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German Pages 242 Year 2018
Linn Settimi Plädoyer für das Tragische
Theater | Band 118
Linn Settimi, geb. 1987, arbeitet in Deutschland als Dramaturgin im Sprechund Tanztheater. Die Schülerin von Günther Heeg und Maria Carolina Foi promovierte an den Universitäten Leipzig und Udine im Rahmen eines binationalen Promotionsverfahrens.
Linn Settimi
Plädoyer für das Tragische Chor- und Weiblichkeitsfiguren bei Einar Schleef
Mit freundlicher Unterstützung der FAZIT - STIFTUNG Die vorliegende Dissertation ist im Rahmen eines binationalen Promotionsverfahrens zwischen den Universitäten Udine und Leipzig entstanden. Betreuer waren Frau Prof. Dr. Maria Carolina Foi und Herr Prof. Dr. Günther Heeg. Begutachtet wurde die Dissertation von Frau Prof. Dr. Nicole Haitzinger (Salzburg) und Herrn Prof. Dr. Günther Heeg (Leipzig) und wurde von der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften der Universität Leipzig angenommen. Die Verteidigung erfolgte am 10.11.2017.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: »Ein Sportstück« (Premiere am Burgtheater Wien 1998), © Andreas Pohlmann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4630-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4630-0 https://doi.org/10.14361/9783839446300 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhaltsverzeichnis
Einführung | 7 Schleef über Schleef | 13
Jugend in der DDR. Die ersten Bildungsjahre | 14 Das Team Tragelehn/Schleef am BE und das Theater des Skandals | 28 Entwicklungsgeschichte der Chorfigur im Überblick | 39
Aspekte der chorischen Ursprünge der Tragödie | 40 Neuentdeckung der Antike im 18. und 19. Jahrhundert | 46 Einblick in die Theaterpraxis des frühen 20. Jahrhunderts | 51 Von der Nachkriegszeit bis in die 70er Jahre | 57 Schleefs Chortheorien und szenische Umsetzung der Chorgestalt | 61
Das Phänomen Schleef und sein chorisches Theater des Skandals | 61 Schleef über antiken Chor und dessen Fortführung im Drama | 66 Der Konflikt zwischen Individuum und Gemeinschaft | 73 Schleefs Deutung einer gescheiterten chorischen Linie in der deutschen Dramengeschichte | 79 Schleef inszeniert: Versuche der Neubelebung des chorischen Potentials | 87 Die notwendige Wiederherstellung von Chor und Weiblichkeit | 94 Konzept des Weiblichen und Weiblichkeitsfiguren auf der Bühne | 97
Die Ausstoßung der Frau als Todesurteil der Tragödie | 97 Frauenbilder in der Geschichte der deutschen Dramatik: Ein Reservat des Weiblichen | 102 Aufschrei aus dem Reservat | 108 Weiblichkeitskonstruktionen und Genderperformance bei Schleef | 114 Beispiele weiblicher Figuren in der schleefschen Bühnenpraxis | 116
Ein Sportstück. Versuch einer scheiternden Utopie | 143
Jelineks Stück als freie Arbeitsfläche für die Inszenierung | 143 Jenseits der Handlung zu post-protagonistischen Figuren | 145 Schleefs szenische Umsetzung des Sportstücks | 166 Fazit | 183 Schlussbemerkung | 187 Literaturverzeichnis | 191 Anmerkungen | 203
Einführung
Dass neben dem Chor – unbestreitbarer Protagonist seines Theaters – ein zweites Subjekt im Mittelpunkt der Theaterarbeit Einar Schleefs steht, ist inzwischen weitgehend anerkannt. Das Thema der Weiblichkeit in seinen verschiedenen Deutungsebenen und Ausdrucksmöglichkeiten beschäftigte den umstrittenen Regisseur aus Sangerhausen in jeder Phase seines künstlerischen Schaffens. Angefangen mit der privaten Erfahrung der weiblichen Sphäre, die bereits als Kind seine Wahrnehmung von Geschlechterverhältnissen prägte und ihn zum Nachdenken über die allgemein verbreitete Vorstellung der Frauengestalt und Frauenrolle in der Gesellschaft anregte, wurde die Auseinandersetzung mit dem weiblichen Schicksal zu einem Schwerpunkt seiner Reflexionen. Ob im Bereich der bildenden Kunst mit seinen Bildern und Fotoreihen, im Prosawerk oder in der Theatertätigkeit, wandte sich Einar Schleef immer wieder der Beobachtung, Reproduktion und Gestaltung von unterdrückten und rebellierenden, harschen oder fast karikaturartig lieblichen Frauenfiguren zu. Auch dort, wo er in seinen Inszenierungen selbstbewusste Weiblichkeitsbilder auftreten ließ, kam er nicht umhin, deren Kehrseite in Form von stereotypischen Putzfrauen einzubauen, die an die unterschwellig andauernde Rolle des weiblichen Subjekts innerhalb einer patriarchalischen Welt erinnern sollten. Im Zustand der Ausstoßung von einer männlichen, sich individualisieren wollenden Gesellschaft kommen sich Chor- und Weiblichkeitsfigur nahe, sodass Schleef den Verlust eines tragischen Bewusstseins auf der europäischen Bühne der Verdrängung dieser zwei fundamentalen Komponenten zuschrieb. Somit formulierte er auch eine wichtige Zielsetzung seines theaterpraktischen Engagements, die in der Rückführung der Frau in den zentralen Konflikt lag. Zu diesem Thema existieren bereits einige wertvolle Beiträge, die dennoch immer nur auf eine bestimmte Inszenierung tiefgründiger eingehen, ohne sämtliche Regiekonzeptionen Schleefs zu berücksichtigen bzw. ohne die Verknüpfung von weiblichen und chorischen Elementen zu ergründen. Bis heute ist keine aus-
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führliche, systematische Arbeit vorhanden, die sich mit Schleefs Umgang mit dem Weiblichen als solchem auseinandersetzt und die Theaterpraxis angesichts seiner theatertheoretischen Aussagen betrachtet. Aus diesem Grund scheint eine gründliche Untersuchung erforderlich, die sich das Ziel setzt, Schleefs Theorien über das Weibliche, die praktischszenische Umsetzung dieser Theorien und Vorstellungen und das Gelingen bzw. Misslingen der erwünschten Wiedereinführung zu erforschen und hervorzuheben. Es wird sich zeigen, dass das Weibliche kein gelegentliches Element, sondern grundlegendes Kennzeichen seines gesamten Schaffens darstellt. Mit der vorliegenden Arbeit wird zwar nicht das Gesamtwerk Einar Schleefs analysiert, doch soll am Beispiel einiger bedeutungsvoller Inszenierungen seiner sehr umfangreichen Produktion das Leitmotiv hervorgehoben werden, das sich aus den eben erwähnten Themen des verschütteten Chores und dessen Konfrontation mit dem Individuum und der verbannten Frauenfigur zusammensetzt. Dabei wird sich der Vorschlag bzw. die Provokation einer gesellschaftlichen Utopie entpuppen, die sich hinter der reinen Theaterästhetik verbirgt und eine Umkehrung der bestehenden Machtverhältnisse anstrebt. Demnach werden wiederum die bei der Durchsetzung derselben Utopie aufkommenden Schwierigkeiten hervorgehoben und die Konsequenzen geschildert, die Schleef daraus zog. Ausgangspunkt war Schleefs Essay Droge Faust Parsifal, in dem er über 600 Seiten hinweg seine Ideen zu Theatergeschichte und Theaterpraxis erläutert und zwar rückblickend auf die durch die eigene Inszenierungsarbeit gesammelte Erfahrung. Dieser Text wird als retrospektives Manifest der Theaterästhetik Schleefs verstanden, der sich bereits als junger Regisseur mit den Themen von Gemeinschaft, Kollektivität und Geschlechterkämpfe auseinandersetzte und in einer fortgeschrittenen Phase seiner Karriere die vielen Anregungen und Überlegungen systematisierte – auch wenn auf eine ganz persönliche, nicht streng wissenschaftliche Art. Die Untersuchung von weiteren direkten Quellen hat sich hinsichtlich eines tiefgehenden Verständnisses einiger Elemente des schleefschen Kanons auch als sehr aufschlussreich und zum Teil unentbehrlich erwiesen – dazu gehören die fünf Tagebuchbände, der zweibändige Briefwechsel mit der Mutter Gertrud und der gleichnamige Roman, in dem die Biographie dieser Frau zu einem Epos des DDR-Alltagslebens entwickelt wird. Von großer Bedeutung war außerdem die Forschungstätigkeit im Archiv der Akademie der Künste in Berlin, wo sich der gesamte Nachlass des schleefschen Werkes befindet: Das Schleef Archiv umfasst Notizen, Vorzeichnungen, Entwürfe, Briefwechsel, Manuskripte, Regiebücher, dramaturgisches Material,
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Sammlung von Kritiken und Rezensionen zu seinem künstlerischen, literarischen und theatralischen Schaffen und natürlich Videoaufzeichnungen von all seinen Aufführungen. Auf der Basis dieses Materials konnten die verschiedenen Phasen der Vorbereitungsarbeit und das Endergebnis der in Betracht gezogenen Inszenierungen verfolgt und rekonstruiert werden. Die Konsultierung des Archiv-Bestandes hat sich ebenfalls als besonders interessant erwiesen, da es einen direkten Einblick in den Arbeitsprozess Schleefs ermöglichte und einen relevanten Schlüssel für die Deutung und die Interpretation seiner nicht immer unmittelbar verständlichen Theaterästhetik bietet. Es konnten außerdem die vielen Anregungen und Assoziationen aufgerufen werden, denen sich Schleef für die Schichtung der Bedeutungsebenen bediente, und die Methodik seiner „archäologischen Lektüre“ entziffert werden, die auf der beinahe philologischen Rekonstruktion der Textvorlagen und dem Vergleich der verschiedenen Fassungen basiert. Im Rahmen der Analyse der Puntila-Inszenierung wurde auch im BrechtArchiv recherchiert – ebenfalls Bestand der AdK –, um die unterschiedlichen Fassungen des Brechtschen Stückes zu konfrontieren und Schleefs Montagearbeit genauer erläutern zu können. Der wichtigsten, bis jetzt zum Werk Schleefs erschienenen Sekundärliteratur wurde natürlich ebenfalls große Aufmerksamkeit gewidmet, und im Laufe der Abhandlung wird sich die Stellungnahme zu den jeweiligen Beiträgen ergeben. Hinsichtlich der Person Einar Schleef wurde ein einführendes Kapitel für sinnvoll gehalten, das einen Einblick in seine private, biographische Sphäre bietet, die einen außergewöhnlichen Einfluss auf das umfangreiche Werk dieses so eklektischen Künstlers ausübte. Das gesamte künstlerische Schaffen Schleefs – von seinen Bildern über die Photographien, von den Prosaschriften bis zu den Theaterinszenierungen, die Kern dieser Untersuchung sein werden – kann als eine Aufarbeitung der Eindrücke betrachtet werden, die sich bereits in jungen Jahren in sein Gedächtnis einprägten, seine Wahrnehmung der gesellschaftlichpolitischen Zustände determinierten und wie ein roter Faden durch seine Poetik strömen. Der Exkurs wird in thematische Felder gegliedert, um bestimmte Ereignisse ans Licht zu bringen, die sich für Schleefs Theaterästhetik als ausschlaggebend herausstellen. Dazu gehören das Erleben eines zensierenden Ambientes, die seine Schuljahre in der DDR kennzeichnete, das Beobachten von politischen Unruhen und in Gewalt ausbrechenden Demonstrationen, die langwierige Bewerbung an der Hochschule und die ersten Schritte in der Welt des Theaters in Zusammenarbeit mit B. K. Tragelehn, an dessen Seite Schleef in die ersten Skandale
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verwickelt wurde, die zum größten Teil seine Tätigkeit als Regisseur kennzeichneten. Alle Ereignisse werden aus Schleefs persönlicher Wahrnehmung geschildert. Es soll also nicht verwundern, wenn die beschriebene sozialpolitische Lage der DDR etwas monochrom erscheint und nicht den aktuellsten historischen Rekonstruktionen entspricht. Diese ermöglichten erst nach der Wende, besonders nach der Freigabe der Stasi-Archive, einen breitgefächerten Einblick in bis dahin verborgene Hintergründe, Geschehnisse, Details, wodurch einige Freiheitsnischen erkennbar werden, die aus Schleefs Erinnerungen nicht hervorgehen. Ein weiteres Kapitel rekonstruiert kurz der Entwicklungsgeschichte der Figur des Chores auf dem Theater, dessen Schicksal eine zentrale Position in der Tragödienkonzeption Schleefs einnimmt. Der erste Teil des Kapitels konzentriert sich auf die Chorgestalt als fundierendes Element im Rahmen der Entstehung der antiken Tragödie und analysiert die verschiedenen Funktionen, die dem Chor je nach Bedarf zugeschrieben werden konnten. Danach wird auf die ersten Anzeichen eines Marginalisierungsprozesses dieser kollektiven Figur aufmerksam gemacht, auf die sich Schleef in seinen theoretischen Überlegungen mehrmals fokussierte. Daraus wird die von Schleef geschilderte Notwendigkeit einer Neubelebung der Chorfigur nachvollziehbar, deren Überleben in der modernen Dramengeschichte er nur als Andeutung oder schwachen Nachhall erkennt und in der Theaterpraxis als komplett verlorengegangen schildert. Daraufhin werden stichwortartig einige bedeutende Beispiele von Annäherungsversuchen an das chorische Element erläutert, die auf verschiedene Weise von der Weimarer Klassik bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts reichten und besonders im Zeitalter der Massifizierung antithetische Auswirkungen verursachten. Zum Schluss wird auf die Theaterlandschaft des NachkriegsDeutschlands bis in die 70er Jahre angedeutet, um das Phänomen Schleef genauer zu kontextualisieren und den Weg für die hermeneutische Deutung seines Schaffens vorzubereiten. Der eigentliche Kern betrifft die Kapitel drei bis fünf, in denen Schleefs Tragödientheorie erläutert wird – die er in untrennbarer Verbindung zu dem Umgang mit Chor- und Weiblichkeitselement formuliert – und in Hinblick auf dieselbe Theorie seine theaterpraktische Arbeit am Beispiel der folgenden Inszenierungen hinterfragt wird: Mütter, Vor Sonnenaufgang, Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand dramatisiert, Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil, Herr Puntila und sein Knecht Matti und Ein Sportstück. Im dritten Kapitel werden Schleefs Reflexionen untersucht zum Chor in der Antike und zu der z. T. bis heute anhaltenden Verdrängung dieses dem Drama sowie jeder Gesellschaft innewohnenden Subjekts. Es soll gezeigt werden, wel-
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che Eigenschaften Schleef als diese verborgene Kollektivität kennzeichnend definiert und wie das konfliktgeladene Verhältnis von Individuum und Chormasse zu der Entfernung der letzteren führt, von dem, was er das Zentrum des Konflikts nennt. Von der Beobachtung dieser ausstoßenden Dynamik, der Schleef eine politische Deutung zuschreibt, entsteht die Absicht, die Chorgestalt wieder aufzugreifen und ihr eine neue szenische Form zu erteilen. Obwohl Schleef sich in jeder seiner Inszenierungen mit der Chorthematik auseinandersetzte, musste hier eine Auswahl von Stücken getroffen werden, die neben diesem Aspekt auch das zweite große verdrängte Subjekt der Dramengeschichte am deutlichsten thematisieren: Das Weibliche. Um die beiden Aspekte dennoch erst einmal separat zu analysieren, wird zuerst auf den Umgang mit Chor und Choralisierung hingedeutet, um der Inszenierungslektüre der ausgewählten Stücke dann eine weitere Perspektive beizufügen. Diese wird im vierten Kapitel deutlich, wo das Konzept des Weiblichen sowie der Umgang mit der Frauenfigur auf der Bühne behandelt wird. Ausgehend von Schleefs apokalyptischer Ansicht über die europäische Theatertradition, die mit der Ausstoßung von Chor und Frau das Todesurteil der Tragödie gefällt hätte, wird der Vorstellung eines Reservats des Weiblichen nachgegangen, worin die Frauenfiguren der deutschen Dramatik verweilen würden, mit zwei Ausnahmen: Grete und Kundry, in denen Schleef einen stärkeren Trieb zur Rebellion sieht. Ähnlich wie im vorhergehenden Kapitel wird zuerst die Untersuchung der theoretischen Ebene ergriffen, um dann die theaterpraktische zu ergründen. Es wird also erforscht, wie Schleef seine weiblichen Figuren konstruiert und dabei versucht, der eigenen Aufforderung, die Frau wieder in den zentralen Konflikt der Tragödie zu positionieren, mehr oder weniger erfolgreich nachzugehen – und dabei vielleicht sogar einen ganz neuen Raum für das weibliche Auftreten und Existieren schafft. Der Inszenierung von Ein Sportstück wurde ein ganzes Kapitel gewidmet, da sich an dieser Arbeit am besten zeigen lässt, wie Schleef die zwei Komponenten – Chor und Frau –, die er als grundlegend für das Weiterbestehen der TragödienGattung an sich bezeichnet, zusammenführt. Elfriede Jelinek hat das Stück so gestaltet, um dem Regisseur eine große Freiheit zu überlassen und scheint es beinahe auf Schleefs Bedürfnisse zugeschnitten zu haben –, der mit dieser Inszenierung die wesentlichsten Aspekte seiner Theatertheorie exemplarisch aufarbeiten kann. Angefangen mit einer detaillierten Analyse der Textvorlage – und des intertextuellen Substrats – werden die Elemente unterstrichen, die beide Künstler auf einer theoretisch- philosophischen Ebene so stark verbinden, dass Sportstück als eine direkte Antwort auf Schleefs Droge Faust Parsifal verstanden werden kann
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– eine Grundfläche, um den dort zusammengetragenen Ideen eine konkrete Form auf der Bühne geben zu können. Es wird also erneut auf die Theaterpraxis Schleefs eingegangen, um zu schildern, wie er das Textmaterial zu seinen Gunsten aufgreift und einen Triumph von weiblichen und chorischen Figuren darstellt. Die Fragestellung soll die effektive Verwirklichung der besonders in seiner essayistischen Schrift – die sowohl Zusammenfassung der geleisteten Arbeit und Memorandum für die noch vorstehende ist – formulierten Theorien erörtern. • Ist es Schleef mit seinen theaterpraktischen Entwürfen gelungen, den so lei-
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denschaftlich verfochtenen Figuren von Chor und Frau eine neue Rolle im zentralen Konflikt der Tragödie zuzuweisen und in welcher Form? Konnte er einen Vorschlag für einen Existenzraum dieser zwei Subjekte durchsetzen, der nicht mehr im Konflikt, sondern in Einklang oder Kooperation mit dem männlichen Individuum besteht, welches für deren Verdrängung verantwortlich war? Oder kann die ersehnte Wiedereinführung nur auf gewalttätige Art erfolgen, also zwar eine andere Herrschaft erzeugen, die sich dennoch von der früheren substanziell nicht differenziert? Wie spiegeln sich die erworbenen Erkenntnisse in der Theaterästhetik Schleefs wider? Und zum Schluss, kann den patriarchalisch dominierten Machtverhältnissen eine matriarchalische gewaltlose Alternative entgegengestellt werden oder muss eine solche Art von Gesellschaft reine Utopie bleiben?
Schleef über Schleef
Einar Schleef war ein kontroverser Künstler, dessen Werk, noch weniger als in anderen Fällen, von der Person getrennt werden kann. Wenn es bei anderen Autoren möglich ist, von der Biographie abzusehen, erscheint es im Falle Schleefs unausweichlich, mehr über sein privates Leben erfahren zu müssen, um auch das Werk tiefgründiger zu verstehen. Erfahrungen und Eindrücke aus Kindheit und Jugend in der DDR fließen immer wieder in seine Zeichnungen, Texte und Inszenierungen ein, beeinflussen Poetik und Weltanschauung. Wie sich aus den Seiten seiner detaillierten Tagebücher entnehmen lässt, legte er großen Wert auf Erinnerungen. Bereits als Kind und bis zum Ende seines Lebens notierte er Fakten, Anekdoten, Gedanken und Eindrücke. Er selber widmete sich der Umschreibung des umfangreichen Materials, überarbeitete mehrmals einige von ihm für wichtig gehaltene Passagen, indem er mit der Sprache spielte, um jedes Mal den Blickwinkel etwas zu ändern. Die fünf, jeweils über 400 Seiten starken Tagebuch-Bände ermöglichen es dem Leser, nicht nur viel über wesentliche Lebensereignisse Schleefs zu erfahren, sondern auch in die sozialpolitische Realität des DDR-Alltags einzutauchen, sowie einen Einblick in die verschiedenen Lebens- und Arbeitsbedingungen in Ost- und Westdeutschland und in die Beziehungen zwischen den beiden Republiken zu gewinnen. Dies vor Augen, soll im biographischen Exkurs viel autobiographisches Material zu Wort kommen – als würde Schleef sich selbst „zusammenfassen“ und einen ausführlichen Hintergrund seines persönlichen wie künstlerischen Werdegangs skizzieren. Neben den Tagebüchern1 wurde besonders die chronologische Biographie von Wolfgang Behrens2 berücksichtigt, wo die wichtigsten Phasen von Schleefs Leben und künstlerischen Schöpfung zurückverfolgt werden. Unter den Quellen, auf die Behrens zurückgegriffen hat sind die Interviews mit Schleefs langjähriger Lebensgefährtin Gabriele Gerecke und mit Hans-Ulrich Müller-Schwefe, der dramaturgisch sehr eng mit Schleef zusammenarbeitete, von großer Relevanz.
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JUGEND IN DER DDR: DIE ERSTEN BILDUNGSJAHRE Einar Schleef wurde am 17. Januar 1944 in Sangerhausen geboren, im südwestlichen Teil von Sachsen-Anhalt an der Grenze zu Thüringen. Er fing schon sehr früh an, Tagebuch zu führen, um Ereignisse und Gedanken festzuhalten und diese später mehrmals wiederaufzuarbeiten, indem er bestimmte Eindrücke und Episoden in seine meist stark autobiographisch konnotierten Werke einbaute. Bereits als Kind war ihm das Thema Meinungsfreiheit bewusst, und in Hinsicht auf die Einschränkungen einer „Planungsliteratur“3 fühlte er sich dem Druck ausgesetzt, seine Tagebücher vor eindringlichen Angriffen zu schützen und von den strengen Kontrollverfahren verschont zu bleiben. In der DDR war die Veröffentlichung von Literatur alles andere als selbstverständlich, denn die Erscheinungsgeschichte eines Werkes wurde sehr streng von den Institutionen kontrolliert und erst nach langwierigen Überprüfungen für den Druck genehmigt. Genauso wurden die Lektüren für die Schüler sehr streng festgelegt. Im Jahre 1951 wurde anlässlich der 5. Tagung des Zentralkomitees der SED spezifisch die „kulturelle Entwicklung der jungen DDR“ 4 in den Mittelpunkt gestellt. Mit besonderer Wucht griff die Partei den Formalismus in der bildenden Kunst sowie in der Literatur an. Dieser wurde „als Zersetzung und Zerstörung der Kunst selbst“5 empfunden, und alle weiteren innovativ erscheinenden Tendenzen im Bereich der Kunst, wurden nicht gut aufgenommen und wenn möglich unterdrückt. So wurden im Unterricht Autoren der „modernen Weltliteratur“ – wie Kafka, Joyce oder Proust nicht betrachtet, während der sogenannte „sozialistische Realismus“ zur maßgeblichen Richtlinie erhoben wurde. Dem sozialistischen Realismus sollten sich sowohl die Künstler in ihrem schöpferischen Prozess anpassen, als auch die Lehrer in der hermeneutischen Untersuchung der für die Schulklassen ausgesuchten Lektüren. Wie auch aus Schleefs Erinnerungen hervorgeht, wurden im Literaturunterricht die wichtigsten Bezugsautoren der deutschen Literaturgeschichte bevorzugt, da die „bürgerliche Kultur von der Renaissance über die deutsche Klassik bis ins 19. Jahrhundert hinein vom Geist der unermüdlichen Tätigkeit, des Fleißes, der Industriosität“ 6 geprägt zu sein erschien. In diesem Klima von intellektueller Überwachung und Repression, in dem „Bücher eingestampft, Theateraufführungen abgesetzt und Wandbilder übermalt (wurden)“7, wuchsen die Kinder in der DDR auf, und Schleef wusste sich nicht nur in der Öffentlichkeit kontrolliert, in der Schule, wo Lehrer ungeeignetes Material hätten zensieren können, sondern auch zu Hause. Hier musste er die Papiere vor seinem Vater verstecken, der „ständig auf der Suche nach dem Verbotenen“ (TB1/7) war. Solche Beschränkungen empfand er als „Terror“, dem er aus-
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zuweichen versuchte, indem er seine Hefte von einem Platz zum anderen mitnahm. Die Mutter stellte sich dazwischen – eine imposante Präsenz, zu welcher Schleef ein zwiespältiges Verhältnis entwickelte und der er in seinem künstlerischen Schaffen einen führenden Platz zuwies. Andauernd zanke ich mich mit meiner Mutter. Sie liest alle Briefe, spioniert nach, lügt und protzt laufend rum, so unerhört neugierig, alles muß sie wissen, alles sehen, nichts darf sie verpassen, überall an den Ecken tratschen, billiges Gewäsch, Zeitvergeudung. Was soll das nur? Nie ist man von ihr sicher! (TB1/201)
Eine zudringliche kontrollbesessene Mutter, die nun doch auf seiner Seite stand. Sie spielte zwar ein doppeltes Spiel, um ihrem Mann nicht zu widersprechen, doch das Überleben der Tagebücher hat man auch ihr zu verdanken. Obwohl Schleef Senior anscheinend Herr des Hauses war und auch keine Gewalt ablehnte, um seine patriarchalische Herrscherposition zu beweisen, wusste sich Gertrud Schleef bei Familienangelegenheiten sehr energisch zu behaupten. Dass sie daheim die Hosen anhatte, wurde mit den Ereignissen des 17. Juni eindeutig. Der 17. Juni und weitere Kindheitseindrücke Die starke Repressionswelle, die sich zwischen 1952 und 1953 besonders aus den „Moskauer Direktiven“8 auf die DDR-Bürger ausgewirkt hatte, kulminierte in gewaltigen Aufständen, die sich bereits am 12. Juni in dicht bewohnten Industriegebieten wie Leipzig, Halle, Bitterfeld, Magdeburg, Dresden, Görlitz verbreiteten, am 17. Juni in den Aufmärschen in Berlin ihren Höhepunkt erreichten und bald durch den Einsatz des Militärs niedergeschlagen wurden. Die Arbeiterproteste richteten sich hauptsächlich gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen, wodurch eine Steigerung der Arbeitsproduktivität bei gleichzeitiger Kürzung der Löhne und somit der Lebensstandards erfolgte. Großer Tumult entstand auch in landwirtschaftlichen Kreisen, nachdem hunderte Bauern, die auf Grund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten ihre Höfe verlassen mussten und nach Westdeutschland flohen9, nun für das Recht kämpften, ihre Bauernhöfe zurückzubekommen. Hinzu kam noch die allgemeine Verschlechterung der Wirtschaftslage10, die alle Schichten der Bevölkerung betraf und eine weitere Motivation zur Rebellion bot. Auf die Forderungen11 des Volkes, das inzwischen Enttäuschung, Misstrauen und ideologische Distanzierung12 gegenüber dem sozialistischen Staat eindeutig zum Ausdruck gebracht hatte, antwortete dieser mit Panzern. In der Hauptstadt sowie in den kleineren Städten und Gemeinden wurden Demonstrationen und Menschenansammlungen ohne Möglichkeit auf Widerrede aufge-
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löst. Verschiedentlich wurde der Ausnahmezustand verhängt; Divisionen der Roten Armee überrollten die Straßen Berlins; 80 Panzer stürmten den Potsdamer Platz13; angefangen mit Leipzig, wo gleich vier Demonstranten erschossen wurden, zählte man nach Wiederherstellung der Normalität über dreißig Todesopfer; Tausende wurden festgenommen und Hunderte wurden zu bis zu fünf Jahren Haft verurteilt. Der damals neunjährige Schleef wurde von dem Aufruhr so bestürzt, dass er die Bilder dieses Tages in unterschiedlichen Versionen aufschrieb, immer wieder sprachlich umarbeitete. Bilder eines chaotischen sich Anhäufen und Zusammendrängen von Menschen, die seine Vorstellung und Wahrnehmung der Welt, bzw. der Gesellschaft um ihn herum stark prägten. In Droge Faust Parsifal wird er abstreiten, dass sein Chor-Theater eine „Abreaktion“14 auf seine DDRVergangenheit sei, sondern eher eine Entgegnung auf die sozialpolitischen Zustände, die er im Westen erlebte und beobachtete. Bestimmt hat er später sein chorisches Theaterkonzept vollständig entwickelt, sowie Machtverhältnisse analysiert und theoretisiert, doch wie aus seinen Aufzeichnungen stark hervorgeht, stammen Überlegungen und Vorstellungen unbestreitbar auch aus dem Versuch, das in der DDR Erlebte zu verarbeiten. 17. Juni. Auf der Straße Panzer. Überall Panzer: Wo kommen die Panzer her? In unserer Straße einer hinter dem anderen. Die Weiber liegen in den Fenstern, die Kinder spielen Verstecken oder Kriegen, immer um die Panzer (TB1/10)
Liest man auf den ersten Seiten des ersten Tagebuchs, wo Schleef sich erinnert, wie an dem Tag die ganze Stadt von Militärfahrzeugen besetzt wurde. In Droge Faust Parsifal wird zum Beispiel der Begriff von „Panik“ durch eine alltägliche in-die-U-Bahn-einsteigen-Szene beschrieben, auf die später in Zusammenhang mit dem Konzept von „Krankheit“ ausführlicher hingewiesen wird. Die UBahnszene trägt jedoch eine sarkastische Note in sich, wenn man sie mit den Geschehnissen des 17. Juni vergleicht, die der neunjährige Schleef so nachhaltig erlebte. Leute rennen zum Marktplatz, ich hinterher, alles abgeriegelt. Jemand schreit, Polizisten schlagen Männer zusammen, Blut vorm Rathaus. Frauen schlagen die Polizisten. Ein Junge rennt weg. Alle schreien: Auf den Schacht! (TB1/10)
Als er nach Hause kommt, hört er nur Schreie, die Eltern streiten. Dann verriegelt die Mutter sämtliche Türen, packt eine kleine Tasche und geht mit dem Jungen zu den Großeltern. Der Vater bleibt zwei Tage eingesperrt. Erst später wird
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der junge Einar verstehen, was die Mutter riskierte, sie versteckte ihren Mann, um ihn nicht an die russische Kommandantur auszuliefern. Sie traf diese Entscheidung eigenständig und behauptete sich somit ihrem Mann gegenüber als individuelles, aktiv agierendes Subjekt, um es mit einer Formulierung auszudrücken, die der spätere Schleef benutzt hätte. Er war sich der Zwiespältigkeit der Rollenverhältnisse in der Beziehung der Eltern bewusst, und in Beschreibungen Schleefs profiliert sich der familiäre Alltag als ein hartes, gewalttätiges Szenario, in dem der Vater zwar schlägt, aber die Mutter auch zurückschlagen kann, wenn nicht physisch, so doch verbal. So liest man zum Beispiel in einem nachträglichen Kommentar des 11.3.2001 und in der Überarbeitung der Einträge aus seiner Kindheit zu den Ereignissen des 17. Juni: Mutter, die nicht so feige wie ich ist, tritt Vater gegenüber, die Fetzen fliegen, obwohl sie in dieser Zeit kräftiger ist als er. Krank, bezieht er erneut vorübergehend Rente und verdrischt sie, dann mich, meinen Bruder läßt er aus, der verzieht sich erneut rauchend, ein guter Anlaß zum Petzen, auf den Oberboden, er klimmt sicher hoch, ich schaffe das nicht allein, wie bequem wäre es jetzt, an ihm Rache zu nehmen. An solchen Abenden, die sich wiederholen, höre ich von meiner Mutter nur Schreckliches, manche ihrer Formulierungen beherrschen mich Jahre, werden weggedrückt, plötzlich höre ich sie, halte unverhofft inne, erkenne die Parallelen in meinem verpfuschten Leben, erkenne ist falsch, sie stürzen wie Wackersteine auf mich, nicht mehr von intellektuellem Abstand, vor allem werde ich diese Parallelen nicht mehr lösen. Mutters Angaben über das außereheliche und eheliche Verhalten meines Vaters, alles Brecheisen, Waffen, die mich von meinem Vater entfernen, Partei für sie ergreifen lassen. Details über Vaters Sekretärinnen, seine sexuellen Gewohnheiten, die Mutter schweigend erträgt, zunächst ist das ein Hammer, als Kind bin ich in meiner Einstellung gnadenlos, doch bin ich selbst im Alter meiner Eltern, beginnt ein Umdenken, erschrocken. Zu spät. (TB1/21-22)
In späteren Absätzen soll auch gezeigt werden, welchen Einfluss die Hassliebe zur Mutter auf Schleefs Weiblichkeitsbild und -darstellung hatte. Ein weiterer Anhaltspunkt in der Gestaltung seiner oft verzerrten Frauenfiguren lässt sich in der Justizministerin Hilde Benjamin erkennen. „Mit dem 17. Juni beginnt die Schreckensherrschaft einer Frau“ (TB1/20), schreibt Schleef 2001 in einem Kommentar als Ergänzung zu den Aufzeichnungen aus der Kindheit. Er notierte, wie der Name dieser besonders in den 50er Jahren führenden Persönlichkeit der DDR, auch bekannt als „rote Hilde“15 oder „rote Guillotine“, nur mit „Grauenhafte(n) verbunden war“. Sie war der „Teufel in der weiblichen Maske“ (TB1/ 20). Doch in den Zügen dieses Teufels erkennt er etwas, was dem Gesichtsausdruck vieler Frauen in der DDR ähnelte:
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Die Bilder, die ich von dieser Frau sah, klein, etwas gedrungen, üppiger als Lotte, aber mit dem gleichen Durchhalteblick, dem meiner Tante, dem Ilse Kochs, dem vieler DDRFrauen, der aus dem Krieg kommen mußte. (TB1/20)
Zu ergründen wäre, welche Bedeutung Schleef diesem Durchhalteblick zuschreibt16. Ist dieser strenge verhärtete Blick eine bewundernswerte Eigenschaft dieser Frauen, die sich vom Krieg haben biegen lassen ohne zu zerbrechen? Und, noch weiter gefragt, sucht er in der Ähnlichkeit eine Vermenschlichung der Justizministerin oder schlägt er eher eine Identifizierung aller (oder vieler) Frauen mit diesem Schreckensbild vor? Somit käme es zu einem teuflischen Frauenkollektiv. Und so provokativ diese Formulierung auch scheinen mag, findet sie jedoch eine gewisse Entsprechung in dem zwiespältigen Weiblichkeitsbild, das Schleef in einigen seiner Frauenchöre zu deuten versucht. Seine Frauensubjekte sind hart, zornig, fast rasend, einzelne oder plurale Furien, die sich aus dem Text behaupten. Diese angsteinflößenden Gestalten haben zwar eine zärtliche Kehrseite, die aber nur noch im Inhalt ihrer Worte zu finden ist, da die rhythmisch skandierte Aussprache keinen Raum für Gefühl und Zierereien lässt. Schleef beobachtet während seiner Kindheit das Aufeinanderprallen von Verbissenheit und einer verzwickten Art von Liebe, mit der die Frauen durchs Leben gehen und sich um Haushalt, Kinder und Ehemänner kümmern. Dieses sich widersprechende Handeln wird Jahre später in das szenische Auftreten der weiblichen Figuren transponiert. Erste Begegnungen mit der Kunst und die Krankheit Um 1958 fing der inzwischen vierzehnjährige Schleef an, künstlerisch tätig zu sein. Er trat dem Malzirkel von Wilhelm Schmied bei, der Sangerhäuser Kunstmaler und Vorsitzender des Verbandes Bildender Künstler in Halle war. Es handelte sich um eine sehr heterogene Gruppe, wo Schleef auf andere Schüler, Rentner und Hausfrauen traf, sofort als außergewöhnlich talentiert erkannt wurde und sich auch als sehr fleißig erwies. Wie aus den Tagebüchern hervorgeht, malte er fast jeden Tag, suchte sich die verschiedensten Subjekte aus und notierte sehr genau, was er alles geschaffen hatte. Schmied, der ihn anspornte, diese Begabung zu vertiefen, wurde für den jungen Schleef ein wichtiger Bezugspunkt. Als die Eltern 1961 überlegten, in den Westen zu gehen, bevor die Mauer errichtet wurde, sträubte sich Schleef heftig dagegen: Er wollte bleiben, im Malzirkel weiter werken und dort etwas aufbauen. „Hier ist meine Zukunft! Ich bleibe hier, ich haue nicht ab! Ich will nicht mit!“ (TB1/149) habe er gegen den ihn schlagenden Vater geschrien.
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Der kreative Schub wurde zeitweise durch den ersten Krankenhausaufenthalt unterbrochen. 1958 erkrankte Einar an TBC und musste auf Grund der langen Genesungszeit die 7. Klasse wiederholen. Die Zeit im Krankenhaus war bedrückend; als er dann sogar früher als geplant nach Hause durfte, war er „völlig verwirrt, innerlich verknackst“ (TB1/50). Er selber beschrieb, wie er sich von dieser Erfahrung nie wieder ganz erholte, und obwohl die Krankheit besiegt war, empfand er weiterhin einen innerlichen, seelischen Schmerz. Deshalb gibt es wohl auch die verschiedensten Einträge über ein Einsamkeitsgefühl, auf die man immer wieder in den Tagebüchern dieser Jahre stößt. Er war zwar immer beschäftigt und von Leuten umringt, in der Schule aufmerksam, in der Schultheatergruppe aktiv, ging oft ins Theater und in die Oper, doch etwas stimmte in seinem Inneren nicht. Bereits 1959 fing er an, in die ersten Aufführungen zu gehen, die damals auf einer Amateurbühne stattfanden. Seinen ersten Kontakt mit dem Theater beschreibt er wie einen Blitzschlag. Einer meiner allerersten Theaterbesuche mit Vater war IPHIGENIE von Goethe, da saß eine weißgekleidete Frau auf der Bühne des Schützhauses, die ich bis dahin wenige Male betreten hatte, eigentlich kannte ich mich da nicht aus, für mich war der Raum „verschlossen“, das was dann stattfand, war unmöglich mit diesem Bühnenraum in Übereinklang zu bringen, ich verstand überhaupt nicht, wie das derselbe Raum sein konnte, den wir oft bei Tanzveranstaltungen leer räumten […] Dieses Theaterereignis war prägend, mehrere Stufen abgeschrägt über die ganze Bühne, 1 stehende, 2 umgestürzte Säulen aus Pappe, eine alternde Frau, die eine junge spielte, dazu junge Männer in den üblichen Fundungsgriechenklamotten, wie ich sie auch verwende, nichts was hängenbleiben sollte, bei mir jedoch hatte es gefunkt. Zudem kamen einige Märchen-Aufführungen, vor allem DIE RÄUBERPRINZESSIN nach Andersen. (TB1/66)
Hier scheint er schon einige Elemente gefunden zu haben, die er später für sein eigenes Theater verwenden wird. Von „Stil“ (TB1/55) sollte aber erst einmal nicht die Rede sein, wie er selber präzisierte. Der junge Schleef berichtet, wie sich bei Schulaufführungen zwar „so etwas wie Stil“ bildete, doch empfand er diese Bezeichnung als „lächerlich“ und weigerte sich dagegen, sobald er „mit dem richtigen Theater in Berührung kam“. Erst später, 1974, als er schon mit B. K. Tragelehen als Bühnenbildner am Berliner Ensemble zu arbeiten begonnen hatte, näherte er sich wieder der Idee eines Stils: Zunächst aus dem Gedanken, der Regisseur müsste auf die Bühne, für seine Arbeit zeichnen, er könne und dürfe sich nicht zurückziehen, am wenigsten hinter Darstellern. Als ich
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das Tragelehen bei FRÄULEIN JULIE klarzumachen versuche, nickt er bedächtig, er sei ja abgeneigt, aber, das geht so weiter, bis es tatsächlich eine Probe mit ihm und mir gibt, getrennt, eine einzige Probe, in der ich meine, sehr nahe an meinem Spielstil zu sein, das wird auch mit Kollegenbeifall aufgenommen, schnell vergessen, eigentlich steht ein ganz anderes Theater zur Debatte. (TB1/55)
Aber während der Schulzeit ist diese Debatte noch nicht aktuell, Schleef hat zwar schon einige Vorstellungen (schlichte Linien, wenige Bühnenobjekte), experimentiert aber noch. Nebenbei singt er im Chor mit, denkt an das Studium an der Kunsthochschule und widmet sich den verschiedensten Lektüren. Dann kommt die nächste Niederlage. Zum zweiten Mal wird er gezwungen, alles auf Eis zu legen. Auf Grund eines fast tödlichen Unfalls wird er erneut ins Krankenhaus eingeliefert, wo er diesmal mehrere Monate verbringen muss, um wieder auf die Beine zu kommen. Noch mehr als das Mal davor wird ihm dieser Aufenthalt zum Albtraum. In den ersten Wochen kann er die Augen nicht aufmachen, weitere Wochen dauert es, bis er aufstehen kann. Er teilt das 8-Bettzimmer mit alten sterbenskranken Männern, vor denen es ihm graut und doch wachsen ihm diese hinfälligen, stinkenden Krüppel, wie er sie beschrieb, ans Herz. Als jüngster in der Krankenstation wird er den verschiedenen „Opas“ beim Anziehen und Waschen helfen, er schiebt Rollstühle und wird sie auch nach seiner Entlassung, sogar gegen den Willen seiner Eltern besuchen. Freiwillig kehrt er in diese Todeslandschaft zurück, wo er zum ersten Mal mit dem Ekel vor seinem eigenen Körper konfrontiert wird und diesen mit den Bettnachbarn teilt. Meine Nachbarn stanken. Es war der Geruch, den ich eines Tages, nachdem ich längst aufstehen konnte, mit meinem Gipsgewicht durch die Gänge schleifte, an mir selbst wahrnahm. Mein Arm eiterte. Jetzt war die Amputation fällig. Wie bei meinen Nachbarn, die Stück für Stück ihrer Extremitäten entledigt wurden. (TB1/126)
Monatelang lebte er in der Befürchtung, nicht wieder heil nach Hause zu kommen. Die Zimmergenossen wurden zerstückelt und waren verletzt „als ob ihr Äußeres Zeichen des Innen, eines Risses in ihnen wäre“(TB1/126). Zerstückelte Seelen in zerstückelten Körpern also, in denen er trotzdem noch etwas Lebhaftes, etwas Kindliches zu sehen glaubte, besonders im Umgang mit den jeweiligen Ehefrauen, die sie mit großen Worten misshandelten, als könnten sie auf diese Art noch einen Schimmer ihrer Männlichkeit behaupten, um ihre vollkommene Abhängigkeit wissend. Ihr Überleben lag in den Händen ihrer Frauen und trotzdem konnten sie das Machtspiel, worüber sich der erwachsene Schleef in seiner Theaterarbeit immer wieder Gedanken machte, nicht lassen:
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Trotz der Zoten, Grobheiten gegen ihre Frauen, wußten diese Männer, daß sie, falls nach Hause entlassen, von ihren Frauen abhängig waren, sodaß eine Trennung, ein weggehen der Frauen ihr Ende besiegelt hätte, Rückkehr ins Sterbezimmer […] Die Angst von Männern vor ihren Frauen habe ich so nicht wieder erlebt, das Männliche reduzierte sich auf Kindliches, sie spielten an sich wie Kinder... (TB1/127)
Nach acht Monaten kam Schleef geheilt nach Hause, ohne amputierte Glieder, doch mit einer Palette voll Entsetzen, Horror, Angstzuständen und mit einem facettenreichen Bild der Flüchtigkeit des Daseins, die in seinem Kopf herumschwirrten und seine Wahrnehmung der Außenwelt prägten. Es war schwierig, solche Eindrücke wegzuwischen und sie nicht in den eigenen Schöpfungsprozess einzuflechten. Die grausamen Krankenhauserinnerungen trugen zweifellos zur Wahl eines rohen, oft skurrilen Wortschatzes bei und eines Spektrums von gewaltsamen Bildern, wie auch zu seiner Interpretation sozialer Gruppendynamiken. Die Rekonvaleszenz wirkte sich auch praktisch auf die Lebenspläne des jungen Schleef aus, der schon wieder ein Schuljahr verlor. Allein die Idee, das 9. Schuljahr wiederholen zu müssen, war ihm nicht gut erträglich, er fühlte sich zu alt und kam mit den jüngeren Klassenkameraden nicht klar (TB1/122). Lektüren wurden ihm immer wichtiger. Im Krankenhaus hatte er viel Zeit dafür gehabt und auch danach wollte er immer mehr lesen. Nebenbei nahm er das Zeichnen wieder auf und gestaltete 1961 seine zweite Ausstellung. Er kehrte auch in die Schultheatergruppe zurück, mit der er in demselben Jahr Die Mutter von Bertolt Brecht inszenierte. Brecht las er besonders gerne, schrieb ganze Gedichte in sein Tagebuch ab. Auch über die Pflichtlektüren machte er sich Gedanken: Unabdingbar in den Schulklassen der DDR waren Texte von Hans Marchwitza und Lion Feuchtwanger – von Marchwitza lasen sie Meine Jugend, von Feuchtwanger Füchse im Weinberg und Jud Süß, welches es herrlich fand (TB1/167). Schleef blieb nie an der Oberfläche, er setzte sich intellektuell mit den verschiedenen Themen auseinander, verinnerlichte sie und ging von den Büchern aus, um sich Fragen über historische, politische und soziale Vorgänge der Gesellschaft zu stellen. Die Begriffe von Masse und Volk scheinen ihn besonders beschäftigt zu haben: Das letzte Argument des Königs ist die Kugel. Das letzte Argument der Völker ist das Straßenpflaster. Die Könige haben den Tag, die Völker den morgigen Tag. (TB1/176)
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Dieses Zitat aus Victor Hugos Gavroche gab ihm einen hilfreichen Denkanstoß und einige Seiten weiter im Tagebuch blätternd, stößt man auf einen langen Eintrag, dicht mit Reflexionen zum Konzept von Volk, das er als stumm, blind, dumm, tot kennzeichnet, ein großes Schimpfwort „geduckt unter den jahrhundertealten Stiefel seiner etlichen Herren“, die es zum Knecht gemacht haben (TB1/183). Er hätte wahrscheinlich noch mehr dazu geschrieben, hätte er sich nicht von fremden neugierigen Augen bedroht gefühlt: Ich habe Angst, entsetzliche Angst, jemand könnte das lesen, ich kann nicht alles aufschreiben wie es ist. Buchführen möchte ich, einzelne Posten in der Tabelle addieren. Ich werde mit der ganzen Welt nicht fertig, wenn ich was höre wie mit dem 15jährigen Jungen aus Berlin, genauso ging es mir, als ich von der Ermordung des Jungen Daniel Ferry bei einer Demonstration in Paris hörte. Weshalb Krieg? Wofür brauchen die Reichen so viel Geld? Was machen sie damit? Warum hilft man uns nicht? So viele Berichte, so viele Fragen. Brecht. Wenn ich Brecht lese, lebe ich auf. (TB1/176)
Er musste also darauf aufpassen, was er sagte und schrieb. Wie bereits erwähnt, gab es keine Meinungsfreiheit in dem Ausmaß, den er sich gewünscht hätte. Auch nicht im Deutschunterricht, von dem er Diskussionsgelegenheit forderte, die dennoch unerfüllt blieb. Die aufgegebenen Texte sollten zu Überlegungen, Ideenaustausch, kritischer Analyse, Konfrontation und warum nicht, zum Zusammenprall der verschiedenen Meinungen dienen. Doch Vorschriften sind Vorschriften und Schule sollte anscheinend nur abgefertigte Interpretationen und Rezeptionen bieten, sogar aufdrängen. So liest man zum Beispiel in einem Tagebucheintrag von 1962: Deutschunterricht. Nehmen gerade Egmonts Charakteristik durch. Alle Meinungen werden uns aufgetischt, vorgekaut, wir müssen sie schlucken, kusch, fein und schnell verdauen. (TB1/218)
Doch solche Kommentare beschränkte er auf die Seiten seiner Tagebücher, um Zensuren oder schlechten Noten wegen subversiven Denken zu entkommen. Erst als er mit der Arbeit am Theater begann, geling es ihm den Mut zu ergreifen, seine Vorstellungen über die Vorschriften hinweg auszudrücken und zu verwirklichen. Das wird er mit der Obstruktion seitens der Theaterhäuser der DDR büßen, woraufhin er sich entschloss, in den Westen zu gehen und dort weiterzuarbeiten. Aber darüber soll noch ausführlicher berichtet werden. Die Schulzeit stellte sich als Aufbauphase der später vertretenen Kunsteinstellung und Weltanschauung heraus; eine Werkstatt der Gedanken, um die
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wichtigsten Themen zu berühren, mit denen er sich im Laufe seiner künstlerischen Karriere immer wieder beschäftigen wird. Momentan Deutsch, Antefuhr spricht über Kuba, wirklich doll, daß man noch nicht genug vom Krieg hat, Krieg Krieg. Weshalb? (TB1/226)
Kriegszustände wird er immer wieder in den verschiedensten Situationen und Verkleidungen entdecken, ohne jegliche Auflösung vorzuschlagen. Zeichnungen, Erzählungen und Theater sind durchdrungen von Bildern von Kampf und Konflikt, die in der Optik Schleefs dazu verdammt sind, offen zu bleiben. „Der letzte Krieg ist wie der erste“, wird er in der Einleitung zu seinem Stück Mütter schreiben, egal welches Subjekt das Entscheidungsrecht über andere ausübt, ob männliche oder weibliche, singuläre oder plurale Figuren Führungspositionen übernehmen. Macht ist ein gemeinsamer Nenner. Als Schüler hinterfragt er noch die Gründe für den von ihm allgegenwärtig empfundenen Krieg. Mit der Zeit, desillusioniert, wird er diesen als permanente Voraussetzung menschlicher Interaktion und Zusammenlebens annehmen. Bewerbung an der Hochschule Weißensee Während des letzten Schuljahres, 1963, gab es zwei große Themen: Die Bewerbung für einen Studienplatz an der Hochschule und der Militärdienst. Schleef wollte diesem entgehen und geriet mehrmals in heftige Streitereien mit Eltern und Mitschülern. Es wurde gesellschaftlich angenommen, dass zum Erwachsenwerden der Militärdienst gehöre und der Vater behauptete, dass man erst beim Militär ein richtiger „Mann“ werde. Doch Schleef wollte sich dieser Verpflichtung nicht beugen, tat also alles, um bei der Musterung durchzufallen und wurde tatsächlich als „untauglich“ (TB1/269) erklärt. Es kam zu dem ersten wirklichen Konflikt, in dem sich Schleef gegen die Normen behauptete. Verschiedenste Freunde traten dem Militär bei, ihm grauste es vor deren Uniformen. Von den Begegnungen mit Soldaten bewahrt er schauerliche Eindrücke: Ich erinnere mich an die herausgeschobenen, gefürchteten Heimfahrten während meiner Studienjahre, an die mit wütenden Soldaten überfüllten Züge, halbnackt, in die Gänge pissend, grölend, saufend, dem Barras entkommen oder zu ihm zurückfahrend, die bösartige Behandlung der Mitreisenden, jede Frau wurde in die Mache genommen, das Begleitpersonal zusammengetreten, Polizei durchkämmte am nächsten Bahnhof den Zug. Plötzlich gab es keine Volksarmee mehr in den Zügen. Ein Uniformierter höchstens, mit Aktentasche […] Urlaub-Soldaten fuhren jetzt in eigenen Zügen, damit wollte man offiziell Wün-
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schen der Bevölkerung Rechnung tragen […] ich konnte sie nicht mehr aus gesichertem Abstand beglotzen, Gleichaltrige, die gegen ihre Vertierung ankämpften. (TB1/270)
Auch in diesem Abwehrzustand fühlte er sich einsam, als würde er als einziger gegen die Konventionen kämpfen. Wie bricht man als erster und einziger aus einer Kette, wie bricht man aus und welche Folgen trägt dieser Ausbruch, den man sich selbst verordnet, um den man nicht mehr herumkommt. (TB2/35)
Fragte er sich und beging somit seine erste Selbstausstoßung, wie er es selber später bezeichnete. Er hatte sich „emanzipiert“ und wurde „untragbar“: Im Gegenzug wurde mir alles, was mit Militär und Uniformierung zusammenhing, bedrückend, kam nahe an mich? heran, mußte wiederholt von mir zurückgestoßen werden. (TB1/271)
Gerade derjenige, der auf Grund des häufigen Einsatzes von massiven Chorformationen auf der Bühne jahrelang als Anstifter einer martialischen, faschistoiden Theaterästhetik galt und dämonisiert wurde, war schon lange vor Anfang einer theatralischen Tätigkeit als unstimmige Stimme aus dem Chor der gesellschaftlichen Erwartungen ausgetreten. Viele seiner künstlerischen Aktionen können als Akt des Exorzierens angesehen werden, wie später erläutert wird, und kommen auf jeden Fall zum großen Teil aus den Eindrücken verschiedener Lebenssituationen. Ob meine Umsetzung von Militär auf der Bühne ausschließlich biographisch bedingt oder tatsächlich im Aufeinandertreffen von Ost und West zu suchen ist? Der biographische Anteil ist groß, unsere Nachbarschaft war die sowjetische Kommandantur. (TB3/215)
Inzwischen musste er sich um die Bewerbung für einen Studienplatz kümmern, was sich als langwieriger als erwartet erwies, auf Grund der Nichtangehörigkeit des Vaters zu der Partei, was unter dem DDR-Regime kein unbedeutendes Hindernis darstellte. In diesem Zusammenhang zeigt sich am deutlichsten, wie innig die Anteilnahme Schleef Seniors an der Zukunft des Sohnes und die entsprechende Achtung, die er gegenüber dessen Talent empfand, tatsächlich waren. Obwohl Einar Schleef das Vater-Sohn Verhältnis immer als sehr konfliktgeladen darstellte, muss er wohl trotzdem die väterliche Unterstützung gespürt haben, die sich eben anlässlich der Hochschulbewerbungserfahren einschaltete. Und es
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scheint eine gewisse Dankbarkeit den Erinnerungen bezüglich des Engagements seines Vaters impliziert zu sein; dieser versuchte mit sämtlichen Hochschuldirektoren zu reden, doch ohne Parteimitgliedschaft wollte keiner seinem Sohn eine Stelle anbieten. Vater Parteilos wurde zum Fluch, bis ihn auf dem Gang der Leipziger Hochschule ein Herr unvermittelt ansprach, ihn nach Berlin verwies, da, und nur im Fach Malerei sei eine Parteimitgliedschaft der Eltern nicht vonnöten, das aber nur unter uns. (TB1/290)
In Weißensee wurde er tatsächlich angenommen. Bis dahin vertrieb er die Zeit mit malen und Theaterbesuchen. Seine Begeisterung wurde immer stärker; wenn er sich über Brecht oder „Westautoren“ äußert, beschreibt er eine „ungeheure Sehnsucht danach“, bei Lektüren oder Aufführungen von Stücken dieser Autoren werde ihm sogar „innerlich warm“ (TB1/278). Fast unabsichtlich begab er sich zu Vorstellungen der Tänzerin Dore Hoyer 17 und wurde davon stark geprägt. Zu der Zeit war ihm nicht klar, dass er sich verschiedene Elemente dieses Theaters für seine Arbeiten angeeignet hätte: leerer Raum und schlichte Linien sollten sich bald als grundlegende Kennzeichen seines eigenen Kanons etablieren. Sie kam aus dem Exil. Ich sah alle ihre Vorstellungen in der DDR. Ich fuhr ihr hinterher. Ich wußte weder, wer sie war, noch daß ich vor einem entscheidenden Theatererlebnis stand. Die Hoyer praktizierte Formenkanon. Der wie eine Erinnerung hochkam, eingeigelt in einem südamerikanischen Tanzstudio Krieg und Nachkriegsdeutschland überdauert hatte und den jetzt eine alte Frau zeigte. Ich sehe ihre Kostüme, ihre Programme, die Abfolge. Ihre leere Bühne wurde zum geistigen Raum. Ich begriff nicht, was da vorn vorging. Ich sah einen Menschen, der einen Raum untersuchte, ihn zerlegte. Er überführte Meter in Kubikmeter, Kubikmeter in Denken. In einem Ihrer Tänze bewegte sie sich in der Luft, dabei lag sie auf dem Rücken. In der chinesischen Oper überquerte man einen wütenden Fluß, stand aber auf einem Teppichboden. Hier war eine Verwandtschaft, die sich nicht auf den 1. Blick entschlüsselte. Das Gastspiel der Hoyer war ein Einschnitt, den ich verdrängt, da nichts von dem, was ich gesehen hatte, von mir umzusetzen war. Das sollte sich ändern. (TB2/16)
Zwischen Hochschule und Arbeit Das Kapitel Hochschule schien sehr schnell vorbei zu sein. Kurz nach Semesterbeginn begab Schleef sich zur Ausstellung eines der ältesten Hochschullehrer, dessen Bilder ihm nicht gefielen. Er trug sich in das Gästebuch ein und benutzte
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dabei den Ausdruck „Scheiße“. Darauf folgte umgehend die Exmatrikulation auf Grund von „Disziplinlosigkeit und mangelhafte(n) studentische(n) Gesamtverhalten“ (TB2/80). Für Schleefs Eltern begann die Hölle, der Vater musste sich im Büro für das Benehmen seines Sohnes rechtfertigen und beide fürchteten, dass es gar zur Entfernung aus der DDR kommen könnte. Doch Einar war von der Sache nicht weiter betroffen und fuhr mit seinen Aktivitäten fort: Ich fahre einfach weiter mit verordneten Kulturkonsum fort, als befände ich mich auf einer Bildungsreise, die Jahre andauern und vorerst nicht enden würde, als sei das der Protest, überhaupt nichts zur Kenntnis zu nehmen. (TB2/81)
Er ließ sich also nicht aufhalten, sondern begann selbstständig einige Kontakte herzustellen und zu pflegen, wendete sich dem Bühnenbildner und inzwischen Professor an der Hochschule Heinrich Kilger zu – für den Fall, dass es eine Wiederaufnahmemöglichkeit geben sollte. Sein „Kulturkonsum“ breitete sich vielseitig aus. Er fühlte sich besessen von Mozart und Händel, von deren Musik er sich „umarmt“ (TB2/100) fühlte; er verschlang besonders Texte von Brecht, Dürrenmatt, Shakespeare und Dostojewski. Er ging so oft wie möglich ins Theater, wo er sich immer von schlichten, stilisierten Inszenierungen faszinieren ließ, während ihm jegliche Art von Einfühlung und Pathetik verhasst war. Zur Theaterlandschaft, die Schleef zwischen Mitte der 1960er und 1970er Jahre als Zuschauer erlebte, muss erinnert werden, wie diese – genauso wie es für die Erstellung von Schulprogrammen galt – vollkommen gesteuert war. Das Theater sollte pädagogischen Zwecken dienen und im Rahmen einer sozialistischen Gesellschaftskonzeption vorbildhafte Helden auf die Bühne bringen. Obwohl in den Spielplänen der DDR den klassischen Stücken viel Platz eingeräumt wurde – häufig waren beispielweise Wiederaufnahmen von Meilensteinen wie Faust oder Hamlet – erfolgte die Auswahl immer nach zielorientierten Kriterien. So wurden Werke mit agitatorischen Potential schlichtweg vermieden: Stücke wie Kleists Prinz von Homburg und Penthesilea, Hebbels Nibelungen oder Judith, Büchners Danton’s Tod und sogar Schillers Wilhelm Tell, wurden von den Bühnen der DDR verbannt18. Die zensurierende Auswahl der Stücke blieb dem jungen Schleef nicht verheimlicht und stärkte seine Wahrnehmung der zensierenden Autorität, die über die Gestaltung von Kunst und Theaterwelt wachte, und wogegen er sich mittels des eigenen Engagements immer sträubte. Die Hochschule hatte ihn dazu verpflichtet, als Malerhelfer beim Fernsehfunk Adlershof zu arbeiten und kurz danach wurde er Mitarbeiter im Kollektiv MOSAIK, der wichtigsten Comic-Zeitschrift der DDR. Auch hier wurde er auf Grund von „Auffassungsgabe, Einfühlungsvermögen in ihm neu gestellte Auf-
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gaben und ein entwicklungsfähiges künstlerisches Talent“ (TB2/116) gelobt und unterstützt, um sich für eine erneute Aufnahme an der Hochschule zu bewerben. Seine malerischen Fähigkeiten sprachen sich herum, und es boten sich bald Möglichkeiten, am Theater zu arbeiten. Anfang 1966 konnte er zum ersten Mal als Bühnenbildassistent im Maxim-Gorki-Theater tätig sein. Er reiste öfters nach Prag, wo er auf eine Anstellung hoffte, die nie zustande kam. Inzwischen nahm er Kontakt mit Karl von Appen auf. Dieser hatte seit 1953 als Ausstatter und Bühnenbildner mit Brecht zusammengearbeitet, war Chefbühnenbildner des Berliner Ensembles und leitete eine Meisterklasse an der Deutschen Akademie der Künste in Berlin. Als angehender Meisterschüler wollte sich Schleef nun bei ihm vorstellen und somit seinen Studienplatz an der Hochschule zurückbekommen, was auch geschah. Bereits im Frühjahr 1967 bekam er eine schriftliche Bestätigung, dass er ab September wieder immatrikuliert werden konnte. Von Appen teilte ihn sofort ein, beeindruckt von Schleefs Zeichnungen und riet ihm dazu, sich besonders auf die Oper zu konzentrieren. Ab sofort sollte er seine Rolle als Assistent im Berliner Ensemble angehen, bei allen Proben anwesend sein und Skizzen für Bühnenbilder zeichnen. Begeisterung für die Arbeit, Erleichterung für das erneute Studium und ein unerschöpfliches künstlerisches Schaffen reichten nicht, ihn zufrieden zu stellen. Hier und da finden sich in den Tagebüchern Einträge bezüglich seines weit zurückgehenden Gefühls von Einsamkeit: Was ist das wirkliche Leben? Sind es meine Träume, Vorstellungen, Wünsche oder das mich umgebende Grau, das selbst Graugewordensein. Sind wirklich keine neuen Gefühle, Entwicklungen möglich? Sehe ich das falsch? Bewusst bin ich meiner Unwissenheit, wie abhelfen […] Ich schreie und niemand hört mich. Ich bin aussätzig, Fluch des Ausgestoßenseins, ich bin allein. Allein. (TB2/216)
Mit gemischten Gefühlen aus Ungläubigkeit und Erschütterung, wie sie sich schon in jüngeren Jahren geäußert hatten, schaute er auf die Geschehnisse, die um ihn herum und weiter entfernt die Welt verändern und in Schach halten. Schleef begriff die nicht enden wollenden Kriege nicht. Kriegs- und Gewaltbilder drangen in sein Wahrnehmungsverfahren tief ein, hätten später seine Stücke und Inszenierungen geprägt, als hätte er sie dadurch den Teufel austreiben können. Über alles andere schien ihm unverständlich zu sein, wie das Volk, die Masse, sich nicht wehren. Das Verhalten der Masse erweist sich bereits aus den Tagebüchern immer wieder als wichtiges Beobachtungsobjekt und wird später unabdingbares Element seiner Realitätskonzeption, wie er in seinem umfassenden Essay Droge Faust Parsifal erläutern wird.
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Die andauern Kämpfe in Vietnam, die beängstigende Situation in Hongkong und hier in Berlin beunruhigen mich stark, obwohl es für mich alles fern, sehr fern ist. Aber nur kurze Berichte, Bruchstücke lassen mich erstaunen, geschlagen sein. Soll es keine Lösung geben? Sollte mit dem wachsenden erkennen der Welt, der Gesellschaft und ihrer Zusammenhänge keine Änderung unserer gegenwärtigen Situation zu erreichen sein, sich sogar ins Gegenteil wenden? Sollte sich wirklich nichts ändern? Mir ist es unvorstellbar, daß es heute, nach Hiroshima und Auschwitz noch Krieg, noch solche gefährlichen sich ausweitenden Schwierigkeiten geben kann? Wie können das die Völker, wir das zulassen? Ich beunruhigt. (TB2/223)
Im März 1971 erhielt er das Diplom, hatte das Studium abgeschlossen, eine solide Karriere als Bühnenbildner stand ihm offen. Mit der Inszenierung von Strawinskys Geschichte vom Soldaten, konnte er zum ersten Mal die eigenen Entwürfe „plastisch“ (TB2/231) realisiert. Er versuchte seine Zeichnungen „detaillierter zu bebildern, sie in Räume zu übertragen, Modelle zu bauen, Puppen, Figuren, Möbel“, er überwand „jede Angst vor der Regie, daß ein anderer es besser, vom Inhalt richtiger packen könnte“ (TB2/231). Er war selbstbewusster geworden, fürchtete keine Konfrontationen mehr und blieb sich und seinen künstlerischen Vorstellungen treu. Das führte im Laufe seiner Karriere zum Abbruch verschiedenster Arbeitsbeziehungen, doch hätte Schleef sich keinen Vorschriften angepasst, die seine Konzeptionen beschädigt hätten. Jede Anpassung glich für ihn einer Bestechung. Womit er nie zurecht kam, war der „praktische Theateralltag“, der ihm rätselhaft blieb. Ihn erschreckten „Verhaltensformen, Ausdrücke, Zugehörigkeiten zu diesem Betrieb, kurz, zum Haus, wie es fast aus jedem Theatermund kommt“(TB2/231).
DAS TEAM TRAGELEHN/SCHLEEF AM BE UND DAS THEATER DES SKANDALS Der Durchbruch kam mit der Zusammenarbeit mit B. K. Tragelehn, einem ehemaligen Meisterschüler Brechts, der seit 1972 als Regisseur am Berliner Ensemble arbeitete. Sie wurden für einige Jahre zu einem festen Arbeitsteam und der junge Bühnenbildner hatte die Gelegenheit, auch eigene Regieeinfälle einbringen, bis er sich auch als Co-Regisseur an der Seite von Tragelehn behauptete. Die gemeinsamen Jahre am Berliner Ensemble unter der Intendanz von Ruth Berghaus führten zu drei Inszenierungen. Erwin Strittmatters Katzgraben und Franz Wedekinds Frühlings Erwachen, in denen schon, besonders in der Raumgestaltung, viele der späteren Kennzei-
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chen von Schleefs Theater zu finden sind, waren auf Grund ihrer innovativen, dem Brechtschen Kanon abweichenden Einfälle sehr umstritten. Die provokative Aufmachung von Katzgraben, ein Stück, das als beispielhaft für den sozialistischen Realismus galt, legte jegliche Kennzeichen einer realistischen Darstellung ab. Den grauen Farben Brechts wurden zum Beispiel bunte Kostüme entgegengesetzt, laute Aufzeichnungen von Schalmeienorchestern sollten eine parodistische Antwort auf die „bürgerlichen Symphonieorchester“19 bieten. Wie Tragelehn es selber beschreibt, stellten sie der Reihe von „pädagogisch“ und „ideologisch“ aufgeladenen „Fibelbildern“, mit denen Brecht „liebevoll“ die „Sittenschilderung“ anging, so etwas wie einen „Comicstrip ideologischer Bilder“20 entgegen. Diese Einstellung wirkte zu possenhaft und wurde als dem Stück gegenüber untreu, wenn nicht sogar verleumderisch, kritisiert 21. Die dritte Inszenierung – August Strindbergs Fräulein Julie – löste sogar einen der größten Skandale in der Theatergeschichte der DDR aus. Die Absicht des Regieteams war es, eine neue Orientierung des Brechtschen Inszenierungsverfahrens22 vorzuschlagen, da die Theaterliteratur und -praxis seit 1949 fast ausschließlich auf Brechts Vorbild fixiert war. Besonders in dem Haus, an dem Brecht so intensiv gearbeitet hatte und dann von seinen Erben geleitet wurde, konnten autonome, die Tradition brechende Einfälle, nicht geduldet werden. In den 70er Jahren ergab sich dennoch immer häufiger das Bedürfnis, die „bis dahin unangefochtene Autorität Brechts“23 – an der bis dahin mit fast religiösen Hochachtung festgehalten wurde – zu lockern. Selbst Manfred Wekwerth, der nach dem Tod des Meisters als einziger unter seinen Regieschülern am Berliner Ensemble weiterwirkte – im Gegensatz zu den emigrierten Egon Monk, Peter Palitzsch, Carl. M Weber und dem Kollegen Benno Besson, am Deutschen Theater auch den Werken anderer Autoren öffnete und sich somit vom Brechstoff entfernte – sprach sich gegen ein unnachgiebiges Epigonentum Brechts aus: Die szenischen Mittel Brechts, erfunden zur Zerstörung sozialer wie künstlerischer Gewohnheiten, werden durch gedanken- und bedenkenlose Wiederholung selbst zu Gewohnheiten. Man vermittelt nicht mehr die Wirklichkeit, man verwirklicht nunmehr Mittel. Brechts zentrales Anliegen, die Wirklichkeit als veränderbar zu zeigen (Verfremdung) und so im gemeinsamen Vergnügen Bühne und Publikum wieder zusammenzuführen, wird zu jener Fremdheit, mit der man zu seinem Klassiker aufschaut, der sich durch Vertrautheit entzieht. Kurz: Brechts Methode, das Theater von ästhetischer Starre (Stil) zu befreien, um es für die Darstellung von Veränderungen selbst veränderlich zu halten, wird als Stil festgenagelt. Brecht wurde zum Brecht-Stil.24
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Und gerade zu diesem Auflockerungs- bzw. Emanzipierungsprozess leisteten Schleef und Tragelehn einen starken Beitrag. Von Brecht ausgehend, sollte es zu einer Weiterentwicklung seiner Lehre kommen, um diese nicht erstarren zu lassen und deren Wirkungspotenzial nicht zu verlieren. Die allgemeinen Arbeitsbedingungen am BE waren sehr konservativ geworden, es wurden zwar neue, bzw. nicht von Brecht geschriebene oder aufgeführte Stücke gespielt, doch all das, was sich auch nur andeutungsweise von den Brechtschen Anleitungen entfernte, wurde von der Intendanz abgelehnt. Diese war wiederum stark mit der Partei verbunden, also in den künstlerischen Entscheidungen nie wirklich frei. Alle Konzeptionen, die eine politische Provokation oder Anregung ahnen ließen, wurden vermieden, aus Angst vor den gesellschaftlichen Nebenwirkungen. Somit entstand die Gefahr, Kunst versiegen zu lassen und sie ihres Potenzials zur sozialen Intervention zu berauben. Dagegen sträubte sich das Tragelehn/SchleefTeam, wie aus diesem Gespräch mit Tragelehn hervorgeht: Die alten Aufführungen (am BE) liefen zum tausendsten Mal, und die Schauspieler haben nur noch nachgespielt. Vom Anfang, von den Anfängen war da nicht mehr viel übrig. Als Brecht zurückkehrte, war sein Projekt ein Theater zur wissenschaftlichen Erzeugung von Skandalen gewesen [...] Nach Brechts Tod, wurde der Realismus repräsentativ, opernhaft, ein Verismus. Das BE ist immer eine Insel gewesen, eine Festung, und natürlich hat sich das fortgesetzt, verstärkt fortgesetzt, als Brecht starb. Aber dann ist eben irgendwann nur noch der Ruhm verteidigt worden und nicht mehr die Produktion. Nach jahrelangem Ruhm und Verfall sollte dort was Neues versucht werden, das mußte schwierig werden [...] deshalb die neuen Stücke [...] aber daneben lief die Konventionalität weiter, und mit den Schwierigkeiten und mit den Widerständen wurde sie sofort wieder stärker.25
Im selben Gespräch erzählt Tragelehn, wie er seinen Ausstatter Schleef bereits während der Proben zu Katzgraben anregte, eigene Konzeptionen zu verwirklichen. Er wollte nicht alleine über die Inszenierung entscheiden, sondern sich mit Bühnenbildner und Dramaturg konfrontieren und eine wahrhaftige Kooperation entstehen lassen. Während des Arbeitsprozesses wurden verschiedene Vorschläge gemacht, bis sie sich auf eine Lösung einigten, und beide überschritten ihre Rolle da, wo sie glaubten, nützliche Einfälle zu haben. Tragelehn erinnert sich, welch „ein enormes Gefühl für Konstruktion, für räumliche Gliederung“ 26 Schleef besaß und wie die gemeinsamen Überlegungen letztendlich zu einer so gut wie leeren Bühne führten: keine überflüssigen Dekorationen, nur wenige Objekte, mit denen die Schauspieler auch hantieren mussten. Auch offiziell wurden beide Namen zusammen unter der Bezeichnung „Inszenierung“ angegeben und nicht getrennt als „Regie“ und „Ausstattung“. Schleefs Leistung war auch tat-
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sächlich die eines Co-Regisseurs. Er zögerte nicht, Regieanweisungen zu erteilen, hatte nicht die Absicht, seinen Übermut zu bremsen und traute sich sogar, das bis dahin unantastbare Bodentuch Brechts wegzureißen. Er musste sich den Theaterraum aneignen, diesem eine persönliche Form zuteilen, frei von dem beklemmenden Einfluss jeglicher vorher bestehenden Schemata. Er betrachtete seinen Entschluss nicht als Beleidigung oder Blasphemie gegenüber dem BETheatergottes Brecht, sondern als Bedingung, um eine auf die eigenen Bedürfnisse zugeschnittene Arbeitssituation zu erstellen – nur so könne unabhängige und authentische Kunst entstehen. Um es mit Schleefs Worten zu sagen: Zum ersten Mal sahen die Mitarbeiter im Theater, dass unter diesem Teppich Holzbretter waren. Für mich war der Abriss keine Destruktion, sondern ich musste mir diesen Raum zu eigen machen. Ich musste meinen eigenen „Teppich“ auslegen. (DFP/468)
Eine weitere Zusammenarbeit des skandalösen Teams Tragelehn/Schleef widmete sich inoffiziell der Inszenierung zweier Stücke Heiner Müllers 27, Die Korrektur und Herakles 5. Sie probten mit einigen Studenten der Schauspielschule am Prenzlauer Berg und bekamen eine Anfrage seitens einiger Studenten der Freien Universität in Westberlin. Die Realisierung von Herakles 5 – die eine Uraufführung gewesen wäre – wurde untersagt. Während der Arbeitsphase an Die Korrektur bildete sich zum ersten Mal ein „schleefscher“ Chor – ganz ohne Zwang, wie Tragelehn erklärt: Die Darsteller saßen, ohne Kostümierung in ihren privaten Sachen, auf zehn Stühlen in eine Reihe, der Text [...] wurde nach vorne gesprochen, nicht zueinander, und auch die wenigen Gesten, Handgeben oder zum Telefonhörern greifen, wurden nach vorn gespielt, nicht miteinander und ohne Requisiten, die Titel sagte einer an, die Rollen waren aufgeteilt, aber die Hauptrolle, Bremer, ein in die Produktion strafversetzter Staatsfunktionär, alter Kommunist, wurde von allen im Chor gesprochen. Das ergab sich ganz zwanglos auf der ersten Leseprobe.28
Die Schauspieler sprachen gemeinsam den Text. Ohne es wirklich zu planen, entstand die chorische Form konsequent beim Versuch, sich in eine Situation hineinzuversetzen, die ihnen fremd war, da sie zu jung waren, um die im Text beschriebenen Zustände erlebt zu haben. Es war der chorische Versuch, den alten Bremer zu begreifen und zu verinnerlichen. Dieser Chor sollte dennoch nicht das Licht der Bühne erblicken; die Proben wurden noch vor der Premiere unterbrochen und zwar genau auf Grund dieses chorischen Einfalles, der die Intendanz erschreckte.
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Der Skandal um Fräulein Julie und die Schwierigkeiten am BE Die Premiere von Frühlings Erwachen, die sich auch wieder in einem fast leeren Raum mit wenigen Objekten und gedämpften Farben abspielte, fand am 1. März 1974 statt. Zwei Monate später wurde Schleef gezwungen seinen Vorsatz zu brechen, den er bereits während der Schulzeit 1963 in sein Tagebuch eingetragen hatte: „Ich kann und werde keine Fahne tragen“ (TB2/311). Er war sich der Gefahr bewusst, welcher er sich selber aussetzte, im Falle, dass jemand diesen Satz lesen würde. Schon damals wollte er sich keiner Gruppe, keinem Kollektiv, keiner Masse anschließen. Für den jungen nach Individualität strebenden Idealisten handelte es sich nicht bloß um einen Satz, für ihn „war das Programm“ (TB2/ebd.). Diesem Programm blieb er auch treu, so lange „es keine roten Fahnen mehr zu tragen gab“ (ebd.). Mit einer ungewollten Ausnahme, als die damalige Intendantin des Berliner Ensembles, Ruth Berghaus, ihn und seinen Kollegen Tragelehn 1974 aufforderte, an der Demonstration für den 1. Mai teilzunehmen. Sie log und behauptete, es wären auch Plakate mit den Titeln ihrer Inszenierungen dabei und es wäre angebracht, dass sie sich als wichtige Vertreter des Theaters auch der Partei gegenüber zu solch einem bedeutungsvollen Anlass solidarisch zeigten. Keine Widerrede sei erlaubt. Schleef spielte mit, dachte ausschließlich an den ihm versprochenen Pass, um öfters aus beruflichen Gründen in den Westen fahren zu dürfen (vgl. TB2/311). Beide beugten sich der unausgesprochenen Erpressung, und der Vorhang öffnete sich für die Aufführung von Frühlings Erwachen. Die heikelste und für die Anführer auf existenzieller Ebene wirkende Auseinandersetzung mit den leitenden Persönlichkeiten des BE begann erst 1975 mit der Probearbeit zu Fräulein Julie von August Strindberg. Es war die dritte Tragelehn-Schleef/Koproduktion am BE, und sie sollte einen kulturpolitischen Skandal hervorrufen. Wenige Stunden vor Beginn der Premiere war noch nicht sicher, ob diese tatsächlich stattfinden könne. Die Brechterben sträubten sich gegen die Gestaltung der Vorstellung, insbesondere Brechts Tochter Barbara und ihr Ehemann Eckerhart Schall. Dieser reichte als Protestzeichen gegen die für ihn unvertretbaren, künstlerischen Entscheidungen des Theaters sogar seine schriftliche Kündigung ein mit der Bitte, das Publikum darüber zu verständigen, dass „diese Inszenierung ohne jede Rücksichtnahme auf Brecht“ 29 stattgefunden hätte.30 Die Inszenierung, die sich als „keckster Provo-Shocker der Saison“31 erwies, beruhte auf den bereits in den vorherigen Arbeiten der beiden Regisseure etablierten Merkmalen: leere weiße Bühne, knallbunte clownhafte Kostüme, körperbetontes Spiel, Wiederholung von bestimmten Textstellen und Einfügung von
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Textabschnitten, die nicht in der Vorlage vorkommen, obwohl diese vollständig gespielt wird. Verschiedene mit zeitgenössischen Situationen verbundene Andeutungen sowie Improvisationsmomente, in denen die Darsteller auch private Erfahrungen hineinspielten, ließen jeden Anspruch auf ein rein naturalistisches bzw. historisches Handeln fallen. Die eigentlich ernsten Geschehnisse wurden bereits durch das exzentrische Aussehen und alberne Auftreten der spielenden Figuren entdramatisiert und noch dazu zersplittert durch das Eindringen von komischen oder absurden Einfällen. Dabei schockierte am meisten ein großer Plastikphallus, den sich der männliche Darsteller umschnallte, um seine Machtposition gegenüber den beiden Frauen auch optisch zu betonen. Um die politisch bestimmte Vorgehensweise der Leitung des BEs, die solche Wagnisse als der Tradition gegenüber beleidigend empfand und zensierte, soll an dieser Stelle auf einen Beitrag von Friedrich Dieckmann hingewiesen werden, in dem dieses Thema aufschlussreich und etwas ironisch auf den Punkt gebracht wird. Hier stellt der Autor einen imaginären Dialog zwischen A und B dar, wodurch das Stück Fräulein Julie und die Tragelehn/Schleef Inszenierung gedeutet und hinterfragt werden. B: Statt dem Gesindetanzes sah man eine Anzahl aktuell gewandeter Jugendlicher einen Beattanz vollführen, und auf dem Etikett einer Bierflasche lasen die vorderen Zuschauer deutlich „Wernersgrüner Pilsner“. Strindbergs Jean hatte zweifellos Carlsberg oder Tuborg getrunken. A: Und das an einem Theater, dessen Gründer gefordert hatte, jedes Requisit solle wie ein Museumsstück aussehen! Alles müsse ganz echt wirken, von Gebrauch gezeichnet und völlig historisch. B: Aber er hatte auch die Kargheit der Bühne verkündet. A: Ja, damit die Museumsstücke besser zur Geltung kämen! Und da kommen nun ein paar grüne Dreißigjährige, erklären, die Lektion sei gelernt, man müße einen Schritt weitergehen, und lassen nur die Kargheit übrig. B: Das mußte Verstimmung hervorrufen. A: Verstimmung? Empörung! Ein Aufschrei ging durch die Bänke: Was habt ihr mit dem guten Brecht gemacht! Er war uns so anheimelnd geworden, nun ganz ohne Museumsstücke. B: Es war doch aber gar kein Stück von Brecht. A: Aber das Haus, verstehst du, das Haus! Wenn in einem Theater einmal ein großer Mann am Regiepult gesessen hat, so wird es das in Jahrzehnten nicht wieder los. 32
Mit dem, was verschiedentlich als „tragikomische Trivial-Travestie“33 beschrieben wurde, wollten die Regisseure absichtlich jede Vorschrift zerreißen, die von
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der herrschenden Hauspolitik aufgezwungen worden war. Einschränkende Regeln und Richtlinien wirken lähmend, besonders auf eine Kunstform wie Theater, das dadurch seines subversiven Charakters und der Möglichkeit einer sozialen Wirkung beraubt wird. Dagegen mussten sich zwei ehrgeizige, frei denkende Persönlichkeiten wie Tragelehn und Schleef wehren, ohne die vorhersehbaren Konsequenzen zu fürchten. Besonders bedrängend wirkte in ihrer Fräulein Julie/Inszenierung die letzte Szene, in der sich Schleef gegen den offensichtlichen Selbstmord entscheidet. Julie zog ihr weißes Bette-Davis-artiges Tüllkleid aus, das in späteren Aufführungen Schleefs mehrmals wiederaufgenommen wurde, und ging zwischen den Schauspielern, die sie teilweise stützen mussten, aus dem Raum hinaus. Sie balancierte über die Stuhllehnen des Parketts, flüchtete von dem Wahnsinn, der sich auf der Bühne abspielte. Die Entblößung sollte Metapher eines Befreiungsaktes sein: Nackt konnte Julie das Geschehene hinter sich lassen und dem Unbekannten entgegengehen. Schleef wird dieses von ihm konzipierte Selbsterlösungsbild später als Vorwarnung oder Ankündigung seiner DDR-Flucht beschreiben: Während der Proben zu FRÄULEIN JULIE stehe ich mit der Darstellerin an der Bühnenkante und wir probieren das Verlassen der Bühne über die Köpfe der Zuschauer. Es ist der wichtigste Moment der Aufführung, der Schluß. Zum ersten Mal erkläre ich stotternd einer Darstellerin, daß sie nackt über die Zuschauer gehen möchte. Für beide, Regisseur und Darstellerin, fällt unbewußt eine Lebensentscheidung. Mein Kollege ist nicht dabei, wir sind allein. Zunächst ist dieser Moment für mich die Absage an die auf dieser Bühne behandelten Probleme, Pseudoprobleme der DDR; die die Darstellung eines ungeschönten DDR-Alltags verbieten. Julies Verlassen der Bühne, die nicht in den Tod, sondern in eine Ungewißheit abgeht, ist unbewußt meine Republikflucht. (TB2/373)
Nach der umstrittenen Premiere wird entschieden, das Stück gleich aus dem Spielplan zu entfernen. Damit wird den Regisseuren klar, dass eine zukünftige Tätigkeit am BE so gut wie unmöglich sein wird. Auch an anderen Häusern bekommen sie Schwierigkeiten. Das Deutsche Theater gibt Schleef einige Konzeptionen in Auftrag, die dann nicht akzeptiert oder geändert an andere Regisseure übergeben werden. Am Staatlichen Puppentheater Dresden kann er die Uraufführung von dem selbstgeschriebenen Stück für Kinder Der Fischer und seine Frau fertigstellen, doch das häufige Improvisieren kommt nicht gut an und das Stück wird nach der Premiere nicht ein zweites Mal gezeigt. Schleef hätte sich durchsetzen können, entschied sich aber dafür, weitere Diskussionen zu vermeiden, die eine Ausreisemöglichkeit in den Westen gefährdet hätten.
