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German Pages 228 [230] Year 2011
Yann Lafon Fiktion als Erkenntnistheorie bei Diderot
Zeitschrift für Französische Sprache und Literatur ––––––––––––––––––
Beihefte Neue Folge Heft 38 Herausgegeben von Peter Blumenthal und Klaus W. Hempfer
Yann Lafon
Fiktion als Erkenntnistheorie bei Diderot
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2011
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09853-3 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2011 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Printed in Germany
DANKSAGUNG Es ist mir ein besonderes Anliegen, all denjenigen zu danken, die mich darin unterstützt haben, diesen Band zu verwirklichen: Professor Klaus W. Hempfer hat diese Arbeit als akademischer Lehrer mit viel Wohlwollen gefördert. Entscheidende theoretische Anregungen verdanke ich seiner konstruktiven Kritik und seinen vielfältigen Forschungsarbeiten. Herzlicher Dank gebührt Toni Pape, Emily Martin und Anne Cramer, die mir bei den Korrektur-. und Formatierungsarbeiten sehr geholfen haben. Für die gleichermaßen moralische wie tatkräftige Unterstützung in so vielfältiger Weise möchte ich besonders meinem Freund Jan Lefin, meiner Frau Jutta und meinen Eltern Marlies und Philippe danken, ohne deren Hilfe dieser Text nicht vorläge.
INHALTSVERZEICHNIS EINLEITUNG ......................................................................................................... 9
TEIL I
Vom erkenntnistheoretischen Paradigma der Aufklärungsphilosophie: Les Bijoux indiscrets als performative Erfahrung sensualistisch-empiristischer Erkenntnistheorie............................ 20
I.1 I.2
Ausgangshypothesen........................................................................... 20 Erzählstruktur der Bijoux indiscrets im Kontext epochal relevanter Gattungen und Einzeltexte .................................................................. 23 Die Lettres persanes als Präfiguration einer performativen Struktur des Behauptens und Veranschaulichens ............................... 24 Die Behauptungs- und Veranschaulichungsstruktur der Bijoux indiscrets ............................................................................................. 30 Die Behauptung im Rahmen der Digression ...................................... 34 Die Veranschaulichung in der Rahmenhandlung ............................... 51 Fazit..................................................................................................... 64
I.2.1. I.2.2 I.2.2.1 I.2.2.2 I.3
TEIL II
Über die Problematisierung des Materialismus: Le Rêve de d’Alembert als fiktionale Transzendierung materialistischer Erkenntnistheorie ............................................................................. 68
II.1 II.2
Einführung .......................................................................................... 68 Der Rêve de d’Alembert als fiktionaler Rahmen einer Erkenntnistheorie ................................................................................ 75 La suite d’un entretien entre M. d’Alembert et M. Diderot ................ 80 Materialistische Hypothesen ............................................................... 80 Erkenntnistheoretische Konsequenzen und ‚Discours de la Méthode‘ .................................................................... 87 Die fiktionale Veranschaulichung der Einbildungskraft als schöpferisches Erkenntnisvermögen ................................................... 99 Einordnung in den historischen Kontext und Ausblick .................... 111
II.3 II.3.1 II.3.2 II.4 II.5
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TEIL III
Inhaltsverzeichnis
Zur Inszenierung genialer Einbildungskraft: Die Selbstreflexive Ästhetik in Jacques le fataliste als Analogon der Begriffsbildung ......................................................................... 122
III.1 III.2 III.2.1 III.2.2 III.2.3 III.3 III.3.1 III.3.2 III.4
Einführung ........................................................................................ 122 Die Erzählstruktur ............................................................................. 125 Ebenen des Diskurses ....................................................................... 125 Rede- und Geschichtsebenen ............................................................ 129 Das Verhältnis von Erzählen und Reflexion des Erzählten .............. 134 Elemente einer wirkungsästhetischen Textkonzeption ..................... 135 Explizite Metafiktion und Parodie als Lenkungsstrategien .............. 137 Ironie als Lenkungsstrategie ............................................................. 140 Der ideologisch-erkenntnistheoretische Wert des Erzählprozesses .......................................................................... 143 III.4.1 Parodistisches Erzählen als Analogon einer Fatalismusentwertung ....................................................................... 143 III.4.1.1 Die Motivierung der Parodie ............................................................ 143 III.4.1.2 Unwahrscheinliche und uninteressante Begebenheiten .................... 155 III.4.1.3 Quantitative Entwertung durch ständige Unterbrechung .................. 163 III.4.1.4 Letzte Zufälle als Untergangsszenario einer Geschichtswelt ........... 169 III.4.1.5 Analogieschlüsse............................................................................... 177 III.4.2 Selbstreflexives Erzählen als Analogon ideologischer Umwertung und erkenntnistheoretischer Begriffsbildung ................ 178 III.4.2.1 Fremdmetafiktionalität und Selbstreflexivität .................................. 178 III.4.2.1.1 Affirmation romanesker Diskurstypbestimmtheit ............................ 181 III.4.2.1.2 Affirmation der eigenbestimmten Setzung des Textes ..................... 186 III.4.2.2 Analogieschlüsse............................................................................... 194 III.5 Die Veranschaulichung genialer Einbildungskraft ........................... 196 III.5.1 Die selbstreferentielle Struktur des ‚Sagens‘ und ‚Zeigens‘............. 196 III.5.1.1 ‚Histoire du poète de Pondichéry‘ .................................................... 197 III.5.1.2 ‚Histoire des deux capitaines bizarres‘ ............................................. 200 III.5.2 Fazit................................................................................................... 205 III.5.3 Die mise en abyme des Vertextungsbegriffes in der ‚histoire de Madame de la Pommeraye‘ ........................................... 206 III.5.4 Letzte Analogieschlüsse als Performanz der Begriffsbildung .......... 217 LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................. 220
EINLEITUNG Gemessen am Interesse, das die Leser Diderots Roman Jacques le fataliste (1771– 1775) seit über zweihundert Jahren entgegenbringen, lässt sich sagen: Dieser Text ist nicht nur Diderots offensichtlich ansprechendstes literarisches Vermächtnis, sondern auch sein am nachhaltigsten analysierter und interpretierter Text. Man kann deshalb geneigt sein, eine literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Jacques le fataliste für ein redundantes Unterfangen zu halten, weil eigentlich alles über dieses Werk gesagt sein müsste. Dass dem nicht so sein muss und es an sich genug Spielraum für neue Textanalysen und -interpretationen gibt, liegt vor allem an der prinzipiellen Mehrdeutigkeit literarischer Texte. Für diese strukturalistische Erkenntnis gibt Jacques le fataliste ein Paradebeispiel ab. Denn allein die Narrationsstruktur des Textes ist so ambig, dass es dem Leser durchgängig schwer fällt, Textelemente der syntagmatischen bzw. der horizontalen Achse eindeutig miteinander zu kombinieren. Dementsprechend charakterisieren den Text beispielsweise ineinander geschachtelte Geschichten und Episoden. Dem Leser obliegt es, nicht nur die Konsistenz der einzelnen Geschichtsstränge, sondern vor allem den Zusammenhang der Geschichten, die durch keine inhaltlichen Aspekte miteinander verbunden sind, herzustellen. Folglich ist die potentielle Mehrdeutigkeit eine notwendige Konsequenz aus der Kombinationsvielfalt auf der syntagmatischen Ebene der Textualität. Zugleich rechtfertigt die potentielle Mehrdeutigkeit grundsätzlich jede kritische Lektüre, aus der neue syntagmatische Kombinationen hervorgehen, die sich wiederum durch paradigmatische Ähnlichkeitsrelationen bzw. durch plausible Bezüge zum kontextuellen Objektbereich flankieren lassen. Auf jenen für Bedeutungskonstitution entscheidenden Aspekt der aufeinander bezogenen syntagmatischen und paradigmatischen Achsen der Textualität komme ich weiter unten noch zu sprechen. Wie notwendig vor dem Hintergrund der offensichtlichen Heterogenität von Jacques le fataliste eine kritische Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur ist, illustrieren eigentlich alle Interpretationen von Diderots Roman, denn sie arbeiten sich bis heute an jener von der fiktiven Leserfigur vorgebrachten Kritik ab,1 Jacques le fataliste sei ein schlecht komponierter Roman,2 um die eigentliche oder
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Karl Rosenkranz im 19. Jahrhundert ebenso wie Huguette Cohen im 20. Jahrhundert berufen sich ausdrücklich auf jene Textstelle und heben dadurch den apologetischen Charakter ihrer Studien hervor, der für die Jacques le fataliste-Forschung lange Zeit typisch war. Vgl. Karl Rosenkranz, Diderots Leben und Werke, Bd. 2, Brockhaus, Leipzig 1866, S. 325 und Huguette Cohen, „La figure dialogique dans Jacques le fataliste“, in: Studies on Voltaire and the eighteenth century, 162 (1978), S. 55. „Et votre Jacques n’est qu’une insipide rhapsodie de faits les uns réels, les autres imaginés, écrits sans grâce et distribués sans ordre.“ Denis Diderot, Œuvres complètes, Bd. 23: Jacques
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auch verborgene Kohärenz3 der vermeintlich heterogenen Textteile vorzuführen. Die im Text formulierte Ansicht der fiktiven Leserfigur korrespondiert jedenfalls mit der für jeden realen Leser nachvollziehbaren Schwierigkeit der Konstitution eines schlüssigen Geschichtsgefüges und damit zusammenhängend eines konsistenten Bedeutungsgefüges. Insofern nimmt es auch nicht wunder, dass Jacques le fataliste bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts dem Vorwurf der fiktiven Leserfigur entsprechend mehrheitlich als schlecht komponierter Roman eingestuft wurde.4 Diese Unterstellung ist durch die schlichte Behauptung des Gegenteils und vor allem durch die auf den Gesamttext bezogenen Interpretationen, die mögliche Beziehungen der Geschichten zueinander aufgezeigt und damit korrespondierende Textbedeutungen konstituiert haben, längst entkräftet. Es lässt sich jedoch nachweisen, dass die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Jacques le fataliste noch immer von der im Text formulierten Provokation der kompositorischen Heterogenität bestimmt wird, wie die Vielzahl der äußerst punktuellen Forschungsbeiträge verdeutlicht, auf die ich, soweit es meine Thematik erlaubt, im Laufe der Arbeit eingehen werde. An dieser Stelle möchte ich mich indes auf die Beschreibung zentraler Forschungstendenzen beschränken, um mein Vorhaben im Kontext der Forschungsliteratur zu verorten. Zunächst aber komme ich auf den Aspekt der Nachhaltigkeit des Heterogenitätstopos in der Forschung zurück: Es mag grundsätzlich das Schicksal komplexer, eindeutige Bedeutungszuweisungen beständig unterlaufender Literatur sein, dass sich in wissenschaftlichen Aufsätzen – der weit größte Teil der mit Jacques le fataliste befassten Arbeiten wird in diesem Format behandelt – nur Teilaspekte eines in diese literarische Kategorie fallenden Textes untersuchen lassen. Dennoch meine ich, dass das alte Heterogenitätsvorurteil, das im Dienste einer bewussten Abwertung der Komposition von Jacques le fataliste ausgedient hat, weitgehend unbewusst in komplexitätsreduzierender Funktion bestätigt wird. Jedenfalls entsteht dieser Eindruck, weil häufig vermeintliche thematische oder ästhetische Aspekte des Romans losgelöst von einer überzeugenden Zusammenschau relevanter Textelemente für gegeben ausgewiesen werden. Im Extremfall führt dies zu textuell nicht abgesicherten Behauptungen. In der Summe aber suggeriert die Vielzahl der tendenziell aus dem Kontext herausgelösten Interpretati-
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le fataliste et son maître, hg. v. Herbert Dieckmann/Jacques Proust/Jean Varloot, Hermann, Paris 1981, S. 230, Sigle: DPV. Programmatisch formuliert wird dieser Anspruch etwa bei Francis Pruner, L’unité secrète de Jacques le fataliste, Lettres modernes, Paris 1970 und Georges May, „Le maître, la chaîne et le chien dans Jacques le fataliste“, in: Cahiers de l’association internationale des études françaises, 13 (1961), S. 269. J. Robert Loy hat im 20. Jahrhundert als einer der Ersten den abschätzigen Urteilen eine positive Bewertung von Jacques le fataliste entgegengesetzt. Seiner Sicht auf Diderots Roman hat er dabei eine ausführliche Besprechung jener abschätzigen Urteile in der älteren Forschungsliteratur vorangestellt. Vgl. J. Robert Loy, Diderot’s Determined Fatalist. A Critical Appreciation of Jacques le fataliste, King’s Crown Press, New York 1950, S. 1–21.
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onen, dass der Roman ein disparates Themenkonvolut darstelle, das dementsprechend punktuell gelesen werden könne.5 Gleichwohl soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, die mit Jacques le fataliste befasste Forschung werde Diderots komplex komponiertem Roman grundsätzlich nicht gerecht. Diverse die Textstrukturen des Romans und seine diskursiven Referenzhorizonte nach bestem Wissen berücksichtigende Aufsätze und Monographien, auf die ich gezielt eingehen werde, sind geeignet, diesen Eindruck zu entkräften. Dennoch gilt es festzuhalten, dass die vorliegende Neuinterpretation von Jacques le fataliste allein durch die insgesamt geringe Anzahl neuerer Forschungsbeiträge gerechtfertigt ist, die zum einen der komplexen Gesamtstruktur des Textes und zum anderen der von der Forschung geleisteten Aufarbeitung des ästhetischen und thematischen Möglichkeitsspektrums von Jacques le fataliste Rechnung tragen. Dem hiermit formulierten Anspruch möchte ich zunächst mit der Vorstellung zentraler thematischer und ästhetischer Forschungserkenntnisse über Jacques le fataliste genügen. An die erste Stelle gehört in diesem Zusammenhang die in der Forschung lange Zeit unbestrittene Ansicht, dass Jacques le fataliste ein philosophischer Roman sei,6 der vor allem den Fatalismus- bzw. Determinismuskomplex und damit verbunden die Freiheitsthematik zum Gegenstand hat.7 Es handelt sich dabei um ein oppositives Themenverhältnis, das nicht wenige in einem inszenierten Zusammenspiel von Zufall und Notwendigkeit im Text umgesetzt sehen.8 Damit ist allerdings nicht gesagt, dass die Forschung hinsichtlich der Bewertung des Verhältnisses der bezeichneten Hauptthemen zu einem einheitlichen Ergebnis käme. Autoren, die im Text den Aspekt der Freiheit im Vordergrund sehen, stellen die Ausnahme dar. Beispielhaft hierfür ist die Annahme, dass der Roman insgesamt das sich über den Determinismus erhebende „reflektierende Bewußtsein und [die] frei spielend[e] Einbildungs- und Erfindungskraft“ zur Anschauung bringe, 5 6 7 8
Einzelne Beispiele hierfür werde ich weiter unten geben. Vgl. dazu Klaus Dirscherl, Der Roman der Philosophen: Diderot, Rousseau, Voltaire, Narr, Tübingen 1985. Im Verlauf der Untersuchung werde ich alle relevanten Arbeiten im Hinblick auf ihren Beitrag zur Determinismusthematik kritisch diskutieren. Vgl. Erich Köhler, „‚Est-ce que l’on sait où l’on va?‘ – Zur strukturellen Einheit von Diderots Jacques le fataliste et son maître“, in: Romanisches Jahrbuch, 16 (1965), S. 263 f.; Ruth Groh, Ironie und Moral im Werk Diderots, Fink, München 1984, S. 246 f.; Rudolf Behrens, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz. Die Krise teleologischer Weltdeutung und der französische Roman (1670–1770), Niemeyer, Tübingen 1994, S. 345–349; Klaus-Dieter Ertler, „Notwendigkeit und Kontingenz im Erzählsystem von Diderots Jacques le fataliste et son maître“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 24/1 (2000), S. 12 und Anne Beate Maurseth, L’analogie et le probable: Pensée et écriture chez Denis Diderot, Voltaire Foundation, Oxford 2007, S. 180–183. Auf die Zufallsthematik konzentriert sind hingegen folgende Studien: Gabrijela Vidan, „Jacques le fataliste: entre le jeu de l’amour et du hasard“, in: Studia romanica et anglica, 24 (1967), S. 67–95 und Thomas M. Kavanagh, Enlightenment and the Shadows of Chance: The Dovel and the Culture of Gambling in Eighteenth Century, Johns Hopkins Univ. Press, Baltimore/London 1993, (darin das Kapitel „Chance’s untellable tale: Diderots Jacques le fataliste“), S. 229–248.
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wie Dieckmann es formuliert.9 Die Ansicht, dass im Roman keine Auflösung des thematischen Antagonismus zugunsten einer Favorisierung von freiem Willen oder Determination angelegt ist, findet sich häufiger. So geht Erich Köhler davon aus, dass in Jacques le fataliste ein unaufgelöstes Paradox veranschaulicht werde, weil Diderot keinen Ausweg aus dem aporetischen Verhältnis von Determination und freiem Willen gesehen habe.10 Die Mehrheit der Autoren aber liest den Roman insgesamt als Veranschaulichung eines aufgeklärten kausalen Determinismus. Dementsprechend sieht Behrens vor dem Hintergrund der Ablösung eines überkommenen Fatalismus und innerhalb der neu gezogenen Grenzen eines kausal determinierten Handelns in Jacques le fataliste eine Schematisierung lebensweltlicher Kontingenz realisiert.11 Diderots materialistische Ideologie scheint die Determinismusthese ebenso zu bekräftigen12 wie der explizite Bezug auf spinozistische Philosopheme im Text.13 Ruth Groh zufolge geht der aufgeklärte kausale Determinismus des Textes mit der Diskreditierung von blindem Fatalismus und Indeterminismus einher.14 Gleichwohl ist sie der Ansicht, dass der aufgeklärte Determinismus in Jacques le fataliste einen Freiheitsbegriff impliziere, der in der freiwilligen Selbstdetermination des vernünftigen Subjekts, das Einsicht in die Notwendigkeit hat, bestehe.15 In Verbindung mit der Untersuchung der Hauptthemen des Textes hat sich die Forschung zusehends intensiver mit der ästhetischen Konzeption von Jacques le fataliste auseinandergesetzt. Dabei ist seit jeher unumstritten, dass die dialogischen Anteile des Romans der expliziten Thematisierung der zentralen philosophischen Aspekte des Textes dienen. Allein auf der Grundlage der Dialoge zwischen Herr und Diener, die einen erheblichen Anteil des Gesamttextes ausmachen, wäre es indes nicht möglich, auf das Interpretationsdestillat eines kausalen Determinismus zu kommen. Das mag angesichts der Tatsache, dass es sich bei Jacques le fataliste um einen Roman handelt, der sich durch vielfältigere ästhetische Mittel als das Figurengespräch auszeichnet, nicht weiter verwunderlich sein. Allerdings haben die Interpretationen lange auf sich warten lassen, die auf der Grundlage einer Analyse der spezifischen Erzählstruktur16 das Geflecht der in 9 Herbert Dieckmann, Diderot und Goldoni, Scherpe, Krefeld 1961, S. 47, Anm. 48. 10 Vgl. Köhler, „Est-ce que l’on sait où l’on va?“, S. 258. Vgl. dazu auch Roland Galle, „Diderot – oder die Dialogisierung der Aufklärung“, in: Europäische Aufklärung 3, hg. v. Jürgen von Stackelberg, Athenaion, Wiesbaden 1980, S. 242 und Rainer Warning, „Opposition und Kasus – Zur Leserrolle in Jacques le fataliste et son maître“, in: Rezeptionsästhetik, hg. v. Rainer Warning, Fink, München 1975, S. 488. 11 Vgl. Behrens, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz, S. 13 und S. 345–349. 12 Behrens hebt diesen den kausalen Determinismus plausibilisierenden Nexus hervor. Vgl. Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz, S. 352. 13 Vgl. Pierre Campion, „Diderot et le conatus de la narration. Pour une poétique spinoziste de la narration dans Jacques le fataliste“, in: Poétique, 65 (1986), S. 63–76. 14 Vgl. Groh, Ironie und Moral, S. 247. 15 Vgl. ebd., S. 240 ff. 16 Simone Lecointre hat die erste systematische Analyse der Erzählstruktur in Genettes Terminologie vorgelegt. Vgl. Simone Lecointre, „Qui parle dans Jacques le fataliste?“, in: Denis Diderot oder die Ambivalenz der Aufklärung, hg. v. Dietrich Harth/Martin Raether, Königs-
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diese Struktur eingeschriebenen narrativen Textstrategien untersuchen, um schließlich die Funktionalität jener Strategien im Kontext der diskursiven Referenzen von Jacques le fataliste zu bewerten. So ist etwa die Ansicht, dass es eine Interdependenz zwischen der parodistischen Textstrategie und der Fatalismusthematik gibt, in der Forschung erst seit den sechziger Jahren anerkannt.17 Rainer Warning hat in diesem Zusammenhang die entscheidende Untersuchung vorgelegt, die vor allem in der deutschen Romanistik die ihr gebührende Beachtung gefunden hat. Für ihn fällt die Parodie des idealisierenden heroisch-galanten Romans in Jacques le fataliste mit der Diskreditierung märchenhaft fatalistischer Fügungen zusammen,18 wobei er davon ausgeht, dass der Parodie des lügenhaften Romans im Text ein auf wahren Tatsachen beruhendes Erzählen entgegengesetzt wird. Von daher ist es für ihn auch naheliegend, dass Jacques le fataliste insgesamt als Text des mimetischen Paradigmas zu lesen ist, der anhand von bizarr zugespitzten Fällen die Kontingenz der Wirklichkeit als Naturwahrheit zur Darstellung bringt.19 Die These einer die Wirklichkeit kondensiert mittels außergewöhnlicher Situationen darstellenden Ästhetik wird für Warning vor dem Hintergrund der Poetik lebenswahrer kleiner Details, die Diderot in seiner Eloge de Richardson formuliert hat,20 zu einer fundamentalen Gewissheit. Ich komme an dieser Stelle ausführlicher auf Warning zu sprechen, weil er die prominent vertretene Forschungsmeinung, in Diderots poetologischen Texten fände sich bereits
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hausen/Neumann, Würzburg 1987. Selbstverständlich wurde der Roman auch schon früher auf der Grundlage fundierter Strukturbeschreibungen interpretiert. Vgl. Köhler, „‚Est-ce que l’on sait où l’on va?‘“, S. 247 f. In Robert Mauzis Untersuchung der Parodie in Jacques le fataliste findet diese Erkenntnis keinen Niederschlag, denn generell hebt Mauzi nicht auf mögliche Funktionen der Parodie als narrativer Textstrategie ab. Vgl. Robert Mauzi, „La parodie romanesque dans Jacques le fataliste“, in: Diderot Studies, 6 (1964), S. 89–132. Rainer Warning, Illusion und Wirklichkeit in Tristram Shandy und Jacques le fataliste, Fink, München 1965, S. 94. Vgl. ebd., S. 99. Vgl. Denis Diderot, Œuvres complètes, Bd. 13: Eloge de Richardson, hg. v. Herbert Dieckmann/Jacques Proust/Jean Varloot, Hermann Paris 1980, Sigle: DPV, S. 198.
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das Konzept des ‚realistischen Romans‘ vorweggenommen,21 in der oben erwähnten Weise auf Jacques le fataliste übertragen hat.22 Zudem ist Warnings mimesisästhetische Lesart von Jacques le fataliste, die auf der erwähnten Forschungsposition der deutschen Romanistik aufruht, so wegweisend gewesen, dass alle ausführlicheren Studien der Folgezeit Jacques le fataliste unter dem Vorzeichen seiner wirklichkeitsdarstellenden Ästhetik untersucht haben.23 Daran hat sich in der deutschen Romanistik bis heute nichts grundlegend geändert, obschon freilich auch anerkannt ist, dass es sich bei Jacques le fataliste um einen weitgehend von poetologischen Reflexionen bestimmten Text handelt, der aufgrund seiner Polemik gegen überkommene Verfahren literarischer Modellierung als Roman des Gegenparadigmas charakterisierbar ist.24 In einem noch weitergehenden Sinne sprechen auch jene Autoren von einem Antiroman, die Jacques le fataliste wie Simone Lecointre für einen reinen „récit“ halten, der selbstreflexiv ist, also nur mit sich selbst oder anderen Texten im Dialog steht, und dementsprechend Kommentare über sich selbst enthält, die entweder dem parodistischen Spiel (Ebene des Erzählten) oder der Rede der Textfiguren (Ebene des Erzählens) zu entnehmen sind.25 Werner Wolf, der im Rahmen einer Untersuchung vornehmlich englischsprachiger illusionsdurchbrechender Erzählkunst auch Jacques le fataliste als einen seine Theorie illustrierenden Beispieltext anführt, bestätigt Lecointres Ansicht. Denn für ihn radikalisieren Diderots Jacques le fataliste und Sternes Tristram Shandy unter expliziter Bezugnahme auf Cervantes’ Don Quijote dessen illusionsstörende Erzählweise. Dabei setzen die genannten Texte etwa histoire entwertende Techniken der Illusionsstörung, explizit metafiktionale Kommentare und paro-
21 Joachim Küpper spricht in diesem Zusammenhang von einem Diskussionsergebnis der deutschsprachigen Romanistik. Vgl. Joachim Küpper, Ästhetik der Wirklichkeitsdarstellung und die Evolution des Romans von der französischen Spätaufklärung bis zu Robbe-Grillet, Steiner, Stuttgart 1987, S. 2 und 7. Zu den Diskutanten gehören u. a.: Herbert Dieckmann, „Quatrième conférence. Question d’esthétique“, in: Cinq leçons sur Diderot, hg. v. Herbert. Dieckmann, Droz, Genf/Paris 1959, S. 95–126; Hans Robert Jauß, „Nachahmungsprinzip und Wirklichkeitsbegriff in der Theorie des Romans von Diderot bis Stendhal“, in: Dachahmung und Illusion, hg. v. Hans. Robert. Jauß, Fink, München 1969, S. 157–178 und Karlheinz Stierle, „Epische Naivität und bürgerliche Welt. Zur narrativen Struktur im Erzählwerk Balzacs“, in: Honoré de Balzac, hg. v. Hans-Ulrich Gumbrecht/Karlheinz Stierle/Rainer Warning, Fink, München 1980, S. 188–194. 22 Warning arbeitet in seiner Studie zunächst Diderots ‚realistische‘ Poetologie heraus (vgl. Warning, Illusion und Wirklichkeit, S. 74–78), um sie dann gezielt auf Jacques le fataliste zu übertragen. Vgl. ebd., S. 95–118. 23 Hier sind vor allem Ruth Grohs Studie Ironie und Moral (1984) und Behrens Untersuchung Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz (1994) zu nennen. Auf ihre jeweiligen Umsetzungen dieser Sichtweise komme ich weiter unten im Detail zu sprechen. 24 Vgl. Küpper, Ästhetik der Wirklichkeitsdarstellung, S. 54. 25 Simone Lecointre, „Qui parle dans Jacques le fataliste?“, in: Denis Diderot oder die Ambivalenz der Aufklärung, hg. v. Dietrich Harth/Martin Raether, Königshausen/Neumann, Würzburg 1987, S. 18.
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distische Wendungen gegen überlebte Erzählgattungen ein.26 Wolfs Kriterien gemäß ist Jacques le fataliste somit ein Roman mit einer ausgeprägten Tendenz zur Autoreflexivität. Darüber hinaus besteht das Charakteristikum illusionsstörender Narrativik für ihn in einer Wirkungsästhetik, die gerade nicht auf die Nachahmung lebensweltlicher Wahrnehmung, sondern auf die Betonung der Differenz zwischen Lebenswelt und Kunst bzw. auf die Aktualisierung ästhetischer Distanz hinausläuft. Auch wenn Wolf jene Ansicht nicht eingehender am Beispiel von Jacques le fataliste festmacht, handelt es sich dabei um eine Theorie, die es angesichts der plausiblen Zuordnung von Diderots Roman unter das Paradigma illusionsstörender Literatur zu überprüfen gilt – zumal dies in systematischer Form noch nicht erfolgt ist. Zugleich verdeutlicht Wolfs Theorie die Implikation der sich seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts abzeichnenden ästhetischen Forschungskontroverse.27 Denn beurteilt man Jacques le fataliste aufgrund seiner selbstreflexiven Textstrategien als einen Roman des illusionsstörenden Paradigmas, so lässt er sich insgesamt nicht mehr als wirklichkeitsdarstellender Text lesen, wie das vornehmlich die in der Rezeptionstradition Warnings stehende Forschung zu tun pflegt. Dementsprechend naheliegend ist es, dass Literaturkritiker, die in Jacques le fataliste eine ausschließlich wirklichkeitsdarstellende Ästhetik realisiert sehen, Rezeptionen ablehnen, die davon ausgehen, dass in Jacques le fataliste exklusiv die Ästhetik des Romans thematisiert werde.28 Auch Behrens, der realisiert, dass „nichts, wovon im Roman erzählt wird [...] aus dem Horizont der Problematisierung des Romanerzählens ganz herausgenommen werden [kann]“,29 findet es erstaunlich, wenn Lecointre und Jean Le Galliot im Vorwort ihrer kritischen Ausgabe von Jacques le fataliste einer ausschließlich selbstreflexiven Ästhetik das Wort reden: „S’il y a enquête dans Jacques le fataliste, c’est donc enquête sur le roman. Et s’il y a déterminisme, c’est […] celui auquel se soumet le genre romanesque et dont cette œuvre dévoile les contraintes et dénonce les conventions.“30 Denn, so Behrens’ Einwand, welcher Raum bliebe dann für die „philosophische Problematik um Freiheit, Notwendigkeit und Determination“, die in etlichen Forschungsarbeiten als Gegenstand von Diderots Roman ausge-
26 Vgl. Werner Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörendem Erzählen, Niemeyer, Tübingen 1993, S. 512. 27 Besagte Kontroverse ist von der strukturalistischen Textkritik ausgelöst worden, die Jacques le fataliste angesichts dessen selbstreflexiver Narrationsstrategien mitunter penetrant als Roman der Moderne ausgewiesen hat. Vgl. Lecointre, „Qui parle dans Jacques le fataliste?“, S. 12. 28 Francis Pruner formuliert es unumwunden: „Chercher du côté des lois du roman, ou de ‚l’antiroman‘ un principe d’explication ne mène à rien, pour la bonne raison que Diderot s’en moque“. Francis Pruner, L’unité secrète de Jacques le fataliste, Lettres modernes, Paris 1970, S. 326. 29 Behrens, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz, S. 345. 30 Simone Lecointre/Jean Le Galliot, „Introduction à la lecture du texte“, in: Denis Diderot, Jacques le fataliste et son maître, hg. v. Simone Lecointre/Jean Le Galliot, Droz, Genf 1976, S. CXXIII.
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macht wird?31 Angesichts des so formulierten Mankos tendiert Behrens dazu, das selbstreflexive Textverständnis Lecointres und Le Galliots als bedenkliche Aktualisierung einzustufen.32 Auf Behrens Vorhaltung gilt es einzugehen, denn sie impliziert ein bestimmtes Verständnis der Selbstreflexivität, das ich mit davon abweichenden Überlegungen kontrastieren werde. Zunächst aber sei darauf hingewiesen, dass es angesichts der vorliegenden Forschungsergebnisse keinen Zweifel daran geben kann, dass Jacques le fataliste von selbstreflexiven Narrationsstrategien geprägt ist. Das zeigen nicht zuletzt die Arbeiten Wolfs und Scheffels.33 Im Übrigen hat bereits Warning mit seiner Analyse der Antiromanpolemik einen wichtigen Beitrag zum Verständnis punktueller Selbstreflexivität in Jacques le fataliste geleistet. Um die erwähnte Vorhaltung der unangemessenen Aktualisierung besser einordnen zu können, sei darauf verwiesen, dass es in der französischen Literaturkritik eine Tendenz gibt, die Selbstreflexivität als Epochenspezifikum der Moderne zu reklamieren;34 eine Anschauung, die auch von den poetologischen Stellungnahmen der Autoren des nouveau roman und des nouveau nouveau roman bestätigt wird. Alain Robbe-Grillet bezeichnet den Roman bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts als unschuldig und meint, dass er ohne Bewusstsein seiner selbst gewesen sei. Erst im nouveau roman habe die Bewegung der Schreibweise die Bewegung der Leidenschaften oder Verbrechen abgelöst, da Erzählen im eigentlichen Sinne des Wortes unmöglich geworden sei.35 Dass diese Ansicht so nicht haltbar ist, belegen wiederum ältere selbstreflexive Texte, angefangen bei Ariosts Orlando Furioso über Cervantes’ Don Quijote bis hin zu Sternes Tristram Shandy und Diderots Jacques le fataliste.36 Obschon Selbstreflexivität an sich somit kein Kriterium für die Moderne sein kann, ist es doch plausibel, dass jene Stimmen, die Selbstreflexivität ausschließlich als Phänomen moderner Literatur reklamieren, mit dazu beigetragen haben, die Forschungsansicht abzusichern, Jacques le fataliste sei in historisch adäquater 31 Behrens, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz, S. 344. 32 Vgl. ebd., S. 344. 33 Scheffel stellt u. a. am Beispiel von Jacques le fataliste Formen selbstreflexiven Erzählens vor. Auf der Ebene des Erzählens führt er explizit an Diderots Text die Reflexion der Form der Erzählung, ihres Mediums und ihrer Rezeption ebenso wie die Reflexion von Genre und poetologischem Programm vor. Vgl. Michael Scheffel, Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. Niemeyer, Tübingen 1997, S. 58–62. 34 Vgl. Klaus W. Hempfer, „Die potentielle Autoreflexivität des narrativen Diskurses“, in: Erzählforschung. Ein Symposion, hg. v. Eberhard Lämmert, Metzler, Stuttgart 1982, S. 130. In diesem Sinne formuliert Barthes: „Pendant des siècles, nos écrivains n’imaginaient pas qu’il fût possible de considérer la littérature (le mot lui-même est récent) comme un langage, soumis, comme tout autre langage, à la distinction logique: la littérature ne réfléchissait jamais sur elle-même (parfois sur ses figures, mais jamais sur son être), elle ne se divisait jamais en objet à la fois regardant et regardé; bref, elle ne parlait pas.“ Roland Barthes, „Littérature et méta-langage“, in: R. Barthes, Essais critiques, Seuil, Paris 1964, S. 106; zit. nach Hempfer, „Die potentielle Autoreflexivität des narrativen Diskurses“, S. 130. 35 „Raconter est devenu proprement impossible.“ Alain Robbe-Grillet, „Sur quelques notions périmées“, in: Alain Robbe-Grillet, Pour un nouveau roman, Minuit, Paris 2002, S. 31. 36 Vgl. Hempfer, „Die potentielle Autoreflexivität des narrativen Diskurses“, S. 131 f.
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Weise grundsätzlich dem wirklichkeitsdarstellenden Paradigma zuzurechnen; gleichwohl konzediert jene mimesisästhetische Forschungsrichtung in neuerer Zeit, dass in Jacques le fataliste Phänomene punktueller Selbstreflexivität zu verzeichnen sind. Ebenso kann mit dem vermeintlichen Modernitätskriterium die Kritik an angeblich aktualisierenden Interpretationen legitimiert werden, die Jacques le fataliste eine grundsätzlich selbstreflexive Ästhetik zuschreiben. Der Aktualisierungsvorwurf impliziert somit, dass die von der Selbstreflexivitätsannahme geleiteten Interpretationen zugunsten einer unzulässigen Moderneprojektion der Wirklichkeitsdarstellung in Jacques le fataliste eine Absage erteilen. Und das, obwohl der Text unbestreitbar auf Philosopheme des Diskurshorizontes der Aufklärung rekurriert. Da die entscheidenden Aspekte mimesisästhetischer Interpretationen auf der einen Seite und der Selbstthematisierungsästhetik zuneigenden Interpretationen auf der anderen Seite bislang noch nicht in befriedigender Weise miteinander kombiniert wurden, möchte ich mit meiner Neuinterpretation von Jacques le fataliste versuchen, diese Forschungslücke zu füllen. In ästhetischer Hinsicht soll die umstrittene These plausibel gemacht werden, dass es sich bei Diderots Roman um einen Text mit einer grundsätzlich selbstreflexiven Ästhetik handelt, ohne dabei die unbestreitbaren philosophischen Implikationen des Textes zu verleugnen. Weil Selbstreflexivität an sich nicht als Modernekriterium vereinnahmt werden kann, ist diese These grundsätzlich vertretbar, zumal die Forschungsliteratur bereits diverse selbstreflexive Narrationsstrategien in Jacques le fataliste vorgestellt hat. Gleichwohl sind jene Narrationsstrategien nur als Einzelphänomene analysiert worden. Eine systematische Untersuchung ihres Zusammenwirkens steht noch aus. Deshalb werde ich, um die selbstreflexive Textästhetik von Jacques le fataliste unter Beweis zu stellen, alle strukturell relevanten Elemente des Textes unter dem Vorzeichen ihrer selbstreflexiven Instrumentalisierung plausibel miteinander zu verknüpfen suchen. Dem traditionellen Kohärenztopos der Forschung entsprechend, gehe ich folglich davon aus, dass sich unter dem Aspekt einer Zusammenschau der in die Textstruktur eingeschriebenen selbstreflexiven Narrationsstrategien eine konsistente Verknüpfung der syntagmatischen Textelemente konstituieren lässt. Die selbstreflexive Textästhetik soll freilich nicht um ihrer selbst Willen nachgewiesen werden. Dementsprechend werde ich die weitgehend aus dem ästhetischen Rahmen des 18. Jahrhunderts fallende Selbstreflexivität des Textes auch nicht dazu instrumentalisieren, Jacques le fataliste undifferenziert auf eine Stufe mit anderen selbstreflexiven Romanen zu stellen, seien sie der Moderne oder anderen literarischen Epochen zuzurechnen. Da meine Methode historischer Natur ist, gilt es zu zeigen, dass die Partikularität der selbstreflexiven Ästhetik in Jacques le fataliste in ihrer besonderen historischen Funktionalität liegt. In diesem Sinne soll Jacques le fataliste zugleich als Anschauungsbeispiel der These dienen, dass Selbstreflexivität als strukturelle Möglichkeit erzählender Texte nicht an bestimmte historische Situationen gebunden ist, wohl aber in unterschiedlichen historischen Kontexten
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jeweils spezifisch funktionalisierbar ist.37 Dieses Konzept scheint mir zugleich einer Bedeutungskonstitution gerecht zu werden, welche die aufeinander bezogenen syntagmatischen und paradigmatischen Achsen der Textualität berücksichtigt. Meine zentrale These ist in diesem Zusammenhang, dass die selbstreflexive Ästhetik von Jacques le fataliste einem metaphorischen Ähnlichkeitsprinzip Rechnung trägt. So lassen sich die Selbstthematisierungsstrategien zunächst als inszeniertes Bild der Vertextung des Romans lesen. Der aus dem selbstreflexiven Referenzspiel ableitbare definitive Vertextungsbegriff ist indes als Analogie eines ideologischen bzw. erkenntnistheoretischen Konzepts verstehbar. Das gilt es vorzuführen, wobei besagtes Konzept keineswegs willkürlich, sondern historisch referenzialisierbar ist. Im Allgemeinen lässt es sich auf den ideologiekritischen und den ideologisch-erkenntnistheoretischen Aufklärungsdiskurs sowie im Besonderen auf Diderots spezifische erkenntnistheoretische Auseinandersetzung rückbeziehen. Damit soll allerdings nicht gesagt sein, dass in Jacques le fataliste qua selbstreflexiver Ästhetik ideologische Topoi wie das erkenntnistheoretische Paradigma des Aufklärungsdiskurses dargestellt würden. In diesem Zusammenhang ist meine zweite These, dass das strukturelle Analogon in Anlehnung an die Ableitung des Vertextungsbegriffes allein auf der Grundlage einer Leserperformanz konstituierbar ist. Mit anderen Worten, textstrukturell ist das Konzept lediglich potentiell angelegt. Es wird also weder explizit veranschaulicht noch ist es in der Wirklichkeit des Aufklärungsdiskurses bereits verankert, obschon einzelne im Text markierte Philosopheme eindeutig referenzialisierbar sind. Die selbstreflexive Textästhetik und die damit verbundene Ästhetik der Miteinbeziehung des Lesers in die Bedeutungskonstitution soll aus
37 Klaus Hempfer spricht von der Autoreflexivität als einer strukturellen Möglichkeit erzählender Texte, die sich aus den Bedingungen ihrer spezifischen Kommunikationsstruktur ergibt. Im Besonderen ist damit gemeint, dass narrative Texte über eine Vermittlungsebene verfügen, durch die ein potentielles Reflexionsmoment in den Text eingeschrieben ist, das genutzt werden kann oder nicht. Vgl. Hempfer, „Die potentielle Autoreflexivität des narrativen Diskurses“, S. 136. Mit diesem Ansatz grenzt sich Hempfer von semiotischen, sprach- und literaturwissenschaftlichen Ansichten ab, die Autoreflexivität per Definition als Merkmal fiktionaler Texte verstehen. Gleichwohl vertritt er die These einer zu allen Epochen möglichen Autoreflexivität narrativer Texte. Diese Ansicht wird von zahlreichen englisch- und deutschsprachigen Autoren vertreten. Rüdiger Imhof bekennt dementsprechend: „Yet it is one of the convictions central to this investigation that metafiction constitutes a tradition in literature which dates back to, at least, Cervantes.“ Rüdiger Imhof, Contemporary Metafiction. A Poetological Study of Metafiction in English since 1939, Winter, Heidelberg 1986, S. 12; Inger Christensen, The Meaning of Metafiction: A Critical Study of Selected Dovels by Sterne, Dabokov, Barth and Beckett, Universitätsverlag, Bergen 1981, S. 10. Demgegenüber steht die von John Fletcher und Malcolm Bradbury vertretene These, wonach es zwei unterschiedliche historische Typen selbstreflexiven Erzählens gebe. So sei zu unterscheiden zwischen dem „mode of self-conscious narration“, der die Erzählungen des 17. und 18. Jahrhunderts kennzeichne und der „narrative introversion“, die moderne Texte des 20. Jahrhunderts charakterisiere. Vgl. John Fletcher/Malcolm Bradbury, „The Introverted Novel“, in: Modernism 1890– 1930, hg. v. M. Bradbury/J. McFarlane, Harvester Press, New Jersey 1978, S. 395 f.
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diesem Grund konsequent nachgezeichnet werden.38 Dabei stellt sich freilich die Frage, inwieweit es plausibel ist, dass die selbstreflexive Ästhetik oder vielmehr die aus ihr ableitbare Vertextungsrealität als Analogon eines ideologischerkenntnistheoretischen Konzepts funktionalisiert wird, das vom Leser konstituiert wird, und dass die Darstellung eines schon existierenden philosophischen Konzepts zum Zwecke der Leserdidaxe ausbleibt. Dieser Frage werde ich im Rahmen einer historisch kontextualisierenden Perspektive nachgehen, wobei ich die Bijoux indiscrets und den Rêve de d’Alembert im Hinblick auf ihre ästhetischthematische Konzeption lese. Hierbei soll gezeigt werden, dass sich anhand dieser Texte sowohl die je spezifische Notwendigkeit einer fiktionalen Behandlung erkenntnistheoretischer Fragen als auch die progressive Zuspitzung der Erkenntnistheorie und ihrer Veranschaulichung nachvollziehen lässt. Die Auswahl der Bijoux indiscrets und des Rêve de d’Alembert ist im Hinblick auf Jacques le fataliste keineswegs zufällig. Denn in Diderots narrativem Erstlingswerk Les Bijoux indiscrets führt der Autor die Thematisierung erkenntnistheoretischer Grundfragen in fiktionaler Form ein, und schreibt sich damit in die für die Literatur der Aufklärung typische Tradition der Verschränkung von Literatur und Philosophie ein. Der Rêve de d’Alembert stellt, wie ebenfalls zu zeigen sein wird, die fiktional artikulierte Fortsetzung jener erkenntnistheoretischen Auseinandersetzung dar, die schließlich in Jacques le fataliste in der oben angedeuteten Weise und deshalb indirekt wieder aufgenommen wird, um vom Leser in eine begriffliche Form gebracht zu werden, so meine These. Es soll hier zwar nicht insinuiert werden, dass Jacques le fataliste notwendigerweise in eine Reihe mit diesen beiden Vorgängertexten zu stellen ist. Gleichwohl lässt sich, wie zu zeigen sein wird, gerade unter dem Aspekt einer Verschränkung von Fiktionsästhetik, Epistemologie und Leserperformanz eine filiation de texte bzw. eine Weiterentwicklung jenes ästhetisch-thematischen Komplexes von Text zu Text nicht von der Hand weisen.
38 Vor diesem Hintergrund werden theoretische Grundlagen der Rezeptionsästhetik und vor allem die von dieser Theorie inspirierten Lektüren des Romans in die Textanalyse miteinbezogen. Vgl. dazu Wolfgang Iser, „Die Appellstruktur der Texte“, in: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, hg. v. Rainer Warning, Fink, München 1975, S. 228–252; Dorothee Kimmich/Bernd Stiegler (Hgg.), Zur Rezeption der Rezeptionstheorie, Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2003; Warning, „Opposition und Kasus“, S. 467–493.
TEIL I VOM ERKENNTNISTHEORETISCHEN PARADIGMA DER AUFKLÄRUNGSPHILOSOPHIE: LES BIJOUX IDDISCRETS ALS PERFORMATIVE ERFAHRUNG SENSUALISTISCHEMPIRISTISCHER ERKENNTNISTHEORIE I.1 AUSGANGSHYPOTHESEN Diderots Erstlingsroman Les Bijoux indiscrets soll im Rahmen dieser Untersuchung als Text vorgestellt werden, der mit den Mitteln narrativer Ästhetik gezielt das erkenntnistheoretische Paradigma der Aufklärungsbewegung thematisiert39 und zugleich auf erfahrbare40 Weise veranschaulicht. Als wesentliches Merkmal dieser Erkenntnistheorie der Aufklärungsbewegung lässt sich herausstellen, dass Wissen und Erkenntnis immer nur als vorübergehende Werte anzusehen sind. Das wiederum ist so zu verstehen, dass aufgeklärter Erkenntnistheorie zufolge alle Erkenntnis zunächst auf subjektive Empfindungen zurückzuführen ist,41 wobei 39 Damit soll hier keineswegs behauptet werden, dass in den Bijoux indiscrets das erkenntnistheoretische Paradigma der Aufklärungsbewegung erstmalig literarisch behandelt würde. Vielmehr reiht sich dieser Roman in das Spektrum der Texte ein, die im weitesten Sinne unter dem Eindruck aufgeklärter Erkenntnistheorie entstanden sind. Dabei ist es aber nicht selbstverständlich, dass alle Texte, die einer literarischen Epoche zugeschlagen werden, auch bewusst oder zumindest absichtsvoll das Paradigma thematisieren, das unhintergehbare Voraussetzung ihrer epistemologischen Formation ist. Gerade die Texte, die im engeren Sinne der Literatur der Aufklärung zuzuordnen sind, zeichnen sich indessen dadurch aus, dass sie das epochale Paradigma auch bewusst thematisieren. Vgl. Klaus W. Hempfer, „Zum Verhältnis von ‚Literatur‘ und ‚Aufklärung‘“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 115/1 (2005), S. 25. 40 Unter dem Begriff der Erfahrbarkeit verstehe ich in Anlehnung an den im Analyseteil ausführlich behandelten expérience-Begriff der Aufklärung, dass Erkenntnis nur auf der Grundlage tatsächlicher Erfahrungen gebildet werden kann. In diesem Sinne wird auch von dem grundlegend performativen Charakter des Textes die Rede sein. 41 Das erkenntnistheoretische Paradigma der Aufklärungsbewegung wird im Rahmen der Textanalyse eingehend besprochen. An dieser Stelle sei aber bereits auf d’Alemberts Discours préliminaire de l’Encyclopédie verwiesen, der als Grundsatzerklärung aufgeklärter Weltanschauung bezeichnet werden kann. Darin werden Ausgangspunkt und Grundlage des enzyklopädischen Unternehmens formuliert: „[...] remonter jusqu’à l’origine et à la génération de nos idées.“ Dieser genealogische Prozess wird dann allerdings umgehend mit der an sich unerschütterlichen Überzeugung abgeschlossen: „Toutes nos connaissances directes se réduisent à celles que nous recevons par les sens; d’où il s’ensuit que c’est à nos sensations que nous devons toutes nos idées.“ Dies ist nun genau das Axiom, auf dem das sensualistische Erkenntnistheorem beruht, das als Paradigma aufgeklärter Weltanschauung bezeichnet werden kann. Vgl. Jean Le Rond d’Alembert, Discours préliminaire de l’Encyclopédie, hg. v. François Picavet, Colin, Paris 1894, S. 13 f.
I.1 Ausgangshypothesen
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das jeweilige Wissen nicht als objektiv unverrückbare Konstante, sondern lediglich als historisch variabler Erfahrungswert anzusehen ist. Dementsprechend hat es auch eine besondere Folgerichtigkeit, dass dieses sensualistische Erkenntnistheorem nicht einfach im Rahmen eines theoretischen Diskurses gegen das cartesianisch-rationalistische42 Erkenntnistheorem gesetzt wird, sondern in ästhetisch adäquater Weise im Rahmen eines literarischen Diskurses vermittelt wird. Denn während dem cartesianischen Rationalismus gemäß hypothetische Annahmen aufgrund transzendentaler Prämissen ganz selbstverständlich für wahr gehalten werden und deshalb auch im Rahmen theoretischer Diskurse behauptet werden können, muss eine Erkenntnistheorie, die gerade die Erfahrung von Sinnesempfindungen als Grundlage aller Erkenntnis für sich in Anspruch nimmt, jenes Theorem an sich erfahrbar machen, will sie ihrem eigenen Anspruch gerecht werden. Mit anderen Worten, die Veranschaulichung und Vorführung der Erkenntnistheorie mittels narrativer Ästhetik43 bzw. die tatsächliche Erfahrbarkeit und damit verbunden die Konstitution des Erkenntnistheorems im Akt des Lesens ist geradezu inhärente Voraussetzung für ihre Geltung oder vielmehr für ihre Assimilierbarkeit. Folglich kommt den Bijoux indiscrets als narrativer Kunstform gerade aufgrund ihrer Performativität44 eine fundamentale Bedeutung zu, die sich nicht darin 42 Der cartesianische Rationalismus als Erkenntnistheorie der der Aufklärung vorausgehenden Epoche der Klassik lässt sich mit d’Alembert als „système des idées innées“ auf den Punkt bringen; dabei lobt d’Alembert dieses System zunächst als „séduisant à plusieurs égards“, allerdings nur, um es sogleich im Brustton aufgeklärter Überzeugung abzuqualifizieren: „Pourquoi supposer que nous ayons d’avance des notions purement intellectuelles, si nous n’avons besoin, pour les former, que de réfléchir sur nos sensations?“ Vgl. d’Alembert, Discours préliminaire de l’Encyclopédie, S. 15. 43 In Bezug auf die besondere Bedeutung des ästhetisch-literarischen Diskurses ist der Ansatz Daniel Brewers zu erwähnen, der die Aufklärung vor dem Hintergrund einer Analyse von Diderottexten nicht als historische Periode oder philosophisches Konzept verstanden wissen will, sondern als spezielle Kunst der Wissensgenerierung („art of producing knowledge“), als Form der Repräsentation („representation“), die darauf abzielt, eine kritische Beziehung zum Wissen darzustellen. Für ihn muss eine kritische Theorie, wenn sie nicht in die Falle laufen will, zum mystifizierten autoritären Diskurs zu verkommen, sich selbst hinterfragen bzw. als „theory-fiction“ (Lyotard) sich selbst durch eine parodistische Spur (Doppelung) unterlaufen. Statt ein ‚Richtig‘ oder ‚Falsch‘ zu setzen, entfalte sie dann ein „know-how“. Dieses KunstKriterium überrage wiederum das ‚richtig‘- oder ‚falsch‘-Kriterium – ein selbstreflexives Potenzial, das Brewer allgemein Diderots literarischen Texten zuschreibt. Damit weist Brewer den literarischen Texten im Rahmen kritisch-philosophischer Theoriebildung eine entscheidende Bedeutung zu, weil nur in diesem Rahmen eine bestimmte Form des Wissens kritisch formuliert werden kann, ohne den Status metaphysischer Gewissheiten einzufordern. Meines Erachtens geht die Bedeutung des selbstreflexiv literarischen Aufklärungsdiskurses bei Diderot allerdings über die Dimension der Formulierbarkeit von Kritik hinaus. Sie ist vielmehr Voraussetzung für die Assimilierbarkeit von Wissen, wie ich im Folgenden zeigen werde. Vgl. Daniel Brewer, The Discourse of Enlightenment in Eighteenth-Century France. Diderot and the Art of Philosophizing, Cambridge University Press, Cambridge 1993, S. 2–10. 44 Unter dem Begriff der Performativität ist hier im weitesten Sinne zu verstehen, dass der Text das vollzieht und formal vorführt, wovon er spricht. In diesem Verständnis lässt sich der Begriff auch auf das ursprünglich linguistische Konzept der Performativität und insbesondere
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Teil I
erschöpft, eine Wissenskonfiguration in literarischer Form zu propagieren oder darzustellen. Vielmehr ist der erzählästhetische Diskurs mit seiner strukturellen Performativität45 unhintergehbare Voraussetzung dafür, dass im Rezeptionsakt selbst die paradigmatische Erkenntnistheorie mitkonstruiert wird, die als weltanschauliches46 Theorem anstelle des cartesianischen Rationalismus zu assimilieren ist. Demnach werde ich zeigen, dass man tatsächlich von einer funktionalen Performativität der Bijoux indiscrets sprechen kann. Darunter versteht die Forschung, dass eine Textstruktur in Koproduktion mit dem Rezipienten Prozesse in der Welt entfaltet.47 Beispielhaft für solch eine mit dem Text realisierte Performativität aber sind die Bijoux indiscrets, weil um einer adäquaten Wissensbildung willen – das Erkenntnistheorem beinhaltet, dass Wissen nur auf der Grundlage von sinnlicher Erfahrung gebildet werden kann – der Akzent auf dem Prozess der Mitkonstituierung der zentralen Behauptung des Textes liegt. Dabei schreiben sich die Bijoux indiscrets in den für die Aufklärungsepoche durchaus charakteristischen auf die Dimension sprachlichen Handelns (Austin in der Weiterführung Searles) zurückführen. Dieses Konzept beruht auf der „Grundannahme, dass mit der Äußerung bestimmter Sprechakte zugleich bestimmte Handlungen vollzogen werden, die nicht identisch sind mit der Sprechhandlung selbst (‚hiermit taufe ich dich auf den Namen Karl-Peter‘), zit. nach Klaus W. Hempfer/Bernd Häsner u. a., „Performativität und episteme. Die Dialogisierung des theoretischen Diskurses in der Renaissance-Literatur“, in: Paragrana, 10/1 (2001), S. 69. Vgl. auch Irmgard Maassen, „Text und/als/in der Performanz in der frühen Neuzeit: Thesen und Überlegungen“, in: Paragrana, 10/1 (2001), S. 289. Krämer und Stahlhut verweisen auf die Ambivalenz von Austins Theorie des Performativen. Denn einerseits scheitert sein Versuch einer terminologischen Unterscheidung von performativem und konstativem Sprachgebrauch, weil Austin selbst einräumt, dass sein Performativitätskonzept an sich perlokutionär und somit nicht performativ ist. Andrerseits aber führt Austin für Krämer/Stahlhut eine regelrechte Inszenierung dieses Scheiterns eines theoretischen Konzeptes der Performativität auf (S. 41), was sie annehmen lässt, dass sich darin die Performativität seines Sprechens veranschauliche. Denn in dem Maße, wie er das Scheitern seiner konstativen Theorie des Performativen vorführt, zeigt er performativ die Grenzen philosophischer Begriffsarbeit auf (S. 42). Das aber bringt Krämer und Stahlhut im Rahmen ihrer Definition eines „starken Performanzkonzeptes“ zu dem Schluss, dass Weltzustände durch Sprache nicht nur repräsentiert, sondern vielmehr konstituiert und verändert werden. „Auf Texte selbst angewendet, kann dann zwischen dem ‚Sagen‘ und dem ‚Zeigen‘, zwischen dem ‚Was‘ und dem ‚Wie‘, zwischen ‚Argumentation‘ und ‚Inszenierung‘ unterschieden werden“ (S. 56). Sybille Krämer/Marco Stahlhut, „Das ‚Performative‘ als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie“, in: Paragrana, 10/1 (2001), S. 35–64. Auf diese Unterscheidung bzw. auf das bedeutungskonstitutive Zusammenspiel von Behauptung und Veranschaulichung in Verbindung mit der vom Leser zu vollziehenden Bedeutungskonstitution im Rezeptionsakt soll hier abgehoben werden. 45 Der Begriff der strukturellen Performativität bezeichnet hier die performativen Textstrategien, die im Text selbst der Inszenierung von ereignishaftem Vollzug dienen. Vgl. Hempfer/Häsner u. a., „Performativität und episteme“, S. 68. 46 Ich gebrauche den Paradigmenbegriff bewusst in Kuhns genuin weltanschaulicher Zuspitzung: „The paradigm, however, is far more than just a theory or even a group of interrelated theories. It is a total worldview (Weltanschauung), a way of seeing the world through the constructs provided by the particular branch of science or the particular field concerned.“ Erich von Dietze, Paradigms Explained. Rethinking Thomas Kuhn’s Philosophy of Science, Praeger, Westport 2001, S. 31. 47 Vgl. Hempfer/Häsner u. a., „Performativität und episteme“, S. 68.
I.2 Erzählstruktur der Bijoux indiscrets
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Prozess der gleichzeitigen Ablösung einer alten und der Herausbildung einer neuen Wissenskonfiguration ein.
I.2 ERZÄHLSTRUKTUR DER BIJOUX IDDISCRETS IM KONTEXT EPOCHAL RELEVANTER GATTUNGEN UND EINZELTEXTE Den bisherigen Ausführungen entsprechend werde ich im Folgenden zeigen, dass die Bijoux indiscrets den bereits erwähnten epochalen erkenntnistheoretischen Paradigmenwechsel vom cartesianischen Rationalismus hin zu einem sensualistischen Empirismus thematisieren, um zugleich die Gültigkeit der neuen Wissenskonfiguration in der Veranschaulichung erfahrbar zu machen. Dies setzt meines Erachtens textuell die Korrespondenz einer Behauptungs- und einer Veranschaulichungsebene voraus. Darunter verstehe ich, dass der Text eine Reihe von Thesen und insbesondere eine zentrale Behauptung aufstellt, die wiederum auf einer anderen Ebene des Erzählens bzw. in einem anderen narrativen Kontext veranschaulicht und damit erlebbar gemacht wird. Während der Rahmenhandlung, wie zu zeigen sein wird, die Funktion des Veranschaulichens zukommt, übernehmen die philosophisch gesellschaftskritischen Digressionen, die strukturell wiederum von der Rahmenhandlung abhängen, die Funktion thesenartig rationaler Behauptungen. Das 29. Kapitel des ersten Buches, der Rêve de Mangogul, ou voyage dans la région des hypothèses, ist im Rahmen der Digressionen von entscheidender Bedeutung, wie das Qualitätsurteil nahe legt, mit dem dieser Paratext überschrieben ist: le meilleur peut-être et le moins lu de cette histoire. Denn hier wird die den Text überspannende Hauptthese formuliert. Diese im Detail vorzustellende Veranschaulichungs- und Behauptungsstruktur des Textes ist allerdings keineswegs diderotspezifisch, vielmehr lässt sich beispielsweise eine strukturelle Intertextualität zwischen den Bijoux indiscrets und den die literarische Epoche der Frühaufklärung prägenden Lettres persanes, die als entscheidender strukturgebender Prätext zu bewerten sind, feststellen. Die intertextuelle Verbindung zwischen den Lettres persanes und den Bijoux indiscrets klingt bereits deutlich in den orientalisch anmutenden Geschichtskonstellationen der Bijoux indiscrets an und kommt insbesondere in der durch die Kapitelstruktur – in Anlehnung an den Briefroman – ermöglichten Abwechslung zwischen thematisch variierenden Digressionen und der Darstellung noch vorzustellender Umtriebe eines kongolesischen Herrschers zum Tragen. Gemeinsam ist beiden Texten in diesem Zusammenhang nicht nur die strukturelle Abhängigkeit ihrer Digressionen von einer rahmengebenden Geschichte,48 sondern vor allem die besondere Korrespondenz dieser beiden Strukturelemente des Erzählens, die ich
48 Unter struktureller Abhängigkeit verstehe ich, dass die im Vordergrund stehenden Digressionen notwendigerweise eine Rahmung benötigen, auch wenn sie, wie in den Lettres persanes, nicht sonderlich viel Raum einnimmt. Denn die Rahmung liefert erst den die disparaten Digressionen ermöglichenden und integrierenden Kontext.
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Teil I
zunächst exemplarisch an den für den literarischen Aufklärungsdiskurs so bedeutsamen Lettres persanes vorstellen möchte.
