast with two backs".
Der gleiche verleumderische Zynismus zeigt sich etwa in Jagos antifeministischen Angriffen (II, 1, 109—166), die Desdemona auch prompt als „slander" bezeichnet, oder wenn er von Roderigo sagt: Thus do I ever make my fool my purse 1 4 .
Für J a g o ist ein Mensch nicht mehr als eine Geldbörse. Genau besehen, läuft die zunächst harmlos erscheinende Metapher darauf hinaus, daß Roderigo nur in seiner Identität mit der Geldbörse für J a g o existiert. Die Verfremdung eines Vertrauten, in unserem Falle eines menschlichen Wesens, nimmt hier bereits groteske Züge an. Sie beruht, wie wir feststellten, auf der Aufhebung der Grenze zwischen Einbildung und Wirklichkeit, die ihrerseits eine Folge der „Verdunklung der Idee" ist. U m die charakteristische Form des Grotesken, wie sie uns in der Gestalt Jagos entgegentritt, noch genauer in den Griff zu bekommen, empfiehlt es sich, etliche besonders markante Szenen zu analysieren. Wir wählen als erstes Beispiel Jagos Beantwortung der Frage Othellos, wer den Streit begann. I do not know, friends all but now, even now, In quarter, and in terms, like bride and groom, Devesting them to bed, and then but now, As if some planet had unwitted men, Swords out, and tilting one at other's breast, In opposition bloody 1 5 .
Diese Darstellung ist ein Glanzstück Shakespearescher Charakterisierungskunst. Es fällt sofort auf, daß der Satz keine finite Verbform als Prädikat enthält und daß es auch kein eigentlich handelndes Subjekt, noch überhaupt eine Tätigkeit im eigentlichen Sinne des Wortes gibt. J a g o stellt vielmehr einen Zustand des Friedens, die Eintracht einer Hochzeitsnacht, dar, die sich unversehens — wie durch einen Zauberspruch — in ihr Gegenteil verkehrt. Der Zustandscharakter wird durch anaphorisches „all but now", „even now", „and then but now", ebenso wie die Juxtaposition der rhythmischen und gedanklichen Einzelglieder, die dem Ganzen den Eindruck des Statischen verleiht, besonders herausgestellt. ) I, 1, 115—117. >4) I, 3, 381. Es'" (op. cit. p. 199).
")
I I , 2, 7.
>8) I I , 3 ,
163.
) Jagos Chimäre erweist sich als „monstrum" in der mittelalterlichen Bedeutung des Wortes, als Miß- oder Ausgeburt, die auf kommende Ereignisse hin>9
weist.
20
) I I , 3, 208.
21
116
) I I , 3, 2 1 1 — 2 1 5 .
Seinen eigentlichen Bericht leitet Jago mit den Worten ein: „Thus is is, general", in dem das gnomische Präsens den Anspruch auf zeitlose Gültigkeit stellt. Montano and myself being in speech, There comes a fellow, crying out for help, And Cassio following him with determin'd sword, To execute upon him: sir, this gentleman Steps in to Cassio, and entreats his pause; Myself the crying fellow did pursue, Lest by his clamour (as it so fell out) The town might fall in fright: he, swift of foot, Outran my purpose: and I return'd the rather, For that I heard the clink and fall of swords; And Cassio high in oaths, which till to-night I ne'er might see before: when I came back (For this was brief) I found them close together, At blow and thrust, even as again they were, When you yourself did part them 22 .
Das Präsens historicum, in dem Jago seinen Bericht beginnt, verweist auf eine stärker subjektive Färbung der Erzählung, die den Zuhörer die Ereignisse aus der Perspektive der Teilnehmer miterleben läßt. Erstaunlicherweise aber wechselt Jago in dem Augenblick, wo er auf seine eigene Rolle in dem Streit zu sprechen kommt, in die Distanz des Imperfekts über. Offensichtlich ist ihm daran gelegen, gerade in diesem Punkt den Eindruck größtmöglicher Objektivität zu erwecken. Gerade dieses Bestreben führt aber gleichzeitig zu stärkerer Subjektivität, denn nun schiebt er laufend seine persönlichen Gedanken ein: „lest by his clamour . . .", „he, swift of foot", „for that I heard . . .", „for this was brief . . .". Alle diese Bemühungen in Richtung auf eine stärkere Objektivierung können nicht darüber wegsehen lassen, daß im Grunde das Gegenteil geschieht, Jago gibt eine subjektive Entstellung der Tatsachen. M. R. Ridley sagt in seinen Anmerkungen zur Arden-Ausgabe: „Iago's account . . . presents a Cassio more bloodthirsty and farther from his victim than the Cassio we have seen run across the stage beating Roderigo" 23 . Eine flagrante Lüge stellt der Satz dar, „And Cassio high in oaths, which till to-night / I ne'er might see before:", wenn wir uns daran erinnern, daß er noch vor kurzem Montano auf dessen Frage, ob Cassio oft betrunken sei, antwortete: 22
) II, 3, 216—230. " ) Op. cit. p. 80, 218.
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'Tis evermore the prologue to his sleep: He'll watch the horologe a double set, If drink rock not his cradle 2 4 .
Damit stoßen wir auch hier wieder auf die Perversion als das eigentliche Kennzeichen von Jagos Schilderung des Streites: Jagos Worte sind genau das Gegenteil von dem, was sie vorgeben zu sein. D a s Wesen von Jagos Sprache ist ihre Mehrdeutigkeit, das „like the formal vice, Iniquity, I moralize two meanings in one word" 2 5 . Denn alle angewandten Mittel sprachlicher Objektivierung, das gnomische Präsens, das historische Imperfekt, die Kausalsätze . . ., laufen gleichzeitig auf eine radikale Subjektivierung hinaus. Dieser Befund steht andererseits aber durchaus im Einklang mit Jagos Weltbild, wenn wir uns daran erinnern, daß für ihn die objektive Wirklichkeit mit der subjektiven Deutung identisch ist. Nach der eigentlichen Schilderung fühlt J a g o sich noch einmal veranlaßt, Cassios Verhalten zu entschuldigen: More of this matter can I not report, But men are men, the best sometimes forget; Though Cassio did some little wrong to him, As men in rage strike those that wish them best, Yet surely Cassio, I believe, receiv'd, From him that fled, some strange indignity, Which patience could not pass 2 6 .
Noch stärker als zu Beginn ist hier die Entschuldigung gleichzeitig eine Anklage. Cassios Schuld wird bereits offen ausgesprochen: „though Cassio did some little wrong to him". Interessant ist die Alternierung von allgemeingültigen Beobachtungen mit der konkreten Anklage, die durch den abwechselnden Gebrauch des gnomischen Präsens mit dem historischen Imperfekt unterstrichen wird. Alle Argumente und alle sprachlichen Mittel, die J a g o zu Cassios Verteidigung ins Feld führt, werden bei der gleichermaßen eingestandenen Schuld zu weiteren Bestätigungen dieser Schuld. So versteht Othello sie auch und entläßt Cassio aus seinem Dienst. Hier ist nun der Punkt erreicht, an dem Jagos Entstellung der Tatsachen aufhört, komisch zu wirken, denn in dem Einfluß auf Othello enthüllt sich solch lächerliche Fiktion gleichzeitig als objektiv wirkende Realität. Spätestens an dieser Stelle beginnt J a g o dem Zuschauer oder Leser unheimlich zu werden. In dem ) II, 3, 122—124. ) Rieb. 3 I I I , 1, 82—83. 2 «) II, 3, 231—237. 21
25
118
Maße, wie Jagos Ehrlichkeit als sein eigentliches Wesen erscheint, ist sie eine Realität, allerdings eine überpersönlich-dämonische Realität, deren zerstörerischer Wirksamkeit als erstes die Freundschaft Othellos zu Cassio zum Opfer fällt. Sie ist überpersönlich-dämonisch, weil Jago weniger die Ursache als die Manifestation ihrer Wirksamkeit ist und weil ihr Wirken keineswegs auf die Person Jagos beschränkt bleibt, wie die Weiterentwicklung der Tragödie zeigt. Gewissermaßen durch die Einflüsterungen Jagos hindurch erscheint das Geschehen im Othello in zunehmendem Maße nicht als bewußtverantwortetes menschliches Handeln, sondern als irrationales Wirken eines überpersönlich-dämonischen Es oder Fatums, dessen Werkzeuge und Opfer die Personen sind. Im Grade der Abweichung von der Definition des Menschen als eines freien Vernunftswesens werden auch die normalen Kategorien der Moral und der Psychologie irrelevant. An ihre Stelle tritt die magische Verfremdung des Grotesken. Jagos Darstellung des Streites führt auf die Vieldeutigkeit einer phantastischen Wirklichkeit zurück, in der Wirklichkeit und Einbildung gleich real oder auch gleich unreal sind. Solche unnatürliche Identität von Gegensätzen setzt Jago selber in seinem Monolog II, 3, 339 ff. in Bezug zum Teuflischen. H o w am I then a villain, To counsel Cassio to this parallel course, D i r e c t l y to his good? D i v i n i t y of hell! W h e n devils will their blackest sins put on, They do suggest at first w i t h h e a v e n l y shows, A s I do n o w : f o r w h i l e this honest f o o l Plies Desdemona to repair his fortunes, A n d she f o r him pleads strongly to the M o o r , I'll pour this pestilence into his ear, That she repeals him f o r her body's lust; A n d by h o w much she strives to do him good, She shall undo her credit w i t h the M o o r ; So w i l l I turn her v i r t u e into pitch, A n d out of her o w n goodness make the net That shall enmesh 'em all 2 7 .
In diesem an das Publikum gerichteten Monolog wird ausdrücklich ausgesprochen, was sich sonst nur indirekt aus Jagos Reden und Tun erschließen läßt. Jagos „höllische Gotteslehre" ist wesentlich Perversion, bei der der Schein die Rolle des Seins usurpiert. Das Teuf27 )
II, 3, 339—353.
119
lische daran ist, daß der Rat, den J a g o Cassio gibt, tatsächlich „the course to win the Moor again" ist, der aber, durch das Gift, das er Othello gleichzeitig ins Ohr träufeln will, das Gegenteil bewirkt. Der Zaubertrank aber der „virtue into pitch" verkehrt, besteht darin, daß J a g o die Erfindung von Desdemonas Untreue Othello als wirklich hinstellt. Wie das im einzelnen geschieht, muß eine Analyse der Versuchungsszenen zeigen. Die
Versuchungsszenen
Cassio, der Desdemona um ihre Fürsprache bei Othello gebeten hat, entfernt sich beim Kommen Othellos und Jagos. Obschon Othello und J a g o Cassio noch erkannt haben, mimt J a g o den Unwissenden. Iago: Oth.: Iago: Oth.: Iago:
H a , I like not that. What dost thou say? Nothing, my lord, or if — I know not what. Was not that Cassio parted from my wife? Cassio, my lord? . . . no sure, I cannot think it, That he would sneak a w a y so guilty-like, Seeing your coming 2 8 .
J a g o gibt vor, Cassio nicht erkannt zu haben, sondern nur das schuldbewußte Benehmen des Unbekannten, das er mißbilligt. Aus Othellos neutralem „ p a r t " wird in seiner Darstellung das „sneak away so guilty-like". Othellos Frage, ob das nicht Cassio gewesen sei, der sich eben entfernt habe, begegnet J a g o mit der erstaunten Wiederholung: „Cassio, my lord?". Nein, das hält er für ausgeschlossen, daß sich Cassio beim Kommen Othellos wie ein Schuldiger wegschleicht. Mit dem janusköpfigen 2 9 „ I cannot think it" leugnet er gleichzeitig Cassios Gegenwart und setzt er das schuldhafte Wegschleichen des angeblich Unbekannten. Die zwiespältige N a t u r der von J a g o willkürlich gesetzten Realitäten kommt in dem Ausdruck gut zur Geltung: nicht nur tritt das Denken („think") an die Stelle des Seins, sondern die Setzung der „Wirklichkeit" erfolgt paradoxalerweise negativ als „cannot think". Diese Art der Setzung von Wirklichkeit als Verneinung oder auch als in-Frage-stellen ist charakteristisch für Jagos Vorgehen in der Versuchungsszene. Wir verweisen im vorliegenden Zitat auf das „ I like not that", „ I know not what", „Cassio, my lord?" und „ I cannot think it". Jagos „Wirklichkeit" ist wirklich und ) I I I , 3, 35—41. ") Vgl. I, 2, 33.
2a 2
120
unwirklich in einem, wie be2eichnenderweise das „that" in Z. 35 zum „nothing" von 2 . 37 verkehrt wird, um gleich darauf wieder zum „I know not what" zu werden. Diese Wortspiele um das „nothing", das doch ein Etwas meint, finden sich auch sonst bei Shakespeare, charakteristischerweise häufig im Zusammenhang mit dem ChaosMotiv 30 . Letztlich verbirgt sich dahinter die neuplatonische Vorstellung vom ungefähren Nichts der Urmaterie gegenüber dem Nichts des Bösen. Diese Unterscheidung, die Augustinus ebenso wie Ficino rigoros aufrechterhalten, fiel meist bei den kleineren Geistern: die Urmaterie wird mit dem Bösen gleichgesetzt31. So kommen Othellos ominöse Worte nach der ersten Intervention Desdemonas keineswegs unvorbereitet, die das Thema der Tragödie in seiner ganzen Spannweite anklingen lassen: Excellent wretch, perdition catch my soul, But I do love thee, and when I love thee not, Chaos is come again 32 .