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Umsiedlung in den Westen und Rückkehr an das Theater Er bekam tatsächlich den beantragten Pass und ging nach Wien, um am Burgtheater erneut mit Tragelehn zu arbeiten. Obwohl er nach den vielen Hindernissen kein Interesse mehr daran hatte, in der DDR um Engagements zu kämpfen, fiel Schleef der Weggang nicht leicht. Er war zwischen Schuldgefühl und Ablehnung der zensierenden Eingriffe in seine Arbeit hin und hergerissen, dann entschloss er sich endgültig gegen die DDR. Anfang 1976 ist klar, keine Arbeit mehr in der DDR. Ich erhalte einen Paß, bin Reisekader, billiger Mietsklave im Westen. Ich darf für meine „Familie“ und mich einen Antrag auf Unterstützung im Kulturministerium einreichen, da ich keine finanziellen Einnahmen mehr in der DDR zu erwarten habe. […] Ich bin in einer absolut hilflosen Situation, ich, der ich nie daran gedacht habe, die DDR zu verlassen, gehe freiwillig, nicht unter Druck, sondern ich lehne das Angebot ab, für Nichtarbeiten teuer bezahlt zu werden. Ich verweigere mir damit auch eine erlaubte innere Emigration. (TB2/389)
Er blieb eine Zeit lang in Wien, aber auch dort wurde er mit Ablehnungen, Verzögerungen und Spielereien konfrontiert. Auch dort fühlte er sich den Theaterdirektionen und der allgemeinen Ablehnung gegenüber Ost-Abschwörern schonungslos ausgesetzt. Von allen Seiten fühlte er sich angegriffen, als würde man sich gegen ihn verschwören. So klagt er im Tagebuch: Einstimmig wurde einem die Existenz unter den Füßen weggezogen, das läßt sich nicht nur mit österreichischen Charaktereigenschaften, dem kleinlichen Deutschenhaß erklären, es war direkte Kampfansage, daß man sich sein aufblühendes Ostgeschäft nicht von einem skrupellosen Stotterer, der ein Privileg, um das lange gekämpft wurde, ausnützt, um einem bösartig in den Rücken zu fallen, so sah man das in Wien, im BE, im Kulturministerium, der Kaufmann in Sangerhausen, bei dem Mutter anstand, so tröteten viele meiner Freunde. (TB3/17)
Er gab nicht nach, verhandelte weiterhin mit verschiedensten westdeutschen Theatern, durchdachte einige Vorschläge, doch aus dem einen oder anderen Grund boten sich keine Möglichkeiten, die seinen künstlerischen Vorstellungen entsprachen. Und da er nicht zu Kompromissen neigte, die seine Inszenierungen gesellschaftspolitisch tauglich gemacht hätten, legte er die Arbeit am Theater erstmals beiseite. Zwischen 1978 und 1981 nahm er an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin ein zweites Studium im Fach Regie auf. Er arbeitete für den Hör-
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funk und versuchte sich sogar als Darsteller im Film Zufall (1984) unter der Regie von Hans-Peter Böffgen. Er reiste zwischen Wien, Frankfurt und Berlin; fand Unterschlupf bei Freunden und konzentrierte sich immer intensiver auf das Schreiben. So entstanden eigene Theaterstücke und Erzählungen. Doch das anspruchsvollste Projekt wurde der Monumentalroman Gertrud. Das Werk in zwei Bänden sollte das Leben seiner Mutter bis in die kleinsten Details rekonstruieren; in Form eines endlosen Monologs in ihrer Muttersprache, dem Sächsischen. Das Leben dieser Frau sollte auch Spiegel eines deutschen Alltags über fünfzig Jahre hinweg sein. Die Gliederung des Romans besprach er zuerst mit Hans-Ullrich Müller-Schwefe, der damals Lektor beim Suhrkamp Verlag war und später einer der engsten Mitarbeiter Schleefs wurde; der Vorschlag wurde vom Verleger akzeptiert. Gertruds Geschichte sollte in drei großen Abschnitten behandelt werden. Ihre Kindheit und Jugend, in der sie „Kind und Frau“ ist, sollten in „Großdeutschland“ spielen; das erwachsene Leben, in dem sie erst „Ehefrau“ und dann „Witwe“ wird, in der DDR und die dritte Phase, in der sie als „Oma“ in Rente ist, sollte sich in der DDR und BRD abspielen 34. Wie er selber erklärt, hätte er im „Hintergrund“ die „Auflösung einer Familie, an der Deutsche Geschichte demonstriert wird“ geschildert, während im „Vordergrund“ das Leben einer Frau skizziert wird, „die allein auf den Tod zugeht“(TB3/233). In die Seiten des Romans fließen vorher verfasste Beschreibungen, Tagebuchaufzeichnungen, Auszüge aus Gertruds Briefen ein. Durch den Prozess, die Lebensgeschichte seiner Mutter zurückzuverfolgen, scheint Schleef, der sich selbst verbannte, eine Heimat zu suchen, eine Nähe zur vertrauten, wenn auch oft schmerzhaften Vergangenheit wiederherstellen zu wollen. Vielleicht kann er auf diese Weise sogar die Schuldgefühle abbauen, die ihn nach der Ausreise aus der DDR bedrücken, der alleingelassenen Mutter gegenüber, obwohl sie seinen „Weggang“ nicht verhindert hatte – nach dem Tod ihres Mannes „war ihr alles egal, sie schien es gar nicht wahrzunehmen, sie wollte und konnte nicht mehr leben“ (TB1/84-85). Im Roman lässt Schleef absichtlich jede psychologische Spekulation aus, er gibt sich keine Antwort auf das widerspruchsvolle Verhalten der Mutter, die eine höllische Ehe erlebte, von ihrem Mann geschlagen und wiederholt erniedrigt wurde und trotzdem eine starke Bindung spürte, von dieser gewalttätigen Beziehung abhängig war und ohne diesen negativen Bezugspunkt sich wie entleert fühlte. Dass er sich aber Gedanken über innerliche Verwicklungen und daraus entstehende Haltungen machte, steht nicht in Frage. Die Person seiner Mutter, das Verhältnis zu ihr sowie auch ihre Art, sich mit der Außenwelt und dem männlichen Geschlecht zu konfrontieren, beeinflussten Schleefs Weiblichkeitskonzept. In der Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen, Machtkämpfen und
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Versuchen der Emanzipation kann er von der Figur seiner Mutter nicht absehen, als wäre sie ein Schlüssel zum Verständnis von besonderen sozialen Dynamiken, Anhaltspunkt im Deutungsprozess der Realität und deren Umsetzung in schriftlichen Texten oder auf der Bühne. Nach genau zehn Jahren Abwesenheit vom Theater unterschrieb Schleef 1986 einen fünfjährigen Vertrag mit dem Schauspiel Frankfurt, wo ihn der Intendant Günther Rühle unbedingt als einen der Hauptregisseure haben wollte. Hier fand er endlich den benötigten Freiraum, um die vielen, originellen und nicht unkomplizierten Ideen umzusetzen. Hier kam der Einar Schleef zur Geltung, der mit seinen Inszenierungen großes Aufsehen erregte, der eine unverwechselbare Chorform konzipierte, der seine sehr persönlichen Theorien über die Entstehungsgeschichte des abendländischen Theaters, dessen Entwicklung, Stagnations- und Erneuerungsphasen in dem komplexen, 1997 erschienenen Essay Droge Faust Parsifal festhielt. Allein mit der ersten Inszenierung, Mütter, sicherte sich Schleef, wenn auch ex negativo, einen Platz in der Geschichte des gegenwärtigen Theaters. Die anderen Arbeiten, die während der Frankfurter Zeit entstanden, waren Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1987), das eigene Stück Die Schauspieler (1988), Goethes Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand (1989) und Faust (1990), und Lion Feuchtwangers Neunzehnhundertachtzehn oder Sklavenkrieg (1990). Drei weitere wichtige Inszenierungen, die erst später jeweils am Berliner Ensemble in Berlin, wo er nach der Wende wieder arbeiten konnte, und am Burgtheater in Wien realisiert wurden, waren Rolf Hochhuths Wessis in Weimar (1992), Bertolt Brechts Puntila und sein Knecht Matti und Elfriede Jelineks Sportstück, womit er den größten Erfolg erreichte. Schleef starb 2001 an den Nachwirkungen eines Herzinfarktes, den er während der Probenzeit an Macht-Nichts. Eine kleine Trilogie des Todes erlitt. Das Stück hatte Jelinek mit dem Hintergedanken einer weiteren Zusammenarbeit mit Schleef geschrieben und hätte im selbigen Jahr am Berliner Ensemble uraufgeführt werden sollen.
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Aus dem biographischen Exkurs geht hervor, wie besonders zwei Elemente eine zentrale Rolle für sein künstlerisches bzw. theatralisches Schaffen spielten: Die Figur der Frau und die des Chores. Beide betrachtete Schleef von einer historisierenden sowie gegenwärtigen Sicht und ergründete Funktion und Schicksal der genannten Subjekte in Hinblick auf die Entfaltung der Theatergeschichte und der sich ändernden gesellschaftlichen Zuständen. Doch bevor auf die genannten Schwerpunkte tiefgründig eingegangen wird, erscheint es sinnvoll, einen kurzen Einblick in die Entwicklungsgeschichte des Chorelements zu gewinnen, der eine so große Rolle in der Entstehung des Theaters selber spielte und im Laufe der Zeit aus verschiedenen Gründen fast verloren ging, sodass er aus modernen Sicht als fremde bzw. erschreckende Komponente vorkommt. Der Überblick soll also im Sinne eines Promemorias gegliedert werden, um stichwortartig einige Anhaltspunkte festzulegen, die sich, in der Auseinandersetzung mit Schleefs oft komplexen, extravaganten und sehr weitreichenden Ansichten über die abendländische Kulturgeschichte als hilfreich ergeben werden. Die folgenden Absätze sollen also die für glaubwürdiger gehaltenen Entstehungstheorien skizzieren, sowie eine Palette von Funktionen nennen, die dem Chor innerhalb der griechischen Tragödie des 5. Jahrhunderts zugeschrieben wurden. Es wird über das Verschwinden der Chorformationen von den Bühnen der europäischen Theater berichtet, sowie über den Umgang mit der doch unterschwellig weiterexistierenden Figur der antiken Tragödie. Diesbezüglich wird auf die gescheiterten Versuche einer Neubelebung des Chorsubjekts auf dem deutschen Theater des 18. und 19. Jahrhunderts hingedeutet, bzw. auf die Tendenz, die Inszenierung einer Chorgestalt zu umgehen und seine Funktion durch verschiedene Auswege wirken zu lassen. Darüber hinaus werden einige imposanten Wiederaufnahmen der Chorfigur im Zeitalter der Massifizierung und de-
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ren Instrumentalisierung innerhalb einer nationalsozialistischen Theaterästhetik geschildert. Die Rekonstruktion eines Chorgeschickes wird bis ins Deutschland der Nachkriegszeit reichen, um auf einige Beispiele von Neuinszenierung antiker Tragödien hinzudeuten und somit ein möglichst vollständiges Panorama derjenigen Theaterlandschaft zusammenzusetzen, in die Einar Schleef ab Ende der 1970er Jahre mit dekonstruierenden Absichten eintauchte. Das Kapitel soll also als Kontextualisierung des Phänomens Schleef verstanden werden, das sich – wie noch ausgiebig beschrieben wird – von allen den genannten, potenziellen Vorbildern absonderte und einen ganz eigenen Weg für die ersehnte Rückführung des Chores auf der gegenwärtigen Bühne suchte.
ASPEKTE DER CHORISCHEN URSPRÜNGE DER TRAGÖDIE Die Poetik von Aristoteles – vermutlich zwischen 330 und 334 v. Ch. verfasst – ist bestimmt die wichtigste unter den antiken uns überlieferten Schriften über die Geschichte und Gestaltung der verschiedenen Kunstgattungen der alten Griechen. Aristoteles Beschreibungen zu Entstehungsvoraussetzungen, Entwicklung und Strukturierung von Tragödie, Komödie, Epos und Lyrik, bieten nach wie vor ein wertvolles Instrument, um ein Gesamtbild der altgriechischen Literaturproduktion zu rekonstruieren. So ist seinen aufschlussreichen Behauptungen zu entnehmen, welche Acht dem Chor in der Gestaltung einer Tragödie eingeteilt werden sollte: Den Chor aber muss man wie einen Schauspieler behandeln, er muss Teil des Ganzen sein und an Handlung beteilig sein, nicht wie bei Euripides, sondern wie bei Sophokles. Bei den übrigen Dichtern gehören die gesungenen Partien um nichts mehr zur jeweiligen Handlung als zu irgendeiner anderen Tragödie.35
Wie verschiedentlich belegt wurde, ist der Chor also als grundsätzliches, wenn nicht ursprüngliches Element des Theaterphänomens zu verstehen, das älter als die Tragödie selbst ist und „aus der Landschaft“36 kommt. Als sich natürlich gebildete Einheit findet der Chor dann seinen Weg in das Theater und transformiert dieses „in einen Ort der Mitteilung“37. Wenn zuerst mit „Xoros“ der Platz gemeint war, auf dem eine Gruppe von Menschen Reigentänze und Gesänge aufführte, wurde der Ausdruck im Laufe des V. Jahrhunderts immer mehr auf die Gruppe selber bezogen38, die durchgehend den Ablauf der szenischen Ereignisse
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einführte (Parodos), begleitete (Stasima), kommentierte und zusammenfasste (Exodus). Diese singende Gruppe ist wiederum in enger Verbindung mit der Entstehung der Gattung Tragödie selbst zu sehen. Eindeutig ist das nicht zu belegen, doch scheint die Abhängigkeit der Tragödie vom Dionysoskult unbestreitbar. Bereits Aristoteles behauptet, dass die Tragödie aus dem Dythirambos39 entstanden sei, dem Lied zu Ehren des Dionysos, das bekanntlich von einer Satyrengruppe aufgeführt wurde – also chorisch. Erst später, wahrscheinlich durch den Dramatiker Thespis – dessen Werke uns nicht überliefert wurden, doch der vermutlich 536 v. Ch. als erster eine Tragödie bei den Großen Dionysien vorgestellt hatte – wurde der Aufführung ein Schauspieler hinzugefügt, der sich von dem Chor trennte und mit diesem von der Bühne aus, einen Dialog anfing. Die Urform der Tragödie wäre somit eine chorische gewesen, Theaterbau, Dramatik und Differenzierung der Rollen entwickelten sich erst später 40. Aus dieser Feststellung lässt sich bereits die Mahnung Schleefs erklären, der darauf hinweist, wie unentbehrlich die Erhaltung des Chorelements für das Weiterbestehen der gesamten Tragödiengattung sei, wie noch tiefgründiger zu thematisieren ist. Die Vorstellung einer singenden und tanzenden Gruppe in Anbetung des Dionysos bietet auch eine der glaubwürdigsten Erklärungen zur Etymologie des Begriffes Tragödie – Tragodia –, wo Odia für Gesang steht und Tragos für Bock bzw. Ziegenbock41. Trotz der verschiedenen Hypothesen 42, die um das BockEnigma erstellt wurden, wird hier im Sinne von Aristoteles auf dem grundlegenden Element des Satyrhaften beharrt und besonders auf der Bekleidung der Anhänger des Dionysos, die sich in Bocksgewänder einhüllten. Tragödie sei also, zumindest in der embryonalen Phase, chorischer „Gesang in Bockgestalt“43 gewesen. Um Dionysos herum, bewegten sich dennoch nicht nur Gruppen von Männern mit erhobenen Phalloi, sondern – wie bereits im 6. Gesang der Ilias44 (V 130ff) dargestellt wird – Reigen rasender Frauen, auf die in der Auseinandersetzung mit Schleefs Inszenierungen wieder hingedeutet werden soll, da sie ihm einwandfrei als Vorbild für seine Frauenchöre dienten. Diese nannten sich Mainades – abgeleitet vom griechischen Verb für rasen, mainesthai – und limitierten sich nicht mit dem schlichten Tanzen: Sie befanden sich in einer Manie, waren außer sich, in einem völlig irrationalen Zustand 45. Dieser Zustand des Außer-sich-Seins, das Heraustreten aus dem eigenen Ich – ek-stasis – ist kennzeichnend für den Dionysoskult. Das Erlebnis der Ekstase ermöglichte es dem Menschen, momentan aus dem Bereich des Rationalen auszubrechen, die Vernunft sogar auszuschalten und sich in einem Zwischenraum der Berauschung aufzuhalten. Ritueller Tanz, der die einzelnen Tänzer in eine „Gruppenekstase“ 46
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versetzte, Musik, Melodie und Gesang dienten als Rauschmittel, so wie auch Wein und Sexualität; alles Attribute, die auf Dionysos zurückweisen47. In einem späteren Kapitel soll sich herausstellen, wie dieses Thema auch hinsichtlich der Ergründung der von Schleef formulierten Überlegungen zur rituellen Drogeneinnahme und dem Bedürfnis nach Angehörigkeitsgefühl von großen Belang ist. Dieser Drang, aus der eigenen Existenz herauszutreten, „außersichsein“ zu wollen und sich also in ein anderes Sein zu projizieren oder dieses zu verkörpern, konnte in der Antike auch physisch, durch das Aufsetzen von Masken, erreicht werden. Hinter einer Maske kann Individualität verborgen werden; sie ermöglicht es, eine gewisse Distanz zwischen dem Sein und dem Dargestellten zu erschaffen. Und genau das taten die berauschten Gemeinschaften, die, tanzend und singend, Episoden aus dem Epos und dem Mythos evozierten und sich dem Dionysoskult widmeten: Die Mänaden verhüllten sich in Reh- oder Ziegenfelle, die Satyren trugen Bocksfelle48. Weibliche und männliche Gruppen agierten immer getrennt, und in der Orchestra der attischen Theater durften dann nur Männerchöre auftreten, die nach Bedarf Frauenrollen übernahmen49. Die anlässlich des Dionysoskultes im Rausch ungezwungen improvisierten Praxen, deren Gesänge der Tragödie zu Grunde liegen, wurden bald als Bedrohung für das Erhalten der politischen Ordnung empfunden – denn Irrationalität ist unkontrollierbar und steht den Machtorganen im Weg. Die Versuche, den Dionysoskult vollständig auszulöschen, mussten scheitern, da dieser zu stark im Geiste der Bevölkerung verwurzelt war, doch er konnte gezähmt werden. Durch das Erstellen der Dionysosfeste, wurde der Kult institutionalisiert und somit verharmlost50. Die Ekstase wurde auf bestimmte Jahreszeiten beschränkt und ihrer spontanen Natur beraubt51. In die Wege geleitet wurde mit dieser Reglementierung die Gründung der Institution Theater, dessen Entwicklung als Ort der Interaktion von einzelnen Personen den chorischen, kollektiven Keim immer mehr in den Hintergrund treten ließ, ohne wiederum diesen der Tragödie innewohnenden Bestandteil vernichten zu können – wie sich auch durch einen Überblick der erhaltenen Stücke der großen Tragiker deuten lässt, die sich in einer bereits existierenden Theaterlandschaft profilierten und sich immer weiter von den kultischen Ursprüngen der Tragödie entfernten52. Im Folgenden wird noch erläutert, wie es zur Ausradierung der physischen Anwesenheit des Chors aus den Aufführungen kam, wodurch dennoch die Essenz dieser Figur nicht gänzlich ausgelöscht werden konnte. An das unterschwellige Weiterleben des Chors wird Schleef anknüpfen, und sich noch einen Schritt weiter wagen, indem er sich selbst die Aufgabe gibt, den Chorgeist wieder zu verkörpern.
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Zur Funktion des Chores und seiner Marginalisierung Der aus zwischen zwölf und fünfzehn Elementen bestehende Chor war als Zuschauer und Beteiligter immer anwesend und sollte je nach Handlung eine bestimmte Gruppe aus dem Alltagsumfeld der Protagonisten darstellen. Laut einer sehr unwahrscheinlichen Geschichte, vermutlich von Pollux überliefert53, soll Aischylos für die Trilogie der Danaiden (Hiketiden, Aygiptioi und Danaiden von denen uns nur der erste Teil bekannt ist), einen Chor von 50 Elementen eingesetzt haben – wie die Töchter des Danaos, die bis zum Einbruch der 50 Eumeniden auf der Orchestra agierten. Daraufhin erschrak die Bevölkerung Athens so derartig, dass seitdem die Anzahl der Choreuten verringert wurde. Die Geschlechtertrennung war in der Chorfigur sehr streng, gemischte Gruppen waren nicht nur in der Besetzung – die sowieso nur männlich sein konnte – sondern auch in der Essenz des Chores als einheitliche Gruppe ausgeschlossen. Unter den insgesamt 43 überlieferten Werken von Aischylos, Sophokles und Euripides finden sich 15 Männerchöre (von denen die meisten Greisenchöre sind, wie z. B. in Perser, König Oedipus, Ödipus auf Kolonos, Agamemnon), 21 Frauenchöre (u. a. Die Schutzflehenden, Die Phönizierinnen, Die Troerinnen, Die Backchen, Medea, Elektra usw.) und einige sich aus Geschöpfen nichtmenschlicher, aber doch weiblicher Natur bildenden Chöre (siehe Eumeniden, Choephoren).54 Der Chor konnte eine agierende Funktion ausüben, die besonders in den ersten Aischyleischen Werken zu erkennen ist, wo der Chor noch der absolute Protagonist ist; sowie eine rein reflektierende Funktion, die immer mehr in den Vordergrund tritt und den Chor zu einem bloßen Betrachter und Kommentator der szenischen Ereignisse machte55. Durch die Stasima konnte dieser zum Beispiel mal die Stimme der Polis verkörpern und die Götter um das Wohl der Stadt und der Helden bitten, mal eine historisierende Aufgabe erfüllen, in dem er die mythologischen oder historischen Vorgeschichten zur Bühnenhandlung erzählte. Durch die Chorlieder war es möglich, andere zeit-räumliche Dimensionen einzufügen, die auch ohne einen direkten Einfluss auf die Handlung auszuüben, gewisse Zusammenhänge im Stück verständlicher machen konnten 56. Man denke z. B. an den klagenden Chor der Perser, wo die Greise an die lobenswerte Person des König Darius und an seine Niederlage erinnern. Zu den Protagonisten entwickelte der Chor ein zwiespältiges Verhältnis, immer schwankend zwischen empathischem Interesse und notwendigem Abstand. Das Einfühlungsvermögen sollte nicht in die Identifikation mit den Hauptfiguren münden, sondern dem Publikum die Möglichkeit öffnen, eine eigenständige Stellungnahme zu dem Geschehen einzunehmen. Mit seinen Aussagen
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diente der Chor nicht als direktes „Sprachrohr“57 des Dramatikers und wollte auch keine Reaktionen aufdrängen. Obwohl sich die Chorlieder in gewisser Weise immer auch an die Helden richteten und über das Bühnengeschehen reflektierten, sollte ihr tiefgründiger Zweck nicht das Mitteilen einer besonderen Botschaft sein, sondern viel mehr das Äußern von Affekten 58. Je nach Situation, gab sich der Chor in Schreien der Klage, der Angst oder des Jubels hin und erschuf einen „Klangraum“59, in dem keine dialogische Konfrontation mit den Schauspielern gesucht wurde, sondern ein natürliches „Echo“ auf die aufeinander folgenden Ereignisse entstand. Durch die kontinuierliche Anwesenheit des Chores, der während der gesamten Aufführungsdauer auf der Orchestra sichtbar blieb, konnte auch kein intimer Dialog zwischen den Protagonisten erfolgen, verinnerlichende Prozesse wurden immer von der Gegenwart des Chores gebrochen – die Privatsphäre wurde an die Öffentlichkeit gebracht. Der Chor erzeugte somit Transparenz und zwang die Protagonisten, sich immer mit einer Gemeinschaft auseinander zusetzten. Jede zum Solipsismus neigende Vorgehensweise, die den kollektiven Geist der Polis gefährden konnte, wurde aufgedeckt. Wesentliches Merkmal dieser Chöre war nämlich deren kollektive Natur: Es handelte sich nicht um zufälligen Menschenauflauf, sondern um bestimmte, einer gewissen Gemeinschaft angehörige Figuren, in der Individuen wenig Interesse erregten. Sie traten immer als eine von Geschlecht, Alter und sozialer Lage her gesehen homogene Gruppe auf und konnten somit also nicht das „Volk“ in seiner Ganzheit vertreten. Vielmehr wurde im Chor eine bestimmte Kategorie verkörpert, resignierte Greise, flehende Mütter, Kriegsgefangene, unerfahrene Mädchen. Die Identität des Chores entstand aus einem kollektiven und nicht einzelnen oder individuellen Bewusstsein, sogar die Sprechweise führt auf ein Einheitsgefühl zurück, wie sich von dem Gebrauch der ersten Person ableiten lässt: Der antike Chor ist zwar eine mehrköpfige, mehrstimmige Gestalt, stellt aber eine einheitliche Figur dar60. Diese Figur ist Stimme der öffentlichen Sphäre der Polis, die stets auf das „Hier und Jetzt des Theaters“ weist und durch die ständige Anwesenheit kein Einfühlen in das szenische Agieren erlaubt, sondern immer eine gewisse Distanz zur dargestellten „fiktiven Welt“ erzeugt und somit die „Wirklichkeit der Versammlung, die das Theater ist“ 61, spürbar macht. Der Chor handelt nicht als Dramatis Persona, sondern bleibt immer Chor, dessen Identität sich nur in der Gruppe bilden kann 62. Wie bereits angedeutet wurde, ist aus dem Vergleich der erhaltenen Werke die eindeutige Entwicklung der Tragödiengattung in Richtung der Selbstbehauptung der einzelnen Protagonisten zu erkennen. Der kultischen Chor-Gemeinschaft stellte sich auf der anti-
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ken Bühne der Protagonist mit zunehmender Wucht entgegen, welcher aus dieser hervortritt bzw. aus dieser ausgeschlossen wird. In Hinblick auf das Subjekt selber bewirkt die „Trennungsgewalt“ dieses Schritts eine Spaltung in „dionysische und apollinische Anteile“ 63, die es dazu verdammen, einer Versöhnung bzw. Kompensation schwankend nachzulaufen. Auf der anderen Seite veranlasst die Individuierung des Einzelnen, welches seine eigene Stimme behaupten will und den Schritt aus dem Chor wagt, einen unlösbaren Konflikt mit dem Chor selbst. Dieser Konflikt wird im dramatischen Theater der abendländischen Kultur durch die Marginalisierung bzw. das Untertauchen des Chores aufgehoben – später wird erläutert, wie Schleef gerade an diesen Konflikt anknüpfte und davon seine allumfassende Literatur-Theater-KulturTheorie abhängig machte. Vor der Einführung eines Schauspielers dominierte der Chor die gesamte Performance, doch je stärker das Verlangen nach individuellem Handeln seitens der einzelnen Protagonisten wurde, als desto kraftloser stellte sich die Stimme des Chores heraus; Logos ragte über Musik und Lyrik empor, bis diese nur noch als nicht unentbehrliche Begleitung angesehen wurden64. Allein in der kurzen Blütezeit der attischen Tragödie ist zu erkennen, wie sich die drei Tragiker im Umgang mit den Chorpartien differenzierten 65 und diese immer geringer einsetzten, bis Euripides den Jambos der Schauspieler über die Chorlieder gewinnen ließ und die Harmonie zwischen Apollinischen und Dyonisischen im Sinne Nietzsches zerstörte66.Das Schicksal der Tragödiengattung war gezeichnet: Das Individuum hatte sich behauptet, war endgültig aus der Kollektivität des Chores ausgestiegen, bzw. wurde aus diesem ausgestoßen. Die Chorfigur hält den Drohungen einer vollständigen Verdunkelung stand, und lässt sich noch nicht ganz beseitigen, doch stellt sie die Sinnhaftigkeit ihres eigenen Daseins inzwischen selbst in Frage. Warum soll ich denn tanzen? 67 – τί δεĩ μέ χορεύειν – lautet die selbstbezogene Aussage des Greisenchors in König Ödipus (v. 895f) – seine Überflüssigkeit in der Ökonomie des Bühnengeschehens ist ihm inzwischen bewusst. Wenn der Chor sich einst als gleichberechtigter Protagonist neben den Schauspielern verstehen durfte, wurden seine Einsätze immer unbedeutender, bis diese durch die Einführung der sogenannten Embolima im 4. Jahrhundert68, sogar austauschbar wurden. Diese neue Art von Chorlied konnte unabhängig von dem Inhalt der jeweiligen Tragödien auch für verschiedene Stücke verwendet werden. Und gerade diese Austauschbarkeit der Zwischenlieder – ähnlich dem Refrain eines modernen Popsongs – zerstörte deren Tiefgründigkeit und somit auch die Legitimität der Existenz des Chors an sich 69. Wenn man an den bereits angedeuteten unauflösbaren Zusammenhang von Tragödie und Chor denkt, erscheint es auch logisch, dass die eine ohne den ande-
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ren nicht mehr möglich ist. So versteht man auch das Todesurteil der Tragödie, das Nietzsche mit dem „Todessprunge in’s bürgerliche Schauspiel“70 in Verbindung bringt. Über den Verlust des Geistes der Tragödie in ihrem ursprünglichen Sinn als höchste Form des künstlerischen Ausdrucks, waren sich bereits die Zeitgenossen bewusst, wie zum Beispiel aus Aristophanes Komödie Die Frösche hervorgeht: „die guten Dichter, die sind tot, und die noch leben, erbärmlich schlecht“71. Die Tragödie war zum Ausdruck einer Gemeinschaft geworden, die sich innerhalb der Polis gebildet hatte, wo sich der Einzelne als Teil eines größeren, überindividuellen Wesens erkannte und identifizierte. Das Theater, welches eine gewisse Universalisierung der menschlichen Problematiken ermittelte, konnte mit dem Untergehen der politischen Form der Polis nicht mehr überleben, verlor seine gesellschaftliche Auswirkung und wurde zum bloßen Unterhaltungsmittel degradiert72.
NEUENTDECKUNG DER ANTIKE IM 18. UND 19. JAHRHUNDERT Die Historisierung der szenischen sowie dramaturgischen Umsetzung von Chorgestalten in der europäischen Theatergeschichte würde ein Buch für sich in Anspruch nehmen. Hier soll nur kurz auf einige Punkte hingedeutet werden, die in Bezug auf Einar Schleefs Wahrnehmung und Deutung der Theaterentwicklung von Bedeutung sein könnten. Allgemein kann behautet werden, dass der Auftritt von Chören als kompakte, mehrstimmige Figuren weit bis ins XX. Jahrhundert zum größten Teil gemieden wurde. In der langen Zeitspanne, die von Anfang der Neuzeit (15. Jh.) über die Renaissance bis hin ins 18. Jahrhundert geht, gibt es nur einen dokumentierten Versuch, eine griechische Tragödie samt Chor – ganz nach antikem Vorbild – zu inszenieren. Es handelt sich um die Aufführung des König Oedipus im Teatro Olimpico von Vicenza im Jahre 158573. Dieses Ereignis blieb dennoch vereinzelt, da die generelle Neigung herrschte, die Chorfigur einem einzelnen Sprecher zuzuteilen und die Chorgruppe als unbedeutende Nebenfigur darzustellen, die eigentlich auch hätte abgeschafft werden können. So taten es zum Beispiel einige der wichtigsten Dichter wie Alfieri in Italien oder Corneille, Racine und Molière in Frankreich, die gänzlich auf den Chor verzichteten. Im Deutschland der Reformations- und Barockzeit entstanden die sogenannten „Reyen“: Von der eigentlichen Handlung abgesonderte Zwischenlieder mit stark moralisierender Funktion. Natürlich entwickelte die westliche Kultur im Mittelalter liturgische Chorgesänge und erlebte in der Renaissance
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die Blütezeit der polyphonischen Chormusik, doch sind diese Chöre von Inhalt, Gebrauch und Funktion so weit entfernt von den antiken, dass jeglicher Vergleich unsinnig wäre – genauso wie im Falle der Opernchöre74. Ein Kapitel für sich würde das Theater Shakespeares benötigen, dem hier jedoch nicht nachgegangen werden kann. Es soll nur kurz daran erinnert werden, wie in den Stücken des englischen Meisters öfters eine „Chorus“-Figur eingesetzt wurde, die je nach Bedarf am Anfang oder am Ende das Wort ergriff bzw. immer wieder zwischen den Akten eingriff, um dem Publikum über Zeit und Ort des Geschehens zu berichteten. Der shakespearesche Chorus wurde dennoch in einem einzelnen Sprecher verkörpert75, könnte also im Sinne einer chorischen Funktion betrachtet, doch dem antiken Chor als kollektives Subjekt nicht gleichgestellt werden. Diese allgemein akzeptierte Interpretation Shakespeares wird Schleef den politisch bedingten harmonisierenden Übersetzungsrichtlinien und Interpretationsansichten der Weimarer Klassiker unterstellen, aber dazu mehr im folgenden Kapitel. Einblick in die Weimarer Zeit Wenn auch noch bis ins 19. Jahrhundert die Umsetzung von Chorformationen aus antiken Dramen meistens umgangen wurde und in der Komposition neuer Werke kaum eine ausdrücklich als Chor bezeichnete Figur auftaucht, lassen sich im Rückblick auf die Geschichte der deutschen Dramatik einige Beispiele einer chorischen Gestalt erkennen. Die immer intensiver werdende Auseinandersetzung mit antiken Kompositionsstrukturen und Aufführungscharakteristiken scheint sich auch in der schöpferischen Tätigkeit widerzuspiegeln: Immer häufiger treten in neu verfassten Dramen neben den Hauptfiguren Gruppen auf, die einer bestimmten sozialen Kategorie angehören und gewisse Funktionen ausüben, die dem antiken Chor nahekommen, bzw. ein kollektives Subjekt ans Licht bringen, das sich dem Individuum gegenüberstellt. In Hinsicht auf die Beschäftigung mit antikem Stoff und den daraus folgenden Überlegungen bezüglich des Gebrauchs des Chores, wird auf das Verhältnis hingewiesen, das sich um 1800 in den deutschsprachigen Literaturkreisen der Weimarer Klassik – besonders in den Personen von Goethe, Schiller, Wieland und Herder – zur griechischen Tragödie etablierte. Das Bedürfnis nach einem tiefgründigen Zugang zum antiken Drama war mit einem neuen „historischen Sinn“76 verbunden und konnte über die aktuellsten Ausgaben der Übersetzungen von Aischylos, Sophokles und Euripides verfügen, die von Altertumswissenschaftlern gesichert wurden.
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Die Auseinandersetzungen mit der Antike, die Goethe in den langen Jahren seiner 1791 übernommenen Leitung des Weimarer Hoftheaters förderte, wusste sich der Chorgestalt nicht wirklich zu nähern. Zu den damaligen Konventionen gehörte die Neigung, Chorfiguren nicht als kollektive Einheit darzustellen, sondern diese auf einzelne Sprecher aufzuteilen. So, wie es dann – trotz der ausdrücklichen Absicht, ein Drama ganz nach dem griechischen Modell aufzuführen – in der szenischen Umsetzung der Braut von Messina geschah77, der wohl bedeutendste Versuch, eine Tragödie ganz nach antikem Modell zu gestalten. Die diplomatischen Hindernisse, die der szenischen Verkörperung einer Chorgruppe entgegengesetzt wurden, hielten Schillers Überlegungen über den Gebrauch des so gefürchteten Chores nicht auf. Schiller setzte sich theoretisch mit dem altgriechischen Begriff von Chor auseinander, um es als natürliches und also unverzichtbares „Organ“ der Tragödie selbst zu offenbaren 78. In der Vorrede zu Die Braut von Messina stellt er die Zentralität des Chorelements fest und wird diesem das Potenzial anerkennen, um die verlorengegangene Dimension der Öffentlichkeit wiederherzustellen. Denn, so wie der Chor für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Szene der Polis sorgte, könne dieser nun die dramatischen Handlungen wieder aus den intimistischen Räumen befreien und auf die Straßen zurückholen. Dorthin, wo man ein breites Publikum erreichen kann und von Geschehnissen erzählen, die nicht nur einen eingeschränkten privaten Kreis angehen, sondern eine Gemeinschaft betreffen, und somit einen sozialen Zweck dienen: Der Palast der Könige ist jetzt geschlossen, die Gerichte haben sich von den Toren der Städte in das Innere der Häuser zurückgezogen, die Schrift hat das lebendige Wort verdrängt, das Volk selbst, die sinnlich lebendige Masse, ist, wo sie nicht als rohe Gewalt wirkt, zum Staat, folglich zu einem abgezogenen Begriff geworden, die Götter sind in die Brust des Menschen zurückgekehrt. Der Dichter muß die Paläste wieder auftun, er muß die Gerichte unter freien Himmel herausführen, er muß die Götter wieder aufstellen, er muß alles Unmittelbare, das durch die künstliche Einrichtung des wirklichen Lebens aufgehoben ist, wieder herstellen und alles künstliche Machwerk an dem Menschen und um denselben, das die Erscheinung seiner innern Natur und seines ursprünglichen Charakters hindert, wie der Bildhauer die modernen Gewänder, abwerfen und von allen äußern Umgebungen desselben nichts aufnehmen, als was die höchste der Formen, die menschliche, sichtbar macht.79
Schiller fordert eine Überwindung des in-sich-geschlossenen bürgerlichen Trauerspiels, das die ursprüngliche Massenhaftigkeit des Theaters löscht, es seiner politischen Macht beraubt80. Der Chor soll nun eine „lebendige Mauer“ bilden,
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die gegen die naturalistischen Strebungen nach einer wirklichen Welt standhält und die „poetische Freiheit“ der Tragödie bewahrt. Der Chor soll außerdem der „Gewalt der Affekte“ Ausdruck geben und somit dem Zuschauer eine bewusste Distanz ermöglichen, wodurch er der Handlung zwar einfühlsam folgen kann, ohne sich deshalb selbst zu verlieren. Schiller zeigt ein großes Vertrauen gegenüber einem Publikum jeder Art, dessen Empfänglichkeitsvermögen nur angetrieben werden muss und der Chor bietet sich eben als wirksames Mittel dafür. Wenn das Publikum einer anderen Kollektivität gegenübergestellt wird, in die er sich wiederspiegeln kann, entsteht nämlich ein neuer Kontakt zum Bühnengeschehen ˗ „Chor erblickt Chor“81. Das Theater wird wieder lebendig, gewinnt seine Gesellschaft ändernde Aufgabe zurück, ganz im Sinne einer ästhetischen Erziehung, denn die plurale Chorgestalt führt weit über das mittelbar Dargestellte hinaus: Der Chor ist selbst kein Individuum, sondern ein allgemeiner Begriff; aber dieser Begriff repräsentiert sich durch eine sinnlich mächtige Masse, welche durch ihre ausfüllende Gegenwart den Sinnen imponiert. Chor verlässt den engen Kreis der Handlung, um sich über Vergangenes und Künftiges, über ferne Zeiten und Völker, über das Menschliche überhaupt zu verbreiten, um die großen Resultate des Lebens zu ziehen und die Lehren der Weisheit auszusprechen...82
Die schillersche Beschreibung von Chor als „allgemeinen Begriff“ bietet rückblickend einen neuen Interpretationsschlüssel über die klassische Dramatik: Die von Lehmann geschilderte chorische Linie, die sich durch die klassische Dramatik „von Wallensteins Lager bis Dantons Tod“83 zieht und weit bis ins 20. Jahrhundert hineindrängt und das Spannungsfeld zwischen Gemeinschaft und Individualisierung erörtert, wird nun nachvollziehbar. Denn auch dort, wo keine explizite Bezeichnung von Chor vorkommt, sind immer wieder Figuren zu erkennen, die selbst in Form einer Einzelstimme bzw. eines Monologs zur Gestaltung einer chorischen Funktion gehören. Chor entsteht also durch die Summierung individueller Stimmen und ermöglicht es, „einen kollektiven Körper zu manifestieren“84. Diese polyphonische Chorgestalt verkörpert einen überindividuellen Klang und vereint einzelne Körper zu einer Gemeinschaft, die als solche eine gewisse Wucht bzw. eine potenzielle Gewalt entwickelt. In diesem Sinne sind verschiedene Dramen Schillers durchaus innerhalb dieser chorischen Linie zu positionieren. Außer dem historisierenden Chor der Braut von Messina, ist sein dramatisches Werk tatsächlich von kollektiven Figuren durchdrungen, die ˗ angefangen mit Die Räuber über die Soldaten in Wallensteins Lager, dem Volk in Die Jungfrau von Orleans bis zu den Landleuten und
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Bauern in Wilhelm Tell ˗ in der Handlung nicht unbeachtet bleiben und sich neben den individuellen Hauptfiguren stark bedeuten. Ähnliche Kollektive besiedeln bereits Goethes Frühwerk Götz von Berlichingen. Besonders in der ersten Fassung, der Urgötz85, lässt die Ansammlung der Bauern als Chor deuten: Auch wenn nicht in Form einer einheitlichen Gestalt, handeln Metzler, Kohl, Link und ihre Anhänger gemeinsam; im Krieg gegen die Unterdrücker halten sie zusammen und bringen ihre innerste Aggression zum Ausdruck. In einer Szene, die nur in der Urfassung vorkommt, erscheint ein brutaler, blutdurstiger Metzler, der sich sogar vor den Bitten einer Frau, die um das Leben ihres Mannes fleht, nicht erbarmt. Diese Bauern tragen die Last einer verdrängten Wut in sich, die nun ausbricht und diese rebellierende Gruppe zu einer furchterregenden Erscheinung machen. In den späteren, für die öffentliche Bühne gezähmten Fassungen, ist die Szene der Revolte sehr gedämpft, die Bauern erscheinen nun stärker individualisiert zu sein, sie bilden keine Gemeinschaft mehr, suchen gleich den Kontakt zum erwünschten Anführer Götz, sodass der einst implizierte Bauernchor nur noch als ein Verschütteter erscheint. Hier sei dennoch unterstrichen, wie es in der Weimarer Zeit, trotz der philologischen Hinwendung und der genauen Untersuchung der Textvorlagen zu keiner „werkgetreuen“86 Inszenierung einer griechischen Tragödie kam, noch zu der tatsächlichen Neubelebung des Chores. Dass sogar die geistreichsten Literaten nicht wussten, wie sie mit der Chorfigur umzugehen hatten, sollte laut Schlegel nicht wundern, da Aristoteles an erster Stelle keine „befriedigenden Aufschlüsse darüber“ bieten konnte87. So sei es selbstverständlich, dass „neuere Dichter“, die nach dem Wiederaufleben der Studien über die Antike, sich in der Wiedereinführung des Chores versuchten, sowohl in der Textvorlage als auch in der Aufführungspraxis, sich darin ohne eine genaue Orientierung bewegen mussten 88. Das Projekt einer so treu wie möglichen Wiederaufstellung antiker „Aufführungsbedingungen“89 erfolgte im Jahre 1841 im Neuen Palais Potsdam nach Aufforderung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. Zu diesem Anlass wurden renommierte Antike-Forscher und anerkannte Fachleute konsultiert und miteinbezogen; es wurde die ungekürzte Übersetzung von Jakob Christian Donner verwendet, bei Felix Mendelsohn-Bartoldy die Komposition der Chorpartien in Auftrag gegeben und Ludwig Tieck als offizieller Dramaturg ernannt. Dem erfolgreichen Ereignis ging ein starkes Interesse für die Wiederbelebung der Antike voraus, das sich in dem Wuchern von immer neuen Übersetzungen und Inszenierungen antiker Werke spiegelt. Der Chor wurde dennoch meistens weggelassen oder aufgesplittert, so wie zum Beispiel in den erwähnenswerten Arbeiten Adolf von Wilbrandts: Der ehemalige Direktor des Burgtheaters in Wien insze-
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nierte in der eigenen Übersetzung Elektra (1882), König Oedipus (1886) und Oedipus in Kolonos (1887) – von Chorgestalt war nicht die Rede, die Chorpartien wurden auf einzelne Sprecher aufgeteilt90. Mutiger wurde innerhalb des Aufführungszyklus griechischer Tragödien gehandelt, der im Akademischen Verein für Kunst und Literatur von Hans Oberländer konzipiert wurde. Seine bereits solide Vorbereitung wurde durch die Beratung des Professors für klassische Philologie Ulrich von WilamowitzMoellendorff gestärkt. Aus der fruchtbaren Zusammenarbeit folgten einige erwähnenswerte Arbeiten, wie die für die König Oedipus-Inszenierung von 1900 am Berliner Theater, wofür ein Chor von sechzig bis hundert Elementen verwendet wurde, der im Unisono sprach und einen verfremdenden, doch sehr kraftvollen Effekt herausbrachte. Die kurz danach angefertigte Orestie in der Übersetzung von Wilamowitz am Theater des Westens galt sogar als eins der bedeutendsten Ereignisse der Theatergeschichte, wie Flashar erinnert. Für besonderes Aufsehen sorgte der Umgang mit dem Chor, dem je nach der auszuführenden Funktion im Laufe der Trilogie eine differenzierte Sprechweise zugewiesen wurde: So setzte man das Unisono-Sprechen für sentenziöse und lyrische Chorpartien ein und griff auf einen Chorführer zurück, um die dramatischen Verse auszusprechen. Die Produktion wurde zu einem solchen Erfolg, dass sie gleich – knapp zwölf Tage später – am Wiener Burgtheater wiederaufgenommen wurde, wo sie dennoch verschiedene entscheidende Striche erlitt. Der damalige Direktor Paul Schlenther hatte in einem öffentlichen Vortrag den Chor, der kein „notwendiger Bestandteil der dramatischen Handlung“91 sei und auf der modernen Bühne also lieber weggelassen werden sollte, als „Voraussetzung oder Folge des antiken Theaters“ bezeichnet. Der Direktor forderte neue, der Zeit angemessene Bühnenkonventionen, für die „entfremdender Chorgesang“ und „überwundene Formen“ der Darstellung nicht länger erwünscht waren.92
EINBLICK IN DIE THEATERPRAXIS DES FRÜHEN 20. JAHRHUNDERTS Gerhardt Hauptmann als Wegbereiter für ein Theater der Massen Dass eigentlich gerade die Chorform immer mehr als wirkungsvolle, den gesellschaftlichen Zuständen gemäße dramatische Figur anzusehen war und nicht als kristallisiert, unnotwendiges Attribut einer weit zurückliegenden Antike, zeigt
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sich allein schon an den Reflexionen um dieses zunehmend lauter werdende Subjekt. Wie Le Bon es bemerkte, profilierte sich das Volk bzw. die Masse im 20. Jahrhundert als „jüngste Herrscherin der Gegenwart“ 93, wurde zum Gegenstand verschiedenster philosophisch-soziologischer Theoretisierungen sowie von theaterpraktischen Analysen und Experimenten bezüglich ihrer innersten Bedeutung und Darstellungsmöglichkeiten. Obwohl nicht immer gleich als solcher zu erkennen, wurde der Chor auch auf der rein literarischen Ebene zur Hauptfigur mehrerer Dramen gewählt, wie beispielsweise in Ernst Tollers Masse Mensch oder Georg Kaisers Die Bürger von Calais. Doch der erste Autor, der neben der Absicht, der Kunst ihren gesellschafsprägenden Charakter anzuerkennen, eine dem Volk angehörige Gruppe als Titelgebende und Hauptagierende Figur vorstellte, war Gerhart Hauptmann mit seinem sozialen Drama „Die Weber“. Das deutsche Theater ist zur Macht geworden, von der freien Neigung des Volkes getragen und von ihm mit Talenten gespeist. […] Das Element des Theaters ist nicht Bürgerlichkeit. Der Mann jedes Standes sucht es auf, um während einiger Stunden weniger oder mehr als ein Mann seines Standes zu sein. Nach bürgerlichen Gesichtspunkten entwickelt sich keine dramatische Kunst; und auf die Maßstäbe bürgerlicher Moral zurückgeführt, endet sie in Verkümmerung.94
Aus diesen Worten lässt sich bereits Hauptmanns Idee entnehmen, das Drama von der Geschlossenheit des bürgerlichen Trauerspiels zu entfernen und Handlungen zu bieten, die Bedürfnisse bzw. Wahrnehmungsvermögen des Volkes ansprechen konnten. Mit seinem Theater nimmt Hauptmann sich vor, ein breitgefächertes Publikum zu erreichen und die Definitionen von „Armeleutekunst“ und „Reicheleutekunst“ aufzuheben, da er „Volk“ und „Kunst“ als zusammengehörend schildert, „wie Boden, Baum, Frucht und Gärtner!“ 95. Seine sozialen Dramen widmen sich der Schilderung gesellschaftlicher Problematiken, wodurch die Lebensbedingungen der Arbeiterklassen ans Licht gebracht und die Machtverhältnisse zwischen herrschenden und unterdrückten Kategorien enttarnt wurden. Die größte Herausforderung, mit den Inhaltsangaben eines für die Eliten gedachtes Theater zu brechen, besteht in dem Stück Die Weber, wo zum ersten Mal eine Arbeitergruppe aus niedriger sozialen Schicht als kollektiver Protagonist eines Dramas eingesetzt wird. Zwar greifen verschiedene Einzelfiguren ein, die sich im Dialog abwechseln, und es entsteht kein Unisono Sprechen, doch ist die einheitliche Essenz des Subjekts unbestritten. In dem er den Weberaufstand von 1844 durch die Stimmen der zum Verhungern ausgesetzten Webern erzählt, bildet Hauptmann einen nicht als solchen formalisierten Chor.
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Aus der komplizierten Aufführungsgeschichte dieses 1892 komponierten Dramas, das zuerst für die öffentliche Bühne verboten und nach langwierigen gerichtlichen Verfahren erst 1984 für die Inszenierung freigegeben wurde 96, lässt sich entnehmen, wie bedrohlich ein sich aus einer rebellierenden Volksschicht zusammenstellendes Subjekt für die Institutionen wirkte. Der szenischen Umsetzung wurde die Gefahr zugeschrieben, nachahmende soziale Aufruhren anfeuern zu können und wurde deshalb verzögert. Doch konnte die in Preußen unterschwellig anhaltende, zensierende Politik nicht mehr lange die Ansprüche der wachsenden Massen aufhalten, wie aus der im folgenden Absatz erläuterte Etablierung des Phänomens Max Reinhardts hervorgeht. Max Reinhardts Theater der Fünftausend Jenseits der philologisch wissenschaftlichen Ansätze in der Bearbeitung antiker Stücke, behauptete sich Max Reinhardt, der in der Epoche der anfangenden „Vermassung“97 eine Idee von Aufführung verwirklichte, in der sich die mitspielende und zuschauende Masse als das ausschlaggebende Element herausstellen sollte. Sein Konzept eines neuen Volkstheaters – das Theater der Fünftausend – wandte sich von den bürgerlichen Theaterereignissen ab, die für eine geringe gut zahlende Elite gedacht waren und im Rahmen einer geschlossenen Guckkastenbühne stattfanden. Das „Theatergehen“ sollte wieder die gesamte Bevölkerung miteinbeziehen, Menschen verschiedenster gesellschaftlicher Herkunft, die sich zumindest für die Stunden der Aufführungsdauer von den kennzeichnenden Merkmalen ihres Milieus98 befreien konnten, indem sie in das szenische Geschehen eintauchten und das Gefühl der Zugehörigkeit an eine Gemeinschaft gewannen. Die Wahl des Zirkus Schumann als Aufführungsort war nicht nur von der großen, für die Zusammenführung tausender Zuschauer ausreichenden Fläche bedingt, sondern auch ideologisch durchdacht. Die eigentliche Stätte für populäre Massenspektakel von Akrobaten oder Tierbändigern wurde nun mit griechischen Tragödien bestückt, die als höchste Form der Kunst und des Bildungstheaters galten. Somit stürzte Reinhardt die strenge Trennung von „Volkskultur“ und elitärer, bürgerlicher Kultur, überbrückte die Kluft, die zwischen diesen Formen bis dahin geherrscht hatte99 und teilte dem Theater wieder eine soziale Wirkung zu. Es gab zwei wesentliche Etappen im Entstehungsprozess des Theaters der Fünftausend. Die erste war die Inszenierung von König Oedipus im Jahre 1910, die in der Übersetzung Hugo von Hofmannsthals erst in München und dann in Berlin stattfand. Die Massenregie Reinhardts brachte hier nicht nur eine, sondern
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gleich zwei chorische Formationen auf die Bühne – den von der Textvorlage vorgesehenen Chor der Greise (27 Elemente) und die Volksmenge in Form von fünfhundert Personen, die durchgehend anwesend blieb und sich durch Jammern und Stöhnen immer wieder bemerkbar machte. Ein Jahr später kam es dann zur Aufführung der Orestie, zuerst in München 1911 und ein Jahr später in Berlin, wo es nach dem Ersten Weltkrieg zur Einweihung des Großen Schauspielhauses (3500 Plätze) wiederaufgenommen wurde100. Auch hier dominierte die sich aus über tausend Statisten bildende Masse, die das Volk der Argiven darstellte. Der Einsatz solcher riesigen Menschengruppen, die den Raum beherrschten, ermöglichte ein neues Verhältnis zwischen Schauspieler und Publikum, die teilweise nicht auseinander zu halten waren. Die Chöre besetzen alle Bereiche der Arena, bewegten sich unter den Zuschauern und rückten diesen so nahe, dass die körperlichen Grenzen aufgehoben wurden. Individualität und Klassenzugehörigkeit wurden vorübergehend ausgeblendet, es entstand eine neue illusorische Gemeinschaft, die dennoch nicht aus politisch-ideologischen Gründen zusammengewachsen war und sich mit dem Ende der Vorstellung wieder auflösen musste101. Die Rezeptionsgeschichte dieser Theaterform zeigt, wie die Kritik zum größten Teil entsetzt reagierte, doch fehlten nicht diejenigen Stimmen, die Reinhardts Arbeit zu schätzen wussten und seinem Theater prä-hellenistische Züge zuschrieben102. Eine Art Ur-Theater also, das den eigentlichen Geist der griechischen Kultur wiederbelebte, jenseits der strengen Konventionen des winckelmannschen Modells, das über Jahrzehnte hinweg für die Vorstellung des Griechentums maßgebend gewesen war103. Brechts Überlegungen zu Chor und Gemeinschaft In die Rekonstruktion einer chorischen Linie, die sich wie ein roter Faden durch die deutsche Dramatik ziehen lässt, kann Bertolt Brecht nicht außer Acht gelassen werden, der sich mit der Komplexität des gespaltenen Verhältnis Individuum/Masse literarisch und theoretisch häufig auseinandersetzte. Er weigerte sich dennoch, sowohl eine simplifizierende Idee von Masse zu vertreten, als auch sich einer Problematisierung zu entziehen, weshalb er dem Begriff von Chor eine große Aufmerksamkeit widmete. So ist das Werk Brechts von Chorfiguren durchdrungen. Die Gestalt sowie auch die Funktion und die szenische Umsetzung des Chores beschäftigten ihn auf der theoretischen, dramaturgischen und auf der Regie-Ebene. Er schätzte die verfremdende „anti-aristotelische“ Wirkung, die mit dem Auftauchen eines Chores ausgelöst wird und verwendete diesen oft als zweckmäßiges Medium, um
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den Verfremdungseffekt in seiner Konzeption eines epischen Theaters zu erzeugen104. Auf der inhaltlichen Ebene war Brecht natürlich der kollektive Aspekt des Chores wichtig, der sich für die Verkörperung der Volksmasse bietet; doch reduzierte er die Einsatzmöglichkeiten der Chorgestalt nicht auf die Rolle eines Betrachters, sondern experimentierte mit erstaunlicher Flexibilität mit den verschiedensten Behandlungen von Chor. Er verstand den Chor als Kommentator und Mitspieler oder wies ihm eine belehrende didaktische Funktion zu, wenn er diesen einsetzte, um den Zuschauern „die richtige Haltung“ vorzuspielen und diese aufzufordern, sich „Meinungen zu bilden“105. Brecht ließ den Chor als dramatis Personae agieren, die sich als Sprechrohr der Partei versteht, oder bediente sich der Chorpartien, um seine eigene Stellungen zu äußern, sowie im Fall des Kontrollchores, der in Die Maßnahme den „Lob an die Partei“ ausspricht106. Im Badener Lehrstück vom Einverständnis fügt er sogar zwei sich gegenüberstehende Gruppenformationen ein. Auf der einen Seite der Gelehrten Chor, der sich der antiken reflektierenden Funktion nähert und Fragen stellt, die Situation tatsächlich analysiert und im Griff hält. Auf der anderen Seite die Menge, die zwar auf dieselben Themen angesprochen wird, doch eindeutig über kein autonomes Denkvermögen verfügt, sondern eher mechanisch zu antworten scheint. Abgesehen von der Funktion, die der Chor in den verschiedenen Stücken ausübt, geht es Brecht immer um die Problematisierung des Spannungsverhältnisses zwischen Einzelnem und Kollektiv. Das Individuum erscheint uns immer mehr als ein widerspruchsvoller Komplex in stetiger Entwicklung, ähnlich einer Masse. Es mag nach außen hin als Einheit auftreten und ist darum doch eine mehr oder minder kampfdurchtobte Vielheit, in der die verschiedensten Tendenzen die Oberhand gewinnen, so daß die jeweilige Handlung nur das Kompromiß darstellt. (Brecht, 22.2 S. 691)
Seine Stücke beharren auf der Unmöglichkeit, in der modernen Gesellschaft eine Konfrontation mit dem Massensubjekt zu umgehen, das für den Zerfall des großen Dramas107 verantwortlich sei. Er zeigt, wie natürlich das Zusammenwachsen von Menschen in Kollektive sei und unterstützt deren Selbstbehauptung. Doch erinnert er daran, dass die Lebensfähigkeit eines Kollektivs von der Aufrechterhaltung der „Einzelleben der in ihm zusammengeschlossenen Individuen“108 abhängt. Es geht somit eine gegenseitige Abhängigkeit heraus, die das Verhältnis zwischen Einzelnem und Kollektiv reguliert: Wenn nach Brecht kein Mensch ohne Gesellschaft vorstellbar ist, kann es wiederum auch keine Gesellschaft ohne weiterhin singuläre Individualitäten geben. Da, wo das Fortleben der einzel-
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nen Existenz gefährdet ist, entsteht ein Kontrast. Brecht schildert gerade dieses Zusammenprallen von Individuum und Gemeinschaft, in dem das erste meistens untergeht, sich der Masse anschließt bzw. von dieser phagozytiert und geopfert wird109. Wenn Brecht sich besonders in den Lehrstücken mit dem Konflikt von Gemeinschaft und Individuum beschäftigte und verschiedene Aspekte, wie die Opferung des Einzelnen (Die Maßnahme, Badener Lehrstück) problematisierte und kritisch schilderte, entwarf er in der Theaterpraxis dennoch keine massive Gruppenkonstruktion, keine szenisch imposante Masse – aus diesem Grund fügt Schleef vermutlich Brecht auch nicht zu den im folgenden Kapitel genannten Dramatiker hinzu, die aus seiner Sicht, Spuren einer sich nicht etablierten chorischen Linie hinterließen. Das Tingspiel Im Sinne eines ausführlichen Hintergrunds zur Rezeptionsgeschichte des schleefschen Theaters – das, wie später erläutert wird, irrtümlich so oft als Nachahmung und sogar Glorifizierung nationalsozialistischer Gruppendynamiken missinterpretiert und angegriffen wurde110 – erscheint es notwendig, auf eine weitere Form von Massentheater hinzuweisen: Das Thingspiel. Dieses Phänomen kann schon allein aus ideologischen Gründen nicht dem Reinhardtschen Theater gleichgestellt werden. Abgeleitet von dem althochdeutschen Begriff für Volksversammlung, wurde der Ausdruck mit der Theaterform verbunden, die unter der Leitung des Regimes zwischen den Jahren 1933-1937 entstand und bald wieder verschwand111. Das Thingspiel durfte ausschließlich in Freilichttheatern – den sogenannten Thingstätten – spielen, wo tausende Darsteller sich an noch größere Volksmassen von über zwanzigtausend Menschen wandten; es musste immer seitens der Reichstheaterkammer genehmigt werden und den Zwecken die Reichspropaganda begünstigen 112. Das Regime des Dritten Reiches setzte alles daran, einen Gemeinschaftskult zu vermitteln, in dem die Opferung des Einzelnen zu Gunsten eines angeblich höheren Gemeingutes gerühmt wurde. Um es mit Benjamin zu sagen, war das Ziel einer Organisation der Massen, die Ästhetisierung der Politik, die einem einzigen Zweck dienen sollte, und zwar dem Krieg113. In dieser Hinsicht war von Problematisierung der Spaltung Individuum/Masse keine Rede, der Einzelne sollte sich der Horde unbedingt anschließen und dem Vaterland dienen. So wurden zum Beispiel Regiekonzeptionen von Max Reinhardt und Übersetzungen von Karl Vollmoeller verboten114. In der Bearbeitung griechischer Tragödien wurde die politische Dimension entweder beseitigt oder zu den Zielen
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des Nationalsozialismus instrumentalisiert, wie im Falle der Orestie-Aufführung, in der Regie von Lothar Müthel – ehemaliges Mitglied des Reinhardt Ensembles, das sich dem Nazi-Regime anzupassen wusste – und aus dem Text in Übersetzung von Wilamowitz verschiedene Teile wegfallen lies, insbesondere längere Chorpartien. Sein Antikenprojekt wurde zum Anlass der Olympischen Spiele in Berlin 1936 realisiert und sollte das NS-Deutschland als natürlichen Nachfolger des griechischen Kulturerbes beweisen115. Eine andere Vorgehensweise war das Transponieren des szenischen Geschehens in mythische Welten, um eventuelle, das Regime gefährdende Bezüge auf zeitgenössische Umstände zu verdunkeln. Es wurde sogar der Versuch gemacht, die wichtigsten Richtlinien festzulegen, nach denen sich das Thingspiel als Ausdruck des chorisch-völkischen Theaters orientieren sollte. So wurde für die Bühne statt Individuum Typus gefordert, Einzelseele sollte durch Gemeinschaftsseele ersetzt werden, Persönlichkeit durch Volk, Innerlichkeit durch Rasse 116. Wichtige szenische Elemente waren die starke Rhythmisierung der Sprache und der Bewegungen, und als Modelle dieses Theaters wurden das der griechischen Antike und das „germanische und mittelalterliche kultische Drama“ angegeben, deren „Öffentlichkeit“117 besonders durch den Rückgriff auf Innerlichkeit und Psychologisierung seitens des klassischen Theaters verloren gegangen war. Auf den NS-Bühnen war kein Platz für Individuen, deren Selbstopferung im Namen des Vaterlandes als würdiges Handeln gutgeheißen wurde.
VON DER NACHKRIEGSZEIT BIS IN DIE 70ER JAHRE Diese eben erläuterte, vom NS-Regime unterstützte Theaterform hatte zwar eine kurzlebige Existenz, doch gewisse Massenformationen hatten sich in das kollektive Wahrnehmungsvermögen als Kennzeichen der nationalsozialistischen Ästhetik eingeprägt und wurden lange verabscheut. Die geschichtlichen Ereignisse ließen die nazistische Einstellung die Oberhand über alle anderen Versuche gewinnen, sodass die öffentliche Meinung auch längere Zeit nach dem Krieg die Idee von Masse noch mit einem negativen missbrauchten Bild verband. Daraus entstand u. a. ein äußerst misstrauisches Verhalten gegenüber szenisch dargestellten Gruppierungen, die auch nur als Anspielungen auf Erinnerungen gelesen werden konnten, die man eigentlich nur verdrängen wollte. Das Theater der Nachkriegszeit vermied also die szenische Umsetzung von Chören und Menschenansammlungen auf der Bühne. Es sollte jegliche Nachahmung einer Massenästhetik abgewiesen werden, die als Mittel für die nationalsozialistische Propaganda gedient hatte. Es setzte sich generell ein kategorisches
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Zurückdrängen einiger Themen durch, statt dem Wagnis, neue Auseinandersetzungen mit Begriffen oder Formen von Gemeinschaft oder Kollektivität zu konzeptualisieren. Obwohl diese unausgesprochene Entscheidung auf den ersten Blick verständlich sein mag, entstand dadurch eine Art von Tabuisierung, die dafür sorgte, gewisse Probleme temporär fernzuhalten ohne eventuelle Lösungen bzw. alternative und produktive Vorgehensweisen aufzustellen. Um einen sozialen und intellektuellen Frieden zu erhalten, wurden dadurch andere Möglichkeiten, Gemeinschaftsproblematik anzuknüpfen nicht in Betracht gezogen, sondern apriorisch ausgeblendet.118 Es wurde dennoch nicht auf die Inszenierung antiker Stücke verzichtet, da sich diese im Prozess einer Neubesinnung des deutschen Theaters sogar als nützlich erwiesen. Durch neue Einstudierungen antiker Tragödien wurde das „humanistische Gedankengut“ den unter dem Nazi-Regime erlittenen Verfälschungen119 entzogen und neu gedeutet. Bereits ab der Spielzeit 1945/46 finden verschiedene Aufführungen des König Oedipus statt, der sich besonders gut im Sinne der Aufarbeitung der deutschen Schuldfrage eignete. Es wurde dennoch vorsichtig damit umgegangen, da die Wunden noch sehr frisch waren und es zu keinen neuen politischen Erschütterungen kommen sollte. Die in diesen Jahren zu kennzeichnenden Schlagwörtern gewordenen Begriffe von „individueller und kollektiver Schuld“ sowie „Verantwortung in der Katastrophe“ wurden zwar auch auf der Bühne angedeutet, doch blieben die Antworten darauf vage. Besonders in Verknüpfung zu antiken Tragödien neigte man dazu, „unbequeme“ Ereignisse auf das Einschlagen des unkontrollierbaren Schicksals und auf die unfassbare Gestalt des Mythos abzuschieben120. Ab den 1960er Jahren lässt sich in der Entwicklungsgeschichte des west-deutschen Theaters eine neue Beschäftigung mit der chorischen Form erkennen: Besonders das Regietheater widmet sich der antiken Tragödie und dem von dieser nicht zu trennenden Chor 121, greift auf den Mythos zurück, um gewisse gegenwärtige Zustände zu symbolisieren und lässt somit die politische Dimension des griechischen Dramas im Sinne der Öffentlichkeit, die durch den Chor wiederhergestellt wird, wieder kräftig ans Licht kommen122. Das Panorama des Theaters dieser Jahre erwies sich als sehr schöpferisch und facettenreich, doch kann an dieser Stelle keine detaillierte Erläuterung dazu geboten werden, sondern nur auf einige sehr bedeutende Namen hingedeutet werden, die sich mit der Aufarbeitung von antiken Stoffen beschäftigten: Benno Besson, Klaus Michael Grübers, Roberto Ciulli, Luca Ronconi, Ariane Mnouchkine, und vor allem Hansgünther Heyme und Peter Stein. Obwohl Heyme und Stein die von der griechischen Vorlage vorgesehenen Chöre in ihre Inszenierungen einbauten, scheinen diese eher Begleiter als aktive Figuren zu sein, die einen Einfluss auf den Ablauf der Geschehnisse haben könn-
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ten. Dort, wo die Textvorlage einen Chor vorsieht, wird dieser in der theaterpraktischen Umsetzung auch respektiert und beibehalten, bleibt dennoch schwach. Der Chor gehört dazu und muss auf der Bühne verkörpert werden, wird jedoch gezähmt, verliert jegliche Wucht, er bringt keine Affekte mit sich und erweist sich als rein ästhetisches Element, harmlose Erscheinung, die keinen weiteren Eindruck hinterlässt. Heyme und Stein stellen ihre Chorformationen mehr aus philologischen Gründen auf die Bühne, ohne hier dadurch die Frage der Gemeinschaft bzw. des Aufeinanderprallens von Individuum und Gemeinschaft auszustellen und so wird in ihren Inszenierungen das aufwühlende Potenzial des Chores nicht ausgeübt. Und gerade darin liegt das differenzierende Element, die Innovation und auch der Skandal Schleefs, der im Medium Chor die Möglichkeit für eine erneute Erfahrung der politischen Dimension der Tragödie sieht, ohne es deshalb idealisieren zu wollen. Denn Schleefs Idee von Chor ist keine konziliante: Das von ihm skizzierte Bild einer chorischen Gestalt ist beängstigend und elendig, eine „Masse von Ausgestoßenen“123, die zwangsweise zusammenhalten müssen, um nicht vereinzelt unterzugehen, darüber ausführlicher an späteren Stellen. Die Entscheidung, den vorliegenden Absatz ausschließlich auf Ereignisse der Theatergeschichte der BRD zu beschränken wird dadurch begründet, dass sich Schleefs intensive, eigenständige und charakterisierende Karriere als Regisseur erst ab 1986 im Westen entwickelte. Aus seinen Tagebüchern lässt sich nicht viel über seine Theaterbesuche in Westdeutschland erfahren, doch in Anbetracht seiner jugendlichen Leidenschaft für das Theater, sowie den später in Droge Faust Parsifal veröffentlichten Äußerungen bezüglich des Unbehagens moderner Regisseure gegenüber der Chorfigur, kann davon ausgegangen werden, dass Schleef über die wesentlichsten Ereignisse der westlichen Theaterwelt ab 1976 auf dem Laufenden war. Schleef arbeitete sich also in eine wohlbekannte Theaterlandschaft ein, die er mit kritischen Auge beobachtet hatte, um diese umzustürzen.
Schleefs Chortheorien und szenische Umsetzung der Chorgestalt
DAS PHÄNOMEN SCHLEEF UND SEIN CHORISCHES THEATER DES SKANDALS Wie aus dem vorherigen Kapitel folgert, traf Einar Schleef in West-Deutschland auf eine florierende Theaterlandschaft ein, die dem Einsatz der antiken Chorfigur nicht ganz fremd war. Es soll nun erläutert werden, inwiefern sich Schleefs Umgang mit dem Chor von all dem unterschied, was es bis dahin auf deutschen, wenn nicht sogar auf internationalen Bühnen gegeben hatte. Schleef ist zweifellos einer der kontroversesten und umstrittensten Autoren und Regisseuren der letzten Jahrzehnte gewesen. Die verschiedenen Meinungen, die sich über sein Schaffen gebildet haben, schwanken zwischen Empörung, Schock, Verdammung, Erstaunen, Verwunderung und Faszination 124. Das zentrale Objekt der Kritik ist immer wieder der als gewalttätiges Mittel rezipierte Chor. Aus den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges hatte sich die Neigung entwickelt, die szenische Darstellung von Massenformationen zu vermeiden, ohne auf irgendwelche Unterschiede zwischen reflexivem Chor und faschistischer Horde zu achten. Darin konnte die Möglichkeit liegen, einen simplifizierenden Obskurantismus zu verbreiten, aus dem dann auch voreingenommene Vorwürfe entstehen, wie es im Falle von Schleefs ersten Theaterarbeiten geschah. Ab Ende der 80er Jahre stürmte Einar Schleef die Theaterszene Westdeutschlands mit seinen gewaltigen Chorformationen und entfachte somit so manchen Skandal. Unter den angriffslustigsten Gegnern ist Peter Iden zu erwähnen, der sich in seinen Beiträgen für die Frankfurter Rundschau jahrelang als Antipode des schleefschen Theaters profilierte. Die Geschichte einer offenbarten Idiosynkrasie gegenüber dem aus dem Osten kommenden Regisseur geht sogar bis zum Vor-
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abend der Premiere von Mütter zurück, als Iden und Schleef sich zum ersten und letzten Mal persönlich begegneten. Bei diesem Treffen – dessen detailliertere Chronik Schleef in Droge Faust Parsifal (98-99) erzählt – fasste der Kritiker sein Urteil und brandmarkte Schleefs Ästhetik als „Nazi-Theater“, das sich nicht um die Textvorlagen kümmere und sich die Destruktion des Individuums als Ziel setze, um dadurch die Verherrlichung von stampfenden und brüllenden Massen durchzusetzen125. Mit dieser Haltung rezensierte Iden auch die weiteren Frankfurter Inszenierungen; so behauptete er zum Beispiel, Schleef würde „als Regisseur beinahe alles“ fehlen, von der philologischen Kompetenz bis zu jeglichem Feingefühl für die verschiedenen Charaktere 126. Moderat erweist sich dagegen die Einstellung von Rolf Michaelis, der mit kritischem doch konstruktiven Auge, die Schleef-Inszenierungen für Die Zeit rezensierte. Hier wird die faszinierende Monumentalität seines orgiastischen Ritualtheaters anerkannt, wodurch die Gesellschaftskritik eine besondere Intensität gewinnt und der Untergang des Individuums in der gegenwärtigen Massengesellschaft sichtbar gemacht wird. Als größte Schwäche der schleefschen Aufführungspraxis schildert Michaelis dennoch die Unverständlichkeit der Textvorlage – die durch die konfuse und forcierte Sprech- bzw. Brüllart in den Hintergrund geraten würde – und die sich immer wiederholende Form, die eine Inszenierung der andern gleichen lässt, sodass es genüge eine gesehen zu haben, um das gesamte schleefsche Werk zu kennen127. Ein weiterer Aspekt, der hinsichtlich Schleefs Aufführungen mehrmals aufgegriffen wird, ist seine Auseinandersetzung mit der deutschen Frage. Der Musik- und Theaterredakteur Gerhard Rode schreibt Schleef zum Beispiel sogar „psychopathologische Züge“ zu und betont, wie gerade seine Besessenheit zu einem besonderen Ansatz in der Thematisierung der deutschen Frage geführt hätte. Schleef würde „persönlichste seelische Prozesse“ in seinen kreativen Prozess einfließen lassen und gleichzeitig die deutsche Frage in ihrem gefährlichsten Auswirkungsfeld verkörpern, dem Psychischen, um somit ihre fortweilende Verankerung im gemeinsamen Gedächtnis deutlich zu machen 128. Ausführlicher zu Schleefs Beharren auf der Frage der Verantwortung äußert sich Carl Bucher rückblickend, um auf die Vorwürfe an der schleefschen Theaterästhetik zu antworten: Warum wurde seine Arbeit als faschistisch, als Nazi-Theater bezeichnet, warum wirkte er so bedrohlich? Weil er Deutschland auf der Bühne zeigte, und mahnte, dass das sich herauszubilden droht, was man als Das Deutsche fürchtet, dass Deutschland in seiner Vergangenheit ertrinkt, wenn es schweigt und so tut, als ob alles vergangen und vergessen ist. […] Er hatte dennoch darüber hinaus die Courage, seine Bühne und vor allem sich selbst zum Schauplatz des Deutschen, der deutschen Geschichte und der ureigensten deutschen
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Sprache überhaupt, ohne Ausrede und ohne Feigheit, vom Mythischen zum Alltäglichen, zu machen. Nichts war tabu. […] Es wunderte nicht, dass die deutschen Kritiker sich immer wieder auf das Stampfen fixierten und die Inhalte ignorierten. Sie protestierten gegen den Marschtritt der Stiefel, das Gebrüll der Männerhorden, die Eintönigkeit der Marschkolonnen und die Gewalt der nackten Körper, als ob dies alles etwas Fremdes wäre und nicht der vertraute Alptraum, den man verschwörerisch verschweigt. […] Das ist ein Nicht-zurKenntnis-nehmen-wollen.129
Etwas, das in allen Kritiken und Rezensionen betont wird, ist das Talent Schleefs, seine Aufführungen als qualvolle Ereignisse zu gestalten, die generell als Theater der „Tortur“ empfunden werden130. Als Kennzeichen dieser Aufführungen, gelten die Aufführungsdauer, die physische Anstrengung der Darsteller, wodurch ein psychischer Druck auf die Zuschauer ausgeübt wird, sowie das chorische Sprechen131 und Agieren, das jeglichen Protagonismus hemmt. Jenseits solcher Kritiken, wurden konstruktive, wissenschaftliche Beiträge über seine „ausgeprägte Chor-Form“ veröffentlicht, eine späte Rehabilitation. Christina Schmidt legt bereits in der Einleitung ihrer Schleef-Monographie132 dar, dass der Chor in allen seinen Einsatz- und Deutungsmöglichkeiten Zentrum des schleefschen Theaters sei und schreibt ihm den Verdienst zu, für die erfolgreiche Rückkehr dieses ursprünglichen, determinierenden Elements des Theaters auf der deutschen Bühne des 20. Jahrhunderts, das so lange in Vergessenheit geraten war bzw. absichtlich ferngehalten wurde. Neben Schleef habe es, laut Schmidt, bis in die ’90er Jahre, als das chorische Theater ein Wiederaufblühen erlebte133, nur wenige Versuche gegeben, sich mit dem Chor auseinanderzusetzten, da dieser als „faschistoides Mittel“ galt. Obwohl der Chor immer häufiger in Inszenierungen und Performances verwendet wird, bleibt Schleef bis heute derjenige, der sich am ausdrücklichsten mit der Neugestaltung des Chor-Elements beschäftigt hat. So hätte er den Chor nicht nur als ästhetisches Mittel inszeniert, sondern als Ausgangspunkt des Theaters an sich gedacht und diesen als hauptsächlichen Protagonisten seiner Aufführungen gewählt. Über die Definition von „Nazi-Theater“ hinaus, spielt Schmidt auf Eigenschaften der Ästhetik Schleefs an, insbesondere die Überlänge der Probenarbeit, die Reduzierung der Einzelrollen, Anspruch auf Autorschaft des Inszenierungstextes, Übernahme schauspielerischer Aufgaben. Diese wurden sowohl an den Theaterbetrieb, als auch an die Zuschauer als Provokationen gerichtet. Das Publikum würde von der Umwälzung zweier theatralischer Konventionen aus Perzeptionsgewohnheiten herausgezogen und somit desorientiert. Auf der einen Seite würde die langatmige Dauer der Szenen den logisch-chronologischen Ablauf
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der Handlung schwer verfolgbar machen; auf der anderen sei durch die Abschaffung der Guckkastenbühne keine klar umgrenzte Figur mehr zu erkennen. Bedrohlicher noch als die ungewohnte „energetische“134 Auftrittsform des Chors, sei dennoch das dadurch ausgelöste „Potenzial einer inhaltlichen Zuspitzung der theatralen Konflikte“135. Denn Schleef interessieren keine Konflikte zwischen Individuen; Krieg und soziale Ausschließung sind als chorische Angelegenheiten zu deuten. Dieses pluralische Behandeln gewisser Themen führt nicht bloß zur Erhöhung der Lautstärke, sondern vielmehr zu einer Steigerung des szenischen und emotionalen Impacts. Wie Hans-Thies Lehmann erläutert, verbreitete sich unter den theatralen Neoavantgarden schon ab den ’50er Jahren die Position, wonach das Theater eine Reproduzierung der archaischen Aufführungsbedingung anstreben müsse, deren kennzeichnende Eigenschaften wie „Askese, Attacke, Lärm und Zerstörung“136, eine möglichst aufwühlende und sogar schmerzvolle Wahrnehmung auswirken sollen. Einar Schleef hat sich auf seine ganz eigene Art diesem Drang nach der Rückbesinnung auf den Ursprung der Theaterentwicklung angeschlossen und setzte sich immer wieder mit Wiederbelebungsmöglichkeiten archaisch-ritueller Theaterformen auseinander. Mit seinen provokanten und sprachlich wie körperlich intensiven bzw. gewaltsamen Arbeiten spaltete er die Kritik zwischen beeindruckt und entsetzt und ist unleugbar einer der wenigen Regisseuren, die eine ganz eigenes Theateridiom formuliert haben. Lehmann nimmt wahr, dass Schleef wie kein anderer, Gewalt auf der Bühne einsetzt, diese gesteigert in Szene setzt und somit greifbar macht. Diese Eigenschaft sei dennoch als eine große Stärke zu verstehen, die dieser Theaterform eine einzigartige Ausdruckskraft verleiht. Lehmann geht auf die Elemente ein, die Schleefs Bühnenarbeit durchgehend charakterisiert haben: Musikalisch rhythmisiertes Sprechen, Ausdehnung der Aufführungszeiten, körperliche Anstrengung und daraus folgenden Kraft sowie das Chorkollektiv137. Er weist darauf hin, wie Schleef bewusst auf den Ursprung des Theaters zurückgreift, in dem normales Sprechen neben Geschrei und Gesang verwendet wurde und Gewalt eine fundierende Eigenschaft war. Jene Gewalt, die in Schleefs Arbeit erfahrbar wird und von einem gewissen Teil der Kritik als faschistisch rezipiert wurde, sei laut Lehmann als Wiedergabe antiker Theatererfahrungen zu verstehen. Ein Theater, das sich um die rituelle und wiederholungsbedürftige Opferung eines Sündenbocks entwickelte, wodurch das momentane Zusammenwachsen der Kollektivität erfolgte, die glaubte, somit die gemeinsame Gefahr exorzieren zu können. Wenn Lehmann erwähnt, wie Schleefs insistente Anwendung bzw.