I.2.1. Die Lettres persanes als Präfiguration einer performativen Struktur des Behauptens und Veranschaulichens In dem 1754 von Montesquieu hinzugefügten zweiten Vorwort der Lettres persanes, das mit Quelques réflexions sur les lettres persanes überschrieben ist, wird in rezeptionslenkender Manier von einer den Text reflektierenden metafiktionalen Redeinstanz, die als Autor stilisiert ist, genau über die Qualität des Verhältnisses der beiden genannten erzählerischen Strukturelemente reflektiert: „L’auteur s’est donné l’avantage de pouvoir joindre de la philosophie, de la politique et de la morale à un roman, et de lier le tout par une chaîne secrète, et, en quelque façon, inconnue.“49 Hier wird behauptet, dass es eine Verbindung zwischen den thematisch vielfältigen und unverbunden erscheinenden Ausführungen, die der Leser den Briefen der Perser Usbek und Rica entnimmt, und den Elementen der rahmengebenden romanesken Handlung gibt.50 Über den Charakter dieser Verbindung ist gesagt, dass sie geheimer Natur sei, was sich indes als Auftrag an den Leser verstehen lässt, das Wesen dieser Verbindung genauer zu untersuchen. Zugleich liefert das Vorwort einen Hinweis zur Lösung des Rätsels der chaîne secrète. So wird dem Leser gleich zu Beginn mitgeteilt, dass den beiden Persern, die sich nach Frankreich begeben haben, die Verhältnisse vor Ort zusehends weniger bizarr und wundersam vorkommen. Andrerseits wird unmittelbar im Anschluss daran festgestellt: „Le desordre croît dans le serail d’Asie à proportion de la longeur 49 Charles Louis de Secondat de Montesquieu, Œuvres complètes, Bd. 1: Lettres persanes, hg. v. Edouard Laboulaye, Kraus Neudruck, Nendeln 1972, S. 48. 50 Diesen Rahmen bildet fast ausschließlich die Haremsintrige, die dem Leser durch den Briefwechsel zwischen Usbek und seinen Frauen und Eunuchen vermittelt wird. Der Handlungsverlauf ist einfach und hängt unmittelbar von der Abreise Usbeks aus Persien nach Europa ab. Während die Reise der beiden Perser mit dem Endpunkt Paris in wenigen Sätzen skizziert wird und somit nahezu keine Erzählzeit in Anspruch nimmt, setzt sich die Haremsintrige aus 45 von insgesamt 161 Briefen zusammen. Nach Usbeks Abreise schreiben ihm seine Frauen sehnsuchtsvolle Liebesbriefe, wohingegen er nur zu erkennen gibt, dass sich seine Gefühle für sie auf Eifersucht und Misstrauen reduzieren. Sein oberster schwarzer Eunuch weist ihn verschiedentlich darauf hin, dass sein Harem zusehends in Unordnung gerate (Brief LXIV und CXLVII). Als Usbek seinem Haremswärter schließlich eine Handlungsvollmacht erteilt (Brief CXLVIII), ist dieser schon gestorben und bis in Solim endlich ein handlungsfähiger Ersatz gefunden ist, vergeht kostbare Zeit, die die Unordnung im Harem weiter anwachsen lässt. Solims strenges Regiment treibt die Frauen schließlich in die offene Ablehnung der Haremsgepflogenheiten und Roxane sogar in den Selbstmord. In ihrem Abschiedsbrief (CLXI), der ihre einzige schriftliche Äußerung darstellt, offenbart Usbeks Lieblingsfrau ihrem Gatten, dass sie ihn nie geliebt habe. Damit endet der Roman mit einem theatralen Überraschungseffekt, denn Roxanes Verhalten ist bis zum Schluss nicht vorhersehbar, da sie dem Leser nur aus den Schilderungen Usbeks bekannt ist. Vgl. Klaus-Jürgen Bremer, Montesquieus Lettres persanes und Cadalsos Cartas marruecas. Eine Gegenüberstellung von zwei pseudoorientalischen Briefsatiren, Winter, Heidelberg 1971, S. 87–105.
I.2 Erzählstruktur der Bijoux indiscrets
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de l’absence d’Usbek, c’est à dire à mesure que la fureur augmente et que l’amour diminue.“51 Insofern wird hier ein zeitlicher Zusammenhang zwischen den dramatischen Ereignissen und den Digressionen des Briefromans, die ausschließlich von Usbek und Rica52 getragen werden, hergestellt. Besagter Zusammenhang lässt sich vor dem Romanhintergrund folgendermaßen zusammenfassen: Je länger Usbek und Rica in Europa bleiben, desto brutaler wird der Widerstand im Serail bzw. je länger die erzählte Zeit gedehnt wird und damit Raum geschaffen wird für Erfahrungen, über die sich die Perser in ihren Digressionen auslassen, desto schärfer kristallisiert sich das Chaos im Harem heraus.53 Das Verhältnis von Digressionen und romanesken Elementen geht aber über die rein zeitliche Verbindungsqualität hinaus, die an und für sich noch keinen Wert darstellt, zumal keinen in aufklärerischer Hinsicht. Eine eindeutige Qualität und damit eine mögliche Bedeutung lässt sich diesem zeitlichen Nexus erst vor dem Hintergrund des erkenntnistheoretischen Aufklärungsparadigmas zuweisen. Denn es ist durchaus bedeutsam, dass der Blick der Perser auf die französische Gesellschaft, auf allgemeine politische, religiöse oder philosophische Phänomene im Laufe der erzählten Zeit an rationaler Schärfe gewinnt, während sich die Verhältnisse im Harem verschlechtern, weil Usbek in diesem Kontext tradierte despotische Gewohnheiten beibehalten will,54 die in keinem adäquaten Verhältnis zu seinen als vernünftig einzustufenden Auslassungen über Gott und die Welt stehen. In diesem Sinne ließe sich von einem kontrastiven Verhältnis oder auch von einem performativen Widerspruch zwischen Digressionen und romanesken Handlungselementen sprechen,55 insoweit als Usbeks für die Haremswelt unmittelbar bedeutsamen Handlungsanweisungen seine vernünftigen theoretischen Ausführungen unterlaufen und ihre nur theoretische Gültigkeit belegen. Ein beredtes Beispiel hierfür ist das in den Lettres persanes zweifach verarbeitete Selbstmordthema. Zum einen findet sich in Brief LXXVI eine theoretische Digression Usbeks zugunsten des Selbstmords, den er grundsätzlich mit dem Naturrecht eines jeden Individuums auf die freie Entscheidung über sein Leben rechtfertigt: „Je ne fais qu’user du droit qui m’a été donné, et, en ce sens, je puis troubler à ma fantaisie toute la nature, sans que l’on puisse dire que je m’oppose à la providence.“56 Auch die Gesellschaft bzw. der Herrscher haben sich nicht über diesen letzten Willen zu beklagen, denn 51 Montesquieu, Lettres persanes, S. 33. 52 Bis auf einige ihrer persischen Freunde (u. a. Rhedi, Ibben), die sich selbst in Briefen zu Wort melden, sind Usbek mit 79 Briefen und Rica mit 47 Briefen die beiden herausragenden Briefschreiber, die sich zu allen gesellschaftlich relevanten Themen äußern. 53 Vgl. zum Zeitaspekt: Richard L. Frautschi, „The Would-Be Invisible Chain in Les Lettres persanes“, in: The French Review, 40/5 (1967), S. 606. 54 Vgl. dazu Montesquieu, Lettres persanes, Brief CXLVIII, S. 471. In diesem Schreiben wendet sich Usbek an den ersten Eunuchen, von dem er die Durchsetzung drakonischer Maßnahmen im Harem einfordert: „Que la crainte et la terreur marchent avec vous: courez d’appartement en appartement porter les punitions et les châtiments. Que tout vive dans la consternation; que tout fonde en larmes devant vous.“ 55 Darunter ist zu verstehen, dass der Text das Gegenteil dessen vollzieht bzw. formal vorführt, wovon er spricht. 56 Montesquieu, Lettres persanes, Brief LXXVI (Usbek à son ami Ibben), S. 255.
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Teil I
der einseitig geschlossene Gesellschaftsvertrag, der auf gegenseitigen Interessen beruhen soll, kann von dem Einzelnen aufgekündigt werden, wenn er seine Interessen nicht mehr gewahrt sieht: „La société est fondée sur un avantage mutuel; mais, lorsqu’elle me devient onéreuse, qui m’empêche d’y renoncer. […] Le prince veut-il que je sois son sujet, quand je ne retire point les avantages de la sujétion?“57 Zum anderen schließt die Haremsintrige und damit der Roman mit Roxanes Selbstmord (Brief CLXI), den sie mit ihren letzten Worten noch selbst zu bestätigen weiß: „Mais, c’en est fait, le poison me consume, ma force m’abandonne, la plume me tombe des mains; je sens affaiblir jusqu’à ma haine: je me meurs!“58 Roxanes Suizid steht in direktem Zusammenhang mit Usbeks despotischem Verhalten als Herrscher über den Harem, wie seine Lieblingsfrau unmissverständlich betont: „Comment as-tu pensé que je fusse assez crédule pour m’imaginer que je ne fusse dans le monde que pour adorer tes caprices? que, pendant que tu te permets tout, tu eusses le droit d’affliger tous mes désirs?“59 Zusammenfassend lässt sich behaupten, dass Usbeks im digressiven Kontext geäußerte Theorie des Selbstmordes in der veranschaulichenden Praxis der romanesken Rahmenhandlung wortwörtlich umgesetzt wird. Insbesondere erfüllt sich in Roxanes Tun ironischerweise gerade der von Usbek so trefflich formulierte Passus über die Rechtmäßigkeit der Aufkündigung des Vertrages mit dem Prinzen im Falle einer unbefriedigenden Erfüllung der Eigeninteressen. Ironisch ist diese Erfüllung deshalb, weil sich angesichts Usbeks despotischem Verhalten im Gesamtkontext der Haremsintrige mit Sicherheit davon ausgehen lässt, dass er gerade dieses von ihm in der Theorie hergeleitete und für richtig befundene Selbstmordprinzip im Falle seiner Favoritin strikt abgelehnt und in bester Prinzenmanier strengstens verurteilt hätte, wenn er dazu Gelegenheit gehabt hätte. Damit ist der Tatbestand eines Widerspruchs erfüllt, wobei die eigentliche Handlung die im Vorfeld geäußerte Theorie bis ins letzte Detail unterläuft und ihre praktische Irrelevanz signalisiert. Der Verknüpfung von Haremsintrige bzw. romaneskem Plot und satirischen Digressionen gemäß der Figur des performativen Widerspruches60 kommt im Kontext der Literatur der Aufklärung indes eine alles andere als widersprüchliche Funktion zu. Im Gegenteil, diese Verknüpfung lässt sich geradezu als veritable textuelle Umsetzung des erkenntnistheoretischen Aufklärungsparadigmas beschreiben, dessen ebenso grundsätzliche wie oberflächliche Verankerung im Text zunächst nachvollzogen werden soll. Auf besagtes Paradigma wird in den Lettres persanes beständig plakativ angespielt, wenn etwa in dem Vorwort Quelques réflexions sur les lettres persanes 57 58 59 60
Ebd., S. 254 f. Ebd., S. 490. Ebd., S. 489. Es versteht sich von selbst, dass der Begriff des performativen Widerspruchs im Kontext der Aufklärungsliteratur lediglich der Beschreibung einer literarischen Figur dient, die zeitgenössisch selbstverständlich nicht mit diesem oder einem ähnlichen Terminus belegt ist. Indes kommt gerade diese literarische Figur in der Aufklärungsliteratur gehäuft vor, wie auch noch an den fiktionalen Texten Diderots zu zeigen sein wird.
I.2 Erzählstruktur der Bijoux indiscrets
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die Rolle der Perser deshalb als außergewöhnlich eingestuft wird, weil sie als Fremde in Europa, das im Text als „autre univers“ bezeichnet wird,61 ankommen. Ihr naiver und gewissermaßen jungfräulicher Blick auf diese neue Welt muss nur aufgezeichnet werden, um Entstehung und Fortentwicklung ihrer Ideen aufzuzeigen: „On était attentif qu’à faire voir la génération et le progrès de leurs idées.“ Und weiter: „On avait à peindre que le sentiment qu’ils avaient eu à chaque chose qui leur avait paru extraordinaire.“62 In diesen wenigen Eingangssätzen klingt bereits der sensualistische Empirismus an, dem als fundamentales Axiom die Auffassung: „Nihil est in intellectu quod non ante fuerit in sensu“ zugrunde liegt.63 Ganz im Sinne dieses sensualistischen Empirismus, den auch Lockes Vorstellung einer Seelenlandschaft zum Ausdruck bringt, die ursprünglich einer tabula rasa gleicht, weil der Seele a priori keine Ideen innewohnen, hat man es in den Lettres persanes mit fremdländischen Persern zu tun, die außer ein paar Vorurteilen keine schon existierenden Ideen über das ‚neue Universum‘ Europa haben können. Wie bei Kindern,64 deren Geist einem unbeschriebenen Blatt gleicht, muss lediglich die Abfolge ihrer besonderen Empfindungen aufgezeichnet werden, um dann, dem zitierten Axiom entsprechend, Entstehung und Fortentwicklung ihrer Ideen nachzuvollziehen. Damit ist ein striktes Kausalverhältnis zwischen den Gegenständen der Außenwelt und den Ideen beschrieben, wobei beide Bereiche über die sinnlichen Empfindungen miteinander verbunden sind. Dieser Auffassung zufolge geht also jeder Idee eine Form der Empfindung voraus, wobei dieses sensualistische Konstrukt auf den Boden der Erfahrungen gestellt werden muss. In diesem Sinne ist es nur folgerichtig, dass die Reise der Fremden in das ‚neue Universum‘ führt, wo jedes Erlebnis neuartig ist und die Protagonisten somit unzählige Erfahrungen machen können, was für den empirischen Duktus der Lettres persanes von entscheidender Bedeutung ist. Es sei an dieser Stelle in Erinnerung gerufen, dass das empirisch-sensualistische Epochenparadigma das cartesianisch-rationalistische Paradigma ablöst, dessen zentrale Hypothese in der Vorstellung eingeborener Ideen zu sehen ist. Darunter ist nach Cassirers Descartes-Auslegung zu verstehen, dass das „Wesen der menschlichen Erkenntnis nur ihr selbst entnommen [sein kann], [sie] kann nur aus den Ideen abgelesen werden, die sie in sich vorfindet.“65 Damit stehen sich 61 Montesquieu, Lettres persanes, S. 48. 62 Ebd. 63 Cassirer führt an, dass jener Ausspruch Lockes, dem zufolge „jegliche Idee, die wir in uns vorfinden, auf einer vorgängigen ‚Impression‘ beruht und nur aus ihr vollständig erklärt werden kann“, in den Rang eines unbezweifelbaren Grundsatzes erhoben wurde, dem sich die Zeitgenossen, einschließlich des Skeptikers Hume, restlos verschrieben hatten. Vgl. Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Mohr, Tübingen 1932, S. 131. 64 Der Vergleich mit dem Kind wird in Brief XLVIII ganz explizit angeführt: „Ceux qui aiment à s’instruire ne sont jamais oisifs. Quoique je ne sois chargé d’aucune affaire importante, je suis cependant dans une occupation continuelle. Je passe ma vie à examiner; j’écris le soir ce que j’ai remarqué, ce que j’ai vu, ce que j’ai entendu dans la journée; tout m’intéresse, tout m’étonne; je suis comme un enfant, dont les organes encore tendres sont vivement frappés par les moindres objets.“ Montesquieu, Lettres persanes, S. 170. 65 Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 125.
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das rationalistische und das empirische Paradigma zunächst diametral gegenüber, denn ist die Prämisse des letztgenannten induktiver Natur, so ist die des erstgenannten deduktiver Natur, was damit gleichbedeutend ist, dass „wir in uns jene Urbegriffe (notions primitives) betrachten, die gleichsam die Muster sind, nach denen alle unsere anderen Erkenntnisse geformt sind.“66 Nun thematisieren die Lettres persanes diesen Paradigmenwechsel zwar nicht explizit, doch lässt sich anhand der hier beschriebenen Korrespondenz zwischen Digressionen und Rahmenhandlung bzw. zwischen einer Struktur des Behauptens und Veranschaulichens von einer impliziten Evokation eben dieses Paradigmenwechsels sprechen. In welcher Weise sich diese These textuell nachweisen lässt, möchte ich im Folgenden ebenso erläutern, wie ich die Funktion des besonderen Verhältnisses von Digression und Rahmenhandlung vor dem Hintergrund des Aufklärungsparadigmas einordnen möchte: Zunächst gehe ich davon aus, dass die digressiven Textelemente, also all jene, die Ricas und vor allem Usbeks im Modus der Satire behandelten Auslassungen über Gott und die Welt enthalten, vernünftiger Natur sind, weil sie dem empirisch-sensualistischen Paradigma gemäß auf dem Boden vielfältiger Erfahrungen, die die Protagonisten im Ausland machen, zustande gekommen sind. Es handelt sich dabei der Textanlage nach also keineswegs um Urteile und Ideenkomplexe, die gleichsam spekulativ und apriorisch in die Welt gesetzt werden. Und doch sind etwa Usbeks Ausführungen lediglich der Anlage nach, also gemäß seiner Stilisierung als Perser in Frankreich, der zwangsläufig Neues erlebt, erfahrungsgesättigt. Denn er entwickelt seine Vorstellungen und Ideen nicht aus tatsächlich im Text inszenierten und veranschaulichten Erfahrungen. Vielmehr handelt es sich bei den Erfahrungen der Perser tatsächlich um ein oberflächliches ‚Erfahrungssetting‘, das über die Stilisierung der Figuren als Fremde eingelöst wird, und dem vor allem die Funktion zukommt, das empirischsensualistische Paradigma zu evozieren. Insofern haben Usbeks Ausführungen und Kommentare zwar den Anstrich erfahrungsgesättigter Erkenntnisse, aber an der Textrealität gemessen sind es tatsächlich rational theoretische Behauptungen apriorischer Natur, die dem Modell der eingeborenen Ideen, die keiner empirischen Überprüfung ausgesetzt werden, gefährlich nahe kommen. Vor diesem Hintergrund kommt der Figur des geschilderten performativen Widerspruchs, die das Verhältnis von romanesker Rahmung und Digressionen charakterisiert, eine entscheidende Funktion zu, wobei sie zugleich selbstreflexiv die nur oberflächliche Veranlagung des empirisch-sensualistischen Paradigmas im Text signalisiert. An dieser Stelle möchte ich nochmals auf das Textbeispiel des Selbstmordes im Kontext von Digression und Haremsgeschichte zurückkommen: Usbeks Scheitern als vermeintlich aufgeklärter Philosoph lässt sich stellvertretend für all seine aufgeklärten Haltungen an seiner Selbstmordtheorie festmachen, die durch sein Handeln gegenüber seinen Haremsfrauen ad absurdum geführt wird. Die Theorie hält der simulierten empirischen Wirklichkeit folglich nicht stand, würde Usbek doch in seiner Lebenswirklichkeit als Haremsdespot den Selbstmord seiner Lieb66 Ebd., S. 126.
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lingsfrau niemals hinnehmen und womöglich nicht einmal nachvollziehen können. Auch wenn dies streng genommen eine spekulative Annahme bleibt, weil der Roman Usbeks Reaktion auf den Selbstmord Roxanes nicht ausführt, kann doch gesagt werden, dass seine im Ausland gemachten Erfahrungen de facto Pseudoerfahrungen sind, weil seine diskursiven Erkenntnisse zwar zusehends an rationaler Schärfe gewinnen mögen, aber letztlich zu keiner Veränderung seines despotischen Handelns im Harem führen. In diesem Zusammenhang veranschaulicht die Haremsgeschichte als negative Inszenierung, dass die rationale Theoriebildung und damit jedwede Behauptung, soll sie jenseits des rhetorischen Gestus einen Erkenntnisgewinn zeitigen, an der empirischen Wirklichkeit gemessen werden und damit erfahren werden muss. Bliebe es dabei, so kämen die Lettres persanes nicht über eine Kritik des Modells rationaler Erkenntnistheorie hinaus, und würden zudem das immer wieder evozierte empirisch-sensualistische Aufklärungsparadigma letztlich selbst desavouieren, da es in der Fiktionswirklichkeit als uneingelöst ausgewiesen wird. Es lässt sich aber auch argumentieren, dass über die Figur des performativen Widerspruchs eine leserseitige Einlösung des empirisch-sensualistischen Paradigmas angelegt ist. Diese Einlösung nimmt sich dann wie folgt aus: Im Rahmen der Digression werden letztlich pseudoempirische rationale Behauptungen hervorgebracht, die an sich noch keinen Erkenntniswert haben, weil sie an tatsächlichen Erfahrungen scheitern. Exakt diesen Erkenntniswert hält die Haremsgeschichte als negativ veranschaulichender fiktionaler Erlebnisrahmen bereit. Der Text endet folglich in einem performativen Widerspruch, allerdings mit einer kaum zu übersehenden Appellfunktion: Die rational-theoretischen Behauptungen der Digressionen sind im Rahmen individueller Lesererfahrung auf die Verhältnisse im Harem zu übertragen und somit an der fiktionalen Wirklichkeit zu messen. Mit anderen Worten, der Leser soll die negative Erfahrung der Haremsgeschichte durchleben, in der, lediglich satirisch verfremdet, die Geschichte einer in Unfreiheit lebenden Gemeinschaft erzählt und vorgeführt wird, die auch die Lebenswirklichkeit des zeitgenössischen Lesers tangiert. Darüber hinaus soll er die rationalen Behauptungen eines Usbek auf ebendiese unfreien Verhältnisse übertragen und damit realiter eine Transformation gesellschaftlicher Konstellationen nach Maßgabe der im Rahmen der Digressionen aufgebrachten Theorien betreiben. Nur auf der Grundlage einer derartigen Lesererfahrung findet dann de facto eine Einlösung des an der Textoberfläche evozierten empirisch-sensualistischen Paradigmas statt. Und nur auf der Grundlage eines durch die Figur des performativen Widerspruches an die Leseradresse delegierten Handelns ist dementsprechend ein tatsächlicher Erkenntnisgewinn zu erwarten. In diesem Sinne enthalten die Lettres persanes das Potenzial einer politischen Performanz,67 die zumindest der moderne
67 In der Forschung wird dieses Phänomen einer „mit Texten realisierten Performativität“ auch als „funktionale Performativität“ bezeichnet. Damit sind, um es nochmals anders zu wenden, alle Prozesse gemeint, die ein Text in Koproduktion mit seinem Rezipienten in der Welt entfaltet. Vgl. Hempfer/Häsner u. a., „Performativität und episteme“, S. 68.
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Staatsrechtler und Staatsmann Montesquieu dem Textpotenzial entsprechend auszuschöpfen versucht hat. Damit ist eine Art der Korrespondenz zwischen Digressionen und Rahmengeschichte bzw. eine Behauptungs- und Veranschaulichungsstruktur beschrieben, die darauf hinausläuft, Behauptungen in der fiktionalen Wirklichkeit veranschaulichend zu inszenieren bzw. wie in den Lettres persanes gezielt deren Scheitern zu zeigen, um dem Leser letztlich einen an der eigenen Erfahrungen gewachsenen Erkenntniswert zu vermitteln. Wie nebenbei vollzieht sich damit über eine wirkungsästhetische Tiefenstruktur die tatsächliche Einlösung des an der Textoberfläche evozierten erkenntnistheoretischen Paradigmas der Aufklärungsbewegung.
I.2.2 Die Behauptungs- und Veranschaulichungsstruktur der Bijoux indiscrets In genau diese Art des Erzählens mit einer Behauptungs- und Veranschaulichungsstruktur schreiben sich ihrerseits die Bijoux indiscrets ein. Wie bereits erwähnt, kennzeichnet auch die Bijoux indiscrets eine Rahmenhandlung, von der wiederum zahlreiche Digressionen abhängen, die im Modus der Satire diverse gesellschaftliche, philosophische und ästhetische Fragen zum Thema haben. Die Rahmenhandlung ist wie schon in den Lettres persanes sehr schlicht gehalten und reiht sich in den Gattungskontext des libertinistischen Romans der 1740er Jahre ein, wie in der Widmung à Zima in aller Deutlichkeit herausstellt wird: „Prenez, lisez, ne craignez rien. Mais quand on surprendrait les Bijoux indiscrets derrière votre toilette, pensez-vous qu’on s’en étonnât? Non, Zime, non; on sait que le Sopha, le Tanzai et les Confessions ont été sous votre oreiller.“68 Diesem expliziten Texthinweis entsprechend, der als Hommage an Crébillon zu verstehen ist, muss besagter Autor mit seinen Erfolgen L’Écumoire (1734), Tanzaï et Déardarmé (1734) sowie Le Sopha (1742) unter den Vertretern des conte érotique auch an erster Stelle genannt werden. Denn mit diesen Texten hat er die Gesetze der Gattung festgeschrieben, während andere Autoren des Genres qualitativ eher minderwertige Epigonen sind. Möglicherweise ist dieses Qualitätsgefälle auch Grund für den etwas versteckteren Hinweis auf eine ganze Reihe anderer erotischer contes wie Angola (1746) des Chevalier de la Morlière, Sultan Misapouf von de Voisenon und Acajou (1744) von Duclos,69 auf die sicherlich einige Aspekte des exotisch fantastischen Orientbezuges zurückgehen. Der Inhalt der Rahmenhandlung lässt sich in seinen Grundzügen mit Le Docrion des Comte de Caylus’ in Verbindung bringen, einem Text, in dem die Geschichte eines Mannes erzählt wird, den eine Fee mit der Fähigkeit begabt hat, Frauen auf ganz ungewöhnliche Weise zum
68 Denis Diderot, Œuvres complètes, Bd. 3: Les Bijoux indiscrets, hg. v. Herbert Dieckmann/Jacques Proust/Jean Varloot, Hermann, Paris 1978, S. 32, Sigle: DPV. 69 „Hiaouf Zélès Tanzai régnait depuis longtemps dans la grande Chéchianée, et ce prince voluptueux continuait d’en faire les délices. Acajou, roi de Minutie, avait eu le sort prédit par son père. Zulmis avait vécu. Le comte de…vivait encore. Splendide, Angola, Misapouf, et quelques autres potentats des Indes et de l’Asie, étaient morts subitement.“ DPV, Bd. 3, S. 35.
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Sprechen zu bringen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat Caylus als Kenner mittelalterlicher Texte diesen traditionellen Stoff der littérature gauloise entlehnt.70 Diese Vorgabe ist in den Bijoux indiscrets nur dahingehend verändert worden, dass es hier der Geist Cucufa ist, der dem jungen und aufstrebenden Sultan des Kongo, Mangogul, einen Ring schenkt, der ihm die Zauberkraft verleiht, die so genannten „bijoux“ der Frauen zum Sprechen zu bringen. Allein die Tatsache, dass die Kleinode etwas über ihre Besitzerinnen, die Hofdamen, zu erzählen haben, was diesen niemals freiwillig über die Lippen käme, ist für Mangogul und insofern auch für den Leser nicht zuletzt deshalb unterhaltsam, weil es zu zahlreichen komischen Verrenkungen und etlichen peinlichen Situationen für die derart überrumpelten und verratenen Frauen kommt. Die eigentliche Pikanterie liegt naheliegender Weise im Inhalt der Erzählungen selbst, da es sich dabei um das streng geheim gehaltene Intimleben der Hofdamen und der damit verbundenen Implikationen handelt. Der Text wartet mit einer Vielzahl dieser Ringproben auf, die die Rahmenhandlung des Textes abgeben, wobei sich die ‚zauberhaften‘ Äußerungen der „bijoux“ häufig zu regelrecht unabhängigen Erzählungen zweiten Grades entwickeln, die die genreüblichen erotischen Anforderungen erfüllen. Besonders einschlägig in dieser Hinsicht ist etwa die Bekanntgabe der Vorlieben einer Hundebesitzerin, deren Liebe für ihre tierischen Freunde sich in jeder Hinsicht den Gepflogenheiten zwischenmenschlicher Beziehungen angepasst hat71 oder die multilingualen Berichte eines reisewütigen bijou voyageur72 über seine im Ausland gemachten besonderen Erfahrungen mit den jeweils einheimischen Männern – ein Kapitel, das in pornographischer Hinsicht nichts zu wünschen übrig lässt. In der Forschung ist bis in die Gegenwart hinein mit einer gewissen Hartnäckigkeit über komplexere Bedeutungsmöglichkeiten der erotisch-libidinösen Rahmung bzw. der Grundfärbung der Bijoux indiscrets hinweggesehen worden. Denn der libidinöse Textanteil wurde als dem besonderen Range des Autors unangemessen bewertet und deshalb zumindest weniger konsequent analysiert.73 Den Text vor diesem Hintergrund schlicht als Produkt eines Willens zum „diver-
70 Vgl. Antoine Adam im Vorwort der Bijoux indiscrets, Garnier-Flammarion, Paris 1968, S. 14. Die literarischen Quellen der Bijoux indiscrets sind jedenfalls ausgesprochen gut erforscht und die Liste der Referenztexte ließe sich noch verlängern, wie Jean Terrasse in seinem Forschungsüberblick zu den Bijoux indiscrets hervorhebt. Er führt einige Aufsätze an, in denen auch noch in jüngerer Zeit die Frage der Referenztexte der Bijoux indiscrets behandelt wird. Vgl. Jean Terrasse, Le temps et l’espace dans les romans de Diderot, Voltaire Foundation, Oxford 1999, S. 1. 71 Vgl. DPV, Bd. 3, Kapitel 23, erstes Buch, S. 101–106. 72 Vgl. ebd., Kapitel 14, zweites Buch, S. 259–263. 73 In ihrer Untersuchung geht Geeta Beeharry-Paray immerhin soweit, dem exotisch frivolen Dekorum die Funktion einer Tarnung der Sittensatire zuzuschreiben. Allerdings versäumt sie es nicht, sich schließlich doch von Diderots ‚geschmacklosem Ton‘ zu distanzieren, der sich beispielsweise in der weiter oben erwähnten Episode des bijou voyageur in geradezu obszöner Weise niederschlage. Vgl. Geeta Beeharry-Paray, „Les Bijoux indiscrets de Diderot: pastiche, forgerie ou charge du conte crébillonien?“, in: Diderot Studies, 28 (2000), S. 25 u. 34.
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tissement“74 zu deuten, stellt insofern eine Ausnahme dar, die gleichwohl von anderer Seite viel zu kurz greift,75 weil sie alle übrigen Implikationen des Textes außer Acht lässt. Andere Untersuchungen, die sich mit der trivialen erotischen Rahmenhandlung beschäftigen, beschränken sich wiederum darauf, sie einfach als Signum der bereits erwähnten Gattungstradition des conte érotique auszuweisen, um sich sodann den anspruchsvolleren philosophischen, gesellschaftskritischen und ästhetischen Implikationen des Textes zu widmen, die in den digressiven satirischen Textelementen verhandelt werden.76 Auch in der vorliegenden Untersuchung möchte ich keine aus dem Gesamttext herausgelöste Betrachtung der erotischen Rahmung vornehmen. Vielmehr soll gezeigt werden, dass sich gerade der Ästhetik des conte érotique im Rahmen der Veranschaulichung einer Wissenskonfiguration bzw. des erkenntnistheoretischen Paradigmas der Aufklärungsbewegung eine entscheidende Funktion zuweisen lässt. Mit anderen Worten, die Ästhetik des in den Bijoux indiscrets verarbeiteten conte érotique ist nicht selbstzweckhaftes delectare, eher schon ähnelt sie der Konstellation des delectare et prodesse, wobei sie mit einem Wissen, das nur durch ein delektierendes Erleben vermittelt wird, am treffendsten beschrieben ist. Somit ist das delectare unhintergehbare Voraussetzung des prodesse. Ein erster selbstreflexiver Hinweis der Bijoux indiscrets auf genau dieses Kompositionsprinzip, das gerade nicht darauf abzielt, qualitativ unterschiedliche und voneinander losgelöste Textelemente zusammenzuspannen, um jeweils unterschiedliche Leserbedürfnisse zu befriedigen, ist etwa in dem expliziten Verweis auf den conte érotique Crébillons zu sehen. Das im Vorwort zitierte Le Sopha setzt beispielsweise seine erotische Spannung entschieden im Sinne einer weiterführenden Erkenntnis in moralischer Hinsicht ein. Das wiederum ist so zu verstehen, dass im Text mittels einer legitimierenden Rahmenkonstellation77 verschie74 Anne Beate Maurseth, „Les Bijoux indiscrets, un roman de divertissement“, in: Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie, 33 (2002), S. 67. 75 Ähnlich einseitig ist auch Aram Vartanians Ansatz, der in den Bijoux indiscrets eine Art statistische Erhebung über die menschliche Sexualität sieht. Vgl. Aram Vartanian, „La Mettrie, Diderot and Sexology in the Enlightenment“, in: Essays on the Age of the Enlightenment in Honour of Ira O. Wade, hg. v. Jean Macary, Droz, Genf 1977, S. 359. 76 In diesem Sinne spricht Adams von einem satirischen ‚pot-pourri‘, der je nach Kapitel Themen wie die „physiology of women“, „the psychology of female sexuality“, „the speculation on the possible correlation of character and physical conformation“, „the discussion of musical questions of the day“, „the theatre“ und nicht zuletzt „the possibilities of inductive science“ beinhaltet. Vgl. David Adams, „Experiment and Experience in Les Bijoux indiscrets“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, 182 (1979), S. 304 ff. Für Ruth P. Thomas kommt in den Bijoux indiscrets vor allem die experimentelle Methode zur Anschauung, um eine Wahrheit, (die der weiblichen Depraviertheit) zu veranschaulichen, die keine ist (S. 210 f.). Aus ästhetischer Sicht präfiguriert Diderots tendenziell selbstreflexiver Text (S. 208) für sie seine späteren großen Romane (S. 211). Vgl. Ruth P. Thomas, „Les Bijoux indiscrets as a Laboratory for Diderots Later Novels“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, 135 (1975), S. 199–211. 77 Der Erzähler Amanzei berichtet einem Sultan und seiner klugen Hauptfrau von seiner Seelenwanderung, wobei die letzte Verkörperung, die er auf Geheiß Allahs anzunehmen hatte, ein Sofa war. Die Erlösung aus der Sofagestalt ist mit der Bedingung verknüpft, dass sich auf
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dene Liebesbegegnungen erzählt werden, wobei es jedes Mal zur Enttäuschung einer Keuschheitserwartung kommt, was sich nach Stackelberg als Grundschema der Moralistik ausweisen lässt. Denn der erotische Kitzel in Le Sopha sei hauptsächlich ein Lockmittel, das der Autor dazu benutze, seine Leser moralisch zu desillusionieren.78 Unabhängig davon, ob man dieser Interpretation im Einzelnen folgen möchte, wird hier zumindest angedeutet, dass sich der erotische Textanteil im Sinne einer übergeordneten Erkenntnis bzw. als moralischer Erbauungsdiskurs funktionalisieren lässt, der keineswegs nur für sich steht. Eine weitere intertextuelle Anspielung auf einen Erzähler, der seinerseits die Ästhetik des Lachens und der Groteske gezielt als Mittel einer weiterführenden Erkenntnis verstanden wissen will, findet sich ebenfalls im Text: Gemeint ist die Evokation Rabelais’. Ihm ist das erste Kapitel, Éducation de Mangogul, gewidmet, das wie die ersten beiden Werke Rabelais’, Gargantua und Pantagruel, mit der Entwicklungsgeschichte eines Prinzen beginnt, wobei dieses Handlungselement im Gegensatz zu den Prätexten nur absurd verkürzt anzitiert wird. Außer dieser thematischen Anspielung auf die genannten Prätexte, die mit einigen typisch rabelaisianischen Übertreibungen noch verstärkt wird („Ce fut donc l’an du monde 1.500.000.003.200.001, de l’empire du Congo le 3.900.000.700.03, que commen-ça le règne de Mangogul, le 1.234.500 de sa race en ligne directe“), scheint das Kapitel keine weitere Funktion zu haben. Das legt auch der Paratext des folgenden Kapitels nahe, in dem lapidar bemerkt wird: „Qu’on peut regarder comme le premier de cette histoire.“ Insofern lässt sich behaupten, dass das Eingangskapitel vor allem dazu dient, die Bijoux indiscrets in die Traditionslinie des komischen und des grotesken Romans zu stellen, dessen Credo in dem Prologe von La vie tres horrificque du grand Gargantua unmissverständlich formuliert wird: A quel propos, en voustre advis, tend ce prélude et coup d’essay? Par autant que79 vous, mes bons disciples, et quelques aultres foulz de sejour,80 lisans les joyeulx tiltres d’aulcuns livres de nostre invention, comme Gargantua, Pantagruel, Fessepinte, La Dignité des Braguettes, Des Poys au lard cum commento, etc., jugez trop facillement ne estre au dedans traicté que mocqueries, folatries et menteries joyeuses, veu que l’ensigne exterioire (le tiltre) sans plus avant enquerir est communement recue à derision et gaudisserie.81 Mais par telle legiereté ne convient estimer les œuvres humaines. Car vous mesmes dictes que l’habit ne faict poinct le moine, et tel est vestu d’habit monachal qui au-dedans n’est rien moins que moyne, et tel est vestu de cappe Hespanole que en son couraige nullement affiert82 à Hespane. C’est pourquoi fault ouvrir le livre et soigneusement peser ce que y est deduict. Lors cognoistrez que la
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ihm ein Liebespaar erstmals zu lieben hat. Im Übrigen sei hier erwähnt, dass die Konstellation des dummen Sultans und der schlauen Hauptfrau, die sich gemeinsam Geschichten anhören, auch teilweise in den Bijoux indiscrets eingelöst ist. Vgl. Jürgen von Stackelberg, Von Rabelais bis Voltaire. Zur Geschichte des französischen Romans, Beck, München 1970, S. 320. „parce que“ als neufranzösischer Übersetzungsvorschlag, zit. nach der Ausgabe: François Rabelais, Œuvres, Bd. 1: Gargantua, hg. v. Abel Lefranc, Champion, Paris 1913, S. 7. „fous de loisirs“. Ebd., S. 7. „joyeuseté“. Ebd. „convient“. Ebd.
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Teil I drogue dedans contenue est bien d’autre valur que ne promettoit la boite, c’est-à-dire que les matieres icy traictées ne sont tant folastres comme le tiltress au dessus pretendoit.83
Im gleichen Atemzug wie der Erzähler den Leser hier warnt, sich nicht von der Erscheinungsform eines Textes in die Irre leiten zu lassen und einen komischen Roman nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, sondern ihn auf seine Substanz, „la sustantificque mouelle“, hin zu lesen, warnt er ihn auch davor, ihm einen pseudosymbolischen Sinn zuschreiben zu wollen, wie dieser „frère Lubin, vray croquelardon“,84 der Ovids Metamorphosen nachweislich als Umsetzung der „sacrements de l’Evangile“ verstanden wissen will; eine Deutung, die allein aufgrund des zeitlichen Rahmens, in dem der Text von Ovid verfasst wurde, als unsinnig abgetan werden muss. Damit ist gesagt, dass die ästhetische Form eines Textes in adäquater, also text- und kontextnaher Weise auf ihre Bedeutung hin zu lesen ist, wobei gerade die Komik mit ihrer Ausdruckstiefe sehr ernst zu nehmen ist. Aufgrund dieser Selbsteinordnung der Bijoux indiscrets in literarische Traditionen, die ihre vermeintlich frivolen erotischen oder grotesken Gestaltungen gezielt zum Zwecke weiterführender Erkenntnis funktionalisieren, ist es auch naheliegend, eine besondere Verbindung zwischen der erotisch-libidinösen Textästhetik der Rahmenhandlung und den vermeintlich davon losgelösten Behauptungen im Rahmen der Digression anzunehmen.
I.2.2.1 Die Behauptung im Rahmen der Digression Bevor ich auf die besondere Art der Verbindung zwischen Digressionen und Rahmenhandlung eingehe, deren Verhältnis ich eingangs bereits als eines von Behaupten und dazugehörigem Veranschaulichen bezeichnet habe, werde ich zunächst die Oberflächenstruktur des Behauptens untersuchen. Gegenstand der Analyse wird in diesem Zusammenhang das zentrale Kapitel der Bijoux indiscrets, der Rêve de Mangogul, ou voyage dans la région des hypothèses, sein. Zu dieser Kapitelüberschrift gehört auch noch das Qualitätsurteil Le meilleur peut-être, et le moins lu de cette histoire – ein paratextuelles Urteil auf das noch einzugehen sein wird. Unabhängig von der Richtigkeit dieser Aussage, muss das Kapitel aber als das der zentralen Behauptung des Textes schlechthin angesehen werden, denn hier wird das Paradigma der Aufklärungsbewegung, das empirisch-sensualistische Erkenntnistheorem, formuliert und zunächst als gleichsam rationale Behauptung in die Welt gesetzt. In welcher Weise das geschieht, soll nun eingehender untersucht werden. Das Kapitel ist insoweit als Abschweifung von der Rahmenhandlung gekennzeichnet, als es darin keine Ringproben des Sultans zu bestaunen gibt, vielmehr ist es Mangogul selbst, der zum Gegenstand einer intimen Innenansicht wird, denn er hat einen Traum, den er seiner Lieblingsfrau Mirzoza erzählt. Die Geschichte seiner unfreiwilligen Traumexpedition beginnt damit, dass er sich auf dem Rücken 83 Ebd. 84 „pique lardon“. Ebd.
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eines Fabelwesens in ein Märchenland begibt, in dem er ein riesenhaftes Gebäude vorfindet, das sich in unermessliche Höhen aufschwingt und doch zu schweben scheint, so luftig und immateriell ist seine Bausubstanz. Die Bewohner des wundersamen Bauwerks sind als fahle und hagere Kreaturen ebenso fleischlos und geisterhaft, wie das immaterielle Gebäude substanzlos ist. Endlich trifft Mangogul auf eine Gestalt, deren Erscheinungsbild ihm angenehm ist, die sich ihm als Platon vorstellt und ihm erklärt, er befände sich in der „région des hypothèses“, wobei die Leute, die er gesehen habe, die „systématiques“ seien.85 Das sind die Schlüsselbegriffe, dank derer sich die bis dahin phantastisch anmutenden Bilder des Traumes recht eindeutig zuordnen lassen, denn mit der „région des hypothèses“ ist nichts anderes als das philosophische System des abstrakten und apriorischen Deduktionismus Descartes’ gemeint, in dessen philosophischer Welt sich Mangogul im Traum bewegt. In diesem Sinne schreibt sich der Text in die epochale epistemologische Ablösungsbewegung vom Cartesianismus ein, die bereits im 17. Jahrhundert mit Newtons programmatischer Abkehr vom Glauben an den Entwurf eines mathematisch-apriorischen Weltsystems ihren Anfang genommen hatte.86 Bei Newton zeigt sich „die allgemeine Aufwertung des empiristischen Standpunktes […] symbolisch am Gebrauch des Terminus Hypothese, der in der zweiten Auflage der Principia eher in pejorativem Sinne auftritt und da, wo er zuvor zur Bezeichnung eines legitimen wissenschaftlichen Verfahrens diente, durch den Ausdruck Regulae Philosophandi bzw. Phaenomena ersetzt wird.“87 Der Terminus Hypothese wird, wie Kondylis ausführt, bei Newton schon in seinen Briefen an Oldenburg (1762) programmatisch als Gegenbegriff zum experimentellen Verfahren, „also im Sinne experimentell unbegründeter Spekulation“ eingeführt.88 Da Newton aufgrund seiner Valorisierung des empiristischen Standpunktes zu einer Art Ikone der Aufklärungsbewegung erhoben wurde, ist es plausibel, dass der ideologisch belastete Terminus der Hypothese auch im Kontext der Aufklärungsphilosophie negativ besetzt bleibt.89 Schlüssig ist es deshalb auch, von einer Abqualifizierung der Hypothesen in Diderots Bijoux indiscrets auszugehen, ist doch die Region der Hypothesen als immaterielle und körperlose Welt der Lächerlichkeit preisgegeben. Den Gipfel der Absurdität stellt ein die Systematiker repräsentierender Greis dar, der seine Anhänger auf einem prekären Thronkonstrukt sitzend überragt, wie Mangogul zu berichten weiß: Je continue de fendre la presse et je parviens au pied d’une tribune à laquelle une grande toile d’araignée servait de dais. Du reste, sa hardiesse répondait à celle de l’édifice. Elle me parut posée comme sur la pointe d’une aiguille, et s’y soutenir en équilibre. Cent fois je tremblai 85 Vgl. DPV, Bd. 3, S. 132. 86 Vgl. Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Dtv/Klett-Cotta, München 1986, S. 228. 87 Ebd. 88 Ebd., S. 227. 89 Gleichwohl wird die Notwendigkeit der Hypothesen, zumal der wissenschaftlich legitimen, d.h. der experimentell nachprüfbaren, selbst von Condillac betont, wobei Kondylis hervorhebt, dass sich Newton darüber hinaus auch weiterhin der spekulativen Hypothesen bedient habe. Vgl. Kondylis, Die Aufklärung, S. 228.
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Teil I pour le personnage qui l’occupait. C’était un vieillard à longue barbe, aussi sec et plus nu qu’aucun de ses disciples. Il trempait dans une coupe pleine d’un fluide subtil, un chalumeau qu’il portait à sa bouche, et soufflait des bulles à une foule de spectateurs qui l’environnaient, et qui travaillaient à les porter jusqu’aux nues.90
Bei der Aufklärung handelt es sich laut Kondylis’ zugespitzter Formulierung um eine Bewegung, die sich die Rehabilitation der Sinnlichkeit91 zulasten der Rationalität auf die Fahnen geschrieben hat, was die Szene mit dem Alten zumindest im Hinblick auf die Verunglimpfung der cartesianischen Rationalität veranschaulicht. Dementsprechend sind die körperliche Fragilität des Greises und die materielle Hinfälligkeit seines Untersatzes die negativen Bildattribute einer ‚verblasenen‘ Geisteshaltung, die gerade durch ihren Mangel an Materialität bzw. an sinnlicher Körperlichkeit ins Gewicht fällt. Der Darstellung des Greises als lächerlichem Blasenbläser kommt deshalb die Funktion einer zugespitzten satirischen Anspielung auf den Cartesianismus zu. Stichwort scheint mir in diesem Fall das von dem Alten verblasene „fluide subtil“ zu sein, welches, zu wie auch immer gearteten Blasen geformt, von seinen Jüngern in den Himmel emporgehoben wird. Um die Anspielung dieser etwas undurchsichtigen Textstelle einzuordnen, ist es erhellend einen Blick in den 15. Brief der Lettres philosophiques zu werfen, in denen Voltaire einen für Descartes typischen Systementwurf skizziert: „Descartes habe versucht, mit seinem ‚System‘ eine Lösung für das beobachtete Faktum der Bewegung der Planeten in bestimmten Bahnen und das Herabfallen freier Gegenstände im Raum auf die Erde zu geben. Descartes gehe davon aus, dass sowohl die Schwere der Körper und ihre Beschleunigung, wenn sie auf die Erde fallen, als auch der Lauf der Planeten in ihren Bahnen und deren Drehung um sich selbst nur Bewegung – ‚mouvement‘ – sei. […] Da Bewegung aber nur als Impuls durch jemanden oder etwas aufgefasst werden könne, müsse man fragen, was es sei, das diese Körper in Bewegung setze. Deshalb müsse man voraussetzen, dass der ganze Raum nicht leer, sondern mit Materie gefüllt sei. Da diese Materie nicht sichtbar ist, handle es sich um eine ‚matière subtile‘.“92 Es lässt sich letztlich nur vermuten, dass in den Bijoux indiscrets mit dem „fluide subtil“ auf die „matière subtile“ Descartes’ angespielt wird, die nicht sichtbar und doch für die Bewegung der Planeten verantwortlich sein soll. Dass besagter Abschnitt, der den Umgang des Alten mit dem ominösen Fluidum zum Gegenstand hat, unbedingt zu interpretieren ist, das allerdings legt der Text seinem Leser mittels der von Mangogul formulierten Fragen ganz unmissverständlich nahe: „Que veut dire ce souffleur avec ses bulles, et tous ces enfants décrépits, occupés à les faire voler? Qui me développera ces choses?…“93 Da die besondere Bedeutung der Szene hervorgehoben wird, scheint es mir trotz der lexikalischen Abweichung zumindest plausibel, von mehr als einer zufälligen Nähe zwischen dem „fluide subtil“ und der „matière subtile“ auszugehen 90 91 92 93
DPV, Bd. 3, S. 131 f. Vgl. Kondylis, Die Aufklärung, S. 20 ff. Hempfer, „Zum Verhältnis von ‚Literatur‘ und ‚Aufklärung‘“, S. 37. DPV, Bd. 3, S. 132.
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und das Tun des Alten in Anlehnung an Voltaires Auslegung Descartes’ zu lesen.94 Dementsprechend wäre der Alte das satirische Zerrbild eines Systematikers, dessen System von der Bewegung der Planeten dahingehend verlacht wird, dass die seifenblasenartigen Planeten von den als Systematikern ausgewiesenen Schülern des Alten95 in den Himmel gehoben werden. Mit anderen Worten, folgt man dem Bild dieser cartesianischen Hypothese, so werden die Planeten tatsächlich von den Systematikern und im übertragenen Sinne von cartesianischer Systematik bewegt, deren Wesen rein apriorische und unbewiesene Annahmen sind, die zu Systemen geformt werden, die wiederum als Wahrheiten ausgegeben werden. Eine derartige Hypothese der planetaren Bewegung lässt sich, wie vorgeführt, nur mit quasi immateriellen Planeten aus seifenblasenartiger Stofflichkeit anstellen, deren Bewegungsprinzip auf gleichsam immateriellen Annahmen beruht, die nicht empirisch bzw. sinnlich-materiell nachempfunden werden können. In dieser den Cartesianismus eindeutig negativierenden Bildlichkeit steckt insofern auch schon der Hinweis auf das philosophische Konzept, dass diese Philosophie der apriorischen Rationalität überwinden soll; gemeint ist der Empirismus, der in den folgenden Textszenen als heilbringende Allegorie inszeniert wird. Während Platon seinen Besucher Mangogul pathetisch über den Niedergang des philosophischen Erbes Sokrates’ aufklärt und sich fragt, wer die arg gebeutelte Philosophie retten solle, bietet sich dem Sultan ein denkwürdiges Spektakel: Il en était à cette exclamation pathétique, lorsque j’entrevis dans l’éloignement un enfant qui marchait vers nous à pas lents mais assurés. Il avait la tête petite, le corps menu, les bras faibles et les jambes courtes; mais tous ses membres grossissaient et s’allongeaient à mesure qu’il s’avançait. Dans le progrès de ses accroissements successifs, il m’apparut sous cent formes diverses. Je le vis diriger vers le ciel un long télescope, estimer, à l’aide d’un pendule la chute des corps, constater avec un tube rempli de mercure la pesanteur de l’air, et, le prisme à la main, décomposer la lumière. C’était alors un énorme colosse; sa tête touchait aux cieux, ses pieds se perdaient dans l’abîme, et ses bras s’étendaient de l’un à l’autre pôle. Il secouait de la main droite un flambeau dont la lumière se répandait au loin dans les airs, éclairait au fond des eaux, et pénétrait dans les entrailles de la terre.96
Was sich hinter dieser Allegorie des zum riesigen Koloss herangewachsenen Kindes, das mit den neuesten wissenschaftlichen Messinstrumenten ausgestattet ist, verbirgt, weiß wiederum Platon zu sagen: „Reconnaissez l’Expérience“.97 In diesem Zusammenhang wird das Bild des Kindes, das zum Koloss heranwächst, verständlich, denn die expérience ist hier zunächst in einem recht weiten Sinn als
94 Darüber hinaus hat Voltaire in seiner Verssatire Les Systèmes die in seinen Lettres philosophiques skizzierte Funktionsweise von Descartes’ System auch literarisch verarbeitet, wie Hempfer nachgewiesen hat. Dabei wird das Descartes’sche System allerdings nicht dargestellt, sondern es wird dessen „Kenntnis präsupponiert“, es bedarf also „der vorgängigen Kenntnis“ des Systems. Vgl. Hempfer, „Zum Verhältnis von ‚Literatur‘ und ‚Aufklärung‘“, S. 37. 95 Die mit dem Alten in Verbindung stehenden Leute werden von Platon als Systematiker bezeichnet. Vgl. DPV, Bd. 3, S. 132. 96 Ebd., Bd. 3, S. 133. 97 Ebd., S. 134.
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Teil I
experimentelle Wissenschaft zu verstehen.98 Dabei handelt es sich um eine sehr junge Disziplin, die sich der Erforschung der Natur verschrieben hat, doch ist ihr gleichwohl ein enormes Erkenntnispotenzial zu Eigen. Demzufolge erforscht das heranwachsende Kind mit Hilfe moderner Messinstrumente die Naturphänomene. Pendel und Teleskop erschließen ihm das Phänomen der Gravitation,99 der Barometer bestimmt den Luftdruck100 und das Prisma ist in der Lage, das Lichtspektrum101 darzustellen. Erst solche, an den Phänomenen orientierte Experimente bringen, um im Bild zu bleiben, Licht in das Dunkel der Welt. Hierbei wird nicht näher darauf eingegangen, wie diese experimentelle Welterkundung vor sich geht. Allerdings verweisen die Lichtmetapher ebenso wie das Bild des zum Koloss heranwachsenden Kindes auf die Prozessualität des Erkenntnisgewinns. Unter dem Aspekt wissenschaftlicher Methodologie ist die Allegorie der expérience vor allem als plakativer Gegenentwurf zum cartesianisch-abstrakten Systementwurf zu verstehen, der sich nicht mit den partikularen Phänomenen der Natur beschäftigt, sondern ausgehend von apriorischen Prinzipien abstrakte Systeme deduziert. Dem setzt der Traum Mangoguls methodologisch das induktive Verfahren einer Wissensgenerierung auf der Grundlage phänomenologischer Beobachtungen und Experimente entgegen.102 In seiner später erschienenen Schrift über wissenschaftliche Methodik, den Pensées sur l’interpretation de la nature (1754) äußert sich Diderot differenzierter über die grundsätzlich induktive Methode der experimentellen Wissenschaft: Nous avons trois moyens principaux; l’observation de la nature, la réflexion et l’expérience. L’observation recueille les faits, la réflexion les combine, l’expérience vérifie le résultat de la combinaison. Il faut que l’observation de la nature soit assidue, que la réflexion soit profonde, et que l’expérience soit exacte. On voit rarement ces moyens réunis. Aussi les génies créateurs ne sont-ils pas communs.103
Die hier erwähnte expérience scheint ein im Rahmen der experimentellen Wissenschaft angewandtes und nicht näher beschriebenes Verfahren zu sein, dass auf der Grundlage von Experimenten die Resultate des reflektierten Beobachtens überprüft und miteinander abgleicht, was im Idealfall zu einer Interpretation der Natur
98 Dafür spricht nicht allein die Metaphorik der geschilderten Szene, sondern auch die Begriffsverwendung der „expérience“ in d’Alemberts Encyclopédie-Artikel Expérimental: „adj. (philosophie natur.) On appelle philosophie expérimentale celle qui se sert de la voie des expériences pour découvrir les lois de la nature.“ Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (articles choisis), hg. v. Denis Diderot/Jean Le Rond d’Alembert, Bd. 2, Garnier/Flammarion, Paris 1986, S. 83. Adams hält es für offensichtlich, dass an dieser Textstelle auf die experimentelle Begriffsdimension des ansonsten ambigen Begriffs abgehoben wird. Vgl. Adams, „Experiment and Experience“, S. 308 f. 99 In der DPV-Ausgabe der Bijoux indiscrets wird dies als Anspielung auf Galileo ausgewiesen. Vgl. DPV, Bd. 3, S. 133. 100 Anspielung auf Pascal. Vgl. ebd., S. 133. 101 Anspielung auf Newton. Vgl. ebd. 102 Vgl. auch Hempfer, „Zum Verhältnis von ‚Literatur‘ und ‚Aufklärung‘“, S. 29. 103 Denis Diderot, Œuvres complètes, Bd. 9: Pensées sur l’interprétation de la nature, hg. v. Herbert Dieckmann/Jacques Proust/Jean Varloot, Hermann, Paris 1981, S. 39, Sigle: DPV.
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und damit zu einem Systementwurf führt. Genau darin sieht Diderot die Aufgabe der „philosophie experimentale“. Ein herausragender Vertreter dieser Disziplin ist dementsprechend in der Lage, auf noch nicht gemachte, unbekannte expériences vorzugreifen: Ainsi le service le plus important qu’ils aient à rendre à ceux qu’ils initient à la philosophie expérimentale, c’est bien moins de les instruire du procédé et du résultat, que de faire passer en eux cet esprit de divination par lequel on subodore, pour ainsi dire, ces procédés inconnus, des expériences nouvelles, des résultats ignorés.104
Mir geht es bei diesem Verweis auf die Pensées nur am Rande darum, genauer auf die Abläufe experimenteller Wissenschaft einzugehen. Denn die ideologisch eingefärbte anticartesianische Allegorie der Bijoux indiscrets bleibt auf den Aspekt des experimentell-induktiven Charakters der neuen Wissenschaftsmethode beschränkt. Insofern lässt sich einwenden, dass jener Ausblick auf die Pensées für die Bijoux indiscrets keinen Erkenntnisgewinn bringt. Was sich an der detaillierteren Methodendiskussion der Pensées allerdings auch noch ablesen lässt, ist der Umstand, dass die Methode an sich nicht von einer erkenntnistheoretischen Dimension zu trennen ist. Dementsprechend wird zunächst beobachtet, um dann die Phänomene der Beobachtung in einem Reflexionsprozess miteinander zu verbinden und schließlich die Resultate dieser Reflexion auf der Grundlage von Experimenten miteinander zu vergleichen, was sich genauso gut als Theorie eines allgemeinen Erkenntnisprozesses verstehen lässt. Dieser Zusammenhang von Erkenntnistheorie und experimenteller Wissenschaftsmethode ist aber auch für die Bijoux indiscrets gültig, was sich an dem grundsätzlich ambigen Begriff der expérience ablesen lässt, der historisch nicht auf die experimentelle Wissenschaftsmethode beschränkt bleibt. Mit expérience als einem der meist verwandten Begriffe des 18. Jahrhunderts, der je nach Kontext seine Bedeutung ändert, ist in Anlehnung an die Traditionslinie Lockes und Condillacs vor allem das erkenntnistheoretische Konzept der sinnlichen Wahrnehmung verbunden.105 Auf jener sinnlichen Wahrnehmung beruht im Gegensatz zur cartesianischen Logik der eingeborenen Ideen der Erkenntnisprozess. Wie John O’Neal versichert, haben nahezu alle philosophes das beachtliche Potenzial des sinnlichen Ursprungs der Ideen für sich in Anspruch genommen: „It represented the veritable cornerstone of the edifice they were attempting to construct in order to achieve progress in a multitude of different ways.“106 Für Condillac als französischen Hauptvertreter des Sensualismus geht die Erfahrung und die aus ihr hervorgehende Erkenntnis demnach auf die Sinne und damit auf eine Qualität des Körpers zurück: „Concluons qu’il n’y a point d’idées qui ne soient acquises: les premières viennent immédiatement des
104 Ebd., S. 48. 105 Vgl. John C. O’Neal, The Authority of Experience. Sensationist Theory in the Enlightenment, The Pennsylvania State University Press, Pennsylvania 1996, S. 14. 106 Ebd., S. 15.
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sens, les autres sont dues à l’expérience, et se multiplient à proportion qu’on est plus capable de réfléchir.“107 Angesichts jener sensualistischen Begriffsdimension der expérience ist es auch naheliegend, im Bild des Kindes, dessen Körper nach und nach kolossale, die Welt umspannende Ausmaße annimmt, einen Ausdruck für die auf den sinnlichen Attributen des Körpers beruhende Erfahrungserkenntnis zu sehen. Mit anderen Worten, die Erkenntnis ist aus sensualistischer Perspektive ein vom sinnlichen Körper und seiner progressiven Entwicklung bzw. den prozessualen Erfahrungen des Körpers abhängender Vorgang. Für diese Annahme spricht nicht zuletzt auch Lockes Vorstellung einer Kinderseele, die einem unbeschriebenen Blatt gleicht, wobei sich die Erfahrungserkenntnis im Laufe eines Menschenlebens und darüber hinaus im Laufe der Menschheitsentwicklung beständig erweitert. Insofern verkörpert die Allegorie der expérience meines Erachtens sowohl die induktivexperimentelle Wissenschaftsmethodologie als auch die auf dem sinnesbegabten Körper beruhende Erfahrungs- bzw. Wissensprogression. Erst vor diesem Referenzhintergrund entfaltet auch das Bild der körperlos dargestellten Systematiker seine volle Bedeutung. Denn während sich die empirisch-sensualistische Erkenntnis grundsätzlich aus den sinnlichen Erfahrungen des Körpers ableitet, wobei es eine Progression von den sensitiven Eindrücken bis hin zur Erkenntnis gibt, ist das Erkenntnisprinzip der Cartesianer zutiefst intellektualistisch und von der sinnlichen Körperlichkeit vollständig losgelöst, wie Descartes’ Dualismus eindrücklich veranschaulicht. Auf der Grundlage des Primats der Metaphysik unterscheiden die Cartesianer zwischen res cogitans (Geist) und res extensa (Körper) – einer auf die rein mechanistische Ausdehnung reduzierten Körperlichkeit –, wobei die sinnliche Erfahrung des Körpers für die wahre Erkenntnis keine Rolle spielt. Letztere beruht nach Descartes auf dem Prinzip der eingeborenen Ideen, wobei die immaterielle Seele bzw. der Verstand in sich die Urbegriffe erkennt, nach deren Muster alle übrigen Erkenntnisse geformt sind. Die menschliche Erkenntnis ist also sich selbst entnommen und wird aus den Ideen abgelesen, die die Seele in sich vorfindet.108 Damit ist die Grundlage jedweder Erkenntnis der Bezug des Verstandes auf sich selbst, sodass Descartes behaupten kann, nichts könne eher erkannt werden als der Intellekt selbst, zumal alle andere Erkenntnis von ihm abhänge: „[…] l’on ne peut rien connaître antérieurement à l’entendement, puisque c’est de lui que dépand la connaissance de tout le reste, et non l’inverse“.109 Da sich allerdings die Frage stellt, wie sich das erkennende Subjekt dieser Erkenntnisse sicher sein kann, hat Descartes den Zweifel in den Méditations doch an den Anfang seiner Überlegungen gestellt, was dazu führt, dass er gerade den Sinneswahrnehmungen eine verlässliche Erkenntniskraft abspricht: „Or j’ai quelquefois éprouvé que ces sens étaient trompeurs, et il est de 107 Etienne Bonnot de Condillac, Œuvres philosophiques, Bd. 1: Essai sur l’origine des connoissances humaines, hg. v. Georges Le Roy, Presses universitaires de France, Paris 1947, S. 6. 108 Vgl. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 125. 109 René Descartes, Œuvres philosophiques, Bd. 1: Règles pour la direction de l’esprit, Règle VIII, hg. v. Ferdinand Alquié, Garnier, Paris 1963, S. 118.