Letztlich geht es in Shakespeares Othello um den Widerstreit von Liebe und H a ß als kosmischen Mächten. An dem Sieg der Liebe hängt das Fortbestehen der Welt, die sonst in den Zustand des Urchaos zurücksinken würde 33 . Die Tatsache, daß Othello die Worte an dieser Stelle spricht, weist auf eine Erschütterung eines vorher selbstverständlichen Weltbildes. Es stimmt, daß Othello von der Nicht-Liebe nur als einer Hypothese spricht. Auf der anderen Seite aber steht sie als Möglichkeit gleichberechtigt neben der Liebe, die ihrerseits gewissermaßen von der Ebene der alleinigen Wirklichkeit auf die Ebene einer bloßen Möglichkeit herabgesunken ist. Es liegt nahe, diese Entwicklung im Zusammenhang mit Jagos erstem Angriff zu sehen34. 30
) Rom. I, 1, 174—5: „Why then, O brawling love! O loving hate! O anything, of nothing first create!" Merch. 111,2, 181—2: „Where every something being blent together, Turns to a wild of nothing, . . ." Rich. 2. II, 16 ff.: „For sorrow's eye, glazed with blinding tears, Divides one thing entire to many objects, Like perspectives, which, rightly gaz'd upon, Show nothing but confusion; ey'd awry, Distinguish form." II, 2, 36: „For nothing hath begot my something grief." Vgl. weiter Hm IV, 2, 27—9; Oth. II, 3, 280; Lr. I, 1, 90; I, 4, 134—9; Mc. I, 3, 142. 31
) V g l . L . MILES, o p . cit. p . 4 1 & 4 9
f.
32
33 ) I I I , 3 , 91—93 . ) Vgl. oben S. 40. 34 ) Ridleys Meinung (New Arden Ed., p. 95): „Iago's first ranging shot misfires altogether because of Desdemona's directness", ignoriert Othellos Weige-
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Nach dem Weggang Desdemonas bringt Jago das Gespräch auf Othellos Brautwerbung. Er erfährt dabei auf seine Frage hin, daß Cassio der Vertraute Othellos bei dieser Werbung war: Iago: I did not think he had been acquainted with her. Oth.: O yes, and went between us very often. Iago: Indeed? 35 .
Jagos „indeed" läßt Othello aufhorchen. Es zeigt sich, daß seine Worte, hinter denen sich weiter nichts zu verbergen schien, doch auf ein Etwas verweisen, nach dem Othello auch prompt fragt: Oth.: Indeed? Indeed: discern'st thou aught in that? Is he not honest? Iago: Honest, my lord? Oth.: Honest? ay, honest. Iago: My lord, for aught I know. Oth.: What dost thou think? Iago: Think, my lord? 36 .
Othello ist auf dieses Etwas, das unausgesprochen hinter Jagos Worten geistert, aufmerksam geworden. Er spricht als Vermutung den Gedanken von Cassios möglicher Unehrlichkeit aus. Jago antwortet auf Othellos Frage seinerseits mit einer Frage. Aber es ist dies mehr als eine bloße Frage, sondern ein Zwitter, der auf eine unausgesprochene Realität-Irrealität verweist, indem er in Frage stellt. Das Besondere von Jagos Reden erhellt aus ihrem zwiespältigen Charakter, gleichzeitig Frage und Antwort, Nichts und Etwas zu sein. Gerade darin aber sind sie monströs: Oth.: By heaven, he echoes me, As if there were some monster in his thought, Too hideous to be shown: thou didst mean something 37 .
Was hier als namenlose Fiktion-Wirklichkeit zwischen den Zeilen geistert, läßt sich nicht besser als mit Jagos früheren Worten kennzeichnen: „'tis here, but yet confus'd; Knavery's plain face is never seen, till us'd" 38 . Dabei macht der Ausdruck „confus'd" den Bezug des Bösen zum Chaos-Motiv nachdrücklich deutlich. Othellos letzte Worte geben nun einen ersten genaueren Hinweis auf die Natur des namenrung, Cassio sofort zu begnadigen. D a ß dieser erste Angriff nicht spurlos an Othello vorbeigegangen ist, zeigen seine eigenen Worte in III, 3, 113—4: „I heard thee say but now, thou lik'st not that, When Cassio left my wife: what didst not like?" M 36 ) I I I , 3, 100—102. ) III, 3, 103—109. 38 " ) I I I , 3, 110—112. ) II, 1, 306—307.
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losen Etwas als eines scheußlichen Monstrums. Gleich darauf spricht er von „horrible conceit" 39 . In beiden Fällen ist auf eine unheimliche Realität angespielt, in der Erkennen und Sein noch zusammenfallen. Jagos Antwort: „Why then I think Cassio's an honest man" 40 , genügt Othello nicht, und sie kann ihm nicht genügen, da sie die Möglichkeit des Gegenteils durchaus offen läßt, so wie in der Sentenz: „Men should be that they seem"41, die Forderung impliziert, daß die Wirklichkeit anders aussieht. Othellos Wunsch, mehr zu erfahren, zeigt an dieser Stelle fast greifbar, wie Jagos „horrible conceit" von ihm selber Besitz ergreift. Das Zögern des „ehrlichen" Jago erschreckt Othello: Therefore these stops of thine fright me the more: For such things in a false disloyal knave Are tricks of custom; but in a man that's just, They are close denotements, working from the heart, That passion cannot rule 42 .
Othellos Blindheit Jago gegenüber führt dazu, daß dieser die Wahrheit über sich selber offen aussprechen kann ohne sich zu gefährden: Utter my thoughts? Why, say they are vile and false 43 .
Ja, selber die Maske des hypothetischen „say they are . . . " läßt Jago für einen Augenblick fallen, wenn er Othello davor warnt, aus seinen Vermutungen Schlüsse zu ziehen und dabei in einer Parenthese erklärt. j confess it is my nature's plague To spy into abuses, and oft my jealousy Shapes faults that are not) . . .44. Die gegenwärtige Situation, in der Jago Othello „egregiously" 45 zum Esel macht, entbehrt keineswegs einer absurden Komik, die ihren ersten Höhepunkt wenig später in Jagos „O, beware jealousy" erreicht. Jago, der diese Eifersucht in Othello geschürt hat, warnt ihn davor, genauer noch, die Benennung fällt mit der Geburt des Monstrums in Othello zusammen. O, beware jealousy; It is the green-ey'd monster, which doth mock That meat it feeds on 46 .
Die Eifersucht ist jene unheimliche Realität, deren Geburt Jago bereits 39
) I I I , 3, 119. ) I I I , 3, 1 2 4 — 1 2 8 . 4ä ) I I , 1, 3 0 4 .
42
40
) I I I , 3, 133. « ) I I I , 3, 140. " ) I I I , 3, 1 6 9 — 1 7 1 .
123
« ) I I I , 3, 130. « ) I I I , 3, 1 5 0 — 1 5 2 .
am Ende des ersten Aktes angekündigt hatte 47 und von der immer wieder in der „Versuchungsszene" zwischen den Zeilen die Rede war. Zum ersten Mal fiel das Wort „jealousy" in Z. 151, wo es aber nicht „Eifersucht" bedeutet, sondern eine überkritische Einstellung. Die Mehrdeutigkeit des Wortes bot Shakespeare Gelegenheit an ihm den chaotischen Abgrund zu illustrieren, aus dem die Laster, in diesem Falle das Scheusal Eifersucht, steigen. Der Geburt unmittelbar voraus geht eine Tirade Jagos über den guten Ruf, die den Bezug zum ChaosMotiv noch erhärtet und andererseits die Verbindung zwischen dem Eifersuchts-Thema und dem Motiv der „reputation" herstellt. G o o d name in man and woman's dear, m y lord; Is the immediate jewel of our souls: W h o steals m y purse, steals trash, 'tis something, nothing, 'Twas mine, 'tis his, and has been slave to thousands: But he that filches from me m y good name Robs me of that which not enriches him, A n d makes me poor indeed 4 8 .
Von den analysierten Stellen der Versuchungsszene her kennen wir die Thematik des Nichts, dem doch gleichzeitig eine unheimlich-monströse Realität zukommt — in Analogie zur chaotischen Urmaterie — die hier nun mit dem Thema des „good name" verknüpft wird. Die abrupte Gegenüberstellung, ja, das Zusammenfallen des „something" mit dem „nothing" im Falle der Geldbörse wird im vorliegenden Zitat zum Analogon, das die „kosmischen" Ausmaße von Jagos Verleumdung ahnen läßt. Die Wahl des Wortes „good name" in der vorliegenden Situation, an Stelle etwa der im Othello vorkommenden Synonyma, „reputation" 49 , „addition" 50 , „title" 51 , macht den engen Bezug zwischen Jagos Verleumdung und Othellos Eifersucht klar. Der Verruf, in den Jago Desdemona und Cassio bringt, heißt im Hinblick auf Othello Eifersucht. So wie der Diebstahl ihres guten Namens Desdemona und Cassio ihres besseren Selbst52 beraubt, sie zu ihren eigenen Schatten 58 werden läßt, im Falle Desdemonas letztlich sogar auf ihren leiblichen Tod hinausläuft, so bedeutet umgekehrt die Nennung der Eifersucht 47
) I, 3, 401—402: „Hell and night Must bring this monstrous birth to the world's light"! « ) III, 3, 159—165. « ) II, 3, 185; II, 3, 254—263. " ) III, 4, 192; IV, 1, 104; IV, 2, 165. » ) I, 2, 31. " ) Vgl. II, 3, 254—256: „I ha' lost my reputation! I ha' lost the immortal part, sir, of myself, and what remains is bestial." 53 ) Vgl. II, 3, 272—273: „and discourse fustian with one's own shadow?"
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durch Jago deren Geburt. Damit erreichen an dieser Stelle die Ereignisse im Othello eine magische Realitätsebene, in der der Name mit dem Sein identisch ist und andererseits die Freiheit des einzelnen von einem feindlichen Fatum bedroht wird. Jago erwähnt in seiner Warnung vor der Eifersucht das Gehörntwerden, dem der Hahnrei nicht entrinnen könne: That cuckold lives in bliss, W h o , certain of his fate, loves not his w r o n g e r " .
Wenig später hat Othello den Gedanken bereits als eigene Uberzeugung übernommen: yet 'tis the plague of great ones, Prerogativ'd are they less then the base, 'Tis destiny, unshunnable, like death: Even then this f o r k e d plague is f a t e d to us, W h e n w e do quicken 55 .
Othellos Obsession, gehörnt zu sein, wirkt nicht mehr nur komisch, wenn auch im Falle seiner Worte zu Desdemona: „I have a pain upon my forehead, here"56, die Komik noch überwiegen mag. Denn zunehmend häufen sich die Hinweise, die seine lächerlichen Fiktionen als dämonische Realitäten ausweisen. M y name, that was as fresh A s Dian's visage, is n o w begrim'd, and black A s mine o w n face 5 7 .
Wenn wir uns an Cassios Worte zurückerinnern: „I ha' lost my reputation! I ha' lost the immortal part, sir, of myself, and what remains is bestial" 58 , so erscheint ähnlich in Othellos Leidenschaft sein besseres Selbst bedroht, entspricht die Fiktion seines in Verruf gekommenen Namens einer Realität. Hinweise für eine Verwandlung ins Tierische, sind etwa das „exchange me for a goat" 59 und, deutlicher noch, das „I had rather be a toad, / And live upon the vapour in a dungeon . . ."60. Die Ironie eines solchen Wunsches wird klar, wenn man weiß, daß die Kröte ebenso wie die Ziege traditionelles Emblem für Unkeuschheit ist61. Zweifellos der nachdrücklichste Hinweis auf die zunehmende Selbstverfremdung in Othello ist aber sein Abschied vom Kriegswesen: ») ") 60 ) cl)
III, 3, 171—172. ") III, 3, 277—281. ") III, 3, 288. 58 ) II, 3, 254—256. 6°) III, 3, 184. III, 3, 392—394. III, 3, 274—5. Vgl. IV, 2, 62—63. Vgl. HERBERT SCHADE, Dämonen und Monstren, Regensburg 1962, p. 151.
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I had been happy if the general camp, Pioners, and all, had tasted her sweet body, So I had nothing known: O now for ever Farewell the tranquil mind, farewell content: Farewell the plumed troop, and the big wars, That makes ambition virtue: O farewell, Farewell the neighing steed, and the shrill trump, The spirit-stirring drum, the ear-piercing fife; The royal banner, and all quality, Pride, pomp, and circumstance of glorious war! And, O ye mortal engines, whose wide throats The immortal Jove's great clamour counterfeit; Farewell, Othello's occupation's gone 62 !