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Missbrauch von körperlicher sowie stimmlicher Rhythmisierung und die daraus folgende Bedrängnis der Zuschauer, so negativ von der Kritik aufgenommen wurde, die ihm narzisstische Selbstverwirklichungswünsche vorwarfen, deutet er auch auf eine deutsche Eigenheit hin. Eine Tradition, die sich von einem Regisseur eine exegetische Herangehensweise an die literarischen Textvorlagen wünscht und die Aufführung somit eher als passive Lehrveranstaltung konzipiert, ohne das Fruchtbare aus einer Provokation oder einer sich neu etablierenden Tendenz in Betracht zu ziehen. Zu der Voreingenommenheit vieler Kritiker äußerte sich Schleef auch selber. In Droge Faust Parsifal bestätigte er, wie die politischen Umstände, die er während der Kindheit erlebte, natürlich sein Wahrnehmungsvermögen prägten und sich wiederum auf die wiederkehrende „Umsetzung von Militär auf der Bühne“ (DFP/438) auswirkte. Dass die Verwendung von Uniformen sofort NaziZusammenhänge hervorrief, hielt er für eine der Nachkriegszeit folgende deutsche Befangenheit: Daß Kritiker in der Beurteilung dieses Kleidungsstücks sofort auf Wehrmacht schlossen, zeigt nur, daß Kritiker aus Ost wie West weder ihr eigenes Militär kennen bzw. gekannt haben wollen noch den Militärmantel in der deutschen Vergangenheit, sondern Militär einfach unter Nazi abbuchen. Die vollkommen unwidersprochene Gleichsetzung eines Uniformmantels der Bundeswehr mit einem Uniformstück der Wehrmacht drückt tiefe Angst aus, sie will Unterschiede weder feststellen noch behaupten. (DFP/441)
Als Antwort auf die allgemeine Haltung gegenüber heiklen Themen und dem Beharren auf konventionellen Inszenierungsformen, die den Chor zurückweisen, schildert Schleef außerdem den aus seinem Blickpunkt übertriebenen Angstzustand, den er damit verbunden sieht: Chor-Bildung und Chor-Einsatz werden heute ausschließlich politisch interpretiert, gehören einer linken oder rechten totalitären Gesinnung an. Die Irritierung und Erregung, die von einer Gruppe gemeinsam sprechender Menschen ausgehen, werden nur noch als erschreckende Bedrohung empfunden, die an längst überwundene Zustände erinnert. (DFP/8)
Damit wollte Schleef keine Verharmlosung dieser Zustände implizieren. Er war sich der Sprengkraft bewusst, die dem Thema Gemeinschaft innewohnt, doch hielt er es für notwendig, dieses aufzuarbeiten. Er konnte sich dieser Stumpfsinnigkeit nicht anschließen, Unterschiede nicht verstecken, sondern hervorgehoben, unter die Reflektoren stellen und problematisieren. Um es mit Lehmann zu
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sagen, gelangt in Schleefs Theater dessen ursprüngliches Thema, der Krieg, wieder auf die Bühne138. Er zögert nicht, dem Publikum die fühlbare Grausamkeit der Gewalt zu vermitteln und scheut die Verbissenheit der Kritik nicht. Selbst wenn diese behauptet, Schleef würde massive Chorformationen zur „Reproduktion bzw. Verherrlichung faschistisch- bzw. stalinistisch-militärischer Gewaltstrukturen“139 einsetzen. Er ist sich seiner Wahrnehmung sicher. Entsprechende Gewalt- bzw. Machtstrukturen erkennt er sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland: Meine ausgeprägte Chor-Form ist keine Abreaktion einer DDR-Vergangenheit, keine Imitation von Marschkolonnen, Kriegsspielen und Appellen, sondern eine Formulierung der Vorgänge im Westen, meine Antwort auf Polizeiaktionen, Überfälle, Plünderungen, Demonstrationen, Menschenansammlungen, denen ich ausgesetzt bin. Sicher begegne ich diesen Vorgängen nach meiner Flucht, mit noch unsicherem Stand im Westen, wesentlich empfindlicher als andere. (DFP/99-100).
Diese Vorgänge gehören auf die Bühne, sie müssen ausgestellt werden, immer wieder an die Öffentlichkeit gehen, denn deren Verleugnung oder Verschweigen würde nichts anderes als die Illusion der Entschärfung bringen. Wobei doch letztendlich nur durch Besinnung auf das Problem die Möglichkeit seiner Entlarvung und vielleicht sogar Überwindung entsteht. Also entscheidet Schleef, die ihm zugeschriebene „Außenseiterposition“ (DFP/100) hinzunehmen und ironisiert die unausgesprochene Durchsetzung der von ihm „verwandten Formmittel“ (ebd.), da er beobachtet, wie verschiedene Theatermacher immer häufiger mit Chorformationen arbeiten, die implizit aus seinem Beispiel erwachsen.
SCHLEEF ÜBER ANTIKEN CHOR UND DESSEN FORTFÜHRUNG IM DRAMA Der Chor als pestkranke Masse Die vielen Überlegungen zur Entstehung, Sinnhaftigkeit und Wiederbelebung der Chorform auf dem Theater legen dar, wie von Schleefs Perspektive aus, der Chor ein Grundelement nicht nur für die Ökonomie einer Tragödie, also innerhalb eine fiktiven, für die theatralische Bearbeitung gedachte Handlung, sondern auch in verschiedenen Bereichen des Alltagslebens ist.
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Wie noch gezeigt wird, schließt sich Schleef zum größten Teil den Entstehungstheorien an, die den Ursprung jeder Form von Theater in der spontanen Zusammensetzung eines Kollektivs sieht, das Geschichten vermittelt, die der Gemeinschaft bekannt sind. Der Chor erzählt und kommentiert die Ereignisse, äußert seine Empfindungen, probiert Ratschläge zu unterschiedlichen Verhaltensweisen zu geben und bleibt dennoch machtlos gegenüber der meist nicht durch menschlichen Willen beeinflussbaren Abfolge. Das Zusammenkommen der Chormitglieder ist nicht vorherbestimmt, es erfolgt ungezwungen wie der Ausdruck eines gemeinsamen Triebes, die natürliche Hinwendung der gemeinsamen Geschichte bzw. die Konfrontation gemeinsamer Ängste. Der Chor nimmt die Last des geteilten Leidens auf sich, verkörpert die gemeinsame Klage, lässt durchaus auch Euphorie und Begeisterung zum Ausdruck kommen. Die Gruppe wird nicht bindend ernannt, sondern ändert sich von Anlass zu Anlass, jeder darf sich ihr anschließen, sie wird zu einer natürlichen Verlängerung oder Erweiterung des Publikums, also in gewisser Weise Stimme der Bevölkerung, der Stadt – so der Ursprung der antiken Tragödie. Schleef unterstreicht, wie diese Gattung sehr bald gefährdet wurde und zwar bereits ab der Einführung eines zweiten Schauspielers von Aischylos. Er bemerkt, wie die Bedrohung der bis dahin maßgeblichen kollektiven Stimme durch die Gegenüberstellung von individuellen Sprechern, die sich auf der Bühne abwechselten, sich von einem Tragiker zum andern steigerte. Trotz der vielen Unterschiede – besonders in der Verwertung des Chores, wo Aischylos noch ausgesprochen chorische Stücke verfasst, während Euripides fast nur noch einzelne Protagonisten zeigt und somit den Tod der Tragödienform verursacht – hätten alle drei uns bekannten Tragiker eine gemeinsame Eigenschaft gehabt: „Die antiken Autoren verbindet, daß sie die Frau aus dem zentralen Konflikt verdrängen oder ganz ausmerzen“ (DFP/15). Er unterstellt also eine doppelte Ausstoßung, einmal des kollektiven Subjekts und dann des Weiblichen. Wie Schleef diese beiden Elemente zusammenbringt und einen Schritt weiter in der Aufklärung der Chorentstehung wagt, wird im nächsten Kapitel versucht zu erläutern. Hier soll vorerst auf die allgemeinen und genderneutralen Akzente hingewiesen werden, die Schleef als kennzeichnend für die Chorgestalt empfindet. Dass der Chor zwar von den Theaterbühnen entfernt wurde und aber als immanentes, einer jeglicher Gesellschaft innewohnendes Wesen weiterlebt, macht Schleef durch verschiedene Andeutungen an Situationen des Alltagslebens unbestreitbar. Als Beispiel bringt er einmal den Park vor der Frankfurter Oper (DFP/18), wo sich jeden Tag erneut verschiedene Chöre bilden, darunter die „der Süchtigen“, „der opferproduzierenden Polizei“, der „von der Polizei hin und her
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Gejagten“. Schleef sieht in dieser Art der Rekrutierung, nichts Anderes als das, was im antiken Theater „vor den Toren der Paläste“ passierte. Eben das ungewollte und doch notwendige Zusammentreffen von Elementen, die sich einer Einheit anschließen. Ein solches Verfahren sei überall und immer wieder zu beobachten, bliebe über die Jahrtausende hinweg aktuell, sowie im Fall der afrikanischen Flüchtlinge, die vor unseren Ämtern anstehen (vgl. DFP/18). Zur Gruppenbildung gehört nach Schleef auch immer das Ritual der Drogeneinnahme, das den Zugang zur Mitgliedschaft ermöglicht. Denn, wie Burkert erinnert, ist die dionysische Ekstase, die mit dem modernen Zustand des High seins verglichen werden kann, „nicht Leistung eines Einzelnen, Einsamen, sondern ein Massen-Phänomen, das fast ansteckend um sich greift“ 140. Zusammen eine Droge einnehmen bedeutet, nicht mehr allein zu sein, sondern Teil eines Kollektivs zu werden. Schleef stellt moderne Drogeneinnahme und antike Berauschung, die im Namen Dionysos erfolgte, gleich. Hier wie dort führt das außer-sich-Sein – besonders in einer Gruppe – zu gewalttätigen, unkontrollierten Verhaltensweisen, die er mit seinen massiven stampfenden und brüllenden Chorformationen szenisch umzusetzen versuchte. Wie bereits erwähnt wurde, schildert Lehmann, dass die Gewalt des schleefschen Inszenierungsverfahrens auf die archaischen Aufführungsbedingungen einer Theaterform hindeutet, die – wie das so schonungslos angegriffene Theater Schleefs – auch „Schrecken der Zerreißung und Auferstehung, sexuelle und emotionale Ausschweifung“ ausstellte 141. Das Ritual der Theateraufführung fand in Verbindung mit einer sich wiederholenden Situation statt, in die sich die Zuschauer involviert fühlten, und sollte der Sorge um die Bedrohung der Kollektivität eine Form geben, wogegen sich die Gemeinschaft mit dem Ausstoßen eines Opfers wehrte – die hier offensichtliche Anspielung auf die Theorien Girards wird in einem späteren Absatz ausführlich geschildert. Die mit dem Mythos eng zusammenhängenden Konstellation, die die Bewohner Athens im 5. Jahrhundert v. Chr. mitfeuern ließen, sind heute natürlich nicht mehr aktuell, das Verhältnis zu den Gottheiten ist erloschen. Dennoch wird diese Abwesenheit bedauert, wie sich aus dem „Schrei nach Gemeinschaft“ 142 feststellen lässt, wodurch – ausgehend von dem Drang nach verlorengegangenem Zueinanderhalten und dem Bedürfnis eines erneuten Kontakts zum Anderen – indirekt eine Gottheit des Kollektivs angefleht wird. Was erhalten bleibt, ist also das sich um ein Ereignis Drehen der Chorbildung und dies bringt Schleef mit seinen verschiedenen Beispielen auf den Punkt. Die Zugehörigkeit bleibt jedoch illusionär oder auf jeden Fall oberflächlich, denn diese sich immer wieder bil-
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denden Gruppierungen vereinen sich nicht zu einer uniformen, solidarischen Gemeinschaft. Um es mit Benjamin zu sagen: Jeder bleibt für sich, jeder bleibt Selbst. Es entsteht keine Gemeinschaft. Und dennoch entsteht ein gemeinsamer Gehalt. Die Selbste kommen nicht zueinander, und dennoch klingt in allen der gleiche Ton, das Gefühl des eigenen Selbst.143
So bildet sich eine zwiespältige Gestalt, in der keine Individuen mehr zu erkennen sind, noch ein vollkommen einheitliches Kollektiv zusammenhält. Dieses mehrköpfige Wesen, in dem die Einzelnen zueinander finden wollen und sich dennoch gegenseitig wegschubsen, wird von Schleef als „pestkrank“ identifiziert: Der antike Chor ist ein erschreckendes Bild: Figuren rotten sich zusammen, stehen dicht bei dicht, suchen Schutz bei einander, obwohl sie einander energisch ablehnen, so als verpeste die Nähe des anderen Menschen einem die Luft. Damit ist die Gruppe in sich gefährdet […] akzeptiert ein notwendiges Opfer, stößt es aus, um sich freizukaufen. Obwohl sich der Chor des Verrats bewußt ist, korrigiert er seine Position nicht, bringt vielmehr das Opfer in die Position des eindeutig Schuldigen. (DFP/14)
Diese Krankheit ist handgreiflich, man bräuchte dazu nur die tagtägliche Prozedur des in die U-Bahn Ein- oder Aussteigens beobachten (vgl. DFP/13). Hier kommen ungewollt Menschenmassen zusammen, die sich in Ein- und Aussteigende spalten, beide Fraktionen werden von Panik ergriffen, befürchten zertreten zu werden und agieren vorausschauend, indem sie die andere Partei zurückstoßen. Diese Hysterie führt natürlich nur zu größerem Chaos, Verstopfungen und Verspätungen. Doch die kranke Masse ist, wie unter Einwirkung von Drogen, unbeherrschbar und kann nicht zur Vernunft gebracht werden. Wenn Schleef von Krankheit spricht, bezieht er sich nicht auf einen speziellen Chor, sondern auf Chor an sich: „Immer, wenn Masse die Bühne betritt, ist sie krank“ (DFP/274). Die antiken Autoren gehen zwar anders mit ihren Chören um, gewähren diesen mehr oder weniger Platz in der Ökonomie des Stückes, doch die „unbestimmbare Krankheit“ ist eine durchgängige Konstante. Masse scheint von Beginn an krank. Als begleite ihre Zusammenrottung der üble Geruch, gehe von ihm aus, als sei schon die Zusammenrottung die Pest selbst. (DFP/274)
Das würde sich über die Jahrhunderte hinweg nicht ändern, das pestkrank-Sein ist keine exklusive Eigenschaft des griechischen Chores. Die verpesteten Dyna-
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miken zwischen Gruppen und untereinander wiederholen sich ständig und können extreme Andersheiten betreffen, „die Millionen Nichtweißer, Verreckender, Kriegsplünderer und Asylanten“ sowie die harmlosen „Andersdenkenden“ (DFP/14), die ausgelöscht gehören. Die Krankheit wurzelt von innen und verbreitet sich maßlos, es genüge einmal durch Berlin zu spazieren, um den Wahnsinn mitzuerleben, der durch die Trennung eines modernen Götterensembles ausgelöst wird. Schleef spielt auf die Hysterie an, die sich europaweit ausgebreit hatte, nachdem der Leader von Take That sein Austreten aus der Gruppe ankündigte (DFP/277). Mit stechender Ironie beschreibt Schleef die damalige Krisensituation am Gendarmenmarkt und führt es als Beispiel im Sinne der Bewährung seiner Chorbildungskonzeption an. Die „heulende Masse“ der Fans erleidet zwar eine Sprengung, der Verlust des Helden erscheint ihr unüberwindbar, doch das gemeinsame Trauern lässt sie noch enger zusammenschweißen. Die Krankheit fungiert als Bindemittel. Um es wieder mit Burkert „mythisch“ auszudrücken, bedeutet dies, „daß der Gott stets umgeben ist vom Schwarm seiner rasenden Verehrer und Verehrerinnen“144. In Anknüpfung an Schleefs Äußerungen präzisiert Lehmann, dass, wenn Masse sich ab sofort als krank erweist, diese Krankheit auf eine „ursprüngliche Schwächung“145 zurückzuführen sei, die dem Zwiespalt von Pluralität in der Einheit bzw. Einstimmigkeit in der Polyphonie innewohnt. Es wird nicht eine als Chor dargestellte ideale Kollektivität angestrebt; die „Zugehörigkeit jedes Einzelnen ist Normalbeziehung zum Chor“ (DFP/377), ob erwünscht oder erlitten, und die unvermeidliche „Zusammenrottung“ wird an sich bereits als Pest diagnostiziert. Diese heterogene und doch einheitliche Gemeinschaft dominierte zumindest zu Anfang der Tragödienentstehung das Individuum, welches für die Erhaltung des Ganzen geopfert und ausgestoßen wurde. Mit der Entfaltung der Tragödiengattung, die ihren Kulminationspunkt in Euripides findet, kippt diese Balance. Das bis dahin bestehende Rollenspiel schlägt um, das Individuum erobert sich den zentralen Platz im Verlauf der Dramenhandlung und auf der Bühne und wird diesen zum Nachteil der Chorfigur in den darauffolgenden Epochen, bis heute, einhalten. Wie der Chor als Ausgestoßener vor dem Palast weiterlebt Schleefs genaue Beobachtung der gegenwärtigen Gesellschaftsverhältnisse zeigt, wie diese Umkehrung der antiken Konstellation, die den Chor mit der Zeit zurückgedrängt hat, weiterhin produktiv ist. Er deutet zum Beispiel auf die großen Massen hin, die noch unter der DDR auf dem Alexanderplatz zusammentrafen, um in „erniedrigender Demütigung“ (DFP/275) den politischen Predigten zuzu-
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hören, die vom Podest aus gehalten wurden. In diesen von Filmen dokumentierten Kundgebungen schildert er die Spiegelung der antiken pestkranken Masse, die sich in erwartender Passivität vor dem Palast zusammenzuschließen pflegte. Diese Ereignisse sind für Schleef der Beweis dafür, dass „die antike Konstellation lebendig ist, weder modernisiert, noch überholt werden kann“ (DFP/275). Das erweist wiederum, wie die fortdauernde Zwangsentfernung der Chorfigur vom Theater deren Aussterben nur vortäuschen kann und eigentlich „die Verweichlichung und Dekadenz des bürgerlichen Theaters“ (DFP/275) offenbart. Die europäische Theatertradition habe gefährliche, politische Auseinandersetzungen vermeiden wollen und aus diesem Grund den Umgang mit Chor und Masse schlicht abgewürgt. Ein Kollektiv würde die Autorität des individuellen Subjekts gefährden, wird also im Voraus ausgestoßen und bleibt dennoch latent. Schleef weist darauf hin, wie die Debatte über die antiken Texte den Chor eigentlich ausschließt und sich auf das Schicksal der Individuen, der Heroen fokussiert. „Der Chor-Riß, die Chor-Sprengung, die Trennung von Chor und Einzelfigur ist die Tragödie des Einzelnen“ (DFP/276). Wenn bereits kurz auf das doppelte Ausstoßen der kollektiven und weiblichen Subjekte hingewiesen wurde, öffnet sich hier nun eine dritte Ebene des Konzeptes des Ausstoßens und zwar die eines sich gegenseitigen Ausstoßens. Der Chor wird durch das Hervortreten des Individuums, bereits nach Aischylos, immer weiter nach hinten geschoben, bis er nur eine vage Erinnerung bleibt. Chor gehört zur Bühnenlandschaft und bleibt also verborgen vorhanden, steht ab und an wieder vor dem Palast, wo er versucht sich erneut zu behaupten, und wird dennoch von denjenigen, die den Palast bewohnen, schonungslos zurückgewiesen. Genauso wie er seitens der Tragiker und Dramatiker der darauffolgenden Epochen ferngehalten wird. Umgekehrt hat der Chor aber durchaus eine Zeit erlebt, als er selbst ausgestoßen hat. Eine Zeit, in der das Chorkollektiv noch auf der Einbildung einer internen Einheit beruhte und – um diese Einheit zu schonen – einzelne Figuren opferte, die mit ihrem Drang nach Selbstbehauptung den Zusammenhalt der Gemeinschaft gefährdeten: Die antike Tragödie definiert Zusammenbruch des ‚Staats‘ und der Bevölkerung, unter der alle handelnden Figuren zu verstehen sind, beschreibt, wie sie den von außen auf sie eindrängenden Belastungen nicht mehr standhält und bricht. Zugehörigkeit und gegenseitige Verantwortung sind aufgegeben, als schnell abzulegende Kennzeichen nur noch belastend. Das Individuum erleidet diesen Verlust in der Szene vor dem Palast. (DFP/18)
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Sowohl Chor als Individuum wären also vom Zusammenbruch einer Gesellschaft betroffen, was beide Parteien zum existenziellen, selbstverteidigenden Handeln zwingt. Die Masse wird zur Spaltung angeregt, um das „Abdriften der Demokratie“ in Gang zu setzen, es scheint eine von oben kontrollierte Spaltung zu sein, die wiederum zweckbestimmt für die Erhaltung dieser auftraggebenden Macht ist (DFP/18f.). Diese ungenannte Macht, auf die Schleef hindeutet, dürfte mit der abstrakten und allgegenwärtigen Entität einer von wenigen Einzelnen gesteuerten Verwaltung identifiziert werden. Im weiteren Sinn wird damit die Einrichtung eines Staates gemeint, die weder der Masse, den „Proleten der Straße“ (DFP/19) gerecht werden kann, noch dem heroischen Individuum, welches den „Weiterbestand der Gemeinschaft“ als lebenswichtig für den Fortbestand seiner eigenen Individualität erkennt. Der ambivalente Mechanismus von gezwungener Ausstoßung und freiwilligem Austritt profiliert sich somit als notwendige Ausgleichung eines interdependenten Verhältnisses. Die Anziehungskraft, die zwischen diesen zwei Polen besteht, erinnert an die von Simmel theoretisierte „soziologische Form des ‚Fremden‘“146, wo der Fremde als „Element der Gruppe selbst“ 147 gilt. In diesem Sinne sei der Fremde einer Kategorie einzuordnen, die den Binarismus von Einheit und Nähe, Freundschaft und Feindschaft aufhebt148 und diese zu einer Einheit zusammenbindet. Ein Element, das „zugleich ein Außerhalb und ein Gegenüber einschließt“149 und in all seiner Widersprüchlichkeit zur Identitätsbildung beiträgt150 und nach Schleef zwar ausgestoßen wird und doch nicht gänzlich ausgelöscht werden kann. Auch in Bezug auf diesen Aspekt der mehrfachen Ausschließungen schlägt Schleef eine Brücke zwischen Antike und Moderne, da er eine Korrespondenz der antiken Konstellation in der modernen und gegenwärtigen wiederfindet. Zur Erläuterung erwähnt er Gerhardt Hauptmann, der in seinen Stücken sehr deutlich den „Weg vom antiken zum modernen Theater“ (DFP/178) beschrieben hätte. In Vor Sonnenaufgang finden wir also auf der einen Seite die reich gewordene Familie Krause als pestkrankes Kollektiv, das achtlos im Wohlstand schwelgt und die gegen den amoralischen Überfluss Revoltierenden zum Austritt aus der Gemeinschaft treibt. Für die Erhaltung des Status muss das sich unterscheiden wollende Individuum geopfert werden (DFP/178). So werden Martha und Loth richtig hinausgeekelt, aus dem Chor ausgestoßen. Auf eigene Art haben beide Charaktere sich Gedanken über die Sittlichkeit des Lebensstils der Familie Krause gemacht, in Bezug auf die Umstände der aus „Tagelöhner, ehemalige Bauern, Ruinierte, Kinder, Halbtote“ (DFP/177) bestehenden Menschenansammlungen, die außerhalb des Hauses, also im übertragenen Sinne vor dem Palast, für die Herrschaften schuften.
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In diesem Stück lassen sich drei Pole beobachten. Auf der einen Seite finden wir die herrschende Gemeinschaft, die durch die gemeinsame Einnahme der von Schleef mit dem allgemeinen Begriff bezeichnete Droge zusammenhält, die in diesem Fall in luxuriösem Essen, Alkohol und Geld besteht. Auf der anderen Seite stehen die ausgestoßenen Individuen in den Personen von Martha und Loth, die sich von der Gemeinschaft abspalten. Und dann gibt es die niedrige, ausgestoßene Masse, die nur als Hintergrund dient. Die Koexistenz der zwei Gruppierungen kann als die Nebeneinanderstellung der zwei Momente betrachtet werden, worin sich die antike Konstellation charakterisierte. Und zwar die bei Entstehung der Tragödie machthabende Masse und die am Ende der Tragödienentwicklung zu Gunsten des Individuums ausgestoßene Masse. In Die Weber erfolgt laut Schleef ein weiterer Schritt. Hier erkennt er eine neue, moderne Deutung von Chor, womit die antike Konstellation umgekehrt und die Tragödie in die Gegenwart versetzt wird (DFP/12). Nun ist das herrschende, ausstoßende Kollektiv in den Hintergrund getreten, der neue pestkranke Chor des Proletariats ist zugleich Protagonist und Ausgestoßener. Aus der Beobachtung der verwickelten Verhältnisse zwischen kollektiven und individuellen Subjekten, die wechselweise eine dominierende Position erobern und sich gegenseitig verstoßen, zieht Schleef folgendes Fazit: „die Bühne der Tragödie ist SZENE VOR DEM PALAST, die Diskussion eines schwankenden Staatswesens“ (DFP/475). Auf weiteren Ebenen, in die sich die Komplexität dieses Konzeptes in Schleefs umfangreichem Essay entfaltet, wird im Laufe der folgenden Kapitel erneut hingedeutet. Hier soll der Umstand klargestellt werden, der aus Schleefs Sicht als grundsätzlich für das Dasein der Tragödie an sich gilt: Das wechselseitige Machtspiel einzelner und mehrstimmiger Subjekte, die vor dem Palast stehen und zu diesem keinen Zugang finden. Sobald die Handlung in den Palast verlegt wird, sich im inneren der privaten Räumlichkeiten abspielt, gibt es keine Tragödie mehr. Tragödie dreht sich um den Konflikt zwischen Individuum und Gemeinschaft und wenn dieser ausfällt, oder außerhalb der Tore stillgehalten wird, wird das tragische Ereignis zum bürgerlichen Trauerspiel.
DER KONFLIKT ZWISCHEN INDIVIDUUM UND GEMEINSCHAFT „Wofür stirbt der Held?“151 fragt sich Walter Benjamin, wenn er über das Verhältnis nachdenkt, das in der antiken Tragödie zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft liegt. Der Held handelt zwar selbstbezogen, bringt dennoch „neue
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Inhalte des Volkslebens“152 mit sich, sein Agieren berücksichtigt meistens das Gemeinwohl einer sich noch nicht als solche definierten Gemeinschaft. Da diese noch nicht dazu bereit ist, sich mit „Einzelwillen“ zu konfrontieren, schützt sie sich vor dem Einzelgänger, stößt ihn aus bzw. verurteilt ihn zum Tode. Somit bestätigt sich Benjamins Aussage, wonach die Tragödie auf der Opferidee ruhen würde153. Die Opferung lässt die Gemeinschaft enger zusammenwachsen in der Überzeugung, sich nur auf diese Weise aufrechterhalten zu können. Wie bereits erwähnt, beharrte Schleef auf dem Konzept einer Interdependenz zwischen Einzelnem und Chor, Individuum bzw. Opfer und Gemeinschaft. Das Eine ist für die Existenz des Anderen unentbehrlich und dennoch kann die Beziehung nur auf gegenseitigen Abstoßen und wiederholter Gewalt beruhen, ohne Aussicht auf Konziliation durchscheinen zu lassen. Chor ist gleichzeitig „Opfer und Täter, Ausstoßender und Ausgestoßener und immer: Draußen vor der Tür, vor dem Palast, im Leerraum, im Non-Place der Gemeinschaft“154. Es entsteht somit ein unlösbarer Teufelskreis, der sich der von Girard ausgestellten immanenten Ambivalenz155 gleichstellen lässt. Hier wird zuerst auf das Verbrechen aufmerksam gemacht, das mit der Tötung des ja eigentlich heiligen Opfers begangen wird und dann dessen Kehrseite deutlich gemacht, denn das Opfer wäre wiederum nicht heilig, würde man es nicht töten156. Schleef zeigt, wie die unauflösbare Beziehung Einzelner/Chor auf bewusster, wenn auch nicht gewollter Zugehörigkeit und gleichzeitiger Ausstoßung seitens des Chores basiert. Jeder Einzelne, der im Chor nach Individualisierung strebt, wird ausgegrenzt, der Chor erlaubt keine singuläre Identität, denn diese ist, im Sinne Nietzsches, „Quell und Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches“157. Gerade auf der Suche nach Individualität und folgender Ausstoßung der Figuren aus dem Chor im Zerfall der „Zugehörigkeit“ (DFP/18f) sieht Schleef den Kern der antiken Tragödie. Und die Tragödie dreht sich um das gefährdete Schicksal der Gemeinschaft, die um ihr Überleben kämpft, indem sie sich als gewalttätige Entität vereint, sie „definiert sich durch die Teilhabe am blutigen Männerwerk“ 158. Denn aus der ersten Reaktion auf eine Bedrohung, die sich meistens in Angst äußert, ergibt sich wiederum ein kräftiger Selbsterhaltungstrieb, den die Gemeinschaft zu einem Mechanismus des Alle-gegen-Einen159 formt. Das von Girard beschriebene Schema setzt das kollektive Ausüben von Gewalt voraus, die sich auf das Ausstoßen und sogar die Hinrichtung eines Opfers auswirkt. Diese Gewalt muss kanalisiert werden, um nicht unkontrolliert auszubrechen und deshalb überzeugt sich die Menge „mimetisch“, also sich gegenseitig beeinflussend, nachahmend, der Schuldhaftigkeit eines Sündenbocks. Die Komponenten der Menge ahmen
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sich gegenseitig nach, finden in der jeweiligen Begierde auf Gewalt die Möglichkeit eine Krise zu überwinden, den (zumindest zeitweiligen) Frieden wiederherzustellen. Die Verteidigung des Gemeinwohls würde also den Lynchmord rechtfertigten und durch das Löschen des Skandalons, also des Hindernisses, fühlt sich die Gemeinde wieder sicher160. Schleefs Deutung der Gesellschaftsverhältnisse scheint in mehreren Punkten mit der Girards übereinzustimmen und es ist stark davon auszugehen, dass ihm die Theorien des Kulturantrophologen und Religionsphilosophen wohlbekannt waren. Sicher ist, dass Schleef während der Erstellung der Konzeption für die Inszenierung Mütter bedeutsame Texte las, aus denen er verschiedene Denkanstöße erhielt. Im Archiv der Akademie der Künste Berlin, wo der gesamte Nachlass Schleefs aufbewahrt wird, befinden sich unter dem dramaturgischen Material zur Realisierung von seiner ersten Frankfurter Inszenierung einige Auszüge aus Burkerts Anthropologie des religiösen Opfers161. Die Markierungen und Notizen, die Schleef auf den Seiten dieses Textes hinterließ, zeigen, wie intensiv er sich mit Burkerts Ideen auseinandersetzte und wohl viele Anregungen für die Gestaltung seiner eigenen Theorien daraus zog. Bewusst oder unbewusst, unterscheidet sich Schleef besonders in einem Punkt sehr deutlich von den Ansichten Girards. Am Beispiel des Bettlers 162, der für die Ausbreitung der Pest verantwortlich gemacht wird und versucht, so wenig wie möglich aufzufallen, um die beeinflussbare Aufregung der Menge nicht übermäßig anzuspornen, will Girard die Unschuld bzw. die Passivität des Sündenbocks beweisen. Dieser wird fast zufällig von der Menge ausgesucht. Ob die Wahl zu Recht fällt, ist unwichtig, denn es wird ein Opfer gebraucht, und in diesem Fall heiligt der Zweck die Mittel. Schleef hingegen stellt das Opfer als sich selbst bestimmendes Subjekt hin, das sich bewusst auf einen Individualisierungsprozess einlässt und sich also auch wissentlich der Ausstoßung aussetzt. Das Individuum erhebt seine Stimme, es will nicht unsichtbar und anonym bleiben und positioniert sich gegenüber der Gemeinschaft. Das kann nicht zugelassen werden, denn die Menge ist eigentlich zu schwach, mit einem solchen Ansprechpartner wüsste sie nicht umzugehen, und die sinnvollste Lösung scheint zu sein, das Problem fernzuhalten. Aus der Beobachtung der gesellschaftlichen Zustände deduziert Schleef, dass, wer Hybris begeht, durch Opferung bestraft wird. Das Opfern ist somit nicht nur eine legitime Maßnahme, sondern wird sozusagen auch freiwillig seitens des Opfers in Kauf genommen. Schleef enthält sich jeglicher Wertung, es geht ihm nicht darum, für Chor oder Individuum Partei zu ergreifen, noch den einen oder das andere zu idealisieren. Er braucht keine ideologischen oder moralischen Aussagen darzulegen,
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wichtig ist ihm, Probleme ans Licht zu bringen, sie in ihren Facetten zu dekonstruieren. Sein Theater soll keine Lösungen vorschlagen, vielmehr handelt es sich um ein „Theater des Konflikts“163, dessen Ziel in der Theatralisierung einer zwiespältigen Bindung zwischen Chor und Einzelnen liegt. Schleef stellt beide Pole getrennt auf und insistiert auf deren Schwächen: Sowie die Masse krank und stur ist, gibt es bei ihm auch nicht das verherrlichte Individuum 164. Schleef enthüllt die zwei Komponenten als sich ergänzende Elemente, die weder ohne einander existieren können, noch die Möglichkeit eines harmonischen Zusammenlebens finden. Diese Polarität verweist auf Nietzsches Deutung der antiken Tragödie als Spannungsfeld von Apollinischem und Dionysischem. Wenn Apollon als Vermittler, bzw. „Genius des principii individuationis“165, die Behauptung des einzelnen Subjekts für möglich vortäuscht, wird der Werdegang der Individuation bald von Dionysos gestürzt. Dieser stößt jeglichen Anspruch auf Subjektivität ab und lässt die nach Individualisierung strebenden Elemente in den ekstatischen Zustand zurückkehren, wo „das Subjektive zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet“166. Diese überindividuelle Dimension scheint mit Schleefs Idee von Chor übereinzustimmen. Was Schleef von Nietzsches Theorie nicht in seine Deutung aufnimmt, ist die Möglichkeit einer Wiedervereinigung der apollinischen und dionysischen Elemente. Wenn Nietzsche gerade die Versöhnung der zwei Triebe als die Vervollständigung des höchsten Ziels „der Tragödie und der Kunst überhaupt“167 beschreibt, bleibt Schleef misstrauisch und beharrt auf der unlösbaren Widersprüchlichkeit von Individuum und Chor als Voraussetzung der Tragödiengattung. Lehmann erklärt, wie Schleefs Chorform der fast utopische Gedanke zugrunde liegt, den Raum für mehrere individuelle Elemente zu schaffen, die sich nicht gegen die kollektive Einheit abgrenzen wollen, sondern eher in ein Wechselspiel verwickelt sind, das keine Einzelne gegeneinanderstellt, sondern „komplexe Vielheiten an- und abkoppelt168. Schleefs Auseinandersetzung mit dem Chor darf also nicht als Verneinung des Individuums angesehen werden, da er ja immer wieder Perspektiven über dessen Befragung dargelegt und auf das zwiespältige Verhältnis von Darsteller und Publikum gedeutet habe. Diese seien „zugleich Einzelne und Zugehörige“169 und würden somit den Widerstreit zwischen singulärer und pluraler Natur in sich tragen. Dass Schleef ständig den zwiespältigen Kontrast zwischen Chor und dem „vor dem Palast“ nach Individualisierung strebenden Einzelnen thematisiert, versteckt keinerlei Sympathie für den einen oder den anderen. Der als alltäglich empfundene Prozess des Opferns durch die Kollektivität wird wahrgenommen
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und wiedergegeben: Schleef plädiert nicht für die Legitimität der Opferung, noch bejubelt er die Masse als vorbildhaftes Subjekt. Fröhliche, gesunde Zusammenrottungen, wie sie Wagner in DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG feiert, sind Ausnahmen, bleiben in ihrem Menschenbild sichtbar stupid. Der Widerspruch, daß es keine fröhlichen, gesunden Menschen, Massen auf der Bühne gibt, die Format und Größe besitzen, sondern daß Fröhlichkeit und Lebensbejahung klein und arm wirken, hat sich mit dem bürgerlichen Theater, seinen Helden, seiner Volksdarstellung dauerhaft etabliert. Davon profitieren die Faschisten, die als Gegenentwurf die ‚gesunde‘ Masse zeigen. Aus historischen Distanz ist auch diese ‚gesunde Masse‘ krank. (DFP/274)
Schleef bietet also kein Modell einer „positiven Masse“, sondern behauptet eindeutig deren Inexistenz bzw. Undurchführbarkeit. Genauer gesehen, streitet er ab, dass es weder im antiken Theater noch heute, überhaupt eine richtige Gemeinschaft geben kann, im Sinne einer zusammenhaltenden Gruppe von Menschen, die gemeinsame und positive Ideale teilen und ein positives gesellschaftliches Ziel anstreben. In Menschenansammlungen, bzw. -zusammenrottungen liest er eher eine Art von Überlebensinstinkt, der einer Angst vor Einsamkeit entspringt, sowie der furchterregenden Feststellung, unfähig zu einem autonomen Handeln zu sein. Daraus würde sich auch der Drang ergeben, bei einem überindividuellen Wesen Zuflucht zu suchen, sich diesem anzuschließen, darin unterzutauchen und sich darin aufzulösen. Mit anderen Worten, handelt es sich um den Drang, in einen dionysischen Zustand zurückzukehren und dort identitätslos zu verweilen. Und wer sich Dionysos hingibt, „muß es riskieren, seine bürgerliche Identität aufzugeben und ‚wahnsinnig zu sein‘“170, denn Dionysos vertritt die Idee einer nicht rigiden Identität, sondern einer vielfältigen, die jegliche Form von Andersheit hybridisiert171. Und weiter setzt die dionysische Erfahrung das Heraustreten aus der eigenen Person voraus, also eine Ek-stase172, die auch zu Besessenheit und Wahn treibt, oder zur Krankheit, wie Schleef es mit eigenen Worten ausdrückt. Dieser Zustand der geistigen sowie sinnlichen Vernebelung, der auf den ersten Blick mit einer Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen verwechselt werden kann, riskiert schnell, in gewalttätiges Handeln zu eskalieren. Das Individuum überlässt sich dem von Dionysos angespornten, kollektiven Trieb, was zum Verlust jeglicher Zurechnungsfähigkeit führen kann, und wird als verschwommene Menschenhorde leicht steuerbar. Wenn die Zügel einer solchen Horde von dem Gott der Lynchjustiz173 gehalten werden, ist der Schritt zur Gewalt sehr schnell getan.
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Schleef exponiert die starke Auswirkung der dionysischen Kraft auf die Menge und den daraus folgenden Wahnsinn, ohne diesen in Schutz zu nehmen. Weder aus seinen theoretischen Schriften, noch aus seinen szenischen Arbeiten lässt sich schließen, dass er die Gemeinschaft als positives Modell gegen das Individuum habe stellen wollen. Was er dem Kollektiv und also dem Chor zuerkennt, ist eine gewisse Ehrlichkeit oder zumindest Objektivität in der Selbstwahrnehmung. Laut Schleef ist die Masse sich ihrer Krankheit bewusst, leugnet sie nicht, sie will sich dem dionysischen Wahn auch nicht entziehen, sondern „steht dazu“ (DFP/277) und ist somit authentisch. Das Individuum hingegen, welches während seines Individualisierungsprozesses einen Kampf gegen dieselbe Krankheit führt, lügt174. Aus dieser Sicht würde sich das hochmütige, von seiner Selbstbestimmung überzeugte, bürgerliche Individuum sich also eigentlich täuschen. „Ob es überhaupt Sinn macht, selbständig zu denken, ob das nicht Täuschung ist, ob nicht Individualität, langsam gesprochen, Konformität heißt“ (DFP S. 180), fragt sich Schleef. Hypothese, die Lehmann wie folgt ergänzt: „Kon-Form-ität, Identität der Form mit der Masse, Konformismus, Pseudo-Individualität“175, also im Grunde genommen: Lüge. Um das Scheinindividuum oder dessen Vorstellung der Verantwortung für den verbrecherischen Individualisierungsprozess zu entziehen, könnte man hier vielleicht auf Nietzsches Konzept der „apollinischen Täuschung“ zurückgreifen und die Lüge als Folgeerscheinung entschärfen, die den apollinischen Zauber der Individuation verspricht. So entreisst uns das Apollinische der dionysischen Allgemeinheit und entzückt uns für die Individuen; […] das Apollinische (reisst) den Menschen aus seiner orgiastischen Selbstvernichtung empor und täuscht ihn über die Allgemeinheit der dionysischen Vorgänge hinweg zu dem Wahne, dass er ein einzelnes Weltbild […] sehe. […] Was vermag nicht der heilkundige Zauber des Apollo, wenn er selbst in uns die Täuschung aufregen kann, als ob wirklich das Dionysische, im Dienste des Apollinischen, dessen Wirkungen zu steigern vermöchte, ja als ob die Musik sogar wesentlich Darstellungskunst für einen apollinischen Inhalt sei?176
Schleef verachtet das Individuum nicht auf Grund seiner Lüge, sondern bezweifelt seine tatsächliche Existenzmöglichkeit. So stark der Einzelne, bzw. der „Vereinzelte“177, um die Legitimität seiner Individuation kämpfen mag, ist er dennoch zum Scheitern verurteilt, denn egal wie zielstrebig man versucht, die Krankheit zu verdrängen, lässt sich diese nicht zähmen, sie greift von Innen an (DFP/277). Womit Schleef im Grunde meint, dass der Einzelne zwar versuchen kann, ein autonomes Dasein zu fordern, doch letzten Endes von Natur aus immer
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dazu neigt, in Chordynamiken zurückzufallen. Denn „in der Gesamtwirkung der Tragödie erlangt das Dionysische wieder das Uebergewicht“ 178, die apollinische Täuschung der Individualisierung erweist sich „als die während der Dauer der Tragödie anhaltende Umschleierung der eigentlichen dionysischen Wirkung“179, und wird letzten Endes in den dionysischen Bereich zurückgedrängt, wo sie sich selbst negiert. Wenn sich in der griechischen Tragödie die Einheitlichkeit der verschiedenen Sphären noch wiederherstellen lässt, wird es schon ab Euripides immer schwieriger, bis sich das, selbst wenn nur illusorische Individuum auf der Bühne des europäischen Theaters durchsetzt und den Chor verdrängt. Die Erkenntnis dieses Verlustes treibt Schleef dazu, sich theaterpraktisch sowie auch rein theoretisch mit den Möglichkeiten einer erneuten Wiedereinführung der Chorfigur auseinanderzusetzten. Bevor Schleefs Aufruf auf die „notwendige Arbeit“ für das „Überleben der gefährdeten Kunstform des Sprech- und Musiktheaters“ (DFP/10) geschildert wird, soll noch auf seine ganz persönliche Analyse der deutschen Dramengeschichte hingewiesen werden.
SCHLEEFS DEUTUNG EINER GESCHEITERTEN CHORISCHEN LINIE IN DER DEUTSCHEN DRAMENGESCHICHTE Bereits im Vorwort seines Essays Droge Faust Parsifal legt Schleef zwei Modelle fest, aus denen sich die Deutsche Klassik entwickelt hätte: Antike Tragödie und Shakespeare. Genauer wäre in den literarischen Kreisen der deutschen Klassik der Versuch zustande gekommen, das chorische Element der Tragödie mit der Individualisierung zu vereinigen, die in Shakespeares Stücken erfolgt ist. Wenn Schleef behauptet, dass Shakespeares Dramen ihren großen Anklang der Zerstörung des antiken Chores und dessen Aufspaltung in Individuen zu verdanken hätten (vgl. DFP/10), weist er auch darauf hin, wie diese Spaltung eigentlich eine Fälschung seitens der „klassischen Bearbeiter und Übersetzer“ gewesen sei. Shakespeare habe nämlich „Elemente des antiken Chores“ (ebd.) beibehalten und versucht, die Auflösung des Chores durch eine gewisse „Gleichzeitigkeit“ zu kompensieren, die den Zuschauer gezwungen hätten, „sich dem Strudel, dem Sog auszusetzen oder sich zu absentieren“ (DFP/11). Dieser „Wirrwarr der Szenen“ sei von den späteren Lesern „harmonisiert“ worden, um einen ordentlicheren Ablauf zu erzielen. Die „deutschen Klassiker“ hätten wiederum „Shakespeares Errungenschaften“ mit den Einflüssen der Antike zusammenbringen wol-
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len, sodass Goethe und Schiller eine „Mischbildung“ geschaffen hätten, um „antike Tragödie und Individuen-Theater“ (DFP/11) zu verknüpfen. Hierin erkennt Schleef die Formulierung eines Kanons, der seitdem „für das deutsche Gegenwartsstück“ (DFP/11) gültig sei. In den Kriegsszenen von Goethes Geschichte Gottfriedens Von Berlichingen mit der eisernen Hand dramatisiert sieht Schleef z.B. die „Gleichzeitigkeit“ Shakespeares widergespiegelt (vgl. DFP/11). Um solche Kämpfe glaubwürdig darzustellen, kann man diese nicht in das Schema einer chronologischen Abfolge einengen, wirksamer erscheint hingegen die Nebeneinanderstellung von Aktionen. Wie Shakespeare meidet auch Goethe die „Chorgrobform, alle sprechen einen Text“ (DFP/11), es entsteht aber trotzdem eine Art von Polyphonie, eine nicht kontrollierte „Haufenbildung“, die sich dem definierten Individuum gegenüberstellt. Und obwohl Goethe mit Götz noch in die Vergangenheit flüchtet, bietet er die Voraussetzungen dafür, dass Schiller mit Die Räuber in der Gegenwart agieren und das Thema Chor neu definieren kann (vgl. DFP/11). Die Definition von Chor verwendet Schiller erst in der experimentellen Nachahmung einer antiken Tragödie, Die Braut von Messina, die Schleef als antiken „Aufguß, Gips statt Marmor“ (DFP/14) bezeichnet. Doch einen der antiken Konstellation näherkommenden chorischen Zustand erblickt Schleef eher in Schillers Frühdrama Die Räuber, dem er das Verdienst zuschreibt, die Tradition der nach einer Gruppierung benannten Dramen freigegeben zu haben. Er empfindet dieses als ausschlaggebend für eine ganze Reihe von Stücken, die sich mit einem chorischen Titel in eine neue dramatische Linie stellen. Am Beispiel der Räuber sei gewissermaßen das Muster der antiken Tragödien und Komödien (Perser, Troerinnen, Danaiden, Vögel, Frösche) rehabilitiert worden und der Chorgedanke erneut aufgegangen (vgl. DFP/11). Obwohl den Gruppierungen der gegenwärtigen Dramen nicht die offizielle Bezeichnung von Chor zugeschrieben wird, handelt es sich um richtige Kollektive, die sich aus Elementen eines gemeinsamen Milieus zusammenstellen und nicht förmlich, aber inhaltlich und konzeptuell als einheitliches Subjekt fungieren und „gegen die Herrschaft“ (DFP/12) angehen. So nennt Schleef u. a. von J. M. R. Lenz Die Soldaten, von Gerhardt Hauptmann Die Weber, von Franz Wedekind Frühlings Erwachen, von Marieluise Fleißer Pioniere von Ingolstadt, von Günther Weisenborn Die Illegalen, von Friedrich Dürrenmatt Die Physiker, von Heiner Müller die Weiberkömodie (DFP/12). Als gemeinsames Kennzeichen dieser „vom Chor-Gedanken ausgehenden Stücke“(DFP/7) stellt Schleef das Bedürfnis einer Drogeneinnahme, desjenigen „narkotischen Getränkes“, worauf Nietzsche hindeutet, „von dem alle ursprünglichen Menschen und Völker in Hymnen sprechen“180. Wenn Dionysos seine
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Anhänger in einen Zustand des Rausches versetzt, sie ihrer Subjektivität entreißt und ihnen somit die Möglichkeit bietet, sich mit der ursprünglichen Einheit zu versöhnen, sieht Schleef den Rückgriff auf Droge in der Tradition des deutschen Dramas als Mittel, um eine „gesellschaftliche Utopie zu entwickeln“ (DFP/7). Die deutschen Autoren hätten nicht direkt auf dionysische Ekstase hingedeutet, sondern auf die „erste ‚chorische‘ Drogeneinnahme“, die Schleef mit dem „Abendmahl-Motiv“ (DFP/7) identifiziert. Deutsche Dramen würden ständige Variationen dieses Motivs als „die Notwendigkeit der Droge“ bieten, deren „Einnahme durch einen Chor“ analysieren und „die Individualisierung eines Chormitglieds durch Verrat“ darstellen (DFP/7). Die imposantesten Vertreter, die er dafür aufbietet, sind Goethe und Wag181 ner . Ausgehend von den Elementen wie Todesdroge, Potenzdroge und Zaubertränke in Faust, bzw. Blut des Abendmahls in Parsifal, bezeichnet er diese Werke, „in denen die Droge als Katalysator wirkt“ 182, als „symptomatisch“. Im Eröffnungsmonolog von Faust sieht Schleef „die exakte Beschreibung einer Drogeneinnahme und ihrer Wirkung“, also die dionysische, „sich verschiebenden Wahrnehmung“ (DFP/26). Diese Drogeneinnahme sei in Faust „szenengebunden“ (DFP/175), statt einer einzigen Droge kommt hier – abhängig von der Situation – eine andere vor. In den Kapiteln Nacht und Studienzimmer wird von einem braunen „Saft, der eilig trunken macht“183 und von Blut, ein „ganz besondrer Saft“184 gesprochen, die Schleef als „Rausch- und Sterbedroge“ (DFP/175) identifiziert. Beim Osterspaziergang, wo Faust eilt, „ihr ew’ges Licht zu trinken“185, handele es sich eher um eine „Adorationsdroge“. In der Hexenküche wirkt der Trank als „Potenz-, als Verjüngungs- und Jugenddroge“. In Wald und Höhle nimmt Faust eine „von Quellen und Kräutern, Beeren und Früchten stammende Naturdroge“ zu sich, doch bald stößt er wieder auf Mephisto und wird sich wieder der „Chemiedroge“ nähern. Margarethe geht mit der „Schlafdroge“ um: Auf Fausts Anweisung wird sie ihrer Mutter den Trank verabreichen, nach dem sie später, in Verzweiflung geraten, auch für sich selbst langen wird. (DFP/175f.). Goethes Werk ist zu einem „unerreichbaren Maßstab“ (DFP/23) geworden, den alle deutschen Autoren ohne großen Erfolg nachzuahmen versuchen – sogar Wagner habe laut Schleef seine Schwierigkeiten, mit seinem Modell zu konkurrieren und hätte auf Musik zurückgreifen müssen, „um Goethe szenisch zu überwinden“ (DFP/23). Parsifal gilt für Schleef sogar als deutsches, paradigmatisches Modell der „theatralen Wiederholung von Ritual“186, in dem das Thema des Chores wieder eine zentrale Rolle spielt. Hier scheinen alle wichtigsten Elemente vorzukommen: Die Gemeinschaft der Gralsritter, deren Abhängigkeit von der Gralsdroge, das letzte Abendmahl, die Bedrohung der Gemeinschaft, die Hoffnung auf Ret-
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tung durch die gemeinsame Drogeneinnahme, die (Selbst-)Opferung des Weiblichen bzw. der Tod Kundrys 187. Hier habe Wagner laut Schleef die vielen verschiedenen Drogen von Faust in eine einzige kondensiert, die allein das Weiterbestehen der Rittergemeinschaft sichern kann. Die Ritter versammeln sich um die Speisetafel, beunruhigt, ob ihnen die stärkende Droge verweigert werden würde. Aufgeregt, was im schleefschen Wortschatz pestkrank bedeutet, warten sie, bis Amfortas auf ein „erhöhtes Ruhebett“188 niedergelassen und der von den Knaben hingestellte Graal enthüllt wird, und schauen zu, wie nach einigem Zögern der Kristallkelch befreit wird. Erst dann kann der von Amfortas durch den Graal gesegnete Wein ausgeschenkt werden. Schleef macht darauf aufmerksam, dass in der ersten Fassung noch richtiges Blut ausgeschenkt wird, was in den späteren Fassungen in Wein umgewandelt wird. Das Schema der in Parsifal wiederaufgestellten Chorsituation wird durch die Ausstoßung des Individuums vervollständigt, genauer, durch die Entfernung Klingsors, der gegen das Keuschheitsgebot verstößt und somit sein Recht auf „Mitgliedschaft“ (DFP/263) verliert. Schleef erläutert, wie sich der die Tragödie kennzeichnende Konflikt von Kollektiv und Einzelnem auch hier in seiner vollen Zwiespältigkeit erweist: Auf der einen Seite haben wir den Abgelehnten, der, „wie Ödipus durch Selbstverstümmlung zum tragischen, sich bestrafenden Individuum“ (DFP/263) wird. Auf der anderen Seite wird mit dieser „Verstoßung“ das „Ende der Gralsritterschaft und ihres Königs besiegelt“ (DFP/263). Da nützt auch Drogeneinnahme nicht mehr. Ohne Droge könnte in Schleefs Deutung auch Brechts Puntila nicht überleben. Er „muß trinken, um die erlittene Teilung, Abstoßung, Ausstoßung zu verkraften“ (DFP/477). In der Konfrontation mit seinem Knecht wird ihm klar, wie die erstrebenswerte „Verschmelzung“ in ein „WIR“ unerreicht bleibt. Diese hätte „die Auflösung der schmerzhaften Trennung“ bedeuten können, was in der antiken Konstellation mit der Reinigung des „‚pestkranken‘ Volks“ übereingestimmt hätte (vgl. DFP/477). Das Zueinanderfinden von Einzelnem und Kollektiv, dessen Verkörperung in Schleefs Interpretation Matti als Vertreter einer ganzen Gesellschaftsschicht darstellt, erfolgt nicht. Es bleibt nur die Droge, um das „Alleinsein“ auszuhalten. Auch hier sieht Schleef, wie das zwiespältige Verhältnis eine paritätische Schwäche heraushebt; keines der beiden Elemente dominiert das Andere, doch statt sich entgegen zu kommen, bleibt jedes für sich, jede Figur erleidet seine eigene Einsamkeit, „der ‚innen‘ Ausgestoßene Puntila, der ‚draußen‘ Ausgestoßene, der vor dem Hotel auf seinen saufenden Herrn wartende Chaffeur Matti“ (DFP/477). Im Stück erfolgt eine Abwechslung von „Such- und Abstoßungsbewegungen“189 der zwei Männer, die in einer konfliktgeladenen gegenseitigen Abhän-
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gigkeit verwickelt sind, da sie jeder das alter ego des anderen ist, und sich im Sprechen näher kommen. Diese komplexe Männerfreundschaft verfestigt sich nicht nur durch Alkoholkonsum, sondern indem sie miteinander sprechen. Gemeinsames Trinken und Sprechen sind also die Drogen, wodurch sie glauben, den eigenen „beschränkten Standpunkt“ erweitern und „das Korsett der Individualität in der Gemeinschaft mit anderen überwinden zu können“ 190. In die Reihe dieser Stücke, in denen sich die komplexe Bindung von Individuum und Kollektiv durch Drogeneinnahme definiert, stellt Schleef auch Gerhart Hauptmann mit Werken wie Vor Sonnenaufgang und Die Weber, das Schleef als „die erste große antike deutsche Tragödie“ benennt191. Was ihm hier inkohärent erscheint, ist die im 5. Akt vorgeschlagene „utopische Lösung“, die statt den „Niedergang der Weber“ deren Sieg annimmt und somit einen schlichtweg historischen Fehler begeht192. Generell erscheinen ihm die „trügerischen“ Schlüsse der bisher zitierten Werke von besonderer Bedeutung, die er – wie folgt – mit einer seiner einzigartigen Formulierungen zusammenfasst: FAUST 2 endet mit der Himmelfahrt eines Massenmörders, der von einer Familienmörderin in die Höhe geholt wird. PARSIFAL endet mit dem erneuten Machtanspruch einer Mordarmee, DIE WEBER mit einem Theatersieg. (DFP/ 180) Diese fragwürdigen Schlüsse, die „Interpreten und Zuschauer“ durch den vielen enthaltenen Sprengstoff desorientieren, würden laut Schleef „die Frage nach der Berechtigung des Individuums“ (DFP/180) wiederholen, ob dieses nicht doch Illusion sei. Und somit enthüllt er die Zwiespältigkeit, die dem deutschen Drama innewohnt: Er stellt fest, wie das „neuzeitliche Drama“ mit dem antiken Chor habe brechen müssen, um die wechselhafte Beziehung von Kollektivität und Individualität in Vergessenheit geraten zu lassen und dem Helden einen exklusiven Wirkungskreis freizulassen. Auf der anderen Seite schildert er dennoch, um es mit Lehmann zu sagen, wie sich eine neue Form von Theater notwendigerweise auf das zwar zerbröckelte, doch weiterhin verbleibende „Grundmodell der Achse Chor/Individuum“193 beziehen muss, von diesem nicht gänzlich unabhängig sein kann. Schleef schildert somit eine gewisse Inkohärenz der deutschen Dramatik, in der Chorfiguren hartnäckig zurückgewiesen werden und dennoch unterschwellig weiterexistieren. Von Schiller über Goethe, Hebbel, Wagner bis Hauptmann liest Schleef in diesem Sinne die Geschichte des deutschen Dramas neu. Aus seiner minutiösen Lektüre der Textvorlagen schält sich ein „archäologisches Vorgehen der Dramaturgie“194 heraus: Schleef konfrontiert immer die Ur-Fassung mit den späteren Fassungen eines bestimmten Textes und stellt dadurch die verschiedenen Ände-
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rung fest – die er in der szenischen Umsetzung dann meistens neben bzw. übereinander stellt. Mehrmals weist er darauf hin, wie unterschiedliche sprachliche Lösungen, wenn nicht sogar Schnitte sämtlicher Textfraktionen den Inhalt und die tiefsinnige Bedeutung eines Werkes beeinflussen können, dessen ursprüngliche Sprengkraft entschärfen. Das gilt u. a. für Goethes Faust 1, wo nach Schleef „alles ins Ordentliche, ins Kraftlose“ (DFP/79) gebracht wird. Er schildert nicht nur die „Harmonisierung von Wort Schreibweise, Satzzeichen“ (DFP/79), sondern beklagt, wie Auerbachs Keller „verläppert“, die Kerker-Szene „erstickt“ und der Eröffnungsmonolog „zerstört“ worden seien (DFP/79). Das Bedürfnis, gewisse Textstellen umzuschreiben, sei meistens politisch zu begründen, was eindeutig werde, wenn man den Umgang mit chorischen Szenen betrachte. So erinnert Schleef, wie z. B. Goethe „als einziger“ die urtümliche Natur des Chores verstanden habe, seine Ortslosigkeit, das „eher zu den Bäumen zu der Erde“195 gehören, wie sich aus der Urfassung des Götz herausstellt. Hier würde im 5. Aufzug der Chor der Zigeunerinnen als „im ‚wilden Wald‘ lebendes, fremdes Volk mit anderen, unbekannten Regeln“196 auftauchen; diese Zigeuner irren durch die Welt und „verlangen nichts als wüste Haide, dürres Gesträuch zum Aufenthalt auf eine Nacht und Luft und Wasser“ 197, sie gehen mit Fremden freundlich um, solange diese sich auch entgegenkommend zeigen und bringen ihre atavistischen Zauberkräfte in die Verbesserung ihrer Umgebung ein. Diese sich immer in einer Gruppe bewegenden freien Geister versuche Goethe, „der Landschaft zuzuordnen“198. Diese Szenen werden in den späteren GötzVersionen stark gekürzt, denn das Auftauchen eines solch freien, von der allgemeinen sozialen Ordnung abgespaltenen Kollektivs hätte einen zu großen Wirbel auslösen können. Und Goethe bevorzugte es, jegliche Szenen aus dem Text zu nehmen, die von der sehr solipsistisch angehauchten, bürgerlichen Gesellschaft als Provokation oder noch schlimmer als Bedrohung aufgenommen worden wäre. In einer Einleitung199 zu deren gemeinsamer Arbeit an der GötzInszenierung, unterstreichen Schleef und sein Mitarbeiter Hans-Ulrich MüllerSchwefe, wie Goethe oft an seinem Stück werkelte, bis er den ursprünglichen Kern fast eliminierte. Unter der Bezeichnung von „Kern“ meinen sie die Figuren der Bauern – also die Volksmasse – und Adelheid – also das sich behaupten wollende Weib –, denen als Störelemente einer geregelten Gesellschaft kein Platz gewährt werden konnte. Schleef und Müller-Schwefe erklären die Entscheidung, einen in der Endfassung seiner provokatorischen Essenz beraubten Text zu inszenieren, damit, dass Texte an sich meistens stärker als ihre Autoren sind. Diese hätten sich nämlich oft der Auferlegung der Zensur beugen müssen, um in keine persönlichen Schwierigkeiten zu geraten bzw. um die Erwartungshaltung des Publikums nicht zu enttäuschen200.
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Schleefs „archäologische“ Lektüre soll also dazu dienen, versteckte Eigenschaften gewisser Werke wieder herauszuheben, enttarnt die Potenz des Chorischen, die sich oft bereits im Titel spiegelt, und bemängelt dessen Unvollständigkeit. Stücke wie Die Räuber, Götz, Faust, Parsifal, Die Weber, Vor Sonnenaufgang, verhandeln in ihrer Essenz Gemeinschaft. Das kollektive Element bleibt dennoch als Geist latent, es wird ihm nicht zugestanden, sich als Subjekt zu etablieren. So stark es sich auch durchzusetzen vermag, erlangt es keinen Platz auf der Bühne; in der szenischen Umsetzung dieser Dramen wird keine tiefsinnigere Deutung gewagt, die wortwörtliche Wiedergabe der Textvorlagen wird nicht überschritten. Schleef erkennt die Ansätze für die Thematisierung einer chorischen Entität, doch muss er feststellen, dass dieser Versuch noch nicht gelungen ist. Trotzdem muss festgestellt werden, daß das bürgerliche Theater für die Masse Volk keine Verwendung hat, sie überhaupt nicht definieren kann, folgerichtig die Ansätze der Klassik dazu ausscheidet. Es hat den Individualisierungsprozeß okkupiert, den es von Masse beeinträchtigt sieht. Dagegen entlarvt das Massentheater der Kommunisten und Faschisten den individualisierten Menschen als Täuschung. (DFP/274)
Wenn das bürgerliche Theater der Individuen sich unfähig erweist, eine Stelle für das kollektive Subjekt zu finden und somit eine bedeutende Sparte der Gesellschaft fast verleugnet, führt die extreme Vermassung und Gutheißung der Massen seitens der faschistischen und kommunistischen, theatralischen Experimente auch zu keiner besseren Lösung. Der Konflikt Einzelner/Gruppe wird auch hier nicht gezielt problematisiert, sondern eher durch die Vernichtung des Individuums unterdrückt. Als einzige wirkliche Ausnahmen sieht Schleef Gerhart Hauptmann und Ernst Toller. In Masse Mensch würde sich der Chor in der „überbetonten Zentralperspektive“ behaupten und somit eine realistische Chance haben, sich die Rolle des Erretters anzueignen und „die Stadt von der Pest zu befreien“ (DFP/274). Noch herausragender sei Hauptmanns Leistung mit Die Weber gewesen, wo er „so etwas wie ‚Volk‘ auf die Bühne“ (DFP/81) brachte. Da aber die tatsächliche Umsetzung oft von der ursprünglichen Intention abweicht, muss Schleef bedauern, wie Hauptmanns Absicht, der Kollektivität wieder eine führende Rolle zuzuweisen, von den späteren Theatermachern verdrängt wird (vgl. DFP/81). Wenn er auf „unsere“ zeitgenössischen Bühnen hindeutet, schildert er ziemlich überdrüssig, wie eine solche „Personengruppe oder Ansammlung“ (DFP/81) als Störung empfunden und lieber abgeschafft wird. Im Wahrnehmen, dass Stücke wie Die Weber auf keinem Spielplan auftauchen, bezichtigt Schleef den Thea-
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terbetrieb, sich gründlich vor der gesellschaftskritischen „Verantwortung zu drücken“ und es zu bevorzugen, auf einem Niveau der einfachen Unterhaltung zu verbleiben. (DFP/81) Er nimmt die Versuche zur Kenntnis, die viele „Theatermacher“ fortsetzten, um „gegen die deutschen Klassiker den antiken ChorGedanken zu beleben“ und unterstellt deren Scheitern den „politischen Zustände(n)“. Denn wenn diese in bestimmten Momenten offen für die „Rückführung des tragischen Bewußtseins“ erscheinen, wird dieser Prozess bald wieder gebremst, aus Angst, dieselben Zustände umzuwälzen (DFP/9f.). Schleef stellt fest, wie keiner um ihn herum es bis dahin geschafft hat, die ursprüngliche Konstellation der antiken Tragödie wiederherzustellen, wo die Elemente des Chorischen und des Weiblichen, die, wie noch erläutert wird, aus seiner Sicht eng miteinander verbunden sind, noch eine zentrale Rolle spielten. Mit seiner Inszenierungsarbeit versuchte er gezielt, genau diesen Mangel zu kompensieren, beide Figuren wiedereinzuführen und deren Zusammenhang deutlich zu machen. Einar Schleef wird inzwischen als Erneuerer der Chortragödie und sein Theater als eindeutig chorische Erscheinung innerhalb des postdramatischen Theaterlandschaft anerkannt. Mittels eines ganz eigenen, von verfremdendem Rhythmus und starker Interaktion von Chorgestalt und Raum geprägten „Theater-Idiom(s)“201, hat er die deutsche Dramen- und Theatergeschichte neu bearbeitet. Er geht davon aus, dass die Entwicklung des neuzeitlichen Dramas vom „Schicksal des Chores“202 abhängt, genauer durch dessen Ausschließung. Denn das „bürgerliche Theater“, an dem das Individuum zelebriert wird, kann oder will mit der Masse nicht umgehen, beseitigt sie, verdrängt den antiken Chor und das weibliche Element (DFP/274), woraufhin später noch aufmerksam gemacht wird. Doch bleibt Schleef bei der Überzeugung, dass hinter dieser Fassade, Individualisierung zu fördern, noch das Anzeichen einer ursprünglichen kollektiven Herleitung überdauert und versucht, das daraus folgende unbewusste Streben nach Wiederbelebung dieser Sphäre aufzudecken. Trotz der überwiegenden Einstellung seitens der deutschen Klassiker, der Chorfigur den ihr von den antiken Autoren eingeräumten Platz zu verweigern (DFP/9), erkennt Schleef die verschiedensten Ansätze, eine antike Konstellation wiederbeleben zu wollen, und geht „den heimlichen Spuren des Chors in der deutschen Dramatik nach“203. Er liest bestimmte Stücke aus seiner Sicht neu und betrachtet das in ihnen versteckte chorische Element, das sie eigentlich zu Chorstücken macht. In all den Werken, auf die er sich in seinen theoretischen Überlegungen immer wieder bezieht, erkennt Schleef das Verhandeln von Gemeinschaft und glaubt sie somit in eine hypothetische, chorische Linie einfügen zu können.
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SCHLEEF INSZENIERT: VERSUCHE DER NEUBELEBUNG DES CHORISCHEN POTENTIALS Schleefs szenische Praxis ist, wie bereits angedeutet, sehr außergewöhnlich; er bevorzugt einfache, kahle meist schwarz-weiße Räume mit minimalistischer Ausstattung und konzentriert sich gänzlich auf das Sprechen und die Bewegung der vereinzelten oder zu Gruppen vereinten Körper auf der Bühne. Schleefs Lektüre der deutschen Dramengeschichte beeinflusst sogar die Verwendung des bei ihm immer präsenten chorischen Elements, das er oft auch dort einfügt, wo die Textvorlage es nicht vorsieht. In gewissen Figuren erkennt er nämlich eine fast allegorische Funktion, die er als stellvertretend für eine ganze Gruppe deutet und die in der szenischen Umsetzung somit von einem Kollektiv verkörpert werden kann. In Schleefs Erarbeitung eines Inszenierungskanons waren die Überlegungen bezüglich der szenischen Orte des Chores204 wesentlich. Er geht davon aus, dass sich in der attischen Tragödie der Chor im Bereich der Orchestra aufhielt: In der Nähe des Publikums und weiter entfernt von der Skené, die Schleef in Droge Faust Parsifal hyperonymisch als Palast und somit als Machtzentrum definiert. Dieses eher theaterpraktische Bedenken beeinflusst natürlich Schleefs sehr spezielle Raumgestaltung, die oft einen langen Laufsteg vorsieht, der sich direkt von der Bühne aus durch den Zuschauerraum zieht, ihn spaltet. Auf der einen Seite kommen dadurch Schauspieler und Chormitglieder den Zuschauern körperlich näher; auf der anderen wird die räumliche Trennung der Zuschauergemeinschaft Metapher für diejenige Spaltung, die jeder Gemeinschaft innewohnt. Diese Spaltung bringt wiederum einen Schmerz mit sich, dem in Schleefs szenischer Praxis eine sehr definierte physische Form zugewiesen wird, sowohl während der Vorbereitungszeit als auch im Moment der Aufführungen selbst. Dass die Probenphase für Schauspieler und Chormitglieder körperlich und psychisch sehr anspruchsvoll war, wird durch die Erinnerungen verschiedenster, mitwirkender Zeugen205 bestätigt. Die Verkörperung des Schmerzes wird außerdem auf Schleefs Bühne unleugbar und äußert sich in der angewandten Sprachbzw. Deklamationsart, im beharrenden Geschrei, sowie in den erschöpfenden Aufmärschen und in den stampfenden, sogar gefährlichen Bewegungschoreographien. Schleef ist sich bewusst, wie nur eine solche zum extremen Punkt geführte schmerzhafte Erfahrung den von den Spielenden vokal und körperlich erzeugten Schmerz auf die Zuschauer übertragen kann. Nur so wird der aus der Unversöhnlichkeit von Einzelnem und Gruppe ausgehende Schmerz der Protagonisten greifbar und teilbar, seine Öffentlichkeit ist wie in der antiken Konstellation erneut hergestellt. Bei Schleef empfindet das Individuum im Schmerz „die
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Schnittstelle, sein Abgeschnittensein von der Chor-Gemeinschaft, die ihrerseits kein harmonisches Kollektiv ist, sondern vom Chor-Riss des Einzelnen“206 geteilt ist. Der aussichtslose Zwist zwischen Individuum und Masse in Götz und Vor Sonnenaufgang Ein einleuchtendes Beispiel für Schleefs Verwendung eines Laufstegs gibt uns seine Inszenierung des Ur-Götz am Bockenheimer Depot in Frankfurt (1989). Hier eignete sich die langgezogene Form des ehemaligen Betriebshofs besonders gut, um diese Art von Bühnenkonzept einzusetzen. Schleef teilte den Raum in seiner Mitte durch einen sich von einem Ende zum anderen hinausziehenden Steg und kennzeichnete den Saal mit einer stilisierten doch wirksamen Symbolik, die in groben Zügen auf die sowohl ideelle als auch körperliche, soziopolitische Trennung verschiedener Menschengruppen in einer jeden Gesellschaft hindeutete. So sollte die sich durch den Steg ergebende Kreuzform auf die Kirche, während die an einem Ende desselben Stegs sich abzeichnende Empore auf Staatsmacht hinweisen. Der Steg galt als öffentlicher Raum, wo sich alle Figuren abwechseln, und unter dem Steg breitete sich der Ort der Ausgestoßenen aus 207. Das „architektonische Dispositiv“ sollte bereits Schleefs Rezeption des deutschen Dramas widerspiegeln, in dem für die Aufrechterhaltung der bestehenden „hierarchischen Ordnung“ gesorgt wird und bedrohende Elemente zurückgestoßen werden208. In der Einleitung zur Inszenierung präzisiert Schleef, wie Goethe keine historisch genaue Chronik des Bauernkrieges von 1524 habe abbilden zu wollen, sondern die zwiespältige Figur Gottfried von Berlichingens ins Zentrum seines gegen die bis dahin geltenden Theater-Konventionen stoßenden Dramas bringt. Damit wird gezeigt, wie Berlichingen sich zwischen den alten, nicht mehr anerkannten Ritteridealen und den neuen bürgerlichen Regeln bewegen muss und schließlich wie alle anderen resigniert krepiert 209. Heeg sieht in Schleefs Interpretation eine neue Art, an die Hauptfigur heranzugehen, da er diese nicht als „linken Revoluzen“210 zeigt, sondern viel mehr als „Rebellen der Ordnung“, der letztendlich die deutsche Neigung zur Erhaltung einer vorgegebenen Gesellschaft weiterführt. Diese wird durch den Männerbund von Soldaten zusammengehalten, die einer höheren Macht dienen und so keine freie, sondern eine Dienstgesellschaft ermöglichen. Hier wird Schleefs Parallele zur modernen deutschen Dienstleistungsgesellschaft erblickt, wo der „Siegeszug der kapitalistischen Einzelkämpfer unaufhaltsam erscheint“211 und das Gelingen
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einer Gemeinschaft von ungebunden zusammenwirkenden Individuen keine realistische Möglichkeit darstellt. In Schleefs Inszenierung tragen Berlichingens Anhänger die gleiche Uniform wie die kaiserliche Armee, was darauf hindeutet, wie jede Art von Machtanspruch gleich endet, so vorbildlich das Ausgangsideal auch sein mag. Egal von welcher Seite der Angriff kommt, ob es sich um eine Unterdrückung der Untergeordneten von oben handelt oder um revolutionäre Triebe, die versuchen, das amtierende Regime umzuwälzen. Sobald eine führende Position eingenommen wird, „ob im Namen des Individuums oder eines Kollektivs“ 212, wiederholen sich die Machtstrukturen immer wieder. So werden die revoltierenden Bauern auf Schleefs Bühne nicht idealisiert, sondern erscheinen als „erbärmliche Menschen“213, deren Brutalität sich aus den heftig skandierten Bewegungen und dem rhythmisierten Sprechen ergibt. Macht ruft Gewalt hervor und die subtile Grenze zwischen Opfer und Täter kann schnell umkippen, das ist für Schleef ein unausweichlicher Automatismus. Mit dieser Voraussetzung liest er die Geschichte der deutschen Revolutionen und entdeckt in Goethes Götz die offensichtliche Entlarvung der Freiheit des Individuums als unrealisierbare Utopie. Nur im Sterben erblickt Götz die ersehnte Freiheit, denn „die Welt ist ein Gefängnis“214, wie seine Frau Elisabeth in den letzten Zeilen des Stückes resigniert behauptet. Sogar ein solch außergewöhnliches Gemüt wie Götz kommt über die Vorstellung, die „Imago des Individuums“215 nicht hinaus, er bleibt schlichtweg allein. Noch einmal wird deutlich, wie das Wechselspiel zwischen dem durch den Chor-Riss vereinsamten Einzelnen und dem sich nicht als harmonische Einheit konstituieren könnenden Kollektiv keinen Sieger haben kann. Es ergibt sich immer wieder ein Teufelskreis, in dem das Individuum von der verängstigten Gemeinschaft ausgestoßen wird und diese wiederum ohne einen für sie kämpfenden Führer zum Scheitern verurteilt ist. Auf den unlösbaren Konflikt von Individuum und Gemeinschaft wird man auch ständig in der Inszenierung von Vor Sonnenaufgang erinnert. Das Stück dreht sich um die Angelegenheiten einer reich gewordenen Bauernfamilie, die, ihre niedrige Herkunft vergessend, einen äußerst verschwenderischen und unmoralischen Lebensstil führt, jeglichen Hausverstand verliert, und, um die existenzielle Leere auszuhalten, zum Alkohol greift. Vor der sich ausbreiteten Krankheit der Familiengruppe will sich die zweite Tochter Helene retten, und der gerade wieder aufgetauchte Freund ihres Schwagers, Loth, bietet sich anfangs als Erretter an. Die draußen weiterlebende Masse hat in den Zeilen dieses Sozialdramas keine sprachlichen Einsätze, doch ist sie unterschwellig immer präsent, zumindest als Reflexionsobjekt einiger Hauptdarsteller, die sich über die Zu-
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stände des Bauernlebens Gedanken machen. Schleef findet auch hier den Weg, das Stück als Kampfplatz zu deuten, auf dem Individuum, Kollektiv und Masse sich abwechseln, ohne dass sich ein Gewinner herausstellt. Reicher im goldnen Haus, Fühlst du kein Schauern? Dringt nicht ein Sturmgebraus dumpf durch die Mauern? Die da draußen frierend lungern, dich zu berauschen, müssen sie hungern, ihre gierigen Blicke suchen dich, ihre blassen Lippen verfluchen dich, und ihr Hirn mit dumpfen, dröhnenden Schlag, das schmiedet den kommenden Tag.216
Diese Zeilen stehen zu Beginn der Inszenierung weiß auf schwarz auf dem eisernen Vorhang. Die Bühne bleibt während der gesamten Aufführung düster, was emblematisch für die aussichtslose Situation ist. Die degenerierte Familie Krause steht sinnbildlich für die ganze Gesellschaft, die durch die fortschreitende Industrialisierung nichts als eine verbreitete „menschliche Verwüstung“ 217 bewirkt und keinen Platz für Solidarität oder Einfühlungsvermögen offen lässt. Schleef entfernt sich von jeglicher Psychologisierung, er bietet uns keine Individuen, sondern Typen, wiedererkennbare Menschenmuster, keine Unizitäten, denn die Geistesarmut ist verallgemeinert. Als würden sie eventuelle Schuldgefühle lindern wollen, treten die in Schleefs Theaterästhetik oft wiederkehrenden Frauen im Kittel auf, die mit Eimer und Schwamm auf der Bühne schuften, um die mahnende Schrift wegzuschrubbeln. Doch der Gedanke an die „da draußen“ Hungernden bleibt im Laufe der gesamten Aufführung immer im Hinterkopf, eine Art Promemoria der permanenten Anwesenheit der sich vor dem Palast versammelnden Masse. Selbst wenn keine Körper zu sehen sind, ist der Geist dieser Masse präsent, man hört sie von draußen trampeln, sie versucht gegen die ewige Marginalisierung aufzubegehren und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. In der letzten Szene, wenn die Magd die Leiche Helenes entdeckt, lässt Schleef, statt ihren besoffenen Vater, eine Gruppe nicht genau erkennbarer Figuren auftreten, die genau für die draußen verbannte Menge steht. Diese Figuren sind stumm, doch schaffen sie es, sich mittels ihrer stark rhythmisierten, hämmernden Bewegung über das Klimpern der von der protzigen neureichen Krausegemeinschaft rücksichtslos ausgetrunken Champagnerflaschen, zu behaupten. Schleef scheint den elendigen Bauern eine Art Revanche ermöglichen zu wollen, denn so oxymorisch die Nebeneinanderstellung zweier solch divergierender Lebenszustände auch er scheinen mag, erweisen sie sich augenscheinlich als zwei Komponenten eines selben Elends. Doch bleibt es bei einem mageren Trost, denn die Masse findet in der Offenbarung der Abartigkeit ihrer Gegner keine Heilung für die eigene. Wieder mal ist die Niederlage allseitig, vernichtet sind die beiden Grup pierungen, vernichtet ist
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auch die sich absondern wollende Helene und Loth, der sich als Erretter vorstellte, verrät sich durch seine Feigheit selbst, er versagt. Schleef erblickt auch hier keinen Gewinner. Das führt uns zurück zum Götz. Exemplarisch für dieses zwiespältige und von vornherein verlorene Verhältnis von Einzelnem und Kollektiv scheint die in Goethes Vorlage sehr kurze Szene Wald an einem Morast218 im 3. Aufzug zu sein. Hier begegnen sich zwei Reichsknechte auf der Flucht von Götz; der eine ist der Kaiserarmee noch treu und will seinem Offizier Brot bringen, der andere hat sich von allem abgesondert. Als sie Pferdegeräusche hören, klettert der eine auf einen Baum und der andere versinkt im Sumpf, woraufhin der erste sich über den Hochmut des Kollegen lustig macht, ihn als „Memme“ bezeichnet und sich aber auch kein besseres Ende erhoffen kann, sondern von Götz und seinen Leuten gefasst wird. Schleef bezeichnet diese als die „wichtigste Szene des epischen Theaters überhaupt“219 und widmet ihr einen wichtigen Platz in seiner Inszenierung. Episch in dem Sinne, dass Goethe uns eine Situation bietet, in der man für keine der Figuren eine wirkliche Sympathie empfinden noch sich mit ihnen identifizieren kann. Die unsolidarische Reaktion des Knechts, der kein Mitleid für das Elend eines Gleichgestellten empfindet, sondern sich sogar hinterlistig darüber freut, bis er selbst an der Reihe ist, stellt Schleef als exemplarisch für das hoffnungslose Schicksal jeglicher Gesellschaft aus, er sieht keinen realistisch begehbaren Weg für ein gesundes, kollegiales Zusammenleben. In dieser Szene sieht man auf Schleefs Bühne die zwei Männer, die sich ganz allein in der Mitte des Stegs aufhalten und die vereinzelten Kriegsopfer verkörpern220, während die zwei militärischen Fronten, die Soldaten des Kaisers und die Ritter Berlichingens, sich getrennt auf den entgegengesetzten Extremitäten desselben Stegs positionieren und ohne einzugreifen dem Untergang der Individuen zugucken. Bis sie den Aufführungsraum stürzen und „die gewalttätige Machtusurpation, die jeder Krieg realisiert“221, szenisch durchziehen. Die Zuschauer werden von der schauspielerischen Wucht überfallen, die szenische Gewalt hat sich in die Realität übertragen, sie ist physisch greifbar geworden. Die Zerstörung des Individuums ist vollzogen und zwar von zwei scheinbar verfeindeten Gruppen, die sich im Angriff auf die zu vernichtenden Einzelnen in ihrer identisch gewalttätigen Essenz entblößen.