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la prudence de ne se fier jamais entièrement à ceux qui nous ont une fois trompés.“110 Während die der Sinneswahrnehmung zugrunde liegende Erkenntnis nicht zuletzt aufgrund solch elementarer Zweifel diskreditiert wird, verhält es sich mit der soeben vorgestellten selbstbezüglichen Verstandeserkenntnis wiederum ganz anderes. Sie beruht nach Descartes als Vermögen der Seele auf göttlichem Fundament und solange der Mensch die Existenz Gottes als erwiesen ansieht, kann er mit Gewissheit auf die klare und deutliche Verstandeserkenntnis vertrauen. Insofern lässt sich schließen, dass Gott bei der „Analyse des Denkens“ bzw. der Verstandesleistung als „Endpunkt anzusehen ist“, ebenso wie er als „Erstursache zur Erklärung der Weltkonstruktion“ verstanden werden kann:111 Après avoir ainsi connu que Dieu existe et qu’il est l’auteur de tout ce qui est ou qui peut-être, nous suivrons sans doute la meilleure méthode dont on se puisse servir pour découvrir la vérité, si, de la connaissance que nous avons de sa nature, nous passons à l’explication des choses qu’il a créées, et si nous essayons de la déduire en telle sorte des notions qui sont naturellement en nos âmes, que nous ayons une science parfaite, c’est à dire que nous connaissions les effets par leurs causes.112
Cassirer weist auf die damit zusammenhängende Problematik hin: Die ‚veracitas dei‘ ist der Ursprung und die Bedingung für alle Wahrheit, die auf menschlichem Wege gewußt und erworben werden kann. Aber damit kehren alle bisherigen Maßstäbe sich um. Denn jetzt ist es nicht mehr die Selbstgewissheit des Intellekts, die allem anderen Wissen Halt und Bestand gibt. Der Intellekt ist von einer anderen Macht abhängig geworden, die außerhalb seiner steht und ihn schlechthin transzendiert. Die Autonomie der Vernunft, die Descartes in den Regeln behauptet und durchgeführt hat, scheint sich damit endgültig in Heteronomie aufgelöst zu haben. Descartes versucht vergeblich, dieser neuen Problematik Herr zu werden. Denn er steht hier vor einer unlösbaren Aufgabe, vor einem logischen Zirkel, der nicht zu vermeiden ist.113
Für Descartes aber stellt sich dieses Problem nicht und so ist es Gott, der ihm die Gewissheit der durch die Intuition vermittelten ersten Prinzipien gibt: […] l’unité, la simplicité, ou l’inséparabilité de toutes les choses qui sont en Dieu, est une des principales perfections que je conçois être en lui; et certes l’idée de cette unité et assemblage de toutes les perfections de Dieu, n’a pu être mise en moi par aucune cause, de qui je n’aie point aussi reçu les idées de toutes les autres perfections.114
Aus diesem endgültig Allgemeinen der Urprinzipien kann mit deduktiver Systematik das Besondere abgeleitet werden. Damit ist das Selbstverständnis der Cartesianer im Vergleich zu den sensualistischen Empirikern genau umgekehrt. Wäh110 René Descartes, Œuvres philosophiques, Bd. 2: Les Méditations, Méditation I, hg. v. Ferdinand Alquié, Garnier, Paris 1967, S. 405 f. 111 Vgl. Manfred Overmann, Der Ursprung des französischen Materialismus. Die Kontinuität materialistischen Denkens von der Antike bis zur Aufklärung, Lang, Frankfurt a. M. 1993, S. 133. 112 René Descartes, Œuvres philosophiques, Bd. 3: Les Principes de la philosophie, § 24, hg. v. Ferdinand Alquié, Garnier, Paris 1973, S. 106. 113 Ernst Cassirer, Descartes: Lehre, Persönlichkeit, Wirkung, Gerstenberg, Hildesheim 1978, S. 36. 114 Descartes, Œuvres philosophiques, Bd. 2: Les Méditations, Méditation III, S. 452.
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Teil I
rend Erstere das Allgemeine und Prinzipielle ganz problemlos denken können, empfinden sie das Faktische der Sinneseindrücke als problematisch. Dementsprechend gilt sensualistischen Empirikern wie Locke, Condillac oder dem Diderot der Entstehungszeit der Bijoux indiscrets im Umkehrschluss allein das faktisch Wahrnehmbare als Gewissheit, wohingegen das Prinzip abgeleitet und deshalb mit Skepsis zu bedenken ist.115 Dass die Allegorie der expérience das Konstrukt der Hypothesen schließlich zum Einsturz bringt, „Le colosse arrive, frappe le portique, il s’écroule avec un bruit effroyable […]“,116 stellt sich aufgrund der fundamentalen Opposition zwischen Cartesianern und Empirikern als ein geradezu notwendiges Ende von Mangoguls Traum dar. Damit ist die für die Aufklärungsbewegung charakteristische Thematisierung des Paradigmenwechsels vom hypothetisch-systematischen Denken, das ohne Absicherung durch die Transzendenz jederzeit von der Skepsis aus den Angeln gehoben werden kann, zu einer immanenten und sinnlichen Erfahrungserkenntnis programmatisch inszeniert. Jenes im Traumkapitel zentral zugrunde gelegte erkenntnistheoretische Paradigma der Aufklärungsbewegung, mit dem ein Ansatz experimenteller Wissenschaftsmethodik oder zumindest eine gezielte Überprüfung der Erfahrungserkenntnisse einhergeht, ist meines Erachtens aber noch dezidierter nachweisbar. Denn es ist keinesfalls bedeutungslos, dass das Axiom einer auf sinnlichen Erfahrungen beruhenden Erkenntnis gerade im Rahmen eines Traumes vermittelt wird. Sowohl in bildlicher wie auch in struktureller Hinsicht lässt sich behaupten, dass es der Traum ist, der besagtes Axiom hervorbringt. Mit anderen Worten, der Traum ist letztlich Medium und Ursprungsort der Erkenntnis schlechthin. Ein deutliches Signal für die eingehendere Untersuchung des Traumes als Rahmenelement ist darin zu sehen, dass bereits in der Kapitelüberschrift: Rêve de Mangogul, ou voyage dans la région des hypothèses in komischer Weise auf die Verbindung von Traum und cartesianischer Erkenntnistheorie angespielt wird. Komisch ist die Anspielung deshalb, weil insbesondere der Traum bei Descartes als Mittel der Erkenntnis äußerst schlecht beleumundet ist. Da das ganze Kapitel, wie ich gezeigt habe, nicht zuletzt als gezielte Entwertung cartesianischer Erkenntnistheorie gelesen werden kann, verwundert es nicht, wenn, dieser Logik entsprechend, auch dem Traum eine anticartesianische Wirkung zugeschrieben wird. Im Folgenden soll dementsprechend veranschaulicht werden, welcher Traumbegriff bei Descartes tatsächlich zu finden ist und welche Umwertung er im Aufklärungsdiskurs und insbesondere bei Diderot erfährt. In Descartes’ Schriften ist wiederholt vom Traum die Rede, wobei vor allem seine Erwähnung im Dienste einer methodisch motivierten Erkenntnisskepsis bei den Aufklärern auf Ablehnung stoßen musste und deshalb von besonderer Bedeutung ist: Et enfin, considérant que toutes les mêmes pensées, que nous avons étant éveillés, nous peuvent aussi venir quand nous dormons, sans qu’il y en ait aucune, pour lors, qui soit vraie, je
115 Vgl. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 72. 116 DPV, Bd. 3, S. 134.
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me résolus de feindre que toutes les choses qui m’étaient jamais entrées en l’esprit n’étaient non plus vraies que les illusions de mes songes.117
Descartes reiht sich mit dieser abschätzigen Beurteilung des Traumes nicht weiter ungewöhnlich in eine bis auf die Antike zurückgehende Traditionslinie ein, in deren Verlauf der Traum in die Kategorie der nicht wahrheitsförderlichen Zustände, wie Rausch oder Wahnsinn, eingeordnet wurde. Darüber hinaus, und das musste das für die Aufklärungsbewegung anstößige Vorgehen sein, wird der Traum als Paradebeispiel und zentrales Argument für die grundsätzliche Unzuverlässigkeit sinnlicher Eindrücke angeführt.118 Dieses Argument dient Descartes wiederum dazu, die Herausbildung der Ideen vollständig von den sinnlichen Eindrücken zu entkoppeln und sie als Produkte apriorisch vernünftiger Prozesse zu verstehen. Der Traum als Ausdruck ungeordneter und unüberschaubarer Vorgänge, die sich einer stabilen Ordnung des Wissens entziehen, wird dagegen zur Chiffre der Unvernunft. Im Kontext des europäischen Rationalismus, der die Vernunft zur Grundlage jedweder Erkenntnis erhebt, hat das zur Folge, dass sich mit dem Traum alles andere als die Vorstellung von Erkenntnisbildung verbindet. Es versteht sich deshalb von selbst, dass der Traum im Rahmen des Rationalismus von der wissenschaftlichen Beobachtung ausgenommen wurde,119 was ihn als Projektionsfläche für alle verdammenswürdigen Defizienzen besonders anfällig machen musste. Im Zuge der Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts verliert der Traum sowohl im Kontext philosophischer Lehren wie auch in dem der Psychomedizin das Defizienzattribut, das ihm insbesondere Descartes zugeschrieben hatte. Er wird nicht mehr als Medium der Abwesenheit von Vernunft, Wahrheit, Gedächtnis oder Wahrnehmung angesehen; ihm wird zugeschrieben, ein Vorstellungsraum zu sein, in dem Abwesendes zu einer imaginären Präsenz gelangt.120 Auch wenn sich der Traumbegriff im Rahmen des medizinisch-philosophischen Diskurses des 18. Jahrhunderts somit grundlegend verändert und die Einbildungskraft in vergleichbarer Funktion wie später das Unbewusste bei Freud fungiert,121 werden die Trauminhalte in diesem Diskursfeld allerdings nicht eingehender nach ihrer Beziehung zum Trieb und damit nach ihren irrationalen Beständen befragt. Den Traummodellen der Literatur des 18. Jahrhunderts attestiert Alt indes, dass sie gerade das Wissen vermitteln, das den Theoretikern bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zumeist verschlossen bleibt: 117 René Descartes, Œuvres philosophiques, Bd. 1: Discours de la méthode, Partie IV, hg. v. Ferdinand Alquié, Garnier, Paris 1963, S. 602 f. 118 Vgl. Gérard Simon, „Descartes, le rêve et la philosophie au XVIIe siècle“, in: Revue des sciences humaines, 211 (1988), S. 133 f. 119 Vgl. Peter-André Alt, „Der Schlaf der Vernunft: Traum und Traumtheorie in der europäischen Aufklärung“, in: Das achtzehnte Jahrhundert, 25/1 (2001), S. 58. 120 Vgl. ebd., S. 61 ff. Peter-André Alt analysiert ausgehend von Descartes den progressiven Begriffswandel bei Leibniz, Wolff, Hume und Condillac; beispielhaft für die Traumlehren der Psychomedizin zieht er die Schriften des Arztes Johann August Unzer und des Popularphilosophen Johann Georg Sulzer heran. 121 Vgl. ebd., S. 69.
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Teil I Der träumende Mensch, so demonstriert sie [die Literatur, Y. L.], steht unter dem Einfluss seiner Leidenschaften. Im Traum erheben jene Dämonen das Haupt, die den selbstreferentiellen Charakter der Vernunft in Frage stellen: Trieb und Angst, Hass und Ehrgeiz, Wunschphantasien und Obsessionen.122
Eine Verbindung zwischen den Leidenschaften und der Erkenntnis bzw. zwischen Trieb (désir) und Erkenntnis lässt sich schließlich bei Condillac nachweisen, sodass sich der Kreis schließt.123 Denn das grundlegende Axiom sensualistischer Erkenntnistheorie, demzufolge die Sinneseindrücke Ausgangspunkt der Erkenntnis sind, wird bei ihm noch weiter zurückverfolgt. Dementsprechend macht er eine latente Kraft aus, die hinter all den Transformationen der Seele stehen muss, und kommt zu der Erkenntnis, dass von einem ursprünglich bewegenden Prinzip auszugehen ist, dass die Seele affiziert. „Si l’homme n’avait aucun intérêt à s’occuper de ses sensations, les impressions que les objets feraient sur lui passeraient comme des ombres, et ne laisseraient point de traces.“124 Von besagtem bewegendem Prinzip meint er, dass es nicht im Denken und Vorstellen angelegt ist, sondern im Begehren und Streben gefunden werden kann. Damit steht der Trieb für ihn vor aller Erkenntnis und ist somit ihre Voraussetzung. Grundlage des Triebes ist wiederum die Unruhe: Il restait donc a démontrer que cette inquiétude est le premier principe qui nous donne les habitudes de toucher, de voir, d’entendre, de sentir, de goûter, de comparer, de juger, de réfléchir, de désirer, d’aimer, de haïr, de craindre, d’espérer, de vouloir; que c’est par elle, en un mot, que naissent toutes les habitudes de l’âme et du corps.125
Insoweit findet bei Condillac eine Umkehrung des cartesianischen Systems statt, da der Wille bei ihm Grundlage der Vorstellung ist.126 Entscheidend für die Bedeutung des Traumes in den Bijoux indiscrets ist seine Abwertung bei Descartes, der ihn angesichts seiner vermeintlichen Vernunftferne als Paradebeispiel der Untauglichkeit der Sinnesempfindung für die Erkenntnis anführt. Dieser Umstand ist angesichts der sensualistischen Opposition zum cartesianischen Erkenntnistheorem ausreichend, um den Traum im Rêve de Mangogul als Chiffre der sinnlichen Empfindung zu lesen. Darüber hinaus erfährt der Traum im 18. Jahrhundert vor allem in der Literatur einen Bedeutungswandel, der ihn als Ausdrucksform der Leidenschaften ausweist, die wiederum für Condillac Grundlage des sensualistischen Erkenntnisprozesses sind. Gerade jene Bedeutungsdimension des Traumes und die dadurch mögliche Anschließbarkeit an das sensua122 Ebd., S. 71 f. Als Beispiele für diese Verbindung von Trieb und Traum führt Alt insbesondere Samuel Richardsons Clarissa-Roman (1747/48) und Diderots Le Rêve de d’Alembert an. Vgl. Alt, „Der Schlaf der Vernunft“, S. 76–82. 123 „Peut-on ne pas admirer qu’il n’ait fallu que rendre l’homme sensible au plaisir et à la douleur pour faire naître en lui des idées, des désirs, des habitudes et des talents de toute espèce?“ Étienne Bonnot de Condillac, Œuvres complètes, Bd. 3: Traité des sensations, Slatkine Neudruck, Genf 1970, S. 40. 124 Etienne Bonnot de Condillac, Œuvres complètes, Bd. 3: Extrait raisonné du traité des sensations, Slatkine Neudruck, Genf 1970, S. 7. 125 Ebd., S. 8. 126 Vgl. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 137.
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listische Erkenntnistheorem plausibilisieren die Instrumentalisierung des Traumes als Chiffre der sinnlichen Empfindung in den Bijoux indiscrets zusätzlich. Betrachtet man den Traum in dieser Perspektive als Rahmen der Reise in das Land der Hypothesen und somit als den die Reise hervorbringenden Vermittlungsmodus, so lässt sich sagen, dass die Textstruktur vorführt, was in der Traumepisode mehr oder weniger als erkenntnistheoretische Behauptung eingeführt wird: Die sinnliche Erfahrung ist die Grundlage der Erkenntnis, wobei die Erkenntnisse darüber hinaus der experimentellen Überprüfung standhalten müssen. De facto ist diese Erkenntnis aus dem Traum als Chiffre sinnlicher Empfindung hervorgegangen. Insofern wird hier vorgeführt, dass die sinnliche Empfindung tatsächlich Erkenntnis hervorbringt. Was diese strukturelle Veranschaulichung indes nicht leistet, ist die experimentelle Überprüfung und somit die Nachvollziehbarkeit des an sich nur behaupteten Erkenntnistheorems. Insoweit hat der Text in der aufgezeigten Weise bislang vor allem die Prämissen der Erfahrungserkenntnis und ihrer experimentellen Überprüfung in Opposition zur cartesianischen Erkenntnistheorie vorgestellt. Diese erkenntnistheoretische Grundlagenarbeit, die mit der Entwertung cartesianischer Erkenntnislehre einhergeht, ist dabei vor allem weltanschaulicher Natur. Denn während die cartesianische Erkenntnistheorie aufgrund der apriorischen Qualität ihrer Erkenntnisse von Aufklärungsphilosophen wie Diderot mit der blinden Determination des Menschen durch die Transzendenz identifiziert wurde, galt es, dieser ideologischen Formation ein anderes Modell entgegenzusetzen. Eines, das dem Subjekt in entgegengesetzter Logik Eigenständigkeit beim Erkenntnisprozess zubilligt oder ihm wenigstens keine apriorische Determination durch eine transzendente Vermittlung der Erkenntnisinhalte aufbürdet. In dem Maße wie die Bijoux indiscrets den erkenntnistheoretischen Topos der Aufklärungsbewegung zugespitzt festschreiben, reihen sie sich zugleich in das Spektrum ideologisch ähnlich gelagerter Texte ein. An erster Stelle ist hier d’Alemberts 1751 erschienener traktathafter Discours préliminaire de l’Encyclopédie zu nennen, der der philosophisch interessierten Leserschaft aufgrund seines seriösen Diskursstils geeigneter erscheinen musste, ein philosophisch und weltanschaulich relevantes Sujet zu verhandeln als die aufgrund ihrer erotischen Grundfärbung verrufenen Bijoux indiscrets. Insofern möchte ich im Vergleich mit dem behauptenden Duktus eines nichtfiktionalen Textes wie dem Discours auf das spezifische Vermögen der fiktionalen Bijoux indiscrets zu sprechen kommen. Die bisherige Textanalyse von Mangoguls Traum hat gezeigt, dass der Text bei seinem inszenierten Entwurf einer empirisch-sensualistischen Erkenntnistheorie beständig auf einen philosophischen bzw. ideologischen Referenzhorizont rekurriert. Nur eine ausreichende Kenntnis der zeitgenössischen philosophischen Auseinandersetzung ermöglicht es grundsätzlich, die mitunter vagen Anspielungen des Textes einzuordnen. Darüber hinaus erhöht die Vielschichtigkeit der Erzählstruktur, wie etwa die Analyse der Rahmung von Mangoguls Reise in das Land der Hypothesen zeigt, das Bedeutungspotenzial des Textes teilweise erheblich bzw. erschwert eindeutige Bedeutungszuweisungen. Aus diesen Gründen scheint mir der Topos, wonach der conte philosophique der Aufklärungsliteratur
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Teil I
der Verbreitung und Popularisierung neuer Philosopheme im Rahmen einer neuen Erkenntnistheorie diene,127 zumindest in Bezug auf die Bijoux indiscrets nicht haltbar zu sein. Auch steht der didaktische Aspekt im Vergleich etwa mit dem viel eindeutiger konstruierten traktathaften Discours d’Alemberts nicht im Mittelpunkt. Entsprechend formuliert d’Alembert in seinem einleitenden Text die der Encyclopédie zugrunde liegenden zentralen Überzeugungen in ebenso nachdrücklicher wie nachvollziehbarer Weise und grenzt sie zugleich von zu verabschiedenden Ideologemen ab. Darunter ist zu verstehen, dass d’Alembert die grundsätzlich sensualistische Ausrichtung der Encyclopédie vor dem Hintergrund einer abwertenden Abgrenzung von cartesianischer Systematik unmissverständlich festschreibt. Dabei lässt sich der Discours durchaus als ausdrücklichere Wiederholung der in den Bijoux indiscrets vermittelten Axiome lesen: Le Système des idées innées, séduisant à plusieurs égards, et plus frappant peut-être parce qu’il était moins connu, à succédé l’axiome des scolastiques […]. Enfin, depuis assez peu de temps, on convient presque généralement que les anciens avaient raison, et ce n’est pas la seule question sur laquelle nous commençons à nous rapprocher d’eux. Rien n’est plus incontestable que l’existence de nos sensations; ainsi, pour prouver qu’elles sont le principe de toutes nos connaissances, il suffit de démontrer qu’elles peuvent l’être: car, en bonne philosophie, toute déduction qui a pour base des faits ou des vérités reconnues, est préférable à ce qui n’est appuyé que sur des hypothèses, même ingénieuses. Pourquoi supposer que nous ayons d’avance des notions purement intellectuelles, si nous n’avons besoin pour les former que de réfléchir sur nos sensations?128
Es stellt sich die Frage, welche Funktion ein Text wie die Bijoux indiscrets ganz spezifisch erfüllt, wenn für das Verständnis der von ihm vermittelten Axiome diese an sich schon bekannt sein müssen. Wenn der Leser also bereits wissen muss, dass sich hinter der Hypothetik der Systematiker der Glaube an die idées innées Descartes’ verbirgt, die das Axiom der Scholastik abgelöst haben, wobei der Sensualismus, der zur Grundlage aller Erkenntnis erhoben wird, wiederum an die Philosophie der Antike anknüpft. Diese einfache, aber in sich geschlossene Aussage wird in dem soeben zitierten Textausschnitt d’Alemberts explizit formuliert, wohingegen sie im Rêve de Mangogul nur implizit angelegt ist. Am Beispiel des Verhältnisses von Antike und sensualistischer Erkenntnistheorie, das im Traumkapitel der Bijoux indiscrets wie auch im Discours thematisiert wird, soll nun im Einzelnen vorgeführt werden, in welcher Weise Diderots Roman Vorwissen für eine Bedeutungskonstitution voraussetzt, die ansatzweise mit der zitierten Aussage des Discours übereinstimmt. Im Traum Mangoguls bekommt die Antike zunächst in Person des Philosophen Platon, der im Land der Hypothesen die Rolle eines Fremdenführers für Mangogul übernommen hat, ein Gesicht. Verglichen mit den tristen Systematikern, die Mangogul seltsam befremden, ist er eine Lichtgestalt, in deren Gegenwart sich der Sultan gut aufgehoben fühlt: „Je lui trouvai l’air affable, la bouche riante, la démarche noble, le regard 127 Cassirer spricht in diesem Zusammenhang vor allem von Voltaire als dem großen Divulgator. Vgl. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 71. Vgl. auch Dirscherl, Der Roman der Philosophen, S. 12. 128 D’Alembert, Discours préliminaire de l’Encyclopédie, S. 14 f.
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doux, et j’aillai droit à lui.“ Anders als die Systematiker ist er auch recht gut bekleidet: „J’en vis un [Platon] dont les épaules étaient à moitié couvertes de lambeaux si bien rapprochés, que l’art dérobait aux yeux les coutures“.129 Der Aspekt der Kleidungsqualität ist vor allem deshalb von Bedeutung, wie Platon selbst bereitwillig erklärt, weil er etwas über den Grad der Verbundenheit mit Sokrates aussagt. Denn mit Sokrates’ Tod hätten sich seine Nachfolger auf sein Gewand gestürzt und es zerrissen. Wenn sich die Systematiker stolz mit den Fetzen seines Gewandes schmücken, so ist das ein Bild für das zerfledderte und lückenhafte philosophische Erbe Sokrates’; ein Erbe, das der Sokrates-Schüler Platon indes am ehesten ‚auf seinen Schultern trägt‘. Das wiederum wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass Mangogul den Flickencharakter seiner Kleidung fast nicht wahrnimmt, sind die einzelnen Stoffteile doch so kunstvoll angeordnet, dass man die sie verbindenden Nähte kaum sehen kann. Unmissverständlich gibt der Text damit zu erkennen, dass es eine Hierarchie der antiken Philosophen gibt, an deren Spitze Sokrates steht, während Platon ein intermediärer Status zwischen dem verehrungswürdigen Sokrates und der nicht ernst zu nehmenden Philosophie der Systematiker eingeräumt wird. In die Nähe der Systematiker ist Platon allein aufgrund der Tatsache zu bringen, dass auch er letztlich ein Flickengewand trägt, wenn auch ein besser verarbeitetes. Was Sokrates indes zum weisesten antiken Philosophen macht, darüber geben die Bijoux indiscrets selbst eine nur sehr kursorische Auskunft: „C’est à faire des têtes, c’est à former des cœurs, qu’il s’occupa tant qu’il vécut.“130 Von diesem Tun unterscheidet sich allerdings auch die Aktivität Platons nicht wesentlich, folgt man der Selbstauskunft über seine Lehrinhalte: „[…] connaître l’homme, […] pratiquer la vertu et […] sacrifier au Grâces.“131 Spätestens an dieser Stelle lässt sich die Hierarchie der antiken Philosophen und ihre vermeintliche Beziehung zu den modernen philosophischen Konzepten nur noch im Rückgriff auf die zeitgeschichtliche Rezeption bzw. mit einem entsprechenden Vorwissen erklären. Einige eindeutige Auskünfte geben diesbezüglich etwa die Encylopédie-Artikel Diderots über die philosophie socratique und den platonisme. Im Artikel philosophie socratique findet die Wertschätzung Sokrates’ darin ihren Ausdruck, dass ihm attestiert wird, er habe die in oberflächliche Spekulationen abgehobene Philosophie auf den Boden einer tatsachenorientierten Moralphilosophie geführt: Il parla de l’âme, des passions, des vices, des vertus, de la beauté et de la laideur morale, de la société, et des autres objets qui ont une liaison immédiate avec nos actions et notre félicité. Il montra une extrême liberté dans sa façon de penser. […] Il n’écouta que l’expérience, la réfléxion et la loi de l’honnête.132
Platons Beurteilung im Artikel platonisme fällt dagegen zwiespältig aus:
129 130 131 132
DPV, Bd. 3, S. 132. Ebd., S. 133. Ebd., S. 132. Denis Diderot, Œuvres complètes, Bd. 17, hg. v. Jules Assézat/Maurice Tourneux, Kraus Neudruck, Nendeln 1966, S. 152, Sigle: AT.
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Teil I Il appliqua les mathématiques à la philosophie; il tenta de remonter à l’origine des choses; et il se perdit dans ses spéculations: il est souvent obscur; il est peut-être moins à lire pour les choses qu’il dit que pour la manière de les dire; ce n’est pas qu’on ne rencontre chez lui des vérités générales d’une philosophie profonde et vraie.133
Dabei lassen sich die negativ ausgelegten Aspekte direkt mit Diderots Bild von Descartes in Übereinstimmung bringen, das von philosophischen Schlüssen geprägt ist, die sich bekanntermaßen auf ein mathematisches System stützen; Schlüsse, die Diderot allerdings als reine Spekulationen abtut. Auch wenn sich bei Platon Prinzipien finden lassen, die Diderot wohl zu den erwähnten „vérités générales“ zählt, wie beispielsweise das Prinzip der sensation, das einem Eindruck der Seele gleichkomme, wobei die sensation ihrerseits auf einen materiellen Eindruck des Körpers bzw. der Sinne zurückgehe,134 so ist diese Art der Übereinstimmung mit dem antiken Philosophen doch nur punktueller Natur. Vor allem Platons metaphysisches Seelenverständnis, das dem Dualismus Descartes’ vorauszugehen scheint, ist für Diderot nicht hinnehmbar. Wie bei Descartes sei auch bei Platon die Seele das Urprinzip, auf das die Bewegung, das Leben, die Organisation und in letzter Instanz auch die Erkenntnis zurückgehe: „Elle se rappelle les connaissances qu’elle avait avant que d’être unie au corps.“135 Die Seele sei also der göttliche Funke, den Gott auf die verderbliche Materie habe überspringen lassen. Durch sie werde der Mensch vor dem Bösen bewahrt. Allerdings beschränke sich diese Reinheit der Seele auf den gleichsam erhabensten und im Kopf angesiedelten Teil der dreigliedrigen Seele, der für den Verstand und damit für die Erkenntnis zuständig sei. Die übrigen Teile der Seele seien bei der Verbindung mit der Materie verdorben worden und dementsprechend für die niederen tierischen Funktionen und die Leidenschaften zuständig.136 In diesem Zusammenhang wird auch verständlich, dass die bei Platon ebenfalls ausfindig gemachte sensation nur im Bereich der untergeordneten Seelenaktivitäten, die lediglich für die körperlichen Funktionen zuständig seien, einen Platz haben kann. Für die Erkenntnisbildung dagegen sei sie nicht von Bedeutung. Damit ist einerseits der Leib-Seele-Dualismus oder das Prinzip einer der Seele zugeschriebenen Vitalität, die sich völlig losgelöst von der körperlichen Aktivität definiert, bei Platon nachgewiesen. Andrerseits ist aus der Sicht des Aufklärers Diderot die Genealogie dieses Irrglaubens, der mit der Entwertung Descartes’ bloßgestellt wird, bis in die Antike und damit bis zu den geistesgeschichtlich relevanten Ursprüngen des Denkens zurückverfolgt.137 Mit der Antike wird aber nicht gebro133 Denis Diderot, Œuvres complètes, Bd. 16, hg. v. Jules Assézat/Maurice Tourneux, Kraus Neudruck, Nendeln 1966, S. 317, Sigle: AT. 134 Vgl. ebd., S. 318. 135 Ebd., S. 323. 136 Vgl. ebd., S. 320 u. 322 f. 137 Der eigentliche Grund für die dissonante Auseinandersetzung mit Platon ist für Lannoy in Diderots Angriff auf die Theologen seiner Zeit zu sehen, die sich der platonischen Ideen bedienten, um ihre eigenen theologischen Prinzipien zu begründen. Vgl. Cyprien Lannoy, „La sensibilité épistémologique de Diderot: expression matérialiste d’un désir d’éternité“, in: Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie, 27 (1999), S. 86 f.
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chen, vielmehr wird sie zum Ursprungsort des sensualistischen Denkens stilisiert und umgewertet. Denn ihre geistesgeschichtliche Autorität ist für die ideologische Auseinandersetzung mit der Religion zweifellos unentbehrlich. Und wie sich die Theologen für die Rechtfertigung ihrer Lehren Platons bedienen, so greift Diderot im Rahmen der ideologischen Auseinandersetzung mit der Religion auf die Lehre des Sokrates zurück, dem als Platon-Lehrer auch eine größere Autorität zugeschrieben werden kann. Ein einziger Schritt zurück in der Genealogie bringt somit veränderte Verhältnisse, obgleich die Instrumentalisierung Sokrates’ für die sensualistische Botschaft keineswegs überzeugend ist, denn auch bei ihm findet sich ein metaphysischer Seelenbegriff; ein Umstand den der Encyclopédie-Artikel allerdings nicht verheimlicht: Il [Sokrates] la croyait préexistente au corps, et douée de la connaissance des idées éternelles. Cette connaissance qui s’assoupissait en elle par son union avec le corps, se réveillait avec le temps, et l’usage de la raison et des sens. Apprendre, c’était se ressouvenir […].138
Insofern beruht Sokrates’ Erhebung an die Spitze der antiken Philosophenhierarchie auf der weitgehenden Ausblendung eines Kapitels seiner Anschauungen, was sicherlich auch dadurch erleichtert wird, dass offensichtlich vor allem seine moralphilosophischen Vorstellungen in der Vermittlung durch Platon und andere Schüler erhalten sind. Allein auf der Grundlage der Moralphilosophie generell von einer spekulationsfernen und bodenständigen Philosophie zu sprechen, die nur der „expérience“, der „réfléxion“ und der „loi de l’honnête“ verpflichtet sei,139 ist im direkten Vergleich mit Platon jedoch unzulässig. Denn die Grundlage für seine Beurteilung ist gerade nicht dessen Moralphilosophie, sondern seine Theologie, seine Psychologie und damit seine Anschauung von der Seele und nicht zuletzt seine Physik. Auf diesen Feldern lässt sich in der Philosophie der Antike allerdings nicht mit dem expérience-Begriff der Aufklärung operieren, sodass sich seine Übertragung auf das Feld der sokratischen Moral als geschickter, wenngleich ideologiegeleiteter Schachzug in der Auseinandersetzung mit der Gegenwartstheologie erweist. Letztlich handelt es sich somit um eine Strategie, die rückwirkend eine diesem Begriff an sich ferne antike Philosophie für vermeintlich sensualistische Anklänge aufbereitet. Erst dieses im Aufklärungsdiskurs verortete referentielle Wissen liefert also eine Erklärung für die im Rêve de Mangogul angelegte Hierarchie der Philosophen Sokrates und Platon, die, wie gezeigt werden konnte, ideologisch motiviert ist. Eine weitere Spur der ideologischen Natur der im Text aufgemachten Philosophenhierarchie dürfte wohl auch darin zu sehen sein, dass in den Bijoux indiscrets vermeintliche inhaltliche Unterschiede zwischen den beiden Philosophen nicht thematisiert werden, da beiden eine ähnlich vage Philosophie der Herzensbildung140 unterstellt und lediglich im Bild der Kleidung auf ihren qualitativen Rangunterschied angespielt wird. Auf diese Weise lässt sich zum einen der zeit-
138 AT, Bd. 17, S. 159. 139 Vgl. ebd., S. 152. 140 Vgl. DPV, Bd. 3, S. 132 f.
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genössische Referenzhorizont der Sokrates- und Platonrezeption mit der qualitativen Differenzierung der beiden Philosophen aufrufen. Zum anderen kann durch die nur vage Anspielung auf die Philosophenhierarchie auch Platon in das Gesamtkonzept einer philosophischen Antike integriert werden, die zum Ursprungsort der neuen sensualistischen Erkenntnistheorie umgedeutet wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die zeitgenössische Rezeptionsweise herausragender antiker Philosophen, die nur einem mit der Aufklärungsbewegung verbundenen Leserkreis vertraut gewesen sein dürfte, in den Bijoux indiscrets ganz selbstverständlich als Wissen vorausgesetzt wird. Indes kann nur vor dem Hintergrund dieses Referenzhorizontes eine sinnvolle Verbindung zwischen antiker Philosophie und zeitgenössisch sensualistischer Erkenntnistheorie herstellt werden ebenso wie die im Text aufgemachte Hierarchie der Philosophen nur im Rückgriff auf dieses Vorwissen nachvollzogen werden kann. Die Bijoux indiscrets rekurrieren somit, das zeigt dieses Beispiel, auf Wissensinhalte, die als bekannt vorausgesetzt werden, und beschränken sich darauf, diese durch einzelne Begriffe, wie die „région des hypothèses“, aufzurufen, die wiederum in sehr bildliche Inszenierungen, wie die Szene, in der die Systematiker mit ihrer zerfetzten Kleidung auftreten, eingebettet werden. Wäre eine didaktisierende Wissensvermittlung, und sei es auch eine spielerisch unterhaltsame Form der Wissensvermittlung, vornehmliche Funktion der Bijoux indiscrets, so stünde diese soeben vorgeführte Referenzästhetik der Bildung dieser Wissensinhalte ausgerechnet im Wege. Als nicht unbedingt gelungen müsste diese Anlage dann bewertet werden, sofern man nicht konzedieren wollte, dass hier eine spielerische Gestaltung von Wissensinhalten um des Spiels willen realisiert ist. Meines Erachtens ist dieser Text aber weder Ausdruck einer verfehlten Wahl literarischer Verfahren noch das Produkt eines unverhältnismäßigen Spieltriebes. Seine Funktion ist vielmehr in einer Form der Wissensbildung zu sehen, die jenseits der Vermittlung rationaler Wissensinhalte liegt, da diese Aufgabe von traktathaften Abhandlungen, wie dem Discours d’Alemberts, auf adäquatere Weise erfüllt wird, realisiert sich dieser Texttypus doch in einem eindeutigeren Aussagemodus. Indes verweist die Bedeutungskonstitution, wie sie am Beispiel des Traumes als Rahmung vorgeführt wurde, auf das besondere Potenzial der Bijoux indiscrets. Denn sie machen durch ihre performative Struktur einen grundlegenden Aspekt ihres zentral vermittelten Erkenntnistheorems zu einem Akt erfahrbarer Wissensbildung, indem sie besagtes Erkenntnistheorem zugleich veranschaulichen: Der Traum Mangoguls als Chiffre des empfindsamen Erkenntnisursprunges bringt das vom Leser im Traum zu rekonstruierende empirisch-sensualistische Erkenntnistheorem de facto hervor. Damit wird aufgrund der strukturellen Anlage des Textes das, worüber im Traum Mangoguls eine Aussage getroffen wird, – nämlich, dass die Erkenntnis auf sinnlichen Erfahrungen beruht – auch tatsächlich vorgeführt bzw. gezeigt. Im allgemeinsten Sinne kann deshalb sowohl von einer strukturellen als auch von einer funktionalen Performativität des Textes gesprochen werden kann. Zugleich wird aufgrund dieser Textstruktur allen rational apriorischen Behauptungen, die unabhängig von Erfahrungsprozessen gebildet und als wahrhaftig ausgewiesen werden, eine implizite Absage erteilt.
I.2 Erzählstruktur der Bijoux indiscrets
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Allerdings ließe sich aus Sicht rezeptionsästhetischer Theorie gegen diese im Text mutmaßlich angelegte Struktur performativer Wissenskonstitution einwenden, dass es sich dabei um das zufällige Ergebnis eines Textes mit erheblichem Unbestimmtheitsbetrag handle.141 Im Folgenden möchte ich deshalb zeigen, dass die erfahrbare Wissensbildung nicht beliebige Konstruktion angesichts eines Textes mit hohem Unbestimmtheitsgrad ist, sondern dass diese Schlussfolgerung auf einer spezifischen, den Leser lenkenden Ästhetik beruht. Diese These soll im Einzelnen anhand der besonderen Korrespondenz zwischen Rahmenhandlung und Digressionen belegt werden, die sich, wie in den Lettres persanes, als eine von Behauptung und dazugehöriger Veranschaulichung bzw. von ‚Sagen‘ und ‚Zeigen‘ darstellen lässt.
I.2.2.2 Die Veranschaulichung in der Rahmenhandlung Nachdem anhand der zentralen Digression des Textes das erkenntnistheoretische Epochenparadigma als entscheidende Behauptung142 des Textes vorgestellt wurde, wird zu zeigen sein, auf welche Weise dieses Theorem der Erkenntnisbildung veranschaulicht und somit die zentrale Behauptung vom Text selbst formal vorgeführt wird, um dem Theorem auch tatsächlich gerecht werden zu können und nicht in einer theoretischen Behauptung verhaftet zu bleiben, die nicht an der Erfahrungswirklichkeit gemessen und überprüft wird. In diesem Sinne sind die Bijoux indiscrets als Versuchsanordnung und experimenteller Erfahrungsraum zu verstehen.143 Es gilt nun folglich anhand des Verlaufs der Rahmenhandlung, die 141 Ausgehend von Isers Ideen zur Rezeptionsästhetik verstehe ich darunter, dass der Text aufgrund seines erheblichen Leerstellenangebots zu einer Vielzahl von Interpretationsschlüssen animieren kann, die im schlechtesten Falle beliebig sind. Vgl. Wolfgang Iser, „Die Appellstruktur der Texte“, in: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, hg. v. Rainer Warning, Fink, München 1975, S. 234 ff. 142 Im Paratext wird das Kapitel als „le meilleur peut-être“ ausgewiesen – ein Bedeutungshinweis, der sich angesichts der Aussage, die im 29. Kapitel des ersten Buches getroffen wird, als berechtigt erweist. Das hier vorgestellte Erkenntnistheorem ist zumal für den Diskurs der Aufklärung von epochaler Bedeutung. Und doch nimmt das „peut-être“ die kapitale Bedeutungszuweisung des Kapitels auch wieder skeptisch zurück. Ein mindestens ebenso berechtigter Hinweis, auf den ich abschließend noch eingehen werde. 143 Joachim Ozdoba spricht in seinem Text Heuristik der Fiktion ebenfalls von der experimentellen Funktion der satirischen Bijoux indiscrets. Damit meint er den eigenständigen Entwurf einer Realität bzw. „eine künstlerische Wirklichkeitserfassung“, die über eine einfache „Allegorisierung künstlerischer Ideen“ hinausgehe, da diese Ästhetik erst eine „philosophische Reflexion“ provoziere. Für ihn hat dies letztlich zur Konsequenz, dass die Nachahmung naturwissenschaftlicher Erkenntnisverfahren im satirischen Roman Diderots lediglich zur Karikatur gereiche. Vgl. Joachim Ozdoba, Heuristik der Fiktion. Künstlerische und philosophische Interpretation der Wirklichkeit in Diderots Contes (1748–1772), Lang, Frankfurt a. M. 1980, S. 21 f. Dieser Schlussfolgerung möchte ich mich nicht anschließen, da ich davon ausgehe, dass in den Bijoux indiscrets nicht allein Karikaturen naturwissenschaftlicher Erkenntnisverfahren vorgeführt werden, sondern gerade die Gültigkeit eines ausgewählten Erkenntnistheorems anhand der Ästhetik der satirischen Fiktion erfahrbar gemacht werden soll. Der
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sich als Aneinanderreihung von Ringproben ausnimmt, und somit aus der Veranschaulichung selbst, die als Fiktion einen Erfahrungsraum simuliert, das Erkenntnistheorem abzuleiten. Die Ausgangsmotivation, die in der Geschichte für die Ringproben konstruiert wird, ist in dem Wunsch und Bedürfnis des Herrschers Mangogul zu sehen, sich seine Langeweile auf Kosten seiner Hofdamen zu vertreiben, wie er dem Geist Cucufa freimütig gesteht: „Savoir d’elles les aventures qu’elles ont et qu’elles ont eues; et puis c’est tout.“144 Zugleich drückt sich in diesem Wunsch, der die schlichte Gemütslage des Sultans offenbart, die mit dem erotischen Genre verbundene Erwartung des Lesers aus. Jener Erwartung zufolge hat die Geschichte vor allem den Zweck eines wohlfeilen Aufhängers für die Vermittlung lizenziöser Darstellungen. Der Bedürfnislage des Sultans wird dank Cucufas Zauberring unmittelbar entsprochen und die Geschichte scheint somit bereits im 6. Kapitel alle gattungsspezifischen Erwartungen zu erfüllen, denn hier kommt es bereits zu einer ersten Ringprobe, die Mangogul in die intimen Geheimnisse einer gewissen Alcine einführt. Die übrigen 29 Kapitel, die der erotischen Rahmenhandlung unmittelbar zuzuschlagen sind, lesen sich infolgedessen als mehr oder weniger amüsante Variationen dieses ersten Lauschangriffes. Bei näherer Betrachtung des repetitiven Handlungsmusters lässt sich allerdings feststellen, dass die Ringproben eine moralische Motivierung erhalten, die dem Text eine nobilitierende Funktion jenseits des erotischen divertissement zuweist. Mit dem 1. Kapitel des zweiten Buches erfolgt nämlich endgültig eine Zäsur, gewissermaßen als Konsequenz aus den Erfahrungen der ersten 14 Ringproben.145 Dementsprechend werden die vom Sultan zunächst aus Langeweile und in der Folge aufgrund eines beständig neu entfachten Spieltriebs vorangetriebenen Ringproben im Rahmen eines Streitgesprächs mit seiner favorisierten Frau Mirzoza zum Mittel einer Erkenntnisfindung umdeklariert: Dabei geht es um die Frage, ob Frauen moralisch integer sind oder ob das grundsätzlich ausgeschlossen ist. Das wiederum soll davon abhängig gemacht werden, ob die Frauen ihren Männern treu ergeben sind oder ob sie das aufgrund ihrer Natur gar nicht sein können.146 Während Mirzoza der festen Überzeugung ist, dass es nicht wenige Frauen gebe, die den Status einer „femme sage“ verdienten, vertritt Mangogul die Meinung, dass dies zwar im Bereich des Möglichen liege, dieser Frauentypus aber de facto nicht existiere, wie sich allein aus dem treulosen Verhalten der Frauen schließen lasse, von dem ihre „bijoux“ zu berichten wüssten.147 Er könne zur Verteidigung seiner Ansicht schließlich eine Vielzahl von Versuchen („foule d’essais“) anführen, wohingegen sich Mirzozas Überzeugung lediglich auf den glücklichen Aus-
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spielerische bzw. experimentelle Simulationscharakter der Fiktion wäre in diesem Sinne das Alleinstellungsmerkmal der Kunst, insoweit als sie allein erfahrbar machen kann, was außerhalb des fiktionalen Darstellungsmodus den sinnes- und erfahrungsbefreiten Charakter der Behauptung hat. DPV, Bd. 3, S. 43. Vgl. Adams, „Experiment and Experience“, S. 307. Vgl. DPV, Bd. 3, S. 144. Ebd.
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gang einer vereinzelten Ringprobe („expérience isolée“) stütze.148 Mirzoza zuliebe will er aber die ihm verbleibenden Ringproben exklusiv der Klärung dieser Frage widmen und Mirzoza Recht geben, sollte sich auch nur eine ihrem Mann treu ergebene Frau finden lassen.149 Für Mangogul ist dies indes eine reine Konzessionsentscheidung, denn er sieht seine Ansicht, wie die schon durchgeführten Ringproben hinlänglich belegen, ohnehin als erwiesen an. In der Konsequenz scheint besagte Textstelle des ersten Kapitels des zweiten Buches nachträglich zu affirmieren, dass sämtliche Ringproben Mangoguls und damit die Bijoux indiscrets immer schon auf diese moralische ‚Frauenfrage‘ hin ausgerichtet waren. Diese eindeutige moralische Funktionalisierung der Bijoux indiscrets weist der Text vermittels eines ironischen Signalverfahrens zu Beginn des Kapitels aber auch wieder zurück. In diesem Zusammenhang unterstellt Mirzoza ihrem Gatten mit despektierlich ironischem Unterton, er halte es bei seinen allmorgendlichen Gedächtnisübungen wahlweise mit d’Ouville oder Brantôme: „C’est que vous apprenez par cœur, tous les matins, trois pages de Brantome ou d’Ouville: on n’assure pas de ces deux profonds écrivains quel est le préféré…“, worauf ihr Mangogul entgegnet: „On se trompe, madame, […], c’est le Crébillon qui…“150 Es ist selbstverständlich bedeutsam, dass Mirzoza ihren Mann bezichtigt, sich der Geisteshaltung zweier ausgewiesener literarischer Libertins des 16. und 17. Jahrhunderts verschrieben zu haben, die vor allem für ihre im Schreibstil der chronique scandaleuse151 verfassten Texte bekannt sind.152 Dadurch signalisieren die Bijoux indiscrets, Mirzozas ironischer Erwähnung dieser Schriftsteller gemäß, dass zumindest der Figur Mangogul, die ihre Anwartschaft auf das Erbe der chroniqueurs scandaleux mit jeder Ringprobe zu bestätigen scheint, keine tiefergehenden moralischen Intentionen zuzuschreiben sind. Wenn Mangogul dann angesichts der Vorhaltungen seiner Frau gerade Crébillon als seinen eigentlichen spiritus rector vorschützt, so bestätigt er damit lediglich die Unglaubwürdigkeit seiner Einlassung. Denn Crébillon ist als Verfasser erotischer Texte zumindest dafür bekannt, seine lizenziösen Romane in den Dienst einer höherwertigen Moral gestellt zu haben. Mangoguls abgebrochene Rede („c’est le Crébillon qui…“) markiert insofern das mit dieser Notlüge verbundene Unbehagen der Figur. Die über eine ironische Erwähnung zweier Autoren vermittelte Absage an eine ernsthafte moralische Funktionalisierung des erotischen Stoffes auf der Figurenebene bestätigt sich somit abschließend in Mangoguls Replik. Generell lässt sich also sagen, dass der Text an dieser Stelle implizit signalisiert, dass seine Verfasstheit im Stile der chronique scandaleuse keineswegs zugunsten einer moralischen Funktionali148 Damit ist der Versuch im 30. Kapitel des ersten Buches, Le bijou muet, gemeint, in dem von Eglé die Rede ist, deren „bijou“ nichts Schlechtes über sie zu sagen weiß. Vgl. DPV, Bd. 3, S. 134–138. 149 Vgl. ebd., S. 144. 150 Ebd., S. 141. 151 Diese Gattung des 16. Jahrhunderts stellt ihre Gegenstände um ihrer selbst Willen und nach dem Motto Daturalia non sunt turpia, also mit natürlicher Obszönität, dar. 152 Brantome ist vor allem für seine Vie des dames galantes literaturhistorisch in Erinnerung geblieben, während d’Ouvilles Werk in der Literaturhistorie fast keine Erwähnung findet.
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sierung außer Kraft zu setzen ist. Es bleibt dann allerdings zu fragen, welche Funktion der eindeutig unter einer moralischen Perspektive eingeführten Überprüfung der Integrität der Frauen in den Bijoux indiscrets zukommt. Anders gewendet, das hier analysierte ironische Signal verweist darauf, dass die erotische Ästhetik des Textes letztlich nicht moralisch funktionalisiert werden soll, obschon der moralischen ‚Frauenfrage‘ der Textoberfläche153 eine zentrale Bedeutung zukommt. Insofern gilt es, diese vorgebliche Bedeutung der Moral im Rahmen des Spiels ernst zu nehmen und ihr nachzugehen, ohne dabei die ironisch vermittelte Absage an eine moralische Textfunktion aus den Augen zu verlieren. Im Hinblick auf den Gesamttext ist in der ‚Frauenfrage‘ zweierlei zu konstatieren. Zum einen werden alle Frauen, die sich den Ringproben unterziehen müssen, im Sinne der Anklage für schuldig befunden, denn ihre „bijoux“ wissen immer von irgendwelchen Ausschweifungen zu berichten, die die Frau an sich als untreue, depravierte Kreatur ausweist. Zum anderen aber wird das Tugendideal der ihrem Gatten treu ergebenen Frau von Mirzoza vorgelebt, deren untadeliges Wesen in der letzten Ringprobe abschließend bestätigt wird. Eine mögliche Funktionszuweisung dieser beiden Textaussagen möchte ich im Folgenden vornehmen: Angesichts der ausschließlich negativen Ergebnisse der Ringproben scheint die ‚Frauenfrage‘ eindeutig beantwortet zu sein. Entsprechend ergibt sich aus diesem exploratorischen histoire-Kontext der Befund, dass in der Frau ein depraviertes Wesen zu sehen ist, das seiner leidenschaftlichen Veranlagung folgend zu keiner partnerschaftlichen Treue und damit zu keinem gesellschaftlich angemessenen Verhalten fähig ist. Diese Schlussfolgerung wiederum scheint angesichts des gleichsam empirischen Charakters der repetitiven Ringproben umso nachhaltiger und konsistenter zu sein. Für einen Text der Aufklärungsbewegung stellte eine derartige Aburteilung der Frau dennoch eine besorgniserregend schlichte Bestätigung misogyner Klischeevorstellungen dar.154 In diesem Zusammenhang sei deshalb auf ein grundlegendes Merkmal von Diderots narrativer Strategie hingewiesen: Aussagen von Textfiguren, die Erzählerfigur mit eingeschlossen, lassen sich grundsätzlich nicht mit vermeintlichen Autorenpositionen 153 Mit Textoberfläche meine ich alle explizit geäußerten Ansichten ebenso wie die damit verbundenen Beispiele und Veranschaulichungen. 154 Ozdoba macht in der Oberflächlichkeit der psychologischen Analyse der Ringversuche, die der Bestätigung aller misogyner Klischeevorstellungen dienen, die zentrale Schwäche des Romans aus. Vgl. Ozdoba, Heuristik der Fiktion, S. 27. Zweifelsohne weist der Aufklärungsdiskurs auch frauenfeindliche Ansichten auf, die wie bei d’Holbach auf einer rationalistischen Skepsis gegenüber den Leidenschaften beruht. Schamgefühl und Keuschheit sind bei ihm aus moralischer Sicht die natürlichen Regulative der zügellosen Leidenschaften (S. 478). Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlich rationalistischen Ansichten läuft die Frau für d’Holbach beständig Gefahr, sich angesichts ihrer natürlichen Schwächen in Versuchung führen zu lassen, was allerdings auch für den Menschen im Allgemeinen gilt (S. 481). Vgl. Paul Hoffmann, La femme dans la pensée des lumières, Ophrys, Paris 1977. Auf diese tendenziell leidenschaftsfeindliche Haltung scheint Diderot mit seinen misogynen Frauenbildern anzuspielen. Dabei lässt sich allein aufgrund der rationalistischen Anklänge, die mit dem Topos der Frauenfeindlichkeit einhergehen, davon ausgehen, dass Diderot diese Ansicht nicht ernsthaft vertritt.
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verrechnen, wie das etwa Ozdoba in diesem Zusammenhang tendenziell tut.155 Das ist bei Diderot allein daran festzumachen, dass es letztlich keine Figurenansichten gibt, die nicht von anderen Figurenansichten entwertet würden, wobei es in den Bijoux indiscrets noch nicht einmal konsistente Einzelfigurenansichten gibt.156 Obschon die paradoxe Schreibweise immer wieder als Quintessenz Diderot’scher Ästhetik ausgemacht wurde, wird sie doch nicht immer mit letzter Konsequenz berücksichtigt. Denn da an und für sich keine Figurenansicht als herausragende oder endgültig zu übernehmende Aussage markiert ist, sind die Einzelaussagen vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen histoire-Kontexte miteinander zu verrechnen. Wie das zu geschehen hat, ist keineswegs beliebig, insoweit als es implizite Leserlenkungsstrategien wie Ironie, Parodie oder Satire gibt, die die histoire-Elemente bzw. einzelne Figurenaussagen auf- oder abwerten und damit in einer bestimmten Art ausrichten bzw. eine bestimmte Verknüpfungsweise nahe legen. Aus dem in dieser spielerischen Weise negativ angelegten Bedeutungsangebot von an sich nicht abschließend ernst zu nehmenden Einzelaussagen ist dann rezeptionsseitig eine wiederum falsifizierbare Ansicht zu konstituieren. Dieses ästhetische Muster ist auch an der ‚Frauenfrage‘ der Bijoux indiscrets nachvollziehbar. Denn in dem Maße, wie besagte moralische Frage durch die Ringproben in vermeintlicher Eindeutigkeit und im Sinne Mangoguls beantwortet wird, wird eben diese Aussage auch wieder unterminiert. An erster Stelle ist in diesem Zu-
155 Dementsprechend hält er die an der Figur Mangoguls festzumachende misogyne Klischeevorstellung für Diderots letztes Wort zur ‚Frauenfrage‘ in den Bijoux indiscrets, wobei er ihn zugleich in Schutz nimmt, indem er Diderot in La Religieuse und dem Aufsatz Sur les femmes einen feinfühligeren Umgang mit der weiblichen Psyche attestiert. Vgl. Ozdoba, Heuristik der Fiktion, S. 27. 156 Darunter ist zu verstehen, dass in den Bijoux indiscrets zumindest keine der Hauptfiguren durchgängig mit einer bestimmten Position identifizierbar ist, die wiederum eindeutig als ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ ausgewiesen würde. Vielmehr ist leserseitig aus den verschiedenen Einzelpositionen der Figuren immer wieder eine komplexe Ansicht zu destillieren. Dementsprechend vertreten die Figuren bestenfalls ‚richtige‘ Teilpositionen, wobei jede der Hauptfiguren sowohl für ‚falsche‘ als auch für ‚richtige‘ Teilpositionen einsteht. Mirzoza mag im Vergleich zu Mangogul über den Gesamttext hinweg die reflektiertere Figur sein, der tendenziell mehr als ‚richtig‘ ausgewiesene Haltungen zugeschrieben werden. Doch ist auch unübersehbar, dass ihr ebenfalls lächerliche und damit entwertete Teilhaltungen zugeschrieben werden. Ein anschauliches Beispiel für diese Inkonsistenz der Figurenpositionen gibt das Kapitel Métaphysique de Mirzoza. Mirzoza vertritt hier weitestgehend die Position eines Sensualismus Condillac’scher Prägung, wenn sie gegenüber der cartesianischen Position Selims, „Il me semble qu’on pourrait vous dire que dans l’enfance même, c’est la tête qui commande aux pieds, et que c’est de là que partent les esprits, qui, se répandant par le moyen des nerfs dans tous les autres membres, les arrêtent ou les meuvent au gré de l’âme assise sur la glande pinéale“, für die radikale Empfindsamkeit der Körper eintritt. Indes wird auch ihr sensualistischer Denkansatz in seiner Radikalität der Lächerlichkeit preisgegeben. Ein Eindruck, den die reflektierte Mirzoza im darauffolgenden Kapitel zu bestätigen scheint: „Mes idées ne sont pas les plus justes qu’on ait eues jusqu’à présent; d’accord: mais aussi ce ne sont pas les plus fausses, et je pense qu’on a quelquefois imaginé plus mal.“ DPV, Bd. 3, S. 122 u. 126. Diese gezielte Inkonsistenz ist am wahrscheinlichsten Ausdruck eines tief greifenden Skeptizismus gegenüber jeder Form festgeschriebenen Wissens.
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sammenhang die abschließende Ringprobe zu nennen, die Mirzoza als treu liebende und damit in höchstem Maße sittsame Frau ausweist. Mangoguls eigenem Bekunden zufolge müsse der Frau, für den Fall, dass sich auch nur eine finde, die sich als „constamment sage“ erweise, eine grundsätzliche Sittlichkeitsbegabung zuerkannt werden.157 Damit ist aber noch keine sinnvolle Funktionalität der moralischen ‚Frauenfrage‘ beschrieben, sondern lediglich der paradoxe Textmodus unter Beweis gestellt, der angesichts des bisher Gesagten auch als schlichtweg inkonsistent bezeichnet werden könnte, da hier lediglich vorgeführt wird, wie eine Textaussage die andere wieder aufhebt. In moraldiskursiver Lesart158 lässt sich indessen der Versuch einer konsistenten Deutung der ‚Frauenfrage‘ unternehmen. Einer Deutung, die sowohl die sittliche Entwertung der Frau wie auch den tugendhaften Vorbildcharakter Mirzozas berücksichtigt. Diesem Ansatz entsprechend verkörpern der Sultan Mangogul und seine Favoritin das ideale aufgeklärte Herrscherpaar, da Mirzoza den moralischen Anspruch ihres Ehegatten uneingeschränkt erfüllt, richtet sich doch ihre Liebe allein auf Mangogul, wie ihr „bijou“ zu berichten weiß: „Loin de vous, Mangogul, qu’allais-je devenir?…fidèle jusque dans la nuit du tombeau, je vous aurais cherché, et si l’amour et la constance ont quelque récompense chez les morts, cher prince, je vous aurais trouvé…“159 Im Gegenzug dienten die beständigen Verfehlungen der Hofdamen, die die Enttäuschung der idealen Herrscherin Mirzoza hervorrufen, der satirischen Illustration höfischer Doppelmoral. Die satirische Spitze gegen die intrigante und zutiefst unmoralische höfische Gesellschaft würde indes durch das Verhalten des aufgeklärten Monarchenpaares, das solcher Versuchung aufgrund seiner höheren Einsicht in die gesellschaftlichen Notwendigkeiten widersteht, wieder aufgefangen. Dieser Lesart widersprechen indes gleich mehrere Aspekte, wie etwa die Inkonsistenz der Figur Mangogul im Hinblick auf ihre nachhaltige moralische Funktionalisierung als aufgeklärter Monarch. Ebenso wenig ließe sich in der Logik dieser moralischen Lesart der repetitive und zudem exzessiv libidinöse Charakter der Ringproben rechtfertigen. Das Romanende schließlich weist diese Lesart vollends als obsolet aus und liefert zugleich den entscheidenden Hinweis für eine konsistente Funktionalisierung der ‚Frauenfrage‘. Denn während ein moralisch integrierbarer Textabschluss mit dem höfischen Idealpaar Mirzoza und Mangogul einen harmonisch klangvollen Kontrapunkt zur satirischen Darstellung der eintönig depravierten Hofgesellschaft hätte setzen müssen, klingt dieses Textende nach dissonantem Ironiefinale. Das Schlusskapitel mit der Stilisierung Mirzozas zur Ikone treu liebender Tugendhaftigkeit steht dementsprechend nicht für sich, sondern ist insbesondere vor dem Hintergrund des digressiven Kapitels L’Amour platonique zu lesen. In diesem vorletzten Kapitel geht es um die Frage der Voraussetzungen der Liebe, wobei Mirzoza gegenüber Mangogul und dem Höfling Selim voll tugendhafter Über157 Vgl. DPV, Bd. 3, S. 144. 158 Es wurde gezeigt, dass der Text eine ernsthafte moralische Funktionalisierung durch diverse Ironiesignale in Abrede stellt. 159 DPV, Bd. 3, S. 258.