Die Bedeutung des Soldatentums im Othello erhellt schon aus der Tatsache, daß nicht weniger als drei der Hauptcharaktere, Othello, Cassio und Jago, Soldaten sind. Selbst Desdemona wird gelegentlich als Soldat bezeichnet63. Vor allem aber gibt der Krieg der Venezianer gegen die Türken den Hintergrund für die Ereignisse auf Zypern ab. Es ist nun auffällig, daß im 1., vor allem aber im 2. Akt das Motiv geradezu eine beherrschende Rolle spielt, daß es im 3., 4. und 5. Akt weitgehend zurücktritt und erst ganz zum Schluß wieder stärker anklingt. Den entscheidenden Einschnitt bildet eben die oben zitierte Abschiedsklage Othellos. Hinter dem Soldatentum, das zusammen mit der Idee vom Höfling und Gelehrten das Idealbild vom Mann in der Renaissance bildet 64 , verbirgt sich einmal der Komplex der „honour-honesty", dann aber auch das Problem der magnanimitas. Zum Bild des Soldaten gehört die Vorstellung von seiner Ehrlichkeit: „If partially affin'd, or leagu'd in office, / Thou dost deliver more or less than truth, / Thou art no soldier" 65 , sagt Montano, bevor Jago seinen Bericht über den Streit beginnt. Es gelingt Jago als „ehrliche Soldatenhaut" alle Welt hinters Licht zu führen 66 . Zum Soldaten bei Shakespeare gehört aber auch im Guten wie im Schlechten der Ehrgeiz: 62
63 ) III, 3 , 351—3 63 . ) Vgl. II, 1, 74; II, 1, 182; I I I , 4, 149. ) Vgl. Hm. III, 1, 154; Merch. I, 2, 109 (An die Stelle des H ö f l i n g tritt in diesem Fall das „Venetian"). 65 ) II, 3, 209—211. Satirisch verzerrt wird die sprichwörtliche Ehrlichkeit des Soldaten in der Darstellung des Clowns: „ H e is a soldier, and for one to say a soldier lies, is stabbing." ( I l l , 4, 4—5). 68 ) Vgl. Cassios Urteil über Jago in II, 1, 165—6: „ H e speaks home, madam, you may relish him more in the soldier than in the scholar." 64
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Then a soldier, Full of strange oaths, and bearded like the pard, Jealous in honour, sudden and quick in quarrel, Seeking the bubble reputation Even in the cannon's mouth 67 .
Von dieser Verbindung des Soldaten mit dem „bubble reputation" versteht man den Ehrgeiz des Soldaten Macbeth besser. Der gleiche Ehrgeiz kennzeichnet Cassio"9, er wirft aber auch noch Licht auf Jagos verletzten Stolz, als Cassio ihm vorgezogen wird 69 und vor allem seine Empfindlichkeit als imaginärer Hahnrei 70 , die er mit dem eifersüchtigen Othello teilt. Hier wird nun die Verbindung, die zwischen der Ehre des Soldaten und der Eifersucht besteht, deutlich. Diese Ehre besteht nicht nur in der Ehrlichkeit, sie betrifft auch den Ruf des erfolgreichen Ehemannes und als letztes die Tapferkeit der Gefahr, dem Tod und den Schicksalsschlägen gegenüber. Von Othello, dem „warlike Moor" 71 , der seit seinem 7. Lebensjahr Kriegsdienst geleistet hat 72 , sagt Montano im 2. Akt: „the man commands Like a full soldier" 73 . Othello bringt auch das freie und aufrichtige Wesen mit, das sich mit dem Idealbild des Soldaten verbindet 74 . Auf diesem Hintergrund ist Othellos Absage an das Kriegswesen bei der Versuchung durch Jago zu sehen. Wie ein Gift hat sich die Vorstellung von Desdemonas Untreue in seinem Hirn festgefressen. Dabei wirken Jagos Worte kurz vor der Absage wie eine magische Beschwörungsformel: Look where he comes, not poppy, nor mandragora, N o r all the drowsy syrups of the world, Shall ever medicine thee to that sweet sleep Which thou owedst yesterday 75 . 67 ) AYL II, 7, 149—153. Der Vergleich der 7 Lebensalter mit 7 Bühnenakten wirft auch noch Licht auf die Angabe von Jagos Alter in I, 3, 311—2: „I ha' look'd upon the world for four times seven years . . .". Jago steht im 4. Lebensalter, das in AYL im Bild des Soldaten, der der „bubble reputation" nachjagt, dargestellt ist. 6S ) Vgl. II, 3, 254 ff. & 322: „I am desperate of my fortunes, if they check me here". Cassio fehlt an dieser Stelle der Gleichmut dem Schicksal gegenüber. 6i ) Vgl. I, 1, 8 ff. Vgl. I, 3, 384 ff.; II, 1, 302. Vgl. auch oben S. 114. 71 ) II, 1, 27. 7i ) I, 3, 83 ff. 73 ) II, 1, 35—6. 7 ") Vgl. I, 3, 397. 75 ) III, 3, 335—338. Ridley (New Arden Ed., p. 113) spricht von „This .incantation of the high-priest of evil' . . .".
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Die Wirkung dieser Beschwörung ist die Absage an die Ruhe und Zufriedenheit, an den „glorious war", in dem der Ehrgeiz zur Tugend wurde 76 . Es besteht kein Zweifel, daß die hier anklingende Topik vom Soldaten- und Königtum 77 letztlich — wie im Hamlet und Macbeth — auf das Problem des Selbst verweist. Othellos Absage an sein Soldatenleben läuft auf eine Verdunklung seines idealen Selbst hinaus. Der Soldat Othello wird im Gefolge Jagos zum Horcher an der Wand und zum Planer von Meuchelmorden. Er, der ein Bild der Geduld den Schicksalsschlägen gegenüber war 78 , gibt Lodovico im 4. Akt Anlaß zu der Frage: j s t}-,;s t}ie n o ble Moor, whom our full senate Call all in all sufficient? This the noble nature, Whom passion could not shake? whose solid virtue The shot of accident, nor dart of chance, Could neither graze, nor pierce?79. Kommen wir zurück zu unserer Interpretation der Szene III, 3. Wenig nach der Geburt der Eifersucht zeigt sich Othello „mov'd" 80 . In der nächsten Begegnung mit Jago aber erscheint er bereits „ eaten up with passion" 81 . By the world, I think my wife be honest, and think she is not, I think that thou art just, and think thou art not; I'll have some proof82. Auch für Othello ist hier an die Stelle der Gewißheit objektiver Wirklichkeit die subjektive Perspektive und der Zweifel getreten. Dabei erscheinen Desdemona und Jago als die Verkörperungen von Gegensätzen: „Thus Iago is, to Othello, the antithesis of Desdemona: the relation is that of the spirit of denial to the divine principle" 83 . Jago weiß Othello einzureden, daß es so gut wie unmöglich ist, den Ehebruch der beiden eindeutig zu beweisen: . . . but yet I say, If imputation and strong circumstances, ™) Die Zeilen 355—6: „and the big wars, T h a t makes ambition virtue", erinnern an Fortinbras' „divine ambition" ( H m . IV, 4, 49). Diese positive Seite des E h r geizes ironisch zu verstehen, hieße moderne Anschauungen an den Text herantragen. " ) Einen leisen diesbezüglidien Hinweis sehe ich in dem „royal banner" in Z. 359. In I, 2, 21—2 hatte Othello von seiner königlichen Abstammung gesprochen: „I fetch my life and being From men of royal siege . . .". Vgl. oben 7S S. 75. ) I, 3, 128—139. *>) IV, 1, 260—264. so ei 82 ) I I I , 3, 221. ) I I I , 3, 397. ) III, 3, 389—392. 83
) KNIGHT, W F ,
114.
128
Which lead directly to the door of truth, Will give you satisfaction, you may ha't 84 .
So bringt er als ersten Beweis den Bericht von Cassios angeblichem Traum: . . . There are a kind of men so loose of soul, That in their sleeps will mutter their affairs, One of this kind is Cassio: In sleep I heard him say „Sweet Desdemona, Let us be wary, let us hide our loves;" 85
Der Traum ist in Jagos eigenen Worten die Wahrheit („affairs") und gleichzeitig nur eine Fiktion („but a dream) 86 , was Othello die Möglichkeit gibt, in ihm eine „foregone conclusion" 87 zu sehen. In dieser Identität der Gegensätze Einbildung/Wirklichkeit liegt die Unnatur beschlossen, auf die das Motiv der Homosexualität 88 und Othellos Ausruf „O monstrous, monstrous!" 80 anspielen. Das große Symbol dieser unnatürlich-monströsen Scheinwirklichkeit ist das Tuch, in dem Wesen (Liebe) und Schein (Tuch) zusammenfallen und das Othello nun im Gefolge Jagos zum entscheidenden Indiz für die angebliche Untreue Desdemonas macht. Dabei zeigt die besondere Art der Dialogführung an dieser Stelle eindrucksvoll, wie Jagos „divinity of hell" zum Ziel gelangt ist. Jago greift den von Othello angefangenen Gedanken auf und führt ihn stellvertretend für ihn zu Ende, nimmt also die wenig später erfolgende Delegierung symbolisch vorweg: Oth.: I f ' t he that, — Iago: If it be that, or any that was hers, It speaks against her, with the other proofs 90 .
Unmittelbar nach diesen Worten, in denen Jago stellvertretend für Othello die angebliche Weggabe des Tuches mit der Untreue Desdemonas gleichsetzt, erfolgt der Schwur Othellos, der den entscheidenden Wendepunkt in der Tragödie markiert: All my fond love thus do I blow to heaven, . . . 'Tis gone. 84
) III, 3, 411—414. »5) III, 3, 422—426. ) III, 3, 435. «') III, 3, 434. se ) III, 427—432. Wir kennen die Homosexualität als Bild aus Peeles OWT. Dort symbolisierte die „unnatural rest" zwischen Antic und Clunch die Einheit von Realität und Fiktion in der vorkünstlerischen Einbildung (Chimäre). Vgl. S. 20 f. 8 ") III, 3, 433. ••) III, 3, 446—448. 66
9 Lengeier, Tragische Wirklichkeit
Arise, black vengeance, from thy hollow cell, Yield up, O love, thy crown, and hearted throne, To tyrannous hate . .
Othellos Anrufung an die personifizierte Rache kommt einer magischen Beschwörung gleich. Solche Beschwörungsszenen finden sich an entscheidenden Stellen in den meisten Shakespeare-Tragödien92. Sie laufen darauf hinaus, die Zwietracht als kosmisches Prinzip an die Stelle der Liebe zu setzen. Liebe und H a ß als kosmische Prinzipien entsprechen den Gegensätzen von Wirklichkeit und Unwirklichkeit, Wesen und Schein, Kosmos und Chaos93. Othellos Schwur an dieser Stelle ist Ausdruck der vollzogenen Pervertierung, bei der der Schein an die Stelle des Wesens getreten ist. Zum Wesen, zur Idealwirklichkeit gehört aber der Charakter der Allgemeingültigkeit, der somit ebenfalls auf den Schein übertragen wird. Desdemonas Untreue, auf die der Verlust des Tuches hinzudeuten „scheint", erfährt in dem Schwur eine Ausweitung ins Exemplarische84: die Treue und Liebe sind überhaupt keine Realitäten, sondern Einbildungen. Sie sind das „airy nothing"95, von dem Othello sagt: „'Tis gone". Sie sind solche Hirngespinste, aus denen die Dichter ihre Werke schaffen. Wirklich sind vielmehr nur die Untreue, der H a ß und die Zwietracht. Ebenso wie sich die Liebe für Othello in Luft auflöst, weil sie sich in seiner Welt als „Utopie" erwiesen hat, ebenso setzt er umgekehrt die Rache und den Haß mit ihrem Namen als Realitäten, beschwört er durch seine Wortmagie — analog zu Jagos früherer Beschwörung der Eifersucht — die schwarze Rache aus ihrer hohlen Zelle. Dabei klingt der aufrührerisch-blasphemische Charakter solcher Magie als einer Nachäffung der Weltschöpfung in dem „thus do I blow to heaven" an. " ) I I I , 3, 452—456. 82 ) Für die großen Tragödien vgl. Lr. I, 4, 284—298; I I I , 2, 1—9; Mc. I, 5, 40—54; I I I , 2, 46—50. " ) Vgl. III, 3, 91—93. Weiter oben SS. 40—41. 01 ) An die Stelle des „my fond love" (Z. 452) tritt in Z. 455 generisdies „ O love". Die gleiche Verallgemeinerung unterliegt audi den Aussprüchen Jagos und Othellos, in denen das H a h n r e i t u m als unabänderliches Schicksal gesehen wird. Vgl. I I I , 3, 277—281; IV, 1, 65—69. 9r
') MND
V, 1, 14—17: „And as imagination bodies forth The form of things unknown, the poet's pen Turns them to shapes, and gives to airy nothing A local habitation and a name." Für die Analogien von (weißer) Magie, Kunstschöpfung und Weltschöpfung vgl. oben SS. 38 f f .