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Puntila und sein Knecht Matti, eine wechselseitige Abhängigkeit Die am 17. Februar 1996222 vom Berliner Ensemble aufgeführte Puntila-Insze nierung stellt verschiedene, für die schleefsche Ästhetik kennzeichnenden Elemente zusammen. Als erstes fällt auf, wie er hier die szenische Verwendung für ein ihm wichtiges Symbol findet: Der runde Tisch als metonymisches Sinnbild einer gemeinschaftlichen Situation. Wenn Dreysse sich an Schleefs Vorgang bei den Proben eines neuen Stücks erinnert, deutet sie genau darauf hin, wie sich bei den ersten Leseproben alle Beteiligten versammelten, oft eben um einen oder mehrere Tische und zusammen über die Vorstellungen zur Realisierung des Stücks diskutierten. Schleef sammelte die verschiedenen Einfälle, versuchte sie mit den eigenen zu koordinieren und strebte somit die „Utopie eines runden Tisches, eines gemeinschaftlichen Handelns“223 an. Eine reine Utopie, die als solche auch unvollkommen geblieben wäre, da Schleef, so stark sein Begehren danach auch sein konnte, von der Undurchführbarkeit einer solchen Gemein schaft überzeugt war. Immer wenn er mit dem Gedanken dieser Utopie arbeitete, hielt er ihr, besonders in der Geschichte Deutschlands, „meist gewalttätiges Scheitern“224 vor Augen. Diese Weltanschauung sollte natürlich auf sein Werk übertragen werden. So konzipierte er für das Bühnenbild einer nie zu Ende gebrachten Parsifal-Inszenierung die runde Tafel der Gralsritter, die er dann tatsächlich erst in der Realisierung von Puntila einsetzte und diesbezüglich bestätigte, dass es der „Parsifal-Tisch“ sei, an dem in seiner Arbeit „jede Trinkerrunde sitzt“225. In diesem Stück sind zwei Aspekte besonders wesentlich, die Hass-Liebebindung von Herr und Knecht und die Ausführung des weiblichen Opfers, worauf im folgenden Kapitel eingegangen werden soll. Puntila und Matti versuchen zwar sich gegenseitig abzustoßen, finden doch immer wieder zueinander. In dieser gegenseitigen und unversöhnlichen Abhängigkeit liest Schleef wieder einen Verweis auf das zwiespältige Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft und inszeniert Puntila (den er auch selber spielt226) als einzelnes Subjekt und Matti als Chor. Dreysse liest in dieser Choralisierung Schleefs Hinweis auf ein von Anfang an zum Scheitern verurteiltes Modell von Gesellschaft, die Brecht mit seinen politischen Ansichten anstrebte227. Statt dem von Brecht als intelligentes, selbstständiges Indivuduum konzipierten Matti, zeigt Schleef ein Kollektiv unterwürfiger und fast bestialischer Knechte, die sich genauso hemmungslos wie ihr Herr benehmen. Schleef löscht die als desillusioniert empfundene Utopie eines konstruktiv rebellierenden und selbstagierenden Kollektivs aus und lässt eine Knechtegruppe auftreten, die sich den Befehlen ihres despotischen Herrn beugt. Diesem teilt Schleef eine doppelte Funktion zu: Der Puntiladarsteller (also er selbst) soll nicht nur die Titelrolle, sondern im Brechtschen Sinne der Verfrem-
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dung den „Spielleiter“ verkörpern, der über die gesamte Inszenierung wacht. Er sorgt dafür, dass immer wieder an die Situation der Theatervorstellung erinnert wird, indem er diese zum Beispiel hier und da unterbricht und befiehlt, den einen oder den anderen Auftritt zu wiederholen. Dieser „selbstherrliche (Theater-)Gott/Vater/Puntila/Regisseur/Schleef“228 inkarniert hier ein abstraktes höheres Gesetz, eine universelle eklektische Hierarchie, die sich in ihren unzähligen Facetten und Gegebenheiten immer wieder bestätigt. Diese Ordnung, die für die Theaterinstitution, für eine ideologische Ansicht, für eine Gemeinschaft, einen Glauben, für das allgemeine „Gesetz des Stärkeren“229 stehen kann, hat immer ein und dasselbe Ziel: Die Unterdrückung, die Opferung des Einzelnen, also des Subjekts. In Puntila ist dieser Drang nach Opferung als Selbtserhaltung dieser höhe ren Macht eindeutig gegen das weibliche Subjekt Eva gerichtet. Der Herr und sein befehligter Knechtechor wollen der Bedrohung entgegensteuern, die sie in der ungezähmten weiblichen Figur erkennen, wie noch erläutert werden soll. Puntila und Matti stehen zueinander, während sie Eva auf ihre hausfraulichen Fähigkeiten prüfen, doch hat dieses Zusammenhalten nicht mit einem positiven Ideal einer Gemeinschaft zu tun, sondern ist viel mehr Äußerung der Angst, von diesem Subjekt übermannt zu werden. Ihr Bündnis basiert auf dem Terror der Enteignung, und die Männer müssen etwas unternehmen, um den eigenen Fortbestand zu sichern. Eva repräsentiert das unterdrückte „Fürchtzentrum“230 des Stücks, das dem Männerbund mit dem Verlust der Identität droht und wird entschärft, indem sie zum Sündenbock gemacht wird. Heeg hebt hervor, wie dieses bedrohliche, übermächtige Weibliche eigent lich nur imaginiert ist, da der Ichverlust ja von der bacchantischen Lust in Gang gesetzt wird, die Barrieren der einzelnen Identität gemeinsam brechen und übersteigen zu wollen“231 und somit der männliche Standpunkt des omnipotenten Herrschers in Gefahr gerät. Statt die eigene Verantwortung wahrzunehmen, sich selbst zu beherrschen und wieder die Kontrolle über das eigene Handeln zu ergreifen, wird die Schuld auf ein externes Objekt übertragen. Das unmittelbare Exempel dafür ist natürlich das Nichtgleiche, das andere Geschlecht, und wie der Chor im Individuumsausstoß im erneuten Einheitsgefühl seine Stärke wieder zufinden glaubt, weist der Männerbund der das Weibliche als das von der Einheit Differente ab. Allein durch die letztere veröffentliche Fassung des Stückes232 fällt es schwer, diese Angst vor den bescheidenen Frauenbildern nachzuvollziehen, die hier von Puntila gut beherrscht werden. Und gerade in diesem Sinne wird Schleefs archäologische Recherche notwendig. Er greift auf die Figuren zurück, die Brecht in der Urfassung von Puntila skizziert hatte, Figuren selbstbewusster
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Frauen. Die auf ihr Recht beharrende Eva, selber einen Gatten wählen zu dürfen, und die drachenartige Magd Hanna, die in Schleefs Inszenierung fast immer auf der Bühne als eine Art Kontrollorgan anwesend ist, verkörpern die schreckliche Vorstellung einer weiblichen Führung, die wiederum aus einer männlichen Perspektive gewalttätig zurückzuweisen ist. Und genau diese Gewalt wird auf Schleefs Bühne exponiert und zwar exemplarisch durch die Gruppenvergewaltigung Evas seitens des Mattichores und in der späteren Prüfungsszene, wo, wie noch dargelegt werden soll, Eva alleine und machtlos in der Mitte des runden Tisches liegt und vom Mattichor und Puntila exekutiert wird. Mit dieser Art, Gewalt szenisch auszustellen, sowie dem wiederholten Aufführen des Aufeinanderstoßens von Einzelnem und Gesellschaft, dem sich gegenseitig Abstoßen und Anziehen und der letztendlichen Opferung des Individuums für die illusionäre Erhaltung der kollektiven Einheit wählt Schleef das theatralische Medium der antiken Chor-Tragödie233.
DIE NOTWENDIGE WIEDERHERSTELLUNG VON CHOR UND WEIBLICHKEIT Am Beispiel der Puntila-Inszenierung gelingt es besonders gut, auf Schleefs Absicht hinzuweisen, die Bedingungen für die Wiederherstellung der Tragödie zu ermöglichen. Wie bereits erläutert, geht aus seiner Interpretation der deutschen Theatergeschichte hervor, wie besonders aus gesellschaftlich-politischen Gründen die Neigung dominierte, kollektive Entitäten zu verdrängen, um dem singulären Subjekt, dem bürgerlichen Helden genügend Platz im Ablauf des Dramas und auf der Bühne zu lassen. Diese Vorgehensweise hätte laut Schleef jegliches „tragische Bewusstsein“ beseitigt, das gerade auf dem Wechselverhältnis von Chor und Individuum beruht. Wie in Bezug auf die Puntila-Inszenierung nur kurz angedeutet wurde, erstellt Schleef eine gewisse Kontinuität zwischen Chor und weiblichem Element und zwar als ausgestoßene Komponenten, deren Vertreibung von der Szene, die bis in die Gegenwart hineinragt, den eigentlichen Untergang der griechischen Tragödie verursachte. Um das von Schleef so stark ersehnte tragische Bewusstsein zu restaurieren, ist also die Wiederkehr der genannten Elemente unumgänglich: Der verschüttete Chor und die Frau müssen wieder auf die Bühne gebracht werden und sich mit dem dominierenden, männlichen Subjekt konfrontieren, von dem sie ausgestoßen wurden.
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Die Rückführung der Frau in den zentralen Konflikt, die Rückführung des tragischen Bewußsteins ist kein Überlaufen auf die Seite der Frauen, sondern notwendige Arbeit, notwendige Korrektur, notwendige Besinnung, notwendig, um das Überleben der gefährdeten Kunstform des Sprech- und Musiktheaters zu ermöglichen. Diese Besinnung, diese Reformierung des Theaters hat politische Konsequenzen, ist nur so denkbar, heute politisch utopischer Ansatz. Dieser allgemein sichtbaren, notwendigen Korrektur aber steht die männliche ChorBildung gegenüber, die sich nicht als solche begreift, um sich zu schützen, aber alle Vorteile der Chor-Bildung brutal nutzt, eine Jagdgemeinschaft rekrutiert, um das eingenommene Herrschaftsgebiet zu kontrollieren. (DFP/10)
So erklärt Schleef die Wahl, dem weiblichen Subjekt einen solch wesentlichen Platz in seiner Theaterarbeit zuzuordnen. Wie im nächsten Kapitel gründlich untersucht wird, hat Schleef oft auf die Urfassung von Texten zurückgegriffen, um die Frauenfiguren ans Licht zu bringen, die noch gewissermaßen frei gestaltet wurden, ohne auf Einschränkungen der Zensur oder auf implizite Auslegungen der Rezeption zu achten. Er hat versucht, die in der Antike oft auftauchenden Frauenchöre erneut einzuführen und sogar dort, wo die Textvorlage weder einen Chor noch eine weibliche Komponente vorsieht, eine Art Genderinversion durchzuführen und besondere Funktionen, die er mit dem weiblichen bzw. mit der Skepsis gegenüber dem weiblichen Subjekt verbindet, in einzelnen oder sogar kollektiven Frauenbildern zu verkörpern. Von Anfang an ist es Schleef bewusst, wie eine solche dramaturgische und theaterpraktische Operation heftige Kritiken auslösen wird, besonders in einer Gesellschaft, wo sich die vereinzelten männlichen Elemente nur dann zusammenschließen, wenn es um die Erhaltung des „Herrschaftsgebietes“ geht, sei dieses von einer asexuiert gemischten Menge oder von dem erneuten Existenzanspruch der Frauenfigur bedroht. Als wäre die Identifikation des tragischen Bewusstseins als „Domäne der Frau“ im kulturellen Gedächtnis eingeprägt, erklärt Schleef die Erbarmungslosigkeit, mit der das männliche, bürgerliche Individuum die über Epochen hinaus erhaltene Machtposition vor der Invasion totgeglaubter (bzw. gehoffter) Gegenspieler schützt (vgl. DFP/8-9). Zulassen, dass die grundlegenden Bestandteile der Tragödie, also Chor und Frau, wieder in die Mitte der Bühne gelangen, würde auch bedeuten, den bereits ausgestellten Konflikt von Individuum und Gemeinschaft erneut zu eröffnen (vgl. DFP/9). Wie gemäß der schleefschen Weltanschauung diese unvermeidliche und unlösbare Konfliktsituation, die der Tragödie innewohnt, auch den tragischen Kern der modernen Gesellschaft widerspiegelt, wird im Folgenden verständlicher. Hier soll nur kurz klargestellt werden, wie wichtig das Fortleben der Tragödien-
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gattung für Schleef ist, auch um die immer wiederkehrenden Mechanismen, die in der Interaktion von Individuen oder Massen entstehen, verstehen und reproduzieren zu können. Dem Verlust des tragischen Bewusstseins scheint von dieser Sicht aus gesehen also auch die Genderproblematik zugrunde zu liegen, die Schleef besonders in der Phase der Individuation feststellt, die mit der (Selbst-)Ausstoßung des neugeborenen Individuums übereinstimmt. Als erstes exemplarisches Modell dieses Prozesses, wodurch das vereinzelte Subjekt im sowohl räumlichen als auch konzeptuellen Limbus des Ortes „Vor dem Palast“ eingeschränkt wird, wählt Schleef nicht ein männliches, sondern ein weibliches Beispiel. Als allererstes Bild einer Individualisierung beschreibt er Elektra, die aus dem Palast ausgestoßen wird, in dem sie geboren wurde und aufgewachsen ist. Der Individualisierungsprozess ihres Bruders Orestes würde erst mit ihrer Weitergabe des Muttermordes erfolgen. Durch diese „Stafettenübergabe“ (DFP/ 267) entsteht also eine doppelte Individualisierung, die sich allerdings in zwei verschiedene Richtungen entwickelt. Der substanzielle Unterschied zwischen den beiden Schicksalen liegt darin, dass Elektra dem Wahnsinn verfällt und als auf ewig Ausgestoßene sterben muss, während Orestes als männliches Individuum siegt und sogar belohnt wird. Er wird von den Eumeniden geschont, erobert somit den Thron und profiliert sich als Vorläufer des bürgerlichen Helden. Ob Elektra „als Mörderin geschont worden wäre wie ihr Bruder“ (DFP/267), wird laut Schleef ungeklärt bleiben, doch erscheint es ihm sinnvoll, auf diese Disparität näher einzugehen. Das folgende Kapitel soll also der Ergründung der schleefschen Lektüre der weiblichen Rolle in der Geschichte der Tragödie dienen, Schleefs theaterpraktische Versuche erörtern, der Frau ihren ursprünglichen Platz wieder einzuräumen, und herauszufinden, inwiefern er an den Erfolg der ersehnten Zurückführung glaubt und ob ihm, im Nachhinein betrachtet, dieselbe Zurückführung gelungen ist.
Konzept des Weiblichen und Weiblichkeitsfiguren auf der Bühne
DIE AUSSTOSSUNG DER FRAU ALS TODESURTEIL DER TRAGÖDIE In seiner sehr persönlichen Auseinandersetzung mit der antiken Tragödie setzt Einar Schleef Aischylos Orestie als Grundmodell, aus dem später viele Motive, Charaktere und Muster entwickelt wurde. Schon allein am Beispiel der AtridenTrilogie bemerkt Schleef in Droge Faust Parsifal, welch wesentlicher Platz den weiblichen Chorformationen im Verlauf der Tragödien eingeräumt wurde. Neben den Choephoren und Eumeniden deutet Schleef auch auf die Schutzflehenden und auf die Frauen Thebens und Troias, die als eng geschlossene Kollektive auftreten und für den Ablauf der jeweiligen Tragödien unverzichtbar sind. Ausgehend von den Stimmen solcher Frauengruppen verweist Schleef auf die ursprünglich zentrale Rolle der weiblichen Komponente, die bei der Konzeption einer Tragödie berücksichtigt wurde und er geht von der Tatsache aus, dass in der griechischen Antike bis zu einem gewissen Zeitpunkt andere Rollenverhältnisse herrschten. Er spezifiziert seine Vorstellung dieser Verhältnisse nicht. Ob sein Bild der archaischen Gesellschaft ein rein matriarchalisches ist, das dann von einem Extrem zum anderen in ein gänzlich patriarchalisches umkippte, oder ob er sich eher eine ursprünglich ausgeglichene Koexistenz der Geschlechter ausmalt, die danach von der stark zunehmenden Übermacht der männlichen Komponente zerstört wurde. Bleibt ungeklärt. Auf jeden Fall, wie noch ausführlich erläutert wird, identifiziert er die entscheidende Wende in der Balance dieser Verhältnisse mit der Individualisierung der „vor dem Palast“ stehenden Elektra und ihrer darauffolgenden Verstoßung. Dass Schleef sich mit Fragen zu archaisch-matriarchalischer Gesellschaftsbeispiele auseinandergesetzt haben muss, geht schon allein aus der Insistenz hervor, mit der er auf der Zentralität von meist stöhnenden und klagenden Frauen-
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gruppen im Aufbau der Tragödiengattung beharrt und dann versucht, diese in der eigenen szenischen Arbeit wiederherzustellen. Diese Vermutung wird durch die Hinterfragung des dramaturgischen Materials zum Stück Mütter bestätigt, das verschiedene Auszüge aus Fachtexten der Sekundärliteratur umfasst, die Schleef und Müller-Schwefe mit persönlichen Kommentaren ergänzten 234. Im Laufe seiner Studien zur Matriarchatsforschung wurde Schleef auch mit den Erkenntnissen bezüglich der kollektiven Gestalt der sogenannten Klageweiber vertraut. Solche Frauen, die bereits in Ägypten und dann im alten Griechenland und Rom professionell engagiert wurden, um Begräbnissen beizuwohnen und gemeinsam zu weinen bzw. chorische Trauergesänge anzustimmen. Deren aufgesetztes Trauern sollte die Funktion erfüllen, die Angehörigen des Toten auf gewisse Weise von ihrem tatsächlichen Kummer zu entlasten, indem dieser exponiert vorgetragen, oder sogar performiert wurde. Um es mit Kadaré zu sagen, könnte man diese Klageweiber, für die er das lateinische Wort „prefiche“ verwendet, als ersten Entwurf eines antiken Chores ansehen und sie sogar als wahrhaftige Schauspielerinnen bezeichnen235. Er stellt außerdem die Grabstätte als urtümliche Theaterbühne und den Bestattungsritus als erste richtige, theatrale Situation dar. Der weibliche Klagechor gab dem unkontrollierten Schmerz der noch Lebenden eine geordnete Form. Die Aufgabe der Narration, worin Frauen „Meisterinnen“236 sind, wurde den Klageweibern überlassen, die mittels ihrer Threnödien nicht wirklich litten, sondern vielmehr das Leid anderer in Szene setzten und von dem Verstorbenen erzählten. Mit ihrem Vortäuschen eines von dem Betroffenen tatsächlich empfundenen Leides zogen diese Profis der Klage bestimmt auch Wut oder Abscheu auf sich. Als Heuchlerinnen wurden sie zwar gehasst und doch immer wieder aufgesucht. Deren Heuchelei war im Grunde eine Urform der Schauspielkunst, und sie selber könnten als Heuchlerinnen als erste wahrhaftige Schauspielerinnen gelten, eben im Sinne des im Altgriechischen dafür verwendeten Worts „Hypokrites“ 237. Hiermit wird also deutlich, welchen Einfluss die weibliche Präsenz, besonders in chorischer Form, auf das Schicksal des Theaters ausübte. Die Klageweiber waren verhasste und doch auf gewisse Weise notwendige Figuren, die von dem Kollektiv reklamiert wurden, um die Sphäre der Affekte zu verwalten. Als direkte Nachkommen der Klageweiber, die ϑρηνήτρία, erweisen sich die Frauenchöre der attischen Tragödie – wie die jungen Mädchen in Sieben gegen Theben, die Danaos-Töchter aus den Hiketiden, die mykenischen Frauen in Elettra, die Troerinnen, die Korinthinen in Medea, die Troianerinnen in Ecuba –, die in heftige Klagen ausbrechen und mit ihrem Wehgeschrei der öffentlichen Verzweiflung eine Stimme geben. Mittels ihrer Triebhaftigkeit und ungefilterten Äußerung jeglicher Empfindung stellen sie sich der eher rationalen Vorgehens-
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weise der männlichen Protagonisten entgegen, die sich beherrschen. Die Klageweiber wurden vermutlich verscheucht bzw. angegriffen, gleichzeitig gehasst und doch gefürchtet auf Grund ihrer sozialen Rolle, deren Bedeutung, wenn auch ungern, anerkannt wurde. Die Verantwortung für das öffentliche Äußern von Gefühlen und Reaktionen verlieh ihnen eine gewisse Macht, die von der Gemeinschaft auch als Bedrohung empfunden werden konnte. Eine ähnliche Art von Furcht müssen auch die weiblichen Chöre der Tragödie erzeugt haben, darin stimmt Schleefs Ansicht mit der Kadarés überein. Auch diese Frauengruppen haben mit ihrem Stöhnen eine starke Auswirkung auf die Öffentlichkeit gehabt, die die männliche Autorität ins Wanken brachte. Das einstimmige Sprechen einer ganzen Gruppe von Frauen, die einzeln genommen unbeachtet geblieben wären, verunsicherte die männlichen Helden, die in weiblicher Wucht eine zweischneidige Waffe erkannten. Um problemlos die eigene Heldentat ausführen zu können, mussten diese Frauenkonglomerate entfernt werden, genauso wie jede andere Chorformation, die sich auch nur rein potentiell in den Weg hätte stellen können. Und so passierte es auch schrittweise; wie bereits erwähnt, wurde der Platz für Choreinsätze in den Handlungen der Tragödien immer geringer, bis mit Euripides die Ausgrenzung vollbracht war. Das Individuum hatte den Chor überwunden, hatte ihn verdrängt. Und da chorisches und weibliches Element sich in der antiken Tragödie bedingen, ist die Ausmerzung des einen direkt mit der des anderen verbunden. Und wenn die weibliche Figur so eng mit der Entstehung des Theaters selbst verbunden ist, fällt mit ihrer Entfernung von der Bühne zwangsläufig das Todesurteil der Tragödie selbst. So argumentiert Schleef in Droge Faust Parsifal, wenn er von Notwendigkeit schreibt, Frau und Chor wieder in das Zentrum des Geschehens zu bringen, um der Gattung eine Überlebens- bzw. Auferweckungsmöglichkeit zu sichern. An diesem Punkt sei noch auf Schleefs Schilderung des Individualisierungsprozesses eingegangen, um dessen scheinbare Widersprüchlichkeit aufzulösen. Denn dass Schleef als erste sich individualisierende Figur auf dem Theater gerade eine Frau wählt, könnte in diesem Gedankengang irreführend wirken. Warum hätte die sich individualisierte Elektra chorische bzw. weiblich-chorische Gemeinschaft ausstoßen wollen, um dann die eroberte Machtposition dem männlichen Individuum zu überlassen? Ausgehend von dieser Fragenstellung wird klar, wie Schleef eine doppelte, geschlechtlich konnotierte Auswirkung des Individualisierungsprozesses hervorhebt. Wenn Elektra als erste aus dem Palast heraustritt und ihre Stimme erhebt, sich von der Kollektivität trennt und ihr eigenes Schicksal ausleben will, bleibt ihre Individuation Selbstzweck und trägt sogar zur eigenen Ausgrenzung bei. Die männliche Individualisierung hingegen führt zur Definition des Protagonis-
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ten, der immer kräftiger über die Gemeinschaft herrscht, diese zurückweist und seine Rolle über Epochen hinweg ungestört ausübt. Während die männliche Individualisierung die Entstehung des Helden bedeutet, führt die weibliche zur Selbstvernichtung. Die Ausstoßung Elektras, die sich selbst ausstößt und ausgestoßen wird, ist die erste weibliche Individualisierung auf dem Theater, die in einem unstimmigen Bild erscheint, das sich auf jede weibliche Individualisierung der antiken Autoren auswirkt. Selbst wenn unsere Interpretationen den Untergang des Matriarchats bedauern, ihn ansatzweise korrigieren wollen, widersetzt sich die antike Figur dieser Zivilisierung, dieser ‚Vermenschlichung‘. (DFP/266)
Elektra hätte den Muttermord selbst vollziehen können, somit ihre Herrschaft behaupten, sich in die Zentralperspektive stellen, doch beschließt sie zu delegieren. Sie überlässt die Führungsposition freiwillig dem Bruder Orest und macht sich somit eigentlich für jegliche anschließende männliche Usurpation verantwortlich. Sie hätte, wie ihre Mutter, selber agieren können und mit der von der Gesellschaft für die Frau vorbestimmten Rolle brechen, doch verzichtet sie lieber auf den Thron. Von diesem Moment an, wie Schleef schildert, etabliert sich die bis heute anhaltende Tendenz, männlich angehauchte Tragödien vorzuziehen, chorische bzw. chorisch-weibliche Passagen zu streichen und diese nur noch als Phantasma in verharmloster Form auftauchen zu lassen. Eine Aufteilung der Macht ist nicht vorgesehen. Elektra und Orest hätten nach dem vierhändig geschmiedeten Tod ihrer Mutter gemeinsam regieren können, das geschieht aber nicht. Elektra „vor dem Palast ist die Ausgestoßene, die ihren Anspruch vergibt, in den Palast zurückzukommen, seine Mitte einzunehmen“ (DFP/267), sie zieht sich in ihr Wüten zurück, verfällt dem Wahnsinn. Orest hingegen profitiert von der ganzen Situation. Zuerst kommt er seiner Schwester zu Hilfe, schiebt diese dann auf die Seite, sieht zu, wie sie einen Mann heiraten muss, den sie nicht selber ausgesucht hat, und, statt für den Matrizid bestraft zu werden, erhält er auch noch den Thron und zieht sich ohne großen Kummer aus der Patsche. „Der Untergang der Mutter wird zwar bedauert, aber als Voraussetzung für den Altar verlangt“ (DFP/266), bemerkt Schleef und scheint somit an das Konzept der Katastration der Mutter anzuknüpfen. Die Erkenntnis dieser Kastration und der darauffolgenden Entfernung vom Mütterlichen hatte Kristeva als Bedingung für die Entstehung einer symbolischen Ordnung und also der Sprache bzw. der männlichen Sprache238 geschildert. Vor einem solchen Ziel, wie der Aussicht auf die Machtübernahme, wird schonungslos gehandelt, zumindest tut das der Mann, der dann genauso schonungslos zusehen muss, dass ihm der eroberte
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Stand nicht weggenommen wird. Von jetzt an heißt es, alles Bedrohliche zu verstoßen. Und das bedeutet, wie nun mehrmals benannt, Chor und Frau, die Schleef als Kernpunkte der Tragödie an sich bezeichnet, vom Zentrum des Geschehens fernzuhalten. Somit wäre das Todesurteil der Tragödie gefallen. Schleef nimmt sich der gewagten Aufgabe an, durch die Wiedereinführung der zwei Elemente auf der Bühne diese Gattung nach der Antike neu zu denken. Mit der zugleich selbst gewollten und aufgezwungenen Ausstoßung findet also zwar die erste weibliche Individualisierung statt, doch dieser folgt eine Jahrtausende andauernde Entfernung von der Kernaktion der theatralischen Handlung. Angenommen, wie aus Schleefs Essay hervorgeht, dass Frau und Chor, auf Grund ihrer Funktion als verleugnete Gegenspieler des Protagonisten, für das selbe stehen239, wird auch klar, wie eine einzelne individualisierte Frau genau so bedrohlich wie im Chor wirkt und deshalb an den Rand des Geschehens gedrängt werden muss, am besten vollkommen zerstört. Schleef bringt auf den Punkt, wie von seiner Sicht aus diese Marginalisierung die ganze Geschichte des westlichen Theaters durchzogen habe, auf dem nur noch schwache bzw. nicht handlungsfähige Frauenfiguren zu sehen sind, obwohl es immer wieder Ausbruchsversuche aus dem vom männlichen Protagonisten errichteten Zwischenraum der Passivität bzw. des Nichtlebens gegeben hat. Die etablierte patriarchalische Gesellschaft, geführt von einem starken Selbsterhaltungstrieb, verbannt den bedrohlichen, weiblichen Gegenpart in diesen Zwischenraum, der als ein richtiges Reservat zu begreifen ist und reduziert ihn auf eine harmlose, maßgefertigte Vorstellung. Und wie Bovenschen in ihrer Analyse der Lulu-Figur bemerkt, ist „die Angst vor dem der Domestikation entgangenen Naturwesen ein altes Motiv“240. Cantarella erinnert, wie bereits Aristoteles in seiner Politik der Meinung war, dass die Frau am besten still sein soll, da sie über geringere Vernunft als der Mann verfügt und in ihrem konkupiszenten Gemüt bedrohlich wirkt und also streng kontrolliert werden muss241. Die Imago des Weiblichen, die hier nach den Bedürfnissen des dominierenden, männlichen Subjekts entsteht, zeigt, wie das Frau-Sein zu einem rein sozialen Konstrukt wird. Um es mit Simone de Beauvoir zu sagen, „man wird nicht als Frau geboren, sondern man wird es“ 242. Dem aus rein biologischer Sicht als Frau 243 bezeichneten Individuum werden bestimmte soziale Weiblichkeitsstandards244 aufgezwungen, die bald als „natürlich“ gelten. Diejenigen, die sich diesen den Standards, die das Frausein in seiner Essenz kennzeichnet, nicht angleichen, werden als unweiblich und unnatürlich betrachtet245. Deren Versuche, sich aus dem Reservat zu befreien, sich selbst zu bestimmen und ein eigenes Bild von Weiblichkeit auszudrücken, werden zurück-
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gedrängt bzw. mit der Selbstzerstörung bestraft. Und das nicht nur nach Schleefs Lektüre. Die Komplexität der weiblichen Stellung in der Gesellschaft hatte bereits Euripides’ Medea problematisiert. Diese spricht im Namen aller Frauen, wenn sie klagt, dass die Frau das unglücklichste Geschöpf unter allen mit Seele und Vernunft ausgestattetem Wesen sei dazu gezwungen, sich einem Ehemann zu unterwerfen und ein mit Unrecht für sicherer gehaltenes Leben im Haus zu verbringen246.
FRAUENBILDER IN DER GESCHICHTE DER DEUTSCHEN DRAMATIK: EIN RESERVAT DES WEIBLICHEN In Droge Faust Parsifal betrachtet Schleef, wie in der Geschichte der europäischen Dramenentwicklung sich ab Euripides die Ausstoßung von Chor und Frau immer mehr zuspitzte; was die Geschichte der deutschen Literatur angeht, hätte dieser Ausstoßungsprozess mit der deutschen Klassik den Höhepunkt erreicht. Nur bei Goethe erkennt er noch einige Überbleibsel dieser ursprünglichen Theaterelemente. Die Hexen der Walpurgisnacht und die Zigeunerinnen in Götz von Berlichingen seien zumindest in der Urfassung als Beispiele von überlebenden, weiblichen Chören zu verstehen, die wiederum in den späteren Fassungen stark reduziert wurden und eher als Reminiszenz einer verstorbenen Tradition zu deuten sind. Mit dem Zigeunerlied247, das in der ersten Fassung von den Zigeunerfrauen gesungen wird, skizziert Goethe einen wahrhaftigen, weiblichen Klagechor nach antikem Vorbild. Das Lied erzählt von einer heulenden Frauenansammlung, die sich rüttelnd und schüttelnd Kummer und Wut zum Ausdruck bringt und hierin den rasenden Weiberchören der Antike ähnelt. Indem Goethe das Lied von den für die Öffentlichkeit freigegebenen Fassungen komplett wegließ und die gesamte Zigeunerszene radikal kürzte, verlor diese eigentlich ihre Funktionalität für die Ökonomie der Handlung und wurde eher zum Selbstzweck. Abgesehen von diesen zwei schüchternen Erscheinungen hätten die deutschen Klassiker einen nach antikem Vorbild konzipierten weiblichen Chor sowie starke weibliche Protagonistinnen nicht mehr zugelassen248. Schleef untermalt die ironische Kehrseite dieser Stellungnahme, gerade in einer historischen Epoche, wo „Europa und Teile Asiens“ von Frauen regiert wurden: Als hätten sich die Klassiker an den politischen Zuständen rächen und durch ihre Werke darauf beharren wollen, dass „Frauen nicht in das Zentrum des Dramas gehören, abseits zu lokalisieren sind“ (DFP/9). Hinter dieser Ansicht versteckt sich das Bewusst-
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sein, dass die Anwesenheit der weiblichen Figur auf der Bühne dem männlichen Individualisierungsprozess sowie auch der Bildung eines Männerbundes gegensteuern würde. Den Platz, den die antiken Autoren der Frau noch einräumen, d.h. ihrer ausführlich dargestellten Besiegung, dieser Platz wird ihr von den deutschen Klassikern weitgehend verweigert. (DFP/9)
Wenn in der antiken Tragödie die Marginalisierung der Frau ausgestellt und thematisiert wurde, neigt die deutsche Klassik in Schleefs Deutung eher dazu, diesen Übergang wegzulassen. Hier erscheinen die Frauenfiguren nur noch am Rand der Handlung, sie sind bereits marginalisiert, es besteht keine Infragestellung der Rollenaufteilung, die weibliche Abwesenheit ist einfach selbstverständlich. Während sich die antike Bühne also noch als Raum für das In-Szene-setzen und das Ergründen der Genderkonflikte bietet, vermeidet das deutsche Theater der Klassik sorgfältig einen solchen Konflikt249 und konzentriert sich gänzlich auf die männlichen Errungenschaften. Da wo sich, laut Schleef, Männerbünde zusammenfinden und sich durch die gemeinsame Drogeneinnahme ein Zugehörigkeitsgefühl stärkt, das auf der Unterwerfung eines Opfers beruht, werden die Frauen erst recht verbannt, da sie diese Einnahme stören, die Einheit gefährden könnten. Der potenzielle Feind wird verharmlost und im Namen der männlichen Gemeinschaft geopfert. Im Sinne dieser strengen Anordnung der Geschlechter, wonach Chorbildung und Führungspositionen „Männersache“ (DFP/9) seien, erfolgt diese Verharmlosung der bedrohlichen Weiblichkeitsimago. Es wird auf das Bild einer unschuldigen, schwachen Frau zurückgegriffen, das „junge Mädchen“250 wird als die einzige von der Natur bestimmte Gestalt dargestellt. In seinem Brief an D’Alembert hinterfragt Rousseau mit einer rhetorischen Frage den Grund, weshalb die Natur den Frauen bestimmte Eigenschaften hätte erteilen sollen, wenn nicht, damit diese sich als selbstverständliche Beute der männlichen Eroberung hingeben. Nicht von ungefähr stehen also die Kennzeichen allgemein für Weiblichkeit wie stärkere Empfindsamkeit und verringerte körperliche Kraft251. Hier wird die gezielte Zähmungsaktion eindeutig, die im 18. Jahrhundert durchgeführt wurde, um jegliche Ansprüche einer weiblichen Selbstbehauptung zu entschärfen252. Das weibliche Element wird künstlich gestaltet, es soll in der Gesellschaft bloß einer Repräsentationsfunktion entsprechen und als Projektionsfläche für die Entfaltung der selben männlichen Identität dienen253. Die Erstellung eines solchen Reservats lindert vorbeugend die Gefahr etwaiger Gender-Troubles.
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In der Elektra von Strauß und bei Wagner scheint Schleef hoffnungsvoll eine erneute Besinnung auf den abgewürgten Geschlechterkampf zu erblicken. Obwohl keiner von den beiden weder eine Lösung noch Wiederbelebungsalternativen bietet, ist ihnen klar, wie Verdrängung von Chor und Frau sehr stark die „Vertreibung des tragischen Bewußtseins“ beeinflusst haben, da dieses „Domäne der Frau“ ist und ohne sie nicht weiterbesteht (DFP/9). Somit fügt Schleef ein zweites Element in seine Deutung des Konzepts von Tragödie ein: Neben dem unlösbaren Konflikt von Gemeinschaft und Individuum, würde das Tragische auf dem versuchten Individualisierungsprozess der Frau beruhen, der zwangsweise mit ihrer Opferung bestraft werden muss. Diese Erkenntnis lässt den bis dahin außer Acht gelassenen Kampf der Geschlechter in ihre Werke wieder hineinfließen, er wird wieder problematisiert, doch nicht überwunden. Die männliche Herrschaft kann nicht erlauben, von der weiblichen Gegenseite eingeholt zu werden, die Frau muss weiterhin geopfert werden. Und so bleibt die Situation unverändert. Laut Schleef bräuchte man nur einen Blick auf die Spielpläne der verschiedenen Theaterhäuser zu werfen und könne konstatieren, wie noch heute die Inszenierung von Frauengruppierungen gemieden wird. Als Beispiel bringt er nochmals die Orestie, deren erster Teil, Agamemnon, öfters neu aufgenommen wurde, während die anderen zwei Teile, Choephoren und Eumeniden, die bereits im Titel die chorisch-weibliche Komponente in sich tragen, eher gemieden werden, da sie den Regisseuren doch ein gewisses Unbehagen bereiten. An diesem Unbehagen, an dieser Unfähigkeit, mit chorischen Formationen klarzukommen besonders, wenn weiblicher Natur, würde auch der Grund für die starken Kritiken liegen, die Schleefs eigene Theaterarbeit erregte. Seine Chöre wurden verachtet und doch hätte keine der späteren Chorinszenierungen seinen Formenkanon ignorieren können. Schleef erkennt zwar allgemein ein erneutes Interesse für die Umsetzung von Chor-Figuren, doch erscheinen ihm alle Versuche gehemmt und daraufhin ausgerichtet, „die politische Kraft, die heute dem Chor innewohnt“ (DFP/11) nicht ausbrechen zu lassen, sondern diese weiterhin zu kaschieren. Die Furcht vor dem politischen Potenzial würde sich in Bezug auf einen Frauenchor exponentiell verschärfen, in einer Gesellschaft, die noch immer auf überwiegend männlichen bzw. auf männlich orientierten Gedankenkonstruktionen gründet und natürlich die Wahrnehmungsfähigkeit des Publikums beeinflusst. Trotz der palliativen Einführung von Frauenquoten sei diese Gesellschaft noch nicht bereit, sich mit einem ungezähmten, weiblichen Subjekt zu konfrontieren:
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Daß sich Frauenchöre nach meiner Inszenierung MÜTTER in der BRD nicht rehabilitierten, liegt nicht am Mangel an geeigneten Stücken, wie Theatermacher vorgeben, sondern daran, wie sich einer der Zuschauer ausdrückte, daß 53 schreiende Frauen für einen Mann unerträglich sind. (DFP/10)
Doch bevor Schleefs Arbeit mit Frauenchören näher in Betracht genommen wird, sei noch auf einige seiner Überlegungen bezüglich des Umgangs mit dem weiblichen Element in der Geschichte der deutschen Theatergeschichte hingewiesen. Beispiele eingesperrter Frauenfiguren Bereits im Vorwort zu Droge Faust Parsifal bietet Schleef einen Überblick der Umgangsweise mit Chor- und Weiblichkeitsfiguren in einigen der bedeutsamsten Dramen der deutschen Klassik bis hin zu den naturalistischen Stücken Hauptmanns. Ausgehend von der Grundidee, die Tragödie mit der Ausstoßung dieser fundierenden Elemente von den Bühnen Europas verschwunden sei, nennt er verschiedene Beispiele, die seine Theorie bekräftigen sollen. Seine Auswahl umfasst einige der Meilensteine der deutschen Theatergeschichte, mit einigen erstaunlichen Ausnahmen: Schleef lässt zum Beispiel Lessing komplett wegfallen und geht auch nicht auf Goethes Iphigenie ein, in der auch sehr deutlich auf den Antigonemythos hingedeutet wird254. Gemeinsamer Nenner der in Betracht gezogenen Stücke ist, dass die verschiedenen Autoren immer nur männliche Gruppierungen in den „zentralen Konflikt“ stellen und hiermit ihre Feigheit im Gegensatz zu den antiken Autoren preisgeben. Sogar dort, wo die Stücke einen Frauennamen im Titel beinhalten, handele es sich um den irreführenden Versuch, die stark verwurzelte Misogynie zu kaschieren. Irritierend ist, daß die Frau, im Zentrum stehend, für die Klassiker Wertminderung ist. Mit Goethe und Schiller steht fest, daß das chorische Element, das zwar nur noch in Resttrümmern erscheint, ausschlaggebend für die politische Deutung und Dimension der Vorgänge ist, dadurch unverzichtbar. Eine langanhaltende Rivalität zwischen männlichen und weiblichen Figuren ist festgeschrieben, die auch keine Geschlechtsumwandlung des chorischen Elements von männlich in weiblich heute positiv operiert. (DFP/15)
Auf den ersten Blick bleibt Schleefs Interpretation etwas rätselhaft, da er als Beispiel für die misslungene Wiedereinführung weiblicher Figuren auf dem Theater gerade verschiedene Stücke bringt, deren Protagonisten Frauen sind. Er be-
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schreibt z. B., wie Schillers gute Absichten, weibliche Protagonistinnen zu schaffen bzw. antike Chordynamiken wiederherzustellen, gescheitert seien, Die Braut von Messina brandmarkt Schleef als antiken „Aufguß, Gips statt Marmor“ (DFP/14f.). Schleef erkennt zwar die Bemühung, einige Titelrollen weiblichen Figuren zuteilen zu wollen, doch sieht er darin keine tatsächliche Befreiung, keine Gleichberechtigung für diese Frauen. Auch da, wo es ohne sie keine Handlung gäbe, bleiben es immer „negative“ Erscheinungen in dem Sinne, dass sie sich nie wirklich als starke selbstständige Gegenspieler für die männlichen Figuren etablieren. Entweder bieten sie sich als brave, naive unterwürfige Fräulein, eingesperrt im Kerker der ihnen aufgesetzten Weiblichkeitsstandards und bleiben also als Verliererinnen am Rand der Aktion; oder sie zeigen sich von einer aggressiven, oft sogar tierischen Seite, die beängstigend wirkt und wofür sie ausgestoßen werden müssen und somit, trotz ihres Emanzipationsanspruches, letztendlich auch verlieren. So wird vielleicht verständlicher, warum er selbst in Dramen wie Maria Stuart oder Die Jungfrau von Orleans keine erneute Aneignung einer zentralen Rolle sieht. Im ersten Fall redet Schleef von einem Drama, in dem sogar zwei Frauen auf einmal ihren Anspruch auf Macht und Herrschaft äußern, sich deswegen bekämpfen und schließlich beide zerstört werden. Die eine wird ermordet, die andere wird von allen Seiten verlassen. In dieser Interpretation scheint auch schon Schleefs Idee bezüglich der Gleichgültigkeit des Machthabers durch, wenn es um Macht geht. So, wie männliche Subjekte, die sich im Kampf um Führungspositionen gegenseitig vernichten, keine Gemeinschaft bilden, sondern dem gefälschten Ideal einer individuellen Herrschaft hinterherlaufen, genauso wäre es, wenn Frauen diesen Anspruch hätten. Dieses Thema wird tiefgründiger aufgegriffen im letzten Kapitel, wo auf Schleefs Hypothese einer utopischen, weiblich bestimmten Gesellschaft hingedeutet wird, die sich als nicht umsetzbar erweist. Im zweiten Fall bezeichnet er Jeanne d’Arc als eine „schon durch ihre Biographie“ ausgestoßene Figur, die wiederum sterben muss, weil keine „Neudefinition“ (DFP/14) erfolgt, die es erlauben würde, ihr ihre Verdienste zu Lebenszeiten anzuerkennen, statt sie gerade dafür opfern zu müssen. Ausgehend von den genannten Beispielen, geht Schleef auf die Suche nach literarischen Ansätzen, diese Marginalisierung aufzuheben und der Frau sowie dem Chor eine neue Beteiligungsmöglichkeit an dem szenischen Verfahren zu gestatten, damit sie sich wieder als positive, aktiv agierende Subjekte behaupten können. Hebbels Maria Magdalena gesteht er z. B. zwar zu, der Titelpartie tatsächlich eine zentrale Rolle erteilt zu haben, doch dafür das chorische Element
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gänzlich weggelassen zu haben. Auf diese Weise könne sich die antike Konstellation, deren „verratenes Bindeglied“ nach Schleef eben die Frau sei, nicht in ihrer vollständigen Kraft wiederherstellen, die im Zusammenprall mit der modernen, unterdrückenden männlichen Gesellschaft notwendig wäre. Deshalb sieht er erst in Hauptmanns Weber den wirksamsten Versuch einer solchen doppelten Neuzentrierung: Hiermit wäre es dem Autor nämlich gelungen, „ein Verhältnis von Mann und Frau zu definieren und es auch im chorischen Element wirken zu lassen“ (DFP/15). In diesem Stück meint Schleef eine Zusammenwirkung der Geschlechter zu entdecken: Mann und Frau sind auf eigene Art beide aktiv im Widerstand gegen den Potentaten. Besonders im zweiten Teil würde die Frauenfigur sich von der untertänigen Position lösen und die „noch zögernden Männer“ bis ins Innerste treffen, um sie somit erneut zum Handeln anzuspornen. Luise kann die Passivität ihres Ehemanns nicht mehr akzeptieren, der Anblick einer solch verweichlichten Männlichkeit macht sie rasend; sie brüllt ihren Mann an und entscheidet selber auf die Barrikaden zu gehen. Diese Rolleninversion, wofür Gottlieb von den Soldaten ausgelacht wird, erweckt in ihm einen bestimmten Stolz, der ihn dann doch zum Reagieren treibt255. Im Schrei dieser Frau, die sich nicht als bloße Zuschauerin zufrieden gibt, sondern tätige Hauptfigur sein will, hört Schleef eine potenziell universelle weibliche Stimme, die sich hier neu behauptet (DFP/388f.). Wenn er bestimmte Werke ins Spiel zieht, geht es Schleef also offensichtlich nicht darum, die Anzahl der weiblichen Charaktere in einem Theaterstück zu ergründen bzw. zu erhöhen; seine Frage dreht sich eher um die Funktion, die dieselben Charaktere ausüben. Natürlich tauchen in den deutschen Dramen auch Frauen auf; nur, um was für eine Art von Frau handelt es sich, welche Rolle wird ihr zugeschrieben, welchen Raum darf sie einnehmen, was für eine Konstruktion von Weiblichkeit wird geboten, darauf sucht Schleef Antworten. Trotz der vielen Frauennamen, die in den verschiedenen Stücken ausgesprochen werden, behauptet Schleef, dass es bereits ab Euripides keinen Platz mehr für die Frau im Zentrum der Szene gegeben hätte. Die einzige zugelassene weibliche Gestalt sei kein autonom agierendes Subjekt, sondern bloße Imago, die einer durch die männliche, symbolische Ordnung geprägten Funktion entspricht256, die nur eine negative Bedeutungskonstitution ermöglicht. In diesem Sinn erscheint das Weibliche als „Projektion des Mangels“257, als Schattenseite des Mannes, der sich über diese lückenhafte Präsenz hinweg in seiner Vormachtstellung bestätigt fühlt. Die patriarchalische Gesellschaft lässt also keinen Raum für eine selbstbestimmte Repräsentation des Weiblichen, welche immer nur als Kontrast zum Männlichen gedeutet wird, als das „andere Geschlecht“, um es mit Simone de Beauvoir zu sagen. Und damit dieses Andere nicht auffällig wird, keine Unruhe
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stiftet und „Das“ Geschlecht nicht gefährdet, wird es vorsichtshalber in ein Reservat eingesperrt, wo es sich nach gewissen Vorschriften frei bewegen darf. Dazu gehören als erstes Unschuld und Gehorsamkeit. Die für selbstständig angenommene Gegebenheit, wonach die Frau von Natur aus dem Mann unterlegen ist und von diesem befehligt werden muss, wurde bereits von Aristoteles verbreitet258. Doch nicht jedes Gemüt ist bereit, sich demütigen zu lassen, noch weniger sich von gesellschaftlich-geschlechtlich bestimmten Barrieren fesseln zu lassen. Einige revoltieren, versuchen zumindest, sich die aufgesetzte Haut vom Leib zu reißen, fühlen sich eingekerkert und streben nach der Möglichkeit, der eigenen Natur Ausdruck geben zu können. Solche Gemüter entwickeln eine gewisse Aggression, finden darin den Mut zum Aufschrei, sie geben sich mit einer halben Existenz nicht zufrieden und schufen Ausbruchspläne.
AUFSCHREI AUS DEM RESERVAT So wie er die wiederholten Absperrungen im Reservat wahrnimmt, schildert Schleef auch die wiederkehrenden Versuche, sich von der Vorstellung einer domestizierten Frau zu lösen, die Ketten zu zerreißen und einen Raum für sich zu erobern, wo man nicht Kehrseite des „einen“ Geschlechts ist, sondern sich mit diesem als eigenständige Identität konfrontieren kann. In diesen die Vorschriften brechenden Frauenfiguren erkennt Schleef oft Merkmale wieder, die sich an ein antikes Bild der Weiblichkeit anknüpfen. Diejenigen, denen es gelingt, aus dem Reservat auszubrechen, tragen eine gewisse Wut in sich, sie verfügen über eine außergewöhnlich sprachliche sowie körperliche Gewalt. Diese Frauen haben laut Schleef etwas tierisch primordiales, das ihnen dennoch auch nicht viel weiterhilft, denn als Rebellinnen müssen sie geopfert werden. Und gerade im Tod gewinnen sie wieder eine gewisse Legitimität: Der tote weibliche Körper ist ein „gesicherter Körper“ 259, im Sinne von verharmlost. Die lebende, sexualisierte Frau repräsentiert nämlich eine Bedrohung für die männliche Herrschaft, nur als Tote kann sie als „ästhetisch ansprechender Leichnam“ 260 in ihrer Schönheit wahrgenommen und als notwendiges Opfer gewürdigt werden. Sowie Bronfen es ausführlich schildert, ist das Sterben der Frau, Mittel für die vollständige Realisierung des Mannes, sei es im Theater oder in der Lyrik. Die weibliche Leiche wird idealisiert und fungiert als Inspiration für das männliche Werk. Das Weibliche wird somit als eine reine Konstruktion, entkörpert und entschärft je nach den Bedürfnissen des nach Selbsterhaltung strebenden ersten Sexes.
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Dieser scheint in Schleefs Interpretation genau der Grund für die scheiternden Ausbruchsversuche aus dem Reservat in der Geschichte der Dramatik zu sein. In der altgriechischen Literatur lassen sich mehrere Beispiele revoltierender Frauen finden. Man denke allein an Medea und Lysistrata, Antigone oder Alcesti, die auf verschiedene Art eingreifen, um sich selbst und das eigene Geschlecht zu behaupten. Ob Schleef mit all diesen Beispielen vertraut war und aus bestimmten Gründen nur diejenigen zitiert, die ihm für die eigene Theaterpraxis funktioneller erscheinen, oder tatsächlich nur diejenigen Figuren besser kannte, mit denen er sich dramaturgisch auseinandergesetzt hatte, geht aus Droge Faust Parsifal nicht hervor, da er auf das Schicksal der eben erwähnten Frauenfiguren dort nicht eingeht. Ein Werk, auf das Schleef mehrmals hindeutet ist Euripides Die bittflehenden Mütter, wo man auf eine Ehefrau stößt, die der patriarchalischen Ordnung entgegentritt. Euadne bricht aus dem Reservat aus, sie unterstellt sich nicht mehr den ihr als Frau aufgesetzten Verpflichtungen. Statt sich der für sie vorgesehenen Rolle der „Wärterin und Pflegerin des zukünftigen Helden, ihres Sohnes, der seinen Vater rächen wird“, anzupassen, begeht sie Selbstmord „vor den Augen ihrer Familie, um ihrem Mann in den Tod zu folgen“ (DFP/276). Ihr ist bewusst, welchen Preis sie für ihr Aufschreien zahlen muss, für den Anspruch auf Individualisierung, für das Bedürfnis, ihren eigenen Gefühlen zu folgen. Um sich als liebende, für sich selbst bestimmende Frau durchsetzen zu können, muss sie sterben. Und dasselbe Schicksal hätte laut Schleef jede Frau getroffen, die von der Antike bis heute versucht hat, ihre Stimme zu erheben und sich von einer vorbestimmten Rolle zu befreien. Denn ein mit Erfolg ausgehender Ausbruch aus dem Reservat ist nicht möglich, die einzige Wahl ist zwischen Resignation oder Selbstzerstörung: Trotz politischer Quotenregelung ist die Figur, die die Drecksarbeit heute auf der Bühne macht, weiblich. Daran wird sich nichts ändern. Seit Elektra, Kundry, Luise Hilse der Kommissarin, der Umsiedlerin ist klar, daß ihre Drecksarbeit ausschließlich der Erhaltung männlicher Macht dient, daß sie nur Transportarbeiter sind, Bahnarbeiter, die mit schwankender Lampe die Waggons kontrollieren. So erblickt Anna Karenina den Tod. Die hochaufgeputzte Frau begegnet einem Mann, einem unbekannten Proleten, einem Rangierarbeiter, dessen Anblick sich stigmatisierend in ihr Inneres frißt, ihr bis zuletzt bewusst ist. Ihm bringt sie sich als Opfer dar. Tolstoi schickt sie auf die Schiene. (DFP/10)
So schildert er also die von Kultur, Literatur- und Theatergeschichte geprägte Kategorie von Weiblichkeit, welcher zwei besondere Attribute zugeschrieben
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werden: Unterwürfigkeit oder sicherer Tod. Die Frau kann sich erniedrigen und die Drecksarbeit leisten, womit sie die herrschende, männliche Macht nicht gefährden kann, also harmlos und hörig bleibt, oder sie meutert und akzeptiert bewusst, geopfert zu werden, bzw. liefert sich der Selbstopferung aus. In diesem Sinne scheinen Schleefs Beobachtungen bestimmten Ansätzen des feministischen Denkens nahe zu kommen. Besonders aus Kristevas Reflexionen geht die Gleichung hervor, die die Kategorie „Frau“ als diejenige darstellt, die nicht existiert, da das Weibliche sich nur als das zeigt, was von der patriarchalischen, symbolischen Ordnung marginalisiert wird 261. Und genau als Marginalisierte bzw. als Ausgestoßene, deutet Einar Schleef die Figur der Frau, wenn er den Umgang mit Weiblichkeit und Chor im klassischen Theater theoretisiert. Trotz der von ihm herausgehobenen Spuren weiblicher Ansprüche auf Mitsprache- und Beteiligungsrecht, klagt er also über die bisherige Unwirksamkeit dieser Versuche. Selbst in den Stücken, wo „das Verleugnete sich erneut zeigt“262, empfindet er dieses Wiederauftreten als unvollkommen. Die weiblichen Protagonistinnen des bürgerlichen Trauerspieles agieren innerhalb des Reservats, ohne richtige Konfrontation bzw. Interaktion mit dem anderen, dominierenden Subjekt, noch mit der Gemeinschaft. Sogar dort, wo er die Bemühung erkennt, die Rückkehr der Frau in den zentralen Konflikt zu erzielen, erklärt er alle Versuche für gescheitert. Neben Selbstnegation und Suizid, sieht er keinen Raum für einen eventuellen dritten Weg, der eine positive gleichberechtigte Existenzmöglichkeit der Frau eröffnen könnte. Er beobachtet nur, wie sich immer wieder diejenige Konstellation herausstellt, in der die ausgestoßene Elektra vor dem Palast steht, schreit und letztendlich an ihrem eigenen Geschrei zerbricht. Genauso wie zwei Figuren, die in Schleefs Deutung für die wesentlichsten Beispiele eines Ausbruchs aus dem Reservat der Weiblichkeit in der deutschen literarischen Tradition stehen: Goethes Gretchen und Wagners Kundry. Grete und Kundry In Droge Faust Parsifal schlägt Schleef eine Brücke zwischen diesen zwei Frauen, lässt sie beinahe als Wahlschwestern erscheinen. Dass Wagner sich in mehreren Aspekten durch Goethe inspiriert wurde, ist für ihn eindeutig. So wie Margarethe im Kerker eingesperrt ist und Abscheu für Faust und Mephisto empfindet, steckt Kundry im metaphorischen Gefängnis des auf ihr liegenden Fluches fest und graut sich vor Klingsor. Beide fühlen sich von Männern angegriffen und wehren sich resolut, sodass ein doppelter Triangel, Frau gegen Männer (DFP/149) entsteht. Wenn Schleef behauptet, man würde in Kundry die Stimme einer veränderten Margarethe erkennen, bezieht er sich dennoch auf Urfaust.
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Hier tritt Grete noch in ihrer vollen Pracht auf, während sie dann in Faust I ihrer Sprengkraft beraubt wird und als neutralisierte, verniedlichte 263 „Erinnerung“ der aggressionsgeladenen Ur-Grete erscheint. Ihr ähnelt die tierische Kundry, und beide Frauen ähneln nicht nur einander, sondern scheinen, laut Schleef, eine viel ältere Tradition weiterzuführen, die Hinterlassenschaft eines Verhaltensmusters in sich zu bergen und dieses erneut auszuüben. Noch in Margarethe wühlt Elektra, noch in dem deutschen Biedermädchen, das seine Mordpläne geradewegs, zielstrebig und erfolgreich verfolgt, sodaß eine zu interpretierende ‚Reue‘ erst aufkommt, als sie aus dem Todesbereich herausgerissen wird, zurück ins Leben, das sie aufgegeben hat, auch darin mit Elektra einig. Margarethe hat sich emanzipiert, hat gemordet, hat das nicht dem Mann überlassen, sondern hat von seiner Kenntnis profitiert, konnte sich auch ohne ihn behelfen. (DFP/267)
Die sich individualisieren wollende Elektra lebt also in Grete und Kundry wieder auf, und diese wagen sogar einen Schritt weiter. Hatte sich Elektra für die Mordaktion ihrem Bruder Orest anvertraut, lehnen Grete und Kundry jegliche Hilfe ab, sie benötigen den männlichen Eingriff nicht und nehmen die Verantwortung für ihre Taten auf sich. Grete ist im Töten skrupelloser als Faust und landet dafür im Kerker. Das Zauberweib Kundry nimmt für ihr rücksichtloses Benehmen die Last einer ewig andauernden Verdammnis auf sich, erträgt sie dennoch, ohne um Begnadigung zu flehen und traut sich sogar in der Begegnung mit Klingsor, einmal grell, einmal ekstatisch hoch aufzulachen. Als Selbsthandelnde ähneln sie Elektras Mutter noch mehr als Elektra selbst. Klytaimnestra hatte sich auch nicht zurückgehalten, zwar hatte sie ihren Liebhaber als Komplizen, doch delegierte sie die Mordtat nicht vollkommen. Und sie rechtfertigt ihre Tat ohne Bedauern. Ihr ist bewusst, dass die Gesellschaft unterschiedliche Maßstäbe für Frau und Mann anwendet; ein Mann darf meistens morden, wen er glaubt, ermorden zu müssen, ohne deshalb von der Stadt kritisiert zu werden, eine Frau sollte sich ihrem Ehemann immer unterwerfen, egal welche Abscheulichkeiten er begangen hat. Aber sie beugt sich nicht. Klytaimnestra will Gerechtigkeit durchsetzen und tötet selbst. Genauso wie ihre Nachfolgerinnen hat sie die Fesseln des Weiblichkeitsgebots zerrissen, wonach sie nur als unschuldige, hilflose Geschöpfe dem allgemein verbreiteten Ideal von Frau entsprechen könnten. In dem Moment, wo sie sich für die Aktion entscheiden, lassen sie Bescheidenheit und Reize264 fallen, zeigen sich von einer neuen, skrupelloseren Seite und stellen sich der notwendigen Opferung aus. Schleef schildert, wie das hemmungslose, zur Gewalt bereite
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Element in einer Frau, bereits in der Antike als tierische Eigenschaft definiert und für gefürchtete Frauentypen verwendet wird: Der Begriff von Tier inkludiert auch „Furie, Hexe, Kannibalin“ (DFP/156). Diesen Aspekt mit den Charakterzügen des Engels des Herdes zu vereinbaren, ist undenkbar. Das „Weib“ hat lieb und unkompliziert zu sein; wenn es aufmüpfig wird, bedeutet es, dass die tierische Komponente überwiegt und die männliche Position dadurch gefährdet ist. Immer wenn eine weibliche Figur gegen die etablierte Imago der Frau verstößt, hört Schleef darin die „Drohgebärde eines Frauenbildes, das von der Antike her aufschreit“ (DFP/156). Er ist also davon überzeugt, dass es eine Zeit frei von Genderkategorisierungen gegeben haben muss. Eine Epoche, in der menschliche Attribute eher fluid, flexibel, vielleicht sogar entsexualisiert waren, wo kein Verhalten als strikt weiblich oder männlich festgelegt wurde. Eine Zeit, in der sich der Mann noch auf einer horizontalen Ebene mit dem anderen Geschlecht zu positionieren wusste, ohne dieses in ein Reservat zu verbannen, wo es, seines vollständigen Ausdruckspotentials mutiliert, verweilte und sich als solches in die kollektive Vorstellung einprägte. Und gerade im Rückblick auf diese unbestimmte antike Zeit hätte Wagner laut Schleef gearbeitet: Wagners PARSIFAL knüpft an die antiken Autoren an, versucht, ihre Konstellationen und Fragestellungen neu zu beleben. Es gelingt ihm, in der Kundry-Figur das gesamte thematische Material zu bündeln. Kundry wird so zu einer der monumentalen Figuren-Findungen der dramatischen Literatur, zu einer Figur, die die Bühne betritt und den Tod sucht. Am Ende auch als Gnade erhält, womit die männliche Gruppierung, die Gralsarmee und ihr Führer, unter erneuter Kraftzufuhr ihren Herrschaftsanspruch beleben. In Kundry kämpfen der antike Ansatz und der christliche, die, einander feind, die Kundry-Figur vom Ansatz her sprengen, die sich notgedrungen in 2 konträren Figuren formulieren. (DFP/16)
Bei Wagner entdeckt Schleef die Bemühung, die weibliche Figur wieder „ins Zentrum der Handlung zu stoßen“ (DFP/153), wofür er auf äußerst körperliche, schmerzvolle Bilder zurückgreift. Kundrys Empfindungen und Reaktionen sind immer extrem, sie ist unzähmbar. In ihrer überladenen Körperlichkeit, in ihrem wiederholten Klagegeheul, kommt sie einer Naturkraft nahe und stimmt mit einem ursprünglichen Begriff von Frau überein, um es mit de Beauvoir zu sagen „die Erde ist Frau, und der Frau wohnen die gleichen dunklen Mächte inne wie der Erde“265. Doch dieses atavistische Auftreten von Weiblichkeit darf sich nicht erneut durchsetzen, im Bühnenraum wird die weibliche Autonomie „als Erinnerung aufgerufen“ und gleich wieder abgewürgt.
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Diese weiblichen Passionen sind identisch mit den antiken Vorbildern, in denen die Frau meistens für das Untergegangene steht, das beschworen, bewahrt, verteidigt werden muß, aber unwiederbringlich verloren ist. Selbst wenn der antike Frauenchor noch im Triumphgeschrei ausbricht, definiert er den Bruch der Welle, nicht ihren Aufschwung. (DFP/158)
Trotz der wiederholten Versuche gelingt es also auch Kundry nicht, das Zentrum einzunehmen; wie jeder Ausbruchsversuch endet auch ihrer mit dem Tod. Die Bühne, auf der sie sich behaupten will, wird zu ihrem Opfertisch; denn „in einer Zeit, die männlichen Triumph feiert“, wird weiblichen Figuren kein Freiraum mehr genehmigt. „Kundrys Geschrei füllt die Prachtstraßen Europas“ (DFP/155) und sie wird zum Sinnbild des zum Scheitern verurteilten weiblichen Versuches, außerhalb des Reservats eine Legitimierung zu finden, einen Selbstverwirklichungsraum, aus dem die herrschenden Kraftverhältnisse umgewälzt werden können. Schleef unterstreicht, wie die weiblichen Figuren in Wagners Musiktheater, so gutgesinnt er sich auch ihrer Gestaltung widmet, zwar auf der Bühne präsent sind, doch nur, um dort exekutiert zu werden. Und nicht, weil sie als unbedeutend geschätzt werden, ganz im Gegenteil. Sie werden gefürchtet. Parsifal weiß, dass „nach der Vereinigung mit einer Frau der Mann nicht mehr Mann ist, sondern ein ihr untergeordnetes Wesen“ (DFP/ 207). Und wie jedem Helden und jedem Männerbund ist ihm bewusst, dass er seine Freiheit nur bewahren kann, wenn er die Frau verlässt, zurückdrängt, opfert. Die Exekution der Frau ist eine Erlösung für die Männergemeinschaft, die sich dadurch wieder sicherer fühlt, sei es die Gemeinschaft der Gralsritter, die von Faust und seinem Alter Ego Mephisto, die der neureichen, schlesischen Bauern oder die einer modernen männlich gesteuerten Gesellschaft, wo man sich erhofft, durch die Einführung vorgeschobener Frauenquoten härtere Gleichberechtigungsansprüche verstummen zu lassen, so die Polemik Schleefs. Über Kundrys Leiche und die aller Frauen, die sie verkörpert, etablieren sich kulturelle Normen, sei es, weil der Tod eines tugendhaften Mädchens gesellschaftliche Kritik antreibt, sei es, weil die Opferung einer bedrohlichen Frau diejenige Ordnung wiederherstellt, die durch ihre Existenz durcheinander gebracht wurde 266. Gerade von der Beobachtung solcher eingebürgerten Normen, aus denen eine dichotomische Entfaltungsmöglichkeit von Weiblichkeitskonstruktionen hervorgeht, die in beide Richtungen keine Aussicht auf Selbstverwirklichung zulässt, nährt sich Schleefs Bedarf, einen dritten Weg zu formulieren. Er strebt keine im Reservat eingeschlossene, verbürgerlichte Frau an, noch eine Märtyrerin. Was er sich erhofft, ist ein emanzipiertes, weibliches Subjekt, das als Mit- statt als Gegenspielerin wahrgenommen werden kann und auch im Äußern von bis dahin als
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männlich konnotierten Eigenschaften am Leben bleiben darf. In den folgenden Abschnitten soll in Hinsicht auf Schleefs Umgang mit den weiblichen Protagonisten seiner Inszenierungen gezeigt werden, wie er mit dieser erneuten Selbstbestimmung seitens der Frauenfiguren umgeht, ohne deshalb auf die „Seite der Frau“ überlaufen zu wollen. Genauso wie im Fall der Wiederaufnahme des Chorelementes soll sein Ansatz nicht mit einer Rettungsaktion verwechselt werden: Schleef geht es nicht darum, die in Szene gesetzten Frauen zu stärken, sondern das von Gesellschaft und Theaterinstitutionen Verdrängte erneut zu thematisieren. Über jede Theoretisierung hinweg, eignet sich das Medium Theater als die wirksamste Fläche, um eine solch erforderliche Wiedereinführung zu verwirklichen. Wie Schleef diesem Ziel nachgeht soll in den nächsten Absätzen erläutert werden.
WEIBLICHKEITSKONSTRUKTIONEN UND GENDERPERFORMANCE BEI SCHLEEF Ausgehend von der eben geschilderten Absicht eines dritten Weges, fällt es leicht, auf eine Verbundenheit zwischen Schleefs Vorstellungen von Gesellschaft und Theater und einer gewissen Richtung der feministischen Bewegung hinzuweisen. Unter den großen Themen, die von der Frauenbewegung besonders in den ’70er Jahren diskutiert wurden, figuriert die Definition neuer, von den patriarchalisch festlegten Vorschriften befreiten, weiblicher Eigenschaften sowie die Entwicklung einer anderen dem Phallogozentrischen entgegengesetzten Sprache267, wodurch sich eine eigenständige Ausdrucksform des weiblichen Daseins etablieren sollte. Und einen ähnlichen Umsturz plante Schleef auf seine Art, indem er den vorgeschriebenen Theaternormen eine ganz eigene Sprache entgegensetzte. Diese ist gekennzeichnet u. a. durch den außergewöhnlichen Umgang mit dem Text, der durch einen minuziös durchdachten Rhythmus skandiert, wenn nicht sogar seziert wurde, durch die extreme Körperlichkeit, die die Darsteller zu physisch anstrengenden, bis zur Erschöpfung wiederholten Bewegungen auffordert, und durch eine besondere Umwertung der Geschlechterrollen. Er bietet eine neue Lesart der bislang akzeptierten Funktionen, indem er dem weiblichen Element besondere Aufmerksamkeit widmet, dieses kräftig wieder hervorruft und die traditionellen gendergebundenen Merkmale umwälzt. Wenn das Schöpfen einer neuen weiblich gekennzeichneten Sprache das Risiko in sich birgt, in ein binäres System (Mann/Frau, männlich/weiblich, positiv/negativ) zurückzufallen268, und somit das Weibliche in der Gegenüberstellung wieder als Negativität,
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Mangel, Irrationalität, Chaos, Dunkelheit also ein „Nicht-Sein“ erscheinen lässt269, versucht Schleef diese Gefahr zu meiden. Und zwar, indem er die vom Text vorgesehene Aufteilung in männliche, weibliche, einzelne oder kollektive Charaktere durcheinanderbringt, sie umkehrt, sie übereinanderlegt, sie vereint bzw. zersplittert. Wenn Frauenfiguren plötzlich von Männern dargestellt werden, bzw. männliche Figuren mit Tüllkleid auftreten oder einzelne Protagonisten von einem Chor verkörpert werden, scheint jede Regel aufgegeben worden zu sein, fällt es schwer, weiterhin zwischen männlich und weiblich zu unterscheiden oder die verschiedenen Subjekte einer bestimmten Position zuzuordnen. Durch diese Inversion bzw. Vermischung von Rollenschemen und Funktionen wird Binarität beseitigt und eher eine Art von Ausgleich erzeugt. In diesem Sinne kann also in Bezug auf Schleefs Theaterpraxis auf den Begriff von Genderperformance hingewiesen werden, wonach „Weiblichkeit und Männlichkeit einen Inszenierungs- und Aufführungscharakter besitzen“270 und somit keine biologisch bedingten Kategorien, sondern kulturelle Konstrukte von stilisierten, körperlichen Akten, welche in der Wiederholung die Illusion eines stark sexualisierten Selbst darbieten271. Wenn Geschlecht ein performativer Akt ist, wie Judith Butler es darlegt, werden Weiblichkeit und Männlichkeit zu wandelbaren Konzepten, die sich „durch Bewegungs- und Verhaltensweisen, Sprechmodi, Gesten, Blicke, Kleidungsstile“272 ergeben. Daran scheint Schleef anzuknüpfen, wenn er mit dem Geschlecht der Darsteller auf der Bühne jongliert und sich der Voraussetzung anschließt, jegliche Behauptung einer vorher bestehenden Geschlechtsidentität sei bloß „regulative Fiktion“273. Was wiederum zu einer provokativen Ergänzung von de Beauvoirs Aussage animiert: „Man ist nicht als Frau oder Mann geboren, sondern man wird es“. Nach Butler sind also Geschlecht, Gender und Heterosexualität als historische allgemein akzeptierte und im Laufe der Zeit als natürlich verdinglichte Produkte zu verstehen, die umgewälzt bzw. neu gedeutet werden könnten, da es sich um keine realen der Natur innewohnenden Gestalten handelt, sondern diese bloß aufgezwungenen Kategorien, die also genau gesehen, gar nicht existieren. Indem sie behauptet, Geschlecht könne nicht als eine das innere Selbst ausdrückende bzw. kaschierende „Rolle“ verstanden werden, da es sich um einen künstlich gestalteten Akt handelt, welcher wiederum eine soziale Fiktion der eigenen Innerlichkeit konstruiert, scheint sie auch eine effektive gesellschaftlich durchgeführte Rollentrennung bzw. Unebenheit zu leugnen 274. Ohne Rollen kann es auch keine Rollentrennung geben.
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Das scheint auch Schleef bewusst zu sein, und er nutzt diese Erkenntnis als Anregung, um durch seine theaterpraktische Arbeit über die Jahrtausende andauernde Spannung zwischen Geschlechtern hinwegzukommen – zumindest versuchsweise. Deshalb spielt er mit konventionellen genderspezifischen Eigenschaften und nimmt sich dabei deren Neusemantisierung vor. Es kommt dennoch zu keiner harmonisierenden Versöhnung der Geschlechter, sondern es wird hervorgehoben, wie gewisse Eigenschaften dieselbe negative Auswirkung haben, egal ob Frau oder Mann zugeteilt. Handlungsmodi, Verhalten, Gestik, Redeweisen und all die Eigenschaften, die traditionell als für das eine oder das andere Geschlecht kennzeichnend gehalten wurden, erweisen sich bei Schleef als entsexualisiert, universell. Indem er wieder mal Antike und deutsche Literaturgeschichte in den Fokus stellt, zeigt er, wie Frauengruppen auf die Mordlust der männlichen Protagonisten reagieren, im Falle des folgenden Zitates bezieht er sich auf Eteokles und Klingsor, und selbst eine gewaltige Aggression entwickeln bzw. die bereits innewohnende äußern. Diese Todesbereitschaft oder Todesbesessenheit riechen die Frauen. Wie ein Gift, dem sie zu entkommen suchen, sie kriechen übereinander hinweg, in jede Ecke, rennen gegen die Wände, halb irrsinnig, halb schon überrollt, obwohl die Tore halten, obwohl der Feind nur droht, ist die innere Vernichtung fortgeschritten. Der Haß, der sich jetzt über Eteokles, den Mann entlädt, die Grausamkeit der Frauen erzwingen die Polarität, die Geschlechter sind Feinde. (DFP/279)
Genauso wie deren Feinde sind Frauen keine friedfertigen Gemüter, können, wenn es darauf ankommt, ebenso grausam handeln. In diesem Sinne kann, wenn die Geschlechter gleich sind, auch nach Schleefs Deutung behauptet werden, dass keines der beiden wirklich existiert.
BEISPIELE WEIBLICHER FIGUREN IN DER SCHLEEFSCHEN BÜHNENPRAXIS Ausgehend von den theoretischen Überlegungen, die Schleef in Droge Faust Parsifal mit retrospektivem Blick auf die eigene Theaterarbeit formuliert, wird nun auf einige Inszenierungen ausführlicher eingegangen. Es sollen somit einige Charakterzüge seiner Theaterpraxis erläutert werden, in Bezug auf den Umgang mit dem Element der Weiblichkeit. Unabhängig davon, ob ihm tatsächlich eine Revolution der weiblichen Figur, bzw. deren Revindikation eines Bühnenraums auf dem Theater gelungen sei, ist unübersehbar, wie zentral dieser Anspruch für
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sein künstlerisches Schaffen gewesen ist. Die Fragen um das Thema der Weiblichkeit und deren Darstellung, um die Rolle der Frau in der Gesellschaft und deren Verhältnis zum männlichen Subjekt, waren für Schleefs Arbeit immer maßgeblich. Man denke schon allein an den Roman Gertrud275, wohl sein erfolgreichstes Werk, wie sich aus den vorwiegend positiven Kritiken herauslesen lässt276, dem er mehrere Jahre seines schöpferischen Lebens widmete und im Gegenteil zu seiner Theaterarbeit seitens der Kritik fast einheitlich gepriesen wurde und ihm 1986 sogar den Kritikerpreis für Literatur des Verbandes deutscher Kritiker galt. Hier rekonstruiert er durch die Aneinanderreihung hochdetaillierter Erinnerungen und Anekdoten aus der eigenen Kindheit sowie aus dem Schriftverkehr mit der Mutter die Existenz dieser Frau in ihren verschiedenen Phasen. Der Roman, für den Schleef auf Tagebücher und Briefwechsel zurückgreift, ist also entschieden autobiographisch und dennoch musterhaft. Schleef schreibt nicht nur von seiner Mutter, sondern von einer ganzen Generation von Müttern und Ehefrauen, vielleicht sogar von einem allgemeingültigen Modell von Frau. Gertrud wird zu einer exemplarischen Figur, von der Schleef glaubt, sie Frauen verschiedener Epochen und Herkunft aufsetzen zu können. Angefangen mit dem Zeitalter der griechischen Tragödie, wo Marginalisierung und Herabwürdigung der Frau die ansteigende Entfaltung begannen, steht dem weiblichen Subjekt, trotz politscher Kämpfe und Frauenbewegung, bis heute bloß eine Randposition zu. Gertrud ist eine unglaublich starke und selbstständige Frau, die sich zu Kriegszeiten und dann später im angespannten, politischen Klima der DDR um alles alleine kümmert. Sie zieht die Kinder groß, pflegt den Ehemann, erledigt die Hausarbeit, zeigt sich solidarisch mit allen hilfsbedürftigen Familien im Dorf, ist sich für nichts zu gut und nimmt klaglos jede Drecksarbeit auf sich: Scheuern bis Blut. Mein Kopf vom Hämmern geschlagen, taub, fühle nichts mehr. Beleidigt jeder Gedanke, verkriechen, Hände frieren, regnet seit Tagen. Heize. Die Stube nicht warm. Wund vom vielen Schrubben. Rot der Ziegel im Kellergang. Auf Knien gehutscht, bis es leuchtet. Kein Unterschied Blut und Ziegel. (GE/45)
Ohne die kleinste Spur von Pathos, noch einen psychologisierenden Ansatz, lässt Schleef diese Frau in ihrem Dialekt erzählen: Direkt, geradeaus, filterlos. Gertrud ist harsch, physisch und psychisch stark belastbar und verfügt über ein erstaunliches Ausdauervermögen, sie lässt kaum Spuren von Lieblichkeit hervorkommen. Ihre Härte ist die aller DDR-Frauen, die zuerst vom Krieg und dann von den schweren Lebenszuständen zwangsweise abhärten mussten und sich
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durch ein spezielles Licht in den Augen erkennen lassen, das Schleef als „Durchhalteblick“ bezeichnet, wie bereits erwähnt wurde. Schon als junges Mädchen stand sie um 6 Uhr auf, arbeitete für wenig Geld als Schneiderin und nutzte die Freizeit, um im Sportverein profimäßig zu trainieren. Das Laufen wurde zu ihrer Leidenschaft der sie bis zu ihrem 40. Lebensjahr nachging und dafür mehrere Siege sammelte. Dazwischen die Hochzeit, die Schwangerschaften und der Umzug in das Haus, in dem Einar Schleef aufwuchs. Im neuen Haus fingen die ersten ehelichen Streitigkeiten an: 1949 zogen wir in unser neues Haus. Das Trümmergrundstück. Preise, Urkunden, Kränze, Hölz mitgeschleppt. Der Krieg war zu Ende. Meiner fing an. Nie aufgehört. Willy tobte, zerriß mein Zeug, hörst du, ich sage die Wahrheit, genügend Vorrat, ging trotzdem aus. Nichts mehr hinzugekommen. Kein Brauner Deutscher Adler, kein Braunes Eichenlaub. Ich hatte eine Familie. Trude ins Startloch Nähmaschine. (GE/97)
Doch gerade in den Auseinandersetzungen würde sich laut Gertrud das Zusammenhalten einer Familie erweisen und, obwohl, wie sie selber zugibt, viel hinter sich hat, hält sie durch, macht aus ihrer Situation kein Melodrama, bleibt kalt und konsequent. Wenn das unsanfte und sogar jähzornige Gemüt gegen die konventionellen Weiblichkeitsstandards stößt, erweist Gertrud sich aus tiefster Seele als Frau, als fürsorgliche, mütterliche Gestalt, die, wenn es darauf ankommt, ihrem autoritären Ehemann treu bleibt und ihn bis zum Ende pflegt. Sie nutzt seine Schwäche nicht aus, um sich an den erlittenen Erniedrigungen zu rächen, sondern beweist handelnd, dass Macht auch achtungsvoll ausgeübt werden kann. Gertrud gibt sich der Trübsal nicht hin, obwohl ihr der Verlust einen authentischen Schmerz bereitet, den sie nie überwinden wird: Ich habe ihn keine Stunde allein gelassen. Ich habe hier geschlafen. Ich muß das noch wegräumen. Es ging ihm besser. Viel besser. Konnte ja schon wieder aufstehen. Der Doktor hat sich so gefreut, das wird schon wieder Frau, nur nicht die Geduld verlieren. Ich habe keine Nacht geschlafen. Wenn er wach war, habe ich gerufen: Willy, Willy. Dann hat er immer gesagt: Ja Trude. Oder ich habe ihn atmen gehört. Gegen 10 nochmal und um1, da war alles in Ordnung. Ich sollte nicht wieder aufstehen. Und da bin ich eingeschlafen und um 3 war er tot. Und da wollte ich ihn richtig hinlegen, ich konnte ihn einfach nicht mehr anfassen. (GE/38)
Neben den familiären Angelegenheiten, scheinen durch die belanglosen Alltagsepisoden auch die politisch-historischen Ereignisse hindurch, sodass man eine neue, weiblich orientierte Perspektive auf einige Jahrzehnte der deutschen Ge-
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schichte gewinnt, die die Reiteration der geschlechtlich bedingten Ungleichheiten ans Licht bringt. Ausgehend von der Lebenserfahrung einer Frau, wird die gesellschaftliche Lage einer Generation von Frauen dargestellt, die an der Seite ihrer Männer kämpfen und an dessen Stelle wichtige Entscheidungen treffen und trotzdem im Schatten bleiben, wie z. B. im bereits erwähnten Fall der Verhaftungen am 17. Juni, als Gertrud und verschiedene Bekannte resolut beschlossen die Männer zu verstecken und sich als nicht anerkannte Schützerinnen der Familieneinheit erwiesen. In Gertrud zeigt sich die Ausgrenzung der Frau als Wiederholung eines immer gleichbleibenden, gesellschaftlichen Musters. Auf der theaterpraktischen Ebene kennzeichnet Schleef dieses Muster durch einige Elemente, die Teil seines Kanons werden und diese Wiederholung in Szene setzten. Gelbe Gummihandschuhe, Arbeitsstiefel, Schürze, Metalleimer und Wischlappen gehören also zu den Requisiten, durch die Schleef dem Bild der unterdrückten Frau eine Form gibt. Indem diese Objekte provokativ auf der Bühne wiederholt auftauchen, werden sie zu standardisierten Utensilien, die zur genderspezifischen Definition von Frau beitragen. Schleefs ästhetischer Kanon charakterisiert sich durch leere Räume, minimale Ausstattung, sehr schlichte Geometrien und gedämpfte Farben, überwiegend nur schwarzweiß. Einen großen Wert legt er auf die Kostüme, die er als archetypisch konzipiert, die also nicht auf eine bestimmte Figur zugeschnitten werden, sondern sich eher für eine ganze Typologie von Charakteren eignen sollen (DFP/471). Auf diese Art kann immer wieder auf den Fundus zurückgegriffen werden, Schleef zitiert sich durch „Querverweise“ sozusagen selbst und lässt eine Kontinuität zwischen den verschiedenen Inszenierungen entstehen. Seine Grundkostüme sind, wie der Rest der Ausstattung, also sehr simpel, zum größten Teil einfarbig und anonym. Aus diesem schnörkellosen Szenario stechen die auffallend farbigen und pompösen Tüllkleider heraus, die meistens ironisch eingesetzt werden und als stilisiertes und parodierendes Merkmal der standardisierten Weiblichkeit verstanden werden können. Mütter Mit dem am 23. Februar 1986 am Schauspiel Frankfurt uraufgeführten Stück Mütter stürzte sich Schleef nach einer Abwesenheit von über zehn Jahren von der Bühne wieder in die Theaterwelt Deutschlands. Das Antikenprojekt, entstanden in Zusammenarbeit mit Hans-Ulrich Müller-Schwefe, erwuchs aus einer neuen Lektüre von zwei griechischen Tragödien: Aischylos Sieben gegen Theben und Die Schutzflehenden des Euripides. Für die dramaturgische Vorberei-
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tung wurde auf hochangesehene Übersetzungen und kritische Ausgaben zurückgegriffen. Wie anfangs dieses Kapitel bereits detailliert erläutert wurde, befinden sich unter der im Archiv der Akademie der Künste in Berlin aufbewahrten Dokumentation, bedeutende wissenschaftlich-philologische Texte, sowie Studien zum Totenbrauchtum bei den alten Griechen bzw. zur Rolle der weiblichen Figur und des Matriarchats, die während der dramaturgischen Vorbereitung in Betracht gezogen wurden. Trotz der sehr detaillierten Dokumentationsarbeit deutet Schleef in Bezug auf die Entstehungsgeschichte des Stückes als erstes auf die Unmöglichkeit hin, auf eine einheitliche, offizielle Fassung einer verschiedentlich überlieferten Tragödie zurückgreifen zu können, und somit auf die Notwendigkeit, selber die bedeutendsten Elemente auszusuchen, um eine eigene Version zusammenzustellen. Das Lesen der zwei Tragödien, aus denen sich Mütter konstituiert, bewirkte in Schleef und Müller-Schwefe ein Gefühl der Erschütterung, das sie mittels ihrer szenischen Arbeit auf der Bühne zu reproduzieren versuchten. Alles Wesentliche in den Tragödien, was sie mit dem Jammern, Kreischen und Klagen der Frauenchöre identifizieren, erfolgte im Rausch. Und gerade die Wiedergabe eines solchen Zustandes benötigt den Einsatz einer ausgeprägten Chorform: Im Chor wird die eigene Verzweiflung zu einer gemeinsamen; hier sackt man in die Ekstase, lässt jegliche Barriere fallen, geht aus sich heraus, erlebt eine Steigerung der Empfindungen, gerade durch die Berauschung. Der Text Mütter entsteht sklavisch und rücksichtlos zugleich, verbindet wörtlichste Übersetzung mit freiester Behandlung, immer geleitet von dem, was man zum Verstehen und vor sich zu sehen beginnt. Es ist keine Übersetzung, sondern Bearbeitung, der Versuch, der Erschütterung dieses Stückes eine Fassung zu geben. […] Gemischt sind auch die griechischen Stücke, aus Volkslied, Kitsch, Hypertrophiertem, Brutalsprache. 277
Unter der umfangreichen Dokumentation, die während der dramaturgischen Vorbereitung des Stückes erstellt wurde, findet man verschiedene Bearbeitungen einer Art Synopsis der Geschichte der Stadt Theben. Hier erzählen Schleef und Müller-Schwefe das Schicksal der Stadt durch die eigene sehr persönliche Interpretation, die besonders auf den ewig andauernden Konflikt der Geschlechter pocht. Diese Zusammenfassung, die als Einführung und Kontextualisierung von Mütter dienen soll, trägt die Überschrift Schlangen, genauso wie eine Reihe von Zeichnungen, die Schleef zum selben Stück entwirft. Dies erinnert an diejenigen Schlangen, die der Hellseher Tiresias noch vor Thebens Verfluchung bei der Paarung gesehen und getrennt hatte.