I.2 Erzählstruktur der Bijoux indiscrets
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zeugung den Standpunkt vertritt, dass die Liebe platonischer Natur und somit frei von körperlichen Voraussetzungen sei. Eine Ansicht, die im Einzelnen bereits von der Erzählerfigur in Abrede gestellt wird: Mirzoza, montée sur les grands principes et entêtée d’idées de vertu qui ne convenaient assurément ni à son rang, ni à sa figure, ni à son âge, soutenait que très souvent on aimait pour aimer, et que des liaisons commencées par le rapport des caractères, soutenues par l’estime, et cimentées par la confiance, duraient très longtemps et très constamment, sans qu’un amant prétendît à des faveurs, ni qu’une femme fût tentée d’en accorder.160
Diese Art von fehlgeleitetem Liebesbegriff führt der Sultan im Gegenzug auf romaneske Allgemeinplätze zurück: „[…] les romans vous ont gâtée. Vous avez vu là des héros respectueux et des princesses vertueuses jusqu’à la sottise“,161 die der Wirklichkeit nicht standhalten. Mangogul und sein alter Höfling Selim vertreten wiederum die Gegenposition zu Mirzozas Platonismus, die darin besteht, den Körper in seiner wohlorganisierten Gesamtheit als unabkömmliche Voraussetzung einer Liebesbeziehung anzusehen. Selim weiß dies seinerseits mit der Geschichte des Jünglings Hilas komisch zu veranschaulichen: Im hormonellen Überschwang hat der unerfahrene Hilas die „pagode“ beleidigt und muss zur Strafe von da an ein im Wortsinne geschlechtsloses Leben führen.162 Auf eine Erlösung von dem Schicksalsschlag darf er nur hoffen, wenn ihn eine Frau mit demselben Defekt, die auch um sein Manko weiß, liebt und in ihre Arme schließt; soweit die Prophezeiung der Pagode. Im Verlauf des märchenhaften Anschauungsunterrichts stellt sich heraus, dass selbst die eingefleischtesten Platonikerinnen, in deren Armen der Jüngling Heilung sucht, letztlich nur vorgebliche Tugendwärterinnen sind, da sich alle angesichts der nackten Tatsachen von Hilas abwenden. Die Geschichte endet dennoch tröstlich, da Hilas – der Prophezeiung der Pagode entsprechend – in der platonischen Umarmung einer Leidensgenossin seine Männlichkeit wiedererlangt: „car ils ne pouvaient guère s’aimer autrement: mais à l’instant, l’enchantement cessa: ils en poussèrent chacun un cri de joie, et l’amour platonique disparut.“163 Mangogul, Selim und der Erzähler vertreten in diesem Tatsachenprozess um die Voraussetzungen der Liebe, der mit der Anschauungskraft des Märchens geführt wird, offensichtlich die richtige Ansicht, wie der Fall des Hilas zeigt, der die geschlechtslose und körperbefreite Liebe lediglich als komische Prätention vorgeblicher Moralapostel ausweist. Offensichtlich werden derartige im Zeichen einer klischeehaften Moral stehende Liebeskonzepte, die keinerlei biologische oder lebensweltliche Verankerung haben, von religiösen Instanzen wie der Pagode machtvoll vorgegeben. Diesen Instanzen wiederum wird eine triebregulierende und somit kontrollierende Gesellschaftsfunktion zugeschrieben, wie das Beispiel des Jünglings zeigt, der für seine Impertinenz, im Gebet einen leidenschaftlichen Blick auf die Frau seines Begehrens geworfen zu haben, von der Pagode entmannt wird. Der Zweck der märchenhaften Inszenierung und damit des Kapitels ist folg160 161 162 163
Ebd., S. 249. Ebd. Ebd., S. 251. Ebd., S. 255.
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lich in der Aufdeckung eines von religiösen Instanzen vorgegebenen Sittlichkeitsdiskurses zu sehen, der allein der Ausübung gesellschaftlicher Kontrolle dient, ohne erfahrungsgesättigte Wahrhaftigkeit für sich beanspruchen zu können. Die Parodie dieses Diskurses ist angesichts der Märchenhaftigkeit seiner moralischen Implikationen im Genus des Märchens verfasst, das ob der veranschaulichenden Kraft seiner Bilder neben der Entwertung der moralischen Implikationen zu einer eindeutigen Aussage kommt: Liebe und Liebesbefähigung hängen substanziell von einer gut funktionierenden Körperlichkeit ab, wie der Fall des Hilas’ unmissverständlich verdeutlicht. Es versteht sich von selbst, dass die abschließende Erfüllung des moralischen Tugendideals von der selbst- und körperlosen Liebe, die sich im Anschluss an dieses digressive Kapitel in der finalen Ringprobe an Mirzoza vollzieht, vor diesem Hintergrund nur ironisch gelesen werden kann. Denn wenn die vorgebliche Moral in der Digression über die platonische Liebe als ideologischer Diskurs dekuvriert wird, der der Wirklichkeit einer von der Körperlichkeit abhängenden Liebe nicht standhält, so ist auch auf der Makroebene, d.h. im Rahmen der Gesamtheit der Ringproben nicht ernsthaft an die Erfüllung eines Tugenddiskurses zulasten der Frau zu denken. Darunter verstehe ich, dass die Frauen nicht für ihr körperliches Liebesleben moralisch zu diskreditieren sind, wenn die Liebe grundsätzlich eine auf den sinnlichen Leidenschaften beruhende Qualität ist. Insofern signalisiert der Text, indem er die Aussage der Digression über die platonische Liebe ironisiert bzw. indem er das vermeintliche Tugendideal der Körperlosigkeit vor dem geschilderten Hintergrund in einer lächerlich anmutenden Weise erfüllt, dass auch der entwertete moralische Aspekt der so genannten ‚Frauenfrage‘ auf seinen ideologischen Gehalt hin zu lesen ist.164 Auf diesen ideologischen Gehalt soll nun eingegangen werden, um zu zeigen, dass die aufgrund der Entwertung des moralischen Aspekts entstehende Leerstelle im Kontext der Ringproben in Analogie zum digressiven Kapitel, L’Amour platonique, mit einem Konzept der Körperlichkeit gefüllt werden kann. Dabei erschließt sich letztlich auch die Funktion des erotischen Genres jenseits eines bloßen divertissement. Mit anderen Worten, die Entwertung der moralischen Funktion der ‚Frauenfrage‘ führt sowohl zu einer Entwertung des Idealbildes der tugendhaften Herrscherin wie auch des Bildes der depravierten Frau, das Grundlage für die kontrapunktische Idealisierung der Herrscherin ist. Welchen Zweck die ‚Frauenfrage‘ angesichts des Ausschlusses ihrer moralischen Funktionalisierbarkeit indes erfüllt, das soll im weiteren Verlauf untersucht werden. Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen komme ich erneut auf die Einführung der ‚Frauenfrage‘ zurück, die eine moralische Funktionalisierung der Ringproben erst nahe gelegt hatte, um
164 Im Hinblick auf die Gesamtheit der rahmengebenden Ringepisoden ließen sich neben der finalen Ironisierung des moralischen Gehalts der ‚Frauenfrage‘ noch zahlreiche andere Einzelhinweise und Signale anführen, die auf die Entwertung der moralischen ‚Frauenfrage‘ hinweisen. Ich beschränke mich an dieser Stelle auf die Untersuchung jenes finalen Signals, da mit der ironischen Erfüllung der letzten Ringprobe gleichsam das Gesamtkonstrukt des vermeintlich moralischen Erzählens entwertet wird.
I.2 Erzählstruktur der Bijoux indiscrets
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andere Möglichkeiten einer Funktionalisierung der Ringproben in Betracht zu ziehen. Im ersten Kapitel des zweiten Buches stellt Mangogul im Meinungsstreit mit Mirzoza die Klärung der Frage in Aussicht, ob die Frau eines sittlichen Betragens fähig ist oder nicht. Die Ringproben erhalten zunächst, ganz unabhängig von der Fragestellung, aufgrund ihres repetitiven Charakters den Anschein gleichsam empirischer Erhebungen oder zumindest erfahrungsgesättigter Veranschaulichung. Ein Umstand, auf den hinzuweisen, Mangogul nicht versäumt: „Je ne conclus pas seulement de la possibilité; je pars d’un fait, d’une expérience.“165 Insofern scheint Mangogul gerade der experimentellen Wissenschaftsmethode Rechnung zu tragen, die er selbst im Rahmen seines Traumes in die Welt setzt. Dieser vermeintliche Empirismus wird nun aber auch wieder gezielt unterminiert. Denn bevor Mangogul sich überhaupt auf die Klärung der ‚Frauenfrage‘ im Rahmen eines experimentellen Settings einlässt, hat er sein Urteil über das weibliche Geschlecht an sich längst schon gefällt, wie er Mirzoza gegenüber deklariert: Loin de convenir avec vous, continua-t-il, que tout ce qui porte des pieds, des bras, des mains, des yeux et des oreilles, comme j’en ai, possède une âme comme moi: je vous déclare que je suis persuadé, à n’en jamais démordre, que les trois quarts des hommes et toutes les femmes ne sont que des automates.166
Um eventuelle Zweifel an der Bedeutung seiner Worte auszuräumen, reicht er schließlich folgenden unmissverständlichen Kommentar nach: „Je vous disais donc que vous êtes toutes des bêtes.“167 Er meint damit die Frauen, die er deshalb mit den Tieren gleichsetzt, weil sie, wie diese, keine Seele hätten. Damit ist in diesem Kontext aber keineswegs gemeint, dass die Frauen etwa herzlos oder unempfindsam seien. Vielmehr verbreitet Mangogul hier eine an das cartesianische Konzept,168 demzufolge die Seele das ‚Organ‘ des Denkens ist, angelehnte Anschauung, und unterstellt den Frauen, sie seien unbeseelt wie die Tiere, die nicht vernunftbegabt und deshalb des Denkens nicht fähig seien: Il faudrait, en suivant vos idées, que nous eussions tous des âmes: or voyez donc, délices de mon cœur, qu’il n’y a pas le sens commun dans cette supposition. ‚J’ai une âme: voilà un animal qui se conduit la plupart du temps comme s’il n’en avait point: et peut-être encore n’en a-t-il point lors même qu’il agit comme s’il en avait une. Mais il a un nez fait comme le mien; je sens que j’ai une âme et que je pense; donc cet animal a une âme, et pense aussi de son côté.‘ Il y a mille ans qu’on fait ce raisonnement, et il y en a tout autant qu’il est impertinent.169
Die ‚Frauenfrage‘ wird vor diesem Hintergrund in zweierlei Hinsicht gänzlich transformiert. Denn zum einen geht es gar nicht um die Frage, ob die Frau eines sittlichen Verhaltens fähig ist, sondern viel grundlegender darum, ob sie überhaupt vernunft- bzw. denkbegabt ist. Zum anderen wird aber genau dieser Aspekt 165 166 167 168
DPV, Bd. 3, S. 144. Ebd., S. 127. Ebd. Ich werde im Folgenden noch eingehender auf dieses Konzept und seine textuelle Verankerung zu sprechen kommen. 169 DPV, Bd. 3, S. 126.
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nicht thesenhaft als Frage formuliert, sondern schlicht als Behauptung in den Raum gestellt. Die ‚Frauenfrage‘ wäre damit ebenso obsolet wie ihre vermeintliche Beantwortung im Rahmen eines empirischen Settings, das auf der beständigen Wiederholung von lediglich in Detailfragen veränderten Versuchen, die eine These nachvollziehbar machen sollen, gründet. Denn steht eine Anschauung a priori fest, so kann es nicht darum gehen, ihre Richtigkeit auf der Grundlage von Erfahrungswerten zu überprüfen. Die Ringproben würden vor diesem Hintergrund zu rein pseudoempirischen Versuchsreihen, denen an sich kein Erkenntnisgewinn eignete. Es stellt sich dann allerdings die Frage, auf welche Weise die Ringproben mit Mangoguls Behauptung, der zufolge die Frauen unvernünftig und damit denkunfähig seien, sinnvoll in Verbindung gebracht werden können. Zentraler Hinweis für eine mögliche Art der Verbindung ist meines Erachtens in der an das cartesianische Konzept der denkenden Seele angelehnten Aussage Mangoguls über die Frau zu sehen. Dieser angenommene Zusammenhang zwischen vermeintlicher ‚Frauenfrage‘ und cartesianischer Philosophie ist erklärungsbedürftig.170 Darunter ist zu verstehen, dass Mangogul vor dem Hintergrund dieses cartesianischen Konzeptes behauptet, die Frauen seien unbeseelt und somit unvernünftig. Dass das Konzept der denkenden bzw. vernünftigen Seele in den Bijoux indiscrets und insbesondere in diesem Kontext explizit an Descartes festgemacht wird, daran kann es keinen Zweifel geben, da Mangoguls im 27. Kapitel des ersten Buches über das Wesen der Frau geäußerte Ansicht im 26. Kapitel, Métaphysique de Mirzoza, eine lange Auseinandersetzung über das Wesen der Seele vorausgeht. Verkürzt lässt sich festhalten, dass in diesem Kapitel ein sensualistischer Seelen- und damit Erkenntnisbegriff einem explizit cartesianischen gegenübergestellt wird. Denn während Mirzoza, polemisch zugespitzt, davon ausgeht, dass die Seele je nach Entwicklungsstand des Menschen in den verschiedenen Regionen des Körpers angesiedelt sei, vertritt der Höfling Selim die Ansicht, die Seele sei im Kopf oder genauer in der „glande pinéale“, dem im Kopf befindlichen Endstück des langen Röhrenknochens, zu verorten.171 Für die Anhänger der von Selim vertretenen Auffassung gehen von dieser in der „glande pinéale“ verorteten Seele über die Nervenbahnen alle Befehle an die Körpergliedmaßen. Und letztlich gehen, wie von Mangogul im Sinne dieses Seelenbegriffes vermutet wird, überhaupt alle geistigen Aktivitäten, wie „[…] pense[r], imagine[r], réfléchi[r], juge[r], dispose[r], ordonne[r];“172 ohne jedwede körperlich-sinnliche Implikation von der Seele aus. Insofern trifft man hier auf einen mit der cartesianischen Vorstellung der eingeborenen Ideen zusammenfallenden Seelenbegriff, der anhand des Begriffes der „glande pinéale“173 eindeutig mit Descartes zu verrechnen ist. Der von Mirzoza in Opposi-
170 Vorneweg sei angemerkt, dass hiermit nicht unterstellt werden soll, Descartes oder die cartesianische Denkbewegung seien misogyner Ansichten verdächtig. 171 Vgl. DPV, Bd. 3, S. 122. 172 Ebd., S. 119. 173 Mangogul ordnet den Begriff bereits im 22. Kapitel des ersten Buches nahezu explizit eben diesem großen Philosophen zu: „Un grand philosophe plaçait l’âme, la nôtre s’entend, dans la
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tion dazu entwickelte sensualistische Seelenbegriff impliziert dagegen in satirisch überzogener Weise erkenntnistheoretische Tendenzen des 18. Jahrhunderts, denen zufolge der Mensch seine Erkenntnisse mit der Ausbildung seiner sinnlichen Fähigkeiten und vor allem im Zusammenspiel derselben erwirbt.174 An diesen erkenntnistheoretischen Hintergrund ist auch Mirzozas Ausführung anschließbar: Nous avons tous éprouvé dans l’enfance que l’âme assoupie reste des mois entiers dans un état d’engourdissement. Alors les yeux s’ouvrent sans voir, la bouche sans parler, et les oreilles sans entendre.175
Wenn Mangogul dann im 27. Kapitel des ersten Buches seine Ansichten über die Frau an das ausgewiesen cartesianische Konzept der denkenden Seele anschließt, das seinerseits über den gesamten Text hinweg diskreditiert wird, so ist bereits grundsätzlich davon auszugehen, dass auch die Ansicht über die Frau davon kontaminiert und deshalb nicht ernst zu nehmen ist.176 Darüber hinaus ist eine grundlegende Verbindung zwischen der Ansicht über die Frau und cartesianischer Logik geschaffen, die auf dem Analogieprinzip beruht. Denn sowohl das cartesianische Konzept der denkenden Seele wie auch die Ansichten über die Frau gründen auf reinen Apriorismen. In beiden Fällen handelt es sich um hypothetische Aussagen, die nicht an der empirischen Welt gemessen, sondern schlicht als wahrhaftig ausgegeben werden. Geht man zugleich davon aus, dass Mangoguls Ansicht über die Frau die eigentliche ‚Frauenfrage‘ obsolet macht, insofern als sie sich ihm gar nicht stellt, weil er sie für sich bereits grundlegend beantwortet hat, so sind die Ringproben als pseudoempirische Versuchsreihen entlarvt, die an sich nicht auf die Bestätigung oder Falsifizierung einer Ausgangshypothese abzielen. Ihre Funktion besteht dann nur noch darin, die Denkunfähigkeit der Frau anhand von Negativbeispielen zu illustrieren. Genau dies geschieht in den Ringproben der Bijoux indiscrets, wird doch die Frau durchweg als gänzlich triebgesteuertes Wesen inszeniert, das sich nicht vom Tier unterscheidet, wie das Beispiel der sodomiglande pinéale. Si j’en accordais une aux femmes, je sais bien moi, où je la plaçerais.“ DPV, Bd. 3, S. 98. 174 Beispielhaft für diese Ansicht ist Berkeleys im 18. Jahrhundert allgemein anerkannte These, wonach z. B. die Raumvorstellung nicht auf eine Perzeption zurückgeht, sondern aus dem Verhältnis einer Vielzahl miteinander kombinierter Sinneseindrücke, wie etwa den Gesichtsund Tasteindrücken, hervorgeht. Berkeleys Thesen schienen sich zudem durch die glückliche Heilung eines von Geburt an blinden Jungen zu bestätigen, der nicht sofort die volle Sehkraft erlangte, sondern das Sehen erst in einem mühsamen Prozess hatte erlernen müssen. Die literarische Umsetzung dieser Erkenntnis ist im 18. Jahrhundert weit verbreitet und findet sich in Swifts Gullivers Reisen, in Voltaires Micromégas und nicht zuletzt in Diderots Lettres sur les aveugles und in den Lettres sur les sourds et muets. Vgl. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 148–154. 175 DPV, Bd. 3, S. 120. 176 Die Entwertung dieser vorurteilsbeladenen Ansichten über die Frau spiegelt sich bereits im ironisch abwertenden Tonfall der Erzählerfigur wider, die sich dazu herablässt, Mangoguls Behauptungen in einem Erzählabschnitt, in der sie die Figurenrede komprimiert wiedergibt, zu kommentieren: „Alors il se mit à débiter toutes les impertinences [über die Frauen, Y. L.] qu’on a dites et redites, avec le moins d’esprit et de légèreté qu’il est possible, contre un sexe qui possède au souverain degré ces deux qualités“. DPV, Bd. 3, S. 127.
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tischen Hundebesitzerin Haria zeigt.177 Vor dem Hintergrund der angesprochenen Verbindung von vermeintlicher ‚Frauenfrage‘ und cartesianischer Erkenntnistheorie ist die durchgängige Bestätigung der gleichsam tierischen Triebhaftigkeit der Frau allerdings als entscheidender Marker im Sinne einer generellen Entwertung zu verstehen. Denn Descartes’ Begriff der vernünftig denkenden Seele steht in Opposition zum sinnlich-triebhaften Körper, der bei ihm nicht am Erkenntnisprozess beteiligt ist. Dementsprechend sind auch die Sinnesempfindungen vollständig aus seiner Erkenntnistheorie ausgeschlossen. Damit steht der Cartesianismus wiederum in Opposition zu dem empirisch-sensualistischen Erkenntnistheorem, im Rahmen dessen der Erkenntnisprozess gerade auf den Impulsen des triebhaften Körpers gründet. Denkt man allerdings in der Logik cartesianischer Erkenntnistheorie konsequent weiter, so muss mit der Illustrierung des rein triebhaften Wesens der Frau gleichsam ex negativo der Nachweis ihrer Unbeseeltheit und somit ihrer Denkunfähigkeit erbracht sein. Obschon Mangoguls misogynes Frauenbild von vornherein als unhaltbar ausgewiesen wird, weil es an cartesianische Denkweise angelehnt ist, die ihrerseits im Text wegen ihrer ‚Körperlosigkeit‘ entwertet wird, ist erst mit dem vermeintlichen Beleg der Unvernunft der Frau qua Triebhaftigkeitsnachweis die entscheidende Entwertung der misogynen Ansicht Mangoguls erbracht. Denn gerade am Triebbegriff lässt sich die expliziteste Verbindung zwischen cartesianisch-apriorischer und somit von empirisch-sensualistischen Aspekten befreiter Erkenntnisbildung und einer voreingenommen unempirischen Ansicht über die Frau festmachen. Am Beispiel der Ansichten Mangoguls über die Frau wird also der Pseudoempirismus der vermeintlichen Beweisführung entlarvt und damit die Ansicht über die Frau als unempirische Behauptung ad absurdum geführt. Damit fällt dieser Behauptungstyp mit den Apriorismen cartesianischer Seelen- bzw. Erkenntnistheorie zusammen, die damit ebenfalls entscheidend entwertet werden. In diesem entwertenden Sinne kann auch von einer konsistenten Verknüpfung von vermeintlicher ‚Frauenfrage‘ und Ringproben gesprochen werden. Diese im Zusammenspiel erzählstruktureller Elemente angelegte Entwertung von vermeintlicher ‚Frauenfrage‘ und damit verbunden von cartesianischer Erkenntnistheorie entfaltet allerdings erst auf der Grundlage eines logischen Schlusses, den der Text ebenfalls impliziert, ihre endgültige Wirkung. So ist der angebliche Tatbestand der Unbeseeltheit und damit der Denkunfähigkeit der Frau, der dank des Nachweises der uneingeschränkten Triebhaftigkeit der Frau bestätigt und illustriert werden soll, allein deshalb gänzlich absurd, weil er materiell und somit empirisch nicht nachweisbar ist. Bereits für die Grundannahme, es gäbe prinzipiell beseelte Menschen, kann es keine materielle Beweisgrundlage geben, ist doch die Seele in car-
177 Dementsprechend fasst Mangogul die von Harias „bijou“ offenbarten Geschehnisse für Mirzoza zusammen: „Pourrez-vous croire que les quatre chiens d’Haria ont été les rivaux, et les rivaux préférés de son mari, et que la mort d’une levrette a brouillé ces gens-là, à n’en jamais revenir.“ DPV, Bd. 3, S. 105.
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tesianischer Denkweise immaterieller Natur.178 Wie aber sollte die immaterielle, nicht stoffliche Seele anhand der ausgedehnten Stofflichkeit nachgewiesen werden können? Der Seelenbeweis kann folglich ebenso wenig empirisch angetreten werden, wie die Inexistenz der Seele im Umkehrschluss durch das Vorhandensein einer exklusiv triebgesteuerten Körperlichkeit belegt werden kann. Im Sinne empirischer Glaubwürdigkeit kann lediglich die Stofflichkeit selbst nach ihren Seinsbedingungen befragt werden. Empirisch überprüfbar wäre demzufolge, ob ein Mensch über einen funktionierenden Körper und damit über ein ausgeprägtes Empfindungsvermögen verfügt oder nicht. Endgültig ist damit das cartesianische Weltbild desavouiert, das die Existenz einer immateriellen Seele mit eingeborenen Ideen propagiert und zudem paradoxerweise in Anspruch nimmt, die Existenz oder Nichtexistenz der immateriellen Seele über die Materialität zu beweisen. Vor diesem Entwertungshintergrund kann die vermeintliche ‚Frauenfrage‘ schließlich auf ihren ideologischen Gehalt reduziert werden. Darunter ist zu verstehen, dass die misogyne Behauptung des Un-Verstandes der Frau letztlich auf einen absurden vorurteilsbehafteten Diskurs zurückgeht, der seinerseits auf einer von apriorischen Schlüssen geleiteten Denkform basiert, die einer tatsächlich empirischen Naturanschauung allein aufgrund ihrer Eingangsvoraussetzungen nicht standhält. Wenn nun vermittels der in den Ringproben veranschaulichten ‚Frauenfrage‘ auch die oben erwähnte cartesianische Denkform ad absurdum geführt wird, so können die zur ‚Erforschung‘ der Frau angelegten Ringproben vor dem aufgezeigten Entwertungshintergrund im Gegenzug auch als Veranschaulichung der neuen, im Text zentral zugrunde gelegten, empirisch-sensualistischen Erkenntnistheorie gelesen werden. Denn die unter pseudoempirischen Gesichtspunkten zur Bestätigung Mangoguls misogyner Ansichten instrumentalisierten Ringproben entwickeln, sobald sie nicht mehr im Sinne materiell unnachweislicher Apriorismen verwendet werden, eine tatsächlich empirische Aussagekraft: Die lizenziösen Ringproben dienen dann nur mehr der inszenierten Überprüfung des weiblichen Körpers, dessen grundlegende Funktionsfähigkeit veranschaulicht wird. Dabei ist an sich schon beredt, dass es die „bijoux“ sind, die Zeugnis über den Frauenkörper ablegen, sind sie doch schlechthin als Zeichen oder Chiffre des empfindsamen Körpers lesbar. Zudem sprechen sie die Sprache der Leidenschaft, die den empfindsamen Körper mit der ihm eigenen Dynamik antreibt, und geben ihm eine vernehmbare Stimme. In diesem Sinne führen die „bijoux“ ein gleichsam vom Bewusstsein ihrer Besitzerinnen unabhängiges Schattendasein – ein Umstand, der im Text beständig illustriert wird.179 Im Sinne einer empirisch-sensualistischen 178 Der cartesianische Widerspruch, auf den die Philosophie der Aufklärung im Allgemeinen und Diderot im Kontext der Bijoux indiscrets aufmerksam macht, ist darin zu sehen, dass die immaterielle und unausgedehnte Seele gleichwohl eine materielle Verankerung in der Stofflichkeit der glande pinéale haben soll. 179 Beispielhaft hierfür ist Fatmés empörter Aufschrei im 25. Kapitel des ersten Buches, Questions de droit, angesichts der verräterischen Rede ihres „bijou“, das ungeniert über seine Wünsche spricht: „Encore douze heures, et nous serons vengés. Il périra, le traître, l’ingrat, et son sang sera versé… Fatmé effrayée du mouvement extraordinaire qui se passait en elle, et frappée de la voix sourde de son bijou, y porta les deux mains, et se mit en devoir de lui cou-
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Erkenntnistheorie ist in den Leidenschaften der Ursprung aller Sinneswahrnehmung bzw. aller sinnlichen Empfindungen zu sehen,180 sodass in dieser Art der Darstellung empfindsamer Frauenkörper das Paradigma aufklärerischer Erkenntnistheorie tatsächlich in einem explorativen Rahmen zur Anschauung kommt. Dabei wird zugleich die entwertete cartesianische Erkenntnistheorie überschrieben. In diesem Zusammenhang schließlich entfaltet die lizenziöse Gattung, als eine den Frauenkörper explorierende und veranschaulichende narrative Fiktion, ihre volle Funktionalität jenseits eines divertissement um seiner selbst willen, ohne jedoch die komisch-satirischen und vor allem die erotischen Aspekte des Textes zu relativieren oder gar nachträglich zu negieren. Entscheidend aber ist, dass das im Rahmen der Ringproben veranschaulichte aufklärerische Erkenntnistheorem sogleich an der entwerteten misogynen Ansicht über die Frau erprobt werden kann bzw. die Ansicht kann im Lichte aufgeklärter Erkenntnistheorie in einer Leserperformanz umgeschrieben werden. Vor dem Hintergrund der Wirkungsmächtigkeit des empirisch-sensualistischen Erkenntnistheorems, dass Erkenntnis auf die Grundlage empfindsamer Körperlichkeit stellt, bedeutet das in der Konsequenz, dass der Frau als empfindsamem Wesen par excellence in Opposition zu Mangoguls Behauptung eine idealtypische Denkbefähigung attestiert werden muss, setzt jedwede Erkenntnis des Subjekts doch grundsätzlich Empfindsamkeit voraus. Paradoxerweise ist die Frau aufgrund einer wirkungsästhetisch angelegten subversiven Ästhetik also keineswegs Gegenstand einer zweifelhaften moralischen Debatte, wie es Aussagen der Textoberfläche nahe legen, vielmehr dienen die lizenziösen Frauenbilder der eben vorgeführten Veranschaulichung einer empirisch-sensualistischen Weltanschauung, die wiederum Grundlage aller Erkenntnis sein soll, wie das zentrale Kapitel herausstellt. Dabei wird gewissermaßen als Grundvoraussetzung das cartesianische Weltbild desavouiert, das die Existenz einer immateriellen Seele mit eingeborenen Ideen voraussetzt, wobei die Existenz oder Nichtexistenz dieser immateriellen Seele paradoxerweise und wie selbstverständlich über eine materielle Beweisführung nachweisbar sein soll.
I.3 FAZIT Abschließend werde ich die den Text bestimmende Korrespondenz von Behauptung und Veranschaulichung charakterisieren, deren strukturelle Entsprechung in dem Zusammenspiel von Rahmenhandlung und Digression zu sehen ist. Wie schon am Beispiel der epochal stilbildenden Lettres persanes vorgeführt, kann auch für die Bijoux indiscrets davon gesprochen werden, dass das Verhältnis von per la parole.“ DPV, Bd. 3, S. 115 f. Auch das Bild der deux dévotes (17. Kapitel, erstes Buch), die sich vor dem unerwünschten Gerede ihrer „bijoux“ prophylaktisch mit Maulkörben zu schützen versuchen, ist diesbezüglich sehr beredt. Vgl. DPV, Bd. 3, S. 82–86. 180 Vgl. Condillac, Extrait raisonné du traité des sensations, S. 7 ff. bzw. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 135 ff.
I.3 Fazit
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Digression und Rahmenhandlung von der Figur eines performativen Widerspruchs bestimmt wird. Entsprechend wird das empirisch-sensualistische Erkenntnistheorem, das in der zentralen Digression als Behauptung zugrunde gelegt ist, in der Rahmenhandlung vermeintlich veranschaulicht und formal vorgeführt, indem eine empirische Versuchsanordnung simuliert wird. In diesem Sinne werden auf der Ebene des Figurendiskurses die Ringproben scheinbar zu Beweismitteln für die moralische Depraviertheit der Frau und de facto für ihre Denkunfähigkeit erhoben. Doch genau in der Aussage der Denkunfähigkeit der Frau, die an die Vorführung ihrer Leidenschaftlichkeit geknüpft wird, ist der Anhaltspunkt zu sehen, der diese Aussage als eine pseudoempirische und den cartesianischen Apriorismen analoge ausweist. Insofern wird in umgekehrter Weise formal vorgeführt, was in der zentralen Digression behauptet wird. Das Bedeutungspotenzial des Textes ist damit aber noch nicht ausgeschöpft, denn es lässt sich weiter argumentieren, dass gerade in der Figur des performativen Widerspruchs die wirkungsästhetische Einlösung des sensualistisch-empirischen Paradigmas angelegt ist. Darunter ist Folgendes zu verstehen: Im Rahmen der Digression wird letztlich eine zentrale rationale Behauptung aufgestellt, die als erkenntnistheoretisches Paradigma der Aufklärung ausgewiesen wurde, die an sich aber noch keinen Erkenntniswert haben kann, weil sie nicht aus tatsächlichen Erfahrungen hervorgegangen ist. Diesen Erkenntniswert scheint auch die Geschichte der Ringproben des Sultans Mangogul als negativ veranschaulichende Inszenierung nicht bereitzuhalten, insofern als hier gerade das Scheitern eines empirischen Erkenntnisprozesses vorgeführt wird. Allerdings werden in dem Maße, wie das Scheitern der Beweisführung weiblicher Unvernunft und Denkunfähigkeit vorgeführt und als Pseudoempirie entlarvt wird, die Bilder exzessiv in Szene gesetzter Empfindsamkeit, die ursprünglich einer Pseudobeweisführung dienen sollten, zum Ausdruck der formalen Vorführung des Paradigmenwechsels von der cartesianischen Hypothetik zum aufgeklärten sensualistischen Empirismus in seiner paradigmatischen Zuspitzung. Als wirkungsästhetisch veranlagtes Resultat dieses performativen Widerspruches, der das Verhältnis von Rahmenhandlung/Ringproben und Digressionen kennzeichnet, lässt sich festhalten, dass die Frau, deren empfindsames Potenzial in allen nur denkbaren Simulationen erfahrbar gemacht wird, als schlechthin erkenntnisbegabt einzustufen ist, wenn der Leser das zugrunde gelegte empirisch-sensualistische Erkenntnistheorem auf ihren ‚Fall‘ anwendet. Insofern wird in den Bijoux indiscrets gerade am Gegenstand des misogynen Topos der unvernünftigen, weil triebgesteuerten Frau eine Leserperformanz eingefordert, die darin besteht, die strukturell angelegte Veranschaulichung des erkenntnistheoretischen Paradigmas der Aufklärung im Akt der Umwertung dieses misogynen Topos zu einer tatsächlich erfahrenen und damit assimilierten Erkenntnis zu machen. Darin ist die funktionale Performativität des Textes zu sehen. Die Funktion des fiktionalen Diskurses geht insofern weit über eine einfache Veranschaulichung hinaus, weil das zu illustrierende Erkenntnistheorem nur als tatsächlich erfahrbare Erkenntnis den eigenen Prämissen gerecht und so zu einer assimilierbaren Erkenntnis wird. Mit anderen Worten, nur die Fiktion mit ihrer
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Teil I
Simulation von Erlebnis- und Erfahrungsräumen birgt das performative Potenzial, um den Paradigmenwechsel von einem auf apriorischen Behauptungen gründenden Erkenntnistheorem zu einem auf sinnlichem Erleben basierenden als tatsächlich erfahrbare Erkenntnis zu vollziehen. Angesichts dieses performativen Wissensvollzuges kann nicht behauptet werden, dass Diderot seine erkenntnistheoretischen Entwürfe mit dogmatischem Nachdruck in die Welt setzten würde. Vielmehr nutzt er die Fiktionskunst im Sinne eines Explorationsraumes, um mögliche Thesen vorzuführen und dabei ihre lebensweltliche Verankerung an den Leser zu delegieren. Er muss die praktischen Konsequenzen ziehen und somit die reine Erkenntnistheorie in eine Erkenntnispraxis überführen. Zugleich aber zeichnet sich in dieser fiktionalen Vermittlung einer Erkenntnistheorie und ihrer praktischen Konsequenzen auch der zutiefst skeptische Ansatz des Philosophen ab. Denn obschon die Ablösung der cartesianischen Erkenntnistheorie mit allem Nachdruck betrieben wird, vermitteln die Bijoux indiscrets den Eindruck, dass mit der empirisch-sensualistischen Erkenntnistheorie nicht weniger, sondern mehr Fragen auftreten. Das jedenfalls liegt in der Natur einer Epistemologie, die apriorische Erkenntnisgewissheiten ausschließt. Eine notwendige Folge daraus ist die eingehende Erklärung der Erkenntnisgenese. Obschon die Bijoux indiscrets keine Antworten auf diese Fragen bereithalten, führen sie doch vor, wie prekär Erklärungsversuche auch auf der Grundlage sensualistischer Erkenntnistheorie sind. Die Auseinandersetzung zwischen Mirzosa als Vertreterin einer streng sensualistischen und Mangogul bzw. Selim als Vertretern cartesianischer Epistemologie im Kapitel Métaphysique de Mirzoza ist in dieser Hinsicht beredt. Denn ein unreflektierter Sensualismus, wie ihn Mirzoza hier offenbart, ist ebenso ungeeignet, den Erkenntnisprozess überzeugend zu erklären, wie das von den sinnlichen Empfindungen losgelöste cartesianische Axiom: Aussi ne prétends-je pas, répliqua Mirzoza, que l’âme se fixe toujours dans les pieds: elle s’avance, elle voyage, elle quitte une partie, elle y revient pour la quitter encore; mais je soutiens que les autres membres sont toujours subordonnés à celui qu’elle habite. Cela varie selon l’âge, le tempérament, les conjonctures; et de là naissent la différence des goûts, la diversité des inclinations, et celle des caractères. N’admirez-vous pas la fécondité de mon principe? Et la multitude des phénomènes auxquels il s’étend, ne prouve-t-elle pas sa certitude?181
Die in diesem Ausschnitt zur Geltung kommende Satire einer einseitigen und sich absolut setzenden sensualistischen Haltung, die etwa die Bedeutung des Gehirns für den empfindsamen Körper vernachlässigt,182 wird an der komischen Überzeichnung von Mirzozas Einfällen ablesbar. Keine Anschauung – gerade das legt der empiristische Anteil des im Text zur Geltung gebrachten Erkenntnistheorems nahe – kann und darf jemals vor ihrer Falsifizierung sicher sein. Zumal dann, wenn es um konsistente Antworten auf Fragen geht, die sich angesichts nackter Tatsachen stellen. In das Bild dieser skeptischen Anklänge passt auch die im Paratext des Rêve de Mangogul eingestreute Zurückhaltung, die jenes zentrale Kapitel mit seinen erkenntnistheoretischen Implikationen lediglich als Le meilleur peut181 DPV, Bd. 3, S. 123. 182 Vgl. ebd., S. 122.
I.3 Fazit
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être ausweist. Implizit kündigt sich hier die Möglichkeit, wenn nicht die Notwendigkeit einer weitergehenden Auseinandersetzung mit den zentralen Aspekten der Erkenntnistheorie an, zumal alle Fragen hinsichtlich einer spezifischen Herleitung der Erkenntnis noch vollständig unbeantwortet sind.
TEIL II ÜBER DIE PROBLEMATISIERUNG DES MATERIALISMUS: LE RÊVE DE D’ALEMBERT ALS FIKTIONALE TRANSZENDIERUNG MATERIALISTISCHER ERKENNTNISTHEORIE II.1 EINFÜHRUNG Am Beispiel der Bijoux indiscrets habe ich den Paradigmenwechsel von einer cartesianisch-apriorischen zu einer empirisch-sensualistischen Erkenntnistheorie vorgeführt und darüber hinaus gezeigt, in welcher Weise das neue Paradigma mittels einer performativen Ästhetik in seiner Wirkungsmächtigkeit erfahrbar und damit affirmierbar gemacht wird. Damit ist aber noch nichts über die genauere Funktionsweise des Erkenntnisprozesses ausgesagt. Denn wie das Denken auf der Grundlage der neuen erkenntnistheoretischen Prämissen an sich zu verstehen ist oder anders ausgedrückt, wie aus den Sinneseindrücken de facto einfache Ideen, komplexe Begriffe bzw. Erkenntnisse hervorgehen, darüber wird in den Bijoux indiscrets nichts ausgesagt.183 Diese Frage stellt im Rahmen einer anticartesianischen Erkenntnistheorie jedoch die zentrale Herausforderung dar, da die Ideen in cartesianischer Vorstellung als transzendente Apriorismen verstanden werden. Deshalb ist grundlegender Anspruch des materialistischen Denkens empirischsensualistischer Prägung, den Erkenntnisprozess ausgehend von der grundsätzlichen Empfindungsbefähigung empirisch nachvollziehbar zu veranschaulichen.184 Vor dem Hintergrund dieses Anspruches unternimmt Diderot in seinem fiktionalen Dialog Le Rêve de d’Alembert auf der Grundlage jahrelanger Beschäftigung mit Naturforschung und Naturbetrachtung eine skizzenhafte Zusammenfassung materialistischer Grundlagenhypothesen.185 Letztere sind wiederum Voraussetzung für eine weiterführende Erkenntnistheorie, die aber keinesfalls als Abschluss Diderots diesbezüglicher Auslassungen verstanden werden darf. Er hat sich, wie die Éléments de physiologie belegen, zumindest bis 1778 und damit bis zum Ende
183 In den Bijoux indiscrets geht es lediglich um die Inszenierung des Paradigmenwechsels, wobei vorgeführt wird, dass die Ideen nicht apriorisch transzendental vermittelt werden, sondern auf einen Erfahrungsprozess zurückgehen, der auf der generellen Empfindsamkeit des anthropologischen Subjektes beruht. 184 Der französische Materialismus ist über Condillacs Sensualismus vermittelt aus dem englischen Empirismus hervorgegangen. Allen drei Strömungen ist die Abgrenzung vom scholastischen und rationalistischen Prinzip der eingeborenen Ideen und das Konzept einer Weltvorstellung, die durch die Vermittlung der Sinne entsteht, gemein. 185 Diderots 1753 veröffentlichter Text Pensées sur l’interprétation de la nature gibt angesichts des 1769 entstandenen Rêve de d’Alembert einen Eindruck von dem hier gemeinten zeitlichen Rahmen, in den insbesondere Diderots Arbeit an der Encyclopédie fällt.
II.1 Einführung
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seines Arbeitslebens im Rahmen seiner naturphilosophischen Betrachtungen mit erkenntnistheoretischen Fragen auseinandergesetzt.186 Für meine Untersuchung ist entscheidend, dass Diderot diese Auseinandersetzung immer wieder in fiktionale Texte hineingetragen oder vielmehr gezielt in diesem Rahmen behandelt hat.187 Neben den Bijoux indiscrets und dem Rêve de d’Alembert, wo dies in sehr offensichtlicher Weise geschieht, ist abschließend vor allem Diderots literarisches Alterswerk, sein Roman Jacques le fataliste et son maître, in die Reihe der Texte zu stellen, die erkenntnistheoretische Fragen zum Gegenstand haben. Dieser Annahme entsprechend soll nach den Bijoux indiscrets auch am Rêve de d’Alembert untersucht werden, warum diese Auseinandersetzung im Modus der Fiktion und nicht im Rahmen eines Traktates vorgestellt wird. Allerdings wird der in diesem Kapitel gegebene Einblick in Diderots materialistische Naturphilosophie auf die im Rêve de d’Alembert vorgestellten hypothetischen Grundlagen und deren Zuspitzung im Hinblick auf weiterführende erkenntnistheoretische Implikationen beschränkt bleiben. Im Umkehrschluss gilt deshalb, dass hier weder der Platz für eine Darstellung der Entwicklung von Diderots Naturphilosophie ist, noch kann die thematische Vielfalt dieser Naturphilosophie aufgefaltet werden. Um diese Auslassung zumindest ansatzweise zu kompensieren und um meine auf die erkenntnistheoretischen Implikationen des Rêve de d’Alembert konzentrierte Untersuchung im Forschungskontext auf eine spezifischere Fragestellung hin zuzuschneiden, werde ich zunächst einen orientierenden Einblick in mir zentral erscheinende Tendenzen der mit der Naturphilosophie Diderots beschäftigten Forschung geben. Obschon Diderots naturphilosophische Betrachtungen in älteren Forschungsarbeiten, ohne die ideologische Ausrichtung des Autors angemessen zu berücksichtigen, teilweise als widersprüchliche und konfuse Ergüsse eines ungeordneten
186 Jean Mayer stellt in seinem Vorwort der Éléments de physiologie die komplexe und zum Teil ungeklärte Manuskriptsituation jenes Textes vor, wobei er auch auf die Hypothese eingeht, der zufolge Diderot nach 1778 einen abschließenden Entwurf der Éléments de physiologie vorgelegt habe. Vgl. Denis Diderot, Œuvres complètes, Bd. 17: Éléments de physiologie, hg. v. Herbert Dieckmann/Jacques Proust/Jean Varloot, Hermann, Paris 1987, S. 272 f., Sigle: DPV. Die in jedem Fall sehr ausdauernde Beschäftigung mit der Physiologie und der Umstand, dass Diderot am Ende seines Lebens den Entwurf einer wissenschaftlichen Kompilation des Wissens über die Physiologie des Menschen gewagt hat, ist Ausdruck seines in den Bijoux indiscrets wie auch im Rêve de d’Alembert vermittelten Credos der Notwendigkeit einer empirischen Erfassung der Welt. Nur auf diese Weise können für Diderot relevante und verlässliche Aussagen über die Natur getroffen werden. Mag die im Rêve de d’Alembert vermittelte Naturkonzeption aufgrund der weitreichenderen Möglichkeiten, die ein fiktionaler Entwurf bietet, genialischer in ihrem Wurf erscheinen, die abschließende Arbeit an einer Kompilation des Wissens über die Physiologie zeigt, welchen Stellenwert Diderot dem empirischen Wissen einräumt, das seinem Credo zufolge Grundlage aller Behauptungen mit Anspruch auf Wahrhaftigkeit ist. 187 Wilda Anderson attestiert Diderots literarischen Texten eine materialistische Ausrichtung, die sie auch für die Kohärenz seines Gesamtwerkes verantwortlich macht. Verknüpft hat sie diese Ansicht mit der These, dass sein Gesamtwerk einer „enlightenment activity“ entspringe. Vgl. Wilda Anderson, Diderot’s Dream, Hopkins University Press, London 1990, S. 2.
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Teil II
Geistes eingestuft werden,188 finden sich auch in älteren Untersuchungen umsichtigere Erklärungsansätze für die vermeintliche Inkohärenz und die angeblichen Meinungsumschwünge in Diderots Naturanschauungen. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang Jean Lucs Erklärung, der zufolge aufgrund der methodischen Unsicherheiten der neuen naturphilosophischen Betrachtungsweisen und der Unsicherheit des zeitgenössischen Wissens im Allgemeinen der Widerspruch selbst zum geistigen Epocheninventar gehört. Diese Widersprüchlichkeit spiegle sich in den nur skizzenhaften Entwürfen der Werke Diderots wider.189 Für Mornet sind die Kontradiktionen Ausdruck der an sich unlösbaren Lebenswidersprüche, wobei er Diderot auf diese Weise insgeheim eine Ästhetik des Paradoxes zuschreibt.190 In diese Richtung geht auch Vernières Ansatz, der in Diderots Art der Widersprüchlichkeit den Ausdruck einer anthropologischen Konstante („la condition biologique de l’homme“191) sieht. Dagegen erkennt Crocker in der widersprüchlichen Anlage von Diderots Texten eine gewollte Denkform,192 die Potulicki als dialektisches Erkenntnisprinzip ausweist.193 In der Folge dieser um Kohärenzstiftung bemühten Lesarten hat sich auch in Bezug auf Diderots ideologische Verortung eine einheitliche Zuschreibung durchgesetzt: Angesichts der lange Zeit gültigen Ansicht, Diderot habe im Verlauf seines literarisch-philosophischen Schaffens wechselnden Naturanschauungen angehangen,194 hat sich Winter für eine konstante materialistische Weltanschauung in seinem Werk ausgesprochen.195 Auch in nachfolgenden Forschungsarbeiten, die Diderots Philosophie zum Gegenstand haben, ist diese Ansicht nicht mehr bezweifelt worden. Die grundsätzlich materialistische Denkweise Diderots ist in neueren Forschungsarbeiten auch angesichts der verstärkten Beschäftigung mit Diderots Vorliebe für das Denken des Widersprüchlichen, das anerkanntermaßen als Charakte-
188 Den Tatbestand der Konfusion sieht Henri Lefebvre in der Réfutation suivie de l’ouvrage d’Helvétius intitulé L’Homme gegeben. Vgl. Henri Lefebvre, Diderot, Les Éditeurs Réunis, Paris 1949, S. 181. Daniel Mornet erklärt Diderots komplexe Gedankengänge mit Diderots Vorliebe für das geistige Vagabundieren, dem der Leser nicht immer folgen kann. Vgl. Daniel Mornet, Diderot: l’homme et l’œuvre, Boivin, Paris 1941, S. 197 f. 189 Vgl. Jean Luc, Diderot: l’artiste et le philosophe, Editions sociales internationales, Paris 1938, S. 10. 190 Vgl. Mornet, Diderot: l’homme et l’œuvre, S. 197 f. 191 Paul Vernière, Introduction, in: Diderot, Œuvres philosophiques, hg. v. Paul Vernière, Garnier, Paris 1966, S. XXIII. 192 Vgl. Lester G. Crocker, Diderot’s Chaotic Order, Princeton University Press, Princeton 1974, S. 50. 193 Vgl. Elisabeth Potulicki, La modernité de la pensée de Diderot dans les œuvres philosophiques, Nizet, Paris 1980, S. 32. Auf Potulickis Studie sei in diesem Zusammenhang auch aufgrund der ausführlichen Zusammenfassung der Diderotrezeption bis 1980 verwiesen. Vgl. ebd., S. 11–35. 194 Cassirer schreibt Diderot in diesem Zusammenhang zu, er habe vom Atheismus über den Pantheismus und Materialismus schließlich zu einem dynamischen Panpsychismus gefunden. Vgl. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 96. 195 Vgl. Ursula Winter, Der Materialismus bei Diderot, Droz, Genf 1972, S. 7–13.
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ristikum seines philosophischen Werkes ausgewiesen wird, nicht mehr in Zweifel gezogen worden. Dabei wird in Diderots Vorliebe für die Paradoxien keine den Materialismus zurücknehmende, sondern eine ihn skeptisch beleuchtende Haltung erkannt, die wiederum auf die Einsicht Diderots in die grundsätzlichen Grenzen positivistisch finiter Naturbeschreibung zurückgeführt wird. In diesem Zusammenhang hat Baertschi in Abgrenzung zu Winter hervorgehoben, dass Diderot den Materialismus keineswegs als hinreichendes Erklärungsmodell verstanden habe, da für ihn nicht nachweisbar gewesen sei, in welcher Weise die Verbindung zwischen der unbelebten Materie und der „sensibilité“ zu denken sei.196 Baertschi zitiert für seine Argumentation eine Stelle aus der Réfutation suivie de l’ouvrage d’Helvétius intitulée L’Homme: „[…] et la sensibilité générale des molécules de la matière n’est qu’une supposition, qui tire toute sa force des difficultés dont elle débarrasse, ce qui ne suffit pas en bonne philosophie.“197 Diderot, so Baertschi weiter, räume hier zumindest den mysteriösen Charakter der vermeintlichen Verbindung von Materie und sensibilité ein.198 Widersprüchlich ist dabei, dass Diderot auf eben jener Verbindung seinen monistischen Materialismus gründet, der als Gegenkonzept zum cartesianischen Dualismus mit seinem vom Körper unabhängigen Seelenbegriff zu verstehen ist. Dass Diderot trotz seiner Zweifel an der monistischen Hypothese einer Verbindung von Materie und sensibilité festgehalten habe, ist für Baertschi aber nicht Ausdruck der Inkonsequenz, sondern darauf zurückzuführen, dass der Aufklärungsphilosoph nicht mehr hinter den Anspruch einer auf immanenten Erfahrungen gründenden Erkenntnis zurückfallen konnte. Andernfalls hätte er einem im Geiste cartesianischer Metaphysik stehenden Transzendenzbegriff als epistemologischem Erklärungsmodell das Wort reden müssen.199 Auch Stenger hebt in seiner Untersuchung, die er vornehmlich am Rêve de d’Alembert festmacht, das selbstreflexive und kritische Potenzial Diderots materialistischer und zugleich dem Widerspruch verpflichteten Denkweise hervor. Insbesondere betont er in diesem Zusammenhang, wie sich Diderot in Abgrenzung von den komplexitätsreduzierenden mechanistischen Modellen La Mettries und d’Helvétius’ dagegen verwehrt habe, die Naturphänomene auf eine eindeutige und nachvollziehbare Ursache zurückzuführen, obschon er an die Ursachenkette ge-
196 Der Begriff der sensibilité wird im Rahmen materialistischer Grundlagenhypothesen im Sinne einer vitalistischen Ursprungskraft, die der Materie inhärent ist, verwendet. Vgl. zur Begriffsgeschichte der sensibilité auch Gerhard Sauder, Empfindsamkeit, Bd. 1: Voraussetzungen und Elemente, Metzler, Stuttgart 1974, S. 1–4; Frank Baasner, Der Begriff „sensibilité“ im 18. Jahrhundert. Aufstieg u. Diedergang eines Ideals, Winter, Heidelberg 1988. 197 Zit. nach Bernard Baertschi, Les rapports de l’âme et du corps. Descartes, Diderot et Maine de Biran, Vrin, Paris 1992, S. 112 bzw. Denis Diderot, Œuvres complètes, Bd. 24: Réfutation d’Helvétius suivie de l’ouvrage d’Helvétius intitulé L’Homme, hg. v. Herbert Dieckmann/Jacques Proust/Jean Varloot, Hermann, Paris 1981, S. 525, Sigle: DPV. 198 Vgl. Baertschi, Les rapports de l’âme et du corps, S. 113. 199 Vgl. ebd.
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glaubt habe, wenn auch nur im Sinne einer Möglichkeit und nicht als unverbrüchliche Tatsache.200 Quintili kündigt in seinem ausdrücklich der kritischen Perspektive verschriebenen Text La pensée critique de Diderot an, Diderots skeptischen Materialismus mit dem transzendentalen Materialismus Kants konfrontieren zu wollen. Auch wenn er dieses Vorhaben letztlich nicht in die Tat umsetzt, versäumt er es nicht, Diderot zumindest einen Transzendentalbegriff zuzuschreiben, der sich aus dem immanenten Verstehen des erkenntnisbefähigten Wesens ableitet: Le pensant (agissant, sentant) chez Diderot, cherche et donne une légitimation de soi dans (et par) le connaître dans le monde du fini empirique, reconnu en tant que tel, dans son ensemble, comme un fini déterminé par les lois de la nature de la matière. En tant qu’individu concret, ce pensant est dans la finitude expériencielle de la nature, il doit s’y confronter sans hésitations théorétiques.201
Das hier geschilderte Unterfangen, demzufolge das denkende Subjekt in der Reflexion sein empirisch begrenztes Dasein erkennt, das wiederum von der Natur determiniert wird, stelle Diderot sodann in einen übergeordneten Rahmen, so Quintili weiter. Denn das denkende Subjekt sei für Diderot zugleich als „infini, ouvert et indéterminable en tant que sujet biologique universel, en tant qu’espèce“ zu verstehen.202 Diese Denkhaltung wiederum definiert Quintili als „transcendentalisme biologique“.203 Darunter versteht er, in Abgrenzung zu Diderots immanentem Denken des biologischen Subjekts im Rahmen einer finiten evolutionären Kette – das Subjekt ist nur in diesem geschlossenen empirischen Rahmen der Naturanschauung imstande, sich selbst zu denken – das Konzept des Philosophen, demzufolge das biologische Subjekt als Teil seiner Gattung und als biologisches Wesen schlechthin in einer unabgeschlossenen, unendlichen Konstellation stehe. Stenger ordnet diese Anschauung Diderots allgemeingültiger ein und spricht von der Materie im Allgemeinen, die für Diderot einem ewigen und unabgeschlossenen Wandel unterliege. Die Materie an sich sei unteilbar und als universelles, endloses, dynamisches Ganzes zu begreifen, das auf Interferenzen, Transformationen, Metamorphosen und einem ewigen Fluss beruhe. Dieser anarchische Fluss der Moleküle habe keine Ordnung und keine spezifische Ausrichtung.204 200 Vgl. Gerhard Stenger, Dature et liberté chez Diderot après l’Encyclopédie, Universitas, Paris 1994, S. 151–178. 201 Paolo Quintili, La pensée critique de Diderot. Matérialisme, science et poésie à l’âge de l’Encyclopédie 1742–1782, Champion, Paris 2001, S. 22. 202 Ebd. 203 Ebd., S. 23. 204 Vgl. Stenger, Dature et liberté chez Diderot après l’Encyclopédie, S. 174. Diese Anschauung führt Stenger insbesondere auf eine Passage des Rêve de d’Alembert zurück: „Toute chose est plus ou moins une chose quelconque, plus ou moins terre, plus ou moins eau, plus ou moins air, plus ou moins feu; plus ou moins d’un règne ou d’un autre… Donc rien n’est de l’essence d’un être particulier… Non sans doute, puisqu’il n’y a aucune qualité dont aucun être ne soit participant… Et que c’est le rapport plus ou moins grand de cette qualité qui nous la fait attribuer à un être exclusivement à un autre… Et vous parlez d’individus, pauvres philosophes! Laissez là vos individus; répondez-moi. Y a-t-il un atome en nature rigoureusement sem-
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Was Quintili als Diderots transzendentalen Biologismus bezeichnet, wird von Stenger als Essenz Diderot’scher Metaphysik ausgewiesen. Bei beiden wird damit zum Ausdruck gebracht, dass sich Diderot vor allem den eindeutigen Aussagen, den essenzialistischen Reduktionen verweigert. So lassen sich zwar Erklärungen für die Ursachen des Denkens oder die Erkenntnisse eines biologischen Subjektes finden, doch diese Ursachen als endgültige oder ursprüngliche Essenzen anzunehmen, das ist vor dem Hintergrund einer unendlichen Ursachenkette und sich stetig wandelnder materieller Beziehungen und Neuordnungen der Teilelemente der Materie nicht denkbar. Transzendental ist in diesem Sinne all das, was den Bereich der Erfahrung nach materialistischen Gesetzen in unbestimmbarer Weise konditioniert und determiniert, an sich aber irreduzibel bleibt. In welcher Weise Quintili Diderots Materialismus mit dem kantianischen Transzendentalbegriff zu konfrontieren gedenkt, deutet er nur an. Er stellt den Transzendentalbegriff vor, den Deleuze für Kant in Anschlag bringt: „Transcendantal qualifie le principe d’une soumission nécessaire des données de l’expérience à nos représentations a priori, et corrélativement d’une application nécessaire des représentations a priori à l’expérience.“205 Dieses Konzept soll wiederum mit Diderots Konzept des biologischen Individuums abgeglichen werden. Da dieses Vorhaben im Rahmen von Quintilis Text nicht durchgeführt wird, lässt sich nur mutmaßen, was er im Einzelnen darunter versteht. Auch Potulicki verweist auf die Nähe Diderots zu Kant, die für sie darin besteht, dass Diderot wie der deutsche Aufklärungsphilosoph die Wechselwirkung von apriorischen Verstandesleistungen und Erfahrungen in seinem Denken berücksichtigt habe, doch geht auch sie dieser Annahme nicht konsequenter nach.206 Da die Forschung die Möglichkeit eines in Diderots Werk angelegten erkenntnistheoretischen Transzendentalkonzeptes, das sich grundlegend von der cartesianischen Konzeption der Transzendenz unterscheidet, lediglich andeutet, werde ich dieser Spur hier gezielt nachgehen. Dies scheint mir vor allem deshalb angebracht und reizvoll zu sein, weil d’Alembert stellvertretend für den Aufklärungsdiskurs das „système des idées innées“207 und somit jedwede Form apriorischer Kenntnisse ablehnt. Im Rahmen meiner Untersuchung materialistischer Grundlagenhypothesen und ihrer erkenntnistheoretischen Zuspitzung im Rêve de
blable à un autre atome?… Non… Ne convenez-vous pas que tout tient en nature et qu’il est impossible qu’il y ait un vide dans la chaîne? Que voulez-vous donc dire avec vos individus? Il n’y en a point, non, il n’y en a point… Il n’y a qu’un seul grand individu, c’est le tout. Dans ce tout, comme dans une machine, dans un animal quelconque, il y a une partie que vous appellerez telle ou telle: mais quand vous donnerez le nom d’individu à cette partie du tout, c’est par un concept aussi faux que si, dans un oiseau, vous donneriez le nom d’individu à l’aile, à une plume de l’aile…“ Zit. nach Denis Diderot, Œuvres complètes, Bd. 17: Le Rêve de d’Alembert, hg. v. Herbert Dieckmann/Jacques Proust/Jean Varloot, Hermann, Paris 1987, S. 138 f, Sigle: DPV. 205 Quintili, La pensée critique de Diderot, S. 23. 206 Vgl. Potulicki, La modernité de la pensée de Diderot dans les œuvres philosophiques, S. 75– 95. 207 D’Alembert, Discours préliminaire de l’Encyclopédie, S. 13 f.
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d’Alembert möchte ich deshalb den Nachweis eines im Text angelegten Transzendentalkonzeptes erbringen. Folglich soll hier gezeigt werden, dass es in Diderots Rêve de d’Alembert Cassirers, Potulickis und Quintilis Mutmaßungen gemäß ein für die Erkenntnis relevantes Wechselspiel zwischen apriorischen Erkenntnisvermögen und den Erfahrungen der sinnlichen Wahrnehmung gibt. Dabei gehe ich davon aus, dass im Rêve de d’Alembert – dem materialistischen Aufklärungsdiskurs gemäß – vordergründig eine Epistemologie vorgestellt wird, die im Gegensatz zur cartesianischen Systematik die Ideengenese unabhängig von transzendenten Implikationen rein immanent nachzuvollziehen versucht.208 In diesem Sinne wird im dialogischen Zusammenspiel der Figurenaussagen der Erkenntnisprozess allein auf der Grundlage empfindsamer Materie konstruiert. Die evolutionären Transformationen jener empfindsamen Stofflichkeit werden hierbei bis hin zu einer materiellen Organisationsform positivistisch nachvollzogen,209 die sinnlicher Wahrnehmung fähig ist und somit die Voraussetzung für die Erkenntnisbildung erfüllt. In diesem Zusammenhang soll gezeigt werden, wie im Text zugleich die materialistische Naturphilosophie skeptisch in Frage gestellt wird, und in welcher Weise von einer Transzendierung des rein immanent gedachten Materialismus in er-kenntnistheoretischer Hinsicht gesprochen werden kann.210 Hierbei ist meine These, dass der Leser im Rahmen der wirkungsästhetischen Anlage des Rêve de d’Alembert in einem performativen Akt ein konkretes Transzendentalkonzept ableiten und mit den materialistischen Grundlagenhypothesen in Einklang bringen kann. Dementsprechend werde ich zeigen, dass im Rêve de d’Alembert materialistische Hypothesen, wie die der generellen sensibilité der Materie, in eine transzendentale Dimension gerückt werden. Dabei gehe ich davon aus, dass der Text vorführt, wie von der sinnlichen Erfahrung unabhängige, apriorische Erkenntnisvermögen, wie die Einbildungskraft, im Zuge des Organisationsprozesses der Materie als Anlagen aus der besagten vitalistisch gedachten matière sensible entbun-
208 Spätestens mit Condillac, der sich als Schüler Lockes ausweist, ist in Frankreich der Anspruch formuliert, die Ideengenese völlig unabhängig von jedweder transzendenten Implikation und somit immanent nachzuvollziehen. In seinem Essai sur l’origine des connoissances humaines formuliert er dementsprechend den Anspruch, ausgehend von der Wahrnehmung sämtliche geistigen Leistungen zu rekonstruieren, wobei er all diese seelischen Akte als Umformungen von Sinneseindrücken versteht. Vgl. Etienne Bonnot de Condillac, Œuvres philosophiques, Bd. 1: Essai sur l’origine des connoissances humaines, hg. v. Georges Le Roy, Presses universitaires de France, Paris 1947, S. 4 f. 209 Hier sei auf Béatrice Didier verwiesen, die im Rêve de d’Alembert verarbeitete Theoreme auf korrespondierende Entwürfe französischer Theoretiker der Epoche rückbezogen hat. Vgl. Béatrice Didier, Diderot dramaturge du vivant, PUF, Paris 2001, S. 131–136. 210 Unter dem Begriff des immanenten Materialismus verstehe ich die Vorstellung, dass alle mentalen Vermögen als Transformationen der einfachen Sinnesempfindung aufzufassen sind. Cassirer hat diese Anschauung als spezifische Denkform der Aufklärungsphilosophie charakterisiert, obschon er gesehen hat, dass beispielsweise Diderot oder Turgot dieser Denkform kritisch gegenüberstanden. Vgl. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 35.