130
Die
Magie
des
Tuches
Das Symbol, in dem sich die Wirkung von Othellos Schwur im weiteren Verlauf des Dramas verdichtet, ist das Tuch, von dessen magischen Kräften Othello in der auf die Beschwörung folgenden Szene III, 4 zum ersten Mal spricht. Eine steinalte Sybille hat es im Zustand prophetischen Wahnsinns aus der Seide heiliger Raupen und dem Mumiensaft geweihter Jungfrauenherzen gewoben 86 . Das Tuch war Othellos Erstlingsgeschenk an Desdemona und Zeichen seiner Liebe87. Nach dem Schwur aber ist es mit dieser Liebe identisch geworden 98 . Zeichen und Bezeichnetes, Erscheinung und Wesen, Erkennen und Sein fallen zusammen. Die Magie des Tuches läuft auf eine Verdunklung seines Zeichencharakters hinaus oder, was das Gleiche ist, auf die fiktive Gleichsetzung von Bild und Sache. Eine zwischenmenschliche Beziehung wie die Liebe zwischen Desdemona und Othello erscheint auf die dingliche Realität des Tuches reduziert. Phantastisch-lächerlich ist auch die dem Tuch zugeschriebene Wirkung: der bloße Verlust des Tuches impliziert den Verlust der Liebe. Hier ist ein Automatismus der Ereignisse angedeutet, der die Möglichkeit menschlicher Handlungsfreiheit ausschaltet und die Menschen den Launen des Zufalls ausliefert 9 ". Othellos phantastische Vorstellungen bezüglich des Tuches wirken komisch, solange sie eindeutig den Charakter bloßer Fiktionen tragen; sie werden aber unheimlich, sobald den Fiktionen Wirklichkeit zukommt. Gerade diese Verfremdung erlebt der Leser oder Zuschauer von Shakespeares Othello im Zusammenhang mit der Magie des Tuches, die in der Streitszene an die Stelle seines ursprünglichen Zeichen- und Erkenntnischarakters getreten ist. Das Tuch wird von einem Zeichen der Liebe zum Anlaß des Streites. Das Gespräch ist ein Antidialog, Mißverstehen und Widerstreiten der Redenden. Es spiegelt nicht die Erkenntnis der Liebenden, nicht das „I saw Othello's visage in his mind" 1 , sondern Einbildung als Wahnsinn, das „my mind 96
) I I I , 4, 6 7 — 7 3 . »') I I I , 3, 2 9 5 — 2 9 7 ; V, 2, 215. ) I I I , 4, 5 6 — 6 1 : . . . she told her, w h i l e she k e p t it ' T w o u l d m a k e her amiable, a n d s u b d u e m y f a t h e r E n t i r e l y t o h e r l o v e : b u t if she lost it, O r m a d e a g i f t of it, m y f a t h e r ' s eye S h o u l d h o l d her l o a t h l y , a n d his spirits should h u n t A f t e r new fancies: " ) A u f d e n F a t a l i s m u s verweist auch eine W e n d u n g wie die f o l g e n d e : „she d y i n g , g a v e it me, I A n d bid me, w h e n m y fate w o u l d h a v e m e w i v e , / T o give it h e r ; " ( I I I , 4, 61—63). 98
') I, 3, 252.
131
misgives" 2 . Im Tuch verdichtet sich die Verkehrung der H a r m o n i e in einen Mißklang: anstatt daß seine Erwähnung als Liebeszeichen Desdemonas Fürsprache f ü r Cassio unterstützt, wird es zum Indiz der Anklage gemäß Jagos „Divinity of hell": And by how much she strives to do him good, She shall undo her credit with the Moor3.
Die Szene ist absurd in ihrer Phantastik: Cassios Freundschaft, seine offenkundigen Verdienste, ja, die Liebe Desdemonas, von der sogar Jago sagte: „. . . her appetite shall play the god / With his weak function" 4 , gelten nichts mehr gegenüber der Fiktion des Tuches. Was aber das Lachen der Zuschauer einfrieren läßt, was die Szene zur Groteske macht, ist, d a ß die Phantastik in dem Streit wirksam wird als reale dämonische Macht, daß, wie auch Desdemona zugeben muß, etwas an der Magie des Tuches dran ist: Sure there's some wonder in this handkerchief, I am most unhappy in the loss of it5.
Im weiteren Verlauf von Shakespeares Othello erscheint nun die Magie des Tuches als zunehmender Prozeß der Verfremdung, der folgerichtig in der Perversion des Mordes als Liebesakts ausmündet. Nach dem Streit bringt Jago in der Rolle des Kasuisten das Gespräch wieder auf das Tuch: Oth.: She is protectress of her honour too, May she give that? Iago: Her honour is an essence that's not seen, They have it very oft that have it not: But for the handkerchief —6.
Wiederum läßt sich beobachten, wie in Jagos „divinity of hell" eine Ideal Wirklichkeit (honour) in eine lächerliche Schein Wirklichkeit verkehrt wird, die wesentlich auf den chaotischen Widerstreit von Sein und Schein hinausläuft — wir verweisen auf die Antithesen „is/is not; essence/seen; have it/have it not" — und an die Stelle der so entlarvten Wirklichkeit der Schein des Tuches tritt. So absurd dem nüchternen Leser oder Zuschauer die Verkehrung auch vorkommen mag, Othello ist ihr in seinem Zustand so h o f f nungslos erlegen wie ein unheilbar Kranker seinem Leiden: s
) ) I V , 7, 14—17. 3 7 ) Capells Regieanweisung erhält ihre textliche Rechtfertigung aus Cordelias Worten IV, 4, 3: „ C r o w n ' d with rank fumiter and f u r r o w - w e e d s " . 3 8 ) IV, 6, 83—84. 3U ) V g l . Z . 110: „ A y , every inch a k i n g " und Z . 2 0 1 : „ I a m a king, masters, know you that? / Gent. Y o u are a royal one, and we obey y o u . " «») I, 1, 146. " ) I, 1, 149. « ) I, 1, 135 f.
157
phantastische Selbstverfremdung, wie sie hier anschaulich wird. Lears Phantasien in der vorliegenden Wahnsinnsszene IV, 6 stehen in einem ganz besonderen Verhältnis zu allen voraufgegangenen: sie enthüllen Lears nominelles Königtum als Wahnsinn, als Verstellung seines eigentlichen Wesens durch sein zur phantastischen Wirklichkeit verfremdetes Bewußtsein. Lears Bewußtsein wird im Wahnsinn zum Schauplatz einer phantastischen Traumwelt. Er steht dieser Welt nicht mehr souverän gegenüber, er steht gewissermaßen als „königlicher" Beobachter nicht über ihr, sondern sein Bewußtsein i s t diese verfremdete Welt 43 . In dieser im Wahnsinn erschauten Welt ist die krasse Wirklichkeit an die Stelle der Idealwirklichkeit getreten; Schmeichelei, Rechtsverdrehung und Korruption sind an der Tagesordnung, Richter und Verurteilter, Büttel und Bestrafter könnten ohne weiteres den Platz wechseln. Diese Welt ist eine einzige große Narrenbühne. Mag dieses Bild von der Welt auch noch so „realistisch" erscheinen, so ist es doch wesentlich Einbildung, Ausgeburt von Lears Wahnsinn, Chimäre letztlich deshalb, weil diese Welt nicht Abbild der Idee, der Idealwirklichkeit im platonischen Sinne ist. Andererseits erkennt Lear und der Zuschauer diese Welt als Abbild von Lears Herrschaft wieder, die somit rückläufig im Wahnsinn erst in ihrer wahren N a t u r gespiegelt wird. Diese Identität von Wahnsinn und Wirklichkeitserkenntnis ist das hervorstechende Merkmal der Szene, die in ihrer Reihung von episodenhaft unvermittelt nebeneinander stehenden Einzelszenen dennoch eine Einheit erkennen läßt. Sie enthält auf weite Strecken hin nur die Rudimente eines Dialogs zwischen Gloucester und Lear mit Edgar als Statisten und führt doch zu dem Wiedererkennen des Blinden mit dem Wahnsinnigen. Edgars anfängliche Frage: „But who comes here?" beantwortet Lear in der Weise eines Wahnsinnigen, der den König spielt. Die Folge von Lears wilden Kriegsphantasien ist, daß dem blinden Gloucester Lears Stimme zwar bekannt vorkommt, daß er diesen aber nicht wiedererkennt. G L : I know that voice. Lr.: H a ! Goneril, with a white beard 4 4 !
Lear seinerseits nimmt Gloucesters weißen Bart wahr, erkennt darin aber nur die Unnatur Gonerils wieder. Bei aller Absurdität ist die Situation nicht völlig sinnlos, was nicht zuletzt mit der Gegenwart 4 ") V g l . Gloucesters Worte in Z Z 136 f . : „ O ruin'd piece of N a t u r e ! great world / Shall so wear out to n a u g h t " . " ) IV, 6, 96—97.
158
This
Edgars zusammenhängt. Gloucester hat Edgar gegenüber genau so unnatürlich gehandelt wie Goneril ihrem Vater gegenüber. Wir verweisen auf Edgars eigene Worte wenig vorher: „He childed as I father'd!" 45 . Lears groteske Wahnsinnseinbildung ist gleichzeitig die Wahrheit: Gloucester ist eine Goneril im weißen Bart. In der gleichen Weise erweist sich die hündische Speichelleckerei Gonerils und Regans, die Phantastik des „I had the white hairs in my beard ere the black ones were there"46 als bitter ironische Wahrheit47, ist sein Irrtum, daß er in der Heideszene den Sturm zum Schweigen bringen wollte, den er in Wirklichkeit zu entfesseln versuchte, als lächerliche Verzerrung auch die Wahrheit: „they told me I was every thing; 'tis a lie, I am not ague-proof" 48 . An dieser Stelle unterbricht Gloucester, der glaubt, die Stimme des Königs wiederzuerkennen: T h e trick of that v o i c e I do w e l l remember: Is't n o t the King 4 8 ?
Wieder agiert Lear die fiktive Rolle des Königs, der den vor ihm stehenden, anonymen Ehebrecher begnadigt, in dem der Zuschauer gleichwohl auch das Bild Gloucesters wiedererkennt: Let c o p u l a t i o n thrive; f o r Gloucester's bastard son W a s kinder to his father than m y daughters G o t ' t w e e n the l a w f u l sheets 50 .
Es zeigt sich dabei, daß Lears Erkenntnis der Wirklichkeit auf die sog. Realität beschränkt bleibt. Sie bedeutet als Erkenntnis dieser die gleichzeitige Verkennung der Ideal Wirklichkeit und ist insofern im Sinne des Neuplatonismus Wahnsinn. Lears Wahnsinnsvisionen entsprechen der Erkenntnisstufe des Narren, wie noch zu zeigen sein wird, in der ja auch die ironisch-satirische Verzerrung mit ihrem Charakter als Abbild der sog. Realität zusammenfällt. Wir können auch sagen, daß Lears Kennzeichnung der „simp'ring dame" und der Kentaurennatur 51 der Frauen zutrifft auf den einen oder anderen konkreten Einzelfall, etwa auf das Buhlen Gonerils und 45
) III, 6, 113 « ) IV, 6, 98—99. ) Dr. Inge Leimberg macht mich darauf aufmerksam, daß hier eine Verkehrung des puer-senex-Topos vorliegt. Der Lear, dem seine Töchter schmeichelten, ist der gleiche, dem bereits als jugendlichem König die Altersweisheit beigelegt wurde. 4S 50 ) IV, 6, 106—107. « ) IV, 6, 109—110. ) IV, 6, 117—119. 51 ) Der einsichtige Bezug geht in diesem Falle noch weiter, wenn wir an die spätere Erwähnung des Ixionrades (IV, 7, 47) denken. Ixion war bekanntlich auch der Zeuger der Kentauren. 47
159
Regans um die Gunst Edmunds, daß es aber in der Verallgemeinerung Wahnsinn ist. Mit Gloucesters Frage an Lear: „Dost thou know me?" 52 setzt eine neue Phase ein, an deren Ende Lears Erkennen Gloucesters steht: I know thee well enough; thy name is Gloucester 5 3 .
Diese Phase erscheint als Prozeß zunehmender Bewußtwerdung, was auch darin zum Ausdruck kommt, daß die Begegnung mehr und mehr die Form eines wirklichen Dialogs zwischen Lear und Gloucester annimmt. Lears erste Worte sind noch rein phantastisch: I remember thine eyes well enough. Dost thou squiny at me? N o , do thy worst, blind C u p i d ; I'll not love. R e a d thou this challenge; mark but the penning of it 54 .
Lear nimmt wohl Gloucesters Blindheit wahr, aber er versteht ihre Bedeutung nicht. Das führt zu der phantastischen Identifizierung mit einem blinden Cupido und der Weigerung zu lieben. Lear sieht sich im Wahnsinn nicht als Liebender, sondern als feindlicher Herausforderer. Auf Gloucesters Frage, ob er etwa mit seinen Augenhöhlen die Herausforderung lesen solle, geht Lear scheinbar die Bedeutung von dessen Augenlosigkeit auf. Aber auch dies ist keine wirkliche Erkenntnis. Offensichtlich ist Lears Antwort darauf vor allem eine Reminiszenz eigener Erfahrung, die ihm der Narr oft genug in Erinnerung gebracht hat. Als Reminiszenz eigener Erfahrung bleiben Lears Worte phantastische Projizierung eines subjektiven Bewußtseinsinhaltes: O, ho! are you there with me? N o eyes in your head, nor no money in your purse? Y o u r eyes are in a heavy case, your purse in a light: yet you see how this world goes".