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Die Schlange steht aber bildlich auch für einen Mechanismus, der sich in den Schwanz beißt, einen Teufelskreis bildet, in dem sich alles ständig wiederholt und also keine Änderung, keine Lösung ermöglicht. Im Einführungstext „Mütter und Männer. Kein Grund zur Freude“, betont Müller-Schwefe, wie im ersten Teil der Aufführung die Mütter der sieben von den Toren Thebens gefallenen Helden im Zentrum der Handlung stehen. Diese flehen Theseus an, ihnen zu helfen, die Leichen ihrer Söhne für eine würdige Bestattung zurück zu erhalten. Nicht allein der Kummer über den Verlust zündet deren Klage an, sondern vielmehr die Kenntnis, dass, ohne einen Sohn, die Legitimität ihrer eigenen Existenz ins Schwanken kommt. Denn Frauen erhalten erst als Mütter eines Sohnes einen Wert, zumindest in der Öffentlichkeit. Werden sie dessen beraubt, verzweifeln sie. Aus dieser Verzweiflung entspringt der Selbsterhaltungstrieb, die Frauen schließen sich in einem kreischenden Klagegeheul zusammen; dessen „bedrohliche Stärke“278 wird akustisch sowie körperlich spürbar. Ihre Bitten werden tatsächlich erhört, doch es reicht nicht. Statt sich nun für die Beseitigung von Gewalt einzusetzen, um künftige Unglücke zu verhindern, stiften die im Rausch versunkenen Mütter neue Unruhen an: Die Enkelkinder sollen ihre Väter rächen, erneut in den Krieg ziehen, noch mehr Mütter kinderlos machen, noch mehr Trauer verursachen. Im zweiten Teil taucht Eteokles, Sohn des Ödipus, auf. Er muss Theben vor den Angriffen der sieben Fürsten schützen, muss sich gegen den eigenen Bruder Polyneikes wehren, um die Herrschaft über die Stadt zu bewahren. Der Mädchenchor der thebanischen Jungfrauen stellt sich ihm entgegen. Sie haben Angst, befürchten das Schlimmste, von den Aggressoren vergewaltigt und versklavt zu werden. Als einzige Abwehr stoßen sie in brutales Geschrei aus, auch sie, berauscht wie die Mütter, werden wild, unbeherrscht. Die Mädchen sind unbewaffnet und trotzdem bedrohlich, die Kraft, die sie allein durch den Zusammenhalt, durch die gemeinsame Klage erzeugen, ist gewaltig. Doch Eteokles, der keine Weiber liebt, hört nicht auf deren Kassandraruf, zischt sie aus: „Männersache ist es, vor dem Angriff den Göttern zu opfern, Frauensache ist es, stumm sich im Haus zu verkriechen“279. Er öffnet das Tor und kämpft gegen den eigenen Bruder, bis beide zu Grunde gehen. Jetzt wäre es Zeit für Frieden, die Thronanwärter sind tot, der Fluch, der auf dem Geschlecht der Labdakiden liegt, könnte endlich aufgelöst werden. Nun könnten die Frauen das Steuer übernehmen und der regierungslosen Stadt eine harmonische Zukunft sichern. Doch finden die Schwestern der verfeindeten, verstorbenen Thronfolger keine Einigung. Beide Männer mordeten und wurden ermordet, beide sind schuldig, doch für Ismene verdient nur Eteokles eine Bestat-
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tung, da er für den Sieg Thebens kämpfte. Antigone hingegen besteht darauf, auch Polyneikes ein Grab zu geben. Ihr Schicksal ist uns durch die ihr gewidmete Tragödie bekannt. Ausschlaggebend ist hier, die Wiederaufnahme des Streites: „Der Bürgerkrieg kann weitergehen“280. Die Wahl, diese sich inhaltlich ergänzenden Tragödien chronologisch verkehrt aufzuführen, wird von den Autoren mit der Absicht begründet, die Zyklizität, das sich Verewigen des Konfliktes fühlbar machen zu wollen. In beiden Tragödien würde man, nach vielem Trauern und Klagen, einen „utopischen Punkt“281 erblicken, der auf eine Lösung hoffen lässt, um die Hoffnung dann bald zu enttäuschen. Die Situation ist aussichtslos, der Krieg ist nicht zu bremsen, die unglückselige Abfolge der Geschehnisse wiederholt sich immer von vorne, eben wie die Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Und neben dem Eroberungskrieg um die Stadt Theben zeigen die Autoren, wie im erweiterten Sinne der Geschlechterkrieg genauso immanent ist. Dieser Krieg ist unübersehbar, sowohl im Fall der Mütter, die für das eigene Dasein als nunmehr kinderlose Frauen hart kämpfen, sich Theseus gegenüber rechtfertigen und beugen müssen und zum Schluss selber Kriegstreiberinnen werden, als auch im Fall der thebanischen Mädchen. Obwohl diese sich eindeutig für das Wohl der Stadt einsetzen, wird deren Willen von Eteokles nicht respektiert, sondern mehrmals öffentlich missachtet. Und zwar aus dem einzigen Grund, dass sie Frauen sind. Allein das genügt ihm, um ihre Meinung zu ignorieren; denn Weiber haben kein Recht, sich in wichtige Angelegenheiten einzumischen, sie sollen sich zu Hause einschließen und den Männern den Kampf überlassen. Nur „Mann und Mann“ können zusammen siegen, wer sich einer Frau anvertraut, ist dazu verdammt, als „Schoßhund zu krepieren“. Er heißt alle Frauen „unerträgliche Mißgeburten“ oder „Zerstörerinnen jeder Disziplin“, empfindet sie als eine von Zeus aufgesetzte Strafe und sieht nur, wie sie vor den Göttern heulen, betteln, kreischen, verrückt durcheinander rennen und nichts taugen. Und viel Anderes bleibt ihnen wohl auch nicht übrig. Wenn sie in ihrem Frausein nur als Feind, noch weniger, als Dreck angesehen werden, bleibt das Kreischen, das Klagen, das Wild werden, verblendet und berauscht, die einzige Waffe, um sich auf irgendeine Weise zu behaupten und sich dem unterdrückenden Mann entgegenzustellen. Diese Frauen fürchten den eigenen Herrn genauso wie den Feind, der von außen gegen das Stadttor drängt. Beide sind Aggressoren, beide Herrscher, von beiden kann die Frau Gefangenschaft und Vergewaltigung erwarten, und das sowohl im körperlichen als auch im spirituellen Sinne. Ein Identitätswechsel der leitenden Figur wird nichts am Verhältnis der Geschlechter untereinander ändern. Als einziger Ausweg bleibt der Tod, „das Ende
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des Ekels“, also, wie bereits erwähnt, Selbstopferung der Frau als Raum für Selbstbehauptung. In Mütter wird dargelegt, wie die Schuld nicht Frau, sondern Mann sei. Diese lässt sich als „uralte Schwanzwut“ identifizieren, bzw. das Nicht-aufgebenkönnen, die eigene Vorherrschaft durch Sexualität behaupten zu wollen. Diese Erbsünde ist Ursache des über Generationen hinweg andauernden Unglückes, das von der „strafenden Sphinx“282 aufrechterhalten wird, also von einem weiblich konnotierten Wesen. Diese für die altertümliche Mythologie so zentrale Kreatur wurde verschiedentlich als Inbegriff des thronenden Matriarchats gedeutet283. Und die Tatsache, dass Schleef in seinem Stück auf sie anspielt, beweist, wie er sich derselben Theorie anschließt. Hieraus erfolgt die Überzeugung einer atavistischen Mütterherrschaft284, die nach Bachofen mit dem Hellenismus endgültig von der Paternität versenkt wurde285. Frauenrecht als etwas Tellurisches, eng mit der Erde Verbundenes und also Natürliches, was von den Menschen durch die männermordende Sphinx versinnbildlicht wurde, als Zeichen, dass es kein ausschließlich positives, mütterliches, zartes Recht ist, sondern etwas Brutales in sich trägt und sich somit im Wesentlichen vom Männerrecht nicht unterscheidet. Szenisch wirkt Mütter als eine Verbildlichung von Geschlechterkämpfen. Sowohl im ersten als auch im zweiten Teil stößt der weibliche Chor gegen den alleinstehenden Herrscher und erobert sich einen Existenzraum zurück. Theseus und Eteokles geben sich als reaktionäre Führer, die durch eine strenge Haltung und zackiges Sprechen versuchen, ihren Stand zu bekräftigen. Gegen die rasenden Frauen scheinen sie dennoch, zumindest in Schleefs Inszenierung, keine Chance zu haben. Die Männer werden wörtlich wie physisch an den Rand der Bühne und des Geschehens verschreckt, die Frauen nehmen den ganzen Platz ein, füllen den Raum mit ihren Körpern und noch mehr, mit ihren laut schreienden Stimmen. Sie machen sich breit und lassen sich nicht demütigen; diese schwarz gekleidete Erynnien stürzen auf die Bühne, um die Opfer jeder patriarchalischen Unterdrückung zu rächen und erobern somit „die symbolische Macht der Bühne“286. Schleef will mit seinen ekstatisch berauschten Frauenchören die bestehenden Rollenverhältnisse aufwühlen: Dort, wo man ein vorschriftsmäßig ein dem männlichen Subjekt unterworfenes Verhalten erwartet, zeigen sich hier die Mütter als widerspenstige Gestalten. In dem von ihnen angerichteten Chaos setzen sie eine neue Ordnung durch, die mit der patriarchalischen Vormacht bricht, sie koordinieren die Aktion und lassen sich von der männlichen Aggressivität nicht einschüchtern. Diese Absicht Schleefs erinnert an gewisse Äußerungen Irigarays, die auffordert, „die Mutter, die zu Anfang unserer Kultur geopfert worden
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ist, nicht noch einmal zu töten“287, sondern sie eher wieder zum Leben zu bringen und sich gegen das „Gesetz des Vaters“ wehren zu lassen, welches versucht, die weibliche Existenz auszulöschen. Höhepunkt der Aufführung ist die Klageszene, wo das Schreien der Frauen eine solche Wucht erreicht, dass die Möglichkeit der weiblichen Zurückeroberung einer gesellschaftlich angesehenen Rolle kurz glaubwürdig scheint. Doch bleibt es bei der Utopie; die Zeit für eine gleichberechtigte Gemeinschaft ist noch nicht reif, wird es vielleicht nie sein, wenn man Schleefs Idee von Geschichte als sich nie schließender Kreis betrachtet, in dem sich die Machtverhältnisse endlos wiederholen, sich hier und da etwas modulieren, ohne sich jemals aufzulösen: Es kommt zu keinem Frieden 288. Von Anfang bis Ende ist diese Aufführung vom weiblichen Schreien dominiert, der eine zweifache Funktion hat. Er ist innerster Ausdruck des erfahrenen Schmerzes und Versachlichung einer Revolte, Mittel zur Befreiung von den aufgezwungenen Einschränkungen, ein erster Schritt zur Emanzipation. Beim Schreien verliert man momentan die Kontrolle über die eigenen Impulse 289, bricht unbewusst den Verhaltenskodex, der durch die nüchterne, symbolische Sprache reglementiert wird und äußert sich auf eine vorsprachliche Art, zerreißt den „Schleier der Repräsentation“290, taucht momentan in die mütterlich ammenhafte Chora zurück. Wenn die gezähmte, im Reservat eingesperrte Frau nicht schreien kann bzw. darf, wird ihr hier die Möglichkeit gegeben, sich unmittelbar zu artikulieren. Erneut scheint Schleef Irigarays Wunsch zu erfüllen, dem weiblichen Subjekt wieder das Recht zuzugestehen, zu reden „und manchmal zu schreien und zornig zu sein“291. Wie entblößt findet hier die Frau zu einer ursprünglichen Ausdrucksweise zurück, der sie sich in einer dem Reservat vorangehenden Zeit bediente. Das von Schleef inszenierte fürchterliche, nackte Klagegeschrei soll ein Aufschrei für die entzogene Ausdrucksfreiheit sein. In diesem Sinne scheint der Begriff von „Nazi-Theater“, der einer vernichtenden Kritik292 zufolge lange auf Schleefs Person lastete, grundsätzlich irrtümlich. Daß 7 Mütter einen Tempel stürmen, dort die Königin gefangen nehmen, sie bedrohen, damit ihr Sohn sich der Forderung der Mütter annimmt, sie gegen die Stadt Theben durchsetzt und daß damit ein neuer Krieg angezettelt wird, obwohl alle ständig um Frieden barmen, soll Nazitheater sein. (DFP/98)
Auf die Provokationen bezüglich der angeblichen Empörung einiger Schauspieler wegen der harten Probenbedingungen antwortete Schleef im Interview verblüfft und beschrieb eine der vielen Frauendemos, die er in Westberlin beobach-
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tet hatte. Bei solchen Anlässen erschien ihm die Verbindung zu mänadischen Chören der Antike wiederhergestellt zu sein. Die Wut seiner argivischen Mütter ist die Wut der demonstrierenden Frauen, die die Straßen Frankfurts oder Berlins füllen und für ihre Rechte schreien. Dass es nicht nur um irgendwelche bereits vergessene Frauen des alten Griechenlands geht, wird eindeutig, sobald die typischen schleefschen Blecheimer auf die Bühne gebracht werden und die Darstellerinnen weiße Schürzen und gelbe Gummihandschuhe anziehen. Durch den Einsatz dieser für seine Theaterästhetik kennzeichnenden Requisiten stellt Schleef klar, dass die Unterdrückung der Frauen ein universalisierter Zustand sei. Die gebückten Frauen im Kittel, die singend den Boden mit ihren Waschlappen putzen, sind die Frauen von gestern und heute, sie sind die Mütter der sieben griechischen Anführer, sie sind die manifestierenden Feministinnen Westdeutschlands, sie sind Gertrud und alle Hausfrauen der DDR. Mit der Klageszene wird der extreme Schmerz des gesamten weiblichen Geschlechts körperlich und akustisch exponiert. Das Greifbarmachen einer solchen Pein zieht sich über zehn unaufhörlich wirkende Minuten hin; der Anblick fünfzig kreischender Frauen wird für die Zuschauer unerträglich, die meisten sind nicht bereit, sich mit der Offenlegung der brutalen Wahrheit zu konfrontieren, sie schauen lieber weg, wollen die weiblichen Ansprüche auf Existenzberechtigung nicht wahrnehmen. Deshalb wird Schleefs Arbeit stillgelegt. Er unterschätzt Weh und Zorn nicht, sondern lässt diese in ihrer ganzen Vehemenz ausbrechen, er trägt dazu bei, die Tore des Reservats zu öffnen und scheut keine Konsequenzen. Denn die weibliche Stimme wieder frei fließen lassen, ist kein Synonym für eine sichere, harmonisierende Auflösung der Machtverhältnisse. Die Mütter erobern zwar das Zentrum der Bühne zurück, doch sorgen sie nicht für Frieden. Ganz im Gegenteil. Sie stiften den Krieg erneut an. So sinkt auf den ersten Teil der Aufführung der Vorhang, im Dunkeln sind Schüsse und Explosionen zu hören. Der Krieg geht weiter. Im zweiten Teil wiederholt sich dann die Konfrontation des einzelnen herrschenden Mannes kontra eine Schar kreischender Frauen. Die Mädchen Thebens erschrecken sich vor dem Lärm der Waffen, laut schreien sie „Io-Io“, drücken somit ihren Schmerz aus, ihren Kummer, sie wollen keinen Krieg mehr. Sie erinnern an das Schicksal der Stadt, wie bereits die gesamte Nachkommenschaft ihre Strafe bekommen hat, „Laios bestraft, Ödipus bestraft, Jokaste bestraft“, wiederholen sie einige Minuten lang. Keiner hört auf sie, die Angst geht über in Verzweiflung, die Mädchen werden mehr, einige setzen sich, die anderen rennen wild über den Steg, der den Zuschauerraum teilt, stürzen auf die Bühne, klatschen laut mit den Händen, gesellen sich zu einem Tanz.
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Diese aufgewühlten Mänaden bilden durch personalisierte Rhythmen und Lautstärken einen imposanten Klangraum, sie sind im dionysischen Sinne außer sich und kennen keine Hemmungen mehr. Wie besessen steigern sie ihr Geschrei in einen rasenden Stimmenwirbel und lassen dann plötzlich die Ruhe wieder einkehren. Still reihen sie sich nebeneinander auf. „Vorbei der Hass“ wiederholen sie dutzende Male, „Der Schmerz hat alle bestraft“, doch nun ist die Stadt „im Recht“ und könnte endlich zu Ruhe kommen. Hinter dem Schlusswort „Wir haben gesiegt“ ist eine bissige Ironie zu spüren. Der erhoffte Frieden ist nur ein vorübergehender Waffenstillstand, bis die Schlange sich wieder in den Schwanz beißt. Unvermeidbare Frauenopfer: Adelheid und Grete Die Problematisierung des Konflikts zwischen Gemeinschaft und Individuum und von Geschlechterkämpfen zieht sich wie ein roter Faden durch Schleefs Theaterwerk. Mütter ist jedoch die Inszenierung, die am eindeutigsten verschiedene Elemente zusammenbringt und klarstellt, weshalb Schleef Chorgemeinschaft und Weiblichkeit zumindest in der Theorie eng nebeneinander stellt. Diese zwei Subjekte gelten bei ihm als die großen Verleugneten der Geschichte, die von der dominanten, männlichen, solipsistischen Gesellschaft in den Hintergrund geschoben und zum Schweigen gebracht wurden. Und gerade das Ausgestoßen-worden-sein verbindet sie, sodass Schleef oft auf polyphone Formationen zurückgreift, wenn er weibliche Figuren auf die Bühne bringt. In Mütter stellt er jammernde, klagende, jubelnde, rasende Frauengemeinschaften bzw. Gruppierungen dar, wie er sie in der griechischen Antike beobachtet, um somit „die Rückführung der Frau in den zentralen Konflikt, die Rückführung des tragischen Bewusstseins“ (DFP/10) zu vollziehen, in der Hoffnung, somit dem Musiktheater das Überleben zu sichern. Obwohl es ihm wahrscheinlich in keiner anderen Inszenierung so gut gelungen ist, die zwei Komponenten so natürlich und wirksam zusammenzubringen und übereinstimmen zu lassen, beschäftigte sich Schleef in jedem seiner Theaterwerke mit beiden und versuchte, ihnen eine Stimme zu geben, trotz des offensichtlichen, unvermeidlichen Opfergeschicks. So stoßen wir auf verschiedene Frauenfiguren, deren eigentliche, starke Natur Schleef in den Urfassungen der jeweiligen Stücke entdeckt. Wie im vorherigen Kapitel bezüglich der Chorfunktion geschildert wurde, geht Schleef bei der dramaturgischen Arbeit mit einer archäologischen Lektüre vor, in dem Sinne, dass er nicht nur die endgültigen Ausgaben der Texte in Betracht nimmt, sondern vielmehr die ersten Fassungen, so wie die Autoren seiner Meinung nach, sie zü-
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gig und unvermittelt niedergeschrieben hatten. Hier glaubt er nämlich, die wahrhaftige Absicht der Verfasser zu erkennen und somit auch das authentische Temperament der Charaktere. Er hebt hervor, wie Goethe, Hauptmann und sogar Brecht im Bearbeiten der eigenen Stücke eine allgemeine Verharmlosung der weiblichen Figuren ausführten. Da, wo sie einst kräftige, selbstbewusste, energiegeladene Frauen geschaffen hatten, treten in den endgültig veröffentlichten Ausgaben zahme, eingeschüchterte Weibchen auf, die nur noch ein Nachhall ihrer selbst sind293. Und bei seinen Inszenierungen entscheidet sich Schleef dafür, die zurückgedrängten Gemüter auf die Bühne zu bringen, diese sich in ihrem vollen Bedrohungspotential ausleben zu lassen und somit verständlich zu machen, weshalb sie überhaupt lahmgelegt wurden. Man könnte behaupten, dass er bei den Inszenierungen von Goethes Stücken Ur-Götz und Faust. Die Tragödie erster und zweiter Teil, die jeweils 1989 und 1990 am Schauspiel Frankfurt umgesetzt wurden, die Ur-Adelheid und Ur-Grete auf die Bühne brachte. Beide Figuren lassen sich gut in den Diskurs bezüglich der Opferung des weiblichen Subjekts einbeziehen, beiden widmet sich Goethe in der ersten Fassung leidenschaftlich und schuf die Bilder zweier Frauen starken Charakters, die ihr eigenes Schicksal schmieden wollen, und also auch eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der Handlung selbst spielen. Schleef, der jede Umschreibung von Ur- zur Druckfassung als schändlich empfand, freut sich darüber, dass „zum Glück die Stücke öfter stärker als ihre Autoren sind, die sich der Zensur unterwerfen müssen“294 und also weiterhin produktive Anregungen für die Inszenierungsarbeit bieten. Im Falle der Adelheid erkennt Schleef das modellhafte Bild einer Frau, die sich nicht zähmen lässt, die für sich selbst entscheidet, ihr Leben nach den eigenen Bedürfnissen lebt, Männer ausnutzt und sich nicht ausnutzen lässt. Mit dieser Figur sei Goethe „etwas gelungen, was sich in der deutschen Stückgeschichte verankert hat: Adelheid ist Lulu“295. Also eine Vorläuferin aller späteren, außerhalb des Reservats stehenden Frauenfiguren der darauffolgenden Theatertradition. Zum vollen Ausdruck kommt diese starke, selbstbewusste Frau aber nur in der Urfassung und zum Teil noch in der ersten Bearbeitung des Dramas. Hier widmet Goethe der temperamentvollen Adelheid noch lange Szenen, aus denen sich ein breitgefächertes Bild ihres Charakters ergibt. Nur in der ersten Fassung wird die Zuspitzung des Grolls, den sie ihrem Ehemann gegenüber empfindet, deutlich sowie die Entstehung ihrer starken Gefühle für Sickingen verständlich296. In der ersten Fassung kämpft Adelheid außerdem wortwörtlich bis ans Ende, es gelingt ihr sogar ihren Henker zu hintergehen. Nachdem sie diesen um
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Erbarmen angefleht hat und er Sex für ihr Leben fordert, spielt sie ihm vor, darauf einzugehen, um ihn dann geschickt zu erstechen297. So wie Wedekinds Lulu, die nach Bovenschen gleichzeitig Projektion der männlichen Weiblichkeitsvorstellung und, mittels ihres chamäleonartigen Identitätswechsel, Zerstörerin derselben Vorstellung ist298, ist Adelheid sich ihrer starken sexuellen Anziehungskraft bewusst und hantiert frei und ungeniert damit. Sie lebt ihre Sexualität aus und spielt mit dieser, um die bestechlichen, für Fleischeslust anfälligen Männer zu manipulieren und das zu erreichen, was sie sich als Ziel gesetzt hat. Adelheid akzeptiert kein „Nein“ als Antwort; wenn ihr jemand im Weg steht oder, noch schlimmer, ihr diesen absichtlich versperrt, kennt sie keine Hemmungen. Sie intrigiert, sie komplottiert, sie agiert. „Weislingen, denke nicht mich zu hindern, sonst musst du in den Boden, mein Weg geht über dich hin“ mahnt sie den eigenen Ehemann. Diese Warnung klingt wie ein Fluch, was nur zum Teil den Vorwurf als Hexe erklärt. Diese Anrede hat sie ihrer ungewöhnlichen Exuberanz zu verdanken, die gefährlich erscheint und erst Recht einen Kontroll- bzw. Unterjochungswahn entfacht. Das wittert Adelheid, wenn sie den Brief ihres Mannes liest, der sie auffordert, zurück auf sein Gut zu kehren, wo er die Gewalt hätte, sie „zu behandeln, wie sein Hass ihm eingibt“. Bevor sie sich in ein Kloster einschließen lässt, wird sie lieber zur Verbrecherin und akzeptiert die Konsequenzen. Ein solches Gemüt wird gefürchtet und zur öffentlichen Opferung freigegeben. Sie hat keine Chance, sich gegen die Richter des ‚geheimen Gerichts‘ zu verteidigen, denn das Urteil steht schon fest: Adelheid soll hingerichtet werden. Die patriarchalisch gesteuerte Menschheitsgeschichte kann es nicht anders zulassen. Nicht umsonst wurde das andere Geschlecht, das aus der Sicht des männlichen Ichs in jede Richtung die „Grenzen, Ränder oder Extreme der Norm – das extrem Gute, Reine, Hilflose oder das Gefährliche, Chaotische und Verführerische“299 repräsentiert, in zwei Kategorien aufgeteilt: „Die Heilige oder die Prostituierte“300. Diese klare, konzeptuelle Differenzierung erleichtert auch die Aufsichtsaufgabe: Die Madonna darf ungestört im Reservat weiterleben, solange sie keine Ansprüche erhebt; die Hure, womit im Grunde jede freie bzw. nach Freiheit strebende Frau bezeichnet wird, muss sterben. Dass sich dieser Typ von Frau durch Adelheid vorbildhaft vertreten als Projektionsfläche all dessen bietet, was „im Stück und in der deutschen Geschichte schiefgelaufen ist“301, zeigt Schleef zum Schluss seiner Inszenierung, indem er Adelheid demonstrativ die riesige Deutschlandfahne tragen lässt, die für das allgemeine Frauenopfer steht und somit klarstellt, dass ihre Verantwortung über den Gattenmord hinausgeht. Als selbsthandelnde Frau muss sie für all das büßen,
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was die Männerwelt nicht unter Kontrolle bekommt, deshalb muss sie sich in Schleefs Inszenierung niederknien, in Erwartung des Todesstoßes. Schleef interessiert sich also nicht für den privaten Aspekt eines spezifischen Mann/Frau Konflikts, sondern fokussiert sich auf die allgegenwärtige Tragik der Geschlechterkämpfe. Das bekräftigt er besonders mit der Faust Inszenierung, wo er Faust und Grete nicht als einzelne Individuen, sondern in Chorform gestaltet. Die Vervielfachung der Hauptfiguren deutet auf die Übertragbarkeit von genderbedingten, gesellschaftlichen Mechanismen hin: Es geht nicht nur um Grete und Faust, sondern um die Hemisphären Mann und Frau. Und über diese strenge Spaltung scheint sich Schleef hier lustig machen zu wollen, indem er mit der Darstellung von Gender spielt. Er vertauscht mehrmals die Kostüme, lässt besonders die männlichen Figuren, Faust inbegriffen, mit Rock oder sogar Tüllkleid auftreten und macht sie somit in deren verweichlichten bzw. verweiblichten Virilität lächerlich. Der abwechselnd clowneske und schreckenerregende Mephisto, dessen androgynes Outfit eine weitere Verspottung von geschlechtlichen Charakterisierungen bietet, ist der allmächtige Drahtzieher im Stück. Er kommandiert weibliche sowie männliche Figuren herum und erniedrigt sie, ohne große Unterschiede zu machen, als wäre sein Ziel nicht eins der zwei Geschlechter, sondern das menschliche Geschlecht in toto, da er dieses für hilflos und verloren hält. Deshalb deklamieren Gretchen- und Faustchor zum Schluss der Vorstellung noch einmal einstimmig den anfänglichen Faustmonolog: Nicht nur er steht dort wie ein „armer Tohr“, sondern sie alle. Doch obwohl Mephisto, dessen nihilistische Lebenseinstellung „das EwigLeere“ preist, seine Idiosynkrasie sich nicht ausschließlich auf Grete richtet, wird sie von Schleef als das eigentliche, große Opfer dargestellt. Und der Untergang Gretes ist der eines gesamten Geschlechtes, das sie vertritt. Wenn der Inbegriff von Männlichkeit durch das Tragen femininen Gewands und ein nicht immer standhaftes Betragen kompromittiert wird, dekonstruiert bzw. entmythisiert Schleef auch das Bild des engelhaften Biedermädchens und dessen standardisierten Eigenschaften. Statt des törichten, furchtsamen Weibes, das sich in ihrem Zimmer die Zöpfe hochsteckt und sich fürs Zu-Bett-gehen bereitmacht, zeigt er in der Abendszene gleich vierzehn Gretchen im gelben Kittel, die singend über die Bühne hereinkommen, sich dann entblößen und in Paaren auf jeweils einen Blecheimer niedersetzten, um ihre Notdurft zu verrichten. Dieser skurrile Akt bildet einen heftigen Kontrast zu dem kindlich träumerischen Singen der Ballade des Königs von Thule, und deutet somit auf die vielseitigen Facetten, die auch im weiblichen Körper koexistieren können, ohne sich gegenseitig auszuschließen. Anders gesagt, ist Grete zwar das keusche, fromme, uner-
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fahrene Mädchen des bürgerlichen Trauerspiels, aber auch die werdende Frau, die ihren Narzissmus, ihre Sensualität ausleben möchte. Genau darin liegt ihre Tragödie, ein Kampf zwischen gesellschaftlichen bzw. religiösen Geboten und inneren Trieben, die eine anständige Frau zu unterdrücken hat. Diese Zerrissenheit verdeutlicht Schleef mit dem verfremdenden Schreien des in schwarzen Abendkleider erscheinenden Chors der Gretchen, die sogar in der privaten Sphäre des kleinen, reinlichen Zimmers von Schuldgefühlen ergriffen werden. Sie wünschen, der Schmuck, den sie im Kästchen gefunden haben, könnte ihnen gehören, und erschauern vor der eigenen Eitelkeit, die wie ein Präludium zum späteren Unglück vorkommt. Die Choralisierung der einzelnen Protagonisten verhindert psychologisierende Ansätze. Sie schafft hingegen eine gewisse Entfernung zu der eigenen Gefühlswelt, die Schleefs Gretchen immer von außen zu betrachten scheinen. Die gleiche Entfernung kennzeichnet auch die Begegnung mit dem Faustchor: Diese zersplitterten Figuren agieren als verschlossene Einheiten, zwischen denen kein Dialog entstehen kann. Gretchenchor und Faustchor reden oder brüllen aneinander vorbei, nehmen sich gegenseitig gar nicht wahr und entlarven somit die grundsätzliche Unmitteilbarkeit zwischen den Geschlechtern. Zum Ende des statischen Spaziergangs springt dann der allwissende Erzähler Mephisto wieder ein und souffliert Gretchen die Verse, mit denen sie ihre Unterwürfigkeit gegenüber Faust verkünden soll: „Beschämt nun steh ich vor ihm da / und sag zu allen Sachen ia“ (1062-63), woraufhin die Gretchen mit dem üblichen schleefschen Geschreie in ein verlängertes „IA“ ausbrechen. Das nächste, diesmal fast ergreifende Wehgeschrei Gretchens kommt dann nach dem Dialog mit ihrem Bruder. Es ist die einzige Szene, wo Grete individualisiert auftritt in einem verführerischen, roten Tüllkleid. Anfangs scheint sie nicht ganz die Bedenklichkeit ihrer Lage wahrzunehmen; wenn Valentin sie Hure nennt, lacht sie wie besessen laut auf, doch sie widerspricht ihm nie. Als er stirbt, schaut sie ins Leere und bevor sie wieder zu sich kommt, taucht kurz der verdrängte, tierische Instinkt auf, der laut Schleef, wie bereits erwähnt wurde, kennzeichnend für die aus dem Reservat fliehen wollende Frauen ist. Wie ein Hund oder eine Raubkatze leckt Grete ihrem verstorbenen Bruder über den Helm, es ist nur ein Augenblick, dann deklamiert sie ihren Monolog der eigentlich vorhergehenden Zwingerszene: „Wie weh, wie weh, wie wehe / wird mir im Busen hier!“ (3603-4), wodurch ihre Verletzlichkeit doch noch offenbart wird. Mit einem Sprung zur Domszene stimmt der Chor das Dies Irae an, der von Mephisto personifizierte böse Geist nähert sich der an der Reue zerbrechenden Grete und bohrt in ihren tiefen Wunden, erteilt ihrem Gewissen den endgültigen Schlag, der sie ins Delirium wirft.
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Von hier führt umgehend der Weg zum Kerker, wo Grete ihre Sünden abbüßen soll. Die alleinstehende Grete wird wieder zum Chor, erneut stellt Schleef eine Verknüpfung zwischen persönlicher und allgemeiner Schuld her, die ausnahmslos jeder Frau angelastet wird. Im kindlich weißen Nachthemd gehen die vierzehn Gretchen nun im Kreis und singen dabei das Lied der Moorsoldaten302, womit Schleef auf den Häftlingsstatus deutet, der nicht im Gefängnis beginnt, sondern bereits in der Existenz als Frau an sich. Ob sie sich gefügig im Reservat aufhält oder im Voraus zum Scheitern verdammte Fluchtversuche plant, kann die Frau dem, was in einer männlich gesteuerten Welt als natürliches Recht erscheint, nicht entkommen: Sie ist ewige Gefangene. Wiederholt verkündet der Gretchenchor das eigene Verbrechen, Muttermord und Kindesmord. Doch wird hier spürbar, wie Schleef die Voraussetzung dieser Morde in einer einengenden Erziehung erkennt, die einem nach Selbstbestimmung strebenden Geist zu einer Zwangskonsequenz führen kann. Wäre Grete nicht eingeprägt worden, sie habe blind den Sitten zu folgen, hätte sie die Liebe zu Faust frei von Schuldgefühlen ausleben können und keinen Grund zum Töten gehabt. Ihr Wahn und die Selbstopferung stellen sich also eigentlich als indirekte Opferung heraus. Grete ist Täterin und Opfer zugleich. Helene Gerhardt Hauptmanns Vor Sonnenaufgang ist die zweite Inszenierung der schleefschen Frankfurter Periode, die 1987 kurz nach Mütter auf die Bühne kam. Bereits in den ersten Minuten ist eins der wesentlichen Elemente zu erkennen, die Schleef schon in der vorhergehenden Arbeit eingesetzt hatte: Die alten Frauen im Kittel mit den unvermeidlichen Eimern, die ganz am Anfang die große, weiße Schrift wegschrubben und im Laufe des Stückes als Bedienungspersonal wieder auftreten. In einer Szene ordnen sie sich auf der Bühne, um den Boden zu wischen; eine von ihnen erteilt laut die Befehle und weist der Aktion einen offiziellen Charakter zu, „Eimer hinstellen, eintauchen, Lappen auswringen, bereitmachen…“. Ein drittes Mal, nach Stückende, tritt eine weitere Formation arbeitender Frauen auf, zahlreicher und kompakter als die vorherigen. Diesmal keine Putzfrauen, sondern Bergarbeiterinnen, die im grauen Kittel, mit Helm und Helmlampe, fest über die Bühne treten und sich in den Vordergrund drängen. Endlich kann das Stampfen eingeordnet werden, dessen ohrenbetäubender Lärm man von Anfang der Aufführung ab und zu hört, ohne genau zu wissen, wo er herkommt bzw. wer ihn verursacht. Es handelt sich um den verdrängten Chor, dessen Essenz trotz Ausstoßung nicht vernichtet werden kann. Und als würde Schleef die
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bereits in Mütter angedeutete Vermutung der weiblichen Herkunft der Chorform bekräftigen wollen, zeigt er keine Bergmänner, sondern Bergfrauen. Auch hier erfolgt die Gleichung Chorgemeinschaft + Frau = verleugnete und dennoch überlebende Subjekte der patriarchalischen Gesellschaft der Individuen. Der Einfall, diese Gruppe in Anschluss an das private in sich verschlossene Drama der Familie Krause zum Vorschein kommen zu lassen, scheint ein Versuch zu sein, die Gemeinschaft als widerstandsfähige Figur aufzuwerten. Während die in der eigenen Gier vereinsamten Einzeldarsteller zu Grunde gehen, wirkt der Aufmarsch glückverheißend, aus der Dunkelheit des Bergwerkes wird in die aufgehende Sonne hinausmarschiert. Wie im Antikenprojekt, ist auch diese Aufführung, besonders in der zweiten Hälfte, von Weibergebrüll skandiert. Zuerst erschallt der Schrei der an den Wehen leidenden Martha wie ein Entsetzen erregender Basso continuo, der an den nicht endenden Schmerz erinnern soll, zu dem das gesamte weibliche Geschlecht verdammt ist. Am Ende ertönt dann noch ein durchdringender, wiederholender Schrei, den das Hausmädchen Miele vor Entsetzen beim Anblick von Helene ausstößt, die sich selbst getötet hat. Worin sich Schleef am deutlichsten von der Textvorlage unterscheidet, ist die Charakterisierung der Helene. Diese trägt das bereits zum schleefschen Kanon gehörende Tüllkleid. Das weiße Gewand soll zwar Spiegel der reinen, infantilen Unschuld ihrer Seele sein und spielt dennoch auch auf den Zwiespalt an, der sich durch ihr selbstbewusstes, in einigen Momenten sogar zorniges, Verhalten zeigt. Diese Helene kann genauso zart und weich sein, wie sie zum richtigen Zeitpunkt die Krallen zeigen kann, um sich gegen Provokationen und Angriffen zu verteidigen. Dass ihr diese Impertinenz als Mann zustehen würde, ist ihr bewusst: „Ich sollte bloß’n Mann sein!“ sagt sie laut, dann könnte sie tun und sagen, was auch immer ihr in den Kopf kommt. Trotzdem gibt sie sich nicht als das larmoyante Fräulein, das aus Hauptmanns Seiten hervorgeht. Ganz im Gegenteil, immer dann, wenn sie an die aufgezwungene Inferiorität ihres Geschlechts erinnert wird, wird sie wütend, statt zu resignieren. Nur in den Liebesszenen zeigt sie sich Loth gegenüber geziert und zuckersüß, schätzt seine Integrität, seine Ideale, die auf dem Bauerngut inexistent sind. Vielleicht gibt ihr gerade das Auftauchen dieses edelmütigen Mannes die Kraft, der eigenen Familie zu widersprechen. Von Anfang an sagt sie ihre Meinung geradeheraus und bis zu einem gewissen Punkt bewahrt sie dabei die Ruhe, lächelt noch beim Sprechen. Doch im Laufe der Inszenierung spitzt sich ihre Wut immer mehr zu. Den ersten Ausbruch hat sie während des Abendessens, wenn ihr Geliebter den Vortrag über vererbliche Alkoholabhängigkeit hält und sie um ihre Unversehrtheit
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fürchtet. Sie sieht sich selbst als machtloses Opfer eines elendigen Schicksals und bricht in ein lautes, hysterisches, krampfhaftes Lachen aus. Im zweiten Akt sieht man sie über die Bühne vom betrunkenen Vater weglaufen, der sie dann trotzdem schnappt und vergewaltigt, wie die Schreie aus dem Off befürchten lassen. In einer späteren Szene hält Loth einen neuen Vortrag über die verkehrten Verhältnisse, die die Welt beherrschen; Helene ist weiterhin fasziniert, antwortet dennoch mit Ironie, wenn er sich selbst als Verteidiger der verlorengegangenen Moralität darstellt. „Dann sind Sie ja ein sehr guter Mensch“ stichelt sie ihn, und schaut zu, wie er immer mehr von sich selbst eingenommen ist. Dann unterbricht sie ihn, um sich aktiv an der Diskussion zu beteiligen, sie erzählt von einem tödlichen Arbeitsunfall, den sie einige Jahre zuvor als Augenzeugin mitbekommen hatte. Verunsichert glaubt sie ein höhnisches Lächeln in Loths Blick zu erkennen, als würde er sie für genauso dumm wie ihre Familienmitglieder halten und wird rasend. Dort, wo Hauptmann ihr einen weinerlichen Ton unterlegt, lässt Schleef hier eine empörte, wütende Helene sprechen: „Sie verachten uns […] Mich vor allen Dingen, und dazu, da-zu, haben Sie wahr… wahrhaftig auch Grund“. Eine weitere Intensivierung ihrer Wut folgt dem schrecklichen Geschreie ihrer Schwester, die für unfähig gehalten wird, Mutter zu sein. Vielleicht auch zu Recht, da sie sich als Schwangere zu Tode alkoholisiert hat; doch, dass der Entschluss, Helene das Baby anzuvertrauen, einem männlichen Willen entspringt, geht ihr zu weit. Das einst naive Mädchen ist nun endgültig desillusioniert, sogar angeekelt, ihr Vater ist ein widerliches Schwein, die Stiefmutter pervers, ihr Leben auf dem Hof entsetzlich und aussichtslos. Im Moment der Erleuchtung bleibt Helene stark, sie würde am liebsten rebellieren, fliehen, ihre Zukunft selbst schmieden. Das Umsetzen dieses Bedürfnisses ist im Text nicht vorgesehen, doch kann Schleef ihr zumindest etwas Stolz geben. Wenn sie schon die Situation nicht ändern kann, soll sie sich dem Unglück nicht resigniert hingeben. Wie Helene behauptet, sind Frauen es gewöhnt, zu entsagen, doch alles will sie nicht wegstecken müssen. Sie wird niemanden außer Loth als Gefährten nehmen und wenn er sie nicht will, wird sie zwar weinen, aber sich nicht erniedrigen. Die einzige Alternative, um der männlichen Übermacht nicht zu erliegen, ist der Tod. Wie ein Gnadenstoß trifft sie die Totgeburt ihres Neffen. „Totgeboren“ schreit sie unerträglich laut in den Zuschauerraum hinein, und zwar mit einem erschreckend zufriedenen Ton in der Stimme, als wäre diese Ankündigung das fehlende Glied in der Kette der sich am Hof abspielenden Grausamkeiten. Ohne den von Loth vertretenen Fluchtweg gibt es nun keinen Grund mehr zum Leben. Helene war bereits Opfer der kranken, gesellschaftlichen und persönlichen Ver-
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hältnisse und wird nun Opfer ihrer selbst. Selbstmord lautet wieder einmal der Preis für die Individualisierung, für den Ausbruch aus dem Reservat. Anders als in der Frühinszenierung von Strindbergs Tragödie Fräulein Julie, für die er 1975 am Berliner Ensemble in Zusammenarbeit mit B. K. Tragelehn Regie geführt hatte, scheint Schleef die damalige Hoffnung auf Veränderung verloren zu haben. Dort hatte er die Hauptdarstellerin zum Schluss der Vorstellung über den Köpfen der Zuschauer aus dem Theaterraum hinausgehen lassen, als einen Akt des extremen Protests. Die dahintersteckende Absicht war die, der jungen Julie eine Überlebensmöglichkeit zu öffnen. Im Fall der Helene traut er sich nicht, ein zweites Mal eine solche Alternative vorzuschlagen; die Wahrscheinlichkeit einer Realisierung scheint ihm inzwischen wohl zu gering. Wie im Text entscheidet sich Helene für den Selbsttod, da ihr das Weiterleben in ihrer degenerierten Familie unerträglich erscheint. Die gesellschaftliche Lage sichert ihr zwar den materiellen Wohlstand, verdammt sie dennoch zu Einsamkeit und Nicht-verstanden-werden, was ihr als ein zu hoher Preis vorkommt. Sobald sie merkt, wie ihre einzige Befreiungsmöglichkeit, eine Beziehung mit Loth, schwindet, nimmt sie sich das Leben. Was im Sinne Bronfens durchaus auch als Moment der Kontrollübernahme über das eigene Selbst gelesen werden kann: Weiblicher Suizid kann, so sehr er als Niederlage erscheinen mag, als Tropus für eine weibliche Strategie des Schreibens innerhalb der Zwänge patriarchaler Kultur fungieren […] diese Selbstmorde (verdeutlichen), wie Frauen, indem sie ihr eigenes Soma töten, die kulturelle Konstruktion des Weiblichen als totes, von anderen beherrschtes und vergewaltigtes Bild zerstören, um ein autonomes Selbstbild zu konstruieren […] die Frau (kann) eine Subjektposition nur gewinnen, indem sie den Körper verneint. […] Indem sie ihren Körper vernichtet, vernichtet sie die Geschlechter-Konstruktion, die sie in eine unterlegene Position stellt.303
In einer Gesellschaft, die der Frau keinen Raum für Selbstbestimmung erlaubt, stellt sich der Entschluss zur Selbsttötung als Existenzbehauptung heraus: Nur in diesem Augenblick wird sie endlich zum Subjekt. Und so gesehen könnte sich hinter Schleefs in einer Linie mit Hauptmann inszenierten Lösung im Grunde doch der Versuch bergen, Helene eine Freiheitsperspektive zu lassen.
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Eva Puntila Mit der Arbeit an Brechts Stück Herr Puntila und sein Knecht Matti, das er 1995 am Berliner Ensemble inszenierte, kommt Schleef dazu, einige Elemente seines Entwurfes für ein Parsifal-Bühnenbild anzuwenden. Wie nahe sich die zwei Stücke stehen, hat Schleef zu verschiedenen Anlässen unterstrichen. Wie er im Interview mit Alexander Kluge304 bestätigte, ist der runde Tisch, um den herum sein Puntila spielt, der Parsifaltisch, statt der Gralsritter sitzt hier der Mattichor. Eine deutliche Analogie findet er auch in der starken Vatertochterbeziehung, die bei Brecht zwischen Eva und Puntila herrscht und auf ähnliche Weise auch Amfortas und Kundry aneinanderbindet. Worin sich aber die Kontinuität am offensichtlichsten herausstellt, ist in der Gestaltung der weiblichen Hauptfiguren und deren Stellung zu der männlichen Gemeinschaft. Eva Puntila, die Gutsbesitzertocher, wird vor dem Abendmahls-, dem Gerichts-Tisch verurteilt. Sie darf sich weder gegen ihren Vater noch gegen seinen Knecht verteidigen. Sie verliert. Keiner der Anwesenden hilft. Kundry stirbt und keiner rührt die Hand. (DFP/180)
Hier wie dort wird trotz Widerstand die Ausmerzung des „undomestizierten Weiblichen“305 vollzogen. Dass dieses undefinierte Subjekt eine Bedrohung darstellt, scheint nach Heeg bereits aus den beharrlichen Andeutungen an die Geister durch, die anfangs der Handlung Puntila und Matti beschäftigen und eindeutig weiblicher Natur sind. Somit wird die Angst vor dem Unkontrollierbaren freigelegt, die Herr und Knecht sehr schnell einen unausgesprochenen, defensiven Männerbund schließen lassen. Gemeinsam glauben sie die Geister besser bekämpfen und ihre Männlichkeit schützen zu können. Die instinktive Angst steigert sich dennoch in einen Verfolgungswahn gegen einen ungewissen Feind. Darunter wird alles Fremde verstanden, was nicht in das eigene Wahrnehmungsschema einzuordnen ist und als bedrohlich gilt, anders als männlich und also den männlichen Herrschaftsstand angreifend. Da ein binäres Gedankensystem nur das Vertraute, mit sich selbst Identifizierbare, und das Unbekannte erlaubt, wird „anders“ mit weiblich gleichgesetzt. Auf Grund der eher vagen Konturen dieser fremden Gestalt ist es auch nicht leicht, dem Feind eine präzise Form zuzuteilen: Das Bild, das dabei herauskommt, ist also zwangsläufig affektiert zusammengestellt und entspricht nicht wirklich dem Subjekt Frau, sondern nur einer fiktiven Imago dessen. Und auf diese werden die Unsicherheiten projiziert, die aus einem anmaßenden Geltungsdrang entstehen: Statt die Verantwortung für den eigenen Hochmut zu übernehmen, bevorzugt es der geschwächte Mann, einen imaginären, verführeri-
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schen Sündenbock zu ernennen, der beschuldigt wird, die Herrschaft auf hinterlistige Weise übernehmen zu wollen. Somit wird die Frau zur Schießscheibe der männlichen Angst, der führenden Rolle beraubt zu werden306. Schleef nimmt sich vor, die Wurzeln des geschilderten Wahns nachzuvollziehen und diesen in seiner Komplexität zu exponieren. Dazu untersucht er das Entstehungsmaterial zu Puntila und gibt sich bei dem dramaturgischen Verfahren nicht mit der bloßen Druckfassung zufrieden, sondern greift auch auf frühere Bearbeitungen zurück. Besonders in der ersten Niederschrift von 1940 findet er die meisten Ansätze einer Problematisierung des Kampfes gegen das Weibliche. In der Inszenierung entsteht eine richtige Stratifizierung der verschiedenen Kompositionsphasen, wobei für die Charakterisierung der weiblichen Figuren eher die Urfassung berücksichtigt wird. So wird man mit der beinahe omnipräsenten Haushälterin Hanna konfrontiert, die immer einen Überblick über das Geschehen auf dem Gut hat, jede Aktion kontrolliert bzw. dirigiert, mit einer rauen befehlenden Stimme sowohl ihren Herren Puntila als auch die anderen Männer zurechtweist, die glauben ihr etwas vorspielen zu können. Sogar den hitzigen Matti, der sonst mit seinem rabiaten Verhalten alle Ansprechpartner einschüchtert, schreit sie zusammen, diese Drachenfrau steht über solchem Machogetue. Besonders hervorgehoben werden in Schleefs Inszenierung auch die Anwärterinnen Puntilas, die hier bereits bei der ersten großen Tischversammlung als in einen Bund vereint erscheinen und zwar vervielfältigt. Nicht nur vier, sondern neun Frauen sind es, die meistens synchron reden und somit deren Zusammenhalten gegen den untreuen, vielversprechenden Gutsbesitzer bestätigen. Die Verlobung mit den Frühaufsteherinnen, die eigentlich erst in der 3. Szene erfolgt, steht hier gleich am Anfang, gleich nach dem Gespräch zwischen dem von Schleef selbst gespielten Puntila und dem Mattichor, der rechts und links von ihm um die hintere Hälfte des Tisches sitzt. Als sollten sie dem cholerischen Knecht ein Gegengewicht sein, springen die ihm auch räumlich entgegengesetzten Frauen auf Anhieb auf, sprechen ihre Zeilen zuerst sehr ordentlich sogar im sanften Ton und scheinen im Sprechen die Situation dann wahrzunehmen. Die Stimmung überhitzt sich, immer wütender richtet sich der weibliche Chor gegen den Pseudobräutigam, der es eigentlich verdient, für sein Benehmen verprügelt zu werden und keinen weiteren Alkohol zu bekommen. Die Stimmen geraten aus dem Takt, jede geht für sich und trägt zu der eskalierenden Lautstärke bei, bis es auf dem laut wiederholten Ausruf „Kein Alkohol“ wieder zum Gleichklang kommt. Das Geschreie der eben noch rasenden Erinnyen artet bald in ein lästiges Geschnatter aus, was die Anspannung entschärft und in eine karikaturartige Nachahmung einer Ansammlung von einfa-
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chen Volksweibern umkehrt. Schleef spielt hier mit kontrastierenden Äußerungen von Weiblichkeit, die er verspottend aufeinander folgen lässt und somit deformiert, performiert. Bei seinem nächsten Auftritt zeigt sich der Bund der Bräute im roten Tüllkleid und reklamiert die versprochene Trauung. Das Gewimmel der aufgeputzten Frauen ist sich des Betruges bewusst und besteht nur noch aus purem Zynismus auf der Begegnung mit Herrn Puntila. Mit akuter Stimmlage brechen sie mehrmals in giftiges Gelächter aus und erscheinen keineswegs enttäuscht, sondern fühlen sich eher in ihrer Erwartungshaltung bestätigt: Das ärmliche Herkunftsmilieu mag vielleicht ihren uneleganten Sprechmodus geprägt haben, aber es hat sie auch auf das trügerische Verhalten der Herrscher vorbereitet. Auf die desillusionierten Bräute wirkt weder das autoritäre Brüllen Puntilas, noch der schadenfrohe Sarkasmus des Mattichors. Obwohl sie nichts erreichen, vermeiden es diese Frauen, sich als verwundete Jämmerlinge zu geben und halten zumindest ihren Stolz aufrecht. Weit entfernt vom Stereotyp der zärtlichen, zerbrechlichen Tochter aus besserer Familie agiert Eva selbstbewusst, trotzköpfig und kokettierend auf Schleefs Bühne. Bei ihrem ersten richtigen Auftritt trägt sie einen weißen Frack, womit sie sich schon optisch auf dieselbe Höhe ihres Prätendenten, des Herrn Attaché, stellt und sogar auf die ihres eigenen Vaters, dem gegenüber sie vom ersten Moment an eine standhafte Haltung zeigt. Die innige307 Beziehung zwischen Vater und Tochter ist von gewaltigen Auseinandersetzungen bestimmt. Jedes Mal, wenn die beiden sich begegnen, entsteht ein heftiger Streit, ohne dass der eine oder die andere nachlässt. Sie bleibt ungehorsam und frech, will ihre Zukunft selbst entscheiden und klagt über die Alkoholsucht des Vaters. Dieser ist mal vom Alkohol, mal von den Gedanken an die Schulden, die er durch die Zweckhochzeit begleichen könnte, zu benebelt, um tatsächlich unterscheiden zu können, was das Beste für seine Tochter wäre. Dass der Attaché Eva nicht würdig ist, wird spätestens dann offensichtlich, wenn er beim Anblick seiner Verlobten, die umringt von den nackten Mattidarstellern aus dem Badehaus herausgeht, so tut, als wäre daran nichts Verdächtiges, Hauptsache keine Unruhen. Dieses verweichlichte, feige Benehmen wird szenisch durch eine entsetzliche, körperliche Erniedrigung bekräftigt: Bevor er den Raum verlassen darf, wird der Attaché von Puntila sexuell gedemütigt und somit als charakterlos und unmännlich gezeigt. Eva hingegen, sollte einen „richtigen Mann“ an ihrer Seite haben, viril und autoritär. Einen, wie der Knecht Matti, meint Puntila spontan, um den Vorschlag bald zurückzunehmen, sobald er wieder an die wirtschaftliche Lage des Gutes denkt. Die menschlichen Bestrebungen geraten gleich in Vergessenheit, Eva ist wieder funktionelles Mittel zur Erhaltung des gesellschaftlichen
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Standes. Es kommt erneut zu zornigen Vater-Tochter Zwisten, wobei Eva nie klein beigibt, sie möchte vor dem väterlichen Willen nicht kapitulieren. Anspruchsvoller sind für Eva die Auseinandersetzungen mit dem Knecht. Ihm gegenüber spielt sie immer die junge, kapriziöse Herrin, doch der Mattichor ist ein unbarmherziger Gegner. Jedes Gespräch spitzt sich zu einem immer lauter werdenden Wortgefecht zu, die Rollenhierarchie schwankt, der Mattichor bedrängt Eva körperlich, er tut alles, um sie in Verlegenheit zu bringen, sie zu verunsichern. Sie kann sich verbal gut gegen die Angriffe verteidigen, kommt gegen die Wucht des aufständischen Knechtes an und fühlt sich gleichzeitig gerade von diesem rebellischen Geist angezogen. Der herausfordernde Kampf reizt sie und regt sie sogar an, ihre Sexualität als Waffe einzusetzen. Nachdem die Perplexität bezüglich des gemeinsamen Besuchs des Badehauses überwunden ist, ergreift sie sogar selber die Initiative, eine Gelegenheit für eine physische Annäherung zu planen. Hinter der Bitte, sie zum Krebse fangen zu begleiten, verbirgt sich eine durchschaubare und vielleicht nicht ganz durchdachte Avance. Denn Eva spielt mit dem Feuer, sie ahnt nicht, wie gefährlich ein solches Machtspiel werden kann. Eva im Ballkleid und der Chor der Mattis können es einfach nicht lassen, sich gegenseitig anzubrüllen, wieder einmal steht die Zweckheirat Evas im Mittelpunkt: Matti, der sich früher über den Attaché lustig gemacht hatte, rät der Gutsbesitzertocher nun herabwürdigend, sich doch mit dem Weichei zu vermählen, als gäbe es sowieso keine Alternative, als wäre sie auch nichts Besseres. Eva bleibt konsequent, ganz entschlossen verkündet sie: „Ich heirate den Attaché NICHT. Ich heirate Sie!“. Voller Entsetzen springen die Mattis auf, versuchen dem Mädel klarzumachen, dass es keine gute Idee wäre, daraufhin lockt sie ihn mit der Aussicht, die erstrebte Herrschaftsposition erlangen zu können, und spielt mit dem Gedanken, seine Braut zu werden: „Ich kann mir’s vorstellen, wie sie eine Frau behandeln würden“ deklamiert Eva ostentativ. Hier ist für Schleef der richtige Zeitpunkt gekommen, um klarzustellen, wer der Stärkste ist: Eva soll eine praktische Demonstration ihrer Vorstellung bekommen. Über zehn Minuten lang wird sie in Schach gehalten, die neun Mattis vergewaltigen sie auf brutale Art, einer nach dem anderen, in aller Ruhe, fast im Zeitlupentempo. Anfangs steht Puntila symbolisch auf der Bühne, Eva hält sich an seiner Hand fest, sucht Geborgenheit zumindest bei ihrem Vater, doch dieser überlässt sie ihrem Schänder, die Zugehörigkeit zum Männerbund ist wohl stärker als die Liebe zur eigenen Tochter. Frau ist Frau, da gibt es keine Ausnahmen, und wer eine gewisse Provokationsschwelle überschreitet, wird bestraft, zurechtgewiesen, denn die männliche Herrschaft darf auf keinen Fall destabilisiert werden. Nachdem die Mattis sich
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ausgetobt haben und erschöpft zu Boden sinken, steht Eva wieder auf, als wäre der grausame Missbrauchsakt nur ein böser Traum gewesen oder so eine Art Zeitfenster, wie sie im Film üblich sind. Als hätte Mattis Frage „haben’s nachgedacht darüber“ die Zeit angehalten und dadurch einen Raum für Imagination geöffnet, in dem die Darsteller für einen Augenblick geheime Hirngespinste ausleben können und sich im Voraus mit den schlimmsten Konsequenzen ihrer Aktionen konfrontieren können, um dann vielleicht ausgewogener mit der Realität umzugehen, in die sie schlagartig wieder hineinstolpern. Eva richtet ihr virginales Tüllkleid, zeigt sich weiterhin in ihrer stolzen Haltung und antwortet ganz gelassen, dass sie natürlich nicht länger darüber nachgedacht habe, als hätte sie den ganzen Tag nichts Besseres zu tun. Doch das Schlimmste muss noch kommen. Bei der in eine Badehausorgie ausgearteten Verlobungsfeier verbannt Puntila den untauglichen Bräutigam doch noch vom Gut und durchdenkt erneut die alternative Vermählung mit dem Chauffeur. Nachdem er sich erkundigt hat, ob dieser auch in der Lage ist, seine ehelichen Pflichten gut einzuhalten, und Eva sich bereit erklärt hat, sich auf die Bedürfnisse eines Chauffeurs einzustellen, soll dieser sie so skrupellos examinieren, wie er es für nötig hält. Mit einem Szenenwechsel erscheint der Parsifaltisch wieder auf der Bühne, umringt von den in rot gekleideten Juroren. Eva liegt in der Mitte des Tisches wie ein Stück Vieh auf dem Opferaltar. Sie soll über ihre hausfraulichen Tugenden ausgefragt werden, die einzigen, die an einer Frau zu schätzen sind und ohne die sie gänzlich zwecklos ist. Kochen, flicken, ihren Mund halten, bedingungslos dienen: So lauten die Aufgaben, die Proben, denen Eva ausgesetzt wird und trotz ihrer Bereitwilligkeit nicht absolvieren kann. Treuherzig sagt sie sich bereit, einmal die Woche Hering zu essen, woraufhin der Jurorenchor ihr vorwirft, Mattis Mutter würde den „Belag des armen Volkes“, der hier gelobt wird, als würden sie das Vaterunser beten, auch fünfmal essen. Als Eva bestätigt, dass sie aus Liebe Mattis Socken flicken würde, wird ihr ein schlechtes Gewissen gemacht, weil das Flicken keine romantische Bedeutung hat, sondern aus reinen Sparsamkeitsgründen benötigt wird. Es wird klar, dass Eva keine Chance hat, was auch immer sie tut, wird sie von dem Jurorenchor zurechtgewiesen und angeschrien. Allmählich verliert Eva ihr anfängliches Selbstvertrauen, der ehemalige sichere, positive Ton ihrer Stimme, wird nun von einer steigernden Unsicherheit und Trübsal verdunkelt. Um sich widerspruchlos den absurden und tückischen Forderungen anzupassen, ist sie, ungewollt, zu emanzipiert. Der ungezwungene Unternehmungsgeist ist ein Zeichen einer fehlerhaften Erziehung, ihres stark individualisierten Charakters, eines natürlichen Selbstbewusstseins, der gegen den männlichen Anspruch prallt, sodass ihm nie widersprochen wird. Puntila sagt sich enttäuscht
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von Eva; bestätigt, dass sie durchs Examen gefallen sei und verkennt sie als seine Tochter, sie solle das Gut verlassen. Eva bestätigt sich als „Furchtzentrum“308 und gehört vernichtet. Brechts Urfassung folgend, inszeniert Schleef ein exemplarisches Opferritual, womit die männlichen Hauptfiguren versuchen, ihre Angst vor der weiblichen Oberhand zu exorzisieren und sich somit in ihrer erbärmlichen Niedrigkeit offenbaren. Als Ausgleich zu der intellektuellen sowie menschlichen Unangemessenheit schließen sich die Männer zu einem Bund, dessen Bindemittel das Einverständnis zur Gewaltausübung ist. So mutig Eva auch versucht, den wiederholten Erniedrigungen standzuhalten, merkt man ihr die zunehmende Resignation an. Hier, in einem schlichten, weißen, ihre Unschuld widerspiegelnden Nachthemd, liegt sie auf dem Tisch und zeigt sich letztendlich in ihrer eigentlichen Verletzlichkeit. Eva fällt zur tiefsten Enttäuschung Puntilas durch die Prüfung durch, sie gibt auf. Der Opfertisch hebt sich vertikal, bildet eine Schräge, über die Eva wehrlos auf den Boden rutscht, in die Arme ihres Vaters, der sie verraten hat. Wie die Hauptdarstellerin Jutta Hoffmann im Gespräch mit Alexander Kluge sagt309, erfolgt in Schleefs Inszenierung der Versuch, Eva, also die Frau, in den zentralen Konflikt zurückzubringen, doch gegen eine so verwurzelte Unterdrückungspolitik scheint das Theater auch nicht ankommen zu können. Sogar die letzte Ansprache der durchgehend herrischen Martha, die in der endgültigen Druckfassung des brechtschen Stückes gänzlich gestrichen wird 310, muss scheitern. Diese hat tagelang geschwiegen, um erst einmal das im Gut eingetretene Chaos zu kodifizieren, nun will sie nicht mehr schweigen und beschimpft Puntila heftig. Die Eindringlichkeit Mattis äußert sie als Bedrohung für das friedliche Leben auf dem Gut, denn seit seiner Ankunft, sei nur Schlechtes passiert. Sie ist über 20 Jahre am Gut und stellt nun ihren Herrn vor eine Wahl: Sie oder der Knecht. Puntila geht vor ihr auf die Knie, auch optisch wird seine Unterwürfigkeit Martha gegenüber sichtbar, die Stimme ist plötzlich zerbrechlich, es scheint nicht viel übriggeblieben von dem Brüllen, wodurch er sich drei Stunden lang profiliert hat. Wie ein Kind vor der wütenden Mutter wird Schleef/Puntila plötzlich ganz gehorsam und fügsam, er wählt Martha und verkündet sogar, mit dem Alkohol aufhören zu wollen: „Wie konnten wir sowas auf dem Gut nur dulden“, fragt er wie von Himmel gefallen. „Weil sie schwach sind“ antwortet sie. Er, der bis dahin nur geschrien hat, geht nun fassungslos über die Bühne, wiederholt mehrmals über sich selbst klagend: „Schwach, schwach, schwach“. Dann aber reißt er sich zusammen, er kann sich sowas nicht gefallen lassen, schon gar nicht von einer Frau: Er greift erneut zur Flasche und ruft Matti wieder zu sich. Ihm will er
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das Gehalt erhöhen, mit ihm will er auf den Hatelmaberg steigen. Hannah ist besiegt. Sie hat bis zum Schluss gekämpft. Genauso wie Eva, die nun vom Gerichtstisch in die Arme ihres Vaters rutscht. Reglos, ohnmächtig. Die Frauen werden vom Gut gejagt, was bleibt, ist der Männerbund. Der nur erhalten bleiben kann, wenn er den weiblichen Feind ausschließt. Fazit Bei näherer Betrachtung dieser Inszenierungsarbeiten fällt eine grundsätzliche Gemeinsamkeit auf: Abgesehen von den verschiedenen Handlungen, führt Schleef jede Situation auf die notwendige Opferung der Frauenfiguren zurück. Adelheid, Grete, Helene und Eva werden direkt oder indirekt der Aburteilung einer Männergemeinschaft unterstellt, die sie zähmen will, und deren Sentenz bereits im Voraus gefallen ist. Jede auf ihre eigene Art ersehnen diese Frauen eine selbstbestimmte Existenz, und als Elemente, die für die bestehende Ordnung eine Gefährdung darstellen, werden sie bestraft. So sehr sie auch kämpfen und schreien, um sich gegen das von der männlich orientierten Gesellschaft entschiedene Schicksal zu wehren, gehen zum Schluss alle vier als Opfer unter. Wie bereits erwähnt, macht Schleef auch deutlich, wie labil die Grenze zwischen Opferung und Selbstopferung ist, da der Tod in beiden Fällen eine unumgängliche Konsequenz weiblichen Benehmens ist. Das Scheitern jedes Emanzipationsversuches ist prädeterminiert und sieht keine Abweichung vom Muster vor. Die vereinzelten Frauenfiguren, die mit voller Wucht gegen den im Reservat des Weiblichen Gefangenenzustand aufschreien, um den vorgegebenen Verhaltenskodex bzw. einen Ästhetikkanon zu brechen, gehen bewusst der Unterdrückung entgegen. Der sichere Tod wird sogar zu einer begehrenswerten Perspektive, worin der einzige Fluchtweg aus einer entindividualisierten, entwerteten Existenz gesehen wird. Obwohl die Akzeptanz der Selbstopferung zwar keine Überlebensaussicht öffnen kann, befreit sie dennoch, zumindest innerlich, von der Gefangenschaft einer willkürlichen, geschlechtlichen Kategorisierung und bedeutet somit eine Auflösung für das weibliche Dasein. Mit diesen Prämissen wird im folgenden Kapitel auf die Inszenierung Ein Sportstück nach dem Text von Elfriede Jelinek eingegangen. Diese Regiearbeit gab Einar Schleef die Möglichkeit, sich mit verschiedenen weiblichen Figuren auseinanderzusetzen und in einer einzigen Aufführung alle bereits thematisierten Weiblichkeitsmuster und Selbstbehauptungsversuche zusammenzubringen und erneut zu erläutern. Es soll gezeigt werden, wie für eine gewisse Zeit innerhalb der Vorstellungsdauer die Hoffnung auf eine weibliche Revanche erweckt wird,
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die von der Erlösung in absentia, also im Tod, im Nichtsein, differiert, und endlich eine Behauptung in Positivum zu ermöglichen scheint. Wie diese Erwartung erneut demontiert wird und Desillusion generiert, soll noch ergründet werden.
Ein Sportstück. Versuch einer scheiternden Utopie
JELINEKS STÜCK ALS FREIE ARBEITSFLÄCHE FÜR DIE INSZENIERUNG Beim Lesen von Elfriede Jelineks Sportstück fällt sofort eine starke thematische Verbindung mit Droge Faust Parsifal auf, fast als hätte Jelinek ein Theaterstück schreiben wollen, worin alle für Schleef wichtigen Themen hineinfließen können, und Schleef somit die Möglichkeit geben wollen, die formulierten Ideen über Theater und Gesellschaft vollständig auf die Bühne bringen zu können. Nicht, dass er sich in den früheren Arbeiten zurückgehalten hätte, doch hatte er die vorgegebene Handlung in großen Zügen respektieren müssen. Ein Sportstück hingegen bietet sich als Kondensat der schleefschen Theater-Theorie und -Ästhetik an und überlässt dem Regisseur, allein schon durch die ausdrücklich nicht streng zu folgenden „Regieanweisungen“ und die breitgefächerte, viele Anstöße öffnende Ausgangsform, eine vollkommene Interpretations- und Inszenierungsfreiheit. Es erscheint also kein Wunder, dass Jelinek sich ausgesprochen die Zusammenarbeit mit Schleef wünschte, dem sie als Theatermacher blind vertraute, wie aus ihrer Totennachrede für Schleef311 sehr klar hervorgeht. Schleef seinerseits bemerkte, wie Jelineks Stück und sein Essay im Stoff „fast identisch“312 seien und ließ sich natürlich kein zweites Mal bitten: Er nutzte diese Gelegenheit, um all die im Laufe der Jahre berührten Themen in einer einzigen Arbeit zusammenzuführen und dem bis dahin entworfenen ästhetischen Kanon eine einheitliche Form zu geben. So finden hier die zwei wichtigsten Überlegungspole der schleefschen Arbeit einen großen Entfaltungsraum: Chor und Frauenfigur sind die eigentlichen Schwerpunkte des Sportstückes. Der Chor wird als grausame Konsequenz des ausgearteten Massenzeitalters dargestellt, das sich um das zerstörerische Massenphänomen des Sports dreht; die Figur der Frau stellt sich als immer gültiges
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Opfer einer männlichen Gewaltherrschaft heraus, gegen die sie verschiedene Emanzipationsversuche tätigt. In beiden Fällen geht es um Beobachtung und Ausstellung von Machtverhältnissen, die scheinbar unlösbare Konflikte ständig ernähren: Der Konflikt zwischen Masse und Individuum auf einer Seite und der zwischen Mann und Frau auf der anderen. Innerhalb dieses breiten Rahmens werden dann auch weitere Themen berührt, die in DFP wiederzufinden sind: Die unterschiedlichen Beziehungen zur Mutter und zum Vater, ausgehend vom Elektra-Mythos und der darauffolgende Matrizid; strafbare Individualisierungsprozesse, die über die Ausstoßung bzw., im feministischen Sinne, der Kastration der Mutter folgen; die Inexistenz des einzelnen Subjekts, der in der anonymen Masse untergeht; die Ausstoßung der Frau aus dem Zentrum der tragischen Aktion und die Verbannung ins Reservat des Weiblichen; Ausbruchsversuche aus demselben Reservat und die unrealisierbare Durchsetzung eines der symbolischen Ordnung des Mannes313 alternativen Regierungssystems. Neben der Wiedereinführung der ElektraFigur, die nach Schleef für das Schicksal der Tragödie so ausschlaggebend war, greift Jelinek auch auf weiteren mythischen Stoff zurück, der sich für die Problematisierung von Geschlechterkämpfen höchst funktionell erweist, und zitiert den von der Amazonenkönigin Penthesilea gegründeten Frauenstaat. Beide Stimuli wird Schleef aufnehmen und sogar steigern, indem er in seine Inszenierung längere Zitate aus Kleists Penthesilea und Hofmannsthals Elektra einbaut314. Alle anderen Bezüge entnimmt Jelinek der Tageschronik, den Verbrechensund Unfallmeldungen, der Sportchronik, den Klatschspalten. Das österreichische Fernsehen, sowie die Tageszeitungen und Magazine bieten der Autorin eine schöpferische Fundgrube, aus der sie unzählige Beispiele herauszieht, die der Offenbarung ihrer Weltanschauung dienen. Ohne groß über die Degenerierung der menschlichen Verhältnisse zu argumentieren – die Jelinek ja besonders in der ihr vertrauten österreichischen Gesellschaft wiederholt beobachtet und denunziert hat – lässt die Autorin hier die Ereignisse für sich sprechen, und fügt immer wieder unterschwellige Kommentare ein, die in ihrer überspitzten Ironie die Ernsthaftigkeit der sich inzwischen normalisierten Problematiken enthüllen. So werden in Sportstück besonders Episoden aus der Intellekt verschlingenden Sportwelt erzählt, zuallererst das Schicksal des österreichischen Bodybuilders Andreas Münzer, der, um sein Vorbild Arnold Schwarzenegger nachzuahmen, so viele Anabolika schluckte, dass er daran starb. Es wird von einem Schiunglück berichtet, bei dem die Mitläufer des Verunglückten nur kurz ein gezwungenes Mitgefühl vortäuschten, um dann am Nachmittag gleich wieder in die Lifte zu steigen und „ihren Urlaub noch bis zum letzten ausnützen“ (SP/69) – dagegen kann keine Trauer mithalten. Außerdem wird zynisch mit den Taten der
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Serienmörderin Elfriede Blauenmeister aufgetrumpft und auf die Tragödie des Balkankriegs hingedeutet, um die gleich danach erwähnten hauswirtschaftlichen Konflikte in ihrer paradoxen Sinnlosigkeit auszustellen. Eine wesentliche Relevanz wird auch der Abhängigkeit von der Fernsehkiste zugeschrieben, die die gesellschaftlichen Beziehungen und die Weltwahrnehmung steuert und dazu beiträgt, dass Sportler und Models als gegenwärtige Anhaltspunkte angehimmelt und erfolgslos nachgeahmt werden. Jelinek greift also auf Alltagsgeschehnisse zurück, um ihr Bedenken bezüglich der grauenvollen Dynamiken, die die heutige Gesellschaft bestimmen, auf den Punkt zu bringen – dieselben Dynamiken, die Schleef in seinen Theaterarbeiten mehrmals geschildert und in Droge Faust Parsifal entwickelt hat. Wie aus einem Einblick in das Archivmaterial herausgeht, war Schleefs dramaturgische Vorbereitung auch in diesem Fall sehr akribisch315; neben der detaillierten Arbeit am Text recherchierte er über die von Jelinek zitierten Episoden und sammelte dazu Zeitungsartikel, speziell Bodybuilding Magazine, sowie einige Illustrierte, auf denen große bunte Bilder von halbnackten Frauen erscheinen. Ausgehend von einer genauen Vorstellung der gemeinten Charaktere konnte er diese dann in der für seine Theaterästhetik typischen deformierten Form gestalten. Weder die Autorin noch der Regisseur hätten ahnen können, dass Sportstück eigentlich Schleefs letzte große Inszenierung sein sollte, da er knapp drei Jahre später in Berlin, während der Proben an Jelineks für ihn geschriebenen Stück Macht Nichts – eine kleine Trilogie des Todes erkrankte und wenige Monate später starb. Somit erwies sich die Inszenierung am Burgtheater unabsichtlich als eine Art Summa der schleefschen Weltanschauung und Gestaltungsraum seiner theatralen Überzeugungen. Welche Themen genau von Jelinek angesprochen werden und wie Schleef diese auf der Bühne umsetzte, soll in den folgenden Abschnitten tiefgründiger erläutert werden.
JENSEITS DER HANDLUNG ZU POST-PROTAGONISTISCHEN FIGUREN Was die Form von Jelineks Stück angeht, fällt sofort die Überschreitung von wesentlichsten Kriterien des traditionellen Theaters auf. Nicht nur gibt es keine Aufteilung in Akte und Szenen mehr, sondern auch keinen logischen Ablauf der Geschehnisse, was es unmöglich macht, eine richtige Handlung zu erkennen, die es „eh“ nicht gibt (SP/7), sondern nur thematische Linien, die im Laufe des Stückes öfters wiederaufgenommen und entwickelt werden. Jelinek bietet auch keine wirklichen Dialoge, sondern eher monologische Textblöcke, die einem Be-
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wusstseinsstrom ähneln, die auch nicht unbedingt an den vorherigen Beitrag anknüpfen, sondern einfach für sich stehen, gewisse Themen einführen und ansprechen, ohne einen einheitlichen Diskurs zu bilden316. Jelinek scheint es eher darum zu gehen, eine Fläche für gewisse Problematiken zu schaffen, und die Form des Theaterstückes dient ihr dabei als reiner Vorwand, um dem Stoff an die Öffentlichkeit zu bringen, ohne es direkt als politisches Pamphlet oder Essay wirken zu lassen. Auffallend ist auch die NichtIdentität der verschiedenen Charaktere, die eng genommen gar keine sind, also die Abwesenheit von dramatis personae, die Jelineks Theater zu einem „postprotagonistischen“317 machen. Und diese Absicht ist im Grunde Jelineks Theaterkonzept nicht neu, denn wie bereits früheren Beiträgen zu entnehmen ist, formulierte sie wiederholt die Austauschbarkeit von Personen und Sprechern auf der Bühne: Wer kann schon sagen, welche Figuren im Theater ein Sprechen vollziehen sollen? Ich lasse beliebig viele gegeneinander antreten, aber wer ist wer? Ich kenne diese Leute ja nicht! Jeder kann ein anderer sein und von einem Dritten dargestellt werden, der mit einem Vierten identisch ist, ohne daß es jemandem auffiele. Sagt ein Mann. Sagt die Frau. 318
Wie bereits in der Anweisung zu Beginn des Stückes klargestellt wird, sollen die Theatermacher mit dem Stoff umgehen, wie sie wollen, das einzige, worauf bestanden wird, „was unbedingt sein muß, ist: Griechische Chöre“ (SP/7) und Sportkleidung, die von den Massen sowie von den einzelnen Darstellern getragen werden soll. Chor ist die einzige unverzichtbare Komponente, alles andere kann so verkörpert werden, wie der Regisseur will319. Und die Tatsache, dass jede Figur im Grunde auch von verschiedenen Darstellern gesprochen, bzw. jeder Einsatz beliebig gespalten, getrennt oder verwechselt werden kann, ermöglicht es Schleef, willkürlicher als sonst mit Chorgestalten und Gender zu spielen – er ist diesmal quasi dazu autorisiert. Und Jelinek überlässt ihm diese Freiheit wohlwissend, dass er bedenkenlos damit umgehen, alle Grenzen überschreiten wird, denn gerade diese Eigenschaft weiß sie an Schleefs Arbeitsvorgang besonders zu schätzen. Wenn sie den eigenen Schreibprozess beschreibt, gesteht sie, immer auf einen kompositorischen Ausgleich zu achten: Dort wo sie stellenweise mit Pathos handelt, muss sie auch den Mut zur niedrigsten Trivialität haben, um, wie in einem Musikstück, die Balance zwischen langsamen und schnellen Tempi einzuhalten320. Auf Grund dieses Kompensationsbedürfnisses bleibt ihr Schreiben auch immer ironisch, sogar bei der Behandlung von höchst dramatischen Themen wird ein gewisser Abstand, eine gewisse Kühle bewahrt, die kein Überlaufen ins Pathetische ermög-
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licht. Jelinek schildert hierin die eigene vorsichtige Haltung gegenüber den Exzessen, und vertraut sich dabei Schleef an, der hingegen „die Größe“ 321 nicht scheut. Die nicht-protagonistischen, in ihrem Begrenzt-Sein beinahe flüssige Stimmen in Jelineks Stück können grob in zwei Gruppen aufgeteilt werden 322: Diejenigen, die noch eine subtile individuelle Kennzeichnung behalten und die, die bereits vollkommen anonym und identitätslos sind. Zur ersten gehören die alte Frau und ihr verstorbener Sohn Andi, die Witwe, Achill und Hektor und gewissermaßen auch Elfi-Elektra, die sich aber als vereinigender Körper für verschiedene Personen bietet: In ihr ist zum Teil die Autorin selbst zu erkennen, sowie natürlich die mythische Figur der Elektra, und weitere namenlose Identitäten, die sich unter derselben Denomination einschließen lassen: So könne in Elfi-Elektra auch problemlos die Zeilen der „Frau“ und der „Autorin“ zusammenfließen und sich überlappen323. Zu der zweiten Gruppe gehören Überschriften wie „ein Mann“, „Anderer“, „Andere“, „Opfer“, „Täter“, „ein Taucher“, deren Texte „von Männerstimmen irgendwie gesprochen“ (SP/17) werden sollten, wie die Autorin vorschlägt, um den Hinweis gleich wieder zurückzunehmen, da ihr jede Aufführungslösung recht sei. Jelinek stellt klar, dass in ihrem Stück keine abgegrenzten Protagonisten auftreten, sie deutet eher Möglichkeiten einer Textaufteilung an, damit nicht alles von demselben Darsteller vorgetragen wird, wobei das letztendlich Aufgabe des Regisseurs sei. Dennoch mischt sich die Autorin nonchalant immer wieder ein, lässt ihre Inszenierungsvorstellungen zu einer gewissen Szene durchscheinen, besonders bezüglich der Interaktion von Chor und Chorführer, die sich abwechseln können, oder sich gegenseitig nachsprechen, bestimmte Passagen wiederholen und betonen. Kurz bevor ihr Wort zu dominant wird, widerruft sie die eigenen Anweisungen erneut, denn man könne es ja „auch ganz anders machen“ (SP 17). Ein Sportstück bietet sich also als geschmeidige Sprach- und Handlungsfläche. Zu den wesentlichsten Themen, die in den nächsten Seiten in Betracht genommen werden sollen, gehören der Sport und der Körperkult als Metapher der gegenwärtigen Massengesellschaft, die Gegenüberstellung von Chor und Individuum, die Überlegung zur Rolle der Autorschaft und die damit verbundene Möglichkeit eines weiblichen Sprechens, sowie der unüberwindbare Geschlechterkampf.