II.2 Der Rêve de dʼAlembert als fiktionaler Rahmen einer Erkenntnistheorie
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den werden. Dass insbesondere die Einbildungskraft,211 die im Text eine Sonderstellung einnimmt, als apriorisches Erkenntnisvermögen vom Leser in eine Wechselbeziehung mit den sensitiven Erfahrungen gebracht werden kann, soll angesichts einer nur impliziten Verankerung im Text vorgeführt werden. Anders ausgedrückt, besagte Wechselbeziehung wird im Text weder ausdrücklich thematisiert noch systematisch vorgeführt, sondern ist lediglich im Rahmen fiktionaler Veranschaulichung implizit angelegt. Deshalb werde ich die textuelle Inszenierung dieser Wechselbeziehung vorführen und zugleich darauf abheben, warum dieser erkenntnistheoretische Entwurf im Rahmen fiktionaler Ästhetik stattfindet.
II.2 DER RÊVE DE D’ALEMBERT ALS FIKTIONALER RAHMEN EINER ERKENNTNISTHEORIE Der Rahmen für die weitergehende Untersuchung Diderot’scher Erkenntnistheorie im Hinblick auf die spezifische Frage, wie das Denken zu denken ist und welche Voraussetzungen notwendig sind, damit der Mensch erkenntnisfähig ist, kann als abgesteckt angesehen werden. Bevor ich, wie oben angekündigt, von den materialistischen Hypothesen ausgehend auf die erkenntnistheoretischen Implikationen eingehe, soll zunächst jener fiktionale Rahmen vorgestellt werden, in dem diese Theoriebildung stattfindet.
211 Die Bedeutung der Einbildungskraft im Rêve de d’Alembert hat auch Behrens untersucht, wobei er zu dem Schluss kommt, dass der im Dialog entfaltete Imaginationsbegriff als sinnlich referenzlose Vergegenwärtigung zu verstehen ist. Darüber hinaus sieht er im sprunghaften Dialoggeschehen des Rêve de d’Alembert das Prinzip einer „experimentellen Einbildungskraft“ realisiert. Vgl. Rudolf Behrens, „Dialogische Einbildungskraft. Zu einer ‚auseinandergesetzten‘ Theorie der Imagination in Diderots Rêve de d’Alembert“, in: Dialog und Dialogizität im Zeichen der Aufklärung, hg. v. Gabriele Vickermann-Ribémont/Dietmar Rieger, Narr, Tübingen 2003, S. 155. Eine sehr breit angelegte Studie zur Imaginationstheorie hat Becq vorgelegt. Ausgehend von der Analyse zahlloser ästhetischer Kompendien in dem Zeitraum zwischen 1680 und 1814 hat sie die Entwicklung des romantisch-schöpferischen Subjektbegriffes nachzuvollziehen versucht, der wiederum im Begriff des eigenständigen Kunstwerks seinen reinsten Ausdruck findet. Die in den untersuchten Texten auffindbaren Spuren oder Anbahnungen eines individuellen Schöpfungskonzeptes hat sie vornehmlich am jeweiligen Imaginationskonzept der Autoren festgemacht. Annie Becq, Genèse de l’esthétique française moderne. De la raison classique à l’imagination créatrice 1680–1814, Bd. 1, Pacini, Pisa 1984. Verwiesen sei zudem auf die in engerem Sinne dem Imaginationsbegriff in Früh- bzw. Spätaufklärung gewidmeten Studien: Rudolf Behrens, „Theoretische und literarische Modellierung der Imagination in der französischen Frühaufklärung“, in: Ordnungen des Imaginären. Theorien der Imagination in funktionsgeschichtlicher Hinsicht, hg. v. Rudolf Behrens, Meiner, Hamburg 2002, S. 117–141; Isabel Zollna, Einbildungskraft (imagination) und Bild (image) in den Sprachtheorien um 1800, Narr, Tübingen 1990; Robert Morin, Diderot et l’imagination, Les Belles Lettres, Paris 1987; Ursel-Margret Becker, Jacques Delille „L’imagination“ – Ein Beitrag zu einer Imaginationstheorie des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn 1987; Marc Eigeldinger, JeanJacques Rousseau et la réalité de l’imaginaire, La Baconnière, Neuchâtel 1962.
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Als erstes fällt auf, dass die medias in res-Technik des Dialoganfangs den Leser des ersten Kapitels sogleich mitten in ein Gespräch zwischen den Figuren Diderot und d’Alembert eintauchen lässt, das die Gretchenfrage materialistischer Theorie zum Gegenstand hat: Ist Materie grundsätzlich empfindsam? Auch der Titel dieses ersten Teils, La suite d’un entretien entre M. d’Alembert et M. Diderot, und nicht zuletzt die Namen der Protagonisten selbst erwecken den Eindruck, es handle sich hierbei um die unmittelbare Wiedergabe eines Gesprächs, das tatsächlich zwischen den historischen Herausgebern der Encyclopédie stattgefunden hat. Als Gesprächsthema zeichnet sich zwar eine naturphilosophische Weltbetrachtung ab, doch die im Gesprächsverlauf verhandelten Teilaspekte dieser Weltanschauung scheinen, wie in einem spontanen alltäglichen Dialog nur lose assoziativ und keineswegs stringent logisch miteinander verbunden zu sein. Dass fiktionale Literatur im Allgemeinen nicht das ist, was sie zu sein vorgibt, trifft auch auf den Dialog Le Rêve de d’Alembert zu. Allerdings lässt sich die Fiktionalität212 des Textes und damit seine besondere Komposition und Konstruiertheit nicht unmittelbar am Dialog zwischen der Figur Diderot und der Figur d’Alembert erkennen. Zumindest gibt es in diesem ersten Teil keine inhaltlichen Aspekte, die darauf hinweisen würden, dass es sich nicht um die faktisch getreue Wiedergabe eines Gesprächs zwischen dem Philosophen und dem Mathematiker handelt. Selbst eine detaillierte Kenntnis der historischen Personen und ihrer Stellungnahmen lässt auf den ersten Blick keine Rückschlüsse über die tatsächliche Wirklichkeitsverankerung der Aussagen zu. Jedenfalls wirkt der den Rêve de d’Alembert einleitende Dialog zwischen den Figuren Diderot und d’Alembert so realitätsnah, dass auch Kenner des historischen Referenzkontextes keine störenden Diskrepanzen zwischen den Aussagen der Textfiguren und den Ansichten der historischen Personen ausmachen können. Desweiteren sorgen spezifische effets de réel wie ein „natürlicher Ton, die Beweglichkeit und die wechselnden Tempi, das Alternieren von knappen Wendungen und langen Ausführungen, rasche Folgen von Fragen und Antworten, Rede und Gegenrede“213 für eine möglichst alltägliche und dadurch realitätsnahe Gesprächssituation. Aus formaler Sicht ist streng genommen aber bereits die medias in res-Technik als Fiktionssignal interpretierbar, das einerseits eine Wirklichkeitsillusion erzeugt und andererseits als Illusionskonvention 212 Nach der hier verwandten Definition des Begriffes weisen fiktionale Texte eine Als-obStruktur auf. Darunter ist wiederum zu verstehen, dass fiktionale Texte einerseits durch gezielte Referenzbezüge eine Wirklichkeitsillusion erzeugen. Andererseits lassen sie aber auch durchscheinen, dass sie eine Referenzillusion oder vielmehr eine Scheinwirklichkeit konstruieren und insofern eine eigene Art des Umgangs mit der Wirklichkeit für sich in Anspruch nehmen. Die hier beschriebene Als-ob-Struktur ist als historisch unveränderliches Fiktionsmerkmal zu begreifen. Im Einzelnen hebt der fiktionale Text die beiden genannten Facetten der Als-ob-Struktur durch die Verwendung von historisch variablen Fiktionssignalen hervor. Dementsprechend gibt es zwei Arten von Fiktionssignalen: Signale, die als literarische Strategien zur Erzeugung einer Wirklichkeitsillusion und solche die als Strategien der Illusionsdurchbrechung zu begreifen sind. Vgl. Klaus W. Hempfer, „Zu einigen Problemen der Fiktionstheorie“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 100 (1990), S. 109–137. 213 Herbert Dieckmann, Die künstlerische Form des Rêve de d’Alembert, Westdeutscher Verlag, Köln 1966, S. 17.
II.2 Der Rêve de dʼAlembert als fiktionaler Rahmen einer Erkenntnistheorie
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der Tragödie und Komödie des 17. Jahrhunderts erkennbar ist, sodass der Text als ein grundsätzlich mit fiktionalen Strategien operierender ausgewiesen wird. Darüber hinaus lassen sich alle bislang aufgezählten Merkmale als konventionalisierte Elemente des fiktionalen Dialogs herausstellen. An erster Stelle ist in diesem Zusammenhang die Mündlichkeitsfiktion zu nennen. Darunter ist zu verstehen, dass ein Text beispielsweise unter dem Einsatz der soeben genannten effets de réel die Illusion eines unmittelbaren mündlichen Gesprächs erzeugt. Es handelt sich bei dieser Fiktionsform um eine auf Platon zurückgehende Gattungskonvention, die auch in Renaissance-Dialogen weit verbreitet ist.214 Ebenso ist die Bevölkerung der Gesprächswelt mit „empirisch referenzialisierbaren“ Individuen, die als namhafte Zeitgenossen bekannt sind, eine auf die platonischen Philosophengespräche zurückgehende Gattungskonvention.215 Als Beleg für Diderots bewusste Bezugnahme auf diese antike Dialogtradition im Rêve de d’Alembert führt Pujol an, dass der Autor für seine erste Version der Exposition materialistischer Hypothesen einen in die Antike verlegten Totendialog vorgesehen hatte, der den Titel Rêve de Démocrite tragen sollte.216 Es bedarf allerdings weder besonderer Kenntnisse des Referenzkontextes noch eines besonderen Wissens um die Gattungskonventionen des Dialogs, um den Rêve de d’Alembert spätestens im gleichnamigen zweiten Teil als fiktionalen Dialog zu erkennen, der mit seinem Authentizitätsanspruch spielt. Denn dem Mittelteil, der d’Alemberts Traum zum Gegenstand hat, ist komödiantisches Potenzial zu Eigen.217 Die zentralen Handlungsaspekte und die sich daraus ergebenden Konsequenzen erwecken diesen Eindruck: Die Figur d’Alembert ist nach einem kämpferischen Gespräch mit der Figur Diderot zu sich nach Hause gegangen, um endlich Ruhe zu finden. Sein Schlaf ist allerdings nicht minder umkämpft, denn verworrene Träume suchen ihn heim, deren Inhalte er mit vernehmbarer Stimme im Delirium wiedergibt. Dem Leser zur Kenntnis gebracht werden diese Träume durch die vermittelnde Tätigkeit seiner Freundin, Mlle de l’Espinasse, die die Traumsequenzen in nächtlichem Bereitschaftsdienst mitgeschrieben hat. In den Morgenstunden schließlich ruft sie aus Besorgnis den Arzt Bordeu an das Krankenbett, der, nachdem er sich von dem nicht ernsthaften Krankheitszustand seines Patienten überzeugt hat, Mlle de l’Espinasse die schriftlich fixierten Traumgedanken d’Alemberts vortragen lässt, die er seinerseits zu kommentieren und sinnvoll fortzuspinnen weiß. Auch Mlle de l’Espinasse, die die Traumbilder und -gedan214 Vgl. Stéphane Pujol, Le dialogue des idées au dix-huitième siècle, Voltaire Foundation, Oxford 2005, S. 37 und Klaus W. Hempfer, „Die Poetik des Dialogs im Cinquecento und die neuere Dialogtheorie: Zum historischen Fundament aktueller Theorie“, in: Poetik des Dialogs. Aktuelle Theorie und rinascimentales Selbstverständnis, hg. v. Klaus W. Hempfer, Steiner, Stuttgart 2004, S. 81. 215 Bernd Häsner, „Der Dialog: Strukturelemente einer Gattung zwischen Fiktion und Theoriebildung“, in: Poetik des Dialogs, hg. v. Klaus W. Hempfer, Steiner, Stuttgart 2004, S. 48. 216 Vgl. Pujol, Le dialogue des idées au dix-huitième siècle, S. 24. 217 Auch die Komik ist eine seit der Antike verbreitete Spielart und somit eine Gattungskonvention des fiktionalen Dialogs. „In der Geschichte der Gattung stehen dafür beispielhaft die parodistischen und satirischen Dialoge Lukians.“ Häsner, „Der Dialog“, S. 38.
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ken zunächst ausschließlich für die irrsinnigen Auswüchse eines Fiebertraumes hält, auf die einzugehen sich nicht lohnt, lässt sich von Bordeu in die Rolle der Traumkommentatorin einbinden. Das Zwiegespräch zwischen Bordeu und Mlle de l’Espinasse verselbstständigt sich daraufhin weitgehend und wird im weiteren Gesprächsverlauf nur noch sporadisch von den unmittelbar im Traum vorgebrachten Wortmeldungen der Figur d’Alembert und später von ihren im Wachzustand eingestreuten Redebeiträgen unterbrochen, auf die die Gesprächspartner bis zum Ende des zweiten Teils stets eingehen. Die durch die Handlung vermittelte Komik besteht vor allem in dem Aus-derRolle-Fallen d’Alemberts – einem binnenstrukturellen Rollenbruch, der sich zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Rêve de d’Alembert vollzieht: Während die Figur d’Alembert im ersten Teil im Gespräch mit der Figur Diderot durch seine von skeptischer Vernunft geprägten Redebeiträge charakterisiert wird, vermittelt d’Alembert im zweiten Teil den Eindruck eines bemitleidenswerten Träumers, der unter Wahnzuständen leidet: BORDEU. Et qu’est- ce qu’il disait? De la géométrie? MLLE DE L’ESPINASSE. Non; cela avait l’air du délire. C’était, en commençant, un galimatias de cordes vibrantes et de fibres sensibles. Cela m’a paru si fou que, résolue de ne le pas quitter de la nuit et ne sachant que faire, j’ai approché une petite table du pied de son lit, et je me suis mise à écrire tout ce que j’ai pu attraper de sa rêvasserie.218
Da der Arzt Bordeu zunächst mutmaßt, der Mathematiker d’Alembert würde auch im Traum seiner lebensweltlichen Rolle entsprechend von mathematischen Überlegungen („géométrie“) heimgesucht, belehrt ihn Mlle de l’Espinasse eines Besseren: der Träumer ist in ihren Augen verrückt geworden. Aber damit nicht genug, denn der Rollenwechsel der Figur d’Alembert beruht nicht auf einer vordergründigen Statuskomik, wie es der komisch anmutende Fall d’Alemberts zunächst nahe legt, sondern viel weitgehender auf einer Ironisierung der Haltungen der historischen Person d’Alembert. Das ist so zu verstehen, dass sich sämtliche Trauminhalte der Figur d’Alembert aus der Sicht des Arztes, des passionierten Physiologen und Naturforschers Bordeu anders als es die Mutmaßung von Mlle de l’Espinasse nahe legt, als äußerst kohärent und sinnvoll erweisen. Bordeu geht soweit, d’Alemberts Träume mit seinen eigenen naturphilosophischen Anschauungen zu identifizieren und ihnen dadurch ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit und Vernunft zuzuschreiben.219 Damit aber stehen die Trauminhalte der Figur d’Alembert teilweise in komischem Widerspruch zu den Anschauungen der historischen Person d’Alembert, die keinesfalls vorbehaltlos mit den naturphilosophischen Vorstellungen der träumenden Textfigur übereinstimmen. Diese Diskrepanz wird auch vom Text selbst widergespiegelt, da die Aussagen der Figur d’Alembert aus dem ersten Textteil durchaus mit den Ansichten der historischen Person in
218 DPV, Bd. 17, S. 116. 219 „MLLE DE L’ESPINASSE. […] Je puis donc assurer à présent à toute la terre qu’il n’y a aucune différence entre un médecin qui veille et un philosophe qui rêve. BORDEU. On s’en doutait. Est-ce tout là ?“ Ebd., S. 122.
II.2 Der Rêve de dʼAlembert als fiktionaler Rahmen einer Erkenntnistheorie
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Einklang zu bringen sind.220 Insoweit setzt der Rêve de d’Alembert referentielle Kenntnisse über die historische Person d’Alembert voraus, obschon auch ohne dieses Wissen die Diskrepanz der Standpunkte des träumenden und des im Gespräch mit der Figur Diderot befindlichen d’Alembert deutlich wird. In Bezug auf die Qualität der Fiktion lässt sich damit bereits eine erste Aussage treffen: Durch die Verwendung dialogspezifischer Gattungskonventionen wird im Text eine Authentizitätsillusion erzeugt, die darauf abzielt, an historische Personen der Aufklärungsbewegung rückgebunden möglichst wirklichkeitsgetreu zentrale Themen und Theoreme des Aufklärungsdiskurses vorzustellen. Andererseits führt der Text mittels illusionsstörender Fiktionssignale der Komödientradition vor, dass hier eine die aufgerufene Referenzsituation überschreitende Wirklichkeitsmodellierung vorgenommen wird, wenn die historischen Ansichten d’Alemberts gezielt durch komödiantische Fiktionsstrategien ironisiert werden. Diese Qualität des Verhältnisses von Fiktion und Wirklichkeit bzw. theoretischer Wirklichkeit im Rêve de d’Alembert lässt sich auch aus gattungstypologischer Sicht erhärten. Aufgrund der Struktur des ersten Dialogteils, dem entretien, in dem sich die beiden Philosophen im Gespräch gegenüberstehen, kommt Pujol zu dem nahe liegenden Schluss, dass der Rêve de d’Alembert dem traditionellen philosophischen Dialog am nächsten steht. Er spitzt seine Klassifizierung aber noch zu, wenn er konstatiert, dass der Rêve de d’Alembert von dem Dialog der Wissensvulgarisierung – einer der geläufigsten Spielarten des philosophischen Dialogs – abzugrenzen und dem Dialog der Wissensbildung zuzuschlagen sei. Diesem Dialogtyp attestiert Pujol eine humorvermittelte Mischung aus Theorie und wissenschaftlicher Vision.221 Insofern – das sei hier besonders hervorgehoben – ist es auch aus gattungstypologischer Sicht plausibel, wenn im Folgenden besagte fiktionsvermittelte Theoriebildung bzw. diese Komposition im Spannungsfeld von historisch referenzialisierbaren Fakten und sie transzendierender fiktionaler Modellierung im Detail vorgestellt wird. Dabei werde ich bei den einzelnen Analyseschritten zeigen, welche Funktion der fiktionalen Ästhetisierung einer faktual stets dem Aufklärungsdiskurs zuzuordnenden Thematik zukommt. Mit anderen Worten, es soll hier vorgeführt werden, warum die im fiktionalen Gespräch zwischen Diderot und d’Alembert verhandelten Themen des Aufklärungsdiskurses und insbesondere die Gretchenfrage materialistischer Weltanschauung – ist Materie grundsätzlich empfindsam? – nicht in Form eines Traktates behandelt werden bzw. warum sie dramatisiert sind, und welche Funktion den Traumsequenzen und ihren metaphorisch angereicherten Kommentaren zukommt. Dieser Fragestellung werde ich im Rahmen der Vorstellung der Textstruktur nachgehen, um so zugleich die Komposition des Rêve de d’Alembert zu veranschaulichen. Deshalb möchte ich hier die These formulieren, dass im Rêve de d’Alembert mittels einer dreigliedrigen Kompositionsstruktur komplexe Themen des Aufklärungsdiskurses kondensiert vorgestellt werden, um sie im exploratorischen Rah220 Vgl. Dieckmann, Die künstlerische Form des Rêve de d’Alembert, S. 19. 221 Vgl. Pujol, Le dialogue des idées au dix-huitième siècle, S. 266–270.
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men der Fiktion über die Grenzen des faktisch Belegbaren hinauszuführen, ohne dabei die Haltung skeptischer Distanziertheit aufzugeben. Auch in diesem Text Diderots wird skeptische Distanz dadurch zum Ausdruck gebracht, dass den Aussagen einzelner Protagonisten grundsätzlich keine letztgültige Richtigkeit zugebilligt wird. Aus diesem Grund wird jede mit einer Figur zusammenfallende komplexere Anschauung auf die eine oder andere Weise ironisiert, wobei ihr ein ausschließlicher Geltungsanspruch verweigert wird.222 Bliebe es bei dieser Entwertungsstrategie wäre ein heilloses Durcheinander zu befürchten, doch gibt es im Text einige Hinweise, die es dem Leser ermöglichen, die einzelnen Anschauungen in eine gewisse Ordnung zu bringen. Allerdings werden auch bei dieser Ordnung letzte Widersprüche nicht aufgehoben oder endgültig erklärt, sondern lediglich in einen für Ergänzungen offenen systematischen Rahmen gestellt.
II.3 LA SUITE D’UD EDTRETIED EDTRE M. D’ALEMBERT ET M. DIDEROT II.3.1 Materialistische Hypothesen Die grundlegende materialistische Hypothese, die bereits in den einleitenden Sätzen des dreiteiligen Rêve de d’Alembert in den Raum gestellt wird, ist weltanschaulich von zentraler Bedeutung, da sie die Einheit von Materie und Empfindsamkeit (sensibilité) voraussetzt. Dieses monistische Konzept einer empfindsamen, belebten Materie ist vor dem Hintergrund der cartesianischen Vorstellung einer vom Körper unabhängigen immateriellen Seelensubstanz zu sehen und steht ihr diametral gegenüber. Dementsprechend gründet das dualistische Konzept auf der Unabhängigkeit einer rein vegetativ gedachten Körperlichkeit von einer apriorisch mit Ideen aufgeladenen Seele, die letztinstanzlich mit göttlichem Wissen beseelt ist. Ihren Platz hat diese Seele trotz ihrer Immaterialität dennoch im Körper, weil sie diesen bewegt. Der Figur d’Alembert ist es im Text vorbehalten, jenem dualistischen Konzept das von der Figur Diderot eingebrachte monistische Materialismuskonzept gegenüberzustellen: J’avoue qu’un être qui existe quelque part et qui ne correspond à aucun point de l’espace; un être qui est inétendu et qui occupe de l’étendue; qui est tout entier sous chaque partie de cette étendue; qui diffère essentiellement de la matière et qui lui est uni; qui la suit, et qui la meut 222 Aufgrund dieser Bauart grenzt sich der Rêve de d’Alembert von einem ebenfalls geläufigen Dialogtypus ab, in dem die Autorposition mit einer besonders exponierten Stimme zusammenfällt. Angesichts dessen, dass es im Rêve de d’Alembert eine Figur Diderot gibt, wird zumindest die Erwartungshaltung geweckt, dass es sich um einen derartigen Typus handeln könnte. Da dies nicht der Fall ist, lässt sich gerade auf den Rêve de d’Alembert übertragen, was Bernd Häsner über den Dialogtext an sich sagt: Wie jeder fiktionale Text sei auch der Dialogtext als ‚Makroproposition‘ eines Autors zu betrachten, die „semantisch komplexer ist als jede der in ihr enthaltenen Teilpropositionen“. Dem Leser fällt deshalb die „explizite Formulierung“ besagter ‚Makroproposition‘ zu, sodass er gleichsam zum Subjekt der Theoriebildung wird. Häsner, „Der Dialog“, S. 21.
II.3 La suite d’un entretien entre M. d’Alembert et M. Diderot
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sans se mouvoir; qui agit sur elle et qui en subit toutes les vicissitudes; un être dont je n’ai pas la moindre idée, un être d’une nature aussi contradictoire est difficile à admettre. Mais d’autres obscurités attendent celui qui le rejette, car enfin cette sensibilité que vous lui substituez, si c’est une qualité générale et essentielle de la matière il faut que la pierre sente.223
D'Alemberts skeptischer Argumentation ist zweifelsfrei zu entnehmen, dass die Annahme, wonach die Ideen des Geistes unabhängig von der empirischen Welt existieren, obschon sie in unerklärlicher Weise an die materielle Erscheinung des Körpers rückgebunden sind, schlichtweg nicht hinnehmbar ist. Allerdings scheint er auch die von der Figur Diderot eingebrachte These von der generellen Empfindsamkeit der Materie nicht zwingend für die richtige Antwort auf den widersprüchlichen Dualismus zu halten. Aus der Ablehnung des Konzepts eingeborener und somit transzendenter Ideen folgt in der Logik eines monistischen Weltentwurfes die Notwendigkeit, die Ideengenese immanent nachzuvollziehen. Ausgehend von empfindsamer bzw. vitalistischer Materie muss dementsprechend empirisch nachvollziehbar veranschaulicht werden, wie Ideen entstehen. Dass dieser erkenntnistheoretische Entwurf nicht problemlos zu bewältigen ist, ahnt die Figur d’Alembert, impliziert er doch letztlich eine Erklärungstheorie der lebendigen Welt. Das ist so zu verstehen: Geht man von der Hypothese der prinzipiellen Empfindsamkeit der Materie aus und setzt man darüber hinaus voraus, dass es irgendwann ein empfindsames Wesen gibt, dann lässt sich auch mutmaßen, wie das fühlende Wesen zu einem denkenden Wesen wird.224 Mit anderen Worten, die Beantwortung der erkenntnistheoretisch relevanten Frage, wie ein empfindsames Wesen zu einem denkenden Wesen wird, lässt sich zumindest aus Sicht der Figur Diderot allein auf der Grundlage der generellen Empfindsamkeit der Materie nachvollziehen. Dem Mathematiker d’Alembert des Textes kommt angesichts jenes materialistischen Welterklärungsmodells die Rolle des nachfragenden Skeptikers zu, der sowohl das Konzept für den Übergang von einem fühlenden zu einem denkenden Wesen wie auch die Grundlage hierfür, die Hypothese der grundsätzlichen Empfindsamkeit der Materie, keineswegs für erwiesen hält.225 Es zeichnet sich bereits ab, dass das erkenntnistheoretische Modell, das im Text einleitend vermittelt wird, auf dem Prinzip einer von der Empfindung aufsteigenden kausalen Kette beruht, die bis hin zum Denken reicht.226 Hierbei gilt es, zwei Aspekte zu unterscheiden: zum einen den im engeren Sinne erkenntnistheoretischen Aspekt und damit die Frage, wie ausgehend von den Sinneseindrücken und -leistungen im menschlichen Wesen der Prozess der Erkenntnisbildung zu verstehen ist und zum anderen den Aspekt, wie rein phylogenetisch- bzw. organisationssystematisch ausgehend von rein empfindsamer Materie überhaupt ein
223 DPV, Bd. 17, S. 89 f. 224 „DIDEROT. […] car vous m’avouerez qu’il y a bien plus loin d’un morceau de marbre à un être qui sent, que d’un être qui sent à un être qui pense.“ Ebd., S. 95. 225 „D’ALEMBERT. J’en conviens. Avec tout cela l’être sensible n’est pas encore l’être pensant.“ Ebd. 226 Vgl. Baertschi, Les rapports de l’âme et du corps, S. 102.
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denkendes Wesen entsteht.227 Beide Aspekte werden im einleitenden Kapitel des Rêve de d’Alembert in der von der Kausalkette vorgegebenen Reihenfolge diskutiert – insofern wird zuerst die Hypothese der empfindsamen Materie dargelegt, dann in groben Zügen eine Entwicklung des Menschen ausgehend von der sensibilité entworfen und im Anschluss daran die eigentliche Erkenntnistheorie geliefert –, um dann aufgrund verschiedener Einwände der Figur d’Alembert aus jeweils veränderter Perspektive Einzelaspekte erneut zu diskutieren. Bei diesen kritischen Erörterungen entsteht der Eindruck, es handle sich dabei um nicht unmittelbar mit dem Thema zusammenhängende Digressionen. Sie lassen sich indes unter die Textstrategie der Evokation einer authentischen, vermeintlich assoziativen Gesprächsführung subsumieren, denn die Dialogkomposition bleibt grundsätzlich der erwähnten Kausalkettenordnung verpflichtet. Vor dem Hintergrund dieser Ordnung komme ich jetzt auf den Dialog zu sprechen, wobei ich zunächst auf die Hypothese der Empfindsamkeit als genereller Eigenschaft der Materie eingehe, die das kausale Weltmodell begründet. Dem empfindsamen Materieverständnis liegen, wie es im Text recht ausdrücklich dargestellt wird, an sich zwei Hypothesen zugrunde: Zum einen die hylozoistische228 und zum anderen die der Emergenz. Beide sind miteinander verbunden. Die hylozoistische Hypothese beruht auf der Annahme, dass alle Materie grundsätzlich und damit a priori empfindsam ist,229 wenngleich nicht in jedem Körper die gleiche Form der sensibilité gebunden ist, wie die Figur d’Alembert, von der Figur Diderot inspiriert, schlussfolgert: zum einen gibt es die „sensibilité active qui se caractérise par certaines actions remarquables dans l’animal et peut-être dans la plante“ und zum anderen die „sensibilité inerte dont on serait assuré par le passage à l’état de sensibilité active“.230 Darunter ist zu verstehen, dass die Empfindsamkeit in Analogie zur physikalischen Unterscheidung von potenzieller und kinetischer Energie im anorganischen Bereich nur potenziell vorhanden ist und lediglich die Möglichkeit der Entfaltung in sich trägt, während sie im organischen Bereich als aktiv bezeichnet werden kann.231 Die Anschauung, die Empfindsamkeit sei eine prinzipielle Qualität der Materie, die dem Menschen ebenso innewohne wie dem Stein, wenngleich in unterschiedlicher Qualität, ist bereits als Konzession an transzendentale Konzepte zu verstehen. Denn die sensibilité wird in diesem Zusammenhang apriorisch als vitalistische Kraft vorausgesetzt. Diese Problematik wird im Rêve de d’Alembert zumindest indirekt thematisiert, indem die Figur Diderot gegenüber der Figur 227 Diese Unterscheidung ist im Text nicht explizit angelegt, sie zwingt sich aber aufgrund der von den Figuren vorgebrachten Überlegungen logischerweise auf. 228 Unter dem aus der Philosophie der Antike stammenden Begriff ist generell das Leben der Materie zu verstehen. 229 Vgl. zum Diderot’schen Hylozoismus: Baertschi, Les rapports de l’âme et du corps, S. 106 ff. 230 DPV, Bd. 17, S. 92. 231 Vgl. Winter, Der Materialismus bei Diderot, S. 31. In dieser besonderen Form des Hylozoismus sieht Ileana Mihaila die Besonderheit des Diderot’schen Materialismus. Ileana Mihaila, „L’hylozoïsme de Diderot“, in: Être matérialiste à l’âge des lumières. Hommage offert à Roland Desné, hg. v. Béatrice Fink/Gerhardt Stenger, PUF, Paris 1999, S. 185–197.
II.3 La suite d’un entretien entre M. d’Alembert et M. Diderot
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d’Alembert einräumt, dass die materialistische sensibilité-Konzeption hypothetischer Natur sei, weil sie sich nicht beweisen lasse.232 Nicht eingehender thematisiert wird im Rêve de d’Alembert die Tatsache, dass dem Konzept der generellen Empfindsamkeit der Materie eine streng materialistisch angelegte Hypothese vorausgeht. Ihr zufolge entsteht die sensibilité im Prozess der Organisierung der Materie.233 In der Réfutation suivie de l’ouvrage d’Helvétius intitulé L’Homme begründet Diderot, warum die zuletzt genannte Hypothese nicht haltbar ist. Dementsprechend gibt er zu bedenken, dass es keine Erklärung dafür gebe, wie unbelebte Materie allein durch Organisierungsprozesse Empfindsamkeit freisetze bzw. wie unbelebte in lebendige Materie überführt werden könne,234 selbst wenn sie mit lebendiger Materie in Verbindung gebracht werde. Streng materialistisch ist diese Hypothese, weil sie versucht, die sensibilité voraussetzungslos und somit rein immanent zu erklären. Da dies aus den genannten Gründen nicht verfängt, wird die Hypothese der generellen Empfindsamkeit als Axiom bzw. als Konzession an dieses Scheitern eingeführt. Dabei ist sicherlich davon auszugehen, dass der an immanenten Welterklärungsmodellen interessierte Materialist Diderot die Hypothese einer allein aus immanent nachvollziehbaren Organisierungsprozessen ableitbaren Empfindsamkeit der Hypothese einer der Materie apriorisch innewohnenden sensibilité vorgezogen haben dürfte, weil sich auf diese Weise auch sämtliche transzendentalen Implikationen hätten ausräumen lassen. Allerdings lässt sich mit der Hypothese einer generellen Empfindsamkeit der Materie das Übergangsproblem von unbelebter zu belebter Materie entschärfen. Im Sinne dieser Strategie beschreibt die Figur Diderot das Übergangsphänomen von der potenziellen „sensibilité inerte“ zur „sensibilité active“ im Dialog als einen Assimilationsprozess,235 der in dem auf Analogie beruhenden Statuenbeispiel seinen Ausdruck findet.236 Dementsprechend gibt es eine grundlegende Ähnlichkeitsrelation zwischen einer Marmorstatue und einem Tier, denn die potenziel232 Die Figur Diderot spricht an dieser Stelle von einer „supposition simple qui explique tout“. DPV, Bd. 17, S. 105. 233 Besagte Organisationshypothese wird von der Figur Diderot neben der Hypothese der Empfindsamkeit als genereller Eigenschaft der Materie zumindest als Möglichkeit in Betracht gezogen: „Ecoutez-vous et vous aurez pitié de vous-même, vous sentirez que pour ne pas admettre une supposition simple qui explique tout, la sensibilité, propriété générale de la matière ou produit de l’organisation, vous renoncez au sens commun et vous vous précipitez dans un abîme de mystères, contradictions et d’absurdités.“ Ebd. 234 „Il faut en convenir, l’organisation ou la coordination de parties inertes ne mène point du tout à la sensibilité.“ DPV, Bd. 24, S. 525 f. 235 DPV, Bd. 17., S. 92. 236 Es ist naheliegend, in dieser Statue eine Anspielung auf Condillacs Statuenbeispiel zu sehen. Condillac hat seine im Traité des sensations ausgearbeitete sensualistische Transformationstheorie am Beispiel der Metamorphosen einer Statue veranschaulicht. Dementsprechend schreibt er seiner beseelten wenngleich in Bezug auf ihre Sinneswahrnehmung jungfräulichen Statue nach und nach einzelne Sinnesleistungen zu, aus deren Zusammenspiel sich im Laufe eines evolutionären Entwicklungsprozesses die höheren Vermögen des menschlichen Geistes entwickeln. Damit ist gesagt, dass alle geistigen Vermögen ursprünglich auf die sensations zurückgehen. Vgl. Condillac, Traité des sensations, S. 39 f.
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le Empfindsamkeit des Steines der Statue kann im Vertilgungsprozess durch Assimilation in aktive Empfindsamkeit transformiert werden. Assimilation ist allerdings nur auf der Grundlage prinzipieller stofflicher Ähnlichkeit möglich: DIDEROT. […] Je prends la statue que vous voyez, je la mets dans un mortier, et à grands coups de pilon… […] Lorsque le bloc de marbre est réduit en poudre impalpable, je mêle cette poudre à de l’humus ou terre végétale; je les pétris bien ensemble; j’arrose le mélange, je le laisse putréfier un an, deux ans, un siècle, le temps ne me fait rien. Lorsque tout s’est transformé en une matière à peu près homogène, en humus, savez-vous ce que je fais? D’ALEMBERT. Je suis sûr que vous ne mangez pas de l’humus. DIDEROT. Non, mais il y a un moyen d’union, d’appropriation, entre l’humus et moi, un latus, comme vous dirait un chimiste. D’ALEMBERT. Et ce latus, c’est la plante? DIDEROT. Fort bien. J’y sème des pois de fèves, des choux, d’autres plantes légumineuses. Les plantes se nourrissent de la terre, et je me nourris des plantes. D’ALEMBERT. Vrai ou faux, j’aime ce passage du marbre à l’humus, de l’humus au règne végétal, et du règne végétal au règne animal, à la chair.237
Aus der hylozoistischen Hypothese, die ihrerseits von der Assimilationstheorie flankiert wird, leitet sich in der Konsequenz die Emergenzhypothese ab. Die wiederum besagt, dass die sensibilité eine Eigenschaft ist, die aus der Materie hervorgeht, wenngleich bestimmte Qualitäten der sensibilité erst mit gewissen Organisationszuständen in Erscheinung treten. Mit anderen Worten, alle Formen des Fühlens sind ebenso Teil der sensibilité wie das Denken, wobei die unterschiedlichen Qualitäten der sensibilité etwa im Rahmen der Entwicklung des Menschen, von der Befruchtung bis hin zum Erwachsenen, den progressiven Organisationszuständen entsprechend hervortreten. In diesem Sinne ist meines Erachtens auch zu verstehen, warum die Figur Diderot auf die für ihr Gegenüber d’Alembert noch unbeantwortete Frage, wie aus dem fühlenden ein denkender Mensch wird, mit der vordergründig unpassenden Beschreibung der Ontogenese, also der individuellen Menschwerdung, d’Alemberts antwortet. Den Vortrag der einzelnen Etappen dieser besonderen Geschichte, die vom Zeugungsakt über den fötalen Zustand, über Geburt und Wachstum bis hin zu d’Alemberts Tätigkeit als Autor und Mathematiker reichen, beendet der Diderot des Textes mit der schließlich erhellenden Einschätzung: Et celui qui exposerait à l’Académie le progrès de la formation d’un homme ou d’un animal n’emploierait que des agents matériels dont les effets successifs seraient un être inerte, un être sentant, un être pensant, un être résolvant le problème de la précession des équinoxes, un être sublime, un être merveilleux, un être vieillissant, dépérissant, mourant, dissous et rendu à la terre végétale.238
Damit ist gesagt, dass es eine von der potenziellen Empfindsamkeit des „être inerte“ aufsteigende und wieder absteigende kausale Kette gibt, wobei auf dem Höhepunkt der materiellen Organisation des Menschen d’Alembert eine sensibilité freigesetzt wird, auf die letztlich auch hochkomplexe Denkprozesse, „un être ré-
237 DPV, Bd. 17, S. 93 ff. 238 Ebd., S. 96.
II.3 La suite d’un entretien entre M. d’Alembert et M. Diderot
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solvant le problème de la précession des équinoxes“, zurückzuführen sind. Auch zeigt sich, dass die zuvor von der Figur d’Alembert gestellte Frage, wie der Übergang von der Qualität des Fühlens zu der des Denkens zu verstehen sei, implizit doch beantwortet oder zumindest geschickt umgangen wird. Denn wenn Denken und Fühlen jeweils Qualitäten der sensibilité sind, deren jeweilige Freisetzung vom Entwicklungsstand der organisierten Materie abhängt, dann gibt es auch kein tatsächliches Übergangsphänomen vom Fühlen zum Denken, sondern lediglich eine schwache Emergenz. Darunter ist zu verstehen, dass die durch die Organisierung der Materie freigesetzten Qualitäten der sensibilité an sich immer schon potenziell vorhanden sein müssen und es somit keinen qualitativen Quantensprung, sondern lediglich eine an der progressiven Organisation der Materie ablesbare Freisetzung empfindsamer Qualitäten gibt. Die Antwort der Figur Diderot hat allerdings eine größere Tragweite, als es zunächst den Anschein haben mag, denn von einem Materialismus, der die Phänomene des Fühlens und Denkens allein auf der Grundlage immanenter Voraussetzungen erklärt, kann hier nicht die Rede sein.239 So ist bereits das Konzept der generell mit vitalistischer sensibilité begabten Materie insoweit transzendental, als es eine apriorisch-irreduzible und dabei vitalistische Qualität gibt, die der Materie inhärent ist. Wenn diese apriorischirreduzible Qualität darüber hinaus selbst für die komplexesten Phänomene wie das Denken verantwortlich zeichnet, dann ist das Emergenz-Konzept durch eine noch ausdrücklicher transzendentale Anlage gekennzeichnet, weil damit auch die Denkbefähigung als Qualität der Materie apriorisch zu Eigen ist. Es bleibt dann allerdings zu fragen, welcher Natur die transzendentale bzw. apriorische Qualität des Denkens ist. Berücksichtigt man, dass in der Ausführung der Figur Diderot das Denken nicht als ein bereits abgeschlossener Vorgang apriorisch angelegt ist, sondern dass es sich dabei vielmehr um eine emergente Qualität handelt, die kausal unmittelbar von einem empirischen Entwicklungsprozess der Materie abhängt, dann ist der Transzendentalbegriff, der hier implizit in Anschlag gebracht ist, im Sinne einer Anlage zu verstehen. Anders gewendet, der sensibilité als Qualität der Materie sind a priori grundlegende Vermögen zu Eigen, die die Anlage zum Fühlen und Denken einschließen, welche wiederum nur in kausaler Verbindung mit einem empirisch nachvollziehbaren materiellen Entwicklungsprozess entfaltet werden.
239 In diesem Sinne unterscheidet sich der Materialismus Diderots dezidiert vom Sensualismus Condillacs, dem eine rein immanente Transformationstheorie zugrunde liegt. Dieser Theorie zufolge entwickeln sich die höheren Erkenntnisvermögen aus jeweils einfacheren Erkenntnisvermögen, wobei sich diese Entwicklung laut Condillac bis zur Ursprungsqualität der Sinnesempfindung zurückverfolgen lässt. Die Beantwortung der Frage, wie aus der Qualität des Fühlens die Qualität des Denkens hervorgehen soll, stellt indes ein ebenso unlösbares Problem dar wie der Versuch einer Herleitung der sensibilité aus der Organisation unbelebter Materie. Die Analogie der Problemstellungen ist darin zu sehen, dass in beiden Fällen ein nicht nachvollziehbarer qualitativer Quantensprung vorausgesetzt wird. Dabei liefert weder die von Diderot abgelehnte Organisationshypothese noch die Transformationstheorie Condillacs einsehbare Erklärungen für den vermeintlichen Qualitätssprung.
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Insofern unterscheidet sich der hier implizit zur Geltung gebrachte Transzendentalbegriff fundamental von dem dualistischen, demzufolge bereits fertige Ideen unabhängig von jedweder materiellen Voraussetzung apriorisch im Geiste aufscheinen. Von einem materialistischen Monismus zu sprechen, verbietet sich allerdings ebenfalls, denn die Materie wird im Rêve de d’Alembert mit einer vitalistischen Substanz in Verbindung gebracht, deren apriorische Qualitäten zwar nur als Vermögen im Sinne von Anlagen ausgewiesen werden. Indessen handelt es sich bei diesen Qualitäten um nichts, das sich empirisch im Ausgangszustand der Materie nachweisen ließe. Deshalb ist auch der Materialismus des Rêve de d’Alembert zumindest im Ansatz dualistisch, da er mit der sensibilité eine materiell nicht fassbare vitalistische Kraft zu konzeptualisieren versucht, die ausweichend als „une qualité générale et essentielle de la matière“ bezeichnet wird.240 Dennoch bleibt festzuhalten, dass der Text weit davon entfernt ist, im Sinne Kants apriorische Qualitäten bzw. transzendentale von der Erfahrung unabhängige (Verstandes-)Vermögen kritisch zu beschreiben.241 Die im Rêve de d’Alembert nachvollziehbaren Bestrebungen laufen im Gegenteil darauf hinaus, im Allgemeinen materielle Organisationsprozesse und im Besonderen physiologische Entwicklungen nachzuzeichnen, die wiederum Grundlage für die vermeintlich materiellen Qualitäten des Fühlens und Denkens sind. Mit anderen Worten, durch den Nachvollzug einer von der sensibilité inerte aufsteigenden materiellen Ursachenkette wird zunächst der Anschein erweckt, alle transzendentalen Implikationen herauszuhalten. Ausgehend von der kleinsten anzunehmenden materiellen Einheit wird das Leben möglichst immanent als voraussetzungslose Form beschrieben. Was sich ungeachtet dieser vordergründigen Zielsetzung dennoch im Text abzeichnet, ist ein implizites Wechselspiel zwischen dem Nachvollzug materieller Organisierung, die am Beispiel der Menschwerdung d’Alemberts skizziert wird, und einer von der materiellen Organisierung abhängigen Freisetzung apriorischer Qualitäten. Im Text ist allerdings keine systematische Veranschaulichung dieses Wechselspiels angelegt. Insofern stellt sich die Frage, ob im Rêve de d’Alembert über die bereits beschriebene implizite Veranlagung apriorischer Erkenntnisvermögen hinaus eine weitergehende Thematisierung des Transzendentalkomplexes nachweisbar ist.
240 DPV, Bd. 17, S. 90. 241 Für Baumgartner besteht die Leistung der Kritik der reinen Vernunft in der positiven Analyse der Struktur der Erfahrungserkenntnis, die Kant allerdings in Abhängigkeit der apriorischen Begriffe des Verstandes denkt. Zentral ist in dieser Hinsicht Kants Lehre von den Stammbegriffen des Verstandes, den Kategorien, deren objektive Geltung als aus dem Verstand entsprungene Begriffe er nachweist. Vgl. Hans M. Baumgartner, Kants Kritik der reinen Vernunft. Anleitung zur Lektüre, Alber, Freiburg i. Br./München 1985, S. 18–21.
II.3 La suite d’un entretien entre M. d’Alembert et M. Diderot
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II.3.2 Erkenntnistheoretische Konsequenzen und ‚Discours de la Méthode‘ In der Ordnung der Kausalkette folgt im Gespräch zwischen Philosoph und Mathematiker auf die Beschreibung der Organisierung der Materie242 die eigentlich erkenntnistheoretische Frage, wie das Denken in einem dafür ausgerichteten System ausgehend von den Empfindungen zu erklären ist. Da in der Logik der Emergenzhypothese ein Organismus eine bestimmte Entwicklung durchlaufen und eine bestimmte Organisationsform entwickelt haben muss, um denken zu können, macht die Figur Diderot den Denkvorgang im Rahmen der maieutischen Gesprächsführung vom Gedächtnis abhängig: „Si donc un être qui sent et qui a cette organisation propre à la mémoire, lie les impressions qu’il reçoit, forme par cette liaison une histoire qui est celle de sa vie, et acquiert la conscience de lui, il nie, il affirme, il conclut, il pense.“243 Dabei wird das Gedächtnis nicht in seiner materiellen Gestalt beschrieben, sondern als Ergebnis eines Organisationsprozesses ausgewiesen. Beschrieben wird allerdings die Funktion des Gedächtnisses, die darin besteht, die Eindrücke, die sich ihm einschreiben, miteinander zu verbinden und sie zu einer Lebensgeschichte zu bündeln, sodass sich sagen lässt, das Gedächtnis erfüllt die Funktion des Verstandes weil es verneint, affirmiert, urteilt und somit denkt. Der Eindruck, der hierbei vordergründig vermittelt wird, ist der, dass ausgehend von den Sinneseindrücken das materielle Gedächtnis, das seinerseits aus einem Organisationsprozess hervorgeht, aposteriorisch, ohne jedwede apriorischen Erkenntnisvermögen, die Sinneseindrücke mechanisch miteinander verknüpft. Dieser Verknüpfungsprozess wird als Denkvorgang bezeichnet, wobei auch gesagt ist, dass sich die Verstandesvermögen des Verneinens, Affirmierens, Urteilens und Denkens allein aufgrund des Vorhandenseins eines Gedächtnisses in einem immanenten Prozess entwickeln.244 Legt man an diesen Ablauf indessen die aus den Grundlagenhypothesen zur sensibilité ableitbaren Prinzipien an, dann ist das Gedächtnis, das hier anscheinend allein für die Funktionen des Verstandes verantwortlich zu sein scheint, die Organisationsform der Materie, welche die an sich apriorischen Verstandesver242 Mit der Hypothese der Organisierung der Materie wird von der Textfigur Diderot die Anschauung einer auf Evolutionsprozessen beruhenden Naturentwicklung verknüpft. Die Evolutionstheorie wird dabei gegen die traditionelle Vorstellung der Präformation in Stellung gebracht. Letztgenannter Anschauung zufolge sind den sogenannten „germes préexistants“ seit jeher alle Informationen über die jeweils aus ihnen hervorgehenden Lebewesen eingeschrieben. Vgl. DPV, Bd. 17, S. 97 ff. 243 Ebd., S. 100. 244 In diesem Zusammenhang wird meines Erachtens erneut auf die Transformationstheorie Condillacs angespielt. Die Vorstellung, dass das Gedächtnis die Voraussetzung für die Entwicklung der erwähnten Verstandesleistungen ist, findet sich bereits bei Locke. Bei ihm ist das Gedächtnis in Abwesenheit äußerer Gegenstände für die Erinnerung („remembrance“) der einfachen Ideen zuständig, die dem Menschen durch die Sinnesempfindung im Wahrnehmungsakt zuteil werden. Mit dem Wahrnehmungsvermögen stellt das Erinnerungsvermögen somit die Voraussetzung für die eigentlichen Verstandesleistungen dar, die bei der Zusammensetzung der komplexen Ideen herausgebildet werden. Vgl. dazu Becq, Genèse de l’esthétique française moderne, S. 157 f.
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mögen, „nie[r]“, „affirme[r]“, „conclu[re]“, „pense[r]“,245 als Qualitäten der vitalistischen sensibilité freisetzt. Diese Verstandesvermögen wiederum sind dafür zuständig, die von der Sinneswahrnehmung im Gedächtnis abgelegten Eindrücke miteinander zu kombinieren. Aber diese transzendentalen Qualitäten der Materie werden nicht explizit als solche ausgewiesen. Wie man sich den komplexen Denkprozess genauer vorzustellen hat, das wird in der clavecin-Analogie veranschaulicht. Grundlage für die Analogie ist die Vorstellung der Figur d’Alembert, wonach das Urteilen voraussetze, dass dem Verstand die von den Sinneseindrücken dargebotenen Wahrnehmungen als Gegenstände präsent sind, während er sie zugleich beurteilt.246 Die Figur Diderot entwirft daraufhin eine diese Vorstellung veranschaulichende Analogie und vergleicht die Funktionsweise des Verstandes mit einem Cembalo: […] ce qui m’a fait quelquefois comparer les fibres de nos organes à des cordes vibrantes sensibles. La corde vibrante sensible oscille, résonne longtemps encore après qu’on l’a pincée. C’est cette oscillation, cette espèce de résonance nécessaire qui tient l’objet présent, tandis que l’entendement s’occupe de la qualité qui lui convient. Mais les cordes vibrantes ont encore une autre propriété, c’est d’en faire frémir d’autres; et c’est ainsi qu’une première idée en rappelle une seconde, ces deux-là une troisième, toutes les trois une quatrième, et ainsi de suite, sans qu’on puisse fixer la limite des idées réveillées, enchaînées du philosophe qui médite ou qui s’écoute dans le silence et l’obscurité. Cet instrument a des sauts étonnants, et une idée réveillée va faire quelquefois frémir une harmonique qui en est à un intervalle incompréhensible.247
Während zunächst mechanistisch veranschaulicht wird, wie der Verstand zugleich Eindrücke vergegenwärtigen und sie beurteilen kann, imaginiert die Figur Diderot darüber hinaus das Entstehungsbild von Ideenkomplexen. Auch hier wird mit dem Einfall, dass die Schwingung einer Saite verschiedene Obertöne erklingen lässt, eine mechanische Erklärungslogik für die Entstehung von Ideenkomplexen bemüht. Dadurch ist gewährleistet, dass im Rahmen einer Aufklärungsideologie, die transzendentale Vorstellungen kategorisch ausschließt, allein auf der Grundlage immanent-aposteriorischer Prinzipien eine Erkenntnistheorie entworfen wird. Dennoch impliziert die clavecin-Analogie auch einen transzendentalen erkenntnistheoretischen Ansatz. Denn würde hier ein rein mechanisches Bild der Ideengenese aufgerufen, so müsste beim Anriss einer spezifischen Saite gleichsam mechanisch ein bestimmtes, immergleiches Obertonintervall erklingen. Dem ist aber nicht so, da das Instrument teils ungewöhnliche, nicht nachvollziehbare Harmonien hervorbringt. Hier wird folglich die Erfahrung zum Ausdruck gebracht, dass Ideenkomplexe nicht auf ein mechanisches Entstehungsschema reduzierbar sind,248 sondern vielmehr einem eigentümlich schöpferisch-kombinatorischen 245 246 247 248
DPV, Bd. 17, S. 100. Vgl. ebd. Ebd., S. 101. Bereits in Descartes’ Traité de l’homme findet sich eine systematische Ausarbeitung zur mechanistischen Funktionsweise des menschlichen Körpers. Allerdings bleibt dieser Mechanismus angesichts Descartes’ dualistischer Weltanschauung auf den menschlichen Körper be-
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Geist der Assoziation zu entspringen scheinen, der hier geradezu mystifizierend als „intervalle incompréhensible“249 umschrieben wird. Wenn auf diese Weise die Quintessenz der Ideengenese, die Synthetisierung von Ideen zu Ideenkomplexen, auf ein schöpferisches und zugleich irreduzibles Assoziationsprinzip zurückgeführt wird, so wird auch an dieser Stelle zumindest implizit auf ein transzendentales Erkenntnisvermögen, das der Einbildungskraft250 entspricht, verwiesen. schränkt. In La Mettries L’Homme machine wird das mechanistische Erklärungsmodell über den Körper hinaus auf die geistigen Vorgänge ausgedehnt, da für La Mettrie in genuin materialistischer Denkweise allein das Prinzip einer von den Sinnen ableitbaren Erkenntnis Gültigkeit hat. Vgl. dazu Overmann, Der Ursprung des französischen Materialismus, S. 257– 261. Dass sich Diderot im Bunde mit anderen Aufklärungsphilosophen vehement vom Arzt und Philosophen La Mettrie distanziert hat, lässt sich aufgrund eines polemischen Kommentars in den Essais sur les règnes de Claude et de Déron et sur la vie et les ouvrages de Sénèque (1778–1782) vermuten: „Lamettrie, sittenlos und schamlos, ein Narr und ein Schmeichler, war wie geschaffen für das Hofleben und die Gunst der Großen. Er ist so gestorben wie er sterben mußte: als Opfer der Unmäßigkeit und seiner Torheit. Da er die Kunst, die er ausübte, nicht beherrschte, tötete er sich selbst. Ich erkenne den Titel eines Philosophen nur demjenigen zu, der sich immer bemüht, die Wahrheit zu suchen und die Tugend auszuüben. Wenn ich aber nun aus der Schar des Philosophen einen in seinen Sitten und Anschauungen so verdorbenen Menschen ausschließe: Darf ich dann wirklich hoffen, daß die Feinde der Philosophie endlich schweigen werden? Nein.“ Zit. nach Dirk Hoeges, „Julien Offray de La Mettrie und die Grundlagen des französischen Materialismus im 18. Jahrhundert“, in: Europäische Aufklärung 3, hg. v. Jürgen von Stackelberg, Athenaion, Wiesbaden 1980, S. 252. Im Folgenden werde ich zeigen, dass sich Diderot vor allem von einer mechanistischen Materialismuskonzeption abgegrenzt hat, die auf den cartesianischmaterialistischen Körperbegriff zurückzuführen ist. Daraus lässt sich meines Erachtens aber nicht ableiten, dass Diderot La Mettries Philosophie grundsätzlich abgelehnt hätte. Vielmehr scheint er sich ebenso dezidiert an La Mettries philosophische Ideen angelehnt zu haben, wie er sich von dem vermeintlichen Mechanismus La Mettries zu distanzieren wusste. 249 DPV, Bd. 17, S. 101. 250 Im Rahmen aufklärerischen Denkens zeichnet sich in Opposition zum cartesianischen Gedankengut eine Auf- und Umwertung der Einbildungskraft ab. Laut Descartes hat die Einbildungskraft nichts mit der Schaffenskraft gemein. Insofern ist sie keine der Seele inhärente Kraft: „Je remarque outre cela que cette vertu d’imaginer qui est en moi, en tant qu’elle diffère de la puissance de concevoir, n’est en aucune sorte nécessaire à ma nature ou mon essence, c’est-à-dire à l’essence de mon esprit; car, encore que je ne l’eusse point, il est sans doute que je demeurerais toujours le même que je suis maintenant: d’où il semble que l’on puisse conclure qu’elle dépend de quelque chose qui diffère de mon esprit.“ Descartes, Œuvres philosophiques, Bd. 2: Les Méditations, Méditation VI, S. 489. Demgemäß ist die Imagination bei Descartes ein Teil des Körpers, in den sich wie in Wachs der „sens commun“ einschreibt, der wie ein Siegel die über die „sens externes“ vermittelten Eindrücke („idées“) formt. Descartes, Œuvres philosophiques, Bd. 1: Règles pour la direction de l’esprit, Règle XII, S. 139. Von diesem rein passiv-akzidentellen Imaginationsbegriff weichen in der Folge die über den englischen Empirismus in die französische Philosophie der Aufklärung getragenen Konzepte der Imagination deutlich ab. Beispielhaft für diesen Bedeutungswandel möchte ich hier Hobbes’ Begriff der Einbildungskraft anführen, da die Vorstellungen der französischen Aufklärer, auf die ich noch eingehen werde, große Ähnlichkeit mit Hobbes’ Begriff aufweisen. Damit soll indes nicht unterstellt werden, dass die französischen Aufklärer in Bezug auf den Imaginationsbegriff nicht auch unter dem Einfluss französischer Vorläufer gestanden hätten. Hobbes versteht unter Imagination mitunter die aktive Verarbeitung und
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Transzendental ist dieses schöpferische Assoziationsvermögen folglich, weil sich aus den in der Cembalo-Analogie verbildlichten Vermögen des Wahrnehmens („cordes vibrantes sensibles“) und Erinnerns bzw. Vergegenwärtigens („résonance nécessaire qui tient l’objet présent“) der Vorgang des assoziativen Kombinierens von Ideen („faire frémir d’autres [cordes]“) nicht in immanentmechanistischer Logik („intervalle incompréhensible“) entwickeln lässt. Schließlich eignet dem Assoziationsvermögen eine Qualität, die nicht aus der Summe von Wahrnehmung und Erinnerung ableitbar ist. Insofern muss das Assoziationsvermögen als irreduzible apriorische Kategorie bewertet werden, die sich einer Analyse ihrer Voraussetzungen entzieht. Vor dem Hintergrund der Grundlagenhypothesen zur sensibilité ist dementsprechend davon auszugehen, dass dieses Vermögen in einem mit mémoire begabten Organismus als Qualität der sensibilité entbunden wird. Gleichwohl wird diese implizite Transzendierung mechanischer Prämissen in Diderots Zusammenfassung seiner Analogie scheinbar vollständig zurückgenommen, denn hier wird der Mensch als sinnliches Wesen wieder auf die Mechanik des Cembalos reduziert: L’instrument philosophe est sensible, il est en même temps le musicien et l’instrument. Comme sensible, il a la conscience momentanée du son qu’il rend; comme animal, il en a la mémoire; cette faculté organique en liant les sons en lui-même, y produit et conserve la mélodie. Supposez au clavecin de la sensibilité et de la mémoire, et dites-moi s’il ne se répétera pas de lui-même les airs que vous aurez exécutés sur ses touches. Nous sommes des instruments doués de sensibilité et de mémoire. Nos sens sont autant de touches qui sont pincées par la nature qui nous environne, et qui se pincent souvent elles-mêmes; et voici, à mon jugement, tout ce qui se passe dans un clavecin organisé comme vous et moi. Il y a une impresKombination von Sinneseindrücken, die zuvor durch eine Gedächtnisleistung zurückgehalten werden: „Die Sinnesempfindung zeigt zu einer Zeit die Figur eines Berges und zu einer anderen Zeit die Farbe des Goldes; aber die Einbildung hat sie nachher beide zugleich: als goldenen Berg. Von derselben Ursache rührt es her, daß uns Schlösser in der Luft, Chimären und andere Ungeheuer erscheinen, welche nicht in der Natur vorhanden sind, sondern stückweise zu verschiedenen Zeiten durch die Sinnlichkeit aufgenommen wurden. Und diese Zusammensetzung ist es, was wir eine Fiktion zu nennen pflegen.“ Thomas Hobbes, Daturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen, übers. v. Ferdinand Tönnies, Hobbing, Berlin 1926, S. 43 f. Hier wird das Produkt einer gewissen mentalen Aktivität als Einbildung bezeichnet, die laut Hobbes’ bildlicher Beschreibung durch eine kompositorische Wesenheit gekennzeichnet ist. Folglich kommt der Imagination bei Hobbes im Vergleich zu Descartes eine besondere erkenntnistheoretische Bedeutung zu. Gleichwohl kann sie sich aber auch im Chimärischen verlieren. Weiterhin stellt Hobbes einen Nexus zwischen Imaginations- und Assoziationsmechanismen her, indem er beiden ein kombinatorisches Wirken attestiert, das er im Falle einfacher Assoziationsmechanismen wie folgt beschreibt: „Die Ursache des Zusammenhanges oder der Art, wie eine Vorstellung auf die andere folgt, ist ihr ursprünglicher Zusammenhang zu der Zeit, wo sie durch die Sinnlichkeit hervorgebracht wurden.“ Hobbes, Daturrrecht, S. 46. Eine explizitere Verbindung zwischen Imagination und Assoziation wird in der Folge und möglicherweise in Anlehnung an Hobbes bei d’Alembert hergestellt: „L’esprit ne crée et n’imagine des objets qu’en tant qu’ils sont semblables à ceux qu’il a connus par des idées directes et par des sensations: plus il s’éloigne de ces objets, plus les êtres qu’il forme sont bizarres et peu agréables.“ D’Alembert, Discours préliminaire de l’Encyclopédie, S. 64. Vgl. in Bezug auf die Gesamtentwicklung des Imaginationsbegriffes Becq, Genèse de l’esthétique française moderne, S. 151 ff.