Gleichzeitig spiegeln sie aber bereits Gloucesters Lage. Gloucesters Antwort: „I see it feelingly" 50 , bringt eine unerwartete Reaktion Lears: What! art m a d ? A man m a y see how this world goes with no eyes. L o o k with thine ears: see how yond justice rails upon yond simple thief. H a r k , in thine ear: change places, and, handy-dandy, which is the justice, which is the thief 5 7 ? IV, 6, 137. ) IV, 6, 138—140. 66 ) IV, 6, 150. M
) IV, 6, 179. ) IV, 6, 146—149. 57 ) IV, 6, 151—156. 53
55
160
Gloucesters Worte ebenso wie die Lears sind durch ihre Mehrdeutigkeit gekennzeichnet. Als Verquickung verschiedener Sinneserfahrungen sind die zahlreichen Synästhesien Ausdrude des Wahnsinns, von dem Lear spricht. Was Lear in den Wahnsinn getrieben hatte, war ja gerade, daß er ein blindes Gefühl an die Stelle der Vernunfterkenntnis setzte. Man erinnert sich an Kents Worte in der Abdankungsszene: „See better, Lear . . ."5rt. Da, wo er liebte und seine Liebe erwidert zu sehen glaubte, bekam er bald die Unnatur seiner Töchter zu spüren. Lear wurde wahnsinnig, weil es ihm nicht gelang, Sehen und Fühlen, Auge und Herz in Einklang zu bringen. Rückwirkend fällt von hier auch Licht auf Lears Identifizierung Gloucesters, dessen Erfahrung ganz ähnlich war, mit einem blinden Cupido und die Weigerung zu lieben, blind zu lieben. Auf der anderen Seite aber weist Gloucesters „I see it feelingly" auf die Heilung seiner Blindheit, die Gesundung vom Wahnsinn. Wenn wir uns für einen Augenblick auf Cordelias Definition des Wahnsinns als „untun'd and jarring senses" besinnen, so erscheint der Wahnsinn, auf den die zahlreichen Synästhesien hinweisen, nun gleichzeitig als Harmonisierung der Sinneseindrücke im wiedergewonnenen Vernunftsvermögen. Deutlich zeigt sich das diskursive Denkvermögen, die für einen Augenblick wiedergewonnene „sovereignty of reason" (Hm. I, 4, 73) in dem „change places . . . which . . . which?" Ein Beweis für die augenblicklich wiedergewonnene Vernunfterkenntnis Lears ist auch die Tatsache, daß er im Falle seines zweiten Beispieles den H u n d im Amt ausdrücklich als „image of Authority"" bezeichnet. Dieses Beispiel von dem Bettler, der vor dem bellenden H o f h u n d flüchtet, ist eine objektive Wirklichkeitsbeobachtung, worauf auch Lears jetzige Rolle als Betrachter verweist. Über ihren Charakter als einmaligen Vorfall hinaus gelingt es Lear, ihre exemplarische Bedeutung, ihren Bildcharakter aufzuzeigen. Wenig später aber im Falle des dritten Beispiels sinkt er wieder von der Ebene des Beobachters auf die des Schauspielers zurück, der zur Verkörperung seiner Rolle wird
-
Thou rascal beadle . . . Strip thine own back; Thou hotly lusts to use her in that kind For which thou whipp'st her 80 .
Lears gegenwärtiger Wahnsinnszustand ist ein Zustand potenzieller Vernunft. Es gelingt noch nicht, daraus einen Dauerzustand zu machen. 58
) I, 1, 158.
59
) IV, 6, 160.
11 Lengeier, Tragische Wirklichkeit
•«) IV, 6, 162—165.
Das Wahnsinnsmoment in den scheinbar ganz vernünftigen und richtigen Äußerungen Lears zeigt sich in dem Schwanken zwischen wirklichem Dialog und dialogischem Monolog, darin, daß der fiktive Büttel für Lear genau so wirklicher Gesprächspartner ist wie Gloucester. Es zeigt sich aber auch in solch überspitzten Verallgemeinerungen wie das „None does offend, none, I say, none; I'll able 'em" 81 , das die Wirklichkeitsbeobachtung an die Stelle einer Idealforderung setzt. Lears Ratschlag an Gloucester, sich Glasaugen anzuschaffen und die Dinge, die er nicht sieht, vorzutäuschen, ist in seiner Zweideutigkeit bittere Ironie. Er ist moralisch mehr als fragwürdig, wenn man bedenkt, daß gerade darin die Politik von Lears unnatürlichen Töchtern bestand 02 . Völlig absurd wirkt er aber aus dem Munde Lears, dessen Fehler zu Beginn des Dramas darin bestand, da Kindesliebe zu sehen, wo nur ein Lippenbekenntnis stand. An dieser Stelle nun fallen Edgars Worte in der Rolle des Zuschauer-Kommentators, die Lears Wahnsinn als „Reason in madness" deuten 63 . Wenig später folgt audi Lears Bild von der Welt als einer Narrenbühne: When we are born, we cry that we are come To this great stage of fools 64 .
Immer wieder konnten wir in den Analysen der einzelnen Episoden auf die Identität von Wahnsinn und Erkenntnis verweisen, wobei letztere allerdings nicht die Idealwirklichkeit, sondern die Realwirklichkeit betrifft. Lears Wahnsinnsvisionen in dieser Szene sind jene Art von Wahrheit im Unsinn, wie sie kennzeichnend für die Figur des Narren bei Shakespeare ist65. Es ist hier der geeignete Ort, um kurz auf die Figur des Narren im König Lear einzugehen. Für seine Rolle als Schauspiel rolle ist kennzeichnend, daß er nicht Abbild, sondern Verkörperung des kommentierenden Zuschauers ist, d. h., er spielt nicht den Schauspieler-Zuschauer, er ist der SchauspielerZuschauer. Diese Besonderheit macht, daß bei ihm Einbildung und Wirklichkeitserkenntnis zusammenfallen. Auf Lears Frage, seit wann er so viele Liedchen kenne, antwortet der N a r r : I have used it, Nuncle, e'er since thou mad'st thy daughters thy mothers; for when thou gav'st them the rod and putt'st down thine own breeches, 61
) ) II, 4, 63 ) 65 ) e2
IV, 6, 170. Vgl. das Gespräch zwischen Goneril und Albany in I, 4, 332—358; ebenso 249 ff. IV, 6, 177. " ) IV, 6, 184—185. Vgl. dazu die Interpretation der „fishmonger scene" im Hamlet SS. 72—73.
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Then they for sudden joy did And I for sorrow sung, That such a king should play And go the fools among''.
weep, bo-peep,
Dieses phantastische Bild einer verkehrten Welt spiegelt gleichzeitig die Verkehrung von Lears Thronabdankung. Die Ausdrucksweise des Narren par excellence ist die Satire, bei der die Verzerrung Abbild der Realwirklichkeit, nicht der Idealwirklichkeit ist. Eine Aussage über die Idealwirklichkeit liegt außerhalb der Wahrheit des Narren. Gegenstand der Satire des Narren ist die Torheit der Welt, ihr Narrentum. Diese wesensmäßige Beschränkung des Narren bedeutet, daß der Vorwurf, der N a r r treibe Lear in den Wahnsinn, nur insofern berechtigt ist, als er ein Faktum, aber keine moralische Wertung seines Handelns impliziert. Der N a r r steht wesensmäßig außerhalb der Moral, worauf auch das Privileg der Straflosigkeit hinweist. Mit dem Zusammenfallen von Zuschauer- und Schauspielerrolle im Narren hängt es weiter zusammen, daß der N a r r eine eminent passive Figur ist. Er kann der Welt den Spiegel vorhalten, aber er kann sie nicht willentlich verbessern. Die Wahrheit spricht aus ihm, aber er kann diese Wahrheit nicht aktiv in schöpferisches Tun umsetzen. Das bedeutet die von vielen Kritikern festgestellte Wirkungslosigkeit seiner Worte auf Lear. Wo seine Kritik zu einer Verwandlung bei Lear führt, ist dies ein glücklicher Zufall, nicht aber bewußt gewolltes Handeln des Narren. Über dem Wesen des Narren liegt der Schatten einer tiefen Hoffnungslosigkeit. Wenn wir sagten, daß die Sprechweise des Narren vornehmlich satirisch sei, so ist damit nicht ausgeschlossen, daß sie gelegentlich das Groteske streift. Wir beschränken uns auf ein Beipiel: I had rather be any kind o'thing than a fool; and yet I would not be thee, Nuncle; thou hast pared thy wit o'both sides, a n d left nothing i'th'middle: here comes one o'the parings 67 .
Lears „wit" erscheint hier in der Verfremdung eines materiellen Gegenstandes, von dem rechts und links wie von einer Frucht so lange abgeschält wird, bis nichts mehr übrig bleibt. Diese Satire auf Lears Dummheit hört aber in dem Augenblick auf, rein satirisch zu sein, wo Goneril als „leibgewordene" Schale hingestellt wird. In die Komik der Darstellung mischen sich unheimliche Obertöne in dem Augenblick, wo Bild- und Wirklichkeitsebene ineinandergeschoben werden. 66
) I, 4, 179—185.
•') I, 4, 192—196.
163
D a s Groteske als Ausdrucksweise des Narren bleibt eine Ausnahme. Seinem Wesen adäquat ist die satirische Verzerrung, in der Sinn und Unsinn, Vernunft und Wahnsinn zusammenfallen. So kennzeichnet Lears „reason in madness" seine gegenwärtige Lage als die des Narren, der von der Erkenntnis einer transzendentalen Idealwirklichkeit abgeschnitten ist. Es ist die Lage des Menschen vor jeder transzendentalen Offenbarung. So hat es seinen Sinn, wenn an dieser Stelle das Bild von der Welt als Narrenbühne erscheint. Was aber bedeutet in diesem Zusammenhang Lears plötzlicher Stimmungsumbruch zusammen mit dem Kriegsruf, daß kein Pardon gegeben wird, was seine Gefangennahme und das groteske Schauspiel seiner Flucht? Bei der Beantwortung dieser Fragen ist uns ein glücklicher Fund zu H i l f e gekommen. Es handelt sich um die Entdeckung einer vermutlichen Quelle von Shakespeares König Lear in dem 8. und 9. Kapitel des dritten Buches des Policraticus (1159) von Johannes von Salisbury. Die Parallelen und Übereinstimmungen sind so zahlreich, daß an Shakespeares direkter oder indirekter Kenntnis der beiden Kapitel kaum zu zweifeln ist. D a s ist um so wahrscheinlicher, als der Policraticus das ganze Spätmittelalter hindurch sehr verbreitet und u. a. noch 1595 ein Neudruck in Leiden erschienen war. Curtius hat im übrigen darauf verwiesen, daß das Motto des Globe-Theaters: „Totus mundus agit histrionem", nicht aus Petron direkt, sondern aus dem Policraticus stamme 68 . Wegen ihrer Bedeutung für das Verständnis namentlich der vorliegenden Wahnsinnsszene bringen wir die relevanten Stellen im Wortlaut, zusammen mit einem laufenden Kurzkommentar, der die Parallelen im König Lear aufzeigt. Das 8. Kapitel des 3. Buches ist betitelt: „ D e mundana comoedia, vel tragoedia" und schließt an ein anderes Petronzitat an, in dem das Leben als Maskenspiel dargestellt wird. Es heißt da: Et
quidem
eleganti
utitur
similitudine,
q u i a fere q u i d q u i d in
turba
p r o f a n a e multitudinis agitur, c o m o e d i a e q u a m rei gestae similius est. Militia
est, inquit, vita hominis
super
terrarn
( J o b V I I ) . A t si n o s t r a
t e m p o r a propheticus spiritus concepisset, diceretur egregie, q u i a
comoedia
est v i t a hominis super t e r r a m , ubi q u i s q u e sui oblitus, p e r s o n a m e x p r i m i t alienam 0 9 .
Damit sind hier bereits zwei Hauptbildkomplexe unserer Learszene bezeichnet, die Vorstellung vom Leben als Kriegsdienst und die 68
) CURTIUS, o p . cit.
»«) M I G N E , PL,
199,
149—151. 488.
164
andere vom Leben als Masken- oder Bühnenspiel. Das Kriegsmotiv zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze vorliegende Wahnsinnsszene. Zu Beginn heuert Lear fiktive Söldner an, inspiziert ihre Bogenübungen und zeigt sich begeistert, wenn der Bogen ins Schwarze trifft 7 0 . Er verlangt wie ein Wachsoldat das Losungswort von Edgar und Gloucester, läßt sie passieren und schreit im nächsten Augenblick bei den Worten Gloucesters: „I know that voice" 71 auf: „ H a ! Goneril, with a white beard!" 72 , so als ob sich Goneril unter der Vermummung von Gloucesters Bart in Lears Lager eingeschlichen habe. Für einen Augenblick verliert sich der Faden, um plötzlich im Zusammenhang mit Lears Ermutigungen zur Hurerei erneut aufzutauchen: To 't, Luxury, pell-mell! For I lack soldiers 73 .