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Massenphänomene der medialen Welt und das Schwinden des Individuums In ihrem Anfangsmonolog verkündet Elfi-Elektra mit dem Ausruf „Endlich Ruhe“ (SP/8), die Aufhebung des über dem Geschlecht der Atriden liegenden Fluches, was ihr ermöglicht, sich nun auf ein neues Objekt des Interesses zu konzentrieren. Im Einklang mit der Autorin versetzt sie ihre Aufmerksamkeit auf das „Verhalten der Massen“ (SP/8), die im selben Tempo wie ferngesteuert ihre „Sportgeräte ergreifen“, und beobachtet fasziniert, wie die Menschen in dieser neuen Phase „Nichts als Sport und Sport und wieder Sport in den Köpfen“ (SP/13) haben. Mit weniger Faszination äußert sich Jelinek diesbezüglich in einem Interview, in dem sie ihren „Haß auf den Sport“ erklärt, der sich nicht auf Sport als solchen bezieht, sondern auf „Massenphänomene und Gewalt. Es geht um Vergötzung von Körperkräften und Verachtung intellektuellen oder künstlerischen Tätigkeit“324. Indem sie den Sport als roten Faden ihres Stückes wählt, will sie dessen Zentralität innerhalb der modernen Gesellschaft denunzieren und die Lächerlichkeit dieses weltweit verbreiteten Unterhaltungsapparates hervorheben: „Es geht darum, daß der Sport als Organisationsform der größten Banalität auf das Höchste trifft, das es gibt: Antike Tragödie.“ 325 Hiermit deutet Jelinek auf das verlorengegangene noble Element des Agons im Gegensatz zu der heutigen Sportkonzeption, in der sie nur noch eine destruktive Aggression erblickt 326. Diese Äußerung erinnert wiederum an Roland Barthes Worte bezüglich Sport und Theater: Der Sport weckt nur eine Moral der Kraft, während das Theater von Aischylos (Die Orestie) oder Sophokles (Antigone) sein Publikum zu einer richtiggehenden politischen Rührung veranlaßte und dazu bewog, den Menschen zu beweinen, der in der Tyrannei einer barbarischen Religion oder eines unmenschlichen bürgerlichen Gesetztes verstrickt ist. 327
Im Gegensatz zu den antiken Figuren, die heroisch für die Behauptung ihrer Individualität kämpften und in der Konfrontation mit dem eigenen Schicksal tragisch zugrunde gehen mussten, verzichten die modernen Individuen freiwillig auf ihre Identität und schlüpfen sogar gerne in „ihre Uniformen, die Sportdressen“ (SP/9), worunter jede Einmaligkeit kaschiert wird. Um es mit Schleef zu sagen, geht uniformierte Kleidung Hand in Hand mit uniformiertem Denken 328, was den Einzelnen den trügerischen Eindruck von Geborgenheit verleiht und den Regierenden reichlichen Freiraum öffnet, um über die ersten, die nun „wie Soldaten“ (SP/9) gehorchen, zu entscheiden. Somit wird die im Laufe des Stücks
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mehrmals wiederholte Gleichung (Sportler : Soldaten = Sport : Krieg) formuliert. Wobei, wenn der Sport als moderne Form von Krieg verstanden wird, zwangsläufig ein erschreckender Wertverlust eklatant auffällt. Denn die Inhaltslosigkeit des Phänomens „Sport“ ist Spiegel einer Gesellschaft, in der keine Inhalte mehr erwünscht sind, in der es nur noch um Aussehen und körperliche Kraft gehen soll. Und als Projektionsfläche der neuen Unwerte eignet sich das Fernsehen optimal. Der sprechenden Kiste wird mit derselben Aufmerksamkeit zugehört wie einem Orakel; die über sie ausgestrahlten Bilder werden innerhalb kürzester Zeit zu Vorbildern. Das Fernsehen manövriert das zeitgenössische Wahrnehmungsvermögen und verbreitet Richtlinien, denen die hypnotisierten Zuschauer widerstandslos folgen. Es setzt sich als Maßstab von neuen Prioritäten durch und belohnt die besonders Würdigen mittels dem auch nur kurzem Erscheinen in der einzig bedeutenden Daseinsdimension: Der Bildschirm. Die entscheidenden Kriterien, die den Einlass versichern, lauten Tod-sein für den Mann oder Nackt-sein für die Frau. Wobei das einfache Sterben noch keine Existenzlegitimierung ist, denn dass die Geschichte viel mehr Schlachtfeld als Geburtsklinik (SP/122) ist, dürfte nicht überraschen. Ihr niemanden schonender Zyklus wird als selbstverständlich hingenommen: „Unsere Söhne werden tote Körper sein, unsere Töchter werden uns plötzlich aus Hauseingängen entgegentreten, bleich wie Papierservietten, weil sie beim Modelcontest nicht beachtet worden sein werden“ (SP/122). Was diese Tode bzw. die Teilnahme an Schönheitswettbewerben erwähnenswert macht, ist das Im-Fernsehen-übertragenwerden. Und die Trauer steigert sich proportional zu den Auftritten, sodass die gewöhnlichen Sterblichen in Vergessenheit geraten und „die toten Stars“ (SP/123) vermisst werden. Das Fernsehen wäre also die Entität, die das soziale Leben im Zeitalter der Medialisierung regelt und dafür sorgt, der Verbreitung und Verankerung der modernen Sportreligion einen fruchtbaren Boden zu schaffen. Zugleich optimale Voraussetzung für und Konsequenz von dieser Medialisierung ist wiederum der Prozess der Massifizierung, wodurch selbstständig Denkende verwiesen und die sich lieber lenken Lassenden zur Vergötterung bestimmter Ikonen bewegt werden. In einer solch leicht manipulierbaren Gesellschaft lassen sich immer mehr Anhänger gewinnen, denen die Illusion gegeben wird, weiterhin ihre Meinung äußern zu dürfen. Doch die Aufforderung, sich an den öffentlichen Debatten zu beteiligen und vielleicht sogar irgendeine Veränderung dadurch zu bewirken, ist rein rhetorisch-politische Strategie, um bei den Umfragen konstant in der führenden Position zu bleiben. Die geschmeichelten Unterstützer werden bald zurechtgewiesen:
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Mit ausgesprochen schadenfrohem Ton wird ihnen klargemacht, dass diese von Medien gesteuerte Gesellschaft in Wahrheit kein Interesse an den Ansichten einzelner Menschen hat (SP/70). Diese Rücksichtslosigkeit scheint dennoch niemanden weiter zu stören, solange jeder die Spiele seines Lieblingsteams verfolgen kann. Diese leicht zufrieden zu stellende Masse erweist sich also als idealer Adressat des Fernsehprogramms. Es ist eben derjenige Chor, auf den bei der Inszenierung des Stückes auf ausdrücklichen Wunsch der Autorin nicht verzichtet werden darf. An dieser Stelle muss auf den intertextuellen Bezug auf Canettis Masse und Macht aufmerksam gemacht werden, der sich besonders im Wortwechsel zwischen Achill und Hektor herausstellt. Dieser erweist sich als Sprachfläche für die Thematisierung von wesentlichen Konzepten, die Canettis Werk zugrunde liegen: Jelinek geht auf die Bildung einer Masse und deren Eigenschaften ein, sowie auf Dynamiken und Auswirkungen von Massenphänomenen, Machtverhältnissen innerhalb der Masse und das „Überleben als Leidenschaft“ 329. Indem Canetti die Merkmale einer Masse nennt, deutet er auf das Streben nach Zugehörigkeits- und Gleichheitsgefühl hin, die durch das Zusammenhalten erreicht werden und den in der Masse untergetauchten Einzelnen eine Gewisse Selbstsicherheit verleihen, selbst wenn nur illusionär. Canetti nachhallend, wird im Sportstück verkündet: Wir haben es beim Sport mit einem Massenphänomen zu tun, unter dessen Einfluß sich Menschen anders verhalten als sie es sonst tun würden. Unter dem Einfluß des Sports fühlen sich Menschen plötzlich maßgeblich. (SP/70)
Berauscht von der vielen Bewegung fühlen sich die Menschen gleich unmittelbar ihren Idolen nahe und stehen auf einmal unter der Illusion, auf Grund des sportlichen Engagements als würdig wahrgenommen zu werden. Im Rausch können die Mitglieder dieser Masse sich kurzfristig behaupten und dann gezügelt werden, indem sie mit immer unerreichbaren Vorbildern konfrontiert werden, denen sie sich anpassen, die sie anhimmeln und in gewisser Weise sogar fürchten sollen. Denn nicht jeder kann Weltmeister oder Topmodel werden, und der Durchschnitt muss sich zufriedengeben. Vielen genügt es, die Sportereignisse auf dem Bildschirm zu verfolgen, ohne sich jemals aktiv in einer Disziplin zu versuchen: „Wir haben zwar immer Formel I-Rennen geschaut, ohne je einen eigenen Führerschein besessen zu haben“ (SP/60). Andere hingegen lassen sich in den Sog der Endorphine hineinziehen und halten das tägliche Trainingsprogramm ein, wie ein Ritual. So kommt es, dass man die Freizeit nützt, um „freiwillig ins Fit-
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nessclub“ zu gehen und sich dort kneten und knechten zu lassen (SP/127). Die Körper werden so gedrillt, bis das Bedürfnis nach intellektueller Betätigung verschwindet und das Denken nicht mehr als wichtig empfunden wird; denn „sich zu bewegen ist viel mehr nötig“ (SP/128). Wer die persönlichen Grenzen überschreitet, wird, ähnlich wie die griechischen Helden, die Hybris begangen, mit dem Tod bestraft. So im Falle des im Text gebrachten Beispiel Andis, modelliert nach der Person des österreichischen Bodybuilders Andreas Münzer, der den Abstand zu seinem Gott Arnold Schwarzenegger einfach nicht einhält, sich immer einen Schritt weiter traut und daran zu Grunde geht. Dieser Tod wird dennoch nicht als negativ oder bedauerlich empfunden, sondern eher als Mittel zum Zweck, ein kleines Pfand, um das eigentliche Ziel zu erreichen: Ins Fernsehen kommen, sich auch nur wenige Minuten bei der Tagesschau erwerben. Die weniger Ehrgeizigen, die dem Tod eigentlich entkommen möchten, verweilen lieber in der Anonymität und schließen sich als unbedeutende Ziffer einer Mannschaft an (SP/37), in der sie eine sichere Bleibe finden. Individualisierung wird überflüssig, denn „was früher einzelne Menschen geleistet haben“ (SP/129), übernehmen heute nur noch Organisationen, die dennoch kein spontanes Zusammenlaufen anbahnen. Es handelt sich vielmehr um „Zwangsgemeinschaft“ (SP/129), der man sich mit der Hoffnung unterstellt, sich auf diese Art durch die Existenz durchschlingen zu können und die Angst vor einsamen Handeln zu überwinden oder zu verdrängen. Die erforderliche „Clubmitgliedschaft“ (SP/129) erweist sich also nicht als Übergang zu einem besseren Lebensstand, sondern vielmehr als Passierschein zu einem neutralen, sowie inhaltslosen Dahinleben, bzw. „Überleben“. Doch Hauptsache ist, nicht auffallen: „Raus aus dem Individuum und rein in die Masse“ (SP/168) lautet das Motto. In diese hineintauchen, sich in ihr auflösen, unerkennbares Teil eines Ganzen werden, dessen wesentliches Gebot die Oberflächlichkeit ist. Die sich unterscheiden wollenden Störungsfaktoren werden zurückgedrängt, wie die langweilige Elektra Elfi, die prinzipiell immer widerspricht und absichtlich der für eine Frau einzig sinnvollen Aufgabe ausweicht, nämlich Kinder zu gebären (SP/169). Masse, Sport und Fernsehen sind also die Bestandteile eines einwandfrei funktionierenden Systems, zumindest solange es eine gewisse Geschlossenheit bewahrt und von externen Angriffen verschont bleibt. Damit die mittels der Medienpropaganda rekrutierte Gemeinschaft nicht auseinanderfällt, rückt sie immer enger zusammen und schließt sich um ein Opfer herum, das für die Erhaltung der Einheit ausgestoßen werden muss330. Als Objekte dieser wiederholten Opferungen bieten sich generell alle Andersdenkende an, doch am besten eignet sich
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dafür das sowieso verachtete, für schwächer gehaltene Geschöpf: Die Frau. Mit dieser als selbstverständlich geltenden Tatsache wird im Sportstück sogar noch sadistisch ironisiert: „Was, unser Opfer sollte gar eine Frau gewesen sein? Haben wir gar nicht bemerkt!“ (SP/156), lautet die rhetorische Frage einer x-beliebigen Männerstimme. Um die Frau noch endgültig zu vernichten, wird verachtend hinzugefügt, dass sie der Opferung eigentlich gar nicht wert ist, denn Frauen wären „nichtssagend, könnten wir nicht über sie lesen, daß jemand ein Loch in sie gebohrt hat, um sein eigenes Bild an sie oder meinetwegen irgendeine andre zu hängen“ (SP/66). Wenn die Mediengesellschaft generell nur das, was in den Nachrichten vorkommt, für wichtig verkauft, wird die weibliche Auftrittsmöglichkeit unter den Schlagzeilen auf ihren verstümmelten Körper beschränkt – somit wird das Geschöpf Frau in der niedrigsten Ebene der Existenzskala eingestuft. Die zwiespältige Rolle der Mutter Das eben erläuterte verheerende Wertsystem lässt der Frau nur zwei Auswege, um der völligen Herabwürdigung zu entkommen: Das Glück einer natürlichen Schönheit zu haben oder den Weg der Mutterschaft einzuschlagen. Wobei diese einzig gebräuchliche Funktion auch nur dann zu schätzen ist, wenn der Nachwuchs männlich ist. Man möchte glatt eine Frau sein oder es bleiben, äh, es bleiben lassen, um zum Beispiel einen von diesen feschen modernen Zehnkämpfern dort drüben geboren zu haben. (SP/44)
Diese selbsterniedrigende Äußerung deutet historisierend auf die männlich gesteuerte Durchschlagskraft hin, wodurch sich die Überzeugung der eigenen Minderwertigkeit unter dem weiblichen Geschlecht verbreitet und dazu geführt hat, dass Frauen sich selbst nur als Brutkästen für weitere zukünftige Männer verstehen. Doch auch denjenigen Frauen gegenüber, die ihre gebärende Aufgabe erfüllen, zeigt die Gesellschaft kein unkompliziertes Verhalten. Mütter werden zwar geduldet, doch die Beziehung zu ihnen ist immer konfliktgeladen. Dieses Thema wird bereits anfangs des Stückes vom Chor angesprochen, der die widersprüchliche Einstellung der Mutter hervorhebt. Auf der einen Seite hat die Frau ihren Sohn in den „Krieg des Sports geschickt“ (SP/22), auf der anderen möchte sie ihn dennoch am liebsten gleich wieder bei sich haben. Auf Grund des bereits erläuterten nicht-protagonistischen Ansatzes Jelineks verfügt diese Frau über keine Identität, sondern kann als Entwurf für eine universalisierte Frauenfi-
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gur verstanden werden, und demzufolge ist der beschriebene Charakter auf das gesamte Geschlecht übertragbar. Die Mütter lassen sich also von der Vorstellung des Ruhms verlocken und spornen die eigenen Kinder zur harten und bekanntlich lebensgefährdenden Sportkarriere an. Anfangs freuen sie sich sogar über neue Konfrontationsanlässe, mit der Erwartung, den siegenden Sohn feiern zu können: „Krieg! Krieg! Jubeln! Freuen! Frohlocken!“ (SP/43) Da es im Sportstück nicht direkt um bewaffneten Krieg geht, finden die leichtsinnigen Mütter im Sport ein alternatives Einsatzfeld, auf dem sich die Söhne verewigen oder zumindest einen Sinn in deren sonst leeres Leben bringen können, und machen sich somit für den eventuellen Tod der eigenen Nachkommen verantwortlich. Sobald den Müttern aber bewusst wird, wie gefährlich die für spielerisch gehaltene Betätigung sein kann, befehlen sie den Rückzug: „Bitte, mein Sohn, geh heute einmal ausnahmsweise nicht auf den Sportplatz! Ich bin innerlich so bang, daß ich dich nicht wiedersehe!“ (SP/17) Nun spürt sie, dass er nicht gehorchen wird, dass sie keinen Zugriff mehr auf ihn hat; sie hat ihn ahnungslos selbstständig gemacht und spürt nun, wie er ihr entgleitet. Denn der Sohn hat sich inzwischen mit aller Kraft in die Dimension des Leistungssports hineingesteigert, hat wohlmöglich erste Erfolge auf dem Sportplatz erlebt, sich mit den anderen Sportlern einer Gemeinschaft angeschlossen. Jetzt, wo er sich eine beträchtliche Position sowie das Ansehen seiner Kollegen erarbeitet hat, möchte er seinem Ruf nicht schaden, sein „selbsterzeugte(s) Mannstum“ (SP/92) nicht verunreinigen, indem er sich als Mutterbübchen den mütterlichen Wünschen fügt. „Deine Freunde spotten über meine Ängste, dich zu verlieren. Und du spottest mit ihnen“ (SP/19) klagt die Mutter und stellt somit die beim Sport entstehende Gruppendynamik aus, der die Kameraden zugehören wollen. Jelinek skizziert weiter das streitlustige Verhältnis zur Mutter, die den legitimen Selbstbestimmungsprozess des Kindes am liebsten rückgängig machen würde, um weiterhin über es entscheiden zu können. Sie ist enttäuscht über die Undankbarkeit des eigenen Sohnes, dem sie nicht nur das Leben, sondern vielmehr einen funktionsfähigen Körper gegeben hat, was in der vom Sport geregelten Welt das größte Geschenk ist. „Also der Sohn schätzt einfach nichts, was er von mir hat“ (SP/33) jammert sie weiter. Der Sohn seinerseits hat das Gefühl, die Mutter nie zufrieden stellen zu können, da diese immer mehr von ihm verlangt und somit eigentlich auf seine Vernichtung zielt „Meine Mama wird erst zufrieden sein, wenn ich ein anderer geworden sein werde, eigentlich: Keiner. Niemand mehr“ (SP/93). Dagegen muss er sich wehren und aus reinem Widerspruchsgeist macht er alles, um der Mutter Kummer zu bereiten, bis er einmal deswegen draufgehen wird. Und dann, nach
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seinem Tod, wird die Mutter ihm nachtrauern, doch wird sie dabei nur noch „unter dem Eindruck der Tragödie stehen“ (SP/18), denn die Tragödie als solche existiert ja nicht mehr. Jelinek zitiert hier eindeutig Einar Schleef, der in Droge Faust Parsifal seine starken Bedenken bezüglich des Überlebens derselben Gattung schildert, die unter der Ausstoßung von Chor und Frauenfigur leidet. Der Ausschluss aus dem Leben der Kinder generiert in den Frauen eine steigende Frustration. Obwohl sie sich selber auf Grund ihrer existenziellen Leistung als Heldinnen (SP/21) empfinden, werden sie von der Gesellschaft nicht als solche anerkannt. Ehemänner bzw. Väter sind nicht vorhanden, und so müssen Frauen sich selber um alles kümmern; trotzdem werden sie für ihre Erbringungen nicht geschätzt, sondern sogar noch von allen Seiten beschuldigt. Nur ein weitblickender Sportler in Jelineks Stück nimmt diese ständigen Erniedrigungen an den Frauen wahr und warnt vor einer möglichen Rache. Und tatsächlich wird der weibliche Konterschlag nicht lange auf sich warten lassen, die Frauen emanzipieren sich und nehmen das Lenkrad selber in die Hand – und zwar wortwörtlich, denn sie haben „längst den Führerschein gemacht“ (SP/154). Die Klagen der Frauen sollen nicht als persönliche familiäre Angelegenheiten verstanden werden, sondern gelten dem gesamten männlichen Geschlecht, das „alles erschossen, erschlagen, verbrannt“ hat (SP/110). Sie finden also den Mut zu rebellieren und verlieren dabei bald die Kontrolle über den eigenen Zorn, der nach der ewigen Verdrängung endlich freigelassen wird und wie Sprengstoff wirkt. Statt diese Wut als konstruktive Energie zu kanalisieren, zeigen die rachedurstigen Frauen dennoch eine fast sadistische Seite. So zum Beispiel erzählt die Stimme der Elfi Elektra mit distanzierter Ergebung von dem Benehmen ihre Mutter, die den erkrankten Ehemann mit deutlicher Schadenfreude in eine Klinik einliefern lässt: Da hat die Mama also meinen Papa ins Spital gebracht, seinen Verstand hat sie ihm daneben hingelegt wie die Innereien bei einem Hendl, und jetzt soll ich in ihrem Haus bis zum Schluß mit ihr zusammenleben. Ich mit meinem Packel Hirn im Tiefkühlfach. Vielleicht macht Mama Würfel draus und wirft sie ins Glas, damit endlich klare Verhältnisse zwischen uns zwei Abgebrühten herrschen. Kein Wunder, daß ich nie auftaue! (SP/173)
Elfi Elektra weist unterschwellig darauf hin, wie eine Frau, die einmal an eine führende Position gelangt ist, sich nicht durch Großherzigkeit auszeichnet, sondern den Schwächeren misshandelt. Weit von den Weiblichkeitsstandards entfernt, die mit „Freundlichkeit und Lebhaftigkeit“ (SP/113) verbunden werden, erweist sie sich also nicht anders als ihr Hauptgegner: Eine Frau an der Macht ist genauso perfide wie ein Mann. Die Gewalt ergibt sich als unmittelbare Reaktion
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auf langjährige Unterdrückungen und erinnert an die zornigen, gewalttätig werdenden Mütter, die Schleef auf der Bühne rasen ließ. Hier wie dort, fordern sie die eigenen oder die Söhne anderer zum Krieg auf und bekleiden somit neben der Rolle des Opfers zugleich auch die des Täters, sie werden zu Kriegstreiberinnen. Das Bewusstsein dieser doppelten Rolle steigert die in Jelineks Stück erwähnte Zerrissenheit, worunter die Mutter leidet, denn es stellt sich immer wieder die eine Frage: „Weshalb nur bin ich in deinen Augen auf einmal deine Feindin, wie ist das gekommen?“ (SP/20) Das ungelöste Mutter-Sohn-Verhältnis, das Jelinek als Gemeinsamkeit zwischen ihrer und der Biographie Schleefs schilderte 331, erweist sich also in Sportstück als wichtiges Thema. Überlegt wird die Berechtigung der Mutter, über das Leben des erwachsenen Nachwuchses zu entscheiden, den sie unausgesprochen weiterhin für ihr Eigentum hält und dessen Entfremdung sie nicht begreift. Daher die folgende Feststellung: „Die Mutter bestimmt die Eignung ihres Kindes, doch nur um selbst enteignet zu werden“ (SP/20). Gerade diese Anhänglichkeit beschleunigt dennoch das Bedürfnis, sich von der eigenen Mutter zu entfernen, einen bestimmten Abstand zu gewinnen und sich von ihrem Fittich zu befreien. Jelinek nützt diese Gelegenheit, um indirekt einen der Schwerpunkte der feministischen Diskurse aufzugreifen und an verschiedenen Stellen ihres Textes einzubringen: Sie deutet auf das in der Psychoanalyse als „Kastration der Mutter“ beschriebene Phänomen. Genauer wird diese Kastration, also die Abschiebung der Mutter, als notwendige Voraussetzung für die Anpassung an die symbolische Ordnung des Mannes beschrieben332, und Jelinek transponiert dieses Konzept auf das Verlangen der Söhne, die Trennung von der Mutter zu vollziehen und sich an den maßgebenden männlichen Vorbildern zu orientieren. Indem sie den Fall Andis – der junge Sportler, der sein Leben seinem Idol Arnold Schwarzeneggers widmet – als Beispiel bringt, parodiert Jelinek das zerfallende, Testosteron bestimmte Wertesystem: Wenn sich die antiken Heroen ihren Ruhm noch durch noble Heldentaten verdienen mussten, werden heute mit chemischen Mitteln aufgeblasene Muskelpakete angehimmelt. Diejenigen, die sich der Leistungssportphilosophie anschließen, werden hierin ein unschlagbares Erfolgsrezept finden, das dennoch nur bei Söhnen wirksam sein kann, weil, so zielstrebig Töchter sich auch in der Angleichung an die männliche Ordnung versuchen mögen, sie dieser nie wirklich angehören werden: […] denn auch wenn eine Frau stark werden möchte, indem sie Muskeln auf sich anbaut, dann kann sie nur noch Mann werden, ohne jedoch je ein Mann werden zu können […]
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Sie hält nicht das Maßband, obwohl sie auf das Sticken, Häkeln, und Nähen spezialisiert ist. Und wenn sie an anderen gemessen wird, so ist sie doch nie das Maß ihrer selbst.333
Und wenn die Frau keinen Zugang zur symbolischen Ordnung des Mannes hat, bzw. in diesem als ewige Ausgestoßene verweilt334, muss sie sich entweder diesem Schicksal hingeben, oder ein alternatives System anstreben. In Sportstück wird versucht, diesen Weg einzuschlagen und zwar durch den Rückgriff auf die Penthesilea-Figur, wie noch erläutert werden soll. Auf der Suche nach Mitspracherecht für das weibliche Subjekt Von besonderer Bedeutung in Hinsicht auf das Hauptthema der vorliegenden Dissertation erscheint die Überlegung bezüglich der Erstellung eines gleichberechtigten Sprachraums für das weibliche Subjekt, wonach in Jelineks Stück gestrebt wird. Die Autorin stellt sich in eine Linie mit Schleefs Klage der Ausstoßung der Frau aus dem zentralen Konflikt, die zum Untergang der Gattung Tragödie geführt hat: Man läßt mich die Toten einfach nicht begraben. Man läßt mich nur dabei zuschauen. Gemein. Wir Frauen. Wir Gemeindeschwestern. Ganz vom Berg der Tragik erdrückt! (SP/34)
Und diese Ausstoßung betrachtet Jelinek nicht nur von der Seite der Protagonisten, die in einem Stück agieren, sondern sie setzt sich auch mit der Rolle der Autorschaft auseinander – spezifischer, der weiblichen Autorschaft – und schließt sich dabei ironisch einer ganzen Reihe von Überlegungen zum selben Thema an335. Obwohl Jelinek ihre Ablehnung der theoretischen Ansätze zu einer ihr fragwürdig erscheinenden écriture féminine nie verschwiegen hat336, lässt sie in ihren Text verschiedene Anregungen der post-feministischen Diskurse einfließen, und bietet eine Art Resümee der umstrittenen Themen. Sie zweifelt also an der Möglichkeit des Schreibens an sich und spielt zugleich mit der eigenen Rolle als Autorin. So gesellt sie sich implizit zu den „Erfolgsgekrönte(n) Dichterinnen“ (SP/ 19), die immer über dieselben „engagierten“ Themen endlose Vorträge halten und das Publikum zwangsläufig langweilen. Indem sie auf weibliche Figuren zurückgreift, die ihr als Alter-Ego dienen, antwortet Jelinek indirekt auf die vielen Kritiken und Anklagen, denen sie im Laufe ihrer literarischen Karriere ausgesetzt war, gerade auf Grund ihrer ständigen Bedrängnis, sich behaupten zu wollen, als Frau, als Schriftstellerin, als akute Beobachterin von heiklen ideologisch-
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politischen Dynamiken. „Vorwürfe mach ich ja immer, das ist mein Markenzeichen“ (SP/12) sagt Elfi Elektra mit stechender Ironie. Es ist die Selbstironie Jelineks, die ihre Autorschaft exponiert und sich öffentlich in der Funktion der Schriftstellerin behauptet: „Ich bin berufen und beruflich hier, und zwar als Autorin“ (SP/52). Diese Aufgabe wird sie erfüllen, indem sie immer wieder die Natur des „Ich“ hinterfragt, das in diesem Stück so fragmentiert erscheint. Es ist zerstückelt in einer Polyphonie von Gestalten, die sich abwechseln und durcheinandergeraten, die sich durchboxen, um sich in irgendeiner Weise zu profilieren, und dann wieder schwanken, als könnte der Wunsch nach Selbstbestimmung das Streben nach Individualisierung in ihren Händen zertrümmern. Als Autorin steht Jelinek dennoch vor einem zwiespältigen Verhältnis mit der Außenwelt, denn bevor sie das Unterfangen angeht, diese zu beschreiben, sollte sie erstmal gründlich „über (sich) selbst schreiben“ (SP/53). Doch das würde eine gewisse Selbsterkenntnis implizieren, die wiederum der Aneignung eines „Ich“ folgen sollte, welche für das weibliche Sprechen – und also Schreiben – nicht vorgesehen ist337. Jelineks Auseinandersetzung mit dem Thema der weiblichen Autorschaft ist allerdings nicht neu, die Schwierigkeit einer Schriftstellerin, sich als Subjekt zu stellen, hat sie immer wieder beschäftigt. Mehrmals hat die Autorin bemerkt, wie einer Frau, die schreibt, nie wirklich ein Raum für ihre Worte bewilligt wird, sodass sie letztendlich in der Wand verschwindet, wie in Bachmanns Malina, zu dem Jelinek das Drehbuch verfasste338. Zwar dürfen Frauen bestimmte Räume beherrschen, doch nur, um diese besenrein zu halten und darin überwacht zu werden, damit sie sich ja weiterhin von der öffentlichen Sphäre fern halten 339 und alle schöpferischen Tätigkeiten den Männern überlassen. Die Frau soll sich lieber um ihren Körper kümmern, denn dieser „muss gefallen“ (SP/81) und um ihn immer reizbar zu halten, ist eine beständige Arbeit daran erforderlich. So wird in Sportstück die bestehende Geschlechterkonstruktion geschildert, die der „Annihilierung des weiblichen Opfers“ gilt, wie Jelinek es ausdrückt zusammen mit einer Definition des Weiblichen: Das, was nicht sein darf, das weibliche Selbst, das, wenn es schön ist, gesehen werden darf, das fühlen muß, wenn es nicht hören will, aber natürlich auch dann, wenn es, um sich zu retten, gern hören und gehorchen würde, dieses Unselbst also ist die Frau, sie ist ein Das, aber, als Frau, soll sie benutzt werden für das einzige, wofür sie da ist: Körper zu sein. Sie muß Körper sein oder sie darf gar nichts sein. Und sein darf sie ohnedies nicht, egal was sie ist. Zuvor soll sie aber noch – als Körper – verwendet werden und dann weggeschmissen, wie ein schmutziges, zerknülltes Papiertaschentuch. 340
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Die Frau wurde also zu einem „Das“ degradiert von einer Gesellschaft, die sie nur innerhalb eines ästhetisch schönen Körpers wahrnimmt und ihr als solchem eine Existenzmöglichkeit erlaubt. Sie wird somit zu einem Neutrum, ein anonymes Subjekt bzw. ein Nicht-Subjekt, das die richtigen Kurven haben sollte, samt der Bereitschaft, diese schamlos zu zeigen. Und gerade in ihrer physischen Schönheit glaubt eine junge Frau im Stück, einen Kontaktpunkt zum anderen Geschlecht erstellen zu können, und deklamiert stolz: Zu Sport und Frau habe ich etwa folgendes zu sagen: Die Frau muß schön sein, denn sie findet ja, ähnlich dem Sportler, ausschließlich in ihrem Körper statt […] Eigentlich würde man mich, wäre ich nicht eine schöne Frau, eine unmotiviert schrill auflachende Versagerin nennen können, doch ich kann mich wenigstens zur Schau stellen! (SP/45)
Sie hat also ihre soziale Funktion erfüllt, im Gegensatz zu der sinnlosen Kategorie von Frau, die denkt, überlegt, erschafft, Entsetzen erregt. Diese ungehorsame Art von Frau wird gefürchtet und verachtet, sie soll zum Schweigen gebracht werden, mündlich sowie schriftlich. Deshalb wurde ihr geschichtlich auch die Teilnahme an den meisten Bereichen des öffentlichen und künstlerischen Lebens verwehrt. Auch die Literatur gelte nach wie vor als männliche Angelegenheit, sodass eine Frau nur mittels der Aneignung eines männlichen Ichs eine Chance hat, sich hierin zu entfalten, mit dem Kollateralschaden, der eigenen Identität zu entsagen341. Diejenigen, die es wagen, „als Frau zu schreiben“, werden des Exzesses, der Überschreitung bezichtigt; ihr Schreiben gilt als „ein gewalttätiger Akt, weil das weibliche Subjekt kein sprechendes ist“342. Die Tatsache, dass sich diese angebliche Gewalt nicht im Endergebnis widerspiegelt, erstaunt Jelinek343, die sich von den weiblichen literarischen Ausdrucksformen subversivere Töne erwarten und sogar erwünschen würde. So scheint sie mit Ein Sportstück genau dieses Aggressionspotential zu beanspruchen, indem sie eine Sprachfläche für dessen freie Entfaltung und Entladung gestaltet. Für die Erfüllung dieses unausgesprochenen Wunsches auf weibliche Subversion vertraut die Autorin ohne Zögern auf Schleefs aufwühlende Theaterästhetik. Ein Sportstück bietet sich als optimaler Raum für die Umsetzung des weiblichen Kampfes um Mitspracherecht, mit der Absicht das vernichtende Schicksal des weiblichen Ichs umzustürzen. Doch letztendlich muss geschildert werden, wie sich die heiß ersehnte Perspektive für ein weibliches Sprechen trotz aller Rechtsansprüche doch nicht öffnet. Obwohl dieses sich weiterhin als unbehagliche Angelegenheit der gegenwärtigen Gesellschaft herausstellt, werden Figuren skizziert, die mit wechselhaftem Glück versuchen, sich durchzusetzen, und die
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bis zum Schluss auf der Zurückeroberung eines Existenzraums pochen, zumindest auf der Bühne. Doch dieser Kampf bringt immer neue Widersprüche ans Licht: Es ist schwierig, die Überzeugung einer existenziellen Untauglichkeit zu zerlegen, die zwar induziert wurde und sich dennoch inzwischen im kollektiven Unbewussten kristallisiert hat. Die Frau hätte sich laut Jelinek in die Opferrolle hineingesteigert, bis zum Verlust jeglicher Kritikfähigkeit, und würde sich im schlimmsten Fall sogar als Komplizin des Mannes verstehen: Weil ich die Frau nie als das bessere und höhere Wesen, als das sie die Frauenbewegung gerne sehen würde, geschildert habe, sondern eben als das Zerrbild einer patriarchalischen Gesellschaft, die sich ihre Sklaven letztlich anpaßt. Patriarchat heißt nicht, daß immer die Männer kommandieren, es kommandieren auch die Frauen, nur kommt es letztlich immer den Männern zugute. Ich habe die Frauen sehr kritisch als die Opfer dieser Gesellschaft gezeigt, die sich aber nicht als Opfer sehen, sondern glauben, sie könnten Komplizinnen sein [...] Ich denunziere die Frau als Komplizin des Mannes nicht um dessentwillen, was sie in ihrer Unterdrückung ist, denn ich ergreife ja doch sehr stark Partei für die Frau. 344
Gerade diese Widersprüche werden im Zwischenbericht in einer Person zusammengefasst, durch die Aussage: „Ich bin eine Frau und gleichzeitig ihr Gegenteil, weil ich nur meinen eigenen Blick, und auch den nur auf mich selbst zulasse“ (SP/78). Die professionelle Witwe, die Jelinek nach der Person von Elfriede Blauensteiner345 bildet, steht für den Willen zur Selbstbehauptung: Sie wird sich nicht mehr nach den Vorstellungen und Vorschriften anderer richten, sondern Maßstab ihrer selbst sein. Sie verkündet ihren Ausbruch aus dem Reservat, in das die weibliche Gestalt verbannt wurde: Da die Frau erstens am Mann, zweitens an jeder anderen Frau gemessen wird, muß ich alles um mich herum ausradieren, um nicht mehr gemessen werden zu können, sondern selbst Maß zu sein. Und dann nehme ich zusätzlich noch Maß an mir selber. Das heißt: Nur ich passe mir wirklich! (SP/79)
Es klingt wie eine wahrhaftige Kriegserklärung gegenüber dem Zustand der Unterlegenheit, wodurch die Absicht eines alternativen, von den patriarchalischen Richtlinien Agierens dennoch nicht eingehalten wird. Denn die Entscheidung, sich als Mörderin zu profilieren, erscheint kurzfristig als effiziente Alternative, um Aufsehen zu erregen und sich der endlosen weiblichen Arbeit am Körper zu entziehen (SP/82), doch wird dadurch auch zwangsweise das Rückfallen in männliche Handlungsschemen bewirkt, da das Töten seit jeher als Eigenschaft
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des Mannes gilt. Und auch so wird sie weiterhin als unvollkommenes Subjekt wahrgenommen, was sie rasend vor Wut macht, da sie trotz aller Bemühungen für die Öffentlichkeit mangelnde Identität346 bleiben wird (SP/78). Als Frau müsste auch die Witwe sich „beschreiben lassen und dabei stillhalten“, doch diese Willfährigkeit „liegt“ ihr nicht: Sie will lieber Spiegel ihrer selbst sein, selbstständig entscheiden, wie und ob sie sich selber urteilen soll, ohne das Ermessen den Herren zu überlassen, die sie schätzen, aber nicht „abschätzen“ dürfen (SP/78f.). Nun schreit sie, um sich ihr gestutztes „Selbst“ zurückzuerobern. Von nun an wird sich die Witwe weigern, sich als etwas zu geben, was nicht mit ihrer wahren Natur übereinstimmt, und hört auf, die Wünsche anderer zu erfüllen (SP/79f.). Sie behauptet sich als sprechendes Subjekt, im Gegensatz zum maßgebenden autoritären Diskurs der patriarchalischen Gesellschaft und enthüllt endgültig die Wunde, die sie ein Leben lang zerfressen hat. Es ist die typisch weibliche Wunde des aufgezwungenen Schweigens: Ich bin also die Witwe meiner selbst, da ich nichts als mich neben mir ertrage: Eine Frau, die sich das Blatt, das sie so lang verletzbar machte, von dem Mund nimmt, damit jeder die Wunde sieht, die ihr immer schon geschlagen war. Mitten ins Gesicht. Jetzt kümmere ich mich um nichts und niemanden mehr als um mich, da dies ja kein anderer tut. (SP/80)
Die Witwe gibt sich dennoch mit dem Beanspruchen eines Existenzrechts nicht zufrieden, sondern will eine tatsächliche Wende der Machtverhältnisse durchführen, zieht sich aus der Opferhaltung selber heraus und wird zur Täterin. Der verstorbene Andi spekuliert in einem seiner Monologe über den grundsätzlichen Gegensatz zwischen Frau und Mann, die sich im Wesentlichen darin unterscheiden, Leben-gebende und Leben-nehmende Kräfte zu sein: Deshalb wird die erste mit Mutterschaft und der zweite mit Krieg und Tod assoziiert. Die Witwe stürzt diese Gleichung und nimmt auch die negativsten Eigenschaften des Mannes auf, um sich in seinen Augen als eigenständiges Ich zu determinieren. Ähnlich wie bei seinem Stück Mütter, hätte Einar Schleef dieses Benehmen auf diejenige Gewalt zurückgeführt, die er als Konstante jeder zivilisierten Gesellschaft schildert, jenseits jeglicher Geschlechterkämpfe. Ein Machtmechanismus gliche dem anderen, unabhängig davon, wer die Zügel in der Hand hält. In diesem Sinne kann gesehen werden, wie die gewalttätige Machtübernahme der Witwe die bestehende Ordnung zwar temporär in Aufruhr versetzt, doch dadurch keinen eigenständigen Raum für eine positive weibliche Sprache öffnet. Sie bricht zwar mit allen vorgefassten Vorstellungen von Weiblichkeit, doch gelingt es ihr nicht, ein neues, von allen Vorurteilen befreites Bild von Frau zu bie-
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ten: Sie passt sich dem männlichen Schema so vorbildhaft an, dass sie gar für ihre Unweiblichkeit beschimpft wird, „Anders anders anders!“ (SP/108). Der gezielteste Versuch von Wiederaneignung eines weiblichen Sprachraums wird von Elfi-Elektra durchgeführt, die das Stück öffnet und schließt. Ihr erster Einsatz verkündet, wie im grauenvollen Schicksal ihrer Dynastie endlich wieder Ruhe eingekehrt ist. Nun, da die Intrigenzeit vorbei ist, kann sie sich um den Kampf für das Mitspracherecht kümmern: Sie wird zur Sprecherin des gesamten Frauengeschlechts und fordert im Namen aller ihrer Genossinnen die Aufmerksamkeit des Publikums: „Bitte lassen Sie mich einmal wenigstens ausreden!“ (SP/184) Sollte man sich der Ansicht anschließen, wonach Elfi-Elektra „die erste dramatische Frauenrechtlerin“ sei347, bliebe doch auch in diesem Fall die Überlegung bezüglich der tatsächlichen Eroberung dieses Sprachraumes offen. Die Frau, die sich selbst zu einem gewissenhafteren „Sagen und Fragen und Schauen“ verpflichtet hat (SP/109), wird immer misstrauischer, bis sie keinen Sinn mehr darin sieht, sich mit Ansprechpartnern zu unterhalten, die sich nur auf ein Fußballspiel konzentrieren und ihr nicht zuhören. Anscheinend weigert sich ihre Mitwelt nicht nur, sie auf Grund ihrer nicht den Standards entsprechenden Körperform „anzuschauen“ (SP/109), sondern es lohnt sich auch nicht, sich ihre Stimme anzuhören. Die Antwort auf ihre Forderungen klingt wie reinste Verspottung: „Was, Frauen wollen auch mitreden? Na, dann viel Spaß! Die Stadt gehört uns!“ (SP/170). Damit ist das Thema abgeschlossen und Elfi bleibt nur die endgültige Desillusionierung, sie fühlt sich nun auch ihrer kennzeichnenden Eigenschaften enteignet – des Denkens und des Redens. Gerade durch ihre intellektuelle Fähigkeit hatte sie die Kraft gefunden, sich außerhalb der medienwirksamen Fernsehwelt zu positionieren, die sie als dominierendes gesellschaftliches System erkennt, das von männlicher Hand gesteuert wird. Mit stolzem Abstand hatte sie die Masse (SP/53) von fixierten Sportlern und Topmodels beobachtet, und ihr Entsetzten galt besonders denjenigen Frauen-Körpern, die sich ganz nach den Bedürfnissen der patriarchalischen, nur an Äußerlichkeit orientierten Gesellschaft modellieren lassen, gefügige Püppchen, die wegen ihrer perfekt gekämmten Mähnen bewundert werden und sogar still sind. Im Gegensatz zu ihr, die nicht schweigen will, doch langsam aufgeben muss, weil sie merkt, wie ihr verbaler Kampf bereits im Vornhinein zum Scheitern verurteilt war. „Haben Sie mein Recht gesehen?“ (SP/187) fragt die Autorin, die ja auch von Elfi Elektra vertreten wird, und offenbart somit die Skepsis gegenüber der Durchsetzung eines weiblichen Sprechens. Einer der Täter des Sportstücks ärgert sich kurz, weil er „die üblichen engagierten Künstlerinnen plärren“ (SP/63) hört, von denen er eigentlich nichts wis-
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sen möchte. Das furchterregende „Kämpferinnengebrüll“, das stark an das Gebrüll weiblicher Darstellerinnen in Schleefs Inszenierungen erinnert, wird bald verharmlost, da es sowieso ungehört bleibt. Frauen verfügen über keine eigene Sprache, sind in eine ständige Selbsteroberung verwickelt, um das zu sein, was sie eigentlich bereits sind348, das Mitspracherecht bleibt Fata Morgana. Sich dem Schicksal der Dichterin erbarmend, ruft der Täter dennoch die „Erzählungskunst“ an, diese nicht zu verlassen, denn wenn die Hoffnung, sich in einer Männerwelt behaupten zu können, bereits erloschen ist, soll ihr irgendetwas doch bleiben (SP/63). Ein magerer Trost, der den Drang, auf die Barrikaden zu gehen, wieder aufwachen lässt. Die parodistische Utopie eines alternativen Frauenstaates Aus dem immer stärker werdenden Bewusstsein, sich in einer Männerwelt nicht frei profilieren zu können, entwickelt sich die Idee, eine parallele, völlig abgespaltene Frauenwelt zu gründen. Das Bedürfnis, als Frauen zusammenzuhalten und für ein gemeinsames Ziel zu kämpfen, ist der Literaturgeschichte bzw. der griechischen Mythologie nicht neu. Man denke zum Beispiel an zwei Komödien, in denen Aristophanes das Thema der Frauenmacht problematisiert 349: Lysistrate und Die Ekklesiazusen. Besonders die zweite beschreibt die Vollziehung eines von Frauen geführten politischen Projekts, welches mittels einer gerechteren Stadtverwaltung das auf Grund der männlichen Kriegshetzte ins Elend gerissene Athen wieder neu beleben soll. Wenn Aristophanes hier eine Gleichberechtigung der Geschlechter vorschlägt, erweisen sich die Amazonen hingegen als „starke, unkontrollierbare, verrückte“350 Kämpferinnen, die ihren Rachedurst hauptsächlich an dem androzentrierten Athen auslassen. Diese visierten mehr die Gründung einer in sich geschlossenen weiblichen Gemeinschaft an, als eine kompromissreiche Koexistenz mit dem männlichen Geschlecht zu suchen. Und in Hinsicht auf diese angestrebte und etablierte Souveränität explizitierte Heinrich von Kleist in seinem Drama Penthesilea die Grundverfassung dieses neu gebildeten Staates: Und dies jetzt ward im Rath des Volks beschlossen: / Frei, wie der Wind auf offnem Blachfeld, sind / Die Frau’n, die solche Heldenthat vollbracht, / Und dem Geschlecht der Männer nicht mehr dienstbar. / Ein Staat, ein mündiger, sei aufgestellt, / Ein Frauenstaat, den fürder keine andre / Herrschsücht’ge Männerstimme mehr durchtrotzt, / Der das Gesetz sich würdig selber gebe, / Sich selbst gehorche, selber auch beschützte.351
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Und eben auf Kleist verweist Elfriede Jelinek, die dessen Verse in ihrem Stück verstreut und parodierend zitiert, um die riesige Kluft deutlich zu machen, die zwischen den würdigen Kriegerinnen der griechischen Mythologie und den nicht ernstzunehmenden Frauen der modernen mediatischen Zeit besteht352. Die busenlosen Heldinnen, die sich für die Durchsetzung ihrer Werte schlugen, werden zu lächerlichen Krüppeln degradiert, die nicht nur Busen-, sondern gar Gehirnamputiert erscheinen. Dort wo die Amazonen, um ihre körperlichen Schwächen zu umgehen, sich die rechte Brust wegrissen, um somit leichter – bzw. gleich gut wie ein Mann – den Bogen hantieren zu können, wird im Sportstück eine Frau eingebaut, die ihre beiden Brüste nach hinten versetzt, diese „wie einen Rucksack auf dem Rücken trägt“ (SP/104) und nur noch die „Perversion einer Amazone“ verkörpert.353 Die offenkundige Dekonstruktion des Penthesilea-Mythos erfolgt durch die Anrufung eines Frauenstaates, an dessen Spitzte keine Amazonen, sondern bloße Marionetten strahlen sollen: Wunderschöne Frauenkörper, die sich gut herzeigen lassen und sich dadurch als vergängliche Hüllen entpuppen – in einer Linie mit der sie umgebenden entwerteten Gesellschaft. Ein Frauenstaat, in dem keine Männerstimme mehr gehört wird. Dieser Frauenstaat besteht aus Frauen, von denen ich jetzt ein paar nenne: Claudia, Naomi, Helena, Christy, Amber, Brigitte und Susi. (SP/118)
Der desillusionierte Blick auf die gegenwärtige gesellschaftliche Lage kann nur Sarkasmus produzieren, der sich auf die Wahl der eventuellen Vertreterinnen eines solchen Staates ergießt: Nur im parodistischen Sinn kann die Auflistung der Leaderinnen gelesen werden, denn die kandidierten Supermodels haben jenseits ihres makellosen Aussehens nichts zu bieten und können mit den Anhängerinnen Penthesileas nicht mithalten. Das Gelingen eines ähnlichen Experiments wird unter den modernen Verhältnissen einfach nicht für möglich gehalten, denn egal wie sehr sich die Herbeigezogenen anstrengen, werden sie immer nur den Eindruck erwecken, sich orientierungslos zu bewegen. Jelinek scheint sich hier erneut selbst zu zitieren: Wir gehen jetzt hier herum, weil wir sind, was wir sind: Frauen. Wir gehen also aufgrund unseres biologischen Seins, denn wer fragt danach, wer oder was wir wirklich sind. Wir sind eine Gruppe, die ihre Interessen durchsetzen muß gegen eine Regierung, die ihr Rechte nehmen oder gar nicht erst gewähren will.354
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Der Vorsatz, mit der maßgeblichen patriarchalischen Ordnung zu brechen, ist in einer den Werten beraubten Welt zum Scheitern verurteilt. Selbst wenn die Errichtung einer weiblich gesteuerten Gesetzgebung den Frauen momentan die Illusion von Selbstbestimmung verleihen sollte, würden diese sich zwangsläufig wieder mit dem dominierenden System identifizieren. Denn diese Supermodels sind ja keine sich selbst bestimmenden Subjekte, sondern nach männlichem Maß konstruierte Figuren, die also auch nicht autonom agieren können. Nur in dieser Form kann die weibliche Herrschaft gutgeheißen werden, nur von solchen Frauen würde ein Mann es zulassen, sich unterwerfen zu lassen, wie der Sportler bestätigt: Wo bitte ist dieser Staat, damit ich mich unverzüglich dort zum Dienst in der Fabrik melden kann […] Ich ewiger Jüngling würde mich solchen Frauen doch sofort zur Verfügung stellen! (SP/118).
Doch diese Unterwerfung ist nur vorgetäuscht, denn wenn der Sportler seine Akzeptanz eines von Megamodels regierten Frauenstaates äußert und hinzufügt, wie ihm die genannten Frauen „ohne Busen noch viel lieber als mit zwei Brüsten“ (SP/119) seien, formuliert er dadurch eine entsetzliche Beleidigung. Denn er deutet unterschwellig darauf hin, wie diese Figuren als Mannequins bereits im Vornhinein ihrer Intelligenz beraubt sind, und der Verlust der weiblichen Attribute bedeutet die endgültige Vernichtung ihres Frauenseins. Das, was als emanzipatorische Bewegung begonnen hatte, endet mit dem Rückfall in männlich festgesetzte Schemen. Die Nachahmung der Busenamputation, die im Mythos den Befreiungsakt symbolisiert, schlägt nun in eine brutale Entweiblichung um. Von Claudia, Cindy und Kolleginnen bleibt die leere Hülle erhalten, beliebt, weil sie nie „gekittet oder repariert“ (SP/120) werden muss, immer gleich gefällig und pflegeleicht. Der in Penthesilea subvertierte Geschlechterkampf stagniert wieder: Der Rückgriff auf verweichlichte, für die Ausführung eines verantwortungsvollen Amtes völlig ungeeignete Frauenstereotypen stärkt das Vorurteil der weiblichen Minderwertigkeit. In dieser Hinsicht kann die Gegensteuerung der patriarchalischen Ordnung nur als Parodie inszeniert werden: Sogar seitens der dereinst „scharfzähnigen alten Kriegerin“ (SP/165) ist kein Vertrauen mehr zu erwarten, denn im Vergleich zum Amazonenvolk haben sie und ihre Mitkämpferinnen versagt. Sie selber würde es nie schaffen, sich der kühnen Oberpriesterin Artemis 355 gleichzustellen, und ein eventueller Versuch würde mit strikter Abneigung von ihren Mitmenschen aufgenommen werden (SP/119). Trotz ihrer Bereitschaft, sich die Brüste
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abzuschneiden und „für die anderen Frauen zu sprechen“ (SP/48), sei sie „deshalb noch lange“ keine Amazonenkönigin geworden (SP/164), sondern wird ganz im Gegenteil nicht mehr als Frau anerkannt: So wie die aussieht, gar nicht zu den Frauen gehört sie und nennt Frauen doch Schwesterherzen! Unweiblich, vergeben Sie mir, unnatürlich, dem übrigen Geschlecht der Menschen fremd! (SP/49)
So modelliert Jelinek den Sinn von Kleists Versen 356 um, womit die Fragwürdigkeit des Gesetzes der Mütter357 angespielt wird. Indem Achill sein Bedenken bezüglich dieses unverständlichen Gesetzes äußert, dass den Amazonen verbietet, selbst einen Geliebten auszusuchen, scheint er eigentlich für das weibliche Selbstbestimmungsrecht zu plädieren. Im Sportstück werden die Adjektive „unweiblich“ und „unnatürlich“ stattdessen auf das nicht-konforme Aussehen der Frau gerichtet, die ihrer eigenen Natur delegitimiert wird. Jelinek begeht eine Instrumentalisierung des Penthesilea-Stoffes, um die eingetretene Selbstverständlichkeit der patriarchalischen Idee von einzuhaltenden Weiblichkeitsstandards zu markieren358. Penthesilea und ihr Gefolge gehören einer Zeit an, die der Eliminierung bedrohlicher weiblicher Konkurrenz vorausgeht, noch bevor die Griechen die Frau von öffentlichem Leben und der Bühne verbannt hatten, während die Frau im Sportstück bereits vom Berg der Tragik verbannt wurde359. Daraus lässt sich auch die logische Folgerung ziehen, dass das Muster der autarkischen Amazonen nicht auf die gegenwärtigen Zustände übertragbar ist; denn die Frau hat nichts mehr zu sagen. Dies wird durch die Wiederholung desselben Zitates an einer späteren Stelle des Sportstücks bekräftigt; erneut wird die sprechende Frau auf ihre Unweiblichkeit hingewiesen und zum Schweigen ermahnt (SP/108). Die bestehende patriarchalische Gesellschaft lässt dem weiblichen Subjekt keinen Ausweg für Wiedereingliederung: Auf der einen Seite werden die bildhübschen Models auf Grund ihrer Unkultiviertheit für die Regierung als unangemessen ausgestellt, auf der anderen wird den „engagierten“ Frauen, mit der Ausrede ihrer unangemessenen Ästhetik der Zugang zu derselben Regierung verweigert. Um den weiblichen Machtanspruch und dessen Untersagung herum entsteht ein Teufelskreis. Jelinek bedient sich also eines erfolgreichen bzw. sich durchgesetzten Beispiels von weiblicher Selbstbehauptung, um dessen utopischen Charakter innerhalb einer frauenfeindlichen Gegenwart zu betonen. Die Art und Weise, wie dieser nihilistische Überblick über die laufenden Geschlechterverhältnisse von Ei-
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nar Schleef aufgegriffen und szenisch aufgearbeitet wird, soll im folgenden Abschnitt untersucht werden.
SCHLEEFS SZENISCHE UMSETZUNG DES SPORTSTÜCKS Einar Schleefs Inszenierung von Ein Sportstück hatte am 23. Januar 1998 am Wiener Burgtheater Premiere360. Obwohl sie ihm noch nie persönlich begegnet war, hatte Elfriede Jelinek eine so große Achtung vor Schleefs Arbeit, sodass sie ihn sogar als eines der zwei deutschen Genies der Nachkriegszeit neben Faßbinder beschrieb. Sie hatte dem damaligen Burgtheater Intendanten Claus Peymann gegenüber den Wunsch ausgedrückt, Schleef als Uraufführungsregisseur ihres Textes zu haben361. So kam die Kooperation zwischen den beiden Autoren zustande, in deren Werdegang sich erstaunlicherweise einige prägende Ähnlichkeiten erkennen lassen. Das immer umstrittene Verhältnis zur Mutter, das beide auf literarische Art bewältigten, und die Vorwürfe gegenüber einer zuerst nur oberflächlich anwesenden und später kränklichen Vaterfigur, dessen Anblick Schuldgefühle erweckte, sind zwei biographische Komponenten, die Jelinek selbst als Berührungspunkt schildert und auch seitens einiger Beteiligter an der dramaturgischen und szenischen Arbeit am Stück hervorgehoben wurde 362. Beim ersten Arbeitstreffen habe Schleef erzählt, wie er sich in seiner Berliner Wohnung „an einem Küchenstuhl hätte anbinden müssen, um diesen Text zu Ende zu lesen“363, da er ihn zugleich als Folter erlebte und trotzdem für grandios hielt. Ein Sportstück stellte eine große Herausforderung dar, die er nie abgelehnt hätte. Trotz der gegenseitigen Achtung herrschte bei den ersten Treffen zwischen den beiden eine merkwürdige, befangene Atmosphäre, die sich erst nach der Premiere auflöste, als Schleef seine ganze Faszination gegenüber Jelinek offenbarte und die beiden sogar gemeinsam auf der Bühne auftraten 364. Neben dem wiederholten Interesse an den Ursachen und Auswirkungen von Geschlechterkämpfen und dem Aufeinanderprallen von Einzelnen und Gemeinschaften, lässt sich als wichtigster Punkt, woraus sich eine starke thematische Kontinuität zwischen ihren Ansichten über die Form des Theaters schließen lässt, das Bedürfnis erkennen, das weibliche Subjekt wieder in das Zentrum des Geschehens zu führen, diesem einen neuen Existenzraum zu schaffen. Die Dringlichkeit dieses Vorsatzes hatte Schleef einige Jahre vor der Konzeption des Sportstückes sehr deutlich in seinem Essay Droge Faust Parsifal mit folgenden Worten festgehalten:
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Die Rückführung der Frau in den zentralen Konflikt, die Rückführung des tragischen Bewußtseins ist kein Überlaufen auf die Seite der Frauen, sondern notwendige Arbeit, notwendige Korrektur, notwendige Besinnung, notwendig, um das Überleben der gefährdeten Kunstform des Sprech-und Musiktheaters zu ermöglichen. Diese Besinnung, dieses Theater hat politische Konsequenzen, ist nur so denkbar, heute politisch utopischer Ansatz. Dieser allgemein sichtbaren, notwendigen Korrektur aber steht die männliche ChorBildung gegenüber, die sich nicht als solche begreift, um sich zu schützen, aber alle Vorteile der Chor-Bildung brutal nutzt, eine Jagdgemeinschaft rekrutiert, um das eingenommene Herrschaftsgebiet zu kontrollieren. (DFP/10)
Das Schicksal des Theaters ist also in den Augen Schleefs sehr stark mit dem Überleben des zu lang still gehaltenen weiblichen Subjekts verbunden, das, wie bereits erläutert wurde, auch einen großen Einfluss auf die ursprüngliche Bildung des zweiten für die Existenz der Tragödiengattung unverzichtbaren Elements ausgeübt hatte, des Chors. Mit Ein Sportstück bietet sich ihm die Möglichkeit, sich tiefgründig mit den vielfältigen Ausdruckformen dieser zwei Komponenten auseinanderzusetzen und diese im Theater thematisch, räumlich, akustisch zu bearbeiten. Mehr als in all seinen anderen Theaterarbeiten, fällt in Sportstück die Musikalisierung im Aufbau der Aufführung auf, die sich auf drei verschiedenen und miteinander verbundenen Ebenen zeigt. Denn neben der Rhythmisierung, die die gesamten Sprach- und Bewegungsmodi der Inszenierung gliedert, arbeitet Schleef mit den Mitteln der Klangfärbung – indem er mit verschiedenen Stimmnuancen und Stimmlagen spiel (Falsett, Geflüster, Piepsen, Geschrei) – und des Arrangements365. Dieses bezieht sich auf den Eingriff in die Textvorlage, die Schleef nach seinem Belieben montiert, kürzt, umdisponiert und durch literarische sowie musikalische Zitate ergänzt, sodass ein „intertextuelles bzw. intermusikalische(s) Geflecht“ entsteht366. Schleefs Regie bringt vorwiegend Chöre und weibliche Figuren auf die Bühne. Auch dort, wo der Text keinen Chor vorsieht, neigt er dazu, die von Jelinek absichtlich undefiniert gestalteten Figuren zu choralisieren und deren verallgemeinernde Funktion auszustellen. Denn wenn Jelinek keine Protagonisten konzipiert, sind die Eigenschaften der einzelnen Stimmen auf größere Menschengruppen übertragbar, sie wirken sozusagen metonymisch. Neben den vielen verschiedenen – mal gemischt, mal nur weiblich oder nur männlich, mal beängstigend groß, mal sich nur aus wenigen Körpern zusammenstellenden – Chören367, lässt Schleef die einzelnen Darsteller sprechen, die fast nie miteinander dialogisieren, sondern vielmehr aneinander vorbeireden. Obwohl die im Stück von Frauen gesprochenen Anfangs- und Schlussmonologe gestrichen368, bzw. durch Schleef selbst als männlichen Sprecher inszeniert
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werden, ragt Schleefs Vorsatz heraus, der weiblichen Präsenz eine besonders wesentliche Rolle zuzuteilen, wie schon allein durch die überwiegend weibliche Besetzung der Szenen evident wird, auch dort, wo im Text eigentlich männliche Benennungen erscheinen369. Die ambigue Mutter und der Stimmenwirbel des Chores Die erste Frau, die den Bühnenraum betritt, um diesen mit ihrer Stimme zu füllen, ist die Mutter. In der Hand eine rote Rose für das Kindesgrab haltend, erscheint sie umhüllt in langem schwarzen Gewand, ganz wie die Mütter aus Schleefs erster Inszenierung, auf die natürlich angespielt wird. Denn hier wie dort wird die mütterliche Klage um den verstorbenen Sohn in Szene gesetzt, hier wie dort trauern die Mütter um den geliebten Nachwuchs und leiden gleichzeitig unter dem Schuldgefühl, indirekt dessen Tod verursacht zu haben. Ob aus reinem Egoismus, Selbstverwirklichungsdrang oder Rachedurst, haben sie die jungen Söhne zum Krieg angestiftet und müssen entsetzt zuschauen, wie diese nun daran zugrunde gehen. Der einzige Unterschied liegt in der Natur des Krieges, denn wenn die Helden der antiken Tragödien aus patriotischen Gründen gekämpft hatten, geht es in der modernen Gesellschaft bloß um einen Krieg des Sports, der in seiner Banalität ebenso letal sein kann. Die betrübte Mutter wird durch den Auftritt des auf ihren Pfiff hineinlaufenden Chores abgelöst: Etwa fünfzig Frauen und Männer stürmen zuerst in langen dunklen Kutten auf die Bühne, die sie im Laufe ihres Einsatzes ausziehen werden, um in weißen minimalistischen Sporttricots weiterzusprechen. Noch bevor mit der Deklamation von Jelineks Text begonnen wird, singt der Chor gemeinsam die Hymne der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, womit die Untertänigkeit der Masse zum Kaiser bzw. zu einem in der gegenwärtigen Gesellschaft entsprechenden Herrscher versinnbildlicht wird, und aber auch ein ironischer Tribut an die KuK-Tradition des Burgtheaters sein soll. Auf diese Art führt Schleef die von Jelinek explizierte Kontinuität von Krieger und Sportler ein, die beide einem Führer oder – im Fall der Inszenierung – einer im Zuschauerraum stehenden Chorführerin gehorchen und sich im Singen zu einer Gemeinschaft vereinen, die sich wiederum bald in ihrer Zerbrechlichkeit zeigt. Denn die Chorgemeinschaft ist weiterhin den historischen Verstoßungsschüben ausgesetzt und versucht, sich dagegen zu wehren. Deshalb die skandierende Diktion, wodurch immer verschieden Worte besonders betont oder verzerrt werden. Der chorische Sprachblock wird zum Teil synchron, zum Teil von einzelnen oder verringerten Unterchören gesprochen, die kurzfristig bedrohlich wirken. Doch gerade diese abwechselnde Vortragsform deutet auf die Fragilität
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der Chorfigur hin370, deren Integrität ständig von den individualisierenden Anregungen angefochten wird. Der Einsatz von uniformierenden Kostümen trägt dazu bei, die Konturen der individuellen Körper zu verwischen und dadurch eine einheitliche ChorSilhouette entstehen zu lassen371. So kann Schleef das von Jelinek thematisierte Konzept des nicht-Protagonismus szenisch umsetzen: Wenn die Stimmen nicht mehr auf den oder den anderen Akteur zurückzuführen sind, wird die Differenz der Identität neutralisiert. Wenn Jelinek Figuren gestaltet, die auf Grund ihrer Nicht-Begrenztheit austauschbar wirken und nicht wirklich miteinander kommunizieren, sondern vielmehr ihre eigenen Monologe als vom Ganzen getrennte Sprachblöcke vortragen, ist andererseits dem Theater Schleefs das „Nicht-protagonistische“ nicht fremd. Seine Inszenierungen zeigen immer „umherirrende und monologisierende Figuren auf der Bühne“372, die nicht psychologisierend, sondern typisierend373 dargestellt werden. Auch richtige Dialoge gibt es in Schleefs Theaterästhetik nicht, vielmehr scheinen seine Figuren einander immer fremd zu bleiben, sich gegenseitig kaum wahrzunehmen. Oft bleiben die Sprecher den Blicken der Zuschauer sogar gänzlich verborgen, sodass die Sprache in sich in den Vordergrund kommt, es gibt keine verkörperten Subjekte mehr, nur noch Stimmen, Worte, Text, Rhythmus. Während der unscharfe Stimmenwirbel den Chortext vorträgt und die trauernde Mutter für den Tod des Sohnes schuldig spricht, erscheint diese erneut auf der Bühne, diesmal in ihrem Aussehen gesteigert. Durch die antiken Kothurne ähnelnden Schuhe und die sonderbare, sich in die Höhe ziehende Frisur bildet die weiterhin ganz in schwarz gekleidete Frau einen starken optischen Kontrast zu der horizontalen Linie des Chores, welcher in der Nebeneinanderstellung zu der imposanten Einzelfigur nun in seiner Niedrigkeit als anonymes massenhaftes Wesen erscheint. Die Mutter hat den Kummer beiseitegelegt, um dem Zorn freien Lauf zu lassen: Der weinerliche Ton ihres ersten Auftrittes hat sich in scharfe Aggression verwandelt. Selbstbewusst und eiskalt thront sie nun über dem Chor, der sich ihr eingeschüchtert fügt, nur noch eine beobachtende Funktion ausführt und als Echo ihrer Worte dient. Die Frau denunziert die Anforderungen der modernen Dienstleistungsgesellschaft, die die unglücklichen Mütter durch verblendende Erfolgsperspektiven ihrer Söhne beraubt. Dann verleumdet sie den eigenen Sohn, der eindeutig nicht den Stoff zum Weltmeister besaß und sie nie stolz machen konnte; zum Schluss scheint sie wieder einen Sinn für ihr Frau-Sein zu erblicken: Wenn sie nur Mutter eines der „Zehnkämpfer“ (SP/44) sein könnte, die tatsächlich Ergebnisse mit heim bringen. Einem solchen Krieg würde sie zustimmen, „Krieg! Krieg! Jubeln! Freuen! Frohlocken!“ (SP/43).