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sion qui a sa cause au dedans ou au dehors de l’instrument, une sensation qui naît de cette impression, une sensation qui dure; car il est impossible d’imaginer qu’elle se fasse et qu’elle s’éteigne dans un instant indivisible; une autre impression qui lui succède et qui a pareillement sa cause au dedans ou au dehors de l’animal; une seconde sensation et des voix qui les désignent par des sons naturels ou conventionnels.251
Insofern lässt sich die Cembalo-Analogie so verstehen, dass das menschliche Wesen von äußeren oder inneren Sinneseindrücken bewegt wird, die es, seiner selbst bewusst, als Empfindungen im Gedächtnis zu einer zusammenhängenden Lebensgeschichte zu verknüpfen vermag. Die Art der Verknüpfung dieser Empfindungen und damit ein entscheidender Aspekt des Denkprozesses wird in der Zusammenfassung allerdings nicht mehr erläutert, da genau dieser Aspekt angesichts seiner Komplexität und einer gänzlich ungesicherten Faktenlage am wenigsten mechanisch dargestellt werden kann. Deshalb nimmt es auch nicht wunder, dass die von Diderot vorgetragene Systematik von d’Alembert ironisch quittiert wird: „J’entends. Ainsi donc si ce clavecin sensible et animé était encore doué de la faculté de se nourir et de se reproduire, il vivrait et engendrerait de lui-même ou avec sa femelle de petits clavecins vivants et résonants.“252 Auf diese Weise wird zumindest dem mechanischen Anteil der CembaloMetapher, die den Eindruck vermittelt, ein Mensch mit seinen komplexen Funktionsmechanismen könne quasi demiurgisch nach dem Muster eines Cembalos konstruiert werden, mit äußerster Skepsis begegnet. Schließlich lassen sich die komplexeren mentalen Prozesse nicht einmal beschreiben. Wie aber ist die ironisch vermittelte Skepsis der Figur d’Alembert, die sich in diesem Fall gegen den Mechanismus der Figur Diderot richtet, im Allgemeinen zu bewerten? Diese Frage ist insoweit entscheidend, als diese die erkenntnistheoretischen Überlegungen des ersten Teils vorläufig abschließende ironische Bemerkung d’Alemberts beileibe nicht die einzige skeptische Note ist, die dem Mathematiker zugeschrieben wird. Im Rahmen seiner skeptischen Haltung stellt er nichts weniger als die gesamte Konzeption der Empfindsamkeit der Materie in Frage, wenn er zu bedenken gibt, dass die sensibilité eine mit der Materie inkompatible Qualität ist, weil die Materie im Gegensatz zur einfachen und unteilbaren Qualität der Empfindsamkeit, die hier den Charakter einer vitalistischen Kraft hat, teilbar ist.253 Die Figur Diderot räumt zwar ein, dass die materialistische sensibilité-Konzeption hypothetischer Natur ist, da es für sie keinerlei empirischen Beleg gibt. Dennoch ist die Figur Diderot nicht bereit, den Einwand der Figur d’Alembert hinzunehmen. Denn der führt in der Logik der Textfigur Diderot unweigerlich zum traditionellen Dualismus,254 der als Alternative völlig inakzeptabel wäre: „Soyez logicien, et ne substi251 252 253 254
DPV, Bd. 17, S. 102 f. Ebd., S. 103. Vgl. ebd., S. 106. Es ist der Figur Diderot vorbehalten, das mit dem Dualismus verbundene Problem zu formulieren. Wie und vor allem wann sollte ein der Materie nicht inhärentes vitalistisches Element der Materie hinzugefügt werden und wäre es räumlich ausgedehnt oder nicht? Vgl. ebd., S. 105.
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tuez pas à une cause qui est et qui explique tout, une autre cause qui ne se conçoit pas, dont la liaison avec l’effet ne se conçoit encore moins, qui engendre une multitude infinie de difficultés et qui n’en résout aucune.“255 So bleibt zwar das Rätsel um Materie und Empfindsamkeit nach wie vor ungelöst, aber dank d’Alemberts skeptischer Nachfrage tritt das vom Text transportierte Problembewusstsein zu Tage: Da die materialistische Konzeption der sensibilité hypothetischer Natur ist und ein empirischer Beleg für ihre Richtigkeit nicht erbracht werden kann, lässt sich, anders als es die Textfigur Diderot intendiert, auch keine unumstößliche materialistische Systematik aufrecht erhalten. Doch selbst der Philosophenfigur wird schließlich eine das eigene System relativierende Haltung zugeschrieben, wenn sie sich dazu bekennt, dass ihrer Systematik die gleiche Schwäche zu Eigen sei, wie der Systematik Berkeleys, der in seinem idealistischen Denken davon ausgeht, dass es keine von der subjektiven Wahrnehmung unabhängige Wirklichkeit gibt.256 Insofern bestünde wie bei Berkeley die Gefahr, dass das empfindsame Cembalo, der Mensch, in einem Moment des Irrsinns glaube, es sei allein auf Erden und in ihm allein spiegle sich das Universum wider: „que toute l’harmonie de l’univers se passait en lui.“257 Hiermit ist gesagt, dass es unabdingbar ist, das eigene System beständig an der Wirklichkeit zu messen, damit nicht das geschieht, was unweigerlich aus Berkeleys idealistischem Subjektivismus folgt: In diesem Kontext existiert die Wirklichkeit nur in Abhängigkeit von der subjektiven Wahrnehmung, sodass allein die Wahrnehmung für die Richtigkeit des Wirklichkeitsbildes einsteht, wobei die Wirklichkeit selbst niemals Korrektiv der Wahrnehmung sein kann. Diese Annahme führt wiederum zu einem unumstößlichen Dogmatismus, der die eigenen Ansichten per Definition als die einzig möglichen und somit wahren Aussagen über die Wirklichkeit ansieht. Vor diesem Hintergrund kommt der Skepsis die Funktion zu, den spekulativen Charakter der grundlegenden materialistischen Hypothesen aufzuzeigen, um dadurch der latenten Gefahr eines systematischen Dogmatismus vorzubeugen. In der Konsequenz lässt sich außerdem schließen, dass angesichts der Prekarität der den Materialismus begründenden Hypothesen auch alle auf dieser Anschauung beruhenden Aussagen über die Natur einen nur auf Wahrscheinlichkeit beruhenden Wahrheitsgehalt haben, der in Anbetracht genauerer Kenntnisse jederzeit falsifizierbar ist. Das bedeutet auch, dass die von der Figur Diderot verbreitete mechanisch-materialistische Erkenntnistheorie, die auf diesen Hypothesen fußt, keinesfalls der Wahrheit letzter Schluss ist. Wie um diese Feststellung der Relativität des Wahrheitsgehalts von Aussagen über die Wirklichkeit im Allgemeinen zu unterstreichen, tritt die Figur d’Alembert im Besonderen mit der Frage auf den Plan, wie im Geiste von Dide-
255 Ebd., S. 107. 256 Vgl. Arend Kulenkampff, „Erfahrung und Metaphysik. Zum Idealismus George Berkeleys“, in: Georges Berkeley, Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, hg. u. übers. v. Arend Kulenkampff, Meiner, Hamburg 2004, S. VII–XLIII. 257 DPV, Bd. 17, S. 109.
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rots System Syllogismen gebildet und Konsequenzen gezogen würden.258 Damit weist er als der Skeptiker, den er verkörpert, nochmals aus anderer Perspektive auf das Problem hin, das in der Systematik des materialistischen Denkens am wenigsten empirisch belegbar ist und dem zugleich die größte Bedeutung beigemessen wird. Es handelt sich dabei um die im Rêve de d’Alembert bislang keineswegs erschöpfend beantwortete erkenntnistheoretische Frage, wie das Denken zu verstehen ist. Zulässig ist diese Annahme, weil die Frage, wie ausgehend von zwei Prämissen logische Schlüsse auf das Allgemeine bzw. Konsequenzen gezogen werden, zumindest seit der Scholastik unter die Rubrik des Denkens fällt, da hierbei die Urteilskraft des Subjekts ins Spiel kommt. Die Replik der Figur Diderot ist denkbar unbefriedigend, kommt doch in ihr zum Ausdruck, dass der Mensch wie ein Automat von der Natur in seinem Denken determiniert wird: C’est que nous n’en tirons point, elles [les conséquences] sont toutes tirées par la nature. Nous ne faisons qu’énoncer des phénomènes conjoints dont la liaison est ou nécessaire ou contingente, phénomènes qui nous sont connus par l’expérience: nécessaires en mathématiques, en physique et autres sciences rigoureuses; contingents en moral, en politique et autres sciences conjecturales.259
Von der Determination des Denkens durch die Natur kann hier insoweit gesprochen werden, als das Denken in diesem Kontext lediglich als Wiedergabevorgang einer jeweils notwendigen oder kontingenten Verknüpfung der Phänomene beschrieben wird. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet an dieser Stelle des Textes von der Figur d’Alembert scheinbar unpassend und lapidar nach dem Stellenwert der Analogie gefragt wird. Die Figur Diderot vereinnahmt die Analogie in ihrer Replik zur Veranschaulichung ihrer deterministischen These, der zufolge der Mensch nur die ohnehin miteinander verbundenen Phänomene zum Ausdruck bringt: „nous ne faisons qu’énoncer des phénomènes conjoints“. In diesem Sinne wird die Analogie als mathematisches Verfahren zum Ausdruck notwendiger Schlussfolgerungen beschrieben: L’analogie dans les cas les plus composés n’est qu’une règle de trois qui s’exécute dans l’instrument sensible. Si tel phénomène connu en nature est suivi de tel autre phénomène connu en nature, quel sera le quatrième phénomène conséquent à un troisième ou donné par la nature, ou imaginé à l’imitation de la nature? Si la lance d’un guerrier ordinaire a dix pieds de long, quelle sera la lance d’Ajax? […] C’est une quatrième corde harmonique et proportionnelle à trois autres dont l’animal attend la résonance qui se fait toujours en lui-même, mais qui ne se fait pas toujours en nature. Peu importe au poète, il n’en est pas moins vrai. C’est autre chose pour le philosophe; il faut qu’il interroge ensuite la nature qui lui donnant souvent un phénomène tout à fait différent de celui qu’il avait présumé, alors il s’aperçoit que l’analogie l’a séduit.260
258 Vgl. ebd. 259 Ebd. 260 Ebd., S. 110 f.
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Dennoch klingt bei dieser mechanischen Beschreibung der Analogiebildung im menschlichen „instrument sensible“261 noch ein anderer Aspekt mit: Aufgrund der Erwähnung des „instrument sensible“ wird auch die Cembalo-Analogie wieder aufgerufen, die der Veranschaulichung der Entstehung von Ideenkomplexen diente. Nun liegt es am Leser selbst, einen Analogieschluss zu ziehen: War im Kontext der Cembalo-Analogie ein eigentümlich schöpferisches Assoziationsprinzip beim Anriss einer Saite für das Mitschwingen von Obertönen und damit für die Entstehung von Ideenkomplexen zuständig,262 so ist beim Analogieschluss wiederum vom Erklingen einer „quatrième corde harmonique“263 die Rede. Insofern besteht eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Assoziationsprinzip und Analogiebildung, die darin zu sehen ist, dass beiden eine schöpferische Einbildungskraft zur Veranschaulichung und Bildung von komplexen Begriffen zugrunde liegt. Die Einbildungskraft ist, insoweit sie voraussetzungslos und somit nicht weiter analysierbar ist, ein apriorisch-transzendentales Vermögen. So kommt es auch nicht von ungefähr, dass die Analogiebildung wiederum mit der Tätigkeit des Poeten in Verbindung gebracht wird („peu importe au poète, il n’en est pas moins vrai“264), da der Dichter traditionsgemäß Kraft seiner Imagination eine textspezifische Wahrhaftigkeit zu entwickeln imstande ist. Es lässt sich festhalten, dass aufgrund der implizit angelegten Verknüpfung des Denkprozesses mit der schöpferischen Einbildungskraft nicht von einem ausschließlich mechanistisch durch die Natur determinierten Denken die Rede sein kann. Vielmehr wird hier ein Erkenntnisprozess in Aussicht gestellt, der auf einem Wechselspiel zwischen den akzidentellen sinnlichen Wahrnehmungen und ihren auf die transzendentale Einbildungskraft zurückgehenden neuartigen Verknüpfungen und Kombinationen beruht. Veranschaulicht wird diese Form der Erkenntnisbildung im Einzelnen allerdings nicht. Zusammenfassend kann deshalb gesagt werden, dass der durch die Figur d’Alembert vermittelten Skepsis zumindest die Funktion der kritischen Infragestellung einer von der Figur Diderot verbreiteten mechanisch-materialistischen Erkenntnistheorie zukommt, deren grundlegende Hypothesen zudem spekulativ sind. Darüber hinaus zeichnet sich in dem impliziten Zusammenspiel der Figurenansichten ein neuer Ansatz ab, insoweit der mechanisch gedachte erkenntnistheoretische Materialismus – im Sinne rein sinnlich-aposteriorischer Erkenntnisbildung – in Verbindung mit einem neu gefassten Transzendentalbegriff – im Sinne apriorischer Erkenntnisvermögen – zu denken ist. Dass sich aus dieser Konstellation ein höchst widersprüchliches Konstrukt ergibt, ist nicht zu leugnen: Zum einen werden – durch die skeptische Haltung d’Alemberts vermittelt – die grundlegenden Hypothesen des Materialismus in Frage gestellt, weil sie empirisch nicht nachweisbar sind. Zum anderen wird die Analogiebildung, die empirisch keineswegs nachweisbare Erkenntnisse zu Tage fördert, im Gespräch der Philosophen zur Methode wissenschaftlich-philoso261 262 263 264
Ebd. Vgl. ebd., S. 101. Ebd., S. 110. Ebd.
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phischer Durchdringung der Natur erhoben.265 Beide Aspekte erfüllen miteinander kombiniert den Tatbestand eines Widerspruches. Anders gewendet, im Rahmen der skeptischen Überprüfung materialistischer Grundlagen hat sich angedeutet, dass die Analogiebildung als ein auf die Einbildungskraft zurückgehendes, wenn nicht mit ihr zuammenfallendes Vermögen in erkenntnistheoretischer Hinsicht eine entscheidende Rolle zugewiesen bekommen hat. Damit aber nicht genug, wird doch die Analogie im Gespräch zwischen Diderot und d’Alembert in weit augenscheinlicherer Weise als gleichsam wissenschaftliche Methode naturphilosophischer Weltentwürfe eingeführt, wobei für den philosophisch ausgerichteten Naturforscher nicht das gleiche wie für den Poeten gilt: „il faut qu’il interroge ensuite la nature qui lui donnant souvent un phénomène tout à fait différent de celui qu’il avait présumé, alors il s’aperçoit que l’analogie l’a séduit.“266 Angesichts der historisch beschränkten Mittel empirischer Naturforschungen kann es nicht ausbleiben, dass die meisten Fragen, die sich auf die Natur beziehen, unbeantwortet bleiben. Entsprechend stellen die Cembalo-Analogie wie auch die im weiteren Textverlauf angeführten Bienenstock- und Spinnenanalogien die einzigen Möglichkeiten dar,267 ohne spezifische physiologische, neurologische und in modernem Sinne psychologische Erkenntnisse einen weitreichenden materialistisch-epistemologischen Entwurf zu wagen. In seiner auf die Analogie bezogenen mathematischen Gleichung führt Diderot auch aus, dass die im Dienste der Erkenntnis stehende Analogie keineswegs völlig aus der Luft gegriffen ist. Die Analogiebildung folge dementsprechend einer „règle de trois“,268 die besagt, dass auf der Grundlage einiger bekannter Parameter qua Analogie auf ein viertes, in der Ursachenkette unbekanntes Element geschlossen werden könne. Wie mit der Widersprüchlichkeit von empirischem Anspruch und hypothetischer, auf Analogien beruhender Wissenschaftsmethodik umzugehen ist, die sich auf den ersten Blick nicht allzu sehr von der geschmähten cartesianischen Hypothetik zu unterscheiden scheint, darüber gibt die dem philosophischen Naturforscher zugewiesene Verhaltensregel Auskunft: Er muss die Phänomene, die ihm die Naturbetrachtung erschließt, beständig mit seinen Analogien abgleichen und Letztere verwerfen, wenn es die Natur der Dinge erfordert. Diese, moderne Wissenschaftsmethoden antizipierende Ansicht unterscheidet sich aber auch grundsätzlich von jenen modernen Methoden. So offenbart sie sich insoweit als Methode ihrer Zeit, als um des Anspruchs eines weitreichenden Entwurfes willen eine mitunter von rein hypothetischen Annahmen durchsetzte Naturauffassung dargestellt wird. Dieser besondere Wille zum übergreifenden Entwurf steht in Opposition zum modernen Wissenschaftsatomismus, der sich angesichts des 265 Das veranschaulicht insbesondere das auf das Philosophengespräch folgende Kapitel, Le Rêve de d’Alembert. Im Hinblick auf die Bedeutung der Analogie als Methode des innovativen Denkens sei insbesondere verwiesen auf Christopher J. Betts, “The Function of Analogy in Diderot’s Rêve de d’Alembert”, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, 185 (1980), S. 267–281. 266 DPV, Bd. 17, S. 111. 267 Auf besagte Analogien komme ich weiter unten noch zu sprechen. 268 Ebd., S. 110.
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Primats empirischer Überprüfbarkeit auch um die Vorzüge genialisch-spekulativer Weltentwürfe bringt. Im Rahmen dieses im Philosophengespräch entwickelten ‚Discours de la méthode‘ zeichnet sich somit auch eine die Skepsis in die Schranken weisende Haltung ab, da es für die Philosophenfigur Diderot keine Alternative zu ihrem materialistischen Entwurf gibt, der nicht mindestens auf ebensolche der Lächerlichkeit überführbaren Annahmen zurückgreifen müsste.269 Zweifellos spielt der Diderot des Textes mit seinen „hypothèses bien autrement ridicules“ auf die einzige im Diskussionskontext explizit angesprochene Alternative zum monistischen Materialismus an: den im Zeichen des cartesianischen Dualismus stehenden Weltentwurf, der seinerseits methodisch auf intuitive Hypothesen zurückgreift. Im Unterschied zur cartesianischen Methode dienen im Rahmen dieses neuen methodischen Verständnisses neue Naturerkenntnisse als Korrektiv der analogischen Hypothesen, sodass sich von einer Methode sprechen lässt, die einen beständigen Abgleich ihrer hypothetischen Annahmen mit der empirischen Wirklichkeit einfordert. Insofern ist trotz der empirisch keinesfalls überzeugenden Forschungsmethode ein Bewusstsein für die Vorläufigkeit der Forschungsergebnisse vorhanden. Es wird aber auch kein Hehl daraus gemacht, dass eine rein skeptische Haltung, die in diesem Zusammenhang im Geiste einer kritischen, abwägenden Vernunft funktionalisiert ist, gegenüber der hypothetischen Behauptung, mag diese auch nicht empirisch nachweisbar sein, zurückstehen muss. In diesem Sinne ist selbst der den rationalen Verstand repräsentierende Skeptiker d’Alembert geneigt, Diderots suggestiv geführter Argumentation zuzustimmen, wonach es niemanden gäbe, der nicht seinen wechselnden Überzeugungen entsprechend Behauptungen aufstellte: DIDEROT. […] Croyez-vous qu’il y ait une seule question discutée sur laquelle un homme reste avec une égale et rigoureuse mesure de raison pour et contre? D’ALEMBERT. Non, ce serait l’âne de Buridan. DIDEROT. En ce cas il n’y a donc point de sceptique, puisque à l’exception des questions de mathématiques qui ne comportent pas la moindre incertitude, il y a du pour et du contre dans toutes les autres. La balance n’est donc jamais égale, et il est impossible qu’elle ne penche pas du côté où nous croyons le plus de vraisemblance.270
Es lässt sich zudem leicht nachvollziehen, dass die analogische Behauptung, mag sie auch eine auf subjektiven Neigungen beruhende Ansicht sein, für den zeitgenössischen Wissensdiskurs unabdingbar ist. Denn ein auf Assoziationsleistung bzw. Einbildungskraft beruhender Entwurf erschließt Wissensräume, wiewohl sie nur in der Vorstellung existieren mögen, die einem allzu skeptischen Geist, angesichts der wenigen empirisch belegbaren Erkenntnisse, für immer verschlossen blieben. An subjektiven Imaginationen orientierte Behauptungen sind folglich notwendig, um weiterführenden Fragen auf den Grund zu gehen, da eine allzu 269 Die Textfigur Diderot formuliert es gegenüber d’Alembert mit den Worten: „Vous plaisantez, mais vous rêverez sur votre oreiller à cet entretien, et s’il n’y prend pas de la consistance, tant pis pour vous, car vous serez forcé d’embrasser des hypothèses bien autrement ridicules.“ Ebd., S. 111. 270 Ebd., S. 111 f.
II.3 La suite d’un entretien entre M. d’Alembert et M. Diderot
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streng angelegte skeptische Haltung dazu führte, dass sich aus Mangel an Erfahrungsbelegen tatsächlich keine entscheidenden Fragen mehr angehen ließen.271 Zusammenfassend lässt sich für das erste Kapitel des Rêve de d’Alembert der Schluss ziehen, dass auf der Grundlage materialistischer Basishypothesen in der Logik der Ursachenkette ein materialistisches Weltmodell bis hin zum Entwurf einer Erkenntnistheorie skizziert wird. Damit geht eine skeptische Infragestellung der materialistischen Erkenntnistheorie einher, wobei gleichsam die Idee ihrer Erweiterung um die transzendentale Dimension apriorischer Vermögen der Erkenntnisbildung ‚obertonartig‘ mitschwingt, um im Klangbild der CembaloAnalogie zu bleiben. Daran anknüpfend findet eine die Ästhetik des weiteren Textverlaufes ankündigende Diskussion um die Methoden des Wissen schaffenden Diskurses statt. Denn in dem Maße, wie der Text den als Spielart der Einbildungskraft charakterisierbaren Analogieschluss zum methodischen Dreh- und Angelpunkt der Wissensbildung erhebt, kündigt sich ein Textverlauf an, der aus methodischen Gründen einen Rahmen für Analogiebildungen und andere Ausdrucksformen der Einbildungskraft bietet.272 Dass die Kunst des analogischen Veranschaulichens die Grenzen des empirisch Belegbaren transzendieren kann, zeigt sich an der Cembalo-Analogie, in der ein Bild des Denkvorganges entworfen wird, wobei in einem Modus des Als-ob erfahrbar wird, was sich empirisch nicht nachweisen lässt. Diesem Umstand ist im Sinne einer die Einbildungskraft bzw. die Analogiebildung inszenierenden Rahmung Rechnung zu tragen, was mich in einem zweiten Schritt der Zusammenfassung zur Funktion der Fiktion zurückbringt. Im Kapitel La suite d’un entretien entre M. d’Alembert und M. Diderot hat die Fiktion, wie es der Paratext ankündigt, zunächst die Funktion, die Illusion einer historischen Gesprächssituation zwischen dem illustren Aufklärungsphilosophen und dem nicht minder bekannten Mathematiker der Aufklärung zu erzeugen. In vordergründig funktionaler und charakterlicher Übereinstimmung mit den historischen Personen treten dementsprechend Diderot als überzeugter materialistischer Denker und d’Alembert als nicht minder überzeugter rationaler Skeptiker auf den Plan, um möglichst glaubwürdig ein thematisch breites Spektrum des Aufklärungsdiskurses, der von den historischen Personen entscheidend mitgeprägt wurde, im Rahmen eines Gesprächs wiederzugeben. Im Verlauf des Textes offenbart sich indes, dass die Funktion des illusionsgestützten Textanteils nicht darauf hinausläuft, ein Gespräch wiederzugeben, wie es sich historisch zwischen d’Alembert und Diderot zugetragen hat oder zumindest hätte zutragen können. Als Signal 271 Genau diese Konsequenz stellt die Figur Diderot der Figur d’Alembert in sarkastischem Tonfall in Aussicht, nachdem d’Alembert zu bedenken gegeben hatte, dass er seine Urteile häufig für zu wenig konsistent erachte, um sie aufrecht zu erhalten: „C’est à dire que vous ne vous rappelez plus la prépondérance des deux opinions entre lesquelles vous avez oscillé; que cette prépondérance vous paraît trop légère pour asseoir un sentiment fixe, et que vous prenez le parti de ne plus vous occuper de sujets aussi problématiques, d’en abandonner la discussion aux autres et de n’en pas disputer davantage.“ Ebd., S. 112. 272 In diesem Zusammenhang sei auch schon auf den Traum hingewiesen, der im noch zu besprechenden zweiten Kapitel als Mittel der Wissensbildung funktionalisiert wird.
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hierfür kann die letztlich überzogene Rigidität der Haltungen der Figuren gelesen werden, die Diderot als dogmatischen Materialisten und d’Alembert als eingefleischten Skeptiker ausweist. Insofern hat es der Leser mit vergleichsweise starren dramatischen Typen zu tun, die bestimmte Standpunkte repräsentieren, wie dies am ehesten in fiktionalen Typenkomödien üblich ist.273 Der Text signalisiert somit qua Gattungskonvention, dass er als ein fiktionaler zu lesen ist, der keineswegs in historisch adäquater Weise mit den realen Charakteren Diderot und d’Alembert übereinstimmende philosophische Anschauungen abbildet. Für die Bedeutungskonstitution entscheidend ist dennoch, dass zum einen ein möglichst breiter mit den historischen Personen Diderot und d’Alembert zusammenfallender Referenzhorizont des Aufklärungsdiskurses evoziert wird. Dazu gehören im weitesten Sinne die materialistische Naturanschauung und ihre kritische Hinterfragung vor dem Hintergrund der Ablösung von dem cartesianisch-rationalistischen Epochenparadigma. Zum anderen weisen die Typen Diderot und d’Alembert in ihrer Überzeichnung, die bei der Textfigur Diderot das Ausmaß dogmatischer Sturheit und bei d’Alembert skeptischen Blockierens annimmt, darauf hin, dass ihre Positionen keinesfalls unhinterfragt zu übernehmen sind. Vielmehr zeichnet sich im Text ein diskretes Zusammenspiel der an sich überzeichneten Haltungen ab, das auf ironischen Signalen und impliziten logischen Zusammenhängen beruht. Diese kaschierte Wirkungsästhetik des Textes nötigt den Leser, die Synthese in der Zusammenschau der Einzelansichten zu bilden, die die Form eines um transzendentale Aspekte erweiterten materialistischen Wirklichkeitsentwurfes annimmt. Dieser Ausführung entsprechend ist im ersten Kapitel ein fiktionales Spiel angelegt, welches zunächst durch gezielte Referenzbezüge die skizzierte Wirklichkeitsillusion erzeugt, um diese wiederum in der gezeigten Weise durch spezifische Fiktionssignale zu durchbrechen, sodass letztlich vom Leser ein fiktionsvermittelter eigenständiger Wirklichkeitsentwurf erstellt werden kann. Im zweiten Kapitel ist dieses fiktionale Spiel dagegen mit umgekehrten Vorzeichen angelegt, insofern als die Textfigur d’Alembert im Stile der Komödientradition zunächst aus der Rolle fällt und so mit der im ersten Kapitel aufgebauten Referenzillusion bricht. Da bislang noch nicht zwingend begründet wurde, warum der im Text angelegte erkenntnistheoretische Wurf im Rahmen fiktionaler Ästhetik entwickelt wird, werde ich die Bedeutung der Fiktion für diese Erkenntnistheorie anhand des zentralen Textkapitels, dem Rêve de d’Alembert, veranschaulichen.
273 Selbstverständlich handelt es sich beim Rêve de d’Alembert um keine Typenkomödie, da hier weder die Figur d’Alembert noch die Figur Diderot einem dezidiert klischeehaften Muster zeitgenössischer Charakterologie oder Sozialtypologie entspricht, wie dies etwa in Molières Typenkomödien der Fall ist. Da aber der Skeptiker und der Materialist als vergleichsweise starre und klischeehafte Vertreter einer philosophischen Geisteshaltung ausgewiesen sind, lässt sich eine Überschneidung mit Gattungskonventionen der Typenkomödie nicht leugnen.
II.4 Die fiktionale Veranschaulichung der Einbildungskraft
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II.4 DIE FIKTIONALE VERANSCHAULICHUNG DER EINBILDUNGSKRAFT ALS SCHÖPFERISCHES ERKENNTNISVERMÖGEN Das zweite Kapitel, Le Rêve de d’Alembert, liefert mit seinem im Vergleich zum ersten Kapitel stärker dramatisierten Setting einen Rahmen für den mit Analogien angereicherten Traum der Textfigur d’Alembert, der wiederum von Bordeu und Mlle de l’Espinasse flankierend kommentiert wird. Auch deren Rede ist mit Analogien von zentraler Bedeutung angereichert. Insofern ermöglicht die fiktionale Dramatisierung eine homogene Verwebung von Dialogen und Traumpassagen, wobei die als Statthalterin der Einbildungskraft ausweisliche Analogiebildung gezielt als Erkenntnismethode im Dienste materialistischer Weltentwürfe eingesetzt wird. Unabhängig von der Richtigkeit der einzelnen, auf die Einbildungskraft rückführbaren hypothetischen Entwürfe ermöglicht die fiktionale Textgestalt darüber hinaus, die Einbildungskraft an sich als apriorisches Vermögen der Erkenntnisbildung erfahrbar zu machen. Diesen Aspekt möchte ich hier veranschaulichen. Zunächst signalisiert das komische Aus-der-Rolle-Fallen d’Alemberts, dass er als Figur im Traumkapitel gezielt in Kontrast zur historischen Person d’Alembert angelegt ist, insofern als er im Gegensatz zum ersten Kapitel nicht mehr der den Materialismus der Figur Diderot in Frage stellende rationale Skeptiker ist.274 Vielmehr entwickelt der träumende d’Alembert nach Ansicht des Arztes Bordeu geradezu geniale naturphilosophische Weltenwürfe.275 Dieser desillusionierende Bruch erzeugt die Komik des Textes, denn der dem Materialismus skeptisch gegenüberstehende d’Alembert des ersten Teils wird im zweiten Teil entgegen aller referentiellen Wahrscheinlichkeit zum träumenden Vertreter eines vitalistischmechanischen Materialismus nach Art der Textfigur Diderot. Der den komischen Effekt erzeugende Bruch in der Figurenkonzeption ist auch als Fiktionssignal lesbar, das den Leser dazu auffordert, die vermeintliche Korrespondenz zwischen dem Materialismus der Textfigur Diderot und dem des träumenden d’Alembert in 274 Von der historischen Person d’Alembert ist aus einem am 3. November 1770 an Friedrich II. von Preußen gerichteten Brief bekannt, dass er zumindest mit der These aus der Organisation der Materie hervorgehender Verstandesvermögen vertraut war. In dem nachfolgend zitierten Auszug wägt er die Wahrscheinlichkeit dieser Hypothese in Bezug auf die Intelligenz ab: „Cette intelligence dans l’homme et dans les animaux, est-elle distinguée de la matière, ou n’en est-elle qu’une proprieté dépendante de l’organisation? L’expérience paraît prouver, et même démontrer le dernier, puisque l’intelligence croît et s’éteint, à mesure que l’organisation se perfectionne et s’affaiblit.“ D’Alembert, Œuvres complètes, Bd. 5: Correspondance, Slatkine Neudruck, Genf 1967, S. 302. Damit ist einerseits zum Ausdruck gebracht, dass er eher einer materialistischen als einer dualistischen Auffassung zugeneigt ist. Andererseits stellt er, wie auch im ersten Kapitel des Rêve de d’Alembert vorgeführt, klar heraus, dass er dem Materialismus ganz und gar skeptisch verbunden ist. Das belegt zumindest der anschließend geäußerte Zweifel, dass nicht unbedingt auf andere Erkenntnisvermögen übertragbar ist, was möglicherweise für die Intelligenz gilt: „Mais comment l’organisation peut-elle produire le sentiment et la pensée?“ Ebd. 275 Vgl. DPV, Bd. 17, S. 121.
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Frage zu stellen. Mit anderen Worten, da im Text aufgrund des unwahrscheinlichen Geschehens signalisiert wird, dass mit der Figurenkonzeption nicht die Abbildung von Wirklichkeitsverhältnissen intendiert ist, sondern der fiktionalen Textästhetik gemäß eine eigene Wirklichkeitsmodellierung vorgenommen wird, ist auch die Figur d’Alembert im Hinblick auf ihre fiktionale Konsistenz zu verstehen. Im ersten Kapitel beruht diese darauf, den Materialismus im Allgemeinen und den mechanischen Materialismus im Besonderen in Frage zu stellen. Insofern spricht einiges dafür, dass die Figur d’Alembert trotz des äußeren Rollenbruches, der sich im Traumkapitel vollzieht, der fiktionalen Rollenkonsistenz entsprechend im Dienste einer den Materialismus kritisch in Frage stellenden Haltung steht. Auf den ersten Blick wird der vitalistische Materialismus der Figur Diderot in den Traumbildern d’Alemberts und den Kommentaren von Bordeu und Mlle de l’Espinasse lediglich erweiternd veranschaulicht: Dementsprechend ist auch in diesem zweiten Dialog, ausgehend von der Annahme einer generellen Empfindsamkeit der Materie von der Entstehung des fühlenden Wesens und seiner materiellen Organisation die Rede. In diesem Kontext bringt Mlle de l’Espinasse dem Arzt Bordeu ihre Aufzeichnung eines Traumes d’Alemberts zur Kenntnis, in dem Letzterer die Bienenstockanalogie entwickelt, wobei er den Wechsel vom Kontiguitätsprinzip zum Kontinuitätsprinzip veranschaulicht, wie Bordeu im Anschluss kommentierend erklärt.276 Damit ist die Vorstellung verbunden, dass molekulare Verbände, die wie im Falle des Bienenstocks lose miteinander verbunden sind, angesichts evolutionärer Entwicklungen in eine Kontinuitätsrelation überführt werden können, wie dies in einem aus Einzelmolekülen bestehenden Individuum der Fall ist.277 Eine solche molekulare Verbandstruktur vorausgesetzt, werden mit der Polypenanalogie auf Teilung beruhende Fortpflanzungsszenarien entwickelt und mit der von Mlle de l’Espinasse vorgetragenen Spinnenanalogie schließlich Funktionsweisen komplexer Organismen imaginiert. Dem Prinzip der Ursachenkette Rechnung tragend, ist insoweit eine Entwicklung vorgestellt, die vom einfachen Molekül bis hin zum komplexen empfindungsbefähigten Organismus reicht.278 Zum Abschluss der Thematik der Organisation der Materie stellen Bordeu und Mlle de l’Espinasse die zentrale Bedeutung des Gehirns in den Vordergrund, laufen doch sämtliche Empfindungen, welche die Nervenfasern übermitteln, in jenem Zentralorgan zusammen, wo sie im Gedächtnis abgespeichert werden.279 Es folgen schließlich im engeren Sinne erkenntnistheoretische Auslassungen, insoweit Verstand, Urteilskraft, Imagination, Wahnsinn, Debilität, Grausamkeit und Instinkt als Leistungen des zuvor skizzierten organischen Systems vorgestellt werden.280 In diesem Zusammenhang stellt sich sodann die Frage, weshalb es überhaupt eine komplexe dramatische Szenerie mit dem Dialog von Bordeu und Mlle de 276 277 278 279 280
Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 120–123. Vgl. ebd., S. 124–154. Vgl. ebd., S. 154–176. Vgl. ebd., S. 176.
II.4 Die fiktionale Veranschaulichung der Einbildungskraft
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l’Espinasse und den darin eingebetteten Traumsequenzen d’Alemberts gibt, wenn im Rahmen dieses Settings lediglich eine detailreiche Ergänzung eines bereits im Gespräch des ersten Teils aufgefalteten Materialismus stattfände. Zum einen lässt sich die Funktion der komplexeren dramatischen Fiktionalisierung mit der angeführten Bedeutung der Einbildungskraft und ihrer Statthalter Traum und Analogie als Erkenntnismethoden begründen.281 Zum anderen kann die Bedeutung des Traumes d’Alemberts und sein damit zusammenhängendes komödiantisches, die Wirklichkeitsillusion störendes Aus-der-Rolle-Fallen mit der komischen Textfunktion erklärt werden. Abgesehen davon, dass die zuletzt angeführte Begründung Ausdruck einer für Diderot zumindest untypischen Ästhetik wäre, weil sich komische Textelemente bei ihm üblicherweise ernsthaft funktionalisieren lassen, sind auch beide Begründungen zusammengenommen keineswegs hinreichend, um die Ästhetik des zweiten Teiles und somit das Zusammenspiel von Traumgeschehen und dialogischen Kommentarelementen zu rechtfertigen.282 Auf eine mögliche Funktion dieser fiktionalen Textgestalt werde ich am Beispiel einiger Textpassagen eingehen, die im Modus von Dialog und Traum die Bedeutung des Traumes und übergeordnet der Einbildungskraft explizit thematisieren bzw. implizit veranschaulichen. Dabei erklärt sich auch das Verhältnis der beiden Modi zueinander. Die hier zunächst vorgestellte Dialogsituation befindet sich in dem Textteil, in dem nach der Diskussion über die organische Materienorganisation weitgehend erkenntnistheoretische Fragestellungen das Gespräch zwischen den Textfiguren Bordeu, Mlle de l’Espinasse und d’Alembert bestimmen. Letzterer ist aus seinem Traum erwacht und beteiligt sich an der Diskussion mit einer an Bordeu gerichteten Frage zur Bedeutung des Schlafes. Der entscheidende Teil der Antwort des Arztes beinhaltet eine Art Traumtheorie: Dans la veille le réseau obéit aux impressions de l’objet extérieur. Dans le sommeil c’est de l’exercice de sa propre sensibilité qu’émane tout ce qui se passe en lui. Il n’y a point de distraction dans le rêve; de là sa vivacité: c’est presque toujours la suite d’un éréthisme, un accès passager de la maladie. […] Les concepts y sont quelquefois aussi liés, aussi distincts que dans l’animal exposé au spectacle de la nature. Ce n’est que le tableau de ce spectacle réexcité: de là sa vérité, de là l’impossibilité de le discerner de l’état de veille; nulle probabilité d’un de ces états plutôt que de l’autre. Nul moyen de reconnaître l’erreur que l’expérience.283
Tatsächlich ist diese Ausführung Bordeus eine auf den Traumzustand bezogene Erkenntnistheorie, die wiederum in Relation zum Wachzustand gesetzt wird. Eine Unterscheidung zwischen beiden Zuständen gibt es laut Bordeu nur in Bezug auf die Herkunft der Eindrücke, die im Wachzustand von außen kommen, während 281 Auf die im Rêve de d’Alembert hergestellte Verbindung von Traum und Einbildungskraft gehe ich noch ein. 282 In diesem Zusammenhang ist Dieckmann zu erwähnen, der im Rêve de d’Alembert einen direkten Bezug zwischen literarischer Form und Ideengehalt sieht, was ihn dazu veranlasst hat, von einer Parallele zwischen der künstlerischen Form des Traumes und bestimmten Erkenntnisvermögen zu sprechen. Vgl. Dieckmann, Die künstlerische Form des Rêve de d’Alembert, S. 24. 283 DPV, Bd. 17, S. 183.
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sie im Traumzustand von innen aufsteigen, sei es in Form von Erregungen, die von den Sinnesorganen ausgehen oder als Vorstellungen, die unmittelbar vom Gehirn („l’origine du faisceau“284) selbst ausgehen. Die Vorstellungen an sich unterscheiden sich allerdings nicht von denen des Wachzustandes, da im Traum, zugespitzt formuliert, lediglich wieder aufgerufen wird, was im Wachzustand an von der Außenwelt vermittelten Sinneseindrücken in der Erinnerung abgespeichert wurde.285 Aus Bordeus Kommentar lässt sich damit ein grundsätzlich mechanischer und streng deterministischer erkenntnistheoretischer Ansatz ableiten. Denn Bordeus Theorie beinhaltet, dass sowohl im Traum wie auch im Wachzustand letztlich die von der Außenwelt induzierten Sinneseindrücke in der von der Natur vorgegebenen Weise miteinander kombiniert werden, insofern als die Empfindungen von den Sinnesorganen in ihrer natürlichen Ereignisfolge an die Erinnerung weitergeleitet und dort abbildlich miteinander verbunden werden. Diese Verbindungen sind kontingent und dabei mehr oder weniger sinnvoll. Im Traum wird der Abbildungsvorgang im Vergleich zum Wachzustand, vereinfacht gesprochen, lediglich zeitlich verschoben wiedergegeben. Ein Spielraum für eine individuelle Kombinatorik der Empfindungen ist dieser Logik zufolge ausgeschlossen. Wie ernst dieser erkenntnistheoretische Determinismus Bordeus zu nehmen ist, das kündigt sich in dem auf den ersten Blick unverfänglich erscheinenden Kommentar d’Alemberts im Anschluss an Bordeus Ausführungen zumindest an: „Voilà donc tout ramené à de la sensibilité, de la mémoire, des mouvements organiques; cela me convient assez. Mais l’imagination? mais les abstractions?“286 Ein stärkerer inhaltlicher Einwand gegen den mechanischen Determinismus des Bordeu’schen Materialismus als der in unverfänglicher Frageform vorgebrachte Hinweis auf die Einbildungskraft lässt sich mit nur einem Wort kaum artikulieren. Zumindest dann, wenn der Einbildungskraft in einer für die Aufklärungsbewegung gebräuchlichen Begriffsverwendung ein kombinatorisches, mitunter sogar genialisches Schöpfungsvermögen zugeschrieben wird.287 Erwähnen möchte ich 284 Ebd., S. 182. 285 Bei Voltaire findet sich in seinem 1765 veröffentlichten Artikel Imagination aus der Encyclopédie auch eine Aussage über das Wirken der Imagination im Zustand des Träumens. Voltaire bezeichnet sie in diesem Kontext als „imagination passive“. Voltaire, Œuvres complètes, Bd. 33, hg. v. William Henry Barber, Voltaire Foundation, Oxford 1987, S. 206. Doch selbst besagter „imagination passive“ des Traumes spricht er eine vollständig getreue Wiedergabe der Bilder des Wachzustandes ab, da auch sie über ein gewisses Maß an eigenständigem Kompositionspotenzial verfüge. Vgl. ebd.. Angesichts dessen, dass es sich hierbei um einschlägiges enzyklopädisches Wissen handelt, ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass der Autor Diderot wenigstens über dieses Wissen in Bezug auf den Traum verfügte. Allein aus diesem Grund scheint es angebracht, die realitätsferne mechanistische Traumtheorie Bordeus nicht als ernstzunehmende Exposition zeitgenössischen Traumwissens anzusehen. Dabei lässt sich schon mutmaßen, dass der exzessive Mechanismus der Figur Bordeu nicht als der Wahrheit letzter Schluss zu lesen ist. 286 DPV, Bd. 17, S. 188. 287 Auf die englischen Empiristen und insbesondere auf Hobbes habe ich hinsichtlich der schöpferisch-kombinatorischen Bedeutungstradition des Imaginationsbegriffes bereits hingewiesen. Dass diese Bedeutung des Imaginationsbegriffes in Opposition zu Descartes’ ausschließlich
II.4 Die fiktionale Veranschaulichung der Einbildungskraft
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in diesem Zusammenhang allen voran Voltaire als den wohl bekanntesten Vertreter des besagten Imaginationsbegriffes. In seinem Artikel Imagination aus der Encyclopédie spricht er davon, dass die Sinnesorgane für die Wahrnehmung zuständig sind, wohingegen das Gedächtnis für die Erinnerung der Wahrnehmungen und die Imagination schließlich für ihre Kombination zuständig ist. Er geht soweit, allein der Imagination die Verknüpfung der Ideen zu Ideenkomplexen („composition des idées“) zuzuschreiben;288 ein Vorgang der sich anhand der Beispiele, die er anführt, auch als Abstraktionsvermögen charakterisieren lässt.289
negativ bewertetem Imaginationsbegriff steht, sei hier nochmals erwähnt. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass die Aufklärungsbewegung in ihrer Abkehr von der cartesianischrationalistischen Denkweise die Imagination, die im rationalistischen Kontext durchweg als Sinnbild der Irrationalität firmiert, zu einem erkenntnistheoretisch bedeutsamen Begriff umgewertet hat. Bei Eigeldinger findet sich im Hinblick auf den Bedeutungswandel des Imaginationsbegriffes im 18. Jahrhundert eine Besprechung der negativen Bedeutungsdimension der Imagination im Kontext der rationalistischen doctrine classique. Die Renaissance der „imagination“ sieht er dabei an die der „sensibilité“ gekoppelt. Vgl. Eigeldinger, JeanJacques Rousseau et la réalité de l’imaginaire, S. 21–46. Behrens hat im Gegensatz dazu einige Kontinuitätslinien zwischen dem Imaginationsbegriff des „Vermittlers cartesischen Gedankenguts“, Malbranche und dem Imaginationsbegriff im Zeitalter der Frühaufklärung hervorgehoben. Im Kern sieht er die Imagination bei Malbranche als „herausgehobene Schnittstelle zwischen den beiden Substanzen Körper und Seele“ charakterisiert, die sich als bedeutsam für die „liaison des idées de l’esprit avec les traces du cerveau“ erweist. Behrens, „Theoretische und literarische Modellierung der Imagination“, S. 127. Weniger in den Kontext von Kontinuitäten als vielmehr in den Rahmen wichtiger Wegbereiterschaft eines epistemologisch funktionalisierten Imaginationsbegriffes im Denken der Aufklärungsbewegung hat Becker die Ausführungen Dubos’ in den Réflexions critiques sur la poésie et la peinture gestellt. Dementsprechend argumentiert sie, dass Dubos eine auf Rationalität basierende Nachahmungstheorie durch eine Schöpfungstheorie ersetzt habe, die Individualität und individuelles Schaffen in den Vordergrund stelle. Diese Ersetzung im Bereich des Ästhetischen korrespondiert mit einer im erkenntnistheoretischen Bereich: so wird der Verstand bei Dubos durch die eigentlichen Grundkräfte ‚Gefühl‘ und ‚Einbildungskraft‘ substituiert, wie Cassirer feststellt. Vgl. dazu Becker, Jacques Delille „L’imagination“, S. 14 f. und Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 405 f. Obschon Becq der Meinung ist, dass Dubos’ Ansatz trotz der „idée de créer“ keinen Aktivitätsbegriff meine, der bereits das Konzept einer genialen schöpferischen Energie beinhalte (vgl. Becq, Genèse de l’esthétique française moderne, S. 440), lässt sich angesichts der hier beschriebenen Valorisierung der Einbildungskraft behaupten: es bedurfte keines großen Schrittes mehr, um einer epistemologisch funktionalisierten Einbildungskraft das Wort zu reden. Im Kontext des Aufklärungsdiskurses ist der Imagination je nach Autor ein mehr oder weniger ausgeprägtes schöpferisch-kombinatorisches Vermögen zugedacht worden. 288 Vgl. Voltaire, Œuvres complètes, Bd. 33, S. 204. 289 Vous prononcez les termes abstraits, grandeur, vérité, justice, fini, infini, mais ce mot grandeur est-il autre chose qu’un mouvement de votre langue qui frappe l’air, si vous n’avez pas l’image de quelque grandeur? Que veulent dire ces mots vérité, mensonge, si vous n’avez pas aperçu par vos sens que telle chose qu’on vous avait dit existait en effet, et que telle autre n’existait pas? Et de cette expérience ne composez-vous pas l’idée générale de vérité et de mensonge? […] L’idée abstraite du juste et de l’injuste est-elle autre chose que ces faits confusément mêlés dans votre imagination.“ Ebd., S. 205.
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Von der „imagination passive“ grenzt er die „imagination active“ ab,290 der er wenigstens vordergründig ein selbstständiges Kombinationsvermögen zubilligt: „Elle rapproche plusieurs objets distants, elle sépare ceux qui se mêlent, les compose et les change, elle semble créer quand elle ne fait qu’arranger, car il n’est pas donné à l’homme de se faire des idées, il ne peut que les modifier.“291 Nur dem Genie ist indes die Gabe der „imagination d’invention“ vorbehalten,292 die in der Kunst, etwa bei der Komposition eines Gemäldes oder eines Gedichts, zur Geltung kommt. Im Detail schreibt Voltaire der „imagination d’invention“ zu, dass der Dichter ihr die Erfindung der Charaktere eines Stückes, die Geschichte mitsamt ihren Handlungsverwicklungen sowie ihre Auflösung zu danken habe.293 Geniale Schöpfungskraft ist aber nicht dem Künstler allein vorbehalten, sie kann ebenso dem Mathematiker zuteil werden.294 290 291 292 293 294
Ebd., S. 206. Ebd., S. 208. Ebd., S. 209. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Becker hat diesbezüglich eingewandt, dass Voltaire geniale Schöpfungsimpulse noch nicht als eine dem spezifischen Sein des Menschen entspringende, seelische Potenz begreifen könne. Mit anderen Worten, die „imagination d’invention“ ist ein nur wenigen besonders Begabten gegebenes Vermögen. Ein allgemeines Schöpfungsvermögen, das beim Menschen je nach Begabung mehr (wie etwa beim Genie) oder weniger stark ausgeprägt ist, hat Voltaire in Beckers Lesart nicht im Sinn. Vgl. Becker, Jacques Delille „L’imagination“, S. 24–28. Auch bei Condillac ist von der Imagination in erkenntnistheoretischer Hinsicht als einem kombinatorischen Vermögen die Rede, wenn er einer Imagination zweiten Grades die Fähigkeit attestiert, im Gedächtnis abgespeicherte einfache Ideen auf der Grundlage arbiträrer Zeichenzuordnung frei kombinieren zu können: „Mais aussitôt qu’un homme commence à attacher des idées à des signes qu’il a lui-même choisis, on voit se former en lui la mémoire. Celle-ci acquise, il commence à disposer par lui-même de son imagination et à lui donner un nouvel exercice; car, par le secours des signes qu’il peut rappeler à son gré, il réveille, ou du moins il peut réveiller souvent des idées qui sont liées.“ Condillac, Essai sur l’origine des connoissances humaines, S. 21. Diese Form des Imaginierens bezeichnet er als Grundlage der Reflexion. In diesem Stadium kommt es zu Abstraktions- und Vergleichsprozessen, die wiederum für sämtliche Vorgänge der Verstandesleistung verantwortlich zeichnen. Vgl. ebd., S. 21 ff. La Mettrie, der Vertreter eines mechanischen Materialismus, erhebt in seinem LʼHomme machine die Imagination zum Schlüsselvermögen des Erkenntnisprozesses. Denn alle mentalen Vorgänge („jugement“, „raisonnement“, „mémoire“) lassen sich auf die Imagination zurückführen: „Je me sers toujours du mot imaginer, parce que je crois que tout s’imagine, et que toutes les parties de l’Ame peuvent être justement réduites à la seule imagination, qui les forme toutes; et qu’ainsi le jugement, le raisonnement, la mémoire ne sont que des parties de l’Ame nullement absolües, mais de véritables modifications de cette espèce de toile médullaire, sur laquelle les objets peints dans l’œil, sont renvoiés, comme d’une lanterne magique.“ Julien Offray de La Mettrie, LʼHomme machine, hg. u. übers. v. Claudia Becker, Meiner, Hamburg 1990, S. 58. Im Genie wiederum erfährt die Imagination ihre vortrefflichste Entfaltung, denn in ihm offenbart sich das schöpferische Vermögen der Imagination am deutlichsten: „L’imagination élevée par l’art, à la belle et rare dignité de Génie, saisit exactement tous les rapports des idées qu’elle a conçües, embrasse avec facilité une foule étonnante d’objets, pour en tirer enfin une longue chaîne de conséquences, lesquelles ne sont encore que de nouveaux rapports, enfantés par la comparaison des premiers, auxquels l’Ame trouve une parfaite ressemblance. Telle est selon moi la génération de l’Esprit.“ La Mettrie, L’Homme
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Bringt man diesen im Aufklärungsdiskurs verankerten kombinatorischen bzw. schöpferischen Aspekt einer am Erkenntnisprozess maßgeblich beteiligten Einbildungskraft in Anschlag, der sie in Voltaires Augen als apriorisches Erkenntnisvermögen ausweist,295 so muss dem Individuum in erkenntnistheoretischer Hinsicht ein gewisses Maß an individueller Eigenständigkeit konzediert werden. Auch wenn es sich um eine eingeschränkte Freiheit handelt, kontrastiert diese mit dem unumstößlichen Determinismus, der aus Bordeus Materialismuskonzept hervorgeht. Wie um diesen erkenntnistheoretischen Determinismus vor dem Hintergrund der Anspielung auf die soeben skizzierte Begriffsdimension der Einbildungskraft auf komische Weise zu konterkarieren, wird von der Figur Bordeu eine Definition der Imagination ins Feld geführt, die zum einen mit dem Begriff selbst in Konflikt gerät, weil sie eigentlich einen anderen Begriff definiert, und zum anderen in überzogener Weise den erkenntnistheoretischen Determinismus bestätigt: L’imagination, c’est la mémoire des formes et des couleurs. Le spectacle d’une scène, d’un objet monte nécessairement l’instrument sensible d’une certaine manière; il se remonte ou de lui-même ou il est remonté par quelque cause étrangère; alors il frémit au dedans ou il résonne au dehors; il se recorde en silence les impressions qu’il a reçues, ou il les fait éclater par des sons convenus.296
Tatsächlich identifiziert die Figur Bordeu die Einbildungskraft mit einer Funktion des Gedächtnisses, wobei er sie in dezidiert mechanistischer Diktion auf eine Art Uhrwerk reduziert, das, nachdem es aufgezogen ist, mittels nicht näher bestimmter Auslösermechanismen wiederholend abspulen kann, was ihm an natürlichen Impressionen eingeschrieben wurde. Interessant ist hierbei, dass sich die Ineinssetzung von Imagination und Gedächtnis auch bei Descartes findet: […] il faut se représenter que le sens commun joue aussi le rôle d’un cachet pour imprimer dans la fantaisie ou l’imagination, comme dans une cire, ces mêmes figures ou idées qui viennent sans corps et dégagées des sens externes; et que cette imagination est une véritable partie du corps, et d’une grandeur telle, que ses diverses parties peuvent se couvrir de plu-
machine, S. 64. In die Reihe der Zeitgenossen Diderots, die die Einbildungskraft mit einem ausgeprägt kombinatorischen bzw. schöpferischen Vermögen identifiziert haben, ist auf französischer Seite noch wenigstens der Marquis de Feuquières zu stellen. Denn in seinem 1760 erschienenen Büchlein über die Einbildungskraft schreibt er eben diesem Vermögen die höchsten Fähigkeiten des Verstandes zu: „[l’imagination] n’est distincte en aucune sorte de ce qu’on veut bien appeler entendement pur.“ Antoine Marquis de Feuquière, La Phantasiologie ou lettres philosophiques à Madame de xxx sur la faculté imaginative, Cuissart, Oxfort [sic]/Paris 1760, S. 66. Vor dem Hintergrund ihrer Desavouierung im Kontext des Rationalismus stellt die bei vielen Autoren vollzogene Übertragung der höchsten Verstandesleistungen auf die Imagination somit ihre Rehabilitierung dar. 295 Voltaire charakterisiert die Imagination aufgrund der ihr innewohnenden irreduziblen Kombinationskapazität als apriorisches Erkenntnisvermögen, wenn er von ihr als „don de dieu“ spricht. Vgl. Voltaire, Œuvres complètes, Bd. 33, S. 204. 296 DPV, Bd. 17, S. 189.
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Teil II sieurs figures distinctes les unes des autres et qu’habituellement elles gardent longtemps ces figures: c’est alors ce qu’on appelle la mémoire.297
Bei Descartes hat die Zuordnung der imagination zur mémoire die Funktion, ihre Bedeutung für das Denken einzuschränken.298 Denn sein deterministisches System der eingeborenen Ideen schließt eine auf Imaginationsleistungen beruhende Ideengenese aus. Diese offensichtliche Bezugnahme auf den im Aufklärungsdiskurs diskreditierten Descartes lässt es umso plausibler erscheinen, dass auch der an Descartes’ Ansätze erinnernde deterministische Imaginationsbegriff der Figur Bordeu diskreditiert wird. Einen weiteren Anhaltspunkt für diese Form der Konterkarierung des Bordeu’schen Imaginationsbegriffes liefert ein angeblich für Katharina II. bestimmtes Moskauer Manuskript, in dem andere Zeitgenossen als Namengeber für die Textfiguren verwandt sind. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass La Mettrie den Platz Bordeus einnimmt.299 Die historische Person La Mettrie war wie Bordeu Arzt und darüber hinaus Philosoph. Aufgrund seines radikal mechanistischen Materialismus und seiner sittenwidrigen Provokationen – Haltungen, für die er durch seine beiden Hauptwerke, L’Histoire naturelle de l’âme (1745) und L’Homme machine (1747), bekannt geworden war – stand er auch bei vielen Aufklärern in dem Ruf, ein unverbesserliches enfant terrible zu sein.300 Dass mit der Figur La Mettrie insbesondere beim zeitgenössischen Leser mechanistische Konzepte evoziert werden, für die die historische Person bekannt war, ist nahe liegend. Dass die vermeintlich mechanistischen Ansichten, die La Mettrie im L’Homme machine formuliert, bekanntermaßen ihren Ausgangspunkt in der cartesianischen Körperautomaten-Doktrin haben, ist in der Konsequenz Grund genug, um den im Rêve de d’Alembert vorgestellten Mechanismus 297 Descartes, Œuvres philosophiques, Bd. 1: Règles pour la direction de l’esprit, Règle XII, S. 139. 298 Link beschreibt darüber hinaus wie Descartes beim Übergang von den Règles zu den Méditations die Einbildungskraft regelrecht ausklammert. Dementsprechend hat sie in den Règles noch eine Vermittlerfunktion zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Verstand, während in den Méditations nur mehr vom Verstand die Rede ist, der als reiner Intellekt dargestellt wird. Vgl. Christian Link, Subjektivität und Wahrheit: Die Grundlegung der neuzeitlichen Metaphysik durch Descartes, Klett-Cotta, Stuttgart 1978, S. 45. Morin verweist darauf, dass die Vorstellung der Identität von Imagination und Gedächtnis auch bei Locke, Haller und Bonnet zu finden ist, die diesbezüglich scheinbar in cartesianischer Traditionslinie stehen. Morin schließt daraus, dass Diderot ihre Position übernommen habe, wie auch viele Stellen in seinem Werk zeigten. Diese Ansicht ist meines Erachtens für den Rêve de d’Alembert nicht haltbar, da Diderot zwar auf jene Tradition anspielt, aber lediglich, um sich von ihr zu distanzieren und einen neuen, weit aktiveren Imaginationsbegriff einzuführen. Dass Morin die scheinbar unkritische Identifizierung von mémoire und imagination bei Diderot nicht hinterfragt, obschon er Diderot einen synthetisierenden und damit aktiven Imaginationsbegriff zugesteht, ist allerdings inkohärent. Vgl. Morin, Diderot et l’imagination, S. 39–45. 299 Vgl. Béatrice Didier, Diderot dramaturge du vivant, PUF, Paris 2001, S. 104; Ursula Jauch, Jenseits der Maschine. Philosophie, Ironie und Ästhetik bei Julien Offray de La Mettrie (1709–1751), Hanser, München/Wien 1998, S. 501. 300 Vgl. Claudia Becker, Einleitung, in: La Mettrie, L’Homme machine, hg. und übers. v. Claudia Becker, Meiner, Hamburg, 1990, S. X.
II.4 Die fiktionale Veranschaulichung der Einbildungskraft
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als ein Gedankengut zu entwerten, das von einer für die Aufklärung negativ belegten Tradition kontaminiert ist.301 Auch wenn der Autor Diderot in späteren Versionen keine Verwendung mehr für die Figur La Mettrie hatte, so verweist diese Manuskriptversion doch darauf, dass es nahe liegend ist, auch den Materialismus der Figur Bordeu mit einem zu entwertenden cartesianisch-deterministischen Mechanismus zu identifizieren. Obschon der Eindruck folglich dringend erweckt wird, lässt sich aus der geschilderten Dialogsituation nicht zwingend ableiten, dass Bordeus mechanischdeterministischer Materialismus in einem entscheidenden Aspekt seiner Erkenntnistheorie desavouiert und zugleich um eine transzendentale Dimension erweitert wird, die mit einem von Bordeus Definition abweichenden Begriff der Einbildungskraft zusammenfällt. Dass sich aus dem Zusammenspiel der einzelnen Figurenaussagen ein Unbehagen gegenüber den mechanischen Anteilen des Materialismus ableiten lässt, das scheint mir bereits an dieser Stelle als vorläufiges Fazit gerechtfertigt zu sein. Um den im Text angelegten Imaginationsbegriff und die sich daraus ergebenden erkenntnistheoretischen Konsequenzen schlüssig ableiten zu können, ist es unumgänglich, Traum und Dialog als Modi der Wissensvermittlung des zweiten Kapitels in der Zusammenschau zu betrachten. Hat der bisher vorgestellte Dialogabschnitt ausgehend von einer theoretischen Auslassung Bordeus über den Traum unmissverständlich eine mechanisch eingefärbte materialistische Erkenntnistheorie vorgebracht, so ist nun der Traum d’Alemberts selbst – das ist mein zentrales Anliegen – im Hinblick auf seine erkenntnistheoretischen Implikationen zu lesen. Anders gesagt, die Traumtheorie Bordeus ist angesichts der angedeuteten Desavouierung dieser Ausformung des Materialismus der Praxis des Träumens an sich gegenüberzustellen. Deshalb möchte ich auf d’Alemberts Traum und im Besonderen auf seine darin entwickelte Bienenstockanalogie zurückkommen. Bevor d’Alembert im Traum auf besagte Analogie kommt, scheint er gemäß der Transkription von Mlle de l’Espinasse eine Dialogsequenz aus dem am Abend zuvor mit Diderot geführten Gespräch träumend zu rekapitulieren, in der es in Anlehnung an das Assimilationsprinzip um das Verhältnis von Kontiguität und Kontinuität geht: Mon ami d’Alembert prenez-y-garde, vous ne supposez que de la contiguïté où il y a continuité…Oui, il est assez malin pour me dire cela…Et la formation de cette continuité? Elle ne l’embarassera guère…Comme une goutte de mercure, une molécule sensible et vivante se fond dans une autre.302
301 Anne Thompson verweist darauf, dass es im 18. Jahrhundert in Frankreich zwei Formen von Materialismus gibt. Die eine sieht sie in der Tradition des cartesianischen Mechanismus, während sie die andere auf den Sensualismus von Locke zurückführt. La Mettrie mit seinem LʼHomme machine stellt sie hierbei zweifelsfrei in die Traditionslinie des cartesianischen Mechanismus. Vgl. Anne Thompson, „Materialistic Theories of Mind and Brain“, in: Between Leibniz, Dewton and Kant. Philosophy and Science in the Eigtheenth Century, hg. v. Wolfgang Lefèvre, Kluwer, Dordrecht 2001, S. 151. 302 DPV, Bd. 17, S. 118.