Danach treten wieder andere Gedankengänge in den Vordergrund bis zum Schluß im Zusammenhang mit der Welt als Narrenbühne Lear der Gedanke kommt, seine Schwiegersöhne aus dem Hinterhalt zu überfallen und niederzumachen. Sed forte eo prophetae tendit oraculum, ut eos quos nondum terra absorbuit, doceat jugiter militare. N a m qui captivi vitiorum impulsu trahuntur ad poenam, sicut bos immolandus ad victimam, abeuntes post concupiscentias suas, etsi corpore videantur inhabitare superficiem terrae, vivi tarnen absorpti sunt, et descendunt in infernum viventes 74 .
Neu erwähnt werden hier das Motiv vom Gefangenen der Leidenschaften und der Aufenthalt in der Unterwelt, während die Körper noch als Schemen unter den Lebenden wandeln. Dem entspricht Lears Gefangennahme durch die Boten Cordelias, der Bezug von Lears Wahnsinn zu seinen Leidenschaften in III, 4 u. 675; und Lears Wahnsinn als Bild der Unterwelt. Für dies Letztere verweisen wir auf die Erwähnung des „Lake of darkness", an dem Nero angelt 76 . Es sei noch hinzugefügt, daß der Policraticus den Wahnsinn an dieser Stelle nicht ausdrücklich erwähnt, wohl aber ist davon die Rede in dem bereits zitierten Hiob-Kapitel, in dem außer dem Kriegsdienst auch der Abstieg in die Unterwelt 77 und die Wahnsinnsvisionen vorkommen 78 . 70
71 ) IV, 6, 86—93. ) IV, 6, 96. ™) IV, 6, 97. IV, 6, 119—120. « ) a.a.O. Spalte 488 f. Vgl. oben S. 152 f. 76 ) III, 6, 6—7. ~7) Hiob VII, 9: Sicut consumitur nubes, et pertransit: sic qui desdenderit ad infernos, non ascendet. 78 ) Hiob VII, 14: Terrebis me per somnia, et per visiones horrore concuties.
165
Et, si alium orationis sequimur tropum, terram usquequaque inhabitant, quorum conversatio in coelis est minime, nec sibi sciunt aliquid in coelo esse, et id duntaxat affectant animo, quod cernitur super terram 79 .
Der Aufenthalt auf der Erde dauert so lange, wie die Gedanken nicht über das Irdische hinausgehen. Dem entspricht, was wir als Narrentum in Lear bezeichnet haben, dem jede Erkenntnis der Idealwirklichkeit verschlossen bleibt. His quoque militia jugis indicitur, quibus, ut ad fabulas redeamus, nec unda Tantali, Tytii vultur, rota Ixionis, Belidum urna, saxum Sisyphi deest, dum voluntas mundo implicita, nequit implere propositum, quandiu peregrinatur a Domino. Istorum vita militia, et certe malitia est80.
Zu den Banden des Kriegsdienstes werden hier die klassischen Strafen der antiken Unterwelt gezählt, darunter das Ixionsrad, bei dem sich für den Kenner des König Lear sofort die Assoziation zum „wheel of fire"81 einstellt. Solange weiter der Wille nicht von der Welt läßt, kann er das Verlangte nicht erfüllen, dauert damit auch seine Wanderschaft fern von Gott. Ein Anklang an diese Wanderschaft ist möglicherweise Lears Umherirren zwischen den feindlichen Heerlagern, von dem in IV, 4, 6—8 die Rede ist. Magnorum proinde virorum sensus, saecularis haec expugnat comoedia. Varia figura temporum, actuum quaedam varietas est. Porro actibus personae deserviunt, dum in eis fortunae jocantis ludus impletur. Quid enim aliud est, quod novum quemlibet, et ignotum, nunc amplissimo induit potentatu, et in regni fastigium erigit, nunc alium pupuratum antequam natum de regni culmine in catenas hostiles projicit, et servituti addictum, in miserias extremas praecipitat 82 .
Die Geschicke der Großen der Geschichte zeigen, daß ihre Rollen dem Drama der Zeiten dienen, dessen Handlung das Spiel einer scherzenden Fortuna ausmacht. Der Niedriggeborene erscheint plötzlich mit höchster Macht bekleidet, während sein Vorgänger als Gefangener abgeführt wird. Versinnbildet wird der Wechsel in unserer Szene als Anspruch Lears, König zu sein, im Augenblick seiner Gefangennahme 83 . Auf das Spiel der Fortuna verweist weiter sein Ausspruch bei der Gefangennahme: „I am even The natural fool of Fortune" 84 . '•) a.a.O. Spalte 489. 8
°) ibid.
81
) *) sa ) 84 ) 8
IV, 7, a.a.O. IV, 6, IV, 6,
47. Spalte 489. 201: „I am a king, masters, know you that?" 192—193. Vgl. audi unten S. 173 f.
166
Andere Parallelen, die in den zitierten Stellen nicht vorkommen, betreffen Lears Ermahnungen an Gloucester, geduldig zu sein85, und seine Flucht aus der Gefangenschaft. Bei dieser Fülle von Übereinstimmungen kann die vorliegende Policraticus-Stelle als Quelle von Shakespeares König Lear kaum in Zweifel gezogen werden; wir werden im übrigen noch Gelegenheit haben, in anderem Zusammenhang auf weitere Parallelen einzugehen88. Der Schluß von Lears Wahnsinnsauftritt enthält ein wirkliches Knäuel von Motiven, die sich trotz der sinnverwirrenden Fülle als Bilder f ü r das menschliche Leben wiedererkennen lassen. Lears Kriegsspiel ist mit der Wahnsinnsverfremdung des irdischen Maskenspiels identisch, bei dem jeder eine seinem idealen Wesen fremde Rolle agiert. Die Selbstentfremdung im Wahnsinn kommt andererseits dem Aufenthalt in der Unterwelt gleich, während der Körper als Schatten seiner selbst noch auf Erden umherirrt. Aus einer dritten Perspektive schließlich macht Lears Rolle des „gefangenen Königs" sein gegenwärtiges Wesen als „natürlicher N a r r Fortunas" deutlich. Entscheidend für den Charakter der Szene ist nun, daß alle diese Motive als Bilder des Lebens gleichzeitig Lears Wahnsinn ausmachen, m. a. W. daß Bild und Abgebildetes zusammenfallen. Anders ausgedrückt, Lears Einbildungen sind mit der realen Dämonie seines Wahnsinns identisch. Bisher sind zwei wichtige Motive außer Acht geblieben: der Liebestod-Topos („I will die bravely, like a smug bridegroom" 87 ) und das Fluchtmotiv. Auf den Liebestod-Topos im Werk Shakespeares sind wir bereits wiederholt gestoßen88. Bei beiden Motiven beobachten wir etwas Ähnliches wie im Falle der anderen Motive: sie sind als verstellte Erkenntnis nicht Abbild, sondern Einbildung und eben darin mit dem Wahnsinn identisch. Hinter der Verkehrung des Liebestod-Topos an dieser 85 ) IV, 6, 179—180: „I k n o w thee well enough; thy name is Gloucester; / Thou must be patient." D u m enim pax abest filiis Adam, qui ad laborem nati sunt, parati ad flagella concepti in peccatis, editi in labore, non tarnen euntes quam currentes ad mortem, qua nihil tristius est, necessaria est patientia (a.a.O. Spalte 490 f.). Es folgen weitere Zitate aus Hiob, die zu der A n n a h m e berechtigen, daß gerade im Falle des Motivs der „Geduld" auch H i o b - Z ü g e in den Lear eingeflossen sind. M ) Vgl. S. 171 f. 87 ) IV, 6, 199—200. 88
) Vgl. SS. 97 & 141.
167
Stelle verbirgt sich die richtige Ahnung 89 eines bleibenden Seins im Tod, hinter der lächerlichen Flucht vor der Gefangennahme die andere eines königlichen Seins, in dem der Mensch ganz er selber ist80. Damit zeigt sich auch in diesem Falle das Groteske als Verdunklung der Idee, als Aufhebung des Bildcharakters, oder, was dasselbe ist, als Zusammenfallen von Erkenntnis- und Wirklichkeitsebene. Das Bild wird zum Ausdruck unwirklicher-wirklicher Dämonie des Wahnsinns. Lears
Heilung
und
erneuter
Wahnsinn
Die Heilung von Lears Wahnsinn im engeren Sinne des Wortes erfolgt in der Wiederbegegnung mit Cordelia, die nach Danby Symbol der „Integration" ist91. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf Danbys hervorragende Analyse der Szene IV, 3, 10—3392. Uber Cordelias Reaktion auf den Bericht des Boten heißt es: it seem'd she was a queen Over her passion; who, most rebel-like, Sought to be king o'er her 93 .
Geduld und Sorge halten einander die Waage. Mehr noch, Cordelias Lächeln unter Tränen wird zum sichtbaren Ausdruck ihres eigentlichen Wesens. Damit ist in ihr die phantastische Verfremdung überwunden und die Erscheinung Erscheinung des Wesens. O! then it mov'd her. N o t to a rage; patience and sorrow strove Who should express her goodliest 94 .
Die Gegensätze, wie sie im Lächeln unter Tränen zum Ausdruck kommen, ordnen sich im Wettstreit dem gleichen Ziel unter: sie sind das Gegenteil von Lears Wahnsinn, wie ihn Cordelia selber deutete, als „untun'd and jarring senses". 89 ) Wahnsinnseinbildung (im weitesten Sinne des Wortes) als Perversion einer richtigen Ahnung findet sich immer wieder in den großen Tragödien. Wir verweisen etwa im Othello auf die Mordszene. Othellos Worte: „Be thus ( = sleeping), when thou art dead, And I will kill thee, and love thee a f t e r " (V, 2, 18 f.), sind eine Perversion des Motivs vom Tod als Schlaf, als eigentliches Sein. Ebenso sind Ophelias Wahnsinnsverse: „Let in the maid, that out a maid Never departed more" (IV, 5, 52—53) eine Perversion des Liebestod-Topos als Verwandlung in das eigentliche Sein. Vgl. S. 65. 90 ) Vgl. S. 106 f. 91 ) DANBY, op. cit., p. 133: „Cordelia is Shakespeare's version of singleness and integration." B2 ) op. cit., p. 133—136. •») IV, 3, 14—16. « ) IV, 3, 16—18.
168
Mit der Wiedervereinigung mit Cordelia ist damit auch die Möglichkeit von Lears Heilung gegeben. Der Wiedergeburt voraus geht das Auslösdien seines verabsolutierenden Bewußtseins in die Versenkung des Heilschlafs. Der Schlaf gilt seit der antiken Mythologie als der Bruder des Todes; unsere Hamlet-Interpretation hat im übrigen den Topos vom Tod als Schlaf und Wiedergeburt aufgedeckt 95 . Die Vorstellung von Tod und Gericht klingt in Lears eigenen Worten nach seinem Wiedererwachen an: You do me wrong to take me out o'th'grave; Thou art a soul in bliss; but I am bound Upon a wheel of fire, that mine own tears Do scald like molten lead 96 .
Noch ist Lear in seinen subjektiven Wahnvorstellungen befangen, wenn er Cordelia als „soul in bliss" und „spirit" sieht, sich selber aber in der Hölle auf die Folter des Ixionrades gespannt. Nachdem einmal der Anstoß von außen, von Cordelia, gekommen ist, folgt auf die Wahnstufe eine zweite Stufe des rationalen Zweifels, in dem Lears Ich sich selber frag-würdig erscheint. Es ist dies eine Scheinstufe, die als solche bewußt ist. Where have I been? Where am I? Fair daylight? I know not what to say. I will not swear these are my hands: let's see; I feel this pin prick. Would I were assur'd Of my condition! 97 .
Dieses Stadium der skeptischen Wahrnehmung ist auch bereits beginnende Harmonisierung der Sinnesempfindungen: Auge und Gefühl werden bereits dem einheitlichen Bewußtsein des „my condition" zugeordnet. Der Anstoß zur Überwindung auch dieses Durchgangsstadiums erfolgt wieder von außen durch Cordelia. Auf Cordelias Bitte um seinen Segen sieht er sich zum ersten Mal, wie er wirklich ist, was noch besonders durch den Hinweis auf sein Alter an dieser Stelle unterstrichen I am a very foolish fond old man, Fourscore and upward, not an hour more or less; And to deal plainly, I fear I am not in my perfect mind" 8 . 95
) Vgl. SS. 79, 82 & 107. »•) IV, 7, 45—48. »') IV, 7, 52—57. 169
°s) IV, 7, 60—63.
Er glaubt, die Gesichter zu kennen, die ihn umgeben, aber die U m stände, der unbekannte Ort, die ungewohnten Kleider stehen dem Wiedererkennen im Wege. So k o m m t seine A n t w o r t auf Cordelias Frage: „Sir, do you k n o w me?" 9 9 zögernd: Do not laugh at me; For, as I am a man, I think this lady To be my child Cordelia 1 . H a l t e n wir die wichtigsten Punkte fest. Es ist 1. das „ t h i n k " als reflektierende Denktätigkeit des Ich, das sich 2. im Gegenüber wiedererkennt. Dabei ist die Anerkennung des Vater-Tochter-Verhältnisses von Bedeutung, wenn wir an Lears Verfluchung Cordelias denken, der die Selbstverfremdung Lears im Wahnsinn entsprach. Lears Gesundung bedeutet aber noch nicht die Wiedererlangung seiner Herrschaft. Vielmehr steht die Entscheidungsschlacht zwischen den T r u p p e n Cordelias und denen ihrer Schwestern unmittelbar bevor. Der f ü r Lear und Cordelia ungünstige Ausgang dieser Schlacht leitet über zu den auf den ersten Blick befremdenden Schlußereignissen. N a c h der Gefangennahme weigert sich Lear, Goneril und Regan wiederzusehen. Cord.: Shall we not see these daughters and these sisters? Lear: No, no, no, no! Come, let's away to prison; We two alone will sing like birds i'th'cage: When thou dost ask me blessing, I'll kneel down, And ask of thee forgiveness8. Wir stoßen in diesem Zitat auf das Bild v o m Vogel im K ä f i g . Verfolg der Stelle läßt keinen Zweifel darüber, daß Lear aus der eine Tugend zu machen versucht, daß er sich aus den H ä n d e l n Welt halten und wie der Vogel im K ä f i g nur mehr unbeteiligter schauer sein will.