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Der standardisierte weibliche Anschein Für den Auftritt der jungen Frau frischt Schleef wieder das oft verwendete Tüllkleid auf, diesmal jedoch in überdimensionaler Größe, da es als Symbol für die weibliche Schönheit schlechthin dienen soll. „Zu Frau und Sport habe ich etwa folgendes zu sagen: Die Frau muß schön sein“ (SP/45) verkündet die im prachtvollen schwarzen Tüllrock stehende Figur, die wie eine Skulptur wirkt, und erklärt schmunzelnd ihre Idee der Frauenrolle innerhalb einer patriarchalischen Gesellschaft: Die eines zum Ding erstarrten reizenden Körpers, welcher zur Schau gestellt werden muss. Mit der Erscheinung der jungen Frau wird der Maßstab für das Schönheitsstereotyp veröffentlicht, wonach sich jede Frau richten sollte, die eine wenn auch nur scheinbare gesellschaftliche Anerkennung anstrebt. Zu dieser erleuchtenden Philosophie gehören die Freude an „Epilationismus“ und „enganliegenden Höschen“ (SP/46), also alles, was dem zur Figur-Werden ihres Körpers zugute kommen kann – der einzige Weg, um nicht als Versagerin dargestellt zu werden. Danach widmet sie sich cheerleaderhaft der Apologie des Sportlers, der wie ein Soldat sich selbst vergisst, um den Zuschauern eine Performance zu bieten, und dafür immer die harte Arbeit des Sich-fit-haltens leistet. Die Bewunderung der tüchtigen Sportler wird von den hasserfüllten Wörtern vier nackter Männergestalten bestätigt, die eine Ansprache gegen die sogenannten „Denker“ halten, die auf Grund ihrer Überheblichkeit oft eigentlich die „massenfeindlichsten Menschen“ (SP/56) sind, die Masse als „unbedeutend“ (SP/59) schildern und glauben, alles um sich herum aburteilen zu können. Die starre Schönheit bleibt während der ganzen Szene auf der Bühne, schaut sich mit verfremdeten und doch zufriedenem Blick um, als würde sie die Angriffe teilen, doch nur innerlich, denn reden gehört nicht zu den Aufgaben einer anständigen Frau. Als vorbildhafte Anhängerinnen des Gebotes der messianischen Weiblichkeitsikone erweisen sich die Mitglieder des ersten reinen Frauenchors der Inszenierung: Das Dutzend Darstellerinnen in pinken Rokokokleidern kommt auf die Bühne und nimmt diese mit sanften und immer anmutsvollen Bewegungen ein. Ganz vorne wird das „Opfer“ noch verprügelt und in einen Käfig gesperrt, seine vier Peiniger versuchen ihre Tat zu rechtfertigen, indem sie das Verbrechen auch als Arbeit schildern. Dann bleiben die puppenhaften Grazien alleine und während sie sich gegenseitig große federleichte Bälle zuwerfen, beginnen sie, wie verhext, den Peinigern mechanisch nachzuhallen. Bei der rhetorischen Frage „Hören sie an dieser Stelle die engagierten Künstlerinnen? Ich habe sie nicht engagiert!“ (SP/63) erheben Sie die Stimme und betonen sarkastisch das Wort „engagiert“. Kein Wunder, denn diesen Schwarm von zuckersüßen Porzellanpup-
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pen, die sich diszipliniert der Ausführung einer domestizierten Weiblichkeitsvorstellung widmen, kann eine emanzipierte, mit den Regeln brechende Frau nur als Verachtungsobjekt empfinden. In ihrem hübschen Aussehen und den prächtigen Ballkleidern kommen einem die reizvollen Figuren wie gefangen vor – im Reservat des Weiblichen verfangen – und sich ihrer Eingeschränktheit unbewusst. Voller Grazie und mit wenig Hirn, also für eine misogyne Gesellschaft tauglich, bilden diese Frauen einen optischen wie konzeptuellen Kontrast zu den „unerträglichen“ (DFP/10) rasenden Müttern von Schleefs Frankfurter Inszenierung. Plötzlich ertönt ein zweiter Frauenchor aus dem Off, der liturgisch den Text des Opfers psalmodiert, welcher die ihn opfernde Gesellschaft weiterhin hochschätzt und das Ungehört-sein als selbstverständliche Eigenschaft des Opfergeschicks hinnimmt, „leider unsichtbar, ohne Stimme, das Opfer“ (SP/50). Die Litanei desorientiert die Rokokoweiber, die nun mit ekstatischen Blick in die Luft schauen, als wollten sie die Sprecherinnen erblicken, und für einen Augenblick nachdenklich scheinen. Dann besinnen sie sich, greifen mit ruhigen aber überzeugten Ton den Tätermonolog wieder auf: „Verbrechen ist auch Arbeit, die meisten Menschen vergessen das, nur die engagierten nicht“ (SP/64) und laufen von der Bühne, indem sie, wie vor ihnen die Anführerin des Körper-Glaubens, ihre Bewunderung für die Figur des Sportlers verkünden. Genderinversionen: Der Täter, die Witwe und Andi Ausgehend von den im Text thematisierten Geschlechterkämpfen spielt Schleef mit den stereotypischen Eigenschaften der zwei Geschlechter, indem er diese mehrmals ineinander verwischen lässt und nicht als fixierbare Merkmale hinstellt. Mehr als die biologische Differenzierung von weiblich und männlich stellt er die gesellschaftlich-historische Funktionen „Mann“ und „Frau“ aus und zeigt, wie die den beiden Kategorien bindend zugeschriebenen Kennzeichen auch in einen geschlechtlich entgegengesetzten Körper versetzt werden können. So zum Beispiel im martialischen Auftritt, der auf die ästhetisierende Ballkleid-Szene folgt: Rechts und Links betreten Sportler die Bühne, bilden zwei diagonale Linien, und beginnen mit voller Wucht ihre Fußbälle von einer Seite zur anderen zu schießen. Den Schüssen ausweichend, tritt eine in Frack gekleidete Frauengestalt nach vorne und trägt eine verwirrte Fassung eines der Opfermonologe vor. „Wir Opfer werden nicht geschont […] Ich hatte nie die Möglichkeit, Täter zu sein“ (SP/67) lautet es im Text von Jelinek. Die androgyne Darstellerin sagt stattdessen „Wir Täter“ und verwechselt die beiden Definitionen für die gesamte Dauer ihrer Ansprache. Der wiederholte Lapsus stellt sich somit als gewollte In-
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version heraus, die auf die Idee der Gleichgültigkeit von Täter und Opfer bzw. auf die Belanglosigkeit beider Figuren gegenüber dem Lauf der Geschichte anspielt, die über alle hinweggeht (SP/116). Ob man nun die Lage des Täters oder des Opfers einnimmt – das Schicksal der Menschheit bleibt unvermeidbar egalitär, sodass es unwichtig erscheint, wer auf Erden den Geschlechterkampf letztendlich gewinnen wird. Zwischen den Zeilen lässt sich ein Art memento mori lesen, der über das flüchtige Vergnügen ironisiert, das der Mann an der weiblichen Opferung empfindet. Obwohl Schleef, kohärent mit seiner Absicht, dem weiblichen Subjekt wieder einen wesentlichen Raum zu erteilen, die Entscheidung trifft, den Text einer Frauenstimme zu überlassen, scheint ihm dennoch eine weitere Inversion zutreffend: Wenn geschichtlich die Rollen von Täter und Opfer immer streng geschlechtlich konnotiert wurden, jeweils männlich und weiblich, muss diese Frau maskulinisiert werden – deshalb der Frack, als sarkastische Legitimierung der weiblichen Usurpation. Zum Schluss dieser Szene geht die Täterin zwischen den sechs von der Decke herunterhängenden männlichen Körpern heraus. Diese baumeln nackt, mit dem Kopf zum Boden, über der Bühne, wie enthäutete Viecher im Schlachthof. Hiermit holt Schleef die Brutalität des jelinekschen Textes auf, den er als „viel schärfer angelegt als die Aufführung“374 beschrieben hatte. Tatsächlich tauchen dort öfters Regieanweisungen auf, die mit überspitzter Leichtsinnigkeit auf grausame Auseinandersetzungen hinweisen: Es ist von blutigen „Menschenbündel(n)“ (SP/16) die Rede, sowie von zertretenen Opfern (SP/44), von heruntergeworfenen „Unterschenkelknochen“ und Skelettfüßen, die selbstverständlich als Fußbälle benutzt werden (SP/61f.) usw. Schleef lässt die dem Stück zugrunde liegenden Gewalt meistens durch stimmliche Mittel – Tonerhebungen, Beschleunigungen, aggressionsgeladene Schreie und bedrohliche Töne – und durch die ständigen körperlichen Anstrengungen zum Ausdruck kommen, doch mit seinen pendelnden Kadavern performiert er auch visuell die Bestialität der modernen menschenverschlingenden Gesellschaft. Weitere bedeutungsvolle Genderinversionen bietet Schleef mit der Darstellung von zwei zentralen Figuren: Der mörderischen Witwe und dem verstorbenen Andi. Erneut deutet Schleef auf die historisch geschlechtlich differenzierten Täter-Opfer Funktionen hin, die den Mann als Täter und die Frau als Opfer festlegen. Der Vorhang öffnet sich zu den Noten von Mozarts Kanon „Im Arsch wird’s finster“, Originalfassung des Textes, der dann aus Sittlichkeitsgründen zu „Im Grab ist’s finster“ zurechtgeschrieben wurde. Das Zitat deutet ironisch auf das Schicksal der sich einer menschenverachtenden Gesellschaft anvertrauenden Op-
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fer, denen mittels flüchtiger Erscheinungen in den Medien das trügerische Gefühl von Zugehörigkeit und Wichtigkeit gegeben wird, bis sie öffentlich zum Narren gehalten werden und letztendlich im düsteren Grab landen – wie im Falle des Andi, der bald das Wort ergreifen wird. Doch zuerst kommt der Zwischenbericht der Witwe an die Reihe, von einem männlichen Darsteller im zwittrigen Kostüm rezitiert. Am Brustkorb trägt er eine Ritterrüstung und darunter einen hellen flatternden Tüllrock, auf dem Kopf eine 18. Jh. Perücke, die er immer wieder in Ordnung bringen muss und dabei eine Ungeschicktheit zeigt, die im Kontrast zu seiner strengen, autoritären Sprechart steht. Diese parodierende Unausgewogenheit spiegelt die tiefgründige Diskrepanz, die einer undefinierbaren Geschlechtlichkeit folgt. Denn die Witwe hat mehrmals gemordet, um sich von ihrer „Krankheit Frau“ (SP/78) zu befreien, und hat somit automatisch die Funktion-Mann übernommen, wenn man an der bereits geschilderten Gleichung von Mann = Tod festhält. Wenn das Töten aber ursprünglich exklusive Befugnis des männlichen Geschlechts ist, scheinen sich die Bereiche nun zu überkreuzen, ineinander zu verwischen. Die Grenzen zwischen dem einen und dem anderen Geschlecht sind nicht mehr so deutlich auseinanderzuhalten, und so kann die Witwe zurecht behaupten, sie sei „eine Frau und gleichzeitig ihr Gegenteil“ (SP/78). Indem sie sich durch Gewalt von extern festgelegten Maßstäben emanzipieren will, transzendiert sie die historisch weiblich benannte Sphäre und wird Hybrid. An dieser Stelle kommt ein typisch schleefscher Ausdruck zur Geltung, womit er in DFP die weiterhin erniedrigende Haltung der herrschenden Gesellschaft gegenüber den Frauen schildert und in früheren Inszenierungen öfters durch den Einsatz der bereits erwähnten, in Putzfrau Montur gekleideten Frauen szenisch konkretisiert hatte. Ob Jelinek das Wort „Drecksarbeit“ (SP/84) bewusst Schleef zitierend oder zufällig verwendet, erscheint nebensächlich, denn in beiden Fällen bietet es eine weitere Bestätigung der intellektuellen Affinität zwischen Autorin und Regisseur. Die Witwe beschwert sich darüber, als Frau immer alleine gelassen zu werden und die ganze „Scheiße“ (SP/83f.) wegputzen zu müssen: Sie erwartet erst gar nicht mehr die Hilfsbereitschaft der sich als kräftig und kühn darstellenden Männer, denn mit Drecksarbeit müssen Frauen selber zurechtkommen. Nur dadurch, „in der Negativität der endlosen Schmutzentfernung, Kinderscheißeentfernung, Greisenscheißeentfernung, Krankenscheißeentfernung“375 haben sie eine Chance auf Anwesenheit, auf Existenz, wenn auch eine entwürdigte. Und wenn es für das Universum Frau schon so bestimmt wurde – und zwar scheinbar irreversibel, wie es Jelinek sarkastisch und zugleich resigniert feststellt –, sollte wenigstens eine Leidenschaft daraus gemacht werden, wie es im Sportstück passiert. Hier wird das Verbinden von „Schweiß, Blut und Exkre-
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menten“ zum Lieblingssport (SP/85) und Schleef steigert die schon bittere Ironie, indem er den Absatz mit starken wienerischem Einschlag sprechen lässt, wenn der hermaphroditische Ritter mit groteskem Enthusiasmus von seinem abstoßenden Hobby berichtet. Erneut verlässt sich Schleef auf ein musikalisches Intermezzo, um den Szenenwechsel einzuführen und ein metaphorisches Präludium zu den nächstfolgenden Themen zu bieten. So sind die Strophen des Volksliedes „Brüderlein Fein“376 zu hören, das nostalgisch die verflossene Jugend preist und auf die gegenwärtige Situation Andis deutet, dessen Dasein in der Blüte des Lebens unterbrochen wurde. Andi hat die Jugend der Nachahmung seines Idols gewidmet und dabei die eigenen Grenzen überschritten: Er hat dummerweise gehofft, durch Übermengen von „Testoviron, Parabolan, Halotestin“ (SP/98) und erschöpfendes Training auch ein „Gott“ werden zu können und musste für den Übermut zahlen. Sein Monolog wird von einer weiblichen Stimme aus dem Off gesprochen, die Stimme ohne Körper bleibt, denn Tote bleiben den lebenden Blicken verborgen. „Kaum hab ich mir die Hieroglyphe des Sports in meinen Körper eingravieren lassen, hat der Sport auch schon begonnen, meinen Körper […] von innen aufzufressen!“ (SP/88); dann fährt die Stimme mit der Laudatio an den uneinholbaren Arnold den Terminator fort, dem alles vergönnt wird, und erkennt die eigene Schwäche, gesteht zum Schluss sogar etwas Selbstmitleid ein: „Ich tue mir jetzt, da ich tot bin, schon ein bißchen leid“ (SP/97). Andis Tragödie, dessen Pathetik mittels der immer ironisierenden Vortragsweise gedämpft wird, besteht darin, alles gegeben zu haben, um sich auch nur einen Schimmer von Unsterblichkeit zu sichern und von sich hingegen, nach dem Gesetz der Vergeltung, nur als Gestorbener erzählen zu können. Als Stimme aus dem Jenseits ist er somit leicht in die „Lage einer Frau“ (SP/98) zu versetzen, die seit jeher als das nicht-mehr-zu-sehende, ausgestoßene, Nicht-Subjekt gilt. Das mangelhafte Ich von Andi entspricht der weiblichen Funktion des Negativums und so fällt der Entschluss der Geschlechtsumkehrung, die hier stimmlich durchgehführt wird. Der Geschlechterkampf wird handgreiflich Der bis jetzt nur wörtlich angedeutete Geschlechterkampf wird nun sehr konkret. Die Auseinandersetzungsszene wird von einem Fußballspiel eingeführt, wodurch das Grundthema des Stückes beispielhaft vollzogen wird, der Sport. Der Bühnenraum wird von einer Kinderfußballmannschaft gestürzt, deren Match von zwei Kontrollinstanzen geleitet wird, dem Trainer und der Schiedsrichterin. Die beiden stellen sich bereits farblich als Extreme aus: Er im langen schwarzen
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Jogginganzug, sie im weißen minimalistischen Trikot sticheln sich während der agonistischen Performance mit herausfordernden Blicken. Mit dem Abpfiff laufen die Kinder von der Bühne und lassen die beiden alleine in der Ausführung eines eskalierenden häuslichen Streites. Anfangs scheint eine gewöhnliche Alltagdiskussion nachgestellt zu werden, die dennoch bald von der reinen verbalen auf eine körperliche Ebene übertragen wird. Wie in einem durchschnittlichen Wohnzimmer beschwert sich die Frau darüber, dass ihr Mann ihr weder sexuelle noch intellektuelle Aufmerksamkeit schenkt, ihr nie zuhört und bloß an den im Fernsehen übertragenen Spielen interessiert ist. Sie fühlt sich so vernachlässigt und missachtet, dass sie sich kaum noch als Frau empfindet, und wird von dem Mann darin bestätigt: Irritiert von ihren endlosen Beschwerden hält er ihr vor „unweiblich“ zu sein, „dem übrigen Geschlecht der Menschen fremd“ (SP/108). Damit zeichnet er sie dennoch, Penthesilea zuwider, nicht als sonderbares Gemüt aus, sondern empfindet ihr anders-als-der-Durchschnitt-sein als Störfaktor. Sie kann sich nicht mehr zurückhalten, spricht nun mit klaren Worten ihre Missachtung gegenüber dem alles vernichtenden männlichen Geschlecht aus, spürt einen gewissen Reiz am eigenen Zorn und kann dennoch die Zerbrechlichkeit nicht gänzlich leugnen, ihre Zerrissenheit ist „entsetzlich“ (SP/112). Der Mann kann mit diesem unerwarteten rebellischen Tun nicht umgehen, droht der Frau nun auch körperlich bis zu einem Vergewaltigungsversuch, dem sie geschickt entkommt. Mitten auf der Bühne stellt sie sich mit gespreizten Beinen auf, die Arme in den Himmel ausgestreckt in einer Geste der vollkommenen Befreiung. „Ein Frauenstaat, in dem keine Männerstimme mehr gehört wird“ (SP/118) ruft sie träumerisch aus, während man im Hintergrund vier übermäßig große Frauengestalten erblickt. Claudia, Naomi, Helena, Christy schleifen vorsichtig mit den überdimensionalen Schuhen, die ihre Modelbeine noch länger wirken lassen, über die Bühne. Die modernen Amazonen sind nur noch groteske Karikaturen der tugendhaften Namenschwestern und passen somit genau in den Plan einer sexistischen Gesellschaftsvorstellung. Im Gegensatz zu der monotonen, seit dreißig Jahren immer dieselben Ansprüche erheben wollenden Frau, die noch nicht mal über appetitliche Brüste verfügt, also eigentlich vollkommen nutzlos ist. Nun wird es handgreiflich, die Frau wird zur Furie, stürzt sich auf den Mann, der sie mit einem letzten Atemzug noch beschimpft, und erdrosselt ihn kaltblütig. Inzwischen völlig enthemmt, sucht sie nach keinerlei Entschuldigung für ihre Mordtat, es gehöre nun mal zum Kreislauf der Geschichte, behauptet sie mit zynischem Grinsen. Dann schleppt sie den Kadaver von der Bühne in einem de-
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monstrativen Akt der Verbannung: Die seit jeher vom aktiven Geschehen ferngehaltene Frau wird nun selber ausstoßendes Subjekt. Hier kann Schleef die ersehnte Umkehrung der bestehenden Machtverhältnisse versachlichen, zumindest temporär. Die weibliche Figur erobert sich das Zentrum des Konflikts zurück, doch gelingt es ihr nicht, die neu erworbene Macht auf eine konstruktive, gewaltlose Art anzuwenden. Rachedurstig und gnadenlos wird sie, ihrem ehemaligen Peiniger gleich, zur Täterin. Somit lässt Schleef die trostlose Überzeugung bezüglich der intrinsischen Natur der Herrschaft an sich durchscheinen, die unerbittlich durch Gewalt zum Ausdruck kommt und die Gleichgültigkeit des Machthabers schildert; doch diese Ansicht soll an einer späteren Stelle noch ergründet werden. Die monumentale Sportszene Die vielleicht eindrucksvollste Szene der über fünf Stunden dauernden Inszenierung wird von einem Auftritt zweier ehemaliger Heerführer eingeführt, Achill und Hektor, die das Kriegsgewand längst ausgezogen haben, um sich der modernen Welt anzupassen. Die in weiße mönchische Kutten gekleideten Helden haben die Gesellschaft durchblickt, deren Motto lautet „Wer in der Wirtschaft versagt, versagt auch im Leben“ (SP/135), und sich nun als „Sport- und Wirtschaftsfunktionäre“377 neu erfunden. Auch in der neu erschaffenen Existenzsparte behalten sie eine angesehene Position, doch scheinen angemessene Ansprechpartner zu fehlen. Statt eine anregende Konfrontation zu suchen, sprechen sie ins Leere und führen einen absurden Nicht-Dialog, den Schleef durch das unlogische Aufeinanderfolgen ihrer Einsätze schildert. Die Darsteller respektieren nicht die Aufgliederung des geschriebenen Textes, sondern sprechen über ihre eigenen Zeilen hinweg, eignen sich Teile der eigentlich für den Kollegen vorgesehenen Sätze an und heben somit die Rollenunterscheidung auf. Erneut setzt sich das Prinzip des nicht-protagonistischen Theaters durch, in dem es unwichtig ist, ob Achill oder Hektor spricht. Was resultieren muss, ist eine maßgebende Stimme, kräftig genug, um sich über die mechanisierte Masse zu stellen und dieser Befehle zu erteilen. Bevor diese Masse sich endgültig auf der Bühne zurechtfindet, geht sie, dem Kommandopfiff der autoritären Befehlshaber folgend, vier Mal auf und ab und wechselt dabei immer Kostüme, die von der schlichten Sportkleidung bis zu historisierenden Uniformjacken reichen. Die unterschiedliche Uniformierung deutet auf die breitgefächerte Natur der Masse hin, deren Auftreten sich nicht auf einen bestimmten Bereich beschränkt, und stärkt somit die Behauptung der pfeifenden Herrscher: Es gibt keine Individuen mehr, sondern „Millionen Geschlagener“
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(SP/133), die sich in undefinierten Gemeinschaften verstecken. Wenn sich die gehorchende Masse als unscheinbare und doch omnipräsente Gestalt in der Menschengesellschaft erweist, wird auch der sie auf dem Theater vertretende Chor als immer anwesendes Subjekt ausgestellt, der zwar über die Zeit hinweg stillgehalten bzw. verleugnet wurde, doch nie gänzlich abgeschafft werden konnte. Mit ihrem letzten Einmarsch wird die ca. fünfzigköpfige Gruppe, erneut in die nun bekannten weißen Trikots gekleidet, eine knappe Dreiviertelstunde auf der Bühne bleiben, um auf dieser mit martialischen Bewegungen zu trainieren und dabei verschiedene Textflächen zu sprechen. Der über sechs Reihen geordnete Sportchor boxt simultan um sich herum und spaltet sich mehrmals in verschiedene Untergruppen, die abwechselnd oder sich überkreuzend Textteile vortragen. Das Durcheinander der Stimmen spiegelt die Fragilität, die der ständig bedrohten Chorgestalt innewohnt; doch diese ruft sich immer wieder selbst zur Disziplin zurück – „fünf sechs sieben acht“. Ohne gehorsam kein Befehlshaber, der uns befiehlt: lockeres Traben, Rückwärtslauf, Seitlauf, Anfersen, Knieheben, Gehen mit Schulterkreisen, Traben, Lange Schritte, Knieheben intensiv, Anfersen intensiv, kurze Sprints, Ferse zum Gesäß, Schrittstellung, Bein auf Bank (gerade), Bein auf Bank (seitlich), Schulterkreisen, Oberkörper verdrehen, dann: den Ablauf, die positiven oder negativen Ausführungen kurz geistig durchgehen. (SP/176)
Somit wird die Gehorsamkeit der zu Masse reduzierten Einzelnen offenbart, die wie Soldaten Befehlen folgen und als punktgenaue doch nicht-denkende Getriebe erscheinen. Wenn sie es nicht wagen, gegen die Herrscher zu rebellieren, tragen die Mitglieder der Chorgemeinschaft dennoch eine gewaltige Aggression in sich, die durch die andauernde Fortsetzung von Geschlechterkriegen zum Ausdruck kommt. Und das von beiden Seiten empfundene und geäußerte „Entsetzen“ ertönt wie ein Schlagwort dieses Krieges und Verbindungsglied zwischen dem Sportstück und dessen zwei wichtigsten Bezugstexten, Elektra und Penthesilea. Denn „entsetzt“ äußern sich die Oberpriesterin und das Gefolge der Amazonen beim Anblick der wahnsinnig gewordenen Penthesilea, die mit tierischer Wucht ihren Geliebten zerstückelt378; und „entsetzlich“ nennt Chrysothemis ihre hasserfüllte Schwester Elektra, die sie zum Muttermord überreden will379. Und in Sportstück scheint der ebenfalls mehrmals verwendete Ausdruck380 „Entsetzen“ ein grundsätzliches Gefühl gegenüber einer kannibalischen Gesellschaft zu schildern, die ihre Komponenten verschlingt bzw. aufhetzt, sich gegenseitig zu vernichten. So sind die übermächtigen Männer genau so entsetzlich, wie die sich von der Unterdrückung befreien wollenden und zu rasenden Bestien umgewandelten Frauen. Gerade diese gleichmäßige Verbreitung des Wahns
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zeigt Schleef, indem er das Wort „Entsetzen“ mit hämmernder Insistenz wiederholen lässt. Während der Männerchor „Entsetzen greift um sich, ergreift was und wen es will“ (SP/152) brüllt, antwortet der Frauenchor „Entsetzen, Entsetzen“, die Geschlechter schreien aneinander vorbei, merken nicht einmal, dass ihre Wahrnehmungen sich eigentlich überschneiden. In diese erschreckende Weltanschauung lassen sich weitere Schlüsselwörter einordnen, die Schleef mit besonders starker Betonung aussprechen lässt – „Opfer“, „Zorn“, „Protest“, „Leistung“ – und zu einem roten Faden der Grausamkeit zusammenflicht. Die Einsätze werden ohne jegliche Ordnung vorgetragenen – Schleef lässt die Sportmasse auf der Bühne sowie im Text hin und her springen – und steigern sich in eine immer lauter werdende Stimmenklimax, auf deren Höhepunkt der Einsturz folgt: Der gesamte Chor fällt erschöpft und wortlos auf den Boden. Doch es ist noch nicht das Ende, es folgt eine paradox wirkende musikalische Einlage: Nach einigen Minuten Stille fangen zwei Figuren an, den auf Leben, Liebe und Wein lobpreisenden Walzer aus Giuseppe Verdis La Traviata zu singen, „Libiamo ne’ lieti calici“. Das freudige Opernzitat trägt einen bitteren Beigeschmack mit sich und klingt als zynisches Oxymoron nach der langen chorischen Denunzierung der gängigen menschenunwürdigen Zustände. Und der Chor reagiert mit energischer Aggression auf die unverschämte Verspottung seines Elends: Erneut tritt der fünfzigköpfige Mastodon wieder auf und trennt sich diesmal auch optisch in zwei geschlechtlich gekennzeichnete Gruppen: Frauenund Männerchor laufen abwechselnd bis an die vordere Bühnenkante, boxen dort wieder gegen einen imaginären Gegner und brüllen weitere Textflächen, die immer unverständlicher werden, auf Grund der Überlappung mit einem weiteren Chor. Dieser besteht aus drei männlichen Gestalten, die von der linken Seite der Bühne einen längeren Auszug aus Penthesilea deklamieren. Obwohl das Publikum in dem verwirrenden Stimmenchaos die zwei Texte kaum entziffern kann, dient der Penthesilea-Stoff, das Geschlechterkampfdrama schlechthin, als literarische Grundlage für die von Schleef auf agonistische Art ausgestellten Gender Troubles. Im Gegensatz zu dem eher privaten Streit, der sich kurz davor in körperliche Gewalt zugespitzt hatte, ergibt sich hier der Geschlechterkampf durch die vollkommen klangliche Eroberung des Bühnenraums, die eine starke akustische sowie emotionale Wirkung ausübt. Doch auch hier lässt Schleef die Auseinandersetzung mit der weiblichen Machtübernahme enden: Auf den Sturz des besiegten Achilles hört man kreischende Frauenstimmen „Triumph! Triumph! Triumph!“381 ausrufen. Der von der Decke gefallene Held in antikisierender Kriegsmontur ist nur noch die Persiflage seiner selbst 382. Schwankend versucht er sich noch eimal aufzustellen, als wollte er an seiner Maskulinität festhalten,
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und wiederholt mit verschiedener Intonation das Wort „Man(n)“ (SP/165), womit er den eigenen Zweifel enthüllt, überhaupt noch einer zu sein. Elektra, Chrysothemis und Klytaimnestra: Drei Frauentypologien Aus der Falltür steigt eine imposante Frauengestalt, mit wilder Löwenmähne und goldener Kleidung. „Was willst du? So seht doch, dort! Wie es sich aufbäumt mit geblähtem Hals und nach mir züngelt! Und das laß ich frei in meinem Hause laufen! Wenn sie mich mit Blicken töten könnte“ (EL/130). Mit den Worten Klytaimnestras führt Schleef das Thema des unverträglichen Mutter-Tochter Verhältnisses ein und verkörpert in Elektra die Figur der Rache und Klage. Diese bleibt im Dunkeln und verachtet die Mutter für die kaltblütige Ermordung Agamemnons und die Leichtsinnigkeit, womit sie den verweichlichten Liebhaber Aigisthos in das Familienhaus gebracht hat. Klytaimnestra will keine Vorwürfe hören, versucht ihre Tat zu verharmlosen und zu rechtfertigen, doch kann sie die ihre Seele zerreißenden Schuldgefühle nicht gänzlich verbergen. Denn über die Träume übt sie noch keine Allmacht aus, und gerade diese decken ja nun die innigsten Gefühle auf: Doppelt ist das Gewicht, das sie für ihre Verbrechen mit sich trägt, denn noch bevor sie den Ehemann getötet hatte, hatte sie bereits den Sohn verbannt und für tot erklärt und fürchtet nun seine Rache. Doch am helllichten Tag zeigt sie keine richtige Reue und geht ihrem Ziel erbarmungslos nach: Sie will „leben und die Herrin sein“ (EL/143), ganz wie die Witwe aus dem Sportstück. Um Zentrum ihres eigenen Lebens zu sein, erklärt sie sich zu allem bereit, sie wird die Träume loswerden und somit ihr Gewissen zum Schweigen bringen. Vor dem Starrsinn ihrer Mutter wird Elektra immer rasender, kostet bereits in Gedanken ihren Tod vor „Ich steh’ da und seh’ dich endlich sterben!“ (EL/ 146) schreit sie wie besessen. Sobald die Mutterfigur schwindet, färbt sich Elektras Stimme kurzfristig wieder in einem sanfteren Ton, „Wo bist du, Vater?“ (EL/ 119), fragt sie trostlos. Hier lässt sich eine weitere Kontinuität zum jelinekschen Text erkennen, die erst auf die Komplexität der Beziehung zur Mutter deutet und zum Schluss den Vatermord klagt, für den sie sich mitschuldig fühlt, weil unfähig, sich früher gegen die omnipotente Mutter wehren zu können. Daraufhin kommt Chrysothemis ins Bild, auch sie verzweifelt, doch versucht sie die Schwester zur Vernunft zu bringen, bittet sie, die Vergangenheit zu vergessen und neu zu beginnen. Obwohl sie den Wahn Elektras auf einer prinzipiellen Ebene begreift, ist sie von der Vorstellung erschüttert, wie eine Gefangene im Elternhaus zu sterben, denn alles, wonach sie strebt, ist im Grunde, ihr „Weiber-
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schicksal“ (EL/124) zu erfüllen, Kinder zu zeugen, Mutter und Ehefrau zu werden. Aber die unbändige Elektra konzipiert kein Vergessen, sie besteht auf ihrer Rache, mit oder ohne die Hilfe der sie im Stich lassenden Schwester. Indem er diesen Frauenfiguren einen so großen Aufführungsraum zuteilt, schafft Schleef sich selber die Möglichkeit, die Frage nach dem weiblichen Individualisierungsprozess szenisch wiederaufzugreifen. Obwohl er in Droge Faust Parsifal zuerst Elektra als erstes sich individualisiertes Frauensubjekt schilderte, überlegte er am selben Ort, ob diese Errungenschaft vielleicht nicht doch ihrer Mutter zustünde (DFP/267). Hier stellt sich der Zweifel erneut, denn wenn Elektra anfangs wild auf ein Selbstentscheidungsvermögen pocht, wird sie zu Ende der Szene eigentlich fast zahm, als würde sie auf die Individualisierungsansprüche verzichten. Schleef zeichnet hier drei verschiedene Typologien von Frau aus. Klytämnestra ist die skrupellose, individualisierte Mutter, die durch ihre Mordtat völlig aus den Weiblichkeitsstandards herausgefallen ist; sie ist nun Täterin, also dem Mann gleich. Chrysothemis hingegen hält gerade an diesen Standards fest, sie trauert auf Grund des schrecklichen Schicksals ihrer Familie, doch sie möchte in die Zukunft blicken und ist dafür bereit, Rache und Gleichberechtigungsforderungen beiseite zu legen, um eine ungestörte ordinäre Existenz zu führen. Elektra positioniert sich zwischen den beiden: Sie kann die Ungerechtigkeit nicht akzeptieren, spürt den Drang, dagegen zu handeln, doch verfügt sie nicht über die Skrupellosigkeit ihrer Mutter, sodass sie allein schon beim Gedanken eines Racheakts zu kollabieren anfängt. Deshalb fasst sie den Entschluss zu delegieren, und zwar an ihren zurückgekehrten Bruder. Gerade in dieser Ermächtigung erweist sich die Differenz zwischen der mythologischen, von Hofmannsthal neubearbeiteten Figur der Elektra, die Rachepläne schuf, und Jelineks Elfi Elektra, die bei der Klagephase bleibt. Als hätte sie die Zwecklosigkeit einer selbstständigen Aktion eingesehen, die in einer Männerwelt nicht wahrgenommen werden würde, verzichtet sie auf die unerfüllbaren Ansprüche, die ihr als Frau trotz aller Versuche verweigert bleiben. Und ihr Bruder erhebt keinen Einspruch dagegen, der vorbeugende Rückzug Elektras ist ihm sogar sehr recht; er bezichtigt sie sogar noch, immer so unerträglich „ernst“ (SP/169) gewesen zu sein und distanziert sich somit auch von dem antiken Vorbild, wodurch er sich der Schwester gegenüber herzlich und schützend gezeigt hatte. Schleef macht aus ihm einen Orestchor, in Matrosenuniform gekleidet, der den Geschlechterkampf erneut entzündet und Elektra als unvollkommene Frau darstellt, die sich nie sexuell unterworfen hat und der weiblichen Aufgabe der Mutterschaft nicht nachgekommen ist, sie sei also „Verflucht und zugenäht!“ (SP/169).
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Auf die Verleumdungen antwortend, wird auch Elfi Elektra durch einen unsichtbar bleibenden Frauenchor gesprochen. Somit übernimmt diese Figur die ursprünglich dem antiken Chor zustehende Klagefunktion und verkörpert die post-protagonistische Figur der Klage 383, die nicht agiert. Mit Mozarts Arie „Ridente la calma“ wird an die wieder einkehrende Ruhe für Elektras so verwüstete Seele appelliert. Auf die verspottende Provokation der Seemänner, die über den weiblichen Anspruch mitreden zu dürfen, bösartig lachen, und die Frauen zu einer Konfrontation herausfordern, reagiert Elektra Elfi kaum, sie scheint nun eher die Faktenlage so hinzunehmen, wie sie ist, denn ein wahrhaftiges Mitspracherecht wird sie nie erlangen: „Und ich sage weiters, daß ich die ganze Zeit rede, Sie hören es ja selbst, aber es ist, als wäre es zu Schlafenden“ (SP/174). Schleef als Autorin und der Rückfall ins Reservat Der Abschlussmonolog wird im Sportstück einer als „Autorin“ definierten Figur überlassen, die aber laut Jelinek auch durch Elfi Elektra vertreten werden kann (SP/184). Dieser wurde zum Teil als der intimste Moment des gesamten Stückes verstanden, in dem die Autorin sich bei ihrem eigenen Vater dafür entschuldigt, Komplizin ihrer Mutter gewesen zu sein und ihn in einem Spitalbett habe sterben lassen384: „Und ich habe selber dabei mitgemacht, als mein Papa umgebracht worden ist“ (SP/184). Ob Jelinek diesen Monolog aus biographischer Sicht oder aus rein literarischen Zwecken gestaltet hat, soll hier nicht ergründet werden, doch steht fest, dass sie hier mit der Darlegung eines solchen Schuldgefühls eine starke thematische Kontinuität zur mythischen Elektrafigur bildet und über das reine Rachebedürfnis hinausgeht. Wenn sie nämlich die Fassungslosigkeit über die Vernichtung des Vaters schildert, erzählt, wie sie von den Mitmenschen als Mörderin bezichtigt wird und mit dem Verlust nun leben muss, erkennt sie zugleich auch die väterliche Schuld an ihrer Einsamkeit: „Papa, du bist ein Gott gewesen und hast für mich nicht gekämpft“ (SP/187). Er hat sie nicht geschützt und sie im Kampf um Mitspracherecht allein gelassen. Verblüffend erscheint, dass gerade dieser Teil nicht von einer der vielen weiblichen Darstellerinnen gesprochen wird, die im Laufe der Inszenierung aufgetreten sind. Schleef hätte sich eigentlich Elfriede Jelinek selbst als Sprecherin dieses Monologes gewünscht, doch diese habe sich sofort als zu schüchtern bzw. eingeschüchtert dafür erklärt und den Vorschlag abgelehnt 385. Nach verschiedenen Überlegungen entschloss Schleef sich dann, selber mit dem Text über die Bühne zu gehen. Mit dem Hochgehen des Vorhanges treten vier Bühnentechniker nach vorne und rollen dabei ein riesiges Leinentuch aus, worauf Buchstaben zu erkennen
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sind. Es dient sowohl als „letztes Bettzeug aus dem Irren-Haus“ (SP/185) als auch für eine symbolische Anwesenheit der Autorin, deren Text wortwörtlich niedergeschrieben worden ist. Trotzdem, um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, stellt Schleef den Zitierungsprozess deutlich aus, indem er sich umgehend als bloßer Vorleser des Textes definiert: „Die Autorin Elfriede Jelinek, Doppelpunkt“. Dann beginnt er die Anrede an den Vater zu deklamieren und diese verschiedenen Stimmschattierungen zu färben; nach jedem zweiten Wort spricht er den Vater persönlich an, sodass „Papi“ zum aufdringlichen Füllwort wird, mal beängstigt, mal liebevoll, mal ironisch, mal angewidert ausgesprochen. Bis es sehr laut wird: „Haben Sie mein Recht gesehen?“, brüllt er in den Zuschauerraum, ohne sich eine Antwort zu erwarten. Um das Pathos zu dämpfen, spricht Schleef dem Publikum ironisierend sein Mitgefühl aus, welches sich „das alles anhören“ muss und versteht, dass die Zuschauer bereits applaudieren würden, um die durch sein Gebrüll verkörperte Stimme der Elfi Elektra endlich zum Verstummen zu bringen. Doch der Regisseur begleitet weiterhin den hoffnungslosen Anspruch auf Mitspracherecht und Ansehen, er vertritt noch einmal die Verzweiflung Elektras, welche auch die der Autorin und jeder anderen im Stück erwähnten „engagierten“ Frau ist. Hier hat Schleef die konkrete Möglichkeit, sich in erster Linie für die Wiedereinführung des weiblichen Subjekts einzusetzen, wofür er in seiner früheren Theater-Praxis und -Theorie plädiert hatte. Wohlwissend, dass auch diesmal niemand zuhören wird, bricht Schleef in einen entsetzlichen Schrei aus: „Mein Gebrüll übertönt die Menge. Sie haben schon längst Schweigen geboten und ich will immer noch, dass mich alle hören sollen“ (SP/187). Wie lächerlich Elfi Elektras Hoffnung auf Selbstbestimmung ist, wird durch das erneute Auftauchen der rosa Ballkleider endgültig klar. Von der Brandmauer kommt der diesmal sichtbare Frauenchor nach vorne und verkündet mit piepsender Stimme den Triumph über den gestürzten Achilles, der diesmal paradox klingt. Danach liest der Chor die letzten zwei Aufritte386 aus Kleists Penthesilea von Pergamenten ab, dessen Inhalt auf Grund der Piepsstimmen lächerlich und verfremdet erscheint – wie andererseits auch das Weiterbestehen der Amazonenfiguren in einer Männerwelt verfremdend wäre. Die resoluten Kämpferinnen scheinen eine Regression erlebt zu haben: Mit dem Versagen ihres emanzipierten Staates sind sie wieder in das Reservat des Weiblichen zurückgefallen und haben sich das Verhalten der guterzogenen, gesellschaftlich angemessenen Frau angeeignet. Mit manieriertem Tun erinnern sie, wie sogar die dem Wahn verfallene Penthesilea mal den gegebenen Weiblichkeitsstandards entsprach, „so voll Verstand und Würd und Grazie!“387. Wie gefühlsgelähmte Sprechmaschinen fah-
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ren diese Frauen mit der Lesung fort, bis die Oberpriesterin im schwarzen Ballkleid auf die klägliche Natur des Menschen hindeutet: „Ach! Wie gebrechlich ist der Mensch, ihr Götter!“388. In Anbetracht dieser Offensichtlichkeit wachen die Frauen aus ihrer Trance auf und fangen an, um ihr Leben zu schreien. Es handelt sich tatsächlich um einen existenziellen Schrei, da sie sich vor der Unvermeidbarkeit ihres Scheiterns befinden und erneut an die schwarzen brüllenden Mütter erinnern. So wie diese, kämpfen die Rokoko-Damen bis zum Ende: Sie rebellieren gegen den unsichtbaren Männerchor, der für das gesamte männliche Geschlecht steht und die Frauen zurechtweisen will, indem er ihnen aus dem Off bedrohlich „Kunst, Kunst, Kunst“ zuschreit. Diese erwidern mit einem immer schwächer werdenden „Brot, Brot, Brot“, dann gehen sie seelisch zu Grunde und brechen körperlich zusammen, indem sie sich auf den Boden sinken lassen. Das Tuch verschwindet in der Falltür, zusammen mit den darauf gedruckten Worten, die ein Mitspracherecht forderten. Mit der erneuten Besiegung des Subjekts Frau, kehrt wieder Ordnung ein: Die endgültige Niederlage des Frauensubjekts ist erfolgt. Wie Jelinek in ihrem Text die Unrealisierbarkeit eines Frauenstaates denunziert hat, muss Schleef das Scheitern der Rezentralisierungsversuche der weiblichen Figur auf der Bühne eingestehen. Somit bestätigt er die erschreckende Botschaft des Sportstücks, wonach in einer medialisierten, sich um das Massenphänomen „Sport“ drehenden Gesellschaft der Mensch nur in seiner körperlichen Leistungsfähigkeit wahrgenommen wird und die Frau nur geduldet wird, solange sie jung, hübsch und still bleibt. In einer solchen Existenzdimension haben die „engagierten Frauen, die Künstlerinnen“ oder einfach die normalen, selbstständig denkenden Frauen keine Überlebenschance; so kräftig sie auch für den Ausdruck ihrer Andersheit, ihrer nicht-stereotypisierbaren bzw. nichtdomestizierten Natur kämpfen mögen, scheinen sie weiterhin zur Unterdrückung bestimmt zu sein, zumindest auf dem Theater.
FAZIT In Rückblick auf die Textvorlage und die Inszenierung von Ein Sportstück scheint Elfriede Jelinek ein für Schleefs theaterästhetische Bedürfnisse modelliertes Stück konzipiert zu haben. Ausgehend von der dramaturgischen Lektüre, hat der Regisseur jede intertextuelle Andeutung erfasst und für die Szene erarbeitet und ausgedehnt, um somit die eigenen gesellschaftskritischen Ansichten, sowie Blickpunkte zur Frauenrolle und Geschlechterverhältnisse im alltäglichen Leben und im Theater auf den Punkt zu bringen. So kommt es zum Vortrag län-
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gerer Textflächen, die auf die von Jelinek angegebenen literaturmythologischen Referenzen deuten: Die archetypischen Figuren der Penthesilea und der Elektra. Was die erste Figur angeht, baut Jelinek zum Teil direkte Zitate aus dem gleichnamigen Stück von Heinrich von Kleist ein und formuliert eine paradoxale Parallelität zwischen dem dort entstandenen Frauenstaat und einer hypothetischen gegenwärtigen Kopie, die nur misslingen kann. Elektra stellt sich hingegen als latente Figur heraus, die jenseits ihrer Einsätze dem gesamten Stück als unterschwelliger Bezugspunkt anwesend bleibt und als eine Art Mittelachse dient, in der Thematisierung von Mutter-Tochter und Tochter-Vater Beziehungen sowie von weiblichen Emanzipationsbestrebungen. Um diese Bezüge zu kräftigen und die dadurch aufgegriffenen Problematiken teilweise zu historisieren, entscheidet Schleef die bloßen Andeutungen zu entschlüsseln, indem er umfassende Passagen aus beiden Werken in das Jelineks einführt und expliziert. Im Fall der Elektra – die er nicht nach den griechischen Vorlagen zitiert, sondern nach der Fassung Hugo von Hofmannsthals – baut er einen sehr langen Auszug ein, sodass ein Drama im Drama entsteht. Dass Elektra für Schleefs persönliche Theorie der Theatergeschichte eine zentrale Funktion ausübt, ist unbestreitbar und der jelineksche Text bietet sich hervorragend an, um den Fragenkomplex um diese Figur unter verschiedenen Facetten auszustellen und zu ergründen. Das Sportstück wird also temporär unterbrochen, um der vollkommen weiblichen Auseinandersetzung zwischen Elektra, Klytaimnestra und Chrysothemis Platz zu schaffen. Doch auch in einem so freigestaltbaren Zusammenhang wagt Schleef letztendlich nicht den Schritt, die Utopie einer weiblichen Ordnung zu vollziehen. Gerade dieser Moment hätte den Vorschlag einer Alternative ermöglicht, zum Beispiel im Sinne der von Muraro formulierten symbolischen Ordnung der Mutter, die auf der Versöhnung von Mutter und Tochter basiert, die nicht mehr verfeindet, sondern Komplizinnen innerhalb eines mütterlichen Kontinuums werden, dem das männliche Individuum von Natur aus fremd bleibt389. Andererseits lassen die wiederholten Bearbeitungen von Mutterfiguren im Lebenswerk Schleefs auf ein Streben nach einer solchen Mutterordnung denken, die er dennoch nicht systematisch formulieren noch durchsetzen konnte, vermutlich auf Grund der katastrophistischen Überzeugungen, die ihm von der Beobachtung der gesellschaftlich-politischen Zustände um sich herum kamen: Er schilderte, wie die Geschichte nur ein Aufeinanderfolgen von gewalttätigen Machtsystemen produziert hat und alle auf Frieden zielende Optionen bereits in der embryonalen Phase demontiert habe. Die verschiedenen Frauenschicksale, die Schleef in seinem Theaterwerk gezeigt hat, scheinen alle miteinander in Verbindung zu stehen. Die sich selbstaus-
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gestoßene, vor dem Palast der Macht stehende Elektra muss sich mit den negativen Auswirkungen ihrer fruchtlosen Individualisierung abfinden: Innerhalb einer patriarchalischen Gesellschaft erscheint sie als Muttermörderin, Kinderlose und sich selbstbestimmen wollende Frau, also mehrfach im Defekt und dafür verachtet. Ähnlich ergeht es den schleefschen Müttern, die um ihre Söhne trauern und sich nun in einer Welt, die die Frau nur in ihrer Mutterrolle anerkennt, als Kinderlose gefährdet fühlen. Deshalb können sie nicht auf die männlichen Anordnungen warten, stürzen den Tempel der Demeter, fordern weitere Krieger an, die Ehre ihrer Söhne zu rächen. Sie handeln also eigenständig und stellen sich somit gegen die herrschende Ordnung, die ihre Existenzlegitimität bedroht. Penthesilea, und das durch sie vertretene Experiment eines Frauenstaates ist eine direkte Folge der vor der ständigen Bedrohung entstehenden Angst, die wiederum das Bedürfnis nach einer Wende, einer Umkehrung der Ordnung aufkommen lässt. Schleefs Beschäftigung mit antikem Stoff gilt also der Erörterung von geschlechtlich bedingten Machtverhältnissen, die von seiner Sicht aus, zur Ausstoßung der weiblichen Figur aus dem Zentrum der tragischen Handlung geführt und dadurch das Überleben der Tragödie an sich gefährdet haben. Aus der Beobachtung der einer patriarchalischen Kultur innewohnenden Dynamiken, die keine Tragödie in ihrer ursprünglichen Gestalt erlaubt, entsteht der Drang, sich um die Wiedereinführung der verstoßenen weiblichen Figur zu kümmern. Und so dreht sich Schleefs Theaterarbeit zum größten Teil um die Denunzierung der bestehenden Machtverhältnisse und um das Erforschen alternativer Formationen. Doch scheint sich aus diesen Versuchen keine positiv durchsetzbare Antwort ergeben zu haben, sodass die Suche nach einem anderen System offenbleibt. Wenn Jelinek bereits von der Besiegung des weiblichen Geschlechts ausgeht, und mit vollkommen desillusionierter Einstellung auf den Penthesilea-Stoff zurückgreift, um die unerbittliche Unrealisierbarkeit einer weiblichen Ordnung zu schildern, versucht Schleef noch, zumindest szenisch, das Machtgefüge umzukippen. Er lässt seine rasenden Frauen auf die peinigenden Männer stürzen und stimmlich wie körperlich siegen. Doch auf diese Art entsteht keine neue, sondern eher eine Widerauflage der bestehenden Ordnung, im weiblichen Kostüm. Schleef wünscht ein weiblich determiniertes Modell von Gesellschaft, doch scheint ihm dieses immer illusionärer zu sein, weil jedes von ihm konzipierte Modell sich letztendlich als Iteration des bereits herrschenden herausstellt. Dort, wo es ihm gelingt, Frauen ins Zentrum des Konflikts und somit in gewisser Weise an die Macht zu bringen, muss er beobachten, wie diese kein eigenes System gründen, sondern die Struktur des männlichen aufnehmen und unter
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anderem Namen weiterführen. Genau wie die männliche, erweist sich die weibliche Herrschaft als gewalttätig, autoritär, zerstörerisch. Aus seinen Theaterarbeiten ergeben sich also zwei Möglichkeiten, die letztendlich das gleiche bewirken: Entweder die offensichtliche Niederlage des weiblichen Subjekts, das von einer patriarchalischen Gesellschaft von Anfang an geopfert und beseitigt wird, oder, im Fall einer anscheinenden weiblichen Machtübernahme, die Angleichung an das bevorstehende gewalttätige kastrierende Modell, also erneut die weibliche Niederlage. Er scheint kein geschlechtliches Problem mehr daraus zu machen, sondern führt alles auf das Phänomen Macht an sich zurück. Denn egal ob in weiblicher oder männlicher Hand, führt diese zwangsläufig zu Ausübung von Gewalt. In dieser Hinsicht ist das Theaterwerk Einar Schleefs zwar als eine ständige Denunzierung der Unterdrückung des weiblichen Subjekts zu schätzen, was er nicht als „Überlaufen auf die Seite der Frauen“ (DFP/10) beschreibt, sondern ihm notwendig erscheint, im Sinne der Erhaltung der künstlerischen Gattung Tragödie. Doch kommt dabei eine aussichtslose nihilistische Botschaft heraus: Trotz der vielen Frauenfiguren, die zum Teil das Zentrum seiner Inszenierungen erobern, scheint seine Forderung nach einer Wiedereinführung nicht wirklich gelungen zu sein. Was bleibt, ist der Zynismus des Matrosenchors aus Sportstück, der sich an den episodenhaften Erfolgen der weiblichen Subjekten amüsiert, um dann die endgültige Vernichtung umso mehr zu genießen: „Was, Frauen wollen auch mitreden? Na, dann viel Spaß“ sagen sie schadenfreudig, denn über einen solchen Anspruch kann nur gelacht werden. Die unterschiedlich angesetzten doch gleich negativ ausgehenden Vorstellungen, die Elfriede Jelinek und Einar Schleef in der Erklärung der Unmöglichkeit einer gesellschaftlichen Ordnung der Frau auf einer philosophischen Ebene sehr eng verbinden, ergeben sich als eine gescheiterte Utopie.
Schlussbemerkung
Rückblickend auf die Theaterarbeiten Einar Schleefs, die im Laufe der vorliegenden Dissertation in Betracht gezogen und hinterfragt wurden, kann nun behauptet werden, dass die ersehnte Wiedereinführung hinsichtlich des geschilderten Drangs, Chor- und Frauenfiguren wieder in das Zentrum des theatralischen Geschehens bringen zu müssen, nur zum Teil gelungen ist. Mit seinen vielumstrittenen Inszenierungen – in denen er versucht, die dann in Droge Faust Parsifal zusammengefassten Ideen über das Theater zu verwirklichen – erschafft Einar Schleef tatsächlich einen neuen szenischen Raum für die Figuren, die von ihm als verdrängte Protagonisten des tragischen Konflikts beschrieben werden. Doch erweist sich dieser Raum als kurzlebig und fragil: Die imposanten Chöre und die rasenden Frauenerscheinungen – in kollektiver oder einzelner Gestalt –, die seine Aufführungen beleben, fallen durch die Vehemenz ihres Auftretens auf und scheinen sich auf den ersten Anhieb gegen eine sie verstoßen wollende Institution durchsetzen zu können. Das Schicksal der Chöre bleibt wechselhaft, denn auch dort, wo die wuchtigen Chorformationen über die vereinzelten Individuen, bzw. Darsteller akustisch und körperlich siegen, bleibt deren Behauptung oder sogar Machtübernahme episodisch, wird bald wieder zugunsten der individualisierten Herrscher umgekippt oder verweilt im unlösbaren Konflikt der Interdependenz von Chor und Einzelnem. Die gescheiterte Rehabilitierung der weiblichen Figur ist noch offensichtlicher, da kein geschlechterkampffreier Existenzraum entsteht, in dem das weibliche Element endlich in Einklang oder Kooperation mit dem männlichen Individuum – welches für ihre ursprüngliche Verdrängung verantwortlich war – agieren kann. Schleef war sich der Unrealisierbarkeit des eigenen Versuchs bereits im Voraus bewusst; viel mehr als eine utopische Vorstellung von Gesellschaft zu verkörpern, ging es ihm darum, durch die theaterpraktische Tätigkeit die Hoff-
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nungslosigkeit der Überbrückung von Machtverhältnissen zu schildern, die jeder Form von Sozialordnung innewohnen. Weit davon entfernt, seine Bühnenkonzeptionen der Errichtung fiktiver Modellen zu widmen, die eine gleichberechtigte Form von Koexistenz experimentieren bzw. vortäuschen sollen, will Schleef das Ausüben von Macht und Gewalt als konstitutiv einer jeden Herrschaft entlarven. Somit erklärt er jede Darstellung von gleichberechtigten gesellschaftlichen Zuständen indirekt für heuchlerisch. Gewalt, Usurpation, Unterdrückung, Erniedrigung stellen sich als grundlegende Eigenschaften einer jeden Gesellschaftsform heraus. Die bei der Aufarbeitung der Mütter–Inszenierung verwandte Metapher der Schlange, die sich in den Schwanz beißt, zieht sich durch Schleefs gesamtes theatralisches Schaffens, als eine Art nihilistisches „fabula docet“. Die Wiedereinführung von Frauenfiguren, die außerhalb eines standardisierten Weiblichkeitsreservats agieren, kann jenseits der verschiedenen Entfaltungen zu einem einzigen destruktiven Ergebnis führen: Selbstbehauptungsdränge und Rebellionstriebe erweisen sich als labile Errungenschaften und werden bald enttäuscht; die Verstoßung gegen die Erwartungen eines stereotypischen Weiblichkeitsbilds ist eine ebenso kurzfristige Erscheinung; der erkämpfte Existenzraum wird wieder verriegelt und stellt sich als Illusion heraus. Alle Versuche einer Emanzipation oder sogar einer Machtübernahme seitens weiblicher Subjekte – sowohl individuelle als auch chorische – müssen scheitern und werden von einer erneuten Unterdrückung gefolgt. So die Parabel der stark und selbstbewusst gestalteten Figuren der Helene, Eva und Adelheid, die zwar gegen die Konventionen stoßen, und dennoch letztendlich von Vater, Liebhaber, Bräutigam zurechtgewiesen und im übertragenen Sinn von der patriarchalischen Herrschaft vernichtet werden. Schleef ermöglicht es ihnen, wieder eine zentrale Stelle innerhalb der Ökonomie der Aufführung einzunehmen, sodass diese Frauen für einige Stunden über ein Geschick zu siegen scheinen, das sie in einen Zustand der Ausstoßung und Verdrängung verdammt hatte. Bis die Balance wieder umkippt und ihnen nichts übrigbleibt, als sich der männlichen Übermacht zu fügen: Sie zerbrechen an der wiederholten Opferung. Nicht viel anders ergeht es den chorischen Frauenformationen, sowie den trauernden Müttern, den klagenden Mädchen Thebens oder dem Gretchenchor. Diese furchterregenden Frauenerscheinungen erzeugen eine kompakte Kraft, agieren gemeinsam und setzten zum Teil sogar deren Ansprüche durch, doch müssen sie dafür zwangsläufig auf die Seite der Unterdrücker, der Peiniger fallen. Die aufgestaute Wut bricht aus, führt sie selber zur Gewalttätigkeit und verlagert sie von der Position des Opfers in die des Täters. Dasselbe passiert im
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Sportstück, wo sowohl einzelne als kollektive Frauenfiguren sich in der Eroberung einer führenden oder zumindest würdigen Position versuchen, und geistig wie körperlich zu Grunde gehen. Es entsteht keine Alternative bzw. keine positive, im Sinne von friedliche, erleuchtete Möglichkeit, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu regeln und als gleichgestellte Protagonistinnen, Mitbeteiligte eines mehrgeschlechtlichen Systems zu handeln. Der zentrale Konflikt der Tragödie, auf den Schleef so oft hinweist, ist als Zentrum der Macht zu verstehen und seine theaterpraktischen Versuche bestätigen, dass Macht nicht trennbar von Gewalt und Missbrauch ist. Das Geschlecht oder die Natur des Machthabers spielt keine Rolle: Ein modernes Matriarchat würde keine substanzielle gesellschaftlich- politische Änderung bringen, sondern eine bloße geschlechtliche Inversion der bestehenden Ordnung. Die Möglichkeit einer weiblichen Führung, frei von vorgeschriebenen genderspezifischen Eigenschaften, muss Utopie bleiben. So bestätigt sich Schleefs Aussage erneut, die hier als Summa seiner skeptischen Weltanschauung vorgeschlagen wird – „der erste Krieg ist wie der letzte“. Im Rahmen der dargelegten Untersuchung der Theatertheorien und der Theaterästhetik Einar Schleefs konnte zwar keine Übersicht der aktuellsten Realitäten skizziert werden, doch öffnet die nicht vollkommen gelöste Fragestellung natürlich eine Perspektive auf weiterführende Recherchen, die besonders die Auswirkung seines Schaffens auf die nachkommende Theaterlandschaft ergründen und nach möglichen intellektuellen Schleef-Erben Ausschau halten könnten. Hinsichtlich der Aussage Schleefs, nach ihm hätte keine Chorformation mehr von seinem Kanon absehen können, wäre es zum Beispiel interessant, die Arbeit einiger Regisseure wie René Pollesch, Volker Lösch, Dimiter Gotscheff oder Theaterkollektive wie Theaterkombinat, She She Pop, Rimini Protokoll zu beobachten und spannende Anregungen für zukünftige wissenschaftliche Hinterfragungen finden. Von besonderen Interesse wäre auch ein Einblick in die Theaterarbeit der polnischen Regisseurin Marta Górnicka, die 2010 den Chor der Frauen gründete und seitdem mit ihren Chorarbeiten europaweit tourt. Die typisch schleefsche Provokation könnte also als Anreiz für eine vertiefende Hinterfragung der aktuellen Lage von Chor und Weiblichkeitsfiguren auf der Bühne dienen, um festzustellen, inwiefern Schleefs Engagement im Sinne einer Rehabilitierung der verdrängten Protagonisten tatsächlich fruchtbar gewesen ist.
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„Herr Puntila und seine Tochter Eva“ 1996 „Mein Lieblingsautor bin ich selber“ 1999 „Der Feuerkopf spricht“ 1999 „Die Zeit flieht. Eine Totennachrede für Einar Schleef“ des 24.2.2002. Von dem Bestand des Archivs der Akademie der Künste wurden die Videoaufzeichnungen der in Betracht gezogenen Inszenierungen aufgerufen.
Anmerkungen
Die Vorliegende Dissertation wurde von Frau Dr. Prof. Nicole Haitzinger und Herrn Dr. Prof. Günther Heeg (Leipzig) begutachtet und wurde von der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften der Universität Leipzig angenommen. Die Verteidigung erfolgte am 10.11.2017. 1
Die Veröffentlichung der fünf Bände bei Suhrkamp wurde von Winfried Menninghaus, Wolfgang Rath und Johannes Windrich kuratiert und herausgegeben. Die Bände erschienen ab 2004 alle posthum und umfassen jeweils folgende Zeiträume: 1953 bis1963 (alle Ereignisse spielen sich im Geburtsort Sangerhausen ab), 1964 bis 1976 (die Studienjahre in Ostberlin bis zur Entscheidung, die DDR zu verlassen), 1977 bis 1980 (die ersten Jahre im Westen, zwischen Wien, Frankfurt und Westberlin), 1981 bis 1998 (hauptsächlich in Frankfurt und Berlin) und 1999 bis 2001 (die letzten Jahre, die er größtenteils in Wien und Berlin verbringt). Alle Tagebuchzitate werden wie folgt angegeben: (TB/Seitenzahl).
2
Behrens Wolfgang, Einar Schleef. Werk und Person, Theater der Zeit, Berlin 2003.
3
Emmerich Wolfgang, Kleine Geschichte der DDR, Kiepenheuer, Leipzig 1997. S. 48. Dieser Text dient hier als Referenzlektüre innerhalb der Dokumentation zur Geschichte der DDR. Die folgenden Zitate wurden demselben Text entnommen.
4
Ebd. 118-9.
5
Ebd. Emmerich zitiert weiter aus den Protokollen der Tagung „Die Formalisten leugnen, daß die entscheidende Bedeutung im Inhalt, in der Idee, im Gedanken des Werkes liegt. Nach ihrer Auffassung besteht die Bedeutung eines Kunstwerks nicht in seinem Inhalt, sondern in seiner Form. Überall, wo die Frage der Form selbständige Bedeutung gewinnt, verliert die Kunst ihren humanistischen und demokratischen Charakter [...] Der Formalismus ist also der malerische, musikalische, literarische Ausdruck des imperialistischen Kannibalismus, er ist die ästhetische Begleitung der amerikanischen Götterdämmerung“.
6
Emmerich, a. a. O. S. 122.
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| Plädoyer für das Tragische
7
Ebd. S. 119.
8
Vgl. Hagen Manfred, DDR Juni ’53. Die erste Volkserhebung im Stalinismus, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1992, hier S. 24-25. Besonders gravierend wirkte die auferlegte Einsetzung neuer nationalen Streitkräfte, die dem Staat ca. 1,5 Milliarden Mark kosten sollte und somit den Wirtschaftsplan umstürzte. „Diese Ausgaben [...] sollten nach den Vorschlägen der Kremlführung unter anderem finanziert werden durch Einsparungen bei der Sozialversicherung und – Fürsorge in Höhe von 420 Millionen Mark, durch erhöhte Besitz- und Einkommensteuern sowie die Reduzierung des Konsums der Bevölkerung in Höhe von 350 bzw. 300 Million Mark.
9
Vgl. Beier Gerhard, Wir wollen freie Menschen sein. Der 17. Juni 1953: Bauleute gingen voran, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main, Wien 1992. Hier S. 95.
10 Hagen, a.a.O. S. 25. „Obwohl der Winter außergewöhnlich mild war, traten starke Mängel in der Brennstoffversorgung auf. Die Rationierung der Lebensmittel konnte nicht gelockert, geschweige denn aufgehoben werden. Frisches Gemüse und Fett waren schwer erhältlich, in den Großstädten wurden zwar die Lebensmittelkarten voll beliefert, doch gab es statt der vorgesehenen Menge an Fleisch und Fett oft Fisch und Zucker als Ersatz. Die Kartoffelversorgung stockte. An vielen Orten gab es sogar Schwierigkeiten mit der Versorgung mit Brot. Entsprechende Bekanntmachungen und Hinweise fanden die Leser der Zeitungen auf deren letzten Seiten, während die Schlagzeilen und Hauptberichte unverändert und laut von Wettbewerben, Neuerungen, Produktionserfolgen sprachen. Je schlimmer es wurde, desto größer wurden das politische Wortgerassel und die schwulstigen Phrasen“. 11 Beier, S. 16. Hier eine Liste der häufigsten Forderungen, die mit der „Streiksonderausgabe der illegalen Zeitung DIE KLEINE TRIBUNE“ veröffentlicht wurden: Auszahlung der Lohndifferenzen zwischen alter und neuer (aufgehobener) Norm; Rücktritt der Regierung; Freie, geheime Wahlen; Senkung der Lebenserhaltungskosten unter sofortiger Bekanntgabe neuer Preise; Außerverfolgungsetzung aller Streiker und Streikführer; Zulassung freier gewerkschaftlicher Betätigung unter Aufhebung des FDGB-Apparates. 12 Von besonders starken Wirkung erscheint das Gedicht Die Lösung von Bertolt Brecht, wo er die paradoxe Beschuldigung seitens der Regierung an das unwirsche, vertrauensunwürdige Volk ins Licht stellt. Siehe: Bertolt Brecht, Elisabeth Hauptmann Hrsg., Gesammelte Werke in 20 Bänden. 10. Gedichte 3., Suhrkamp, Frankfurt am Main 1982, S. 1009-1010. 13 Beier, S. 340-350. 14 Alle Zitate aus Droge Faust Parsifal werden direkt im Text wie folgt gekennzeichnet: (DFP/Seitenzahl). Hier (DFP/99f).
Anmerkungen
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15 Gemeint ist Hilde Benjamin, die in den ’50er Jahren bis 1967 Justizministerin und Richterin in der DDR war. Zur Vertiefung wird empfohlen: Marianne Brentzel, Die Machtfrau: Hilde Benjamin 1902-1989, Ch. Links Verlag, Berlin 1997. 16 Und inwiefern ihm die Biographie Hilde Kochs bekannt war, da es ziemlich gewagt vorkommt, eine solche Frau, bekannt als „Hexe von Buchenwald“ und sowohl in Amerika als auch in Deutschland wegen Kriegsverbrechen verurteilt wurde, anderen Persönlichkeiten gleichzustellen.
17 Dore Hoyer, 1911 in Dresden geboren, war besonders zwischen den 30er und 50er Jahren als Tänzerin und Choreografin sehr aktiv. Die ersten Engagements bekam sie für Operettenrollen, doch dies entsprach ihren künstlerischen Vorstellungen nicht. Sie gründete in Dresden ihr eigenes Tanzatelier, arbeitete dann an der Hamburgischen Staatoper, in Buenos Aires und New York, wo sie ihre Ideen der Modern-Dance am besten verwirklichen konnte. Im Zusammenhang mit den Hauptthemen dieser Dissertation wäre interessant zu erforschen, ob Einar Schleef sich der Aufmerksamkeit bewusst war, die Dore Hoyer Frauengestalten und dem Thema des Opfers widmete. Zwischen 1941 und 1952 erschuf sie Choreographien zu Jeanne d’Arc und Ophelia, sowie für die biblischen Gestalten Potiphars Weib, Ruth, Maria Magdalena und Judith. Von besonderem Interesse könnte auch die Zusammenarbeit mit der Choreographin Mary Wigman an Strawinskys Le Sacre du Printemps erscheinen. „Für Mary Wigman war dieses Werk der choreographische Höhepunkt ihrer lebenslänglichen Auseinandersetzung mit dem Thema Opfer [...] Das Stück enthielt in der Fabel der matriarchalischen Frühlingsweihe Mary Wigmans Selbstverständnis vom Ofer des künstlerischen wirkenden Menschen. Die zum Opfer ausgewählte Frau trug ihre Züge, war die Tänzerin, die sich einer Kunst weiht, sich dieser bedingungslos opfert, um Leben und weiterleben der Kunst zu ermöglichen. Die Tänzerin der zentralen Frauenfigur, der ‚Auserwählten‘, mußte diesen symbolischen und persönlichen Hintergrund des Mythos ‚Opfer‘ verkörpern können […] Von Anfang an war ihr bewußt, daß es nur eine einzige Tänze rin gab, die dem Anspruch dieser Rolle gerecht werden könnte: Dore Hoyer.“ Zur Vertiefung vgl.: Dore Hoyer, Tänzerin, Hrsg. Hedwig Müller, Frank-Manuel Peter, Garnet Schuldt, Deutsches Tanzarchiv Köln, Köln, 1992. Hier S. 217-218. 18 Lennartz Knut, Vom Aufbruch zur Wende. Theater in der DDR, Erhard Friedrich Verlag Veber, Seelze 1992, S. 35. Hier wird auch darauf hingewiesen, wie sogar sämtliche Epochen gestrichen wurden, „die nach der Auffassung der marxistischen Kulturtheorie restaurativen Charakter trugen“, wie die Romantik. 19 Behrens, S. 44. 20 Irmer Thomas/Schmidt Matthias, S. 80. 21 Behrens, S. 43-44.
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| Plädoyer für das Tragische
22 In „Kleinen Organon für das Theater“ legte Brecht die Richtlinien seiner Theaterkonzeption fest. In der geschichtlichen Rekonstruktion der Kulturverhältnisse in der DDR reflektiert Wolfgang Emmerich: „Die Schrift formuliert erneut und ohne Abstriche die Grundlinien des nichtaristotelischen Theaters: Es wendet sich gegen ein Theater, das als ein ‚Zweig des bourgeoisen Rauschgifthandels‘ fungiert; gegen die Einfühlung, gar Identifikation des Zuschauers mit dem Dargestellten und propagiert die kritische, historisierende, den Verhältnissen ihre scheinbare Natürlichkeit raubende Darstellung mittels der Verfremdungstechnik (V-Effekt). Statt gefühlig-falscher Abbildungen des gesellschaftlichen Lebens sollten wissenschaftlich exakte gegeben werden. Dadurch will das Theater zum Lernen, Erkennen und schließlich zum parteilichen Verhalten anleiten. [...] ‚Für das Proletariat wird starke Kost gefordert, das „blutvolle“, unmittelbar ergreifende Drama, in dem die Gegensätze krachend aufeinanderplatzen und so weiter und so weiter‘ […] Im Sinne dieses theoretischen Programms ging Brecht nun auch an die praktische Theaterarbeit in Berlin heran. […] 1949 konnten Brecht und seine Frau, die Schauspielerin Helene Weigel, endlich in dieses Theater (Schiffbauerdamm) einziehen, und seine Arbeit wurde von dem heute noch bestehenden ‚Berliner Ensemble‘ aufgenommen. Noch vor der Gründung des Berliner Ensembles, um die Jahreswende 1948/49, studierten Brecht und seine Mitarbeiter Mutter Courage und ihre Kinder ein, ein Exilstück, das ganz und gar im Sinne der Kleinen Pädagogik geschrieben war […] Von der Züricher Aufführung her wußte Brecht, daß das Publikum bei nicht genügend epischer Spielweise mit Erschütterung und Mitleid auf die Leiden der Courage und ihrer Kinder reagierte. Gerade das galt es zu verhindern. Es sollte gezeigt werden, ‚das die kleinen Leute vom Krieg nichts erhoffen können (im Gegensatz zu den Mächtigen) […] Daß der Krieg, der eine Fortführung der Geschäfte mit anderen Mitteln ist, die menschlichen Tugenden tödlich macht, auch für ihre Besitzer‘“. In: Emmerich, S. 101f. 23 Emmerich, a.a.O. S. 215. 24 Werkwerth Manfred, „Brecht – Methode oder Stil?“ (1965), in: Knut Lennartz, a. a. O, S. 31. 25 Tragelehn B. K.: Mit der UMSIEDLERIN durch die DDR-Geschichte: B. K. Tragelehn“. Das Interview in: Thomas Irmer/Matthias Schmidt, Die Bühnenrepublik. Theater in der DDR, hrsg. von Wolfgang Bergmann, Alexander Verlag Berlin, Berlin 2003, S. 67-98. Hier S. 85-86. 26 Tragelehn: „Mit der UMSIEDLERIN durch die DDR-Geschichte“, S. 80-81. 27 Das Zusammenwirken der langjährigen Bekannten Heiner Müller und B. K. Tragelehn ist bereits auf die Inszenierung von Müllers Stück Die Umsiedlerin, oder das Leben auf dem Lande (1961) zurückzuführen, das nur ein einziges Mal an der Studentenbühne der Hochschule für Ökonomie im Berliner Viertel Karlshorst aufgeführt wurde und gleich von der Partei verboten wurde. Das Stück – inspiriert an Anna Se-
Anmerkungen
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ghers Erzählung Die Umsiedlerin – problematisiert und unterteilt die Bauernschaft in vier verschiedene Schichten (Groß-, Mittel-, Klein- und Neubauern) und rekonstruiert die Schwierigkeit, womit die genannten Schichten zwischen 1946 und 1960 konfrontiert wurden (insbesondere die Enteignung der Großbauern zugunsten der Kleinbauern und die aus dieser Maßnahme hervorgetretenen Folgen und Kritiken). Die Veröffentlichung und In-Szene-Setzung dieses Textes bereitete allen Beteiligten große Schwierigkeiten mit den Autoritäten der DDR-Regierung und dem Kulturamt: die Schauspieler wurden zur Selbstkritik gezwungen und mit befristeter Strafversetzung in die Produktion bedroht, während Tragelehn ohne Möglichkeit auf Einspruch entlassen wurde. Für Müller – der zweifellos zu den wichtigsten Autoren und Theatermachern der Nachkriegszeit in Ostdeutschland gehörte – bedeutete es sogar den Ausschluss aus dem deutschen Schriftstellerverband, dem er erst elf Jahre später wieder beitreten durfte. Im Jahr 1964 fertigte Müller eine etwas geänderte Neubearbeitung des Stückes an, das nun Bauern betitelt wurde und erst 1976 zur Aufführung in der DDR zugelassen wurde. Diese Episode, die damals einen heftigen politischen Skandal anzündete, bietet ein exemplarisches Beispiel der von der Zensur bestimmten Kultur- und Literaturwelt der DDR. Erwähnenswert erscheint noch die Hochschätzung, die Müller – Jahre nach der szenischen Arbeit an Herakles und Die Korrektur – gegenüber Schleef äußerte. 1991 wurde Müller zu einem der fünf Mitglieder der neuen Direktion des Berliner Ensembles (neben ihm Matthias Langhoff, Fritz Marquardt, Peter Palitzsch und Peter Zadek) nominiert, die das Theater von einer völligen Erstarrung in ein „Brecht-Museum“ (vgl. Emmerich, a. a. O S. 508) retten sollte. Als Müller für die Inszenierung von Wessis in Weimar Einar Schleef ins Haus bat, kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung mit Zadek, der Regisseur und Auftraggeber als „faschistisch“ bezeichnete. Müller stand weiterhin zu seiner Wahl und äußerte sich sehr positiv und unterstützend gegenüber der Arbeit Schleefs, wie aus dem Beitrag hervorgeht, „Im freien Fall nach oben: Regisseur Einar Schleef und Theater heute“ ein Film von Wilma Kottusch, Fernsehmitschnitt: West 3 des 08.09.1993. Hier bestätigt der Interviewte Müller, wie schwierig es sei, einen Künstler wie Schleef in einen Apparat zu integrieren, doch gerade das sei seine große Qualität. Er deutet auf Schleefs Konzept von Theater hin, das auf die Anfänge der Theatertradition anknüpft und statt Protagonisten zu zeigen, Chöre wiederaufstellt und aus diesem Grund so interessant und doch umstritten wirkt; zu der Inszenierung von Wessis in Weimar behauptet er sogar, kein anderer Regisseur hätte Hochhuth jemals so gut inszeniert, doch da seine Arbeit von den gewöhnten Konventionen abweicht, würde es auch ein „anderes“ nicht an ein Abonnement verbundenes Publikum benötigen, das sich aus überwiegend jungen Leuten zusammenstellte, die bewusst und offen für Schleefs Entwürfe ins Theater gingen. Für eine Vertiefung der in Die Umsiedlerin aufgefassten Themen, sowie der Rezeptionsgeschichte desselben Textes, wird auf das Heiner Müller Handbuch hingewiesen:
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| Plädoyer für das Tragische Hans-Thies Lehmann/Patrick Primavesi (Hrsg.), Heiner Müller Handbuch. LebenWerk-Wirkung, Metzler, Stuttgart/Weimar 2003, hier S. 280-286.
28 Irmer Thomas/Schimdt Matthias, a.a.O. S.84. 29 Zitiert nach Kreutzer Helmut und Schmidt Karl-Wilhelm, Zur Dramaturgie in der DDR von 1969 bis 1989, Winter, Heidelberg 1998. Hier S. 615. Man vergleiche zu diesem Thema auch: Barnett David, A History of the BE, Cambridge University Press, Cambridge 2015. 30 Die absolute Ablehnung der Theaterästhetik Schleefs seitens der Brecht Tochter Barbara Brecht-Schall, kam zwanzig Jahre nach der Inszenierung von Fräulein Julie erneut zum Ausdruck. Als Schleef 1993, nach langjähriger Verbannung von den Bühnen Ostdeutschlands, die Erstaufführung von Rolf Hochhuhts Stück Wessis in Weimar auf die Bühne des Berliner Ensembles brachte, ließ Barbara Brecht verbieten, das Gedicht ihres Vaters „Wer aber ist die Partei?“ innerhalb der Vorstellung zu verwenden. Auf diese prohibitionistische Maßnahme antwortete Schleef mit einer gewissen Ironie und klärte das Publikum bezüglich der gerichtlich eingetretenen Zensur auf. Zur Vertiefung wird auf folgenden Text hingewiesen: Dag Kemser, Zeitstücke zur deutschen Wiedervereinigung. Form – Inhalt – Wirkung, De Gruyter, Berlin 2012. S. 138-140. 31 Müller Christoph, a.a.O. 32 Dieckmann Friedrich, „Diskurs über ‚Fräulein Julie‘“, in: Sinn und Form Heft 6/1975, S. 1311. Sehr interessant erscheint auch der Abschnitt bezüglich der Notwendigkeit einer bewussten Emanzipation der Frau, die sich nicht dem männlichen Geschlecht gleichstellen, sondern eine Gleichberechtigung als Frau in ihrem natürlichen Anderssein anstreben soll – die Geschlechtsdifferenz nicht ausgleichen, sondern zur Geltung bringen. „A: Ist ihre Unreife (Julies) die einer erfahrenen oder einer unerfahrenen Frau? Ist sie Madame Bovary, nur eben unverheiratet, eine Frau, die an der Provinzialität ihres Lebens leidet, an der ausweglosen Alltäglichkeit der Verhältnisse, auf denen ihr Dasein ruht? B: Sicher ist, daß dies keine Großstadttragödie ist. Ihr Ort ist ein abgelegenes Rittergut. Ohne Gespann kommt man nicht zur nächsten Bahnstation. Julies Alter deutet auf die reife, die erwachsene Unreife. Strindberg setzt es mit fünfundzwanzig nicht eben jungfräulich an. A: Was im Norden indes weniger als im Süden ist. Ich glaube nicht, daß ihre Unreife eine „erfahrene“ ist. Eine alte Jungfer ist sie gewiß nicht, wohl aber eine überfällige. Eine falsche Erziehung hat ihr Weibtum verdrängt, eine verspätete Verlobung hat es aufgestört, eine aber ihre Furcht war stärker als die Natur – die Furcht vor dem Rollenzwang, mit dem die Gesellschaft die Frau bedroht. So hat sie die Verbindung zum Bruch getrieben, aber ihr Geschlecht wird mit der neuerlichen Einsamkeit nicht fertig.
Anmerkungen
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B: Ja, sie ist falsch erzogen worden. Ihre Erziehung verwechselte Emanzipation der Frau mit Geschlechtsverleugnung. Emanzipation ohne Aufklärung: Geschlechtsverdrängung statt Geschlechtsbefreiung. Strindberg traf dieses Mißverständnis an in der Welt um sich her, aber es ist auch sein eigenes zentrales Mißverständnis: die Meinung, daß Emanzipation der Frau einen naturwidrigen Rollentausch der Geschlechter bedeute, à la Herkules und Omphale: die Frau mit der Keule, der Mann am Spinnrocken. Statt Befreiung der Frau als Frau, in ihrer natürlichen Andersartigkeit. A: Julies Mutter hat in pathologischer, extremer Weise, für die der Dichter „die Lehrer ihrer Zeit, von Gleichberechtigung, von der Freiheit der Frau und all dem verantwortlich macht, gegen die Ohnmacht revoltiert, auf die das Dasein als Frau sie in der Gesellschaft fixierte. Sie wußte sich in der Tochter nicht anders zu helfen, als diese gegen ihr Geschlecht zu erziehen. Julies Natur rebelliert gegen diese pathologische Art von Emanzipation, und ihr Bewußtsein revoltiert gegen die Natur.“ S. 1307. 33 Müller Christoph, a.a.O. 34 Vgl. TB3/232-233. Hier überträgt Schleef die Korrespondenz die er damals mit den Verlegern führte. 35 Aristoteles, Poetik, übers. und erl. von Arbogast Schmitt, in: Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung, Begr. von Ernst Grumach, Hrsg. von Hellmut Flashar, Akademie Verlag, Berlin 2008, Band 5, S. 26. 36 Haß Ulrike, „Woher kommt der Chor“, in: „Monika Meister, Stefanie Schmitt, Auftritt Chor. Formationen des chorischen im gegenwärtigen Theater“, in: Maske und Kothurn – Internationale Beiträge zur Theater- Film und Medienwissenschaften, 58 fg. 2012/Heft 1 2012. Hier S. 19. 37 Ebd. 38 Fischer-Lichte Erika (Hrsg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Metzler, Stuttgart 2015, S 50. 39 Aristoteles, Poetik, S. 7. 40 Vgl. Schadewaldt Wolfgang, Die griechische Tragödie, Tübinger Vorlesungen Band 4, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991. 41 Latacz Joachim, Einführung in die griechische Tragödie, Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen 1993, S. 53. 42 Siehe ebd. Hier werden einige der zur Etymologie des Wortes „Tragödie“ formulierten Theorien zusammengeführt, die z. B. auf den Zusammenhang mit der Praxis der Opferung von Böcken zur Ehre des Dionysos hindeuten. In Hinsicht dieser Untersuchung wird es jedoch nicht für sinnvoll gehalten, alle Theorien zu berücksichtigen. 43 Ebd. S. 63. 44 Homer, Ilias, Neue Übertragung von Wolfgang Schadewaldt, Insel, Verlag, Frankfurt am Main 1975, S. 100. „Denn auch des Dryas Sohn, der starke Lykurgos, / Lebte nicht lange, der mit den himmlischen Göttern gestritten: / Der einst des rasenden Dio-
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| Plädoyer für das Tragische nysos Ammen / Jagte auf dem heiligen Berg von Nysa, und die ließen alle zusammen / Die Opfergeräte zu Boden fallen, von dem männermordenden Lykurgos / Geschlagen mit dem Ochsenstachel“.
45 Latacz, S. 30. 46 Heinrichs Albert, Warum soll ich denn tanzen? Dionysisches im Chor der griechischen Tragödie, Teubner, Stuttgart 1996, S. 19. 47 Latacz, S. 33-34. 48 Ebd. 49 Heinrichs, S. 20. 50 Ebd. S. 35f. 51 Zu zwei wichtigen Anlässen wurde nun der Dionysoskult praktiziert. Die Lenäen – wo Lenaia ein anderes Wort für Mainades darstellt – waren orgiastische ekstatische Frauenfeste, die im Januar stattfanden und drei Tage dauerten, auf denen bereits Theateraufführungen und Frauentänze geboten wurden. Wenn diese sich auf eine eher freie, ungebundene Art etablierten, ist hinter der Konstituierung der Großen Dionysien bereits eine durchdachte Vereinigung zweier Elemente, die Phallusprozession der ländlichen Dionysien und die Theateraufführungen der Lenäen zu erkennen und damit eine gewisse gezielte „Verordnung“, die möglicherweise den politischen Plänen des Tyrannís zu Gunsten kommen sollte. Jedenfalls wurden die Großen Dionysien immer zwischen März und April veranstaltet und durch einen strengen Verlauf über fünf Tage gegliedert. Am ersten Tag fand eine große Prozession statt und danach der Agon der Dithyrambenlieder; der zweite Tag wurde der Komödie gewidmet, während der Tragödienagon für die letzten drei Tage vorgesehen war, an denen jeweils eine Tetralogie (drei Tragödien und ein Satyrspiel) aufgeführt wurde. Vgl. Dazu Heinrichs, S. 37f und Latacz, S. 41. 52 Latacz, S. 35-36. 53 Vgl. Pickard-Cambridge Sir Arthur, The dramatic festival of Athens, second edition, Oxford Univerity Press, 1968. S. 234-235. 54 Baur Detlev, Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1998, S. 18. Baur erinnert auch an die „göttliche-Chöre“, wie sie in Wolken, Frösche, Kyklops zu finden sind, die eine tierliche Gestalt haben. Außerdem sind zu erwähnen, dass 17 Werke einen Chorischen Titel haben. 55 Zu den unterschiedlichen Funktionen der Chorfigur wird auf Schlegels dritte Vorlesung aus den Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur verwiesen, wo er den Chor als „Idealen Zuschauer“ beschreibt und die linguistisch-stilistische Komplexität seiner Lieder lobt; sowie auf Schillers Vorrede zur Braut Von Messina und auf einige Briefe, insbesondere den Brief an Christian Gottfried Körner vom 10. März 1803 in: Friedrich Schiller, Schillers Werke, Nationalausgabe, Band 32 Schillers Briefe 1803-1805, S. 19.
Anmerkungen
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56 Baur, S. 21-22. 57 Ebd. S. 23. 58 Lehmann, Theater und Mythos, Metzler, Stuttgart 1991, S. 47-48. 59 Ebd. 60 Ebd. S.18-19. Ganz anders äußert sich dazu Ulrike Haß: „Der Chor ist eine vielstimmige Figur, eine Form, aber er ist kein Subjekt. Er kann sich nicht zu einer Eins zusammenschließen, er ist per se uneinheitlich“. Ulrike Haß, „Woher kommt der Chor?“, a. a. O. S. 14. 61 Lehmann, Tragödie und dramatisches Theater, Alexander Verlag, Berlin 2013, S. 265. 62 Baur, S. 25-26. 63 Fischer-Lichte, Metzler Lexikon Theatertheorie, a. a. O. S. 51. Hier wird natürlich explizit auf die von Nietzsche in Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik formulierten Theorien angedeutet. 64 Pickard-Cambridge, S. 232-233. 65 Aischylos setzte den Chor noch häufig ein und verlieh diesem auch eine handelnde Fähigkeit. Das lässt sich auch daraus entnehmen, dass vier der von ihm erhaltenen Tragödien nach dem Chor benannt sind. Besonders Hiketides/Die Schutzflehenden und Eumeniden zeigen sich als überwiegend chorische Stücke, in dem die Schauspieler kaum zu Wort kommen65 und auch – rein stilistisch gesehen – weniger artikuliert sind. In seinen anderen Dramen wird dem Chor dann schon weniger Platz zugeteilt, wahrscheinlich auch als logische Folge auf die Einführung des zweiten Schauspielers, die dem Aischylos zugeschrieben wird65. Sophokles fügte dann sogar einen dritten Schauspieler auf der Bühne hinzu, wodurch die Chorpartien weiter gekürzt wurden, um den Dialog zwischen den Hauptfiguren hervorzuheben. Vgl. Zimmermann, Bernd, Europa und die griechische Tragödie, Vom kultischen Spiel zum Theater der Gegenwart, Fischer, Frankfurt am Main 2000, S. 145. 66 In Die Geburt der Tragödie, spricht Friedrich Nietzsche sogar von Selbstmord der Tragödie in Bezug auf Euripides inhaltliche Entwicklung. Vgl. Nietzsche Friedrich, Die Geburt der Tragödie, in: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA) Hrsg. Von Giorgio Colli und Mazzino Montinari Band 1, De Gruyter DTV, Berlin/New York 1980. 67 Heinrichs, Warum soll ich denn tanzen?, Teubner, Stuttgart 1996, S. 53. 68 Aristoteles berichtet davon in der Poetik (a. a. O. S. 26). Obwohl er den Tragiker Agathon sehr geschätzt haben muss, konnte er den Einsatz der Embolima nicht unterstützen: „Bei den übrigen Dichtern gehören die gesungenen Partien um nichts mehr zur jeweiligen Handlung als zu irgendeiner anderen Tragödie. Daher sind die gesungenen Partien bei ihnen (bloße) Einlagen. Der erste, der damit begann, war Agathon. Doch
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| Plädoyer für das Tragische worin besteht der Unterschied zwischen Gesangseinlagen und der Übertragung einer Rede oder einer kompletten Szene von einer Tragödie in eine andere?“.
69 Vgl. dazu Zimmermann Bernard, Europa und die griechische Tragödie, Vom kultischen Spiel zum Theater der Gegenwart, Fischer, Frankfurt am Main 2000, S 144 und Sir Arthur Pickard-Cambridge, The dramatic festivals of Athens, S. 232-233. 70 Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, a. a. O. S. 94 § 14. 71 Aristophanes, „Frösche“: Einleitung, Text und Kommentar, 2. Aufl. Besorgt von Walther Kraus, Ludwig Radermacher, Rohrer, Wien 1954, V. 72. 72 Latacz, S. 384. 73 Zu diesem Anlass wurde die Übersetzung von Orsatto Giustiniani verwendet, die Chorlieder wurden vertont und die Anzahl der Choreuten respektiert, die auf der Orchestra eines attischen Theaters agiert hätten. Vgl. Flashar, Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne, C.H. Beck, München 2009, S. 33-34. 74 Baur, S. 33-34. Hier werden auch detailliertere Beispiele geboten, die uns dennoch zu weit weg von den zentralen Themen der Dissertation bringen würden. 75 Ebd. S. 36-39. Hier finden sich auch bibliographische Vorschläge für eine vertiefende Untersuchung. 76 Flashar, S. 47. 77 In der Praxis wurde der Chor von Schillers Drama Die Braut von Messina letztendlich in fünf bis sechs Einzelpersonen aufgelöst, denen auch individuelle Namen zugeteilt wurden. Diesbezüglich wird auf den Briefwechsel zwischen Schiller und Körner und Schiller und Goethe hingewiesen. Man vergleich zum Beispiel den Brief an Goethe des 8.2.1803: „Der Chor hat sich bereits in einen Cajetan, Berengar, Manfred, Bohemund, Roger und Hippolyt, so wie die 2 Boten in einen Lanzelot und Olivier verwandelt so daß das Stück jetzt von Personen wimmelt“, Schillers Werke. Nationalausgabe, Band 32, S. 9. 78 „Die alte Tragödie, welche sich ursprünglich nur mit Göttern, Helden und Königen abgab, brauchte den Chor als eine notwendige Begleitung; sie fand ihn in der Natur und brauchte ihn, weil sie ihn fand. […] Der Chor war folglich in der alten Tragödie mehr ein natürliches Organ, er folgte schon aus der poetischen Gestalt des wirklichen Lebens“. In: Schiller Friedrich, „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Band 10, S. 11. 79 Ebd. 80 Günther Heeg bezeichnet als das „genuin Politische“ die von Schiller, durch die Neubelebung des Medium Chors erwünschte „Restauration einer sinnfälligen, unmittelbaren Einheit des Privaten und Öffentlichen“. Vgl. Heeg Günther, „Einsamkeit. Schnittstelle“, in: Krieg der Propheten – Zur Zukunft des Politischen II, Hg. V. Oberender Thomas, Alexander Verlag, Berlin 2002, S. 60.
Anmerkungen
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81 Lehmann, Das postdramatische Theater, Verlag der Autoren, Frankfurt a. Main 2001, S. 235. 82 Schiller Friedrich, „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, 10. Band, S. 15. 83 Lehmann, Das postdramatische Theater, S. 234. 84 Ebd. 235. 85 Die erste Fassung, Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand, dramatisirt, schrieb Goethe zwischen November und Dezember 1771, wurde dennoch erst 1832 in seinen nachgelassenen Werken gedruckt, sodass lange Zeit für die Öffentlichkeit nur die zweite und die dritte Bearbeitung bekannt waren. Die 1773 von Goethe überarbeitete Fassung, Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel erschien im selber Jahr und wurde 1774 in Berlin uraufgeführt. In Weimar ging das Stück erst 1804 auf die Bühne, in einer Bühnenbearbeitung an der Schiller mitgewirkt hatte und sich dann als Hauptfassung etablierte. Bezüglich den auffälligen Unterschieden der drei Fassungen, wird in den folgenden Kapiteln ausführlicher geschrieben, in Zusammenhang mit Schleefs Lektüre des Werk Goethes und seiner szenischen Umsetzung desselben. Als Grundlage für eine vergleichende Analyse der drei Fassungen wurde folgender Text berücksichtigt: Goethes Götz von Berlichingen. In dreifacher Gestalt herausgegeben von Baechtold Jakob, Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. R. Mohr (Paul Siebeck), Freiburg und Tübingen 1882. 86 Flashar, S. 57. „Überblickt man die Weimarer Bemühungen um das antike Drama im Ganzen, so drängt sich doch der Eindruck von Halbheiten, Unsicherheiten, Unentschiedenheiten in den Entwürfen, Konzeptionen und Realisierungen auf dem Theater auf. Einerseits liegen historisierende Bestrebungen zugrunde: Man will es so machen, wie es bei den Alten war; mit der Verwendung des Chores, den Masken und Kostümen, will man sich den alten Bedingungen annähern. Auf der anderen Seite kommt es nur im Bereiche der römischen Komödie – und auch dort nur teilweise – zu Aufführungen, die in reinen Übersetzungen ohne Zutaten und Bearbeitungen vorliegen“. 87 Schlegel, a. a. O., III Vorlesung, S. 65. 88 Ebd. Zu Schillers Experiment mit antikisierendem Chor äußerte sich Schlegel wie folgt: „Auch in der Einführung der Chöre, wiewohl sie viel lyrischen Schwung und schöne Stellen haben, ist der Sinn der Alten verfehlt: indem jedem der feindlichen Brüder ein eigner Chor parteiisch anhängt, der sich mit dem gegenüberstehenden streitet, hören beide auf, ein wahrer Chor, d. h. über alles Persönliche erhabene Stimme der Teilnahme und Betrachtung zu sein.“ Band 2, XXXVII Vorlesung S. 283. 89 Vgl. Fischer-Lichte/Dreyer (Hg.), S. 8. 90 Flashar, S. 64f.. 91 Ebd. S. 114. 92 Ebd.
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| Plädoyer für das Tragische
93 Le Bon Gustave, Psychologie der Massen, 11. Auflage, Nikol Verlag, Hamburg 2014, S. 21. Diese Studie von 1895 liegt der Entstehung der Massenpsychologie zugrunde. Von den hier behaupteten Theorien ging Sigmund Freud in den Überlegungen zu seinem Essay Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) aus. Eine weiterführende Untersuchung zu diesem Thema bot dann 1960 Elias Canetti mit Masse und Macht. 94 Hauptmann Gerhardt, „Die Zukunft der deutschen Bühne“, zit. nach: Ders,, Die Kunst des Dramas. Über Schauspiel und Theater, zusammengestellt von Martin Machatzke, Propyläen, Berlin 1963, S. 140. 95 Hauptmann Gerhart, „Einsichten und Ausblicke über Kunst und Literatur“, in: Ders., Das Gesammelte Werk, Band XVII, Suhrkamp, Ausgabe letzter Hand zum 80. Geburtstags d. Dichters 15.11.1942, S. 432. 96 Für eine detaillierte Rekonstruktion der Verfahrensgeschichte, die sich um die Aufführungsgenehmigung von Hauptmanns Weber entwickelte, wird auf folgenden Beitrag hingewiesen. Gerhard Kutzsch, „Kampf um die Theaterfreiheit. Gerhart Hauptmanns ‚Weber‘ vor dem Verwaltungsgericht, 1892“, in: Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins, Jahrgang X, Berlin 1961. 97 Flashar, S. 121. 98 Fischer-Lichte/Dreyer (Hg.), a. a. O. S. 112. 99 Ebd. 100 Flashar, S. 123. 101 Fischer-Lichte/Dreyer (Hg.), S. 117. 102 Ebd. S. 120. Hier wird die Meinung von Gilbert Murray – Mitglied der Cambridge Ritualists – zitiert, der sich wie folgend zum Reinhardtischen Theater äußerte: „Professor Reinhardt was frankly pre-Hellenic (as is the Oedipus story itself), partly Cretan and Mycenaean, partly Oriental, partly – to my great admiration – merely Savage. The half-nacked torch-bearers with loin-cloths and long black hair made my heart leap with joy. There was real early Greece about them, not the Greece of the schoolroom, or the conventional art studio“. (Zit. nach Huntley Carter, The theatre of Max Reinhardt, New York, 1914 S. 221f.) 103 Ebd. S. 121. 104 Vgl. Zimmermann Bernd, Europa und die griechische Tragödie, S. 155. Zimmermann zitiert hier einen Kommentar Brechts zu Sophokles Antigone, in dem er sich über die Verfremdung äußert, die durch den Choreinsatz erzeugt wurde, um die von Schiller ersehnte „Freiheit der Kalkulation“ zu bewahren (Brecht, 17 S. 1213). Daraufhin wird auf eine gewisse intellektuelle Kontinuität zwischen Schillers und Brechts Idee von Chor, die Friedrich Dürrenmatt in dem Fragment Aspekte dramaturgischen Denkens (Theater-Schriften Bd. 2 S. 215) wie folgt schilderte: „Was Schiller zum Chor zudachte, die Trennung von Reflexion und Handlung, erreicht er (Brecht) mit dem Song, mit
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einer ungleich populären Kunstgattung also, auch mit knappen Zwischentexten oder gar wirklich mit dem Chor“ zitiert nach Zimmermann ebd. 105 Brecht 24, S. 122. Vgl. auch die Anmerkungen Über Chöre (Band 22.2 S. 675-6), wo er sich u. a. zur wünschenswerten Flexibilität des Chores äußert: „Die Chöre sollten nicht starr sein. Es sollte nicht zwei starre Gruppen geben, die von allem Anfang an belehrende und eine bis zum Ende belehrte. Die Chöre sollten wachsen und schrumpfen und sich umwandeln können.“ 106 Baur, S. 62. 107 Brecht, 21 S. 277. 108 Ebd. S. 401. 109 Man lese zum Beispiel Brechts Anmerkungen zu Individuum und Gesellschaft: „Zur Überwindung von Schwierigkeiten bilden sich in der Natur Kollektive (Schwalben beim Nach-dem-Süden-Fliegen, Wölfe bei Hungerzügen usw.): Der Mensch ist nicht vorstellbar ohne menschliche Gesellschaft. (Das Denken des Individuums, das Denken findet anatomisch im Individuum statt, ist ohne die Sprache unmöglich, diese aber entsteht in der Gesellschaft). Ein Kollektiv ist nur lebensfähig von dem Moment an und so lang, als es auf die Einzelleben der in ihm zusammengeschlossenen Individuen nicht ankommt“ und Individuum und Masse: „Unser Massenbegriff ist vom Individuum her gefaßt. Die Masse ist so ein Kompositum; ihre Teilbarkeit ist kein Hauptmerkmal mehr, sie wird aus einem Dividuum mehr und mehr selber ein Individuum. Zum Begriff ‚Einzelner‘ kommt man von dieser Masse her nicht durch Teilung, sondern durch Einteilung. Am einzelnen ist gerade seine Teilbarkeit zu betonen (als Zugehörigkeit zu mehreren Kollektiven). Was sollte über das Individuum auszusagen sein, solang wir vom Individuum aus das Massenhafte suchen. Wir werden einmal vom Massenhaften das Individuum suchen und somit aufbauen“, in: Bertolt Brecht, Werke, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hrsg. Von Hecht Werner, Knopf Jan, Mittenzwei Werner, Müller Klaus-Detlef, Band 21 S. 401 und 359. 110 Über die scharfen auf Schleefs Massentheater ausgeübten Kritiken – die sich in Tageszeitungen und spezialisierten Theaterzeitschriften häuften – soll im folgenden Kapitel tiefgründiger berichtet werden. 111 Eichberg Henning, „Thing-, Fest- und Weihespiele in Nationalsozialismus, Arbeiterkultur und Olympismus“, in: Henning Eichberg, Michael Dultz, Glen Gadberry, Günther Rühle, Massenspiele NS-Thingspiel, Arbeiterweihespiel und olympisches Zeremoniell, problemata fromman-holzboog, Stuttgart 1977, S. 19. 112 Ebd. S. 26. 113 Benjamin Walter, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: Ders. Werke und Nachlaß Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Burkhardt
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| Plädoyer für das Tragische Lindner unter Mitarbeit von Simon Broll und Jessica Nitsche, Band 16, Suhrkamp, Berlin 2011, S. 248.