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Teil II
Richtiger ist sicherlich, dass d’Alembert die Positionen des Philosophen gleichsam markiert in seine Traumrede integriert, wobei er, den Tenor von Diderots Gedanken wieder aufnehmend, diese Ideen scheinbar schon weiterentwickelt. Bezieht man diese Traumpraxis auf die von Bordeu entwickelte Traumtheorie, so lässt sich feststellen, dass Theorie und Praxis insoweit übereinstimmen, als im Traum zunächst Gesprächseindrücke in der Erinnerung aufsteigen, die im Wachzustand im Gedächtnis abgespeichert wurden. Diese mit der Theorie Bordeus koinzidierende Stufe wird aber spätestens dann überschritten, wenn d’Alembert das bislang nicht eingehender bezeichnete Verhältnis von Kontiguität und Kontinuität in seiner Analogie vom Bienenstock veranschaulicht. Denn hier findet in der assoziativ-kreativen Analogiebildung genau der schöpferische Prozess statt, den Voltaire der imagination d’invention zuschreibt. Damit ist Bordeus Theorie eines rein abbildend-rekonstruierenden Träumens hinfällig, da diese mechanische Vorstellung von der praktischen Tätigkeit des Träumenden widerlegt wird. Anstelle dessen wird der Traum d’Alemberts wie die Analogiebildung zur Chiffre kreativer Einbildungskraft.303 Die Pointe besagter Imaginationsleistung ist, dass Bordeu die Bienenstockanalogie d’Alemberts selbst vollendet. Er tritt sogar mit d’Alembert in einen indirekten Imaginationswettbewerb, wenn er Mlle de l’Espinasse vorführt, dass er in der Lage ist, das Ende ihrer Traummitschrift dem Entwurf d’Alemberts entsprechend zu imaginieren: „Voulez-vous transformer la grappe d’abeilles en un seul et unique animal? Amollissez les pattes par lesquelles elles se tiennent, de contiguës qu’elles étaient rendez-les continues.“304 Damit ist gesagt, dass es zwischen einem träumenden Philosophen und einem Arzt im Wachzustand keinen Unterschied gibt, denn im Schlaf wie auch im Wachzustand manifestiert sich die Einbildungskraft als eine für die Erkenntnisbildung entscheidende Kategorie. Bevor ich zusammenfassend auf die erkenntnistheoretischen Konsequenzen dieser Konstellation zu sprechen komme, möchte ich auf den performativen Widerspruch305 eingehen, der die beschriebene fiktionale Konstruktion charakteri-
303 Insofern hat Behrens Recht, wenn er d’Alemberts Traum attestiert, dass er nur bedingt mit dem „zeitgenössischen Traumwissen und auch nur partiell mit den psycho-physiologischen Bestimmungen übereinstimmt, die sich in Diderots direktem Umfeld, etwa bei La Mettrie, in der École de Montpellier oder in seinen eigenen Ausführungen über den Traum finden“. Behrens, „Dialogische Einbildungskraft“, S. 141. 304 DPV, Bd. 17, S. 121. 305 Hier sei nochmals an das starke Performanzkonzept Stahlhuts und Krämers erinnert, das an Austins ursprüngliche Überlegungen anknüpft. Darunter ist die Konstituierung und Veränderung von „Weltzuständen“ durch Sprache zu verstehen, wobei eine Äußerung dann performativ ist, wenn sie „das, was sie bezeichnet zugleich auch vollzieht“. Die Autoren exemplifizieren dieses starke Performanzkonzept an Texten, die eine Lektüre ermöglichen, die zwischen dem ‚Sagen‘ und dem ‚Zeigen‘, zwischen dem ‚Was‘ und dem ‚Wie‘, zwischen ‚Argumentation‘ und ‚Inszenierung‘ unterscheiden. Vgl. Sybille Krämer/Marco Stahlhut, „Das ‚Performative‘ als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie“, S. 55. Genau diese Struktur ist auch im Rêve de d’Alembert von entscheidender Bedeutung, wobei ‚Sagen‘ und ‚Zeigen‘ in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander stehen. Das wiederum zwingt den Leser zu einer
II.4 Die fiktionale Veranschaulichung der Einbildungskraft
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siert, weil sich erst auf dieser Grundlage zweifelsfreie erkenntnistheoretische Schlüsse ziehen lassen. Wenn im Text nicht zwischen Traum und Wachzustand unterschieden wird, so wird doch zwischen Behauptungen (‚Sagen‘) und ihren empirischen Überprüfungen (‚Zeigen‘), soweit sie sich im fiktionalen Explorationsraum darstellen lassen, unterschieden. Konkret ist darunter zu verstehen, dass d’Alemberts Traumaktivität an sich der theoretischen Auslassung Bordeus über den Traum widerspricht. Das wiederum ist deshalb der Fall, weil im Traum d’Alemberts mittels der Analogiebildung das Wirken einer kreativen Einbildungskraft veranschaulicht wird, während Bordeu in seiner theoretischen Ausführung über den Traum die schöpferische Dimension der Einbildungskraft negiert.306 Der im Zusammenspiel von Traum und Dialog zur Geltung gebrachte Widerspruch zwischen Theorie und Praxis wiegt umso schwerer, als er sich am Theoretiker Bordeu selbst vollzieht, indem er die Traumsequenz d’Alemberts eigenständig vollendet. Angesichts seiner einfallsreichen Abstraktionsgabe veranschaulicht sich dementsprechend an seiner Person, dass er von der Einbildungskraft geleitet Konsequenzen zieht und so einen komplexen Vorgang begrifflich fixiert. Dabei bestätigt sich zugleich, dass es im Rêve de d’Alembert nicht um eine zeitgemäße psycho-physiologische Beschreibung des Traumes geht, sondern dass ihm im Rahmen des fiktionalen erkenntnistheoretischen Entwurfes die Funktion einer literarischen Chiffre der Einbildungskraft zukommt.307 Weil de facto die Wirkung der Einbildungskraft veranschaulicht wird, sind Traum und Wachzustand letztlich austauschbare Größen, wie einerseits das gleichberechtigte Zusammenspiel des wachen Bordeu und des träumenden d’Alembert im Rahmen der Bienenstockanalogie und andererseits der Umstand, dass d’Alembert so träumt als wäre er wach, zeigt. In erkenntnistheoretischer Hinsicht führt der performative Widerspruch, den die fiktionale Textstruktur ermöglicht, zu einer eindeutigen Desavouierung des Bordeu’schen Modells einer allein auf mechanistisch gedachten Abbildungsvorgängen beruhenden Vorstellung. Denn die von Bordeu am Traum festgemachte Theorie der Erkenntnisbildung beinhaltet, dass die von der Außenwelt induzierten Sinneseindrücke lediglich in der von der Natur vorgegebenen Reihenfolge im Gedächtnis kompilatorisch kombiniert werden. Die Kritik an diesem krude deterministischen Materialismus bezieht sich indessen nur auf den Aspekt der Qualität der Kombination von sinnlich vermittelten Ideen zu Ideenkomplexen. Denn die Bedeutungskonstitution, die sich aus dem widersprüchlichen Zusammenspiel von Behauptung und Inszenierung ergibt. 306 Hempfer verweist im Hinblick auf den performativen Widerspruch, den er als Gattungsmerkmal des Dialoges charakterisiert, auf genau diese Form der Komplexitätspotenzierung des argumentativen Diskurses, die er auf die „Dissoziierung von Aussagesubjekt, Aussagemodus und propositionalem Gehalt“ zurückführt. Klaus W. Hempfer, „Lektüren von Dialogen“, in: Möglichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien, hg. v. Klaus W. Hempfer, Steiner, Stuttgart 2002, S. 21. 307 Von einer literarischen Chiffre spreche ich hier, weil der Traum traditionell mit der Imaginationsleistung assoziiert wird.
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Teil II
Einbildungskraft, deren Wirken anhand der Analogiebildung veranschaulicht wird, wird hier nicht als kreative Imagination im Sinne einer Fähigkeit des Komponierens referenzloser Bilder vorgestellt.308 Vielmehr wird anhand von d’Alemberts Bienenstockanalogie veranschaulicht, wie die Einbildungskraft auf der Grundlage wieder auftauchender Sinneseindrücke bzw. aus dem Gedächtnis abgerufener Ideen, die den Tenor einer Gesprächssequenz des Vorabends reflektieren, einen erkenntnisbildenden Kombinationsprozess freisetzt. Konkret meint dies, dass die referenzialisierbaren Ideen von der Kontiguität und der Kontinuität in einem Prozess, der halb abstrahierend und halb kreativ-assoziativ ist, miteinander kombiniert werden, wobei das abstrakte Phänomen des Übergangs von einem kontigen Verband einzelner ‚Bienen-Moleküle‘ zu einem kontinuierlich-organischen Molekularverband veranschaulicht wird. Insofern wird mittels der Analogie de facto die kombinatorisch-kreative Wirkung der Einbildungskraft auf der Grundlage referenzialisierbarer Ideen illustriert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der im Text angelegte erkenntnistheoretische Entwurf die Erweiterung einer materialistischen Erkenntnistheorie um eine transzendentale Dimension beinhaltet. Transzendental wird der Materialismus insoweit, als mit der Einbildungskraft ein genuin apriorisches Erkenntnisvermögen, das an sich irreduzibel ist oder, um es mit Voltaire zu sagen, das als Gabe Gottes im Sinne einer Anlage zu betrachten ist, in die materialistische Theorie integriert wird. Damit ist ein transzendentaler Materialismus entworfen, der ein Zusammenspiel zwischen den der Erfahrung entspringenden und der Erfahrung vorausgehenden, apriorischen und somit nicht weiter reduzierbaren Erkenntnisvermögen in Betracht zieht. In Bezug auf die Funktion der Fiktion im Rêve de d’Alembert möchte ich abschließend hervorheben, dass ein an sich irreduzibles Vermögen wie die Einbildungskraft nur im exploratorischen Rahmen der Fiktion, in dem Wirklichkeiten mittels fiktionaler Strategien so modelliert werden können, als ob sie tatsächlich existierten, zur Anschauung gebracht werden kann. Die Pointe des Rêve de d’Alembert ist fiktionsästhetisch gesprochen darin zu sehen, dass die Textfigur d’Alembert zunächst in Anlehnung an die historische Person eine materialismusskeptische Rolle übernimmt, um sie im Kontext der komischen Verzerrung des zweiten Kapitels vorübergehend gegen die Rolle des überzeugten Materialisten einzutauschen. Diese Konstellation ist aber lediglich Ausdruck der Komik, während die eigentliche Pointe des Textes darin besteht, dass der fiktional modellierte
308 Behrens verweist darauf, dass Bordeu einen auf referenzloser Kreativität beruhenden Imaginationsbegriff verwirft. Aus diesem Negativurteil der Figur Bordeu zieht er für den Rêve de d’Alembert den Schluss, dass die kreativen Kompetenzen der Imagination negiert seien. Er verkennt aber zugleich, dass im Zusammenspiel der Textelemente ein Imaginationsbegriff eingeführt wird, der gerade auf einer referenzialisierbaren Kreativität beruht. Vgl. Behrens, „Dialogische Einbildungskraft“, S. 155.
II.5 Einordnung und Ausblick
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d’Alembert ausgerechnet in seiner Traum-Rolle als überzeugter Materialist mittels der Figur des performativen Widerspruches zur impliziten Gallionsfigur eines kritisch geläuterten transzendentalen Materialismus wird.
II.5 EINORDNUNG IN DEN HISTORISCHEN KONTEXT UND AUSBLICK Resümierend werde ich den aus dem Rêve de d’Alembert abgeleiteten transzendentalen Materialismus einigen zeitgenössischen Theorieansätzen gegenüberstellen, von denen er sich unmittelbar abgrenzt, die er integriert und an die er anschlussfähig ist. Auf dieser Grundlage soll ein thesenartiger Ausblick auf Diderots philosophisch-fiktionales Spätwerk gegeben werden. Dabei ist mein zentrales Anliegen, anhand der in Les Bijoux indiscrets und Le Rêve de d’Alembert herausgestellten ästhetischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen eine weiterführende erkenntnistheoretische Auseinandersetzung im fiktionalen Modus als plausibel, wenn nicht notwendig darzustellen. Zunächst werde ich auf die für meine Begriffe zentrale Abgrenzung von Condillacs sensualistischem Transformationsgedanken eingehen, die der am Begriff der Einbildungskraft veranschaulichte transzendentale Materialismus des Rêve de d’Alembert ebenfalls impliziert. Für diese Gegenüberstellung seien die Voraussetzungen beider Theorien vorgestellt. Grundlegend für den Materialismus des Rêve de d’Alembert ist die Annahme einer generell empfindsam-vitalistischen Materie, aus der die Einbildungskraft als kreativ-kombinatorisches Vermögen der sensibilité entbunden wird. Damit diese die einfachen Sinnesdaten zu Ideenkomplexen verknüpfende Qualität der sensibilité freigesetzt wird, bedarf es als Voraussetzung einer höheren Organisationsform der Materie. Jene Form ist nach Auskunft des Rêve de d’Alembert dann gegeben, wenn ein mit Gedächtnismasse ausgestattetes Gehirn vorhanden ist. Allgemeingültiger lässt sich diese Emergenztheorie so charakterisieren, dass die der Materie inhärente vitalistische Energie bestimmte physiologische und somit materielle Organisationsprozesse voraussetzt, damit ihre an sich apriorischen Erkenntnisvermögen zur Geltung kommen. Der Theorie ist somit ein universeller Apriorismus in Bezug auf alle am Erkenntnisprozess beteiligten Vermögen zu Eigen. Dass mit den apriorischen Vermögen lediglich Qualitäten in Form von natürlichen Anlagen beschrieben sind, unterscheidet diese Form des transzendentalen Materialismus grundlegend vom cartesianischen Transzendenzprinzip. Denn im Rahmen des cartesianischen Konstruktes wird die Seele mit ihren eingeborenen Konzepten als von der Materie und ihrer Evolution losgelöste geistige Sphäre angesehen, die immer schon über ihre Ideen verfügt. Folgt man der im Rêve de d’Alembert zugrunde gelegten Theorie im Detail, so ist die Voraussetzung für Erkenntnisleistungen zum einen im Evolutionsprozess der Materie zu sehen, der einher geht mit der Freisetzung immer komplexerer apriorischer Erkenntnisvermögen. In diesem Zusammenhang sind besonders die Sinneswahrnehmung und die Einbildungskraft zu nennen. Zum anderen setzt Erkenntnis im höher entwickelten Organismus das Zusammenspiel jener Erkenntnisvermögen voraus, wobei die einfachen Ideen als Erkenntnisse der
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Teil II
Sinneswahrnehmung mittels eines schöpferisch-kombinatorischen Prozesses zu Ideenkomplexen synthetisiert werden. Damit ist gesagt, dass eine materielle Evolution vorausgesetzt wird, ohne daraus etwas anderes als die Entwicklung der Materie abzuleiten. Die Freisetzung der Erkenntnisvermögen ist zwar an die Evolution der Materie gekoppelt; es wird allerdings gerade nicht behauptet, dass sich die einzelnen Erkenntnisvermögen im Laufe dieser materiellen Evolution ebenfalls entwickelten oder dass sich ein bestimmtes Erkenntnisvermögen aus einem oder mehreren anderen entwickelte. Auch Condillacs sensualistischem Transformationsgedanken liegt die Vorstellung materieller Evolution zugrunde, denn Erkenntnis ist bei ihm alles andere als eine transzendentale Angelegenheit. Um möglichst alle transzendentalen Implikationen aus seiner Theorie herauszuhalten, geht er davon aus, dass sämtliche Verstandesleistungen allein auf die Sinnesempfindung zurückzuführen sind. Dementsprechend führt er am Beispiel einer Statue seinen immanenten Evolutionsbegriff vor. In dem Maße wie der ursprünglich jungfräulichen Statue bestimmte Sinnesleistungen zugesprochen werden, entwickeln sich zusehends komplexere Verstandesleistungen, die schließlich die umfassendsten Denkvorgänge ermöglichen. Die Problematik dieser Theorie ist darin zu sehen, dass keineswegs zwingend begründet werden kann, wie sich aus einer bestimmten Sinnesleistung oder aus dem Zusammenspiel verschiedener Sinnesleistungen Fähigkeiten entwickeln sollen, die sich qualitativ von den vorhandenen Vermögen unterscheiden. Warum auch sollten aus den kumulierten Fähigkeiten etwa von Hören und Sehen unvermittelt Vermögen ganz anderer Qualität, wie beispielsweise Erinnerungsgabe, Urteilskraft oder gar genialische Einbildungskraft hervorgehen? Auf diese Problematik der Transformationstheorie Condillacs wird im Rêve de d’Alembert kritisch aufmerksam gemacht, wenn die Figur Mlle de l’Espinasse scheinbar naiv einige Prinzipien ihrer vermeintlichen Lehrmeisterfigur Bordeu rekapituliert: D’après vos principes, il me semble que par une suite d’opérations purement mécaniques je réduirais le premier génie de la terre à une masse de chair inorganisée, à laquelle on ne laisserait que la sensibilité du moment, et que l’on ramènerait cette masse informe de l’état de stupidité le plus profond qu’on puisse imaginer à la condition de l’homme de génie. […] Exemple: J’ôte à Newton les deux brins auditifs, et plus de sensations de sons; les brins olfactifs, et plus de sensations d’odeurs; les brins optiques, et plus de sensations de couleurs; les brins palatins et plus de sensations de saveurs, je supprime ou brouille les autres, et adieu l’organisation du cerveau, la mémoire, le jugement, les désirs, les aversions, la volonté, la conscience du soi; et voilà une masse informe qui n’a retenu que la vie et la sensibilité. […] Je reprends cette masse et je lui restitue les brins olfactifs, elle flaire; les brins auditifs, et elle entend; les brins optiques, et elle voit; les brins palatins, et elle goûte. En démêlant le reste de l’écheveau, je permets aux autres brins de se développer, et je vois renaître la mémoire, les comparaisons, le jugement, la raison, les désirs, les aversions, les passions, l’aptitude naturelle, le talent, et je retrouve mon homme de génie; et cela sans l’entremise d’aucun agent hétérogène et inintelligible.309
Es ist nahe liegend, die von der Figur Mlle de l’Espinasse resümierte Lehre der Figur Bordeu als Anspielung auf Condillacs sensualistischen Transformationsge309 DPV, Bd. 17, S. 188 f.
II.5 Einordnung und Ausblick
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danken zu lesen. Vor dem Hintergrund der prinzipiell für den Rêve de d’Alembert geltend gemachten Theorie apriorischer und somit tranzendentaler Erkenntnisvermögen, als deren herausragendstes die schöpferisch-kombinatorische Einbildungskraft im Text firmiert, wird die Condillac’sche allein auf immanentaposteriorischen Vorgängen beruhende Theorie im großen Rahmen diskreditiert. Im Detail ist es der unmittelbare Kontext des Resümees von Mlle de l’Espinasse, der den Leser zunächst ob der vermeintlichen Deplaziertheit ihrer Ausführung aufhorchen lässt. Denn die Rede von Mlle de l’Espinasse folgt unmittelbar auf d’Alemberts an Bordeu gerichtete Frage nach der Funktion der Imagination in seinem System. Eine Frage, auf die Bordeu erst nach ihrem Kommentar in der bereits zitierten Weise antwortet, wobei er die Imagination auf ein mechanisches Uhrwerk reduziert, das wiederholt, was sich ihm an Eindrücken eingeschrieben hat.310 Die Rede von Mlle de l’Espinasse hat auf den ersten Blick nichts mit der Einbildungskraft zu tun, weshalb sie als Replik auf d’Alemberts Einwurf gänzlich inadäquat zu sein scheint. Erst auf den zweiten Blick, im Lichte Diderot’scher Ironie, offenbart sich die Anschlussfähigkeit ihrer Ausführung an die Frage der Bedeutung der Imagination. Was zunächst den ironischen Tonfall ihrer Rede anzeigt, ist die aufreizend simple Herleitung menschlicher Genialität. Demgemäß soll etwa der Genius Newtons im Wesentlichen einem Kochrezept gemäß synthetisierbar sein. Ausgehend von der „sensibilité du moment“311 wird unter mechanischem Beimengen einfacher Sinnesleistungen über die sich daraus entwickelnden höheren Erkenntnisvermögen („mémoire“, „comparaisons“, „jugement“, „raison“ u.a.312) das Genie geboren. Am Begriff des Genies scheinen sich offensichtlich die Geister zu scheiden, da es nach Auffassung von Aufklärungsphilosophen wie Voltaire und La Mettrie aufgrund seines herausragenden schöpferischen Kompositions- und Kombinationsvermögens den Idealfall eines mit Einbildungskraft begabten Menschen repräsentiert. Zugleich handelt es sich bei der Imagination und zumal bei der genialen Imaginationsfähigkeit um ein so komplexes Vermögen, dass es vereinfachend anmutet, diese Fähigkeit als Resultat einer mechanistischen Kumulation einzelner Sinnesleistungen erklären zu wollen. Von Voltaire wird sie deshalb als irreduzible Naturgabe apriorisch vorausgesetzt. Legt man der ironischen Rede von Mlle de lʼEspinasse diesen Geniebegriff zugrunde, so schließt sich der Kreis. Denn damit ist der Anschluss an d’Alemberts Frage nach dem Stellenwert der Imagination insoweit hergestellt, als das Genie das menschliche Wesen mit dem größtmöglichen schöpferischen Imaginationsvermögen ist. Da, über den Geniebegriff vermittelt, der Bogen zur schöpferischen Einbildungskraft und damit zum apriorischen Erkenntnisvermögen schlechthin geschlagen ist, wird der den immanenten Mechanismus transzendierende Stellenwert der Einbildungskraft bestätigt. Zugleich wird die in ihrem aposteriorischen Mechanismus naive Transformationstheorie Condillacs diskreditiert.
310 Vgl. hierzu ebd., S. 86 bzw. S. 189. 311 Ebd., S. 188. 312 Ebd.
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Teil II
In Verbindung mit den Begriffen Genie und Einbildungskraft ist darüber hinaus die für Diderot typische Lust am Paradox nachvollziehbar, die sich an der Person des Arztes und Philosophen La Mettrie dingfest machen lässt. Dass in der Figur von Bordeu ein cartesianisch-deterministischer Mechanismus diskreditiert wird, für den La Mettrie bei den Zeitgenossen bekannt zu sein schien, habe ich bereits ausgeführt. Insofern ist der Widerspruch darin zu sehen, dass Diderot trotz der im Text vorgenommenen Anspielung auf La Mettries vermeintliche Konzepte und ihrer Abwertung im Rêve de d’Alembert zugleich Vorstellungen, die La Mettrie nachweislich im LʼHomme machine formuliert, sehr nahe kommt. So drängt sich beispielsweise der Eindruck auf, Diderot habe sich von La Mettries extensiver Valorisierung der Einbildungskraft inspirieren lassen: L’imagination, ou cette partie fantastique du cerveau, dont la nature nous est aussi inconnue, que sa manière d’agir, est-elle naturellement petite, ou foible? Elle aura à peine la force de comparer l’Analogie, ou la ressemblance de ses idées; elle ne pourra voir que ce qui sera vis à vis d’elle, ou ce qui l’affectera le plus vivement; et encore de quelle manière! Mais toujours est-il vrai que l’imagination seule aperçoit; que c’est elle qui se présente les objets, avec les mots et les figures qui les caractérisent; et qu’ainsi c’est elle encore une fois qui est l’Ame, puisqu’elle en fait tout les Rôles. Par elle, par son pinceau flateur, le froid squélette de la Raison prend des chairs vives et vermeilles; par elle les Sciences fleurissent, les Arts s’embellissent, les Bois parlent, les Echos soupirent, les Rochers pleurent, le marbre respire, tout prend vie parmi les corps inanimés. C’est elle encore qui ajoute à la tendresse d’un cœur amoureux, le piquant attrait de la volupté. Elle la fait germer dans le Cabinet du Philosophe, et du pédant poudreux. Elle forme enfin les Savans, comme les orateurs et les Poëtes. Sottement décriée par les uns, vainement distinguée par les autres, qui tous l’ont mal connüe, elle ne marche pas seulement à la suite des Graces et des beaux arts, elle ne peint pas seulement la Nature, elle peut aussi la mesurer. Elle résonne, juge, pénètre, compare, approfondit. Pourraitelle si bien sentir les beautés des tableux qui lui sont tracés, sans en découvrir les rapports? Non; comme elle ne peut se replier sur les plaisirs des sens, sans en goûter toute la perfection, ou la volupté, elle ne peut réfléchir sur ce qu’elle a mécaniquement conçu, sans être alors le jugement même.313
In diesem dem Homme machine entnommenen Auszug, schreibt La Mettrie der Imagination in Opposition zu Descartes, der sie aufgrund ihrer angeblichen Unzuverlässigkeit gering schätzt, nicht nur die Wahrnehmung („l’imagination seule aperçoit“), die Vorstellung der Gegenstände („c’est elle qui se présente les objets“) sowie das poetische Vermögen der Begriffsveranschaulichung („par son pinceau flateur, le froid squélette de la Raison prend des chairs vives et vermeilles“) zu, sondern auch alle Verstandesvermögen („Elle résonne, juge, pénètre, compare, approfondit“). Damit werden die in ihrer Funktionsweise nahezu unbekannten Verstandesprozesse in einem reduktionistischen Akt allesamt auf die Einbildungskraft zurückgeführt, die im Falle einer genialen Veranlagung folgendes zu leisten imstande ist: Mais si le cerveau est à la fois bien organisé et bien instruit, c’est une terre féconde parfaitement ensemencée, qui produit le centuple de ce qu’elle a reçu: ou, […] l’imagination élevée par l’art, à la belle et rare dignité de Génie, saisit exactement tous les rapports des idées qu’elle a conçües, embrasse avec facilité une foule étonnante d’objets, pour en tirer enfin une 313 La Mettrie, L’Homme machine, S. 60 f.
II.5 Einordnung und Ausblick
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longue chaîne de conséquences, lesquelles ne sont encore que de nouveaux rapports, enfantés par la comparaison des premiers, auxquels l’Ame trouve une parfaite ressemblance. Telle est, selon moi, la génération de l’Esprit.314
Im Rahmen erkenntnistheoretischer Überlegungen lässt sich nachweisen, dass der Einbildungskraft im Rêve de d’Alembert gerade diese zuletzt zitierte, auf Ähnlichkeitsbeziehungen beruhende schöpferische Kombinationsfähigkeit zugedacht ist. Angesichts der bei La Mettrie wie auch im Rêve de d’Alembert vorgenommenen Identifizierung der Einbildungskraft mit dem Verstand kann in beiden Fällen von einem beachtlichen Reduktionismus gesprochen werden. Die Reduktion der vielfältigen Verstandesleistungen auf die Einbildungskraft mag vielerlei Gründe haben, doch ist sie sowohl bei La Mettrie als auch bei Diderot keiner einfältigen Komplexitätsverminderung geschuldet. Zumindest war beiden der Mangel an positiven Erkenntnissen über die tatsächlichen Verstandesvorgänge bewusst. La Mettrie spricht in diesem Zusammenhang von der Imagination als einer „partie fantastique du cerveau, dont la nature nous est aussi inconnue que sa manière d’agir“.315 Für Diderots diesbezügliches Bewusstsein spricht allein die im Rêve de d’Alembert hinlänglich zum Ausdruck gebrachte Skepsis gegenüber vermeintlich objektiven Erkenntnistheoremen. Jedenfalls mag es sich im Rêve de d’Alembert bei der Reduktion der Verstandesvermögen auf die Einbildungskraft um eine ästhetisch motivierte Reduktion handeln. Denn angesichts des Mangels an empirischen Erkenntnissen über den Verstand ist es aussichtsreicher, mögliche Leistungen der Einbildungskraft in einer fiktionalen Inszenierung vorzuführen, als vermeintliche Verstandesvermögen in einer spekulativen Theorie notdürftig vorzustellen. Es bleibt festzuhalten, dass Diderots Erkenntnisinteresse, wie sein naturphilosophisches Spätwerk Éléments de physiologie zeigt, aufgrund der Überschaubarkeit empirisch abgesicherten Wissens bis zuletzt der Erforschung physiologischer Zusammenhänge galt. Auch in dieser Hinsicht gleicht er dem für eine ständige Wissenserweiterung eintretenden La Mettrie. Insofern ist er dem verpönten Mediziner und Philosophen, wie die aufgezeigten Übereinstimmungen belegen, konzeptionell weit näher als dies bislang von großen Teilen der Forschung angenommen wird.316 Angesichts der Qualität der Überschneidungen scheint es mir nahe liegender von einer gezielten Würdigung des diskreditierten La Mettrie als von zufälligen Übereinstimmungen mit ihm auszugehen. Eine Bestätigung dieser Ansicht liefert meines Erachtens die für Diderot typische paradoxe Figur einer vordergründigen Entwertung, die mit einer Aufwertung auf anderer Ebene einhergeht. Dieser Lesart zufolge wird der vor allem aufgrund einer Verkettung 314 Ebd., S. 64. 315 Ebd., S. 60. 316 Thomson führt diesen Umstand darauf zurück, dass La Mettrie von vielen allein auf der Grundlage seines Buchtitels L’Homme machine beurteilt werde. Dies werde ihm aber nicht gerecht, da in seinem Werk nicht von der Funktionsweise eines mechanischen Menschen die Rede sei. Vielmehr gehe es ihm wie Diderot darum, die Spekulation einer materialistischen Herleitung der Erkenntnis für plausibel zu erklären. Vgl. Thomson, „Materialistic Theories of Mind and Brain“, S. 167.
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Teil II
von Vorurteilen mit dem Namen La Mettrie identifizierte Mechanismus entwertet und verabschiedet. Zugleich wird an die Stelle des entwerteten Mechanismus ein Konzept der Einbildungskraft gestellt, das ausgerechnet La Mettries nachweislich eigenem Entwurf dieses Erkenntnisvermögens gleicht. Die im Rêve de d’Alembert angelegte Abgrenzung von einer aposteriorischen Prinzipien verpflichteten Transformationstheorie, die auf Condillac zurückgeht, und die Integration eines auf apriorischen Vermögen beruhenden materialistischen Konzeptes, das tendenziell an La Mettries Ideen zur Einbildungskraft anschließbar ist, lässt sich zunächst als Ausdruck der Ablehnung von sensualistischen Theorien verstehen, die Erkenntnis ausschließlich auf sinnliches Wahrnehmungsvermögen zurückführen. Diese Ablehnung beruht aus der Perspektive des Rêve de d’Alembert darauf, dass sich komplexe Erkenntnisvermögen aus der Sinneswahrnehmung nicht vernünftig herleiten lassen. Da die Erfahrung aber den Eindruck vermittelt, dass Fähigkeiten wie Urteilen und Vergleichen existieren, obwohl sie sich nicht überzeugend aus der sinnlichen Wahrnehmung herleiten lassen, stellt die Hypothese, sie wie die Sinneswahrnehmung selbst als apriorische Vermögen der Materie aufzufassen, eine Möglichkeit dar, dem Herleitungsproblem zu entgehen. Worin die tatsächliche Bedeutung der Apriorismushypothese besteht, deren Grundannahme die generelle Empfindsamkeit der Materienmoleküle ist, das formuliert Diderot mit einigem zeitlichen Abstand zum Rêve de d’Alembert unmissverständlich in der Réfutation:317 „[…] la sensibilité générale des molécules de la matière n’est qu’une supposition, qui tire toute sa force des difficultés dont elle débarasse ce qui ne suffit pas en bonne philosophie.“318 Um jeden diesbezüglichen Zweifel auszuräumen, stellt er im Rahmen seiner d’Helvétius-Kritik fest, dass das Herleitungsproblem folglich noch ungelöst ist: „Si partant du phénomène de la sensibilité physique, propriété générale de la matière, ou résultat de l’organisation, il [Helvétius] en eût déduit avec clarté toutes les opérations de l’entendement, il eût fait une chose neuve, difficile et belle.“319 Damit ist auch ausgeschlossen, dass Diderot es womöglich schon selbst gelöst haben könnte. Wenn eine auf observation und expérience gestützte Herleitung der Erkenntnisvermögen für Diderot somit noch aussteht, stellt sich die Frage, ob überhaupt eine belegbare Herleitungsformel gefunden werden kann. Fraglich ist dies, weil Diderot einräumt, dass die Lösung des Substanzproblems noch ansteht: „J’invite tous les physiciens et tous les chimistes à rechercher ce que c’est que la substance animale, sensible et vivante.“320 Faktisch stellt sich damit das Problem, dass die Qualität lebendiger Substanz und insoweit die absolute Ausgangsgröße für eine mögliche Herleitung etwaiger Erkenntnisvermögen unbekannt ist. Wenn aber die Ursache und damit 317 Die Réfutation suivie de l’ouvrage d’Helvétius intitulé L’Homme ist eine quasi dialogisch angelegte kritische Buchbesprechung, in der Diderot auf zuvor zitierte Textpassagen des Materialisten d’Helvétius eingeht. Dem Einführungskommentar Roland Desnés in der hier verwandten Ausgabe ist zu entnehmen, dass Diderot den Text zwischen 1776 und 1777 verfasst hat, wobei er ihn in späteren Jahren noch ergänzt hat. Vgl. DPV, Bd. 24, S. 439 f. 318 Ebd., S. 525. 319 Ebd., S. 524. 320 Ebd.
II.5 Einordnung und Ausblick
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der Ursprung aller Dinge unbestimmt ist, dann lassen sich logischerweise auch die Wirkungen nicht zwingend herleiten. Diese Erkenntnis könnte indes eine radikale Form des Skeptizismus zur Folge haben, die mit dem Postulat einer Urteilsenthaltung oder der Einstellung weiterer Forschungsbemühungen einhergehen könnte.321 Im Rêve de d’Alembert begründen Einsichten in ähnlich grundlegende Aporien allerdings nicht das Ende der Behauptungsmöglichkeit, sondern das Ende dogmatischer Feststellungen und damit den Anfang unendlich zu erneuernder Wissensentwürfe. Im Lichte dieser gemäßigten Skepsis erscheint auch die an die Physiker und Chemiker gerichtete Aufforderung der Réfutation, die Qualität materieller Substanz zu ergründen oder das Desiderat, eine plausible Herleitung der Erkenntnisvermögen aus der sensibilité physique zu entwickeln. Sind die entscheidenden Erkenntnisvermögen bei Condillac einmal hergeleitet, lassen sich bezüglich der Charakterisierung einzelner Erkenntnisvermögen Korrespondenzen zwischen den epistemologischen Ansichten des Sensualisten Condillac und dem aus dem Rêve de d’Alembert abgeleiteten epistemologischen Konzept herstellen. In diesem Zusammenhang ist bei Condillac das Vermögen der Zeichenzuordnung zu nennen, das Voraussetzung für eine freie Imaginationsleistung ist. Die Imaginationsvorgänge sind wiederum Voraussetzung für komplexe Abstraktions- und Vergleichsprozesse, die Condillac als Reflexionen bezeichnet.322 Bei Condillac ist wie auch im fiktionalen Rêve de d’Alembert in Verbindung mit der für den Erkenntnisprozess entscheidenden Imagination von der Freiheit eigenmächtigen Kombinierens die Rede.323 Der Aspekt der Eigenmächtigkeit in der Konzeption der Einbildungskraft unterscheidet somit auch Condillacs Ansatz vom Determinismus des mechanischen Materialismus. Im Rêve de d’Alembert wird diese Form des Materialismus mit der Figur Bordeu identifiziert und entwertet. Besonders hervorhebenswert erscheint mir diese im Rêve de d’Alembert vorgeführte Abgrenzung, weil sich in ihr das Eigenmächtigkeitspostulat der Aufklärungsbewegung manifestiert, das sie in ihrer Wendung gegen den Fatalismus kirchlicher Glaubensgebote und die eingeborenen Ideen der alten Metaphysik geltend macht. Wenn eine materialistische Theorie, die ihre Rechtfertigung aus der vermeintlich substanziellen Opposition zur Ideologie der eingeboren Ideen zieht, Eigenmächtigkeit so versteht, dass die Ideen das Resultat einer passiven sinnlichen Wahrnehmungsdynamik sind, so ist letztlich nicht viel gewonnen. Vielmehr sind dann lediglich die Ausgangsprämissen vertauscht. Während im Falle der alten Metaphysik die Ideen auf eine transzendente Wirkungsmacht zurückgehen, sind sie im Falle des mechanischen Materialismus das Produkt sinnlich vermittelter Eingaben der Natur. In beiden Fällen aber wird jegliche Form 321 Bezüglich der Qualität seiner skeptischen Haltung steht Diderot in der Tradition Humes, der dem radikalen Skeptizismus eine moderate skeptische Position vorzieht. Vgl. dazu Astrid von der Lühe, „Wie ist eine empirische Wissenschaft vom Menschen möglich?“, in: David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, hg. v. Jens Kulenkampff, AkademieVerlag, Berlin 1997, S. 65. 322 Vgl. Condillac, Essai sur l’origine des connoissances humaines, S. 21 ff. 323 Vgl. ebd., S. 28.
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subjektiver Eigenmächtigkeit getilgt. Geopfert wird sie einmal der Transzendenz und einmal blinder Kontingenz – sind doch alle Ideen im mechanischen Materialismus, vereinfacht gesprochen, Abbilder von Sinnesinduktionen der äußeren Natur. Damit handelt es sich beide Male lediglich um unterschiedliche Formen einer vollständigen Determination der Erkenntnis. So gesehen ist der aus dem Rêve de d’Alembert ableitbare transzendentale Materialismus als Versuch einer erkenntnistheoretischen Eigenmächtigkeitskonzeption zu lesen, die in Opposition zum Determinismus der alten Metaphysik und des mechanischen Materialismus steht. Als explizite Abgrenzung von dieser Form des Materialismus ist Diderots Kritik an d’Helvétius als einem der Hauptvertreter des französischen Materialismus zu verstehen.324 Demgemäß bezieht sich Diderot in der Réfutation auf eine Stelle aus L’Homme: 325
Sein kritischer Kommentar lässt keinen Zweifel daran, für wie unbefriedigend er diese erkenntnistheoretische Einschätzung hält: Cette assertion, comme elle est énoncée, ne me paraît pas rigoureusement vraie. Le stupide sent, mais peut-être ne juge-t-il pas. L’être totalement privé de mémoire sent; mais il ne juge pas. Le jugement suppose la comparaison de deux idées. La difficulté consiste à savoir comment se fait cette comparaison; car elle suppose deux idées présentes.326
Diderot kommt folglich zu dem Schluss, dass es inakzeptabel ist, auf eine Unterscheidung von Urteils- und Empfindungsvermögen zu verzichten und alle Erkenntnis auf den Empfindungsvorgang zu reduzieren. Denn ohne zusätzliche von der Empfindung unterschiedene Verstandesvermögen, wie die Urteilskraft, wäre der Mensch bestenfalls stupid. Diderot vertieft das Problem hier nicht weitergehend, aber er verweist auf die Komplexität, die gerade in der von der Urteilskraft zu leistenden Ideensynthese („comment se fait cette comparaison“) liegt. Vor dem Hintergrund des Rêve de d’Alembert, der einen an die Einbildungskraft gekoppelten Veranschaulichungsvorschlag der Ideensynthese liefert, kann in besagter Urteilskraft ein Ansatz für die Eigenmächtigkeit des Subjekts gesehen werden. Eine 324 Vgl. zum Materialismus d’Helvétiusʼ auch Sophie Audidière/Jean-Claude Bourdin u.a. (Hg.), Les matérialistes français du XVIIIe siècle: La Mettrie, Helvétius, d’Holbach, Presses universitaires, Paris 2006. 325 DPV, Bd. 24, S. 521. Der Herausgeber Desné verweist darauf, dass Diderot die Textstellen aus L’Homme, auf die sich seine Kommentare in der Réfutation beziehen, bei weitem nicht immer zitiert hat. Alle von Diderot nicht ausführlich oder überhaupt nicht aufgeführten Stellen wurden deshalb vom Herausgeber ergänzt, worauf in der Edition DPV durch Klammerzeichen < > verwiesen wird. Desné gibt auch zu bedenken, dass Diderot viele Zitate verkürzt oder falsch zusammengesetzt wiedergegeben hat. Vgl. ebd, S. 461. Eine Erklärungsmöglichkeit hierfür wäre, dass Diderot d’Helvétius gezielt instrumentalisiert hat, um eine überzeichnete, an eine historische Person gebundene Gegenposition zu konstruieren, von der er sich umso leichter distanzieren konnte. 326 Ebd., S. 521.
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in der Urteilskraft begründete Eigenmächtigkeit, die über das rein passive Empfindungsvermögen hinausgeht. Insofern ist die Materialismuskritik Diderots generell als Absage an eine ausschließlich auf Determinationsprozesse reduzierte Erkenntnistheorie zu verstehen, der eindeutige subjektive Handlungsimpulse abgehen. Vor diesem Hintergrund ist Diderots Materialismuskritik wie auch sein im Rêve de d’Alembert vorgeführtes Eigenmächtigkeitskonzept an Ansätze wie den des deutschen Philosophen Tetens anschlussfähig. Dem Determinismus des vorgestellten Materialismus begegnet Tetens konkret dadurch, dass er dem Menschen, neben dem Vermögen „Eindrücke von den äußeren Umständen mit Gefühl aufzunehmen“, eine Reihe anderer apriorischer Fähigkeiten zuschreibt. In diese Reihe stellt er die „körperlich mechanischen Instinkte“ und das „Gefühl seiner eigenen inneren Wirksamkeit“, dann das „Nachahmungsvermögen“ und schließlich das „Dichtungsvermögen“.327 Letzterem attestiert er: An unsere Vorstellungen und Modifikationen, die entweder durch die äußeren Empfindungen, oder durch andere Ursachen in uns entstehen, etwas selbsttätig zu ändern, solche in Teile zu zerlegen, diese von einander abzusondern, und alsdenn auf eine neue Art sie mit einander zu verbinden und zusammen zu setzen. […] Es ist der Same des neue Erfindungen schaffenden Genies, und scheinet sich in keinem Zustande des Menschen, so schwach auch der Funke davon glimmen mag, ganz und gar verlöschen zu lassen.328
Vor allem in Bezug auf die Qualitäten des Dichtungsvermögens ist der im Rêve de d’Alembert angelegte erkenntnistheoretische Entwurf an Tetens’ 1772 veröffentlichte Ideen anschlussfähig. Damit möchte ich nicht unterstellen, dass zwischen Diderot und Tetens ein geistiger Austausch stattgefunden hätte. Allerdings weist die bei Tetens explizit formulierte Auffassung eines selbsttätigen Dichtungsvermögens auf das zeitgenössische Bewusstsein des Determinationsproblems in der materialistischen Erkenntnistheorie hin.329 Im Rêve de d’Alembert wie auch bei Tetens wird dem Determinismus dadurch begegnet, dass das apriorische Erkenntnisvermögen der Einbildungskraft eingeführt wird, das bei Tetens als Dichtungsvermögen bezeichnet wird. Dieses Vermögen vorausgesetzt, lässt sich im Individuum eine selbstbestimmte Analyse und Synthese der durch die Sinneserfahrungen vermittelten Eindrücke denken. Tetens spricht dieses Vermögen prinzipiell
327 Johannes N. Tetens, Über den Ursprung der Sprachen und der Schrift, Minerva Nachdruck, Frankfurt a. M. 1985, S. 9 f. 328 Ebd., S. 13. 329 In diesem Sinne ist auch Cassirer zu verstehen, der auf die Beiträge Humes, Berkeleys und Condillacs verweist, die Tetens für zu leicht befindet, weil der Begriff bei diesen Denkern reiner Niederschlag der Impressionen sei, ihre einfache Summe oder das Zeichen, das für sie eingesetzt würde. Für Tetens aber sei das Denken zur „Formung von Idealen“ fähig, die aus den bloß aggregativen Begriffen hervorgingen, die ohne die „bildende Dichtkraft“ nicht verständlich seien. Vgl. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 170 f. Auch an Feuquières Phantasiologie ist in diesem Zusammenhang zu denken, da er seine schöpferisch verstandene Imagination nachdrücklich als freiheitliches Vermögen ausweist: „La mémoire ne dépend pas de la volonté; mais l’imagination en dépend, et pour le trancher net, c’est une faculté libre, au moins pour ceux qui savent s’en rendre maîtres.“ Marquis de Feuquières, La Phantasiologie, S. 164 f.
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Teil II
jedem Menschen zu und sei er auch einfältig. Zugleich argumentiert er in zeittypischer Weise, wenn er lediglich dem Genie wahrhaft schöpferische Erfindungsgabe zugesteht. Denn dem Genie ist offensichtlich ein ideales Maß an Dichtungsvermögen zu Eigen. Im Rêve de d’Alembert wird die Bedeutung des Genies nicht expliziert, doch lässt sich im Kontext des bereits analysierten Kommentars von Mlle de l’Espinasse in der vorgeführten Weise von einer impliziten Bedeutungszuweisung ausgehen,330 der zufolge das Genie als ein in besonderem Maße mit schöpferischer Einbildungskraft gesegnetes Wesen anzusehen ist. Eine systematische Untersuchung des Zusammenspiels der apriorischen Vermögen oder der natürlichen Fähigkeiten, wie Tetens sie nennt, in Verbindung mit den aposteriorischen Erfahrungserkenntnissen wird weder bei ihm noch bei Diderot angestrengt. Allerdings wird im Rêve de d’Alembert nach Maßgabe der Möglichkeiten fiktionaler Explorationskunst gerade das Wirken der Einbildungskraft im Sinne einer synthetisierenden Verarbeitung von Sinnesdaten ansatzweise veranschaulicht. Dass es sich hierbei in methodischer Hinsicht um eine jederzeit revidierbare erkenntnistheoretische Arbeitshypothese handelt, die in Form einer Analogie vermittelt wird, wurde veranschaulicht. In diesem Sinne verstehe ich den Rêve de d’Alembert einerseits als das Versprechen, weitere Forschungsanstrengungen zu unternehmen, um grundsätzlich mehr empirisch abgesichertes Wissen über die physiologischen Prozesse in Erfahrung zu bringen, damit aus biologischer Kenntnis und nicht im Geiste metaphysischer Spekulation systematischere Aussagen über die Erkenntnisbildung möglich werden. Als Versuch, diesem Anspruch gerecht zu werden, ist Diderots spätes Werk Éléments de physiologie zu verstehen. Der Text ist ein Traktat, in dem der Philosoph empirische Forschungsresultate zusammenfasst.331 Andrerseits verkörpert der Rêve de d’Alembert auch das Versprechen des Dichters Diderot, im Rahmen der Fiktion ein weitergehendes erkenntnistheoretisches Experiment zu wagen, das Einbildungskraft und Sinneswahrnehmung eine herausragende Stellung einräumt. Als Ausdruck dieses Versprechens verstehe ich das im Rêve de d’Alembert nur angedeutete Zusammenspiel von passiver Sinneswahrnehmung und aktiver Imagination. Daraus erwächst zumindest die Erwartungshaltung einer gezielteren Veranschaulichung dieses als Ausdruck der Verstandesvorgänge zu verstehenden Zusammenspiels. Für ein mögliches dahingehendes Projekt ist der Rêve de d’Alembert eine geradezu ideale strukturelle Vorlage, da hier eine wegweisende Verquickung von Dichtung bzw. Fiktion und Erkenntnistheorie vorliegt. Wegweisend ist diese Ver330 Vgl. oben, S. 112, Fußnote 309. 331 Meyer, der Herausgeber der Éléments de Physiologie stellt in der Edition DPV eine Lektüreliste mit den Texten zahlreicher Physiologen und Mediziner vor, die Diderot für die Arbeit an seinen Éléments de physiologie erstellt hatte. Aufgelistet sind Haller mit seiner Physiologie, Bonnet mit dem Essay analytique, d’Helvétius mit seinen Texten L’Esprit und L’Homme, Bordeu mit nicht näher präzisierten Werken, La Mettrie mit L’Homme machine und L’Homme plante und Heister mit L’Anatomie, um nur einige bekannte Autoren aufzuführen. Dass die Erkenntnisse dieser und anderer Autoren unmittelbar in die Éléments de physiologie eingeflossen sind, weist Meyer zudem im Detail nach. Vgl. DPV, Bd. 17, S. 267 ff.
II.5 Einordnung und Ausblick
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bindung zum einen, weil es im Diskursfeld naturphilosophisch-empirischer Wissenserkundung für eine weiterführende Beschreibung des Erkenntnisprozesses an empirisch überprüfbaren Begriffen mangelt. Die empirisch abgesicherte Beschreibung kann folglich nur durch eine hypothetisch-exploratorische Veranschaulichung im Feld fiktionaler Dichtung ersetzt werden. Denn lediglich in diesem Rahmen können Wirklichkeiten so modelliert und vorgeführt werden, als ob sie tatsächlich existierten. Auf diese Weise werden Wissenshorizonte eröffnet, die, insoweit sie als fiktional ausgewiesen sind, nicht als unumstößliche Wahrheiten, sondern als jederzeit falsifizierbare Möglichkeiten zu gelten haben. Zum anderen hat die Verquickung von Dichtung bzw. Fiktion und Erkenntnistheorie im Rêve de d’Alembert wegweisenden Charakter, weil unter der Annahme der herausragenden Bedeutung der Einbildungskraft für den Erkenntnisprozess wie auch für die Fiktion eine Analogie zwischen Erkenntnisbildung und Fiktion hergestellt wird. Von dieser Analogie lässt sich im Rêve de d’Alembert sprechen, weil die Einbildungskraft als wesentliches Erkenntnisvermögen an der Analogiebildung veranschaulicht wird, die wiederum herausragendes Wesensmerkmal der Fiktion ist. Die Analogiebildung als Wesensmerkmal der Fiktion auszuweisen, ist deshalb möglich, weil in der Fiktion qua schöpferischer Ähnlichkeitsrelation ein Konstrukt als Wirklichkeit ausgewiesen wird, das einerseits Bezüge zur bestehenden Wirklichkeit (Natur) herstellt und andererseits etwas neuartiges, über bestehende Wirklichkeitsrelationen Hinausweisendes erzeugt. Aufgrund der an der Veranschaulichung der Einbildungskraft festgemachten Ähnlichkeitsrelation zwischen Erkenntnisbildung und Fiktion ist es auch für eine ausgedehntere Veranschaulichung der Erkenntnisprozesse – im Sinne einer Vorführung des Zusammenspiels von Sinneswahrnehmung und Imaginationsvermögen – nahe liegend, eine dementsprechend ausgedehntere Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Dichtung und Erkenntnis zu entwickeln. Da ich meinen Ausblick nicht mit der unspezifischen Suggestion beenden möchte, dass der Rêve de d’Alembert eine fiktionsvermittelte Fortschreibung erkenntnistheoretischer Überlegungen notwendig macht, formuliere ich diese These abschließend im Hinblick auf einen konkreten Text Diderots: Die im Rêve de d’Alembert behandelte erkenntnistheoretische Auseinandersetzung findet in Jacques le fataliste et son maître in einer an den Rêve de d’Alembert anschließenden Form analogischer Vermittlung ihre Fortsetzung. Damit ist auch gesagt, dass der Rêve de d’Alembert Diderots letzten Roman im Hinblick auf die Art der Vermittlung seiner Erkenntnistheorie präfiguriert.
TEIL III ZUR INSZENIERUNG GENIALER EINBILDUNGSKRAFT: DIE SELBSTREFLEXIVE ÄSTHETIK IN JACQUES LE FATALISTE ALS ANALOGON DER BEGRIFFSBILDUNG III.1 EINFÜHRUNG Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Diderots Jacques le fataliste so konzipiert ist, dass aus der fiktionsästhetischen Struktur des Textes bzw. der Qualität des Erzählens an sich ein ideologiekritisches und darüber hinaus ein ideologischerkenntnistheoretisches Analogon ableitbar ist.332 Zugleich gilt es zu verdeutlichen, dass besagtes Analogon als gezielte Auseinandersetzung mit ausgesuchten weltanschaulichen und erkenntnistheoretischen Fragen der Zeit und zudem als inszenierte Fortführung Diderots vorangegangener erkenntnistheoretischer Überlegungen gelesen werden kann. In diesem Zusammenhang ist meine zentrale These, dass das im Rêve de d’Alembert bereits andeutungsweise vorgeführte Zusammenspiel von Sinneswahrnehmung und Einbildungskraft in Jacques le fataliste systematisch inszeniert wird, um anhand der Veranschaulichung komplexer Begriffsbildung den Vorgang der Verstandestätigkeit an sich zu illustrieren. Dabei werden zugleich Weltanschauungen verabschiedet, die mit dem erkenntnistheoretischen Entwurf nicht kompatibel sind. Da besagte Veranschaulichung auf einer ästhetischen Strukturanalogie beruht, lassen sich im Text nicht immer explizite Anhaltspunkte für eine erkenntnistheoretische Auseinandersetzung nachweisen. Deshalb ist es unumgänglich, die strukturellen Voraussetzungen für einen derartigen Analogieschluss detailliert vorzustellen. In diesem Zusammenhang ist meine zweite These, dass Diderots Jacques le fataliste ein ausschließlich selbstreflexiver Text ist,333 in dem mittels einer Viel332 In der Forschung ist die Verschränkung von ästhetischem Konzept und philosophischer Fragestellung in Bezug auf Diderots Roman grundsätzlich schon lange Diskussionsgegenstand. Allerdings ist diese Sichtweise lange auf die Interdependenz von Fatalismusproblematik und Antiromanpolemik beschränkt geblieben. Beispielhaft hierfür sind die Ansätze: Köhler, „Estce que l’on sait où l’on va?“, S. 247 und Warning, Illusion und Wirklichkeit, S. 78 ff. 333 Die Selbstreflexivität in Jacques le fataliste ist schon lange Gegenstand der Forschung. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die metanarrativen Gattungs- und Literaturreflexionen in den Vordergrund gestellt worden. Vgl. dazu Simone Lecointre/Jean Le Galliot, „Introduction à la lecture du texte“, S. LXXX–CLXIII.Vgl. dazu auch Marie-Hélène Chabut, „Jacques le fataliste: relativisation d’une performance parodique et métadiscursive“, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, 266 (1989), S. 253–269. Im Rahmen seiner Studien zur Narrativik der Illusionsdurchbrechung hat Werner Wolf eine Vielzahl auch für Jacques le fataliste gültiger selbstreflexiver Textstrategien systematisch vorgestellt. Vgl. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 512. Auch Michael Scheffel hat im Rah-
III.1 Einführung
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zahl von Erzählstrategien die Ästhetik des eigenen Erzählens reflektiert wird. Dementsprechend wird im Text entgegen der epochal gängigen Ästhetik eines auf der Leserillusionierung beruhenden wirklichkeitsdarstellenden Erzählens auch keine Wirklichkeit nachgeahmt, sondern das (Entstehungs-) Bild des eigenen Erzählens thematisiert und inszeniert.334 Dabei kommt es zur gezielten Unterminierung einer auf die Wirklichkeitsillusion abzielenden idealisierenden Erzählweise, weshalb Wolf den Text in die Tradition der illusionsdurchbrechenden Antiromane gestellt hat, die für ihn mit Cervantes’ Don Quijote beginnt.335 Der Nachweis der selbstreflexiven Struktur des Romans soll allerdings weder für sich stehender Selbstzweck sein noch soll er als Argument für die Vorverlegung der ästhetischen Moderneschwelle ins 18. Jahrhundert instrumentalisiert werden. Zumal Selbstreflexivität an sich kein ästhetisches Modernitätskriterium, sondern eine prinzipielle Möglichkeit des narrativen Diskurses ist.336 Es soll hier aber auch nicht nachgewiesen werden, dass sich Diderot in Jacques le fataliste grundsätzlich von der Mimesisästhetik distanziert, um prinzipiell eine andere Narrationspoetik geltend zu machen.337 Eine derartige Argumentation ließe sich anhand von nur einem Beispieltext auch nicht rechtfertigen. Indessen geht es mir um den Nachweis einer spezifisch erkenntnistheoretischen Funktionalität der selbstreflexiven Fiktionsästhetik in Jacques le fataliste. Anders gesagt, ich werde zu zeigen versuchen, dass die selbstreflexive Ästhetik im Sinne ideologischer und darüber hinaus spezifisch erkenntnistheoretischer Fragestellungen der Zeit funktionalisierbar ist. Die
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men seiner Untersuchung selbstreflexiven Erzählens einzelne selbstreflexive Narrationsstrategien in Jacques le fataliste hervorgehoben. Vgl. Scheffel, Formen selbstreflexiven Erzählens, S. 58–62. Darunter verstehe ich den Vorgang der Inszenierung der eigenen Vertextungsrealität. Vgl. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 513. Klaus Hempfer verweist auf die französische Literaturkritik, in der es zumindest seit Barthes’ Äußerungen über die Selbstthematisierung der Literatur eine ausgeprägte Tendenz gibt, Autoreflexivität als Kriterium für Modernität zu reklamieren. Er selbst zeigt, dass die Autoreflexivität eine strukturelle Möglichkeit erzählender Texte ist, die nicht an bestimmte historische Situationen gebunden ist. Erst die spezifischen Funktionalisierungen der potenziellen Selbstreflexivität hält er für jeweils historisch rückkoppelbar, wie er an Ariosts Orlando Furioso verdeutlicht. Die Potenzialität der Autoreflexivität führt er auf die in narrativen Texten grundsätzlich vorhandene Vermittlungsebene zurück. Dank dieser Ebene kann der narrative Diskurs eine Reflexion über das Erzählen selbst anstrengen oder lediglich die histoire als solche vermitteln. Schließlich grenzt er die potenzielle Autoreflexivität von der modernen Autoreflexivität ab, die er etwa in den Tel-Quel-Romanen realisiert sieht. Diesen Texten schreibt er eine so extreme Form der Autoreflexivität zu, dass daraus eine generelle Absage an die Möglichkeit des Erzählens resultiert, was er wiederum als Epochenspezifikum der (Post-) Moderne ausweist. Vgl. Hempfer, „Die potentielle Autoreflexivität des narrativen Diskurses“, S. 130–156. Bedenkt man, dass Diderot in der Eloge de Richardson eine auf der Wirklichkeitsillusion basierende Narrationspoetik entwirft, die auf der wahrheitsgemäßen Schilderung kleiner Details beruht, scheint dies auch nicht plausibel zu sein. Vgl. DPV, Bd. 13, S. 198.
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Teil III
für die Literatur der Aufklärung typische Verschränkung von Fiktion und Erkenntnistheorie steht einer derartigen Argumentation jedenfalls nicht im Wege.338 Der zentrale Ansatz für die Annahme einer Analogiebeziehung zwischen fiktionsästhetischem und erkenntnistheoretischem Diskurs ist die bereits im Rêve de d’Alembert an der Einbildungskraft festgemachte Analogie zwischen Dichtung/Fiktion und Erkenntnisbildung. Insofern gehe ich davon aus, dass mit der Einbildungskraft eine Schlüsselqualität der fiktionalen Dichtung und des Erkenntnisprozesses definiert ist, da die Funktionsweise der Einbildungskraft als Erkenntnisvermögen im Rêve de d’Alembert an der Analogiebildung als zentralem Element von Dichtung/Fiktion veranschaulicht wird. Im Folgenden wird deshalb nachzuzeichnen sein, wie mittels der Reflexion des eigenen Fiktionsstatus in Jacques le fataliste die Funktionsweise der Einbildungskraft als Wesensmerkmal von Dichtung/Fiktion und Erkenntnis zur Anschauung kommt. Voraussetzung hierfür ist zunächst die schrittweise Verifikation der selbstreflexiven Textästhetik. In diesem Sinne gilt es zu zeigen, dass der Text die Dekonstruktion fiktionsästhetischer Traditionen (ästhetische Entwertung) und zugleich den Paradigmenwechsel (ästhetische Umwertung) zu einem sich selbst reflektierenden Erzählen vollzieht. Schließlich soll vorgeführt werden, dass der Roman seine eigene Vertextungsrealität exemplifizierend illustriert (Inszenierung des ästhetischen Wertes). Auf der Grundlage dieser Vertextungsrealität soll in Anlehnung an die erste These ein komplexes erkenntnistheoretisches Analogon abgeleitet werden. Demgemäß wird in einem ersten Schritt nachzuweisen sein, dass die Entwertung der ästhetischen Tradition mit der Verabschiedung einer am Begriff der Determination festgemachten Weltanschauung (Fatalismus/mechanischer Materialismus) und daran gebunden mit der Diskreditierung deterministischer Erkenntnistheorie zusammenfällt. Die Umwertung der narrativen Fiktionsästhetik korrespondiert dieser Annahme zufolge wiederum mit einer weltanschaulichen (Integration der Eigenmächtigkeit in den Materialismus) und zugleich erkenntnistheoretischen Umwertung in Abhängigkeit von einem transformierten Determinismusbegriff. Meine dritte Annahme besteht darin, dass die selbstreflexive Narrationsästhetik pragmatisch motiviert ist, da sie auf einem impliziten Kommunikationsprozess beruht. Darunter ist zu verstehen, dass sämtliche Rede- und Erzählakte negativ codierte Hinweise sind, die mehr oder weniger implizit an einen idealen Leser gerichtet sind. Diesem Prinzip zufolge soll gezeigt werden, dass die gesamte Bedeutungskonstitution auf der Grundlage einer vom Rezipienten zu leistenden Dechiffrierung und Zusammensetzung negativ codierter Hinweise, die als Lenkungsstrategien interpretierbar sind, erfolgt. Hierbei gilt es zu erkunden, inwieweit auch die wirkungsästhetische Textkonzeption erkenntnistheoretisch von Bedeutung ist. Damit verbunden ist letztlich 338 Hempfer sieht die Literatur der Aufklärung gerade dadurch charakterisiert, dass das Ästhetische im Hinblick auf die Durchsetzung eines Denk- und Wirklichkeitsmodells funktionalisiert wird. Vgl. Klaus W. Hempfer, „Zum Verhältnis von ‚Literatur‘ und ‚Aufklärung‘“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 115/1 (2005), S. 25.
III.2 Die Erzählstruktur
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auch die übergeordnete Frage, warum es grundsätzlich eines fiktionsästhetischen Analogons der erkenntnistheoretischen Problematik bedarf oder im Umkehrschluss, warum erkenntnistheoretische Inhalte nicht in Traktatform verhandelt werden, sondern mittels einer komplexen impliziten Kommunikation in einer Leserperformanz zu konstruieren sind. Es lässt sich schon an dieser Stelle vermuten, dass in Jacques le fataliste teilweise dieselben Gründe geltend gemacht werden können, wie im Rêve de d’Alembert. Dass folglich in fiktionalem Modus Wirklichkeitsmodelle entworfen und veranschaulicht werden können, die im Rahmen eines streng empirisch angelegten Überlegungszusammenhanges aufgrund des limitierten Wissensstandes unhaltbar wären. Welche Gründe es darüber hinaus gibt, wird abschließend im Detail untersucht. Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Vorgehensweise werde ich zunächst eine Analyse der Erzählstruktur und der in sie eingeschriebenen Strategien zur Rezeptionslenkung vornehmen, die an sich schon auf die selbstreflexive Textästhetik hinweisen.
III.2 DIE ERZÄHLSTRUKTUR III.2.1 Ebenen des Diskurses Dem empirischen Leser wird schon auf den ersten Seiten von Jacques le fataliste klar, dass der Roman keineswegs linear und überschaubar erzählt wird. Die Verwirrung, die sich bei der Lektüre einstellt, löst sich auch im Verlauf des Romans nicht auf. Insoweit ist die gezielte Desorientierung des Lesers ein erstes Strukturprinzip, das sich hervorheben lässt. Die sich einstellende Verwirrung ist zum einen auf die verschlungene Handlungsstruktur und zum anderen auf die Uneinheitlichkeit der Vermittlungsinstanzen zurückzuführen. Dabei bedingen sich Undurchsichtigkeit der Handlungsstruktur und Uneinheitlichkeit der Erzählstimme gegenseitig. Deshalb soll durch die Verortung der Erzählerinstanzen zunächst eine Klärung der Erzählsituation vorgenommen werden. Zu Beginn des Textes werden auf der Bühne des Geschehens Jacques und sein Herr eingeführt, wobei sie Kraft der medias in res-Technik inmitten einer Unterhaltung vorgeführt werden. Die Gesprächigkeit der Protagonisten reißt über den gesamten Roman nicht ab und obschon aus dem Dialog von Herr und Knecht zuweilen diskursive Erzählungen hervorgehen, ist der Gesprächsanteil der Protagonisten gegenüber der reinen Erzählung dominant. Verstärkt durch die Typographie gewinnt man deshalb den Eindruck, dass es sich um eine dramatische Textsituation handelt. Denn die Repliken der Akteure sind wie in einem dramatischen Text339 unvermittelt hinter die 339 Pujol ist angesichts von Diderots als Dialog bezeichneten Texten der Meinung, dass sie nochmals unter Gattungsaspekten betrachtet werden müssten, um sogleich die suggestive Frage nachzuschicken, ob es sich bei diesen Texten nicht um Mischformen aus Dialog, Drama und narrativer Fiktion handle. Da er dem vermeintlichen Roman Jacques le fataliste im Gegenzug eine heuristische Dialogfunktion zuschreibt, scheint Pujol mit Recht wenig von exklusiven Gattungszuschreibungen bei Diderot zu halten. Deshalb sollten Pujol zufolge die Dialoge nicht anders als Diderots Jacques le fataliste als literarische Mischformen betrachtet
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Sprechernamen Jacques und Le maître gesetzt. Dennoch treten die Textfiguren anders als im Drama nicht unvermittelt auf, sondern werden von einer sich als Autor gerierenden Erzählerfigur in Szene gesetzt. Besagter fiktiver Erzähler ist seinerseits über den gesamten Roman hinweg immer wieder in Gespräche mit einem fiktiven Gesprächspartner verwickelt, dem gleichsam die Leserrolle zugedacht ist.340 Ihre Gesprächssituation sowie ihre vergleichsweise knappen dialogischen Kommentare bleiben allerdings unvermittelt. Auf der Grundlage dieser Stimmenentwirrung lässt sich eine systematische Erzählerverortung vornehmen.341 Dementsprechend handelt es sich bei dem fiktiven Erzähler um die hierarchisch am höchsten stehende Erzählerinstanz, deren Diskurs ersten Grades auf extradiegetischer Ebene situiert ist. Damit ist auch gesagt, dass die gesamte erzählte Welt, zu der auf intradiegetischer Ebene die Gesprächspartner Jacques und sein Herr gehören, von dieser Instanz abhängt. Auf jenes Erzählen ersten Grades muss präzisierend eingegangen werden, denn zumeist tritt der erzählende Diskurs des fiktiven Erzählers hinter eine unvermittelte szenische Darstellung zurück.342 So werden die Ereignisse nur knapp narrativ eingeführt, um sodann einem dramatisierten Geschehen die Bühne zu überlassen. Auf diese Weise kann der Erzählakt allerdings problemlos einem Protagonisten der hierarchisch nächst niedriger gelegenen Diskursebene zugeschrieben werden, wie etwa dem Diener Jacques, der als Figur der intradiegetischen Ebene eine niedrigere Bewusstseinsstufe als besagter fiktiver Erzähler inne hat. Das bedeutet auch, dass die Vermittlungsebenen ineinander verschachtelt sind, wobei eine konsequente Fortführung dieses Prinzips unendlich viele Vermittlungs- bzw. Geschichtsebenen hervorbringen könnte.343 In Jacques le fataliste ist wenigstens eine dritte, metadiegetische Diskursebene angelegt, die dadurch konstituiert ist, dass Jacques als Erzähler zweiten Grades die Geschichte eines gewissen M. Le Pelletier ankündigt, sie allerdings nicht selbst wiedergibt, sondern in eine Szenerie einführt, in der ein unbekannter Barbier vorkommt, der jene Geschichte sodann erzählt. In diesem Sinne führt Jacques den Barbier als Erzähler dritten Grades ein: […] une foule d’oisifs s’était rassemblée autour d’une espèce d’orateur, le barbier de la rue, et lui disait: ‚Vous y étiez, vous! racontez-nous comment la chose s’est passée.‘
340 341 342 343
werden, deren Kernbestandteil indes der Dialog ist, weil er so vielseitig verwendbar ist. Vgl. Stéphane Pujol, Le dialogue d’idées au dix-huitième siècle, Voltaire Foundation, Oxford 2005, S. 305. Es ließe sich auch sagen, dass der fiktive Erzähler sein Leserpendant imaginiert. Hierbei rekurriere ich auf Genettes Terminologie. Vgl. Gérard Genette, Figures III, Seuil, Paris 1972, S. 238 ff. Stanzel spricht von „dramatisierter Szene“, die streng genommen ein dramatisches Bauelement sei. Vgl. Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, Vandenhoeck, Göttingen 1991, S. 71. Lecointre hat – soweit ich es übersehen kann – die erste systematische Analyse der Diskursund Geschichtsebenen in Jacques le fataliste in der Terminologie Genettes vorgelegt, die für sie Grundlage einer kohärenten Darstellung der ineinander geschachtelten Ebenen und damit der Erzählstruktur ist. Vgl. Lecointre, „Qui parle dans Jacques le fataliste?“, S. 11.
III.2 Die Erzählstruktur
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- Très volontiers, répondit l’orateur du coin, qui ne demandait pas mieux que de pérorer.344
Auf diese Sequenz folgt der Erzählakt des Barbiers, wobei auch hier die geschilderte Situation zwischen M. Le Pelletier und M. Aubertot lediglich kurz eingeführt wird. Dann tritt der Barbier als Vermittler des Geschehens wieder hinter eine szenische Darstellung zurück. Im Hinblick auf die soeben erwähnte Unmittelbarkeit des Erzählten möchte ich nochmals auf die extradiegetische Ebene des Erzählens zurückschwenken. Unmittelbar zu Beginn des Romans wird der Leser mit dem fiktiven LeserErzähler-Gesprächspaar konfrontiert. Er mag sie sich vorstellen, wie sie in einem Café miteinander disputieren, ebenso wie er die Vorstellung haben kann, dass der fiktive Erzähler lediglich ein Gegenüber nach Art eines klischeehaften Lesers fingiert. Was auch immer dem empirischen Leser in den Sinn kommen mag, trotz des Fehlens einer expliziten Vermittlung ihrer Gesprächssituation imaginiert er ein Bild, das allein durch den Dialog als solchen hervorgerufen wird. In Analogie zu den Gesprächen zwischen Jacques und seinem Herrn, deren Rede zumeist direkt wiedergegeben ist, obschon sie eindeutig vom fiktiven Erzähler abhängt, kann auch der Auftritt des fiktiven Erzählers und seines Leserpendants als struktureller Leserhinweis interpretiert werden, einen impliziten Autor zu rekonstruieren, in dessen Dienst alle Figuren und die ihnen zugeschriebenen Diskurse stehen. In Anlehnung an Pfisters Kommunikationsmodell für narrative Texte lässt sich diese Konstellation theoretisch als implizite Kommunikation zwischen dem impliziten oder idealen Autor und seinem Pendant, dem impliziten oder idealen Leser, erfassen.345 Für Pfister ist dieser Kommunikationsprozess grundsätzlich allen Texten strukturell eingeschrieben. Meine These ist zwar an Pfisters Modell orientiert, aber ich gehe davon aus, dass in Jacques le fataliste mittels spezifischer Narrationsstrategien intentional eine implizite Kommunikation angelegt ist. Mit anderen Worten, es soll gezeigt werden, dass der Text auf der Grundlage spezifischer Codes und Strategien eine bestimmte Lesart nahe legt.346 Ob sich die unterschiedlichen Textsignale tatsächlich zur Rede eines impliziten Autors verdichten lassen, das wird zu untersuchen sein. Das in der Forschung zumindest umstrittene Konzept des impliziten Autors verwende ich hier, weil ich davon ausgehe, dass auf der Grundlage einer intendierten impliziten Kommunikation, die mit keinem der 344 Denis Diderot, Œuvres complètes, Bd. 23: Jacques le fataliste et son maître, hg. v. Herbert Dieckmann/Jacques Proust/Jean Varloot, Hermann, Paris 1981, S. 74, Sigle: DPV. 345 Vgl. Manfred Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse, Fink, München 1997, S. 20 f. Pfister integriert in seinem Kommunikationsmodell Booths Konzept des implied author. Vgl. dazu Wayne C. Booth, The Rhetoric of Fiction, Univ. of Chicago Press, Chicago 1961, S. 70 ff. 346 Eco spricht in diesem Zusammenhang von einem Modell-Autor, der als Stimme auszumachen sei, die wahlweise liebevoll, gebieterisch oder verschlagen zu uns, den Lesern, spreche. Sie äußere sich dementsprechend als Erzählstrategie bzw. als ein Ensemble von Instruktionen, die dem Leser beständig erteilt würden und an die sich der empirische Leser zu halten habe, wenn er sich dem impliziten Leser, den Eco als Modell-Leser bezeichnet, annähern wolle. Vgl. Umberto Eco, Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur, Hanser, München/Wien 1994, S. 26.
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explizit figuralen Dialoge identisch ist, ein Autorbewusstsein rekonstruierbar ist, dem eine bestimmte Funktion zugeschrieben werden kann. Allerdings fließt in diese Anschauung der entscheidende Aspekt mit ein, dass besagtes Autorbewusstsein erst vom Leser zu rekonstruieren ist. Mit anderen Worten, der Text ist so strukturiert, dass er ein Autorbewusstsein impliziert, das indes keine Instanz ist.347 Insofern verwende ich den Begriff des impliziten Autors in Verbindung mit einer wirkungsästhetischen Textkonzeption und im Sinne eines sich absichtsvoll implizit manifestierenden Autorbewusstseins. Mir ist durchaus bewusst, dass mit der Behauptung einer gezielt angelegten impliziten Kommunikation die Dechiffrierung einer bestimmten Autorintention in Aussicht gestellt wird, die gleichwohl nicht mit der Textbedeutung gleichzusetzen ist. Die Bedeutungskonstitution fasse ich dementsprechend als Leserkonstrukt auf, das auf einer historisch je spezifischen Zusammensetzung der Teilkonstituenten des Textes beruht; einer Zusammensetzung, die gleichermaßen der Eingebung der ‚Stimmen‘ des Textes und der Lust an der Koordinierung des ambigen und beständig unterbrochenen Stimmenspiels entspringt.348 Das jeweilige Konstrukt ist folglich nicht mit der entschlüsselten Autorintention gleichzusetzen, indes wäre es auch absurd, dieses auf struk-
347 In dieser Hinsicht orientiere ich mich an Ansgar Nünning, der das in der Forschung umstrittene Konzept des implied author vor allem aufgrund seiner Vagheit kritisiert. Diese macht er insbesondere daran fest, dass der implizite Autor ein strukturelles Konstrukt sei, das sich nicht als Sprecher artikuliere, weshalb Nünning auch den Nutzen einer SprecherKonzeptualisierung in Abrede stellt. Vgl. Ansgar Nünning, „Renaissance eines anthropomorphisierten Passepartouts oder Nachruf auf ein literaturkritisches Phantom? Überlegungen und Alternativen zum ‚implied author‘“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Zeitgeschichte, 67 (1993), S. 6. Dementsprechend schlägt er vor, anstelle des impliziten Autors von der Konstituierung einer virtuellen Textstruktur zu sprechen, die individuelle Rezipienten auf der Grundlage der Kontrast- und Korrespondenzrelationen der Textelemente bildeten. Vgl. ebd., S. 19. Auf Nünnings Kritik am grundsätzlichen Konzept des impliziten Autors kann hier nicht weiter eingegangen werden. Dennoch erscheint es mir im Falle von Jacques le fataliste sinnvoll, das theoretische Konstrukt des impliziten Autors zu verwenden, wobei ich damit keinerlei Rückschlüsse auf die allgemeine Tragfähigkeit des Konzeptes intendiere. Insofern werde ich zu zeigen versuchen, dass auf der Grundlage einer rezeptionsseitigen Zusammenschau der Textstrategien in Jacques le fataliste im thematischen Kontext ‚notwendigerweise‘ die Manifestation eines textuell implizierten Autorbewusstseins rekonstruierbar ist. Einen Forschungsüberblick und eine an Nünning anschließende kritische Würdigung des Begriffes findet sich bei Tom Kindt/Hans-Harald Müller, „Der ‚implizite Autor‘. Zur Explikation und Verwendung eines umstrittenen Begriffes“, in: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffes, hg. v. Fotis Jannidis u.a., Niemeyer, Tübingen 1999. 348 Barthes macht den plaisir du texte am Bild des Körpers fest, der gerade da erotisch ist, wo die Haut zwischen zwei Kleidungsstücken durchschimmert. Dementsprechend wird der Text für den Leser da zum Genuss, wo er seine Brüche und Ambiguitäten zeigt: „Voilà un état très subtil, presque intenable, du discours: la narrativité est déconstruite et l’histoire reste cependant lisible: jamais les deux bords de la faille n’ont été plus nets et plus ténus, jamais le plaisir mieux offert au lecteur – si du moins il a le goût des ruptures surveillées, des conformismes truqués et des destructions indirectes. De plus la réussite pouvant être ici reportée à un auteur, il s’y ajoute un plaisir de performance.“ Roland Barthes, Le plaisir du texte, Seuil, Paris 1973, S. 18.
III.2 Die Erzählstruktur
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turellen Prämissen beruhende Konstrukt nicht auch als Nachempfindung einer Autorintention zu verstehen. Die Analyse dieser impliziten Kommunikation stellt somit den eigentlichen Untersuchungsgegenstand des vorliegenden Kapitels dar. Da jedwede Form der Kommunikation auf konkrete Strukturen angewiesen ist, die sich instrumentalisieren lassen, ist an dieser Stelle zusammenfassend hervorzuheben, dass in Jacques le fataliste wenigstens drei hierarchisch abgestufte Diskursebenen zu unterscheiden sind, in die der implizite Diskurs eingeschrieben ist bzw. auf deren struktureller Grundlage er sich rekonstruieren lässt. Bildlich gesprochen wird diese in die Tiefe gehende Struktur der Diskursebenen um eine in die Breite gehende Diskursvarietät ergänzt. So gibt es auf intradiegetischer Ebene eine Vielzahl hierarchisch gleichgestellter Erzähler, die sich in ihrer Erzählertätigkeit abwechseln. An erster Stelle ist in diesem Sinne Jacques zu nennen, der als Erzähler seiner Liebesgeschichte und vieler anderer episodischer Geschichten die längste Erzählzeit in Anspruch nimmt. Ebenfalls tun sich auf dieser Diskursebene sein Herr, eine Herbergswirtin und der Marquis des Arcis mit jeweils sehr umfangreichen Erzählungen hervor.
III.2.2 Rede- und Geschichtsebenen Es sind die vielen Geschichten, die diesen Roman charakterisieren und ihn zugleich schwer zugänglich machen. Denn auf der Grundlage der Geschichten lässt sich der Text nicht als homogenes Ganzes verstehen. Lediglich brüchig und unmotiviert scheint das Geflecht der sich gegenseitig unterbrechenden Geschichten zu sein, sodass sich der Eindruck einer bestenfalls kontingenten Ordnung der Handlung einstellt. Dementsprechend ist der Roman im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte abschätzig als „ramas de contes“ charakterisiert worden,349 und Diderot wurde unterstellt, er sei „incapable de composer“.350 Zwar sind derartige Verurteilungen längst überwunden, doch sind sie ein noch immer gültiger Ausdruck der prinzipiellen Rezeptionsschwierigkeiten, die sich bei diesem gewöhnliche Geschichtsmuster unterlaufenden Text einstellen. Seitdem die Forschung ihre Vorbehalte gegenüber Diderots Schreibweise in Jacques le fataliste überwunden hat, war gerade jene irritierende Uneinheitlichkeit der Geschichten Aufhänger für metaphorische Interpretationen. In diesem Sinne ist das unentwirrbar kontingente Geschichtskonvolut häufig als Ausdruck einer mindestens ebenso kontingenten Wirklichkeit gelesen worden.351 Die Textrealität der vordergründig nicht miteinander verrechenbaren Geschichten werde ich indes noch vor jeder Bedeutungs349 Rosenkranz, Diderot’s Leben und Werke, S. 316. 350 Pierre Castex/Paul Surer, Manuel des études littéraires françaises au XVIIIe siècle, Hachette, Paris 1949, S. 97. 351 Repräsentativ für diese tendenziell von einem traditionell hermeneutischen Textverständnis geprägten Lesarten ist die Untersuchung von Pruner, L’unité secrète de Jacques le fataliste. Sein Ansatz unterstellt jedenfalls, dass der Text einen verdeckten Sinn bereithält, der indes mit dem richtigen Code zu entschlüsseln ist.
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zuschreibung detailliert vorstellen. In diesem Zusammenhang lässt sich feststellen, dass die Geschichten nicht durchgängig erzählt werden; vielmehr unterbrechen sie sich beständig gegenseitig. Da sie in Bezug auf ihren Handlungsgehalt nicht miteinander in Einklang zu bringen sind, kann mit Jüttner vermutet werden, dass der „Eindruck des Diskontinuierlichen“ strukturell gezielt erzeugt wird.352 Aus Gründen der Übersicht bietet es sich deshalb an, die Geschichten entsprechend ihrer hierarchischen Stellung zu ordnen, womit eine Koppelung an ihre jeweilige Vermittlungsinstanz gemeint ist. An erster Stelle ist zumindest hypothetisch die rezeptionsseitig zu erschließende Rede des impliziten Autors als ‚innere Handlung‘ und damit zusammenhängend als implizites Bedeutungsangebot zu nennen. Weil diese handlungsvermittelte mögliche Bedeutung nur implizit angelegt ist, muss sie zunächst Schritt für Schritt hergeleitet werden. Da es hierbei um strukturvermittelte Aspekte der Bedeutungskonstitution geht, lässt sich dazu aber noch nichts sagen. An zweiter Stelle steht die auf intradiegetischer Ebene sich konstituierende Reisegeschichte von Jacques und seinem Herrn, die vom fiktiven Erzähler der extradiegetischen Ebene vermittelt wird. Sie bildet den Rahmen, in den sich alle anderen Geschichten einfügen, die von Erzählern vermittelt werden, die in der Hierarchie der Vermittlungsebenen unter der des fiktiven Erzählers stehen. Die eingeschobenen Geschichten sind von ganz unterschiedlicher Dauer. Während sich einige nur über wenige Zeilen erstrecken, nehmen andere mehrere Seiten in Anspruch und wieder andere haben die Länge einer Novelle. Die rahmengebende Reisegeschichte ist schnell charakterisiert. Sie setzt sich aus scheinbar willkürlich angeordneten recht banalen Begebenheiten zusammen, die dem Herrn und seinem Faktotum Jacques auf einer Reise ohne erklärten Ausgangsund Zielpunkt widerfahren. Infolgedessen wird dem Leser eröffnet, wie sie in Herbergen einkehren und mit anderen Reisenden zusammentreffen, wie sie auf ihren Pferden scheinbar wahllos durch die Gegend reiten, welche Rätsel ihnen ihre Reittiere aufgeben, und schließlich, wie sie ihre Reise doch noch beenden. Streng genommen bilden diese kargen Handlungselemente, die in der Zusammenschau durchaus chronologisch erzählt werden, die eigentliche Rahmenhandlung. Doch der Begriff der Rahmen gebenden Handlung ist nicht ausreichend, wenn es darum geht, die tatsächliche Rahmung des Romans zu beschreiben. Denn wie bereits erwähnt, hat die dramatisierte, unvermittelte Szenerie einen bedeutenderen Anteil am Rahmen gebenden Geschehen als die erzählten Vorfälle der Reise. Schließlich unterhalten sich Jacques und sein Herr im Verlauf ihrer Reise ständig miteinander, wobei die vermittelten Ereignisse ihrer Reise ihren Redefluss bestenfalls unterbrechen. Während sie lediglich eine lokale Rundreise unternehmen, deren Ausgangs- und Zielpunkt, ebenso wie die jeweiligen Etappen, im Vagen und Unverbindlichen bleiben, hat das komische Paar eine Weltumrundung im Geiste vollzogen. Alle möglichen Themen werden in sokratischer Manier bespro352 Siegfried Jüttner, „Heuristisches Erzählen. Zur Analyse des Jacques le fataliste et son maître von Diderot“, in: Denis Diderot, hg. v. Jochen Schlobach, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1992, S. 289.
III.2 Die Erzählstruktur
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chen. Diese Anlage ist alles andere als zufällig. In diesem Sinne verweist der Herr auf Jacques’ sokratisches Wesen, ist er doch ebenso unerschrocken wie Sokrates und deshalb Philosoph.353 Was für Jacques gilt, das gilt auch für seinen Herrn. Sie sind ein kongeniales Philosophenpaar, das wie ihre textuellen Vorgänger Don Quijote und Sancho Pansa ohne einander nicht viel wert ist.354 Insofern lebt der Roman von ihren Gesprächen, die, wie im sokratischen Dialog, die Wahrheit an das Licht bringen. Und die Unterhaltung der beiden Protagonisten bestimmt weitgehend das Reisegeschehen. Die Bedeutung des Dialogs wird auch nochmals vom fiktiven Erzähler ins Leserbewusstsein gerückt, wenn er zum Ende des Romans von einem ihm bekannten Manuskript spricht, dessen Titel „les entretiens de Jacques le fataliste et de son maître“ lautet.355 Demgemäß muss die Rahmenhandlung um das Rahmengespräch erweitert werden. Im Hinblick auf die fiktive Erzählerinstanz bedeutet dies, dass zum einen vermittelte Handlung und zum anderen direktes szenisches Geschehen, hinter das der fiktive Erzähler zurücktritt, den Handlungsrahmen abgeben. Dieser doppelte Rahmen, der aus dem Dialog der Protagonisten und den erzählten Ereignissen der Reise besteht, ist in hohem Maße für den Eindruck der Heterogenität verantwortlich und eignet sich für konstruierte Brüche. Der Übergang von dem vermittelten Modus des Rahmengeschehens zum direkten Rahmengespräch ist bereits ein Beispiel dafür. So unterbricht der Erzähler scheinbar immer wieder durch die Erzählung von Reisevorkommnissen die Unterhaltung von Herr und Diener. Eine im Text geradezu ritualisierte Form dieses Moduswechsels ist die Situation des durchgehenden Pferdes. Während Jacques und sein Herr zu Pferde miteinander disputieren, weiß der Erzähler zu berichten, dass Jacques’ Reittier gerade mit ihm durchgehe.356 Dadurch lässt sich die Reisegeschichte schlagartig weitertreiben, ebenso wie sich das Gespräch der Protagonisten in der Folge auf andere Themen lenken lässt. Allein diese Art der Unterbrechung, die von der scheinbaren Unabhängigkeit von Erzähler und Figurengeschehen lebt – insofern sich der Erzähler vornehmlich als Chronist oder Berichterstatter eines von ihm unabhängigen Geschehens darstellt – sorgt für ein hohes Maß an Diskontinuität innerhalb des soeben definierten Rahmengeschehens. Eine weitere Quelle für Brüche liegt in der Nutzung eines alltäglichen Gesprächsprinzips. Wer sich ausführlich mit seinem Gegenüber unterhält, kommt automatisch ins Erzählen. So verhält es sich auch bei Jacques und seinem Herrn. Ihre Unterhaltungen münden zumeist sehr schnell in einen erzählenden Diskurs Jacques’, gelegentlich treten auch der Herr oder Dritte als Erzähler auf. Das hat jeweils eine perspektivische Verschiebung zur Folge, die sich wie ein Ausblick vom Standpunkt der Rahmenkonstellation auf eine weitere Konstellationsebene beschreiben lässt. Diese durch intradiegetische Diskurse vermittelten metadiege353 Vgl. DPV, Bd. 23, S. 91. 354 Es handelt sich bei dieser Einschätzung um einen der zahlreichen metafiktionalen Kommentare der Erzählerfigur. Vgl. ebd., S. 81. 355 Ebd., S. 288. 356 Vgl. die drei Ausbrüche des Pferdes, ebd., S. 62, 76, 81.
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tischen Geschichten verstärken ihrerseits den Eindruck besagter Diskontinuität. Das rührt vor allem daher, dass die jeweiligen Erzählungen inhaltlich nicht miteinander in Übereinstimmung zu bringen sind. Sie beziehen sich lediglich im weitesten Sinne auf den jeweiligen Rede- oder Ereigniskontext der Reise. Infolgedessen wird Jacques aufgrund einer eher beiläufigen Erwähnung seines Bruders, der nach Lissabon ausgezogen sei, von seinem Herrn dazu gedrängt, die Hintergründe für dieses Unternehmen zu erläutern. Das Ergebnis dieser Aufforderung ist eine kurze Erzählung der Geschicke des Bruders Jean.357 An anderer Stelle sind es wiederum gewöhnliche Reiseumstände, die Herr und Diener zu Hörern einer äußerst ungewöhnlichen Geschichte machen. Sie sind in eine Herberge eingekehrt und die gesprächige Wirtin erzählt ihnen in ausgesuchten Momenten, was einem ihrer Gäste widerfahren ist. Gemeint ist die zentrale Erzählung auf metadiegetischer histoire-Ebene, die ‚histoire de Madame de La Pommeraye‘.358 Sie hat Novellenlänge und könnte für sich genommen bereits Stoff für einen ganzen Roman abgeben. Während der größte Teil der Geschichten in dieser scheinbar willkürlichen Unverbundenheit verharrt, lassen sich zwischen einigen zentralen Geschichtselementen durchaus inhaltliche Verbindung herstellen. Es handelt sich dabei zum einen um die Liebesgeschichten Jacques’359 und seines Herrn360 und zum anderen um die Reisegeschichte. Die Verbindung erschließt sich erst gegen Ende des Textes, wenn sich herausstellt, dass die besagten Liebesgeschichten lediglich auf anderer Ebene erzählte Vorgeschichten des Reisegeschehens sind. Mit anderen Worten, die von den beiden Protagonisten geschilderten Erlebnisse aus ihrer Vergangenheit erfahren in der vermeintlichen Unmittelbarkeit des Reisegeschehens eine Fortsetzung oder ihren Abschluss. Insofern lässt sich ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen diesen drei Geschichtsfäden, die auf zwei verschiedenen Konstellationsebenen abgespult und von drei unterschiedlichen Erzählern wiedergegeben werden, herstellen. Aus der Perspektive des Rahmengeschehens sind bislang der Moduswechsel zwischen Erzählung und Dialog und die aus dem intradiegetischen Gesprächskontext hervorgehenden Geschichten auf metadiegetischer Ebene als Diskontinuitätsfaktoren hervorgehoben worden. Schließlich sorgen auch die von der fiktiven Erzählerinstanz zusätzlich zur zentralen Reisefabel erzählten Episoden für den Unterbrechungseindruck beim Leser. Allerdings sind auch diese Episoden keineswegs als unabhängig vom Rahmengeschehen und den darin eingebetteten Geschichten der metadiegetischen Geschichtsebene zu betrachten, wenngleich der Eindruck durchaus entstehen kann. In diesem Sinne geht jeder Diskurs des fiktiven Erzählers in Analogie zur intradiegetischen Szenerie prinzipiell aus der Gesprächssituation mit seinem fikti-
357 Vgl. ebd., S. 60–64. 358 Vgl. ebd., S. 122–169. 359 Jacques’ Liebesgeschichte erstreckt sich nahezu von der ersten Seite bis zum Schluss des Romans, wobei sie ständig unterbrochen wird. Insofern setzen sich Jacques’ Amouren wie auch die Reisegeschichte aus hie und da eingestreuten Sequenzen zusammen. 360 Vgl. ebd., S. 235–278.
III.2 Die Erzählstruktur
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ven Leserpendant hervor. Jedenfalls ist die fiktive Anwesenheit dieses Lesers immer mitzudenken, kann er doch jederzeit eingeschaltet werden. Gleichwohl ist diese Gesprächssituation weniger evident als die zwischen dem Herrn und seinem Diener, da es keine explizite Vermittlung der diskursiven Situation von fiktivem Erzähler und Leser gibt. Der Bruch, der sich durch den Schwenk von Rahmengeschehen oder eingelegten Geschichten zum szenischen Geschehen auf extradiegetischer Diskursebene ergibt, könnte indes stärker nicht ausfallen. Die jeweiligen Ereigniswelten werden abrupt verlassen und teilweise in einem Metadiskurs reflektiert. Der hierbei entstehende Diskontinuitätseindruck kann indessen zum Ärgernis werden, weil die Illusionierung des Lesers durch die explizite Außenperspektive extrem gestört wird. Zugleich aber ist der reflektorische Duktus auf dieser Metaebene die Bezugsgröße zu den jeweils unterbrochenen Fabeln. Denn das Gespräch, das sich zwischen fiktivem Erzähler und Leser entwickelt, steht in einem Metazusammenhang zu den Ereignissen des unterbrochenen Geschehens. Infolgedessen ist auch den diskursiven Digressionen des Erzählers im weitesten Sinne eine Beziehung zum jeweils unterbrochenen Geschehen zuzuschreiben, da sich die Digressionen aus dem Gespräch über das Erzählte ableiten. Ein Beispiel für eine solche Digression ist die ‚histoire du poète de Pondichéry‘.361 Im Rahmen einer Leser-Erzähler-Auseinandersetzung über den Wirklichkeitsgehalt der Liebesgeschichte Jacques’ macht der fiktive Erzähler eine Bemerkung über einen ihm bekannten Dichter, den er nach Pondichéry geschickt habe. Wie der neugierig gemachte Herr im Kontext des Rahmengeschehens seinen Jacques, so treibt auch der fiktive Leser seinen Erzähler in diese Digression über den Zusammenhang zwischen dem Dichter und Pondichéry. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es drei Geschichtsebenen gibt, wobei die zentrale diegetische Fabel, das Reisegeschehen, auf intradiegetischer Ebene liegt. Strukturell gleichgestellt sind ihr die Digressionen des fiktiven Erzählers, da sie auf der gleichen Ebene zu situieren sind; sie sind allerdings durch eine Seinsgrenze voneinander getrennt. Auf metadiegetischer Ebene gelegen sind die Geschichten von Jacques und den übrigen Erzählern des Rahmengeschehens, und auf einer dritten, metametadiegetischen Ebene befindet sich etwa die bereits erwähnte Szene, die ein nicht weiter definierter Barbier vermittelt. Streng genommen besitzt auch die fiktive Gesprächssituation zwischen extradiegetischem Erzähler und Leser das Potenzial, zu einer Geschichte verdichtet zu werden, da angesichts ihrer figuralen Ausgestaltung der Eindruck entsteht, auch ihre Gesprächssituation könnte jederzeit von einer sich plötzlich offenbarenden Erzählinstanz vermittelt werden. In dem Geschichtsgewirr, das bislang unter dem negativen Aspekt der Diskontinuität, des Fehlens einer alles Geschehen integrierenden inhaltlichen Linie betrachtet wurde, zeichnet sich dennoch eine Linie ab. Man kann getrost von einer Unterbrechungslinie sprechen, die sich durch alle Geschichten und Geschichtsebenen zieht, wobei deutlich wird, was unter ‚gezielter‘ Diskontinuität, von der
361 Vgl. ebd., S. 56 ff.
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Jüttner spricht, zu verstehen ist: Es gibt eine Systematik der Brüche und Übergänge, die das Zusammenspiel der unterschiedlichen Geschichten orchestriert.
III.2.3 Das Verhältnis von Erzählen und Reflexion des Erzählten Dem Erzählen ist in Jacques le fataliste die Verbreitung einer Meinung zur Seite gestellt, welche nicht auf den monologischen Kommentar einer Erzählerinstanz beschränkt bleibt, sondern dialogisch inszeniert wird. Wie bereits ausgeführt, gehen die Diskurse aller Ebenen aus einer Gesprächssituation hervor, sodass die Situation des Redens über das Erzählte zu den selbstverständlichsten Vorgängen dieser Vermittlungsstruktur gehört. Diesbezüglich reiht sich Diderots Roman in eine Tradition insbesondere englischer Literatur des 18. Jahrhunderts ein. Dazu gehört etwa Sternes Roman The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, der die Gleichberechtigung von Räsonnement und Fabel im Titel seines Romans zum Motto erhebt.362 Der fiktive Erzähler nimmt in dieser Texttradition eine herausragende Rolle ein, denn er steht in der Hierarchie des Räsonierens an oberster Stelle. Als höchstes explizites Bewusstsein kann er das Geschehen der Protagonisten der untergeordneten Geschichtsebenen mit seinen Meinungen jederzeit unterbrechen: „Vous voyez, Lecteur, que je suis en beau chemin et qu’il ne tiendrait qu’à moi de vous faire attendre un an, deux ans, trois ans le récit des amours de Jacques […].“363 Gerade diese explizite Thematisierung seines erzählerischen Potenzials wird zum Ritual, das in leicht abgewandelter Form immer wieder zelebriert wird. Das Besondere an dieser Meinungsäußerung aber besteht darin, dass es sich nicht um eine einfache Bewertung, etwa des Charakters einer fiktionalen Figur, handelt. Der Kommentar trifft vielmehr eine Aussage zur Qualität der Erzählerinstanz selbst. Demnach ist sie angeblich allgewaltig und in der Lage, über die Anordnung des erzählten Geschehens zu bestimmen. Der Rahmen der Geschichte wird in diesem Fall zugunsten der Bewusstmachung einer Vertextungsmodalität vollständig verlassen. Mit anderen Worten, es wird gezielt vom Erzählten auf einen Aspekt der Gemachtheit des Textes abgehoben.364 Darin liegt auch die prinzipielle Bedeutung dieses Modus der Meinungsäußerung, der den heftigsten Diskontinuitätseindruck in Bezug auf das erzählte Geschehen erzeugt, da er die Illusionswirkung dieses Geschehens am konsequentesten stört. Aufgrund des frequenten Vorkommens dieser ‚Störung‘ über den gesamten Roman hinweg lässt sich behaupten, dass es sich um ein Werk handelt, in dem neben das Erzählen eine Reflexion der Qualität dieses Erzählens gestellt ist. Weil diese Kommentarform 362 Vgl. dazu Norbert Miller, Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts, Hanser, München 1968, S. 260 f. 363 DPV, Bd. 23, S. 24. 364 Wolf fasst diese Textphänomene unter dem Begriff der expliziten Metafiktion zusammen. Vgl. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 220 ff. Auf die explizite Metafiktion und ihre Funktion als Narrationsverfahren wird weiter unten noch ausführlicher eingegangen.
III.3 Elemente einer wirkungsästhetischen Textkonzeption
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aber grundsätzlich ein Herausfallen aus der Illusion der erzählten Welt zur Folge hat, lässt sich Diderots Roman in die Kategorie der illusionsstörenden Romane einordnen, als deren bekanntester Vertreter wohl Cervantes’ Don Quijote in die Annalen der Literaturgeschichte eingegangen ist. Das Verhältnis von Erzählen und Reden über das Erzählen lässt sich folglich mit dem Vorgang von Illusionierung und Desillusionierung gleichsetzen, wobei das Paradoxon darin besteht, dass beides von der fiktiven Erzählerfigur ausgeht. Folglich erzeugt ihre Erzählung die Illusion einer Welt, die sie mit ihren Reflexionen auch wieder zu stören weiß. Dementsprechend ließe sich auch von einer Relation zwischen Anschauungsmaterial und diskursiver Reflexion desselben sprechen. Der implizite Hinweis auf die generelle Funktion der Diskontinuität ist angesichts dieser Struktur unübersehbar: Je illusionsstörender die Brüche angelegt sind, desto eindringlicher wird der Leser zur Reflexion der Fiktion an sich angehalten. Dabei sind die metafiktionalen Kommentare des Erzählers gewissermaßen die Spitze des Eisbergs einer gezielten Wirkungsästhetik.
III.3 ELEMENTE EINER WIRKUNGSÄSTHETISCHEN TEXTKONZEPTION Den Leser bei der Textrezeption gezielt mit Hinweisen versorgen, ihm aber keine vorgefertigten Zusammenhänge und Bedeutungszuschreibungen präsentieren, sondern ihn in einer eigenständigen Zusammenschau der Textelemente mögliche Bedeutungen dessen nachvollziehen lassen, was im Text angelegt ist, so lässt sich zusammenfassen, was Iser allgemein zur Appellstruktur literarischer Texte sagt.365 Im Umkehrschluss gilt folglich, dass ein Text, der keine offensichtlichen Bedeutungszusammenhänge herstellt,366 entweder so strukturlos ist, dass er in subjektiv beliebiger Weise gelesen werden kann, oder aber er ist so konzipiert, dass er über eine ausgeprägte Appellstruktur verfügt, die dem Leser eine keineswegs beliebige Bedeutungskonstitution ermöglicht. Unter dieser Appellstruktur verstehe ich in Anlehnung an Eco die unterschiedlichen Erzählstrategien,367 die es einem an Fiktionskonventionen orientierten Leser ermöglichen, in gelenkter und zugleich eigenständiger Weise Bedeutungszusammenhänge herzustellen. Im Sinne dieser strukturell verankerten Mitkonstituierung der Textzusammenhänge durch den Leser ist Jacques le fataliste als ein wirkungsästhetisch konzipierter Text anzusehen. Während Iser eine allgemeine Texttheorie entwickelt, die ihn zu der Behauptung führt, dass Textstrukturen grundsätzlich und zwangsläufig wirkungsästhetisch ausgestaltet sind, insoweit als die Leseraktivität immer schon mehr oder weniger vorgedacht ist,368 soll die Rezeptionstheorie hier allein als spezifisches In365 Vgl. Iser, „Die Appellstruktur der Texte“, S. 239 ff. 366 Man denke beispielsweise daran, dass sich in Diderots Roman keine inhaltliche Kohärenz der unterschiedlichen Geschichten ergibt. 367 Vgl. Eco, Im Wald der Fiktionen, S. 26 f. 368 Vgl. Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens, Fink, München 1976, S. 61 ff. In der Konsequenz schreibt Iser dem Leser die entscheidende Rolle bei der Bedeutungskonstitution zu. Denn der dem Text zugeschriebene Sinn wird als leserspezifische Realisierung einer Bedeutungsmög-
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strumentarium zur Beschreibung von Diderots gezielter Miteinbeziehung des Lesers in die Textkonstruktion verwandt werden. Damit ist freilich nicht der fiktive Leser gemeint, der in diesem Zusammenhang lediglich als eines von vielen Elementen der Rezeptionslenkung zu verstehen ist. Im Sinne wirkungsästhetischer Gestaltung ist in Jacques le fataliste grundsätzlich nichts verbindlich ausformuliert, sondern lediglich in einer Art Negativ-Struktur angelegt, die indes ein ausgeprägter Appellcharakter kennzeichnet. Denn in dem Maße, wie etwa das im Text Gesagte gerade nicht so gemeint ist, wie es formuliert ist, wird die Leseraktivität laut Iser gezielt gesteigert.369 Als offensichtlichste Erscheinungsform dieser Negativ-Struktur ist in Jacques le fataliste ein prinzipiell ironisches Kommunikationsspiel auszumachen. Markiert ist es im Text häufig durch Auffälligkeiten im Tonfall der Figuren, wie beispielsweise eine inadäquate Wortwahl oder Übertreibungen des Gesagten und Erzählten, aber auch durch groteske Missverhältnisse zwischen unterschiedlichen Aussagen und zwischen Aussagen und Handlungen.370 In Jacques le fataliste bekommt dieses ironische Kommunikationsspiel durch die Präsenz einer fiktiven Erzählerfigur und ihres Leserpendants eine explizite Erscheinungsform. So kann im Text etwa über die Ironisierung der expliziten Leserhaltung darauf verwiesen werden, welche Schlüsse vom Leser gerade nicht zu ziehen sind. Damit ist noch keine spezifische Bedeutung konstituiert, sondern lediglich eine negativ codierte Handlungsanweisung an einen idealen Leser adressiert. Der Leser wird folglich dazu aufgefordert, je spezifisch codierte Handlungsanweisungen in einem performativen Akt in einen Bedeutungszusammenhang zu bringen. Als prinzipieller Kommunikationsablauf lässt sich somit festhalten, dass die Rezeptionsleistung über negativ codierte Rede-, Erzähl- und Verhaltensschemen expliziter Instanzen strukturell gesteuert wird. Im Einzelnen gibt es verschiedene Textstrategien, die die Leserlenkung gewährleisten. Diese Strategien sollen zunächst in ihrer prinzipiellen Wirkung vorgestellt werden, um sodann eine performative Realisierung der ineinandergreifenden Lenkungen und damit eine mögliche Bedeutungskonstitution vorzunehmen.
lichkeit und nicht als dem Text unverwechselbar eingeschriebener Sinn verstanden, der der Autorintention nachempfunden ist. Gleichwohl wird die Autorintention als strukturvermittelte Lenkung berücksichtigt, wobei sie aufgrund der vom Leser aktiv zu füllenden Leerstellen in der Textstruktur hinter die generelle Mehrdeutigkeit von Texten zurücktritt. Vor diesem Hintergrund ist Isers rezeptionsästhetischer Ansatz als ein am Strukturalismus geläuterter hermeneutischer Ansatz verstehbar, der den Interpretationsakt als je historischen Rezeptionsakt denkt. Vgl. zur kritischen Würdigung der Rezeptionstheorie auch Kimmich/Stiegler, Zur Rezeption der Rezeptionstheorie. 369 Vgl. Iser, „Die Appellstruktur der Texte“, S. 240. 370 Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
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III.3.1 Explizite Metafiktion und Parodie als Lenkungsstrategien Ein erster Hinweis auf die generelle Richtung der Leserlenkung ist ausdrücklich in den Text eingeschrieben. Wie bereits unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Erzählen und Reflexion erwähnt, thematisiert der Roman mitunter explizit Modalitäten seiner Vertextung, wenn beispielsweise die Erzählerfigur in regelmäßigen Abständen ihre Allmacht als Narrationsinstanz verkündet.371 Dabei ist zunächst weniger von Belang, ob diese Erzählerdeklarationen tatsächlich als wahre Aussagen anzusehen sind. Bedeutend sind sie vielmehr aufgrund ihrer expliziten Signalisierung der Selbstreflexivität als Textthematik. Für diese Lesart spricht die hohe Frequenz der in ihrem Aussagegehalt jeweils ähnlichen explizit metafiktionalen Erzählerkommentare, denen allein dadurch, dass sie generell auf die Gemachtheit des Textes und damit auf seinen fiktionalen Status verweisen, ein beachtliches Selbstreflexivitätspotenzial zu Eigen ist.372 Verstärkt wird das selbstreflexive Potenzial dieser Kommentare durch die mit ihnen einhergehende Störung des Illusionsgeschehens. Denn dadurch wird der Leser genötigt, seine Aufmerksamkeit von den Gegenständen der erzählten Welt auf die Qualität der Erzählung zu lenken. Dementsprechend ist etwa der folgende ritualisierte Erzählerkommentar, „Lecteur, […], il ne tiendrait qu’à moi de vous faire attendre […]“,373 explizit metafiktional, da er zum Ausdruck bringt, dass die vom fiktiven Erzähler vermittelten Ereignisse durch seine Hand organisiert werden. Zum anderen macht der metafiktionale Kommentar unabhängig von seinem konkreten Inhalt eine ungestörte Leseranteilnahme am Geschehen der erzählten Welt unmöglich und lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers im Idealfall auf Aspekte der Textproduktion. Die Kommentatorfunktion des fiktiven Erzählers, die bei der Mehrheit der narrativen Texte auf Aspekte der Geschichtszugehörigkeit beschränkt bleibt,374 wird in Jacques le fataliste somit um die Reflexion des eigenen Fiktionsstatus erweitert. Dass den Kommentaren keine besonders erhellenden Informationen über die Produktionsbedingungen der Fiktion zu entnehmen sind, liegt wiederum in der Logik der wirkungsästhetischen Textkonzeption, die sich einer Präsentation vorgefertigter Urteile verweigert. Angesichts ihrer Kürze und inhaltlichen Redundanz sowie ihres frequenten Vorkommens ist es aber plausibel, in diesen für Jac371 Der expliziten, über einen extradiegetischen self-conscious narrator sowie über intradiegetische Figuren vermittelten Metafiktion lassen sich auch implizite Formen der Metafiktion an die Seite stellen. Vgl. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 226. Auf die implizite Metafiktion komme ich noch zu sprechen. 372 Ich rekurriere hierbei auf Linda Hutcheons Definition des metafiktionalen Selbstkommentars: „[Metafiction] provides, within itself, a commentary on its own status as fiction and as language, and also on its own process of production and reception.“ Linda Hutcheon, Darcissistic Darrative: The Metafictional Paradox, Methuen, New York/London 1984, S. 84. 373 DPV, Bd. 23, S. 24. 374 Darunter ist eine auf die moralische Bewertung der Figuren beschränkte Kommentarfunktion zu verstehen, die die Illusionsbildung an sich nicht stört. Vgl. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 224.
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ques le fataliste so typischen Erzählerkommentaren grundsätzlich ein auf die Selbstthematisierung des Textes verweisendes Signalverfahren zu sehen. In Opposition zu dieser qua Begrifflichkeit eindeutigen Leserlenkung stehen die subversiven oder impliziten Formen der Rezeptionslenkung. Die Parodie ist eine implizite Strategie der Rezeptionslenkung, wobei auch sie als Determinante des selbstreflexiven Diskurses und insofern als Metafiktion gelesen werden kann.375 Im Gegensatz zur expliziten Metafiktion definiert sich die Parodie zunächst dadurch, dass sie über den Status fremder Fiktion Auskunft gibt,376 indem sie sich beständig auf einen oder mehrere Texte bzw. Gattungen bezieht.377 Ein weiterer Unterschied zur expliziten Metafiktion besteht darin, dass die Parodie eine fiktionale Welt entwirft, die zwar auf eine oder mehrere bereits bestehende Fiktionswelten abhebt und mit ihnen spielt, sich aber nicht zwingend explizit über sie äußert.378 Die Parodie als Form der Intertextualität stellt diese Relation zu einer Referenz allerdings nicht wertfrei dar, sondern verfremdet und transformiert die evozierte Referenz so, dass sie komisch wirkt. Dabei entsteht eine kritische Distanz zur Referenz. Damit die Rezeption dahingehend gelenkt wird, die Referenz als komisches Konstrukt wahrzunehmen, muss der präsente Text379 gewährleisten, dass die Verfremdung und somit die Differenz zur Referenz erkennbar ist.380 Anders als bei punktueller Intertextualität, deren potenzieller Beitrag zur Bedeutungskonstitution eher eingeschränkt ist, hängt das Gelingen eines parodistischen Textes davon ab, ob der Leser das Spiel mit der Referenz wahrnimmt. Deshalb sind Parodien zumeist eindeutig als solche markiert, obschon das keine Garantie für das Erkennen des parodistischen Spiels ist. Die jeweilige Zugäng375 Die Parodie als Form der Metafiktion zu begreifen ist zumindest seit den siebziger Jahren gängig, wie Daniel Sangsue in seinem Überblick der Parodietheorie feststellt. Beispielhaft zitiert er in diesem Zusammenhang Margaret Rose, die die Parodie (in Parody, Metafiction) wie folgt definiert: „[La parodie est] une archéologie réflexive du texte, dans laquelle les conditions épistémologiques, historiques et sociales de la composition et de la réception des textes fonctionnels sont mises au premier plan et analysées.“ Daniel Sangsue, La parodie, Hachette, Paris 1994, S. 51. 376 In Bezug auf diese Unterscheidung folge ich Wolf, der die Parodie grundsätzlich als auf andere Texte bezogene „Fremdmetafiktion“ charakterisiert. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 225. 377 Der im Folgenden entwickelte Parodiebegriff hat keinen Allgemeingültigkeitswert, weil er ausschließlich in Hinblick auf Diderots Parodie in Jacques le fataliste angelegt ist. Als eingeschränkt hat er allein deshalb zu gelten, weil es, wie Hutcheon zu bedenken gibt, keinen transhistorischen Parodiebegriff gibt. Vgl. dazu Linda Hutcheon, A Theory of Parody. The Teachings of Twentieth-Century Art Forms, Methuen, New York/London 1985, S. 32. 378 Selbstverständlich kann in Parodien auch explizit über die Referenz gesprochen werden. 379 Das hier verwandte Begriffsinstrumentarium zur Intertextualität geht auf Jörg Helbig zurück. Vgl. ders., Intertextualität und Markierung. Untersuchungen zur Systematik und Funktion der Signalisierung von Intertextualität, Winter, Heidelberg 1996, S. 76. 380 In diesem Zusammenhang lässt sich die Parodie mit Hutcheon als transformierende Wiederholung einer Referenz begreifen. Dabei gilt: „A critical distance is implied between background text being parodied and the new incorporation work, a distance usually signaled by irony.“ Hutcheon, A Theory of Parody, S. 32.
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lichkeit bzw. Kenntnis der Referenz kann dies allerdings erleichtern.381 Im Idealfall wird der Leser aber aufgrund eines expliziten Signals auf ein Strukturmerkmal aufmerksam gemacht, das die Referenz evoziert. Die zu imaginierende Referenz wirkt dann insoweit auf den präsenten Text zurück, als sie die unsichtbare Folie abgibt, von der sich der präsente Text verfremdend abhebt.382 Ein solcher Marker kann beispielsweise ein explizit metafiktionaler Kommentar der Erzähler- oder Leserinstanz sein. So teilt etwa der fiktive Erzähler in Jacques le fataliste seinem Leserpendant mit, was er in seiner Funktion als omnipotenter Erzähler tun könne, aber keinesfalls zu tun gedenke. Etwa den Herrn von seinem Diener Jacques trennen, um sie in der Folge allen nur denkbaren Zufällen auszusetzen: „[…] de marier le maître et de le faire cocu […] d’embarquer Jacques pour les îles […] d’y conduire son maître […] de les ramener tous les deux en France sur le même vaisseau.“383 Süffisant fügt er abschließend hinzu: „Qu’il est facile de faire des contes!“384 Diese Aufzählung dessen, was der Erzähler für den typischen Stoff hält, aus dem ein conte gemacht ist, entspricht einem zentralen Strukturmerkmal eines in der Tradition heroisch-galanter Romane stehenden Erzählens.385 Es handelt sich dabei um die abenteuerlichen Verwicklungen, die – wie es der ironische Tonfall andeutet – in unwahrscheinlicher Weise zu einer Geschichte verknüpft werden. Angesichts der Evokation dieses Strukturmerkmals einer traditionellen Romanform lässt sich aus Lesersicht wiederum feststellen, dass der präsente Text die in Aussicht gestellten Abenteuergeschichten gerade nicht nach Art der evozierten Romantradition erzählt. Wenn an die Tradition angeknüpft wird, dann lediglich um sie lächerlich zu verkürzen bzw. zu verfremden. Mit Jauß kann deshalb resümiert werden, dass auch dieser parodistische Text den durch eine Gattungs-, Stil- oder Formkonvention geprägten Erwartungshorizont seiner Leser evoziert, um ihn sodann Schritt für Schritt zu destruieren.386 Dieser destruktive Vorgang stellt dabei nichts anderes als die Hervorhebung der Differenz zwischen präsentem Text und Referenz dar, wobei in bester Aufklärungsmanier alle konstitutiven Stilelemente der Referenz evoziert werden, um sie schließlich zu entwerten bzw. in eine kritische Distanz zu ihr zu treten.
381 Sangsue verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass das Gelingen der Parodie allerdings nicht von der Kenntnis der Referenz abhänge. Eine genaue Kenntnis könne zwar für eine differenziertere Wahrnehmung der Unterschiede sorgen, aber für das grundsätzliche Parodieverständnis sei sie nicht notwendig. Schließlich werde das Original in dem Maße rekonstruiert, wie es transformiert werde. Vgl. Sangsue, La parodie, S. 58. 382 Vgl. Helbig, Intertextualität und Markierung, S. 63. 383 DPV, Bd. 23, S. 25. 384 Ebd. 385 Warning verweist auf die parodistische Evokation dieser Romantradition. Vgl. Warning, Illusion und Wirklichkeit, S. 63. Auf das Problem der Plausibilität einer parodistischen Bezugnahme auf den heroisch-galanten Roman als Gattung des 17. Jahrhunderts komme ich in Kap. III.4.1.1 noch eingehend zu sprechen. 386 Vgl. Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1970, S. 176.
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Das hier angeführte Beispiel verdeutlicht zudem, dass die Strategien der Rezeptionslenkung in der Analysepraxis keineswegs für sich stehen, sondern ineinandergreifen, wie in diesem Fall explizite Metafiktion und Parodie. Auch der einleitend erwähnte Unterschied zwischen beiden narrativen Verfahren, wonach explizite Metafiktion die direkte Reflexion des eigenen Erzählens sei, wohingegen die Parodie den Fiktionsstatus fremden Erzählens thematisiere, ist bei näherer Betrachtung so nicht aufrecht zu erhalten. Denn auch die Parodie ist in dem Maße selbstreflexiv, wie sie ihre Eingebundenheit in die literarische Tradition vorführt.387 Das parodistische Verfahren führt folglich zu zwei unterschiedlichen Lenkungsresultaten. Zum einen wird ein Erwartungshorizont durch Variationen der Nichterfüllung enttäuscht, wobei die vordergründige Entwertung des präsenten Textes vor allem eine bestimmte Referenz ad absurdum führt. Zum anderen wird mit der mehr oder weniger deutlichen Bezugnahme auf einen Referenzhorizont in selbstreflexiver Manier die Bestimmtheit des eigenen Textes durch fremde Textstrukturen als Textrealität dekuvriert. Parodistische Narrationsverfahren können deshalb auch als implizit metafiktional bezeichnet werden.388
III.3.2 Ironie als Lenkungsstrategie Am Beispiel des ironischen Kommunikationsspiels zwischen fiktivem Erzähler und Leser in Jacques le fataliste werde ich verdeutlichen, wie die Ironie als Lenkungsstrategie funktionalisiert wird. Am deutlichsten tritt das ironische Textgepräge in der Haltung des fiktiven Erzählers gegenüber seinem Leserpendant zu Tage. So wird gleich zu Beginn des Textes deutlich, welchen Stellenwert die Erzählerfigur der Leserfigur einräumt, da sich der Erzähler offensichtlich über seinen Leser lustig macht, indem er mit seinen Erwartungen und Bedürfnissen als Leser spielt: „Comment s’étaient-ils rencontrés? Par hasard, comme tout le monde. Comment s’appelaient-ils? Que vous importe? D’où venaient-ils? Du lieu le plus prochain. Où allaient-ils? Est-ce que l’on sait où l’on va?“389
387 Vgl. Helga Schwalm, Dekonstruktion im Roman. Erzähltechnische Verfahren und Selbstreflexion in den Romanen von V. Dabokov und S. Beckett, Winter, Heidelberg 1991, S. 94. Vgl. zum selbstreflexiven Potenzial der Parodie auch Laurent Lepaludier, „Fonctionnement de la métatextualité: Procédés métatextuels et processus cognitifs“, in: Métatextualité et métafiction. Théorie et analyses, hg. v. Laurent Lepaludier, Presses universitaires, Rennes 2002, S. 33. 388 Wolf führt die Unterscheidung zwischen expliziter und impliziter Metafiktion in Anlehnung an Hutcheon systematisch ein und definiert sie wie folgt: Implizite Metafiktion liegt dann vor, wenn alle isolierbaren selbstbezüglichen Ausdrücke fehlen und lediglich indirekt aus der Vorführung bestimmter Vertextungsverfahren, die entweder der histoire oder dem discours zugeordnet werden können, darauf geschlossen werden kann, dass hier ein selbstbezüglicher Prozess vorliegt. „Metafiktion wird in ihrer impliziten Spielart also nicht über eine verbale Thematisierung, sondern eine Inszenierung fassbar.“ Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 226. 389 DPV, Bd. 23, S. 23.
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Das Gespräch illustriert plakativ die traditionelle und zugleich herkömmliche Erwartung eines Lesers an den Anfang einer Geschichte. Während die Leserfigur demgemäß einführende Worte über die handelnden Figuren, ihre Verortung im Raum der Geschichte und die Motivation ihrer Handlungen erwartet, ist der fiktive Erzähler seinerseits darauf aus, jene Lesererwartungen in einem provokativen Akt zu unterlaufen.390 Er behandelt den fiktiven Leser wie einen naiven Tölpel, der allerdings keine bessere Behandlung zu verdienen scheint, da er die spöttische Verweigerungshaltung des fiktiven Erzählers nicht als solche erkennt und deshalb auch sein Verhalten nicht umzustellen vermag. Er nimmt die Aussagen des fiktiven Erzählers ernst und wird deshalb in seinen Erwartungen enttäuscht. Aus der Perspektive des fiktiven Lesers lässt sich von einem unzuverlässigen Erzähler sprechen,391 da er nach Art der oben zitierten Textstelle über den gesamten Roman hinweg für die Enttäuschung der Erwartungen der Leserfigur verantwortlich zeichnet. Aus diesem Blickwinkel scheint die unzuverlässige Erzählerhaltung dazu angetan, Verwirrung zu stiften. Aus der Perspektive eines für ironische Tonfälle rezeptiven Lesers indes lässt sich die vermeintliche Unzuverlässigkeit der Erzählerfigur in ihr Gegenteil verkehren. Genauer gesagt, die Unzuverlässigkeit der Erzählerfigur gegenüber der Leserfigur ist als plakativ ironisch markiertes Hinweisverfahren dekodierbar, das sich aufgrund seiner zuverlässigen Wiederkehr im Text als impliziter Kommunikationsmechanismus verstehen lässt. Denn jeder an die Adresse des fiktiven Lesers gerichtete Kommentar des fiktiven Erzählers ist aufgrund der überzogenen Provokation der Leserfigur ironisch markiert. Desgleichen sind sämtliche Leserrepliken aufgrund der sie kennzeichnenden stereotypen Ironieresistenz nachträgliche Bestätigungen der Erzählerironie. Hieraus kann Warning zufolge eine Leserlenkung im Stile eines sokratischen Kommunikationsmodus deduziert werden. Darunter versteht er, dass wie bei Sokrates die sprachlichen Mitteilungen in zwei verschiedene Richtungen gehen. „Sie spalten sich gleichsam; eine Informationskette geht zum angesprochenen Hörer und sagt Ja, während eine zweite zu einem mitangesprochenen Dritten geht und Nein sagt.“392 Überträgt man