Der Not der Zu-
. . and hear poor rogues Talk of court news; and we'll talk with them too, Who loses and who wins; who's in, who's out; And take upon 's the mystery of things, As if we were Gods' spies: and we'll wear out, In a wall'd prison, packs and sects of great ones That ebb and flow by th' moon3. " ) I V , 7, 48. Cordelias F r a g e erinnert unwillkürlich an die Gloucesters in der vorhergehenden Wahnsinnsszene. D i e F r a g e nach dem D u ist an die Stelle des früheren „Who am I " L e a r s getreten. IV, 7, 68—7C. *) V , 3, 7—11. ») V , 3, 13—18.
170
Das Gefängnis soll jener berühmte archimedische Punkt sein, von dem aus Lear die Ereignisse in der Welt als Spion Gottes verfolgt (kosmische Ebene), von dem aus er als König über den Händeln der Parteien steht (politische Ebene) und von dem er die „sovereignty of reason" über seine Person (individuelle Ebene) ausübt. Aber auch die Rolle des „gefangenen Zuschauers" bedeutet noch einen Verfremdungszustand, auf den auch das Bild vom Vogel im Käfig, das eine Variante des Topos vom Körper als Gefängnis der Seele4 ist, hinweist. In einer entsprechenden Cymbeline-Stelle wird das Leben im Vogelkäfig eindeutig als unmenschlich und tierisch gekennzeichnet, gegen das sich gerade die eingeborene Königsnatur der beiden entführten Prinzen auflehnt 5 . Eine Reihe von Anklängen an den PolicraticHS macht weiter klar, daß Lears Versuch, den Spion Gottes zu spielen, eine Pervertierung des Zuschauer-Topos darstellt. Im 9. Kapitel des 3. Buches ist von den Tugendhelden die Rede, die im Leben als verrückt gelten, weil sie es verschmähen, die Würde ihrer N a t u r durch das Narrenkleid zu entweihen, und das Spiel der Fortuna verachten, die aber dafür nach dem Tode zusammen mit Gott die Zuschauer des Welttheaters ausmachen: H i sunt qui inter insensatos habentur insani, quia alienae insaniae nolunt esse participes. Et finem sine honore habituri creduntur, quia dignitatem naturae mundani histrionis habitu polluere dedignantur. H i sunt forte qui de alto virtutum culmine theatrum mundi despiciunt, ludumque fortunae contemnentes nullis illecebris impelluntur ad vanitates, et insanias falsas".
Der Leser des König Lear erinnert sich an Gonerils und Regans Schauspielerrolle im Falle der Abdankungsszene, in deren Augen Cordelias Verhalten als „Wahnsinn" erscheinen mußte, er entsinnt sich an die Worte Kents zu Oswald: „. . . and take Vanity the puppet's part against the royalty of her father"', und weiter an Cordelias Verachtung Fortunas 8 und ihr scheinbar so unrühmliches Ende. Von den Weltkindern aber heißt es im Policraticus, daß ihnen Fortuna nach einem erfolgreichen Leben ihre Gunst entzieht und ihr Ende bitter wie Absinth ist: Quantumlibet in viis suis iniqui floreant, et prosperorum concursu inaurentur, eis ad nutum fortuna serviat, subvertet in fine gressus eorum, et tandem amara erit, quasi absinthium 9 . 4 ) Vgl. Hm. II, 2, passim; Tit. I I I , 2, 7—11; John I I I , 3, 17—19; Ant. V, 2, 183 f.; Rich. II, V, 5, passim. 5 ) Cymb. III, 3, 39—44. «) a.a.O. Spalte 493. ') II, 2, 36—37. 8 ) V, 3, 5—6: „For thee, oppressed King, I am cast d o w n ; Myself could else 9 o u t - f r o w n false Fortune's frown." ) a.a.O. Spalte 489.
171
Die Parallelen zu den Erfolgen und dem Ende Edgars und der beiden älteren Schwestern liegen auf der H a n d . Wir erinnern im einzelnen nur an Edmunds „The wheel is come füll circle; I am here" 10 . Uber den Versuch, bereits im Leben aus dem Schauspiel auszubrechen, heißt es weiter im Policraticus in Anlehnung an das biblische Diktum, daß dies so schwer sei wie der Durchgang durch ein Nadelöhr. Unbefleckt entkomme ihm niemand, es sei denn im Erleiden des Todes: Tanta est area ejus ( = comoediae), quantus et orbis. Difficillimum est ut quisquam admittatur exclusus, vel emittatur inclusus, dum carnis gerit luteum indumentum. Eam quippe tanta subtilitate necesse est exui, ut per foramen acus possit sine omni attritione transiri. Alioquin integer nemo egreditur; forte ideo, quia capacem hanc aream ,Styx novies interfusa coercet' 11 .
Lears Rolle als „Vogel im Käfig" und heimlicher Spion Gottes ist der wahnwitzige Versuch, auszubrechen aus der Schauspielrolle, gewissermaßen von der Bühne in den Zuschauerraum überzuwechseln. Auch dieser zweite Versuch Lears, aus der Gefangenschaft auszubrechen (vgl. IV, 6, 204), ist Wahnsinnseinbildung. Wenn man will, kann man auch von einer zweiten Thronabdankung sprechen, wobei die Konsequenzen in mancher Hinsicht noch fataler sind als die der ersten. Er bedeutet nicht nur den Rückfall in eine bloße Schauspielerrolle, diese ist darüber hinaus keine menschliche mehr, sondern eine tierische, wie es das Bild vom Vogel im Käfig andeutet 12 . Lears Lage hier entspricht Hamlets „Bestial oblivion, or some craven scruple Of thinking too precisely in th'event" 13 beim Vorbeimarsch der Truppen des Fortinbras. In beiden Fällen liefert die Feigheit des Menschen, sich dem Leben, dem Schicksal, letztlich dem Tode zu stellen14, ihn gerade den Zufällen der Fortuna und dem geistigen Tode aus. Der Versuch, sich in der Rolle des aktiven Zuschauers zu bewahren, stellt sich gerade als passives Erleiden einer Schauspielerrolle heraus, wie die Ereignisse um Cordelias Tod zeigen. Lears Utopie vom Vogel im Käfig ist eine Art Selbstmord und trägt als solcher auch, wenn wir an das Selbstmordmotiv in Edgars Wahnsinn zurückdenken, die Züge 10
) V, 3, 174. ") a.a.O. Spalte 491. ) Vgl. Cymb. III, 3, 39 ff.: „We are beastly: . . . our cage We make a quire, as doth the prison'd bird, And sing our bondage freely." 13 ) Hm. IV, 4, 40—41; vgl. oben S. 94 f. 14 ) Nicht nur Edgar und Kent, sondern auch der Edmund des Zweikampfes unterscheidet sich vorteilhaft von Lear, was diese Bereitschaft „To all that fortune, death and danger dare" (Hm. IV, 4, 52) anbetrifft. 12
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geistigen Wahnsinns. Von hier aus gesehen erscheint auch noch die vorliegende Szene als eine groteske Verfremdung. Hinter Lears Fiktion vom Vogel im Käfig verbirgt sich die richtige Ahnung von einem idealen Seinszustand, in dem der Mensch nicht mehr als Schauspieler, der eine fremde Rolle spielt, dem Spiel der Zufälle ausgeliefert ist, sondern als unbeteiligter Zuschauer ganz er selber ist15. Von den Folgen her gesehen erweist sich diese Ahnung aber als Wahnsinn in der Vernunft, als „falsa insania" (Policraticus), als grotesk-unheimliche Wesensverfremdung. Gerade der Wettlauf um Cordelias Leben macht deutlich, wie Lear durch seinen fatalen Entschluß erst recht zum Spielball des Zufalls, zum Narren Fortunas wird. So gesehen ist der erneute Ausbruch des Wahnsinns nach Cordelias Tod nur der sichtbare Ausdruck der Entfremdung von seinem idealen Wesen. Das Problem, um das Lears Wahnsinnsklage kreist, ist die Frage nach einem Leben nach dem Tod. Das ist der geheime Sinn von seinen Wahnsinnseinbildungen und -handlungen, den Versuchen mit Feder und Spiegel, seinen Anschuldigungen der Anwesenden als Mörder1'1 und der Vorstellung, Cordelia habe noch einmal geredet17. Es mehren sich im übrigen die Anzeichen, die auf eine Selbstwerdung Lears hinweisen. An erster Stelle ist hier das Wiedererkennen Kents zu nennen. Es ist dies nach der Wiederbegegnung mit Gloucester und Cordelia die dritte große Wiedererkennungsszene. Sie erfolgt bezeichnenderweise im Hinblick auf die Stellung des Menschen der Fortuna gegenüber: If F o r t u n e b r a g of t w o she l o v ' d a n d h a t e d , O n e of them w e behold18.
Lears Willkommgruß läßt die Gedanken des Zuschauers oder Lesers unwillkürlich zurückgehen zu Kents Abschiedsworten im ersten Akt: F r e e d o m l i v e s h e n c e , a n d b a n i s h m e n t is here 1 9 .
Kent wird mit der Freiheit des Menschen in Verbindung gebracht. In der bewußt gespielten Rolle des „servant Caius" bleibt er trotz aller Schläge Fortunas seinem eigenen Wesen treu und wird so zum Sinn1S
) Vgl. S. 168, Fußnote 89.
) V , 3, 2 6 9 — 2 7 0 : „ A plague upon you, murderers, traitors all! I might h a v e s a v ' d her; n o w she's gone for e v e r ! " " ) V, 3, 2 7 1 — 2 7 3 : „ H a ! What is't thou say'st? H e r voice was ever soft, Gentle and low, an excellent thing in w o m a n . " l 8 ) V , 3, 2 8 0 — 2 8 1 ; vgl. audi K e n t s Worte im Block: „ F o r t u n e , good night; smile once m o r e ; turn thy w h e e l ! " (II, 2, 173).
10
") I, 1, 181.
173
bild der Selbstbehauptung des freien Menschen gegenüber dem Schicksal. In die gleiche Richtung von Lears Selbstwerdung weist auch die erneute Belehnung mit der Königswürde wenig später durch Albanien20. Sie deutet auf die Rückgängigmachung der Thronabdankung, auf das Ende des bloß nominellen Königtums. Damit kommen wir zu der Darstellung von Lears Tod. Ausgehend von Albaniens Worten, daß Guten und Bösen ihre gerechte Belohnung, bzw. Strafe werden solle, kreisen Lears Gedanken um das Ärgernis von Cordelias Tod: A n d m y poor fool is hang'd! N o , no, no life! W h y should a dog, a horse, a rat, have life, A n d thou no breath at all? Thou'lt come no more, Never, never, never, never, never! 21 .
Unvermittelt aber schlägt das hoffnungslose fünfmalige „never" in Lears letzte Worte um: D o you see this? Look on her, look, her lips, Look there, look there! 22 .
Sie zeigen Lear als Betrachter in ekstatischer Entrückung, die an den Tod der Väter erinnert, von dem in dem folgenden Zitat aus Castiglione/Hoby die Rede ist. Der Kardinal Bembo beendet seine Rede über die Liebe als kosmisches Prinzip mit einem hymnischen Gebet, in dem es heißt: A n d wee severed f r o m ourselves, m a y bee changed the beloved, a n d a f t e r we be d r a w n f r o m the earth, of the angels, where fed with immortal ambrosia and m a y dye a most happie a n d lively death, as in times of olde time, whose soules with most fervent zeale of hale f r o m the bodie, a n d coupledst them with God 2 3 .
like right lovers into admitted to the feast nectar, in the end we past died the fathers beholding, thou didst
Der Tod der Väter als visionäre Entrückung ist eine Form des Liebes20
) V, 3, 298—300: „for us, we will resign, During the life of this old Majesty, To him our absolute power." 22 ») V, 3, 305—308. ) V, 3, 310—311. 23 ) CASTIGUONE/HOBY, op. cit., p. 322; auf den christlich-platonischen Kontext von Lears Tod weist möglicherweise audi der Verfall seiner äußeren Sinne (V, 3, 279—282) hin, an deren Stelle die Augen des Geistes treten: „And thus in steade of going out of his wit with thought, as he must doe that will consider the bodily beautie, hee may come into his wit, to beholde the beautie that is seene with the eyes of the minde, which then begin to be sharpe and throughly seeing, when the eyes of the bodie lose the floure of their sightlinesse." (op. cit., p. 318).
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tod-Topos, auf den wir als Bild der Selbstwerdung bereits wiederholt gestoßen sind24. Wenn man ein solches Zeugnis neuplatonischen Denkens für die Deutung der Stelle heranzieht, wird Lear von einer Verkörperung der Wahnsinnsverfremdung, deren Ausdrude seine Klage gegen die Sinnlosigkeit des Lebens ist, zum Abbild des Zuschauer-Sehers im Tod, der zu seinem idealen Wesen gefunden hat. Zusammenfassung
Das Problem des Grotesken im König Lear ist in Funktion zum tragischen Geschehen als Selbst- und Weltverfremdung zu sehen, die erst im tragischen Untergang des Helden überwunden wird. Die entscheidenden Stationen auf diesem Weg für das Problem des Grotesken werden bezeichnet durch Lears Verfluchungen seiner Töchter, die Sturmszene, die Wahnsinnsszenen, Lears Entschluß, die Rolle des Vogels im Käfig zu spielen und den erneuten Wahnsinnsausbruch nach dem Tod Cordelias. Ausgelöst wird die Verfremdung durch Lears Thronabdankung und die Verstoßung Cordelias. Beide Dinge, Lears bloß nominelles Königtum ebenso wie seine Unnatur Cordelia gegenüber, stellen eine Entfremdung von seinem idealen Wesen (im Sinne des Piatonismus) dar, wie denn auch bereits in der Thronabdankungsszene die Motive von Lears Narrentum und Wahnsinn als Bilder der Verfremdung auftaudien. Dämonische Züge nimmt die Verfremdung zum ersten Mal an in Lears Verfluchung Gonerils. Die Verfluchung ist in ihrer Maßlosigkeit ungeheuerlich. Lear erscheint in ihr weniger als menschliches Wesen denn als Verkörperung dämonischer Magie, deren Sprachrohr und Opfer er in einer Person ist. Lears Bedrohung seiner „alten törichten Augen" bei dem Streit mit Goneril25 zeigt die Gefahr des physischen Wahnsinns als Auflösung der Person und Rebellion der verselbständigten Augen. Im Verlaufe des 2. Aktes kommt es wohl gelegentlich zu Szenen, die auf der Grenze zum Grotesken liegen26, zu wirklich grotesker 24) VYVYAN (Rose of Love p. 158 f.) meint, Shakespeare führe seine Liebenden nur bis „an die Pforte der Erkenntnis ihrer geistigen Identität", es komme hingegen nicht zu dem Höhepunkt etwa einer mystischen Vision. Genau das aber scheint mir Lears Tod zu sein, wie ich generell den Liebestod-Topos in Shakespeares Tragödien als Bild für die endgültige Vereinigung der Liebenden verstehe. » ) I, 4, 310 ff. ) Nidit geheuer sind dem Zuschauer solche Worte wie die folgenden: „bid them come forth and hear me, Or at their chamber-door H l beat the drum Till it cry 26
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Verfremdung führt aber erst die Sturmszene III, 2. Lears Situation ist gekennzeichnet als theatralische Rolle, die als Fiktion zur Einbruchsstelle dämonischer Elementarmächte in die Welt des Menschlichen wird. Lear wird in der Rolle des Zauberers, der den Sturm in der äußeren Natur entfesselt, zur Inkarnation und zum Sklaven der „eyeless rage". Bei der Begegnung mit Edgar in der Rolle des „poor Tom" auf der Heide versinkt Lear in den Wahnsinn. Dabei zeigt der Kontrast zu dem gespielten Wahnsinn Edgars das Groteske als Verdunklung des Bildcharakters, als Zusammenfall von Erkenntnis- und Seinsebene, der unheimlich wirkt. Edgars gespielte Rolle erkennt der Zuschauer als Abbild dämonischer Besessenheit. Auf diesem Hintergrund erscheint dagegen der wahnsinnige Lear als Verkörperung solcher Besessenheit. Ob es um die Fiktion geht, die in Edgar einen zweiten Lear sieht, oder um das lächerliche Schauspiel, daß Lear sich die Kleider vom Leibe reißt, weil er in Edgars nackter Tiernatur das Wesen des Menschen sieht, ob um das Scheingericht oder die fiktiven Hunde, die ihn anbellen, immer spielt Lear eine fiktive Rolle, bei der er zur Verkörperung seiner Einbildungen wird und zum Opfer einer dämonischen Macht in ihm. Den Höhepunkt des Grotesken in König Lear bildet die 6. Szene des 4. Aktes, in der sowohl Lear als auch Gloucester in dämonischer Verfremdung erscheinen. Dabei deckt Edgars Schilderung des Teufels nach dem mißglückten Selbstmordversuch seines Vaters deutlicher als irgendeine andere Groteskszene den Bezug zur mittelalterlich-allegorischen Form der Verfremdung auf. Die Verzweiflung erscheint als Wahnsinnsbesessenheit, „poor Toms" Reden und Gegenwart aber als teuflische Versuchung. Für Lears Wahnsinn kennzeichnend in dieser Szene ist hingegen das Zusammenfallen von Wahnsinn und Erkenntnis der sog. Realität, die aber im Sinne des Piatonismus Unwirklichkeit ist. Stark ins Unheimlich-Lächerliche spielt die Szene vor allem zu Beginn und zum Schluß, wo der dämonische Verfremdungscharakter an Lears Schauspielrolle besonders zur Geltung kommt. Wenn das Wiedersehen mit Cordelia auch das Ende von Lears physischem Wahnsinn bringt, so bedeutet das nicht, daß damit auch das, was man seinen geistigen Wahnsinn nennen könnte, aufgehört hat. Gerade die Utopie, nicht den Schauspieler, sondern den Zuschauer sleep to death" (II, 4, 117 ff.), oder Lears lächerlich-unheimliche Androhung der „terrors of the earth" (II, 4, 2 8 0 — 2 8 4 ) .
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des Lebens spielen zu wollen, stellt sich als Wahnsinnsverfremdung heraus, die im Hinblick auf ihre Folgen Dämonie des Unwirklichen ist. Sie liefert Lear und Cordelia erst recht der Willkür eines blinden Schicksals aus, das Lear in dem erneut ausbrechenden Wahnsinn der Schlußszenen mit dem Absurden gleichsetzt. Andererseits ist auch dieser Wahnsinn nicht nur Bild des Sinnlosen, sondern wird in zunehmendem Maße zur Ahnung eines Bleibenden nach dem physischen Tod. Wie in den anderen Tragödien auch erscheint gerade von der Topik her der tragische Untergang Lears als Uberwindung der Verfremdung und endliche Selbstwerdung.
D. Die
B e g e g n u n g
mit
den
Macbeth H e x e n
Unter Shakespeares großen Tragödien nimmt Macbeth durch die Rahmenhandlung der Hexenszenen eine Sonderstellung ein. Durch die Rahmenhandlung erscheinen die Ereignisse nicht einfach als Taten der Protagonisten und als logische Folgen ihrer Handlungen und Leidenschaften, vielmehr wird das Bild dadurch kompliziert, daß mit den Hexen und ihren Prophezeiungen eine übermenschlich-dämonische Welt in die natürliche Welt hineinragt, zeitweilig sogar bestimmend wird. Seit Coleridge ist es üblich geworden, die Bedeutung der Eingangsszene vor allem im Stimmungsmäßigen zu sehen. Diese Funktion soll auch keineswegs in Abrede gestellt werden. Andererseits darf darüber aber nicht übersehen werden, d a ß das Auftreten der Hexen vor dem Auftreten irgendwelcher anderer Personen nicht zuletzt auf ihr Wesen als objektive Realitäten und damit auf die Realität einer Welt der Dämonen abzielt. In diesem Zusammenhang ist weiter wichtig, daß in der 3. Szene des gleichen Aktes nicht nur Macbeth die Hexen sieht und hört, sondern Banquo ebenfalls. M. a. W. wichtiger als die Streitfrage, ob die Hexen menschliche Wesen oder bloß dämonische Erscheinungen sind, ist die Tatsache, daß die Welt der Dämonen, die in jedem Falle hinter den Hexen steht, eine Realität ist, daß an ihrem Zauber etwas dran ist. The We'frd Sisters, hand in hand, Posters of the sea and land, Thus do go about, about: Thrice to thine, and thrice to mine, 12 Lengeier, Tragische Wirklichkeit
And thrice again, to make up nine. Peace! — the charm's wound up".
Die Realität von Teufel und Dämonen bedeutet andererseits aber nicht, daß damit die menschliche Freiheit aufgehoben wäre, daß Macbeth und Lady Macbeth zu Bösewichtern aus Notwendigkeit würden. Trotz der Realität des Hexenzaubers ist Shakespeares Macbeth keine bloße Schicksalstragödie. Damit das Böse in der Welt des Menschen bestimmend werden kann, braucht es nach dem Glauben der Zeit unbedingt die Einwilligung des Individuums. Wenn also der Zuschauer sich etwa dem Paradox gegenübergestellt sieht, daß Macbeth als Bezwinger des Rebellen Cawdor in seiner nachmaligen Eigenschaft als Thane of Cawdor selber zum Rebellen wird, so liegt darin keine fatalistische Notwendigkeit. Wohl aber enthüllt sich das Böse als überpersönliche unheimliche Realität, die nicht mit dem Tode eines Verbrechers ausgerottet wird. Kennzeichnend für die Hexen in der Beschreibung Banquos ist ihre Widernatur, die in ihrer widersprüchlichen Erscheinung ebenso wie in der Vieldeutigkeit ihrer Prophezeiungen zum Ausdruck kommt. Ihr Aussehen ist unirdisch28, obwohl sie auf der Erde leben, sie haben Körper und lösen sich doch wie Schaumblasen in Luft auP". Sie sehen wie Frauen aus und tragen doch Barte 30 . Banquos Frage an sie berührt den entscheidenden Punkt: I' th' name of truth, Are ye fantastical, or that indeed Which outwardly ye show31?
Dabei fällt auf, daß Banquo das Phantastische nicht mit dem Nichts gleichsetzt. Das Phantastische erscheint vielmehr im Gegensatz zu jener Form der Realität, bei der die Erscheinung das Wesen spiegelt. " ) I, 3, 32—37. ) What are these, So wither'd and so wild in their attire, That look not like th'inhabitants o'th'earth, And yet are on't? I, 3, 39—42.
IS
*•) Whither are they vanish'd? Into the air; and what seem'd corporal, Melted as breath into the wind. I, 3, 80—82. 30 ) Vgl. I, 3, 45—47. Dieser Hinweis auf die Bärte kennzeichnet die Erscheinungen als Hexen. Für eine Untersudiung über das Groteske ist aber mit dieser Feststellung noch nichts gewonnen. Erst eine genauere Analyse ihrer Erscheinung und Wirkung enthüllt ihr Wesen als groteske Verfremdung. 31 ) I, 3, 52—54.
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Audi das Phantastische ist damit eine Realität. Nach Scot ist es sogar die bestimmte Seinsweise des Magischen: these prestigious things, which are w r o u g h t by witches are f a n t a s t i c a l ? 2 .
Kennzeichnend für die Realität des Phantastisch-Magischen ist die widersprüchliche Doppelnatur und Vieldeutigkeit, letztlich das Auseinanderklaffen von Erscheinung und Wesen. Unnatürlich wie das Wesen der Hexen erscheint auch die Wirkung ihrer Worte auf Macbeth: G o o d Sir, w h y do you start, and seem to fear Things that do sound so fair 3 3 ?
D a s Angenehme ist zugleich das Furchterregende. Darüber hinaus geht im Augenblick Macbeths Zurückschrecken H a n d in H a n d mit einem Sich-Verlieren an das Gehörte: M y noble partner Y o u greet with present grace, a n d great prediction O f noble having, a n d of royal hope, T h a t he seems r a p t withal 3 4 .
Während Banquo, auch nachdem die Hexen ihn als Ahnherrn einer Königsfamilie gepriesen haben, keinen Augenblick seinen nüchternen K o p f verliert, überläßt sich Macbeth zeitweilig seinen Träumen und damit den Einflüsterungen dämonischer Mächte. Denn der Zustand der „Verrückung" ist ein rein passiver Zustand, bei dem die gegen die Einflüsse der Außenwelt abschirmende Tätigkeit der Vernunft ausgeschaltet ist. Den zeitgenössischen Theorien zufolge aber bietet gerade die Ausschaltung der Vernunft, sei es im Schlaf, im Wachtraum oder auch durch Krankheit, das willkommene Einfallstor für die Tätigkeit der Dämonen. Damit kommen wir auch dem Problem von der Realität menschlicher Vorstellungen näher, von dem wir ja wissen, daß es eines der öffentlichen Diskussionsthemata am H o f e J a k o b s I. war. Es scheint unter diesen Umständen keineswegs abwegig, mit Henry N . Paul anzunehmen, daß Shakespeare davon wußte 35 . Wie dem auch sei, feststeht, daß gerade dieses Problem Shakespeare in den großen Tragödien immer wieder beschäftigt hat. ; ' 2 ) REGINALD SCOT, The Discoverie of Witchcraft, ed. Montague Summers, o. O. 1930, Bk. III, chap. X V I I I , p. 39. 33 ) I, 3, 51—52. 3