114 Flashar, S. 159. 115 Fischer-Lichte/Dreyer (Hg.), S. 123. 116 Eichberg Henning, S. 33-34. 117 Ebd. S. 31. 118 Um einen detaillierteren Einblick in die Theaterlandschaft der frühen Nachkriegszeit bis in 70er Jahre des 20. Jahrhunderts zu gewinnen, wird auf folgende weiterführende Literatur hingewiesen: Fischer-Lichte, Erika: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen 1993; Rühle Günther, Theater in Deutschland 1946–1966. Seine Ereignisse – seine Menschen. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2014; Flashar Hellmut, Inszenierung der Antike, Verlag C. H. Beck, München 2009. 119 Flashar, S. 176-179. 120 Ebd, S. 179. 121 Lehmann, Das postdramatische Theater, S. 233f. 122 Flashar, S. 220. 123 Heeg Günther, „Einsamkeit. Schnittstelle“, S. 62. 124 Vgl. die Einleitung von Dreysse Miriam, Szene vor dem Palast, Die Theatralisierung des Chors im Theater Einar Schleefs, Peter Lang Verlag, Frankfurt/Main 1999. Dreysse war Regieassistentin und teilweise Chormitglied in der Frankfurter Inszenierungen Schleefs. Die in ihren Beiträgen dargelegten Beschreibungen und Überlegungen des theaterpraktischen Arbeitsverfahren Schleefs, entnimmt sie also der direkten Beobachtung und Mitwirkung an der Einstudierung der verschiedenen Inszenierungen. 125 Iden Peter in der Frankfurter Rundschau, 24.2.1986: „Der gewaltsame Schleef ist politisch ein Gegner der Individualität […] stattdessen soll es, wenigstens auf dem Theater, die Masse sein, die entscheidet, also: Chöre […] so aufwendig ist am Theater schon lange nicht mehr von einem Theatertext abgelenkt worden, wohl auch seit dem Nazi-Theater nicht mehr so stupide. Die Proteste, die einige nicht an der Aufführung beteiligte Schauspieler während der Premiere vorbrachten, sind begreiflich“. 126 Iden Peter in der Frankfurter Rundschau, 6.4.1987: „Schleef fehlt zum Regisseur beinahe alles – er kann kein Stück lesen, kann keine Situation erfassen, er hat keinen Instinkt für szenische Spannung und Ökonomie, kein Interesse an einzelnen Menschen, weder an den Figuren des Dramas noch an Schauspielern“. 127 Vgl. Michaelis Rolf in DIE ZEIT 28.04.1989. 128 Vgl. Rohde Gerhard in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.2.1986. 129 Buchner Carl, „Einar ‚zu Hause‘“, in: Einar Schleef. Arbeitsbuch, S. 149. 130 Auffermann Verena in der Süddeutschen Zeitung, 21.4.1989: „Einar Schleef hat das Talent, Szenen über den Gipfel ästhetischer Normen in das Tal der Qualen zu ziehen,
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immer überzieht er, sein Theater ist für alle eine Tortur, Schleef zeigt vor nichts Respekt “. 131 Jungheinrich Hans-Klaus in der Frankfurter Rundschau, 16.1.1990: „Die Aufführung konstituierte sich primär im Raum und in der zur Sprache gebrachten Körperlichkeit der Schauspieler […] weit über Feuchtwangers Absichten hinaus aktiviert Schleef auch kollektives, chorisches Sprechen, ja, er schiebt sogar ausgearbeitete Gesangsepisoden ein […] Schleefs Theater ist konzeptionell Antistartheater. Im Sprechen wie im Agieren sind die Darsteller durchaus funktionalisiert, reduziert, punktualisiert. Doch ergeben sich auch daraus dialektische Energieströme“. Um einen ausführlicheren Einblick in die Rezensionstendenzen zu gewinnen, vgl. Wolfgang Behrens, Einar Schleef. Werk und Person, a. a. O. Die meisten Artikel und Kritiken sind auch über die Webseiten der jeweiligen Zeitungen aufzusuchen. 132 Schmidt Christina, Theater als Bühnenform: Einar Schleefs Chor-Theater, transcript, Bielefeld 2010, S. 9ff. 133 Schmidt nennt u. a. Heiner Müller, Franz Castorf und Christoph Marthaler, wie auch angesehene Vertreter des aktuellsten gegenwärtigen Theaters, wie Jürgen Gosch, Dimiter Gotscheff, René Pollesch und Volker Lösch. Zu den szenischen Arbeiten dieser Autoren und Regisseuren, kann hier nicht ausführlicher berichtet werden, da eine vergleichende Untersuchung der Theaterästhetik in Hinblick auf die Rezeption Einar Schleefs zu weit von dem Hauptthema der vorliegenden Dissertation führen würde. 134 Ebd. S. 13. Hiermit verweist Schmidt auf die „körperräumliche Wirkung“, die ein von der Hinterbühne nach vorne stürmende Menschengruppe verursacht, die dann an der Bühnenkante enganeinander stehend, laut und rhythmisch einen Text skandiert und dabei den Zuschauern bedrängend vorkommt. Somit würde Schleef die Trennung zwischen agierender Bühne und kontemplativen Zuschauerraum aufheben und dem Theaterraum eine starke politische Dimension zuteilen. 135 Ebd. S. 14. 136 Lehmann Hans-Thies, „Theater des Konflikts“, in: Einar Schleef. Arbeitsbuch, Theater der Zeit, Berlin 2002, S. 42. 137 Ebd. 138 Vgl. Lehmann, „Theater des Konflikts“. 139 Dreysse, Szene vor dem Palast, S. 14. 140 Burkert Walter, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart Berlin Köln Mainz 1977, S. 251-252. 141 Lehmann, „Theater des Konflikts“, S. 43. 142 Heeg, „Einsamkeit. Schnittstelle“, S. 56. 143 Benjamin Walter, Ursprung des Deutschen Trauerspiels, in: Ders. Werke und Nachlaß Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Burkhardt Lindner unter Mitarbeit von Simon Broll und Jessica Nitsche, Band 6, Suhrkamp, Berlin 2012, S. 98.
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144 Burkert Walter, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, S. 252. 145 Lehmann, „Theater des Konflikts“, S. 51. 146 Simmel Georg, „Exkurs über den Fremden“, in: Ders., Soziologie, Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe Band 11, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992, S. 764-771. 147 Ebd. S. 765. 148 Vgl. Fusillo Massimo, Il dio ibrido, Dioniso e le „Baccanti“ nel Novecento, Il Mulino, Bologna 2006, S. 55. 149 Simmel, „Exkurs über den Fremden“, a. a. O. S. 765. 150 Vgl. Fusillo, a. a. O. 151 Benjamin Walter, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 87. 152 Ebd. 153 Ebd. 154 Heeg, „Einsamkeit. Schnittstelle“, S. 56. 155 Vgl. Girard René, Das Heilige und die Gewalt, Benziger, Zürich 1987, S. 9. Girard bezieht sich hier auf den Beitrag von Henri Hubert und Marcel Mauss, Essai sur la nature et la fonction du Sacrifice (1968). 156 Vgl. Ebd. 157 Nietzsche Friedrich, Die Geburt der Tragödie, S. 72 (§10). 158 Burkert Walter, Homo Necans, Interpretation altgriechischer Opferriten, De Gruyter, Berlin New York 1972, S. 28. 159 Vgl. Girard René, La vittima e la folla, violenza del mito e cristianesimo, Santi Quaranta, Treviso 1998, S. 41. 160 Ebd, S. 53. 161 Burkert Walter, Anthropologie des religiösen Opfers, Carl Friedrich von Siemens Stiftung, München 1983. Im Archiv der AdK sind die fotokopierten Auszüge dieses Textes unter der Signatur Einar Schleef:1026 aufrufbar. 162 Girard, La vittima e la folla, violenza del mito e cristianesimo, S. 100. 163 Schmidt, Tragödie als Bühnenform, S. 17. 164 Lehmann, „Theater des Konflikts“, S. 44. 165 Nietzsche Friedrich, Die Geburt der Tragödie, S. 133 (§ 21). 166 Ebd. S. 29 (§ 1). 167 Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 140 (§ 21). 168 Lehmann, „Theater des Konflikts“, S. 49. 169 Ebd. 170 Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, S. 252. 171 Fusillo, S. 10-13. 172 Ebd. S. 31.
Anmerkungen
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173 Girard, La vittima e la folla, violenza del mito e cristianesimo, S. 70. 174 Vgl. Schleef, DFP/277 „Nur der Chor ist wahr, so Kafka, das Individuum lügt“. 175 Lehmann, „Theater des Konflikts“, S. 49. 176 Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 137 (§ 21). 177 Heeg, „Einsamkeit. Schnittstelle“, S. 63. 178 Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 139 (§ 21). 179 Ebd. 180 Ebd. S. 28-29 (§ 1). 181 Schleef schildert dennoch, wie auch in Hauptmann mehrere Abendmahl-Lösungen zu finden seien, weist außerdem auf Kleists Zerbrochenen Krug hin und findet sogar im Stummfilm Der letzte Mann Spuren der Wagnerischen Verwandlung zur Graalsburg. Man vergleiche dazu das Kapitel „Abendmahl I“ DPF S. 73ff. 182 Lehmann Hans-Thies, Postdramatisches Theater, Verlag der Autoren, Frankfurt am Main 1998, S. 237. 183 Goethe Johann Wolfgang, Faust. Der Tragödie erster Teil, in: Ders: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14. Bänden; textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz, Beck, München 1981-88, Band 3., S. 30, V. 732. 184 Ebd. S. 58, V. 1740. 185 Ebd. S. 40, V. 1086. 186 Heeg Günther, „Einar wie Eva. Towards an Economy of the Feminine in Schleef’s Puntila“, in: Special Section on Bertolt Brecht TDR, 43/4, (1999), S. 87. 187 Ebd. S. 87. 188 Die Regieanweisung zwischen den Szenen Stimmen der Jünglinge und Knabenstimmen. wurde nach folgender Textvorlage zitiert: Richard Wagner, Parsifal, Riveduto nel testo, con versione a fronte, introduzione e commento a cura di Guido Manacorda, Sansoni, Firenze 1936, Erster Aufzug S. 50. 189 Heeg, „Herr und Knecht, Furcht und Arbeit, Mann und Frau. Einar Schleefs archäologische Lektüre von Brechts Puntila“, in: Marc Silberman (Hg.), drive b: Brecht 100. Brecht Yearbook, N. 23, Theater der Zeit, 1997, S. 149. 190 Heeg, „Herr und Knecht, Furcht und Arbeit, Mann und Frau“, S. 149. 191 Schleef im Gespräch mit Alexander Kluge, in: Alexander Kluge, Einar Schleef, der Feuerkopf spricht. Facts & Fakes. Fernsehnachschriften. Bd. 5. Hrsg. von Christian Schulte, Reinald Gußmann, Vorwerk 8, Berlin 2003, S. 43. Zu den in diesem Band zusammengeführten Interviews können auch die Videoaufzeichnungen der verschiedenen Begegnungen zwischen Schleef und dem Alexander Kluge aufgerufen werden. Kluges Beschäftigung und direkte Ergründung der schleefschen Theaterarbeit ist also die Zusammenstellung von interessanten und aufschlussreichen Material zu verdanken. Diesbezüglich wird auf die Fernsehaufnahmen hingewiesen, die auf dem Portal des Instituts für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien – Pas-
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| Plädoyer für das Tragische sagen, Forschungsstelle Alexander Kluge – veröffentlicht wurden und aufrufbar sind (vgl. passagen.univi.ac.at).
192 Ebd. 193 Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 236. 194 Heeg, „Herr und Knecht, Furcht und Arbeit, Mann und Frau“. S. 149. 195 Schleef im Gespräch mit Alexander Kluge, Der Feuerkopf spricht, S. 11. 196 Dreysse, Szene vor dem Palast, S. 201-202. 197 Goethes Götz von Berlichingen. In dreifacher Gestalt herausgegeben von Jakob Baechtold, S. 152, V Aufzug Fassung A. Hier ist sehr klar zu sehen, wie die lange Zigeunerszene, auf die Adelheid stößt, bevor sie von Sickingen wiedergefunden wird, in den später verfassten, doch früher veröffentlichten Fassungen, nicht mehr vorkommt. An dieser Stelle fährt der junge Goethe fort: „Wir selbst irren in der Welt herum […] Wer uns was schenkt, dem nehmen wir nichts. Dem geizigen Bauern holen wir die Enten; er schickt uns fort, da wir um ein Stück Brod bettelten. Wir säubern’s Land vom Ungeziefer und löschen den Brand im Dorf; wir geben der Kuh die Milch wieder, vertreiben Warzen und Hühneraugen; unsre Weiber sagen die Wahrheit, die gute Wahrheit“. 198 Schleef im Gespräch mit Alexander Kluge, Der Feuerkopf spricht, S. 11 199 Schleef Archiv der Akademie der Künste Berlin, Signatur Schleef: 1706, enthält u.a. den Textentwurf für den Programmzettel der hier zitiert wird. 200 Vgl. ebd. 201 Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 237. 202 Ebd. 203 Lehmann, „Theater des Konflikts“, S. 51. 204 Schmidt, Tragödie als Bühnenform, S. 17. 205 Als Zeugen wird u.a. an die Erinnerungen der Schauspieler Jutta Hoffmann und Martin Wuttke hingewiesen, sowie auf das Zeugnis der Frauen des Laienchors aus Mütter, die sich in einigen im Archiv aufbewahrten Briefe über die harte Arbeit und die überlangen Arbeitsstunden äußern und sich trotzdem mit dem Ergebnis zufrieden sagen und sogar bereit sind, erneut mit Herrn Schleef zu arbeiten. Miriam Dreysse, die in Szene vor dem Palast ihre Erfahrung als Assistentin bei mehreren Schleef Produktionen schildert, verweist auch auf die außergewöhnliche Intensität der Probenstunden, die sogar die 10 Stunden am Tag überschreiten konnten. 206 Heeg, „Einsamkeit. Schnittstelle“, S. 63. 207 Vgl. dazu Dreysse, Szene vor dem Palast, S. 76-77. 208 Ebd. 209 Die genannte Einleitung kann unter dem Material des Schleef Archiv im Besitz der Akademie der Künste Berlin, Signatur: Schleef 1706.
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210 Heeg in einem Gespräch mit Wolfgang Storch, B.K. Tragelehn, Karl Kneidl und Georges Froscher über die Götz-Inszenierung. Aufrufbar im Schleef Archiv der Akademie der Künste Berlin, Signatur: Schleef 1720. 211 Heeg, „Chorzeit. Sechs Miniaturen zur Wiederkehr des Chors in der Gegenwart“, in: Theater der Zeit 4/2006, S. 18-23. 212 Dreysse, Szene vor dem Palast, S. 183. 213 Schleef und Müller-Schwefe, Textentwurf für den Programmzettel, Archiv AdK, Signatur: Schleef 1706. 214 Goethe J. W., Götz von Berlichingen, in: Ders: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14. Bänden, a. a. O. S. 175. 215 Heeg, „Einsamkeit. Schnittstelle“, S. 63. 216 Hofmannsthal Hugo von, „Sünde des Lebens“ (1891) in: Ders, Gesammelte Werke in Einzelausgaben: Gedichte und lyrische Dramen, hrsg. von Herbert Steiner, Fischer Stockholm 1963, S. 484. 217 Rühle Günther in der Einleitung zur Inszenierung von Vor Sonnenaufgang, Programmheft Schauspiel Frankfurt 10/1986-87, Archiv der AdK, Signatur: Schleef 1674. 218 Aus der vergleichenden Lektüre der drei Götz-Fassungen geht hervor, dass diese Szene aus der letzten – die Bühnenbearbeitung für das Weimarer Theater, die sich zumindest zu Goethes Lebenszeit als die meist verwendete Version etablierte – vollkommen gestrichen wurde. Vgl. Jakob Baechtold, Goethes Götz von Berlichingen, a. a. O. S. 102f. 219 Schleef und Müller-Schwefe, Textentwurf für Programmheft, Archiv AdK Signatur: Schleef 1706. 220 Dreysse, Szene vor dem Palast, S. 184. 221 Ebd. 222 Die Premiere war ursprünglich für den 30. Dezember 1995 vorgesehen, musste dennoch kurzfristig verschoben werden, da Schleef eine Verletzung am Schultergelenk und Jutta Hoffmann einen Achillessehnenabriß erlitten hatten. Vgl. Behrens, Schleef, Werk und Person, a. a. O. S. 180. 223 Dreysse, „Erinnerungen an die Frankfurter Zeit“, in: Einar Schleef. Arbeitsbuch, a. a. O. S. 155. 224 Ebd. 225 Schleef im Gespräch mit Alexander Kluge, Der Feuerkopf spricht, a. a. O. S. 20. 226 Wie Schleef im Interview mit Kluge erzählt, hätte die Rolle eigentlich Martin Wuttke verkörpern sollen, der unter Schleefs Leitung bereits Theseus und Götz gewesen war. Da Wuttke während der Probenzeit erkrankte und sich nicht rechtzeitig erholte, musste Schleef auf eine alternative Lösung zurückgreifen. Die logischste Entscheidung schien ihm, selber für die Rolle einzuspringen, da er den Puntila-Text so gut kannte
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| Plädoyer für das Tragische und im Sinne Brechts diesen nicht hätte darstellen, sondern referieren müssen. Schleef meinte, dass kein Schauspieler in so kurzer Zeit die Rolle hätte einstudieren können und eine kurzfristige Substitution letztendlich dem Endergebnis geschadet hätte. Vgl. Alexander Kluge, Der Feuerkopf spricht, S. 18f.
227 Dreysse, Szene vor dem Palast, S. 62. 228 Schleef im Gespräch mit Alexander Kluge, Der Feuerkopf spricht, a. S. 18f. 229 Ebd. S. 66. 230 Heeg, „Herr und Knecht, Furcht und Arbeit, Mann und Frau“, S. 152. 231 Ebd. 232 Die erste Fassung des Puntila-Stückes entstand aus der Zusammenarbeit mit der finnischen Dramatikerin Hella Wuolijoki, bzw. aus der Überarbeitung ihrer 1936 verfassten Komödie Die Sägemehlprinzessin. In ihrem unveröffentlichten Stück kommen bereits die Figuren des Gutsbesitzers Puntila, der Tochter Eva als Sahapuruprinsessa und der Haushälterin Tante Hannah vor, während der Anbeter ein sich für einen Chauffeur ausgebender Intellektueller ist. Als sich die richtige Identität von Kalle herausstellt, kann das Happy End vollbracht werden, das sogar eine Doppelvermählung vorsieht: Eva heiratet Kalle und Puntila verlobt sich mit der Haushälterin Tante Hannah. Ausgehend von dieser Vorlage, macht Brecht einen wahrhaftigen Knecht aus Kalle und bewirkt somit eine Umwälzung der Klassenverhältnisse, die auch zum Ausfallen der positiven Auflösung führen. Von dem Stück entwarf Brecht mehrere Fassungen: erste Niederschrift, August 1940, Puntila oder der Regen faellt immer nach unten (BBA-178/25-202); erste Überarbeitung und Reinschrift September 1940, Herr Puntila und sein Knecht Matti (BBA-177/02-110); Bühnenmanuskript für die Erstaufführung in Zürich 1948, Kurt Desch Verlag, Herr Puntila und sein Knecht; Bühnenmanuskript für die Aufführung am Berliner Ensemble 1949, Kurt Desch Verlag, Herr Puntila und sein Knecht Matti (nach Erzählung der Hella Wuolijoki mit Musik von Paul Dessau). Volksstück in 9 Bildern; Erstdruck in Versuche, Heft 10, Suhrkamp Verlag vorm. S. Fischer 1950, Herr Puntila und sein Knecht Matti. Für einen genaueren Einblick in die Entstehungsgeschichte und die Chronologie der verschiedenen Fassungen, vgl. GBA Stücke 6 S.454ff und Brecht-Handbuch S. 440ff. 233 Heeg, „Einar wie Eva“, S. 87. 234 Zwischen den im Archiv der AdK aufbewahrten Unterlagen der dramaturgischen Konzeption von Mütter sind – neben den Auszügen aus zweisprachigen Ausgaben (Griechisch/Deutsch ohne bibliographischen Angaben) von Sieben Gegen Theben und Die bittflehenden Mütter – verschiedene Auszüge aus der Sekundärliteratur zur griechischen Tragödie und zur Kulturgeschichte des alten Griechenlands. Es folgen die bibliographischen Angaben, ergänzt durch die Signatur der AdK (Schleef:X). Aeschyli Tragoediae editiert von Udalricus de Wilamowitz-Moellendorff, Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1914 (Schleef:1014); Aischylos, Sieben gegen Theben, Über-
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tragung von Kurt Schilling, Verlag Ernst Reinhardt, München 1940; Aischylos, Sieben gegen Theben, Übersetzung Emil Staiger, Reclam Verlag, Stuttgart 1974; Aischylos, Die Sieben gegen Theben, Deutsch von Wolfgang Schadewaldt, Fassung 1964, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1964 (Schleef:1015); Euripides, Die Flehenden, in: Euripides` Werke, verdeutscht von F. H. Bothe, vierter Band, Berlin und Stettin 1802 (Schleef:1017); Buchkopie einiger Abbildungen aus: Archaelogia Homerica, Bd. III, Kapitel W: M. Andronikos, Totenkult, Göttingen 1968 - 1 Heft, Archaelogia Homerica, Bd. III, Kapitel R: G. Wickert-Micknat, Die Frau. Göttingen 1982 (Schleef:1019); A. Chudzinski, Tod und Totenkultus bei den alten Griechen, Gütersloh 1907; Eugen Reiner, Die rituelle Totenklage der Griechen, Verlag W. Kohlhammer Stuttgart-Berlin (Schleef:1018); Georges Devereux: Träume in der griechischen Tragödie, Übersetzt von Klaus Staudt, Suhrkamp Verlag (Schleef:1020); Horst Kurnitzky, Ödipus, Ein Held der westlichen Welt, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1971; Brigitte Wartmann, „Weiblich-Männlich“ Kulturgeschichtliche Spuren einer verdrängten Weiblichkeit, Verlag Ästhetik & Kommunikation, Berlin 1980 (Schleef: 1021) – dieser Text enthält Zitate aus Johann Jakob Bachofen, Das Mutterrecht, die von Schleef unterstrichen und markiert wurden; Wolfgang Ortlieb, Der entzauberte Ödipus, Nymphenburger Verlagshandlung. o.J. (Schleef:1022); Erika Simon, Das Satyrspiel Sphinx des Aischylos, Heidelberg 1981 (Schleef:1023); Ulrich Hausmann, Oidipus und die Sphinx, ohne bibliografische Angaben (Schleef:1024); Walter Burkert, Anthropologie des religiösen Opfers, Carl Friedrich von Siemens Stiftung, München 1983 (Schleef:1026). Außerdem sind unter dem Dramaturgie- und Assoziationsmaterial auch Kopien von u.a. Zeichnungen von Wilhelm Lehmbruck – u. a. Moderne Pieta’, Vier stürzende, getroffenen Krieger – zu finden, sowie Zeitungsfotos mit Subjekten wie das holländische Königspaar, Feldarbeiterinnen, Katastrophenbilder, Demonstrationen (Schleef 1010). 235 Vgl. Kadaré Ismal, Eschilo il gran perdente, Controluce (Nardò), LE, 2013. 236 Ebd. S. 25. 237 Kadaré, Eschilo il gran perdente, S. 25ff. 238 Kristeva Julia, Die Revolution der poetischen Sprache, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1978, S. 56 „So betrachtet, erscheint uns die thetische Phase – Setzung der imago, Kastration, Setzung der semiotischen Motilität als Ort des Anderen – als Voraussetzung für Bedeutung, das heißt für die Setzung der Sprache.“ 239 Vgl. Oehlschlägel Heike, Droge, Faust, Parsifal. Einar Schleef und seine Theaterideen, Magisterarbeit, Frankfurt am Main, 2000. 240 Bovenschen Sylvia, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1979, S. 48.
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241 Vgl. Cantarella Eva, L’ambiguo malanno. La donna nell’antichità greca e romana, Einaudi Scuola, Milano 1995, S. 64. Cantarella deutet auf folgende Stellen von Aristoteles Politik: Buch I, 12, 1259 b und 5, 1254 b und Buch II, 9, 1269 b. 242 de Beauvoir Simone, Das andere Geschlecht: Sitte und Sexus der Frau. Le deuxième sexe, Neuübersetzung, Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg 1992, zweites Buch, erster Teil „Werdegang“ S. 334. 243 An dieser Stelle wird auf eine wesentliche Differenzierung hingedeutet, die sich ausgehend von den Reflexionen der Frauenbewegung der ’70 Jahre herausstellte und grundlegend für den Genderdiskurs ist. Hier entsteht die Unterscheidung zwischen dem „sozial-kulturellen Konstrukt des Gender“ (ÄGB, Band 2, S. 481) als Zusammensetzung kulturbedingter Eigenschaften, und dem biologischen Geschlecht (Sex). 244 Vgl. Moi Toril, The Feminist Reader. Essay in Gender and the Politics of Literary Criticism, edited by Catehrine Belsey and Jane Moore, Basil Blackwell, New York 1989, S. 123. 245 Hierzu vgl. z.B. besonders zwei Werke von Jean-Jacques Rousseau, der im 18. Jahrhundert verschiedentlich über das Verhältnis und die Hierarchie der Geschlechter nachdachte. In Emile oder Über die Erziehung werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Geschlechter überlegt und über eine Möglichkeit des Zusammenlebens spekuliert. In diesem Sinne wird die Frau als wesentliches Element in der Erhaltung der Familie beschrieben, wofür sie „bescheiden, aufmerksam und zurückhaltend“ sein muss. In Lettre à M. D’Alembert wird von der bedrohlichen Macht der weiblichen Redefähigkeit und der erotischen Anziehungskraft der Frau (ÄGB S. 499) gesprochen, womit die Ambivalenz seines Weiblichkeitsbegriffs aufgeht. Rousseau bezieht sich dann auf den Beruf der Schauspielerin, die all die für eine weibliche Tugend bedrohende Eigenschaften in sich trägt und also auch die Möglichkeit hat, einen weiblichen Einfluss auf die gesellschaftliche Ordnung auszuüben und somit Unordnung in der Beziehung zu schaffen, in der die Geschlechter verwickelt sind. Die Schamlosigkeit, womit sich eine sich dem Schauspielern gewidmete Frau zur Schau stellt, wird als Angriff auf die männliche Autorität empfunden, die sich gegen eine eventuelle weibliche Dominanz wehren muss. 246 Vgl. Euripides, Medea, in ders. Sämtliche Tragödien und Fragmente, Band I, S. 105f. Vv. 230-251. 247 So lautet das Zigeunerinnenlied, dessen Vortragsschema an die Abwechslung erinnert, die in der griechischen Tragödie zwischen Chor und Chorleiter erfolgte: „Im Nebel, Geriesel, im tiefen Schnee, im wilden Wald, in der Winternacht. Ich hör der Wölfe Hungergeheul, Ich hör der Eule Schrein. (Alle) Wille wau wau wau, Wille wo wo wo …Mein Mann der schoß ein Katz am Zaun, war Anne, der Nachbarin, schwarze liebe Katz; Da kamen des Nachts sieben Währwölf zu mir, warn sieben, sieben, Weiber vom Dorf … Ich kannt sie alle, ich kannt sie wohl: ’s war Anna mit Ursel und Räth,
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und Reudel und Bärbel und Lies und Greth, Sie heulten im Kreise mich an … Da nannt ich sie alle beim Namen laut: was willst du Anne? Was willst du Räth? Da rüttelten sie sich, da schüttelten sie sich, und liefen und heulten davon“. Zitiert nach Goethes Götz von Berlichingen. In dreifacher Gestalt herausgegeben von Jakob Baechtold, a. a. O. S. 152. 248 Hier soll auf ein weiteres Beispiel von weiblicher Verdrängung hingedeutet werden, die Schleef wohl unbekannt war und neuerdings ausführlich ans Licht gebracht wurde: die Episode, die Foi als die „verdrängte Tragödie“ der Prinzessin Eboli in Schillers Don Carlos analysiert. Hier wird erläutert, wie die allgemeine Rezeptionskritik die Komplexität dieser Figur banalisiert und sie meistens als die „übliche Intrigantin“ dargestellt habe. Daraufhin geht Foi auf die Entstehungsgeschichte des Dramas ein und schildert, wie gerade dieser von der Kritik vernachlässigten Eboli, eigentlich eine vielschichtige psychologische Entfaltung anerkannt werden sollte. Um diese Entfaltung nachzuvollziehen sei es dennoch notwendig, auf die verschiedenen Bearbeitungen zurückzugreifen, da in der Fassung von 1805 sehr bedeutende Einsätze Ebolis gestrichen wurden. Mit der drastischen Kürzung der Partie der Prinzessin gehen die Nuancen ihres Charakters und Gedankengangs verloren, sodass es leicht wird, sie simplifizierend ins negative Licht zu stellen. Vgl. Foi Maria Carolina, La giurisdizione delle scene. I drammi politici di Schiller, Quodlibet, Macerata 2013, S. 81-94. 249 Vgl dazu. Oehlschlägel Heike, a. a. O. S. 53. 250 Rousseau Jean-Jaques, Lettre a D’Alembert sur les spectacles, in: Ders. Schriften, Band 1, herausgegeben von Henning Ritter, Carl Hanser Verlag, München Wien 1978, hier S. 421. 251 Ebd. S. 420ff. Hier wird sehr deutlich auf die für natürlich erklärte Ungleichheit der Geschlechter hingewiesen: „Aber jede Frau ohne Scham ist schuldig und verderbt, weil sie ein Gefühl, das ihrem Geschlecht natürlich ist, mit Füßen tritt […] Ist es nicht die Natur, die die jungen Mädchen mit jenen lieblichen Zügen schmückt, die ein wenig Scham noch rührender macht? […] Macht die Natur sie nicht furchtsam, damit sie fliehen, und schwach, damit sie nachgeben? Wozu sollte Ihnen die Natur ein empfindsameres Herz, weniger Schnelligkeit, einen weniger kräftigen Körper, einen kleineren Wuchs und zartere Muskeln geben, wenn sie ihnen nicht bestimmt hätte, sich erobern zu lassen? […] Selbst wenn man leugnen könnte, daß ein besonderes Schamgefühl den Frauen natürlich ist, wäre es doch nicht weniger wahr, daß ihnen in der Gesellschaft ein häusliches und zurückgezogenes Leben zukommt und daß man sie nach den Grundsätzen erziehen muss, die sich daraus ergeben. Wenn Schüchternheit, Schamhaftigkeit, Bescheidenheit, die ihnen eignen, gesellschaftliche Erfindungen sind, dann ist es für die Gesellschaft wichtig, daß die Frauen diese Eigenschaften erwerben und daß sie in ihnen entwickelt werden, und jede Frau, die sie mißachtet, verletzt die guten Sitten.
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252 Was Schleef von der gegenwärtigen feministischen Essayistik bekannt war, ist nicht genau zu sagen, da er nicht auf die Quellen seiner literaturhistorischen Analysen hindeutet, doch kann davon ausgegangen werden, dass er mit den wesentlichsten gesellschaftspolitischen Diskursen, die die deutsche intellektuelle Sphäre prägten, vertraut war und sich den daraus folgenden Konzepten und Definitionen bediente, um seine Theorien zu formulieren. In dieser Hinsicht ist es kaum zu bezweifeln, dass Schleef sich mit den Überlegungen bezüglich einer „imaginierten Weiblichkeit“ auseinandergesetzt habe, die Sylvia Bovenschen Ende der 70er Jahre in den Mittelpunkt der Geschlechter-Diskussion brachte. 253 Vgl. Karlheinz Bark; Martin Fontius (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe, historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Metzler, Stuttgart 2003, Band 6, S. 499. 254 Steiner George, Die Antigonen. Geschichte und Gegenwart eines Mythos, Carl Hanser Verlag, München Wien 1988, S. 60ff. Steiner bemerkt den Einfluss von Aischylos und Euripides auf das Handeln des Iphigenie-Mythos und auf die Äußerungen bezüglich der Verdammnis des Atriden-Geschlechts, doch in der Struktur bzw. im Geist der Iphigenie Goethes, erkennt er die Anklänge des sophokleischen Genius. Desweiteren schildert Steiner mehrere Stellen, an denen eine direkte Verbindung zwischen Antigone und Iphigenie zu erkennen ist und stellt die Auseinandersetzung zwischen Iphigenie und Thoas, der zwischen Antigone und Kreon gleich. Erwähnenswert ist außerdem die geschilderte Korrelation zwischen dem Parzenlied und den Chören der Antigone, auf die Goethe anspielt, da dieses zitierende intertextuelle Verfahren einen weiteren Beweis für Goethes Interesse an der Chorfunktion bietet. 255 Luise: „Ja, ja, Gottlieb, kaffer du dich hinter a Owen, in de Helle, nimm d’r an Kochleffel in de Hand und ’ne Schissel voll Puttermilch uf de Knie, zieh d’r a Reckel an und sprich Gebetl, so bist’n Vater recht. – Und das will a Mann sein?“ […] In Raserei „Euch is nich zu helfen. Lappärsche seid ihr. Haderlumpe, aber keene Manne […] Euch haben se de Adern so leer gemacht, daß ihr ni amal mehr kennt rot anlaufen im Gesichte […] Mit solchen Gebetbichl-Hengsten verliert erscht keene Zeit. Kommt uf a Platz!“. Vgl. Gerhardt Hauptmann, Die Weber V Akt, in: Sämtliche Werke Band 1 S. 459ff. 256 Vgl. dazu ÄGB S. 483. Dies wird auch aus einer psychoanalytischen Sicht bekräftigt, die von den Theorien Freuds und Lacans ausgeht und an die sich später die französischen Feministen z.T. anschlossen bzw. denen sie sich entgegenstellten. Jacques Lacan (Über die Bedeutung des Phallus) erläutert, wie ein Bild der Weiblichkeit nur in der (negativen) Differenz gegenüber der phallisch bestimmten Männlichkeit sowie in der Differenz gegenüber sich selbst (ein „Nicht-Sein“) möglich sei. Ausgehend von diesen Behauptungen entwickelt sich später das von Luce Irigaray formulierte Denken der sexuellen Differenz. Freud und Lacan zeigen, wie die Frau als Spiegel des Mannes funktioniert, welcher sie als sein Gegenteil erkennt und somit seine eigene Überlegen-
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heit legitimiert: Frau also als Lücke, Mangel, Abwesenheit, Negation von dem, was der Mann besitzt, woraus der Penisneid entsteht. Irigaray stellt dem Lacanischen Begriff des Spiegels, den von Speculum entgegen. Somit könne man erkennen, dass die Leere eigentlich ein Raum ist, mit einer eigenen Realität und einer reich entfalteten Sexualität. Dieses positive Bild der Weiblichkeit (positive Differenz) wird natürlich seitens der männlichen herrschenden Position gefürchtet. Mit dem Denken der sexuellen Differenz, welches auf der Notwendigkeit beharrt, die Differenz der weiblichen Natur behaupten zu müssen, wird dennoch keine exklusiv weibliche Kultur angestrebt: vielmehr geht es darum, eine sich aus zwei Subjekten (weiblich/männlich) konstituierende Gesellschaft wahrzunehmen. 257 Ebd. 258 Aristoteles, Politik I, in: Werke in deutscher Übersetzung, a. a. O., Band 9/1. Man vergleiche zum Beispiel folgende Stellen: „Ferner ist im Verhältnis (der Geschlechter) das Männliche von Natur das Bessere, das Weibliche das Geringerwertige, und das eine herrscht, das andere wird beherrscht“ (1254 b S. 17) oder „Denn von Natur hat das Männliche eher die Führung als das Weibliche – wenn sie nicht eine naturwidrige Verbundung eingegangen sind“ (1259 b S. 30). 259 Bronfen Elizabeth, Nur über ihre Leiche, Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, Verlag Antje Kunstmann, zweite Auflage, München 1994, S. 24. 260 Bronfen, S. 24 261 Moi, S. 127. 262 Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt: Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Stroemfeld, Frankfurt am Main [u.a.] 2000, S. 364. „Das Melodrama ist das Reservat des zurückgelassenen Weiblichen. In ihm kehrt wieder, was im Prozeß der Aufklärung überwunden worden und auf der Strecke geblieben ist. Nachdem der göttliche auctor des ‚Großen Welttheaters‘ die Fäden aus der Hand gelegt hat und die menschlichen Rollenspieler ihrer transzendenten ‚Aufhängung‘ verlustig gegangen sind, wächst die Macht der Empirie und die Verlorenheit des Ich. Die ‚natürliche Gestalt‘ des Bürger-Schauspielers ist der Versuch des 18. Jahrhunderts, in dieser Situation Halt zu finden, Identität zu bewahren und Charakter zu gewinnen, zivilisationsgeschichtliche Anstrengungen, die die Verleugnung des Weiblichen erfordern. Das Melodrama ist der Ort, an dem das Verleugnete sich erneut zeigt: Wenn die erhabenen Opfer im Melodrama zu jammern und zu klagen, zu jubeln und zu rasen beginnen, hebt die überwunden geglaubte Medusa, die Herrscherin, auf dem Theater erneut ihr Haupt, und der Betrachter erfährt: Das Erhabene ist das zurückgekehrte Weibliche. Soll der Zuschauer über dem Schrecken nicht versteinern, soll sich der Schauer in lustvolles Grauen verwandeln, dann muß er einen Spiegel bereithalten, der den versteinernden Blick der Medusa zurückgibt und seine Wirkung umkehrt“. 263 Schmidt, S. 239.
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264 Vgl. Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 35. 265 de Beauvoir Simone, Das andere Geschlecht, Sitte und Sexus der Frau, S. 94. 266 Bronfen Elizabeth, Nur über ihre Leiche, a. a. O. S. 263. 267 Vgl. u. A. Cixous Hélène Vorschläge einer Écriture Féminine, sowie Julia Kristevas Theorien über eine präödipale weibliche Sprache. 268 Moi, S. 123. 269 Vgl. Jacques Lacans Aussage „La femme n’existe pas“, welches wiederum von Julia Kristeva, Hélène Cixous, Luce Irigaray wiederaufgenommen, entfaltet bzw. umkehrt wird. 270 Vgl. Fischer-Lichte Erika (Hrsg.), Kolesch Doris (Hrsg.); Wartstat Matthias (Hrsg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Metzler, Stuttgart 2015, S 131. 271 Vgl. Butler Judith, „Performative Acts and Gender Constitution: an Essay in Phenomenology and Feminist Theory“, in: Theatre Journal, Vol. 40, n. 4, S. 519-531, 1998. „In this sense, gender [...] is an identity tenuously constituted in time - an identity instituted through a stylized repetition of acts. Further, gender is instituted through the stylization of the body and, hence, must be understood as the mundane way in which bodily gestures, movements, and enactments of various kinds constitute the illusion of an abiding gendered self“. 272 Vgl. Fischer-Lichte Erika (Hrsg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 132. 273 Vgl. Butler, „Performative Acts and Gender Constitution“ a. a. O. S. 528. „That gender reality is created through sustained social performances means that the very notions of an essential sex, a true or abiding masculinity or femininity, are also constituted as part of the strategy by which the performative aspect of gender is concealed.“ 274 Ebd. S. 525ff. 275 Die Zitate aus Gertrud werden direkt nach Zitatende wie folgt gekennzeichnet: GE/Seitenzahl. 276 Obwohl der monumentale Roman in Monologform zwar mehrmals als eine „Zumutung“ für den Leser beschrieben wird, erkennen die verschiedensten Kritiker die literarische Stärke des schleefschen Schreibens und stellen ihn in eine Linie mit Uwe Jonson oder Samuel Beckett. Siehe u. a. Rolf Michaelis, Die Zeit: „Selten sind Einsamkeit, Sehnsucht, Liebesverlangen eines alten Menschen so offen ausgesprochen worden, mit solch schreiender Verzweiflung. […] Die andere Eigenart dieses Buches liegt darin, daß es etwas bewahrt: Eine absterbende Art zu sprechen, eine Provinz deutscher Sprach, damit Deutschlands…auf jeder Seite finden sie kräftige zumeist leicht zu deutende Wörter, bildhafte Wendungen eines Idioms, das der aus Radio und Fernsehen dröhnende Sprach-Müll verschütten wird.“ Zitiert nach dem Programm Vorschau des Suhrkamp Verlages, Heft 1984/2 S. 15; Sibylle Cramer „Versunkenes Sprechen“ in Frankfurter Rundschau (30.03.1985): „Durch ihr Leben bewegt sich der Geschichtsstoff des 20. Jahrhunderts. Nationalgeschichte, thüringische Heimatsge-
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schichte, Familiengeschichte, Lebensgeschichte, Alltagsgeschichte, sie werden zusammengeworfen und kleingerieben in dem unaufhörlichen Gemurmel der alten Frau… Schleefs Mausoleum ist eine Sprachpyramide, die sich in ihrer Monumentalität, aber auch in ihrem historischen Anspruch ganz unzeitgemäß ausnimmt. Wie von selbst stellt sich der Monolog neben die frühen Bücher Johnsons, ohne allerdings als vergreister Erstling zu erscheinen. Das hängt mit der sprachlichen Radikalität Schleefs zusammen, die verhindert, daß Gertrud zur überlebensgroßen Kleinbürgerfigur gerät, zu einer Heroine“; Verena Auffermann „Erzählung aus der Einsamkeit“ in Süddeutsche Zeitung (26/27.01.1985): „Daß Gertrud zu den großen Schicksalsbeschreibungen des 20. Jahrhunderts zu zählen ist, bestätigt auch Teil II dieser Lebensgeschichte […] Einar Schleef teilt uns durch Gertud, die eine Schwester von Herbert Achternbuschs „Ella“ sein könnte, mit, was Leben im ‚Neuen Deutschland‘ bedeutet. Ideologisches Beweismaterial braucht er nicht für diesen Bericht. Die Straße sieht, denn: ‚Angst, macht Menschen Klein‘“; Sibylle Wirsing in: „Vom Staatschef keine Nachricht“ Frankfurter Allgemeine (14.12.1984): „Die Strapaze ist groß. Man tappt im dunkeln und klammert sich an das umfangreiche Personenregister, das dem Buch beiliegt. Man hält sich für blind oder verdächtigt den Verfasser, der blindwütigen Schreibmanie. Aber schon beim Lautlesen eines einzigen Absatzes geht einem ein Licht auf. Die nächste Umgebung aus Geschichtsbrocken und Grammatikfragmenten wird auf einmal als kunstvolle Fügung erkennbar“. 277 Zitiert nach dem Entwurf für eine Einführung des Stückes: „Zu den Müttern“ mit handschriftlichen Korrekturen von Hans-Ulrich Müller-Schwefe, im Archiv der Akademie der Künste, Signatur: Schleef: 996. 278 Müller-Schwefe Hans-Ulrich, „Mütter und Männer. Kein Grund zur Freude“. Entwurf zur Einführung zum Stück für das Programmheft des Schauspiels Frankfurt. In der Dokumentation der AdK, Signatur Schleef: 996. 279 Schleef Einar/Müller-Schwefe Hans-Ulrich, Mütter, nach Euripides und Aischylos, Stücktext Mütter S. 33, Archiv AdK Signatur Schleef: 993. 280 Müller-Schwefe Hans-Ulrich, „Mütter und Männer. Kein Grund zur Freude“, a. a. O. 281 Ebd. 282 Alle Zitate dieses Abschnittes stammen aus dem Bühnenmanuskript von Mütter. 283 Von besonderen Bedeutung ist hier das Werk Bachofens, Das Mutterecht, womit er ab 1861 die Forschung bezüglich die antiken Matriarchalischen Gesellschaftssysteme initiierte. 284 Wartmann Brigitte Hrsg., „Weiblich – Männlich“ Kulturgeschichtliche Spuren einer verdrängten Weiblichkeit, Ästhetik und Kommunikation, Berlin 1980, S. 155. 285 Vgl. Bachofen J. J., Das Mutterrecht, 7. Auflage, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1989, S. 82. 286 Dreysse, Szene vor dem Palast, S. 137-8.
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287 Irigaray Luce, „Körper-an-Körper mit der Mutter“, in: Genealogie der Geschlechter, Kore, Freiburg (Breisgau) 1989 S. 42. 288 Ebd. 153. 289 Ebd. S. 163-65. 290 Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, S. 111. Auf diesen Text von Kristeva wird auch bezüglich des Begriffs von „Chora“ hingewiesen, vgl. S. 36-37. 291 Irigaray, „Körper-an-Körper mit der Mutter“, S. 42. 292 Peter Iden: „Chorisches Kunstgebrüll“, Die Mütter – Einar Schleefs GriechenMontage scheitert“, in: Frankfurter Rundschau 24.02.1986. 293 Damit spielt Schleef besonders auf Goethes Gretchen und Adelheid, Hauptmanns Helene und Brechts Eva Puntila an, wie in der Analyse der entsprechenden Inszenierungen erläutert wird. Um die dramaturgische, beinahe philologische Arbeit Schleefs nachzuvollziehen, wird empfohlen, die im Archiv aufbewahrten Unterlagen zu konsultieren. Unter dem dramaturgischen- und Assoziationsmaterial zu den Inszenierungen, die in den folgenden Abschnitten in Betracht genommen werden, sind Auszüge Primär- und Sekundärliteratur zu finden, die einen Beweis für Schleefs akribische Beschäftigung mit den Textvorlagen und ihrer Entstehungsgeschichte, sowie für ihre Rezeptionsgeschichte und Interpretation darstellen. Hier eine Auflistung der Literaturnachweise, auf die Schleef in seinem Konzeptionsverfahren zurückgegriffen hat. Für Faust: Johann Wolfgang von Goethe: Urfaust - Faust Fragment - Faust 1. Ein Paralleldruck Erster und Zweiter Band. Herausgegeben von Werner Keller. Taschenbuch Insel Verlag Frankfurt am Main, Erste Auflage 1985 (Schleef:7916). Für Götz von Berlichingen: Jacob Baechtold, Goethes Götz von Berlichingen in dreifacher Gestalt. Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck): Freiburg i.B. und Tübingen 1882 (Schleef: 1703); Ilse A. Graham, Vom Urgötz zum Götz: Neufassung oder Neuschöpfung (keine weiteren bibliografischen Angaben); Magisterarbeit zu „Götz von Berlichingen“ (Schleef:1712); Kritiken und Berichte (fremde Inszenierungen) in Kopie von 1924-1961 (Schleef:1713); Programmheft in Kopie, „Götz von Berlichingen“, Sommerfestspiele auf der Felsenbühne Rathen 1954; G. Sander, Goethe Werke: Der junge Goethe, Band I.1. München 1985; Helgard Ulmschneider, Götz von Berlichingen. Mein Fehd und Handlungen, Jan Thorbecke Verlag, Sigmaringen 1981; Wolfgang Martini, Die Technik der Jugenddramen Goethes, Weimar 1932 (Schleef:1714); Noten und Strophen von Bauernlieder aus verschiedenen Bänden (Schleef:1715). Für Vor Sonnenaufgang: Zeitungsartikel u.a. über Kinderarbeit im Bergbau, Rede von Wilhelm II. zu streikenden Bergleuten; Arthur Schopenhauer, Von der Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens (ohne bibliographische Angaben) (Schleef:1669); Gerhart Hauptmann, Vor Sonnenaufgang, Verlag: S. Fischer. Berlin 1892; Richard Stecher in Dr. Wilhelm Königs, Erläuterungen zu den Klassikern: Vor Sonnenaufgang, Hermann Beyer Verlag, Leipzig, o.D. (Schleef: 1670); Conrad Alber-
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ti, Im Suff, Cassirer & Danziger Verlag, Berlin 1890 (Schleef:1672). Für Puntila und sein Knecht Matti: Hans Peter Neureuter, Brechts Puntila, Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main 1987 (Schleef:1832); Originaltext aus dem Brecht-Archiv, Fassung 178/01-178/204 (Schleef:1840); Jan Knopf, Brecht Handbuch Theater, Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1986; John Fuegi, Brecht-Jahrbuch 1978, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.; Theater Mosaik Heft 7/8, Berlin 1965 von Friedrich Ege; Jukka Ammondt, Brecht und die Marlebäcker Geschichten, Weimarer Beiträge 31 (1985); Jost Hermand, Herr Puntila und sein Knecht Matti, 1971 ohne bibliographische Angaben; Kopie aus dem Brecht-Archiv von den Vorwort von Hella Wuolijoki zur finnischen Ausgabe des „Puntila“; Alfred Simon, Beckett, Suhrkamp Verlag und Bertolt Brecht, Arbeitsjournal 1938-1955 (Schleef 1855); „Joel Lehtonen, Aapeli Muttinens Kriegsdienst (1918)“ aus Manfred Piehr Hein, Moderne Erzähler der Welt, Horst Erdmann Verlag, Tübingen u. Basel 1974; Stefan Schnabel, „Die ‚Lohndrücker‘-Inszenierung von Heiner Müller am Deutschen Theater“, Theater ZeitSchrift (1989) H. 30 (Schleef 1856). 294 Anmerkungen zum Textentwurf für den Programmzettel, Dramaturgisches Material zur Inszenierung von Ur-Götz, Archiv ADK, Signatur Schleef:1706. 295 Ebd. 296 In diesem Zusammenhang spielt die Begegnung mit den Zigeunerinnen eine große Rolle. Diese hatten Adelheid prophezeit, dass bald ein dritter Mann in ihr Leben getreten wäre und an diese Wahrsagung erinnert sie sich, wenn sie sich, wenn sie nach einer Legimitation für ihre neue Liebe sucht und für die Rachepläne, die sie gegen ihren Mann schmiedet: „Und weissagte mir die Zigeunerin nicht den dritten Mann, den schönsten Mann? – Es steht euch noch eins im Weg, ich liebet’s noch! – Und lehrte sie mich nicht durch geheime Lüste meinen Feind vom Erdboden weghauchen? Er ist mein Feind, er stellt sich zwischen mich und mein Glück. Du musst nieder in den Boden hinein, mein Weg über dich hin“ Dies geht in den späteren Fassungen verloren. Vgl. Jakob Baechtold, Goethes Götz von Berlichingen. In dreifacher Gestalt, a. a. O., S. 170. Nach dieser Ausgabe werden auch die folgenden Textstellen aus Götz von Berlichingen zitiert. 297 Ebd. S. 188f. Diese Szene kommt nur in der ersten Version vor. In den Überarbeitungen wird Adelheid nach dem Todesurteil nicht mehr erwähnt, sodass davon ausgegangen werden kann, dass sie hingerichtet worden ist und somit als ein weiterer Name auf der langen Liste der literarischen Frauenopfer steht. 298 Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit, a. a. O. S. 49. 299 Bronfen, Nur über ihre Leiche, S. 263. 300 Ebd.
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301 Heeg im Gespräch mit Wolfgang Storch, B.K. Tragelehn, Karl Kneidl und Georges Froscher über die Götz-Inszenierung, im Schleef Archiv der Akademie der Künste Berlin, Signatur Schleef:1720. 302 Für eine tiefgründige Entstehungs- und Deutungsgeschichte dieses Liedes, das im Konzentrationslager Börgermoor entstand und von den dortigen zur Zwangsarbeit im Moos verdammten Häftlingen gesungen wurde, vgl. Wolfgang Langhoff, Die Moorsoldaten. 13 Monate Konzentrationslager. Unpolitischer Tatsachenbericht, 5 Auflage, Verlag Neuer Weg, Stuttgart 1982. 303 Bronfen, Nur über ihre Leiche, S. 210-211. 304 Kluge, Facts & fakes. Einar Schleef - der Feuerkopf spricht, S. 20. 305 Heeg, „Herr und Knecht, Furcht und Arbeit, Mann und Weib“, S. 151. 306 Ebd. 307 Kluge, Facts & fakes. Einar Schleef - der Feuerkopf spricht, S. 20. 308 Vgl. Heeg, „Herr und Knecht, Furcht und Arbeit, Mann und Weib“, S. 151. 309 Kluge, Facts & fakes. Einar Schleef - der Feuerkopf spricht, S. 21. 310 In den ersten Fassungen kommt die Haushälterin Hannah am Schluss – vor der Besteigung des Hatelmabergs seitens Puntilas und Matti – dazu, ihre Meinung über das Geschehen zu äußern: „Puntila, ich hab mit Ihnen zu sprechen. Tun Sie nicht, als hätten Sie was eiliges vor und schaun Sie nicht leidend aus. Ich hab seit 8 Tagen geschwiegen, weil ich mit der Verlobung und den Gästen im Haus nicht gewusst hab, wo mir der Kopf steht. Ich schweig jetzt nicht mehr länger. Wissen Sie, was Sie gemacht haben?“ (BBA 178/63). Wenn sie bis dahin zurückhaltend die sich am Gut abspielenden Ereignisse beobachtet hat, stellt sie sich nun als entscheidende Figur heraus. Der Chauffeur hat nur Ungutes verursacht und sie will lieber ihre Stelle kündigen als sich mit diesem Individuum weiter konfrontieren zu müssen. In der letzten Szene Kale wendet Puntila den Rücken, taucht Hannah zwar nicht mehr auf, doch berichtet Kalle/Matti über ein Abkommen, das er mit ihr abgeschlossen hat: „Ich bin ganz zufrieden, dass ich die Sach mit der Haushälterin hab ordnen können. So hab ich 2 Monat ausgezahlt erhalten und in der Freud, dass sie mich loskriegt, hat sie mir ein anständiges Zeugnis ausgeschrieben“ (BBA 178/188). Somit beweist sich Hannahs Rolle erneut als ausschlaggebend für das Schicksal des Guts. Diese Teile fallen in der endgültigen Druckfassung komplett weg, sodass die Figur der Haushälterin entschieden verharmlost wird. 311 Jelinek Elfriede, Die Zeit flieht. Totennachrede für Einar Schleef, Videoaufzeichnung (2002) aufrufbar unter http://passagen.univie.ac.at, Forschungsstelle Alexander Kluge. 312 Schleef Einar, „…dann wird es blutig. Einar Schleef im Interview“, in TIP 11/98. 313 Vgl. Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache. 314 Die Wahl der Textvorlage Hofmannsthals, statt der antiken soll nicht wundern, denn – wie bereits erwähnt – bildet für Schleef die Elektra von Strauß – eben nach Text von
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Hugo von Hofmannsthal – die „bis heute bedeutendste Antiken-Aneignung in deutscher Sprache“ (DFP/8). Hier werde laut Schleef klar, dass der auf der Frauenausstoßung basierenden Individualisierungsprozess noch im Gange ist und, dass gerade die Verdrängung des weiblichen Elements einen unübersehbaren Einfluss auf das Schwinden des „tragischen Bewusstseins“ ausübt. 315 Hier eine Auflistung des dramaturgischen Materials für die Vorbereitung von Ein Sportstück, so wie es im Archiv der AdK katalogisiert ist: Parsifal Stücktext, Theaterverlag Ute Nyssen & J. Bansemer Köln (Schleef:1898); Elektra / frei nach Sophokles (ohne bibliografische Angaben); Josef Weilen: Szenischer Prolog zur Eröffnung des k.k. Hof-Burgtheaters am 14. Oktober 1888, Verlag Alfred Hölder, Wien 1888 (Schleef:1902); Penthesilea aus: Kleist, Werke und Briefe, Aufbau-Verlag, Berlin 1993 (Schleef:1903); Noten von „Brüderlein fein“ musiziert von Joseph Drechsler (ohne bibliografische Angaben); Texte und Noten zu Messen für Verstorbene (ohne bibliografische Angaben); Text von Elfriede Jelinek, „Death of a ‚not-for-ladies‘ man“; verschiedene Zeitungsartikel u.a. zu folgenden Themen: Tod Andreas Münzer, Turnerinnen, Steuerskandale, Elfriede Blauensteiner, Top-Modells; J. W. Goethe, „Die Natur“, Fragment (aus dem „Tiefurter Journal“ 1783); Homer, Illias (ohne bibliografische Angaben); Bodybuilder Heft: „Sportrevue“ Nummer 5 von 1996; Auszüge aus Jean Beaudrillard, „Transparenz des Bösen“; George Steiner: „Absolute Tragödie“ aus: Der Garten des Archimedes, 1997; E. M. Cioran: „Dringlichkeit des Schlimmen“ aus: Gevierteilt, Frankfurt am Main 1991 (Schleef:1912); Ernst Jünger, „Schlachtviehtext“ (ohne bibliografische Angaben); Gedicht von Heinrich Heine „Schlachtfeld bei Hastings“ 1851 (ohne bibliografische Angaben) (Schleef:1909); Stücktext: „Der Geist des alten Burgtheaters“; Noten und Liedtext der Volkshymne von Franz Joseph Haydn für Singstimme mit Klavier eingerichtet, Pizzicato Edizioni Musicali, Italy, Copyright 1991, Liedtexte in 13 Sprachen („Gott erhalte, Gott beschütze unsern Kaiser, unser Land!“); Abschrift des Buchtextes, zwei Briefe von Joseph I. an Fürst Khevenhüller vom März 1776 (Schleef 1910); Elektra in: Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke. Dramen II, Fischer Verlag (Schleef: 5488). 316 Dazu vgl. die Einführung von Luigi Reitani zu Jelineks dramaturgischen Eigenschaften, in: Jelinek Elfriede, Sport: una pièce; Fa niente: una piccola trilogia della morte, introduzione di Luigi Reitani, Ubulibri, Milano 2005, S. 9-24. 317 Schmidt, Tragödie als Bühnenform, S. 36. 318 Jelinek, „Ich möchte seicht sein“, in: Theater Heute Jahrbuch 1983, S. 102. 319 Vgl. Jelinek, „Ich möchte seicht sein“. Im selben Beitrag ist auch zu erkennen, wie zentral für Jelinek die Rolle des Regisseurs für das Leben eines Theaterstücks ist: „Theater hat den Sinn, ohne Inhalt zu sein, aber die Macht der Spielleiter vorzuführen, die die Maschine in Gang halten. Nur mit seiner Bedeutung kann der Regisseur die
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| Plädoyer für das Tragische leeren Einkaufstüten zum Leuchten bringen, diese schlappen undichten Sackeln mit mehr oder weniger Dichtung drin“.
320 Vgl. Jelinek, Die Zeit flieht. Totennachrede an Einar Schleef. 321 Ebd. 322 Reitani teilt die Figuren sogar in 5 Kategorien auf: 1) Charaktere, die vollkommen oder zum Teil von einem Namen der literarischen Tradition gekennzeichnet sind, wie Elfi Elektra, Achill und Hektor; 2: Charaktere mit Eigenname, wie Andi; 3) anonyme aber gut charakterisierte Figuren wie „eine Frau“, „die alte Frau“, „die Autorin“; 4) undeutliche Figuren, wie „Sportler“, „Opfer“, „Frau“, „Mann“, „Täter“, „Taucher“, tendenziell multiplizierbar („ein weiterer Sportler“) und von mehreren Akteuren darstellbar; 5) die kollektive Figur des Chores. Vgl. Elfriede Jelinek, Sport: una pièce, a. a. O. S. 17-18. 323 „Die Autorin tritt hinkend und desolat wieder auf. Sie kann sich auch von Elfi Elektra vertreten lassen“ (SP/184). 324 Jelinek, „Alles ist ein Spiel um den blutigen Ernst“, in: Tagesspiegel 20.5.98. 325 Ebd. 326 In diesem Zusammenhang scheint es interessant auf Schillers Vergleich zwischen der griechischen und der römischen Beziehung zum Sport zu deuten: „Man wird niemals irren, wenn man das Schönheitsideal eines Menschen auf dem nämlichen Wege sucht, auf dem er seinen Spieltrieb befriedigt. Wenn sich die griechischen Völkerschaften in den Kampfspielen zu Olympia an den unblutigen Wettkämpfen der Kraft, der Schnelligkeit, der Gelenkigkeit und an dem edlern Wechselstreit der Talente ergötzen, und wenn das römische Volk an dem Todeskampf eines erlegten Gladiators oder seines libyschen Gegners sich labt, so wird es uns auf diesem einzigen Zuge begreiflich, warum wir die Idealgestalten einer Venus, einer Juno, eines Apolls nicht in Rom, sondern in Griechenland aufsuchen müssen.“ Vgl. Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in: Schillers Werke, Nationalausgabe, Band 20, XV Brief S. 358. 327 Barthes Roland, Ich habe das Theater immer sehr geliebt, und dennoch gehe ich fast nie mehr hin. Schriften zum Theater, Alexander Verlag, Berlin 2001, S. 43. 328 Vgl. Schleef im Interview, „Heinar Müller war für mich immer schon Schmerzpunkt“, in Dresdner Neuste Nachrichten, 10.5.98. 329 Vgl. Canetti Elias, Masse und Macht, Fischer, Frankfurt a. Main 1980. Zur fundamentalen Einwirkung von Canettis Werk für die Konzeption von Ein Sportstück wird auf eine Bemerkung von Sang-Sup Lee hingewiesen, der diesen intertextuellen Einfluss auf den Punkt bringt. Vgl. Sang-Sup Lee, Wirklichsein und Gedachtsein: Die Theorie vom Sein des Gedachten bei Thomas von Aquin unter besonderer Berücksichtigung seiner verbum-Lehre, Königshausen & Neumann, Würzburg 2006, S. 89: „Hektor und Achill zitieren unentwegt Canettis Beschreibung des Typus des Überlebenden als des Mächtigen, aber auch seine Darstellung der beiden ‚Doppelmassen‘ von Gegnern im
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Krieg wie von Lebenden und Toten. Die dritte ‚Doppelmasse‘ Canettis wiederum – die von Männern und Frauen – ist strukturbildend für das ganze Stück.“ 330 Diese Ansicht verweist auf die bereits bei Schleef analysierte Opfertheorie von Walter Burkert. 331 Im Interview „Alles ist Spiel um den blutigen Ernst“, Tagesspiegel 20.5.98, sagt Jelinek: „Schleef hatte ja auch, wie ich, eine komplizierte Mutter-Bindung. Darüber wird nie geredet, aber er hat es in seinem Roman Gertrud erzählt“. 332 Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, S. 53ff. Hier wird der Prozess der thetischen Phase erklärt „Die Kastration vollendet diesen Trennungsvorgang, durch den das Subjekt bezeichenbar wird, insofern es immer schon einem anderen ausgesetzt ist – der imago im (bezeichneten) Spiegel und dem (bezeichnenden) semiotischen Prozeß. Die Mutter, auf die sich alles Verlangen richtet, nimmt den Platz dieser Andersheit ein […] Die Entdeckung der Kastration befreit das Subjekt aus der Abhängigkeit von der Mutter und überführt wegen dieses Mangels die phallische in eine symbolische Funktion – in die symbolische Funktion schlechthin.“ 333 Jelinek, „Death of a not for ladies’s man“, in: http://ourworld.com-puserve.com/ hompages/elfriede/ Januar 1998. 334 Vgl. Weigel Sigrid, Die Stimme der Medusa. Schreibweisen in der Gegenwartsliteratur von Frauen, Tende, Dülmen-Hiddingsel 1995, S.8f.: „Indem Frauen teilhaben, teilnehmen an der herrschenden Sprache, sich ihren ‚Zugang zur zeitlichen Bühnen‘ erobern, sind sie an der bestehenden Ordnung beteiligt; sie benutzen dann eine Sprache, Normen und Werte, von denen sie zugleich als das andere Geschlecht ausgeschlossen sind. Als Teilhaberin dieser Kultur dennoch ausgegrenzt oder abwesend zu sein, das macht den spezifischen Ort von Frauen in unserer Kultur“. 335 In Anschluss auf die Überlegungen zum Konzept von Autorschaft, die in den ’60er Jahren besonders von Roland Barthes und Michel Foucault animiert wurden, entwickelte sich kurz danach, innerhalb der feministischen Bewegung, eine Parallele Diskussion, die u.a. Elaine Showalters A literature of their own (1860) oder Virginia Woolfs als Women and fiction bekannte Vorlesungsreihe (1929) als wertvolle Denkanstöße betrachtete. Die Möglichkeiten bzw. die Sinnhaftigkeit eines weiblichen Schreibens wurden mit unterschiedlichen Ergebnissen hinterfragt. Als gemeinsamer Zug der Überlegungen der französischen Feministinnen (Irigaray, Cixous und Kristeva) lässt sich die Kritik am Logozentrismus des abendländischen Denkens in der Aristotelischen Tradition und am Lacanischen Konzept von „Phallogozentrismus“ erkennen. Es wurde dabei keine Inversion bzw. Umsturz der Geschlechterverhältnisse angestrebt, sondern der Bruch eines hierarchischen Denkens. Dieses Verfahren wurde als „Praxis de la difference“ identifiziert. Besonders Cixous setzte mit dem Essay Schreiben, Femininität, Veränderung die Kennzeichen eines weiblichen Schreibens
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| Plädoyer für das Tragische fest (u. a. Rhythmus, Melodie, Entfernung von syntaktisch-grammatikalischen Normen, elliptisches Sprechen). Im deutschsprachigen Bereich sind Beiträge von Marie Luise Kaschnitz, Ilse Langner und Oda Schaefer zu finden, die im Laufe der Seminarreihe „Das Besondere der Frauendichtung“ eine natürliche weibliche Positivität ausstellten. Jenseits stilistischer Unterschiede teilten die drei Autorinnen die Meinung, einige Eigenschaften als Konstanten einer weiblichen Komposition zur Geltung kommen zu lassen, wie emotive Intensität und Themen wie Liebe, Traum, Unterbewusstsein, Natur (vgl. Weigel, Die Stimme der Medusa, S. 29). Die wohl bedeutendste Auseinandersetzung mit dem Thema der weiblichen Autorschaft bietet aber Ingeborg Bachmann mit dem Roman Malina, worauf hier leider nicht eingegangen werden kann.
336 „Es interessiert mich sicher nicht, eine neue Sprache im Sinne einer weiblichen Sprache, was auch immer darunter verstanden wird […] Die Überlegungen zu einer weiblichen Sprache bleiben für mich äußerst fragwürdig“. So äußerte sich Jelinek in einem Interview des 20.07.1987, das in der Doktorarbeit von Anita Maria Mattis zitiert wird. Vgl. ‚Sprechen als theatrales Handeln?‘ Studien zur Dramaturgie der Theaterstücke Elfriede Jelineks, Univ. Dissertation, Wien 1987. 337 Vgl. Jelinek, Überschreitungen: Ein Gespräch mit Elfriede Jelinek, in: www.elfriede jelinek.com. „Das weibliche Sprechen ist, will man es psychoanalytisch ausdrücken, eine phallische Anmaßung, etwas, das für sie eben nicht vorgesehen ist“. 338 Barsch Kurt und Höfler Günther (Hrsg.), Elfriede Jelinek, Literaturverlag Droschl, Graz 1991, S. 14f. 339 Jelinek, Frauenraum, in: www.elfriedejelinek.com. 340 Jelinek, Das weibliche Nicht-Opfer, in: www.elfriedejelinek.com. 341 Vgl. Jelinek, Überschreitungen: Ein Gespräch mit Elfriede Jelinek :„Wie ja auch die Bachmann in ihrem Roman ‚Malina‘ literarisch modellhaft ausführt, muß die Frau, will sie sprechen, ein männliches Ich ausbilden.“ 342 Barsch Kurt und Höfler Günther (Hrsg.), a. a. O. S. 14. Interview zum Drehbuch für Ingeborg Bachmanns Roman Malina. 343 Ebd. 344 Barsch und Höfler (Hrsg.), a. a. O S. 13. 345 Die Serienmörderin Elfriede Blauensteiner, die in den 90er Jahren verschiedene Morde beging, ist in die Kriminalgeschichte Österreichs als „schwarze Witwe“ eingegangen. Eins ihrer Opfer war der Pensionist Alois P., der ebenfalls in Jelineks Stück zitiert wird. 346 Hier spielt Jelinek natürlich auf das Konzept von Frau als Mangel bzw. negatives Subjekt im Sinne De Beauvoirs oder Luce Irigarays an.
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347 Vennemann, „Hallo wer spricht? Identität und Selbstdarstellung in Elfriede Jelineks Ein Sportstück: Text und Aufführung“, Magisterarbeit Universität Rennes 2, 2006-7, S. 68. 348 Elfriede Jelinek, Frauenraum, in: www.elfriedejelinek.com „Es ist, als ob man sich selbst für sich erkämpfen müßte, um überhaupt sein zu dürfen was man schon ist“. 349 Cantarella, a. a. O. S. 74 f. 350 Vgl. Wolf Christa in: Heinrich von Kleist, ‚Penthesilea‘: ein Trauerspiel. Mit einem Nachwort von Christa Wolf, Fourier Verlag, Wiesbaden 1982, hier S. 160. In einer Linie mit Bachofen spekuliert Wolf hier über die Faszination, die der Mythos der Amazonen in einer patriarchalisch misogynen Kultur, wie die griechische ausübte: „Warum z. B. die griechischen Geschichtsschreiber die Amazonensage, die Geschichte von den wilden, wehrhaften Frauen, die an der Nordküste des Schwarzen Meeres – in der Skythischen Regionen und in Lybien Frauenreiche errichtet hätten, in denen Männliches entweder gar nicht oder nur in verkrüppelter und versklavter Form geduldet wurde, derart faszinierte; zwischen Furcht, Abscheu und Bewunderung hin- und hergerissen, haben sie sie immer wieder in den verschiedensten Varianten kolportieren müssen. Ihnen war ja die Minderwertigkeit der Frau selbstverständlich, sie hatten ihre Frauen entrechtet, ins Haus verbannt, unschädlich und ungefährlich gemacht. Barbarisch, widernatürlich, angsteinflößend sind ihnen jene Frauen der grauen Vorzeit, von denen es heißt, daß sie sich die Männer, um mit ihnen Kinder zu zeugen, in Raubzügen jenseits der Grenzen ihres Reiches erobern; daß sie nur Mädchen aufziehen, denen die Mütter die rechte Brust ausbrennen, um sie zum Waffendienst mit Lanze und Pfeil und Bogen tauglicher zu machen; daß sie eine Menge Städte in Nordafrika und entlang der Kleinasiatischen Westküste gegründet hätten und daß auch das berühmte Heiligtum der Diana in Ephesos von ihnen gestiftet sei. Die großartige Literatur der Griechen kann man auch als eine Literatur unaufhörlicher Verdrängung weiblicher Kultur, weiblicher Lebensansprüche im weitesten Sinne lesen“. 351 Kleist Heinrich von, Penthesilea. Ein Trauerspiel. V. 1953ff. In: Ders., Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Hrsg. Von Roland Reuß, Peter Staengle, Ingeborg Hams. Bd. I/5, Stroemfeld/Roter Stern, Basel/Frankfurt am Main 1992, S. 120. 352 An dieser Stelle wird auf Christina Schmidts analytische Gegenüberstellung von Penthesilea und Sportstück hingewiesen, womit Jelineks dekonstruktive Zitierungsweise hervorgehoben wird. Schmidt präzisiert außerdem die skeptische Einstellung der Autorin bezüglich der Translation eines erfolgreichen Emanzipationsmodells in die Gegenwart. Vgl. Schmidt, Tragödie als Bühnenform, a. a. O., S. 49. Zur Intertextualität in Jelineks Sportstück wird auch auf die Einführung von Reitani hingewiesen, wo dieselbe Textstelle hervorgehoben wird. Vgl. Elfiede Jelinek, Sport: una pièce, a. a. O. S. 22-24. 353 Schmidt, a. a. O. S 50.
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354 Jelinek, Frauen, a.a. O. 355 Kleist, Penthesilea. Ein Trauerspiel. V. 1983ff. a.a.O. S. 121f. 356 Ebd. V. 1902ff. „Und woher quillt, von wannen ein Gesetz, / Unweiblich, du vergibst mir, unnatürlich / Dem übrigen Geschlecht der Menschen fremd?“. 357 Ebd. V. 1909ff „Der ersten Mütter Wort entschied es also, / und dem verstummen wir, Neridensohn, / Wie deiner ersten Väter Worten du“. 358 Schmidt, S. 51. 359 Zu der Verbannung der Frau, notwendigen für die Erhaltung einer patriarchalischen Ordnung, äußert sich auch Christa Wolf in: Heinrich von Kleist, ‚Penthesilea‘: ein Trauerspiel. a. a. O. S. 164 „Vor allem aber, beinahe erheiternd, jener Irrtum über die Motive der Griechen, Frauen als Akteure aus dem Trauerspiel zu entfernen: nicht, weil sie zu sittsam waren, sondern weil sie einst, als wilde mänadenhafte Frauen bei den Dyonisien, allzu ungezügelt einen alten Ritus angehangen hatten – eben jenem, aus dem die Tragödie der Griechen sich entwickeln sollte – musste man sie eliminieren.“ 360 Für die Inszenierung von Ein Sportstück konzipierte Schleef zwei verschiedene Versionen, die kurze dauerte 5 Stunden und die lange 7. Der bedeutendste Unterschied – neben der sich immer ändernden Reihenfolge der Szenen – lag in den Videoprojektionen, die in der kurzen Version ausfielen. Die Videos wurden in verschiedenen Räumlichkeiten des Burgtheaters gedreht, besonders in den Kellergängen, sowie auf der Stufe, die zum Volksgarten guckt und auf dem Dach. Die Analyse der vorliegenden Dissertation basiert dennoch auf der kurzen Version: es wurde die Fernsehübertragung der Aufführung für das Berliner Theatertreffen berücksichtigt, die von 3Sat ausgestrahlt wurde 361 Vgl. Jelinek. Eine Totennachrede für Einar Schleef und Alexander Kerlin im Gespräch mit der Dramaturgin Rita Thiele, „Hand in Hand durch den Text – Zur Zusammenarbeit von Elfriede Jelinek und Einar Schleef“, in: www.theater-wissen schaft.de. 362 Vgl. Gespräch mit der Dramaturgin Rita Thiele. 363 Ebd. 364 Für eine detailliertere Beschreibung der ersten Treffen zwischen Schleef und Jelinek wird erneut auf das Video der Totennachrede für Einar Schleef sowie auf das Gespräch mit Rita Thiele hingewiesen. 365 Vgl. Roesner David, Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson, Narr, Tübingen 2003, S. 187. 366 Ebd. S. 191. Roesner weist außerdem auf zwei verschiede Zitatformen hin: das direkte Zitat (wie der Einbau von Schuberts Lied „Der Tod und das Mädchen“, Mozarts „Beym Arsch ist’s finster oder der Popsong „Schöner Gigolo“ von Max Raabe) und Stel-
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len, an denen die Darsteller ihren Text auf der Melodie eines bekannten Musikstückes vortragen (Gregorianischer Gesang, oder Händels Messias). 367 Es sei auf die Erinnerungen der Schauspielerin und Autorin Roberta Cortese hingewiesen, die an der Inszenierung von Sportstück als Chormitglied mitwirkte: „Quando parlo di piccoli, medi, grandi gruppi non intendo dire che ci fossero prove a convocazione. Si lavorava contemporaneamente in sale prova separate, Schleef ovviamente ci dava delle indicazioni sul risultato che voleva ottenere, noi lavoravamo sul testo per poi fargli delle proposte, che lui passava al vaglio. Nel testo della Jelinek ci sono parti per singoli attori (i più fortunati, che avevano davvero delle convocazioni), ma l’anima della messinscena di Schleef era il coro, che non si limitava alla parte indicata come tale nel testo, ma includeva anche tutti i vari colpevoli, vittime, atleti e sub, la stessa Elfi Elettra e altri personaggi „aggiunti“, come ad esempio quelle che lui chiavava ‚le Pentesilee‘, che recitavano coralmente un’intera scena della Pentesilea di Kleist“. Vgl. Elfriede Jelinek, Sport: una pièce, a. a. O. S. 175. 368 Anstelle des ersten Monologs von Elfi-Elektra, entscheidet Schleef, seine Vorstellung bereits mit einer chorischen Szene zu öffnen, die den Szenischen Prolog zur Eröffnung des k.k. Hofburgtheaters am 14. Okober 1888 von Josef Weilen zitiert (vgl. Besetzungszettel zum Programmheft der Uraufführung: Elfriede Jelinek. Ein Sportstück. Programmbuch Nr. 191. Hrsg. Vom Burgtheater Wien, 1998). Vom Regisseur selbst angekündigt, treten Heinz Fröhlich, damals ältestes Mitglied des Burgtheater Ensembles, und vier Knaben in stilisierter sportlicher Kleidung vor dem eisernen Vorhang und tragen die Dankesrede an den Kaiser vor. Dadurch bewirkt Schleef einen metatheatralen Effekt und deutet umgehend auf eins der Jelinekschen Themen hin: die Fragwürdigkeit von Autorschaft und Protagonisten, jenseits derjenigen, die bloßen sich vom Körper emanzipierten Stimmen bleiben. Vgl. dazu Vennemann, „Hallo wer spricht? Identität und Selbstdarstellung in Elfriede Jelineks Ein Sportstück: Text und Aufführung“, S. 36-37. 369 Für einen klaren Überblick über die szenische Besetzung der in Jelineks Stück vorkommenden Rollen soll eine kurze Auflistung geboten werden:
Elfi-Elektra: Gestri-
chen. Szenischer Prolog zur Eröffnung des K.u.K. Hofburgtheaters (Kinderchor); Eine Frau: Frau; Chor :Chor – gemischt; Junge Frau: Junge Frau; Mann: Nackter Mann, Mann aus der Falltür, Rokokofrauenchor (die Textteile wiederholen); Ein anderer Täter: vier nackte Männer; Opfer: Frau im Frack; Die alte Frau (Zwischenbericht): Mann im androgynen Kostüm; Andi: Frauenstimme; Kinderfußballmannschaft (nur in der Inszenierung); Frau: Frau; Sportler: Trainer; Achill und Hektor: Achill und Hektor; Anderer- Erster – Anderer Täter: Sportchor – gemischt; Anderer (S. 165): Griechischer Krieger; Klytaimnestra / Elektra / Chrysothemis (aus Hofmannsthals Elektra) – nur in der Inszenierung; Taucher: Matrosenchor – männlich; Elfi-Elektra: Frauenchor; Autorin: Schleef; Rokokofrauenchor nur in der Inszenierung.
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370 Schmidt, S. 66. 371 Ebd. 372 Beyer Torsten, „Einar Schleef – Die Wiedergeburt des Chores als Kritik des bürgerlichen Trauerspiels“, in: www.theater-wissenschaft.de. 373 Lehmann, „Theater des Konflikts“. 374 Schleef im Interview: „Heinar Müller war für mich immer schon Schmerzpunkt“, in: Dresdner Neueste Nachrichten, 10.5.98. 375 Jelinek, Frauenraum. Hier präzisiert Jelinek noch: „Indem die Frauen etwas wegmachen, dürfen sie endlich ganz da sein, aber als sie selber dürfen sie schon nicht mehr da sein“. 376 Das Lied stammt aus Ferdinand Raimunds Stück Bauer als Millionär (1826) und wurde von Joseph Drechsler musiziert. Die Schlüsselstrophe lautet „Brüderlein fein, Denk manchmal an mich zurück, schimpf nicht auf der Jugend Glück“. 377 Schmidt, S. 74. 378 Kleist, Penthesilea, a.a.O. Vv. 2595-2600; 2695-2703; 2769. 379 Hofmannsthal Hugo v., Elektra, in: Ders. Gesammelte Werke, Band V, Fischer, Berlin 1924. Ab dieser Stelle werden die Zitate dieses Stückes direkt nach Zitatende wie folgt in Klammern markiert: (EL/Seitenzahl). 380 Jelinek, Ein Sportstück, S. 112-137-152-166. 381 Kleist, Penthesilea, a.a.O. V. 2582. 382 Schmidt, S. 50. 383 Ebd., S. 93. 384 Vgl. Wille Franz, „Gespenster der Gegenwart“, in Theater Heute 3/98. 385 Vgl. Gespräch mit der Dramaturgin Rita Thiele, www.theater-wissenschaft.de. 386 Vgl. Kleist, Penthesilea, a.a.O., Dreiundzwanzigster und Vierundzwanzigster Auftritt. 387 Ebd. V. 2680. 388 Ebd. V. 3037. 389 Die italienische Philosophin Luisa Muraro theorisiert dadurch eine ganz andere Ausstoßung und zwar die des Mannes. Als Antwort auf diese natürliche Ausstoßung aus dem mütterlichen Kontinuum hätte der Mann mit Gewalt seine Macht erkämpft, und die Hysterikerin hätte sich im Kampf gegen die Mutter dieser männlichen Vorherrschaft unterworfen. Die Rückkehr zur Muttersprache, zu einem dialogischen Sprechen wäre laut Muraro der erste Schritt um eine neue symbolische Ordnung zu erstellen, die nicht die einer patriarchalischen Gesellschaft entspricht: das kann nur stattfinden, „in dem Moment wo die Hysterikerin selbst, die Mutter als diejenige erkennt, die sie ins mütterliche Kontinuum eingefügt hat“. Vgl. Muraro Luisa, L’ordine simbolico della madre, Editori Riuniti, Roma 1991.
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Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute 2017, 502 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-2400-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2400-1
Sabine Karoß, Stephanie Schroedter (Hg.)
Klänge in Bewegung Spurensuchen in Choreografie und Performance. Jahrbuch TanzForschung 2017 2017, 234 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3991-9 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3991-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theater- und Tanzwissenschaft Friedemann Kreuder, Ellen Koban, Hanna Voss (Hg.)
Re/produktionsmaschine Kunst Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten 2017, 408 S., kart., Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3684-0 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3684-4
Katharina Rost
Sounds that matter – Dynamiken des Hörens in Theater und Performance 2017, 412 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3250-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3250-1
Susanne Quinten, Stephanie Schroedter (Hg.)
Tanzpraxis in der Forschung – Tanz als Forschungspraxis Choreographie, Improvisation, Exploration. Jahrbuch TanzForschung 2016 2016, 248 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3602-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3602-8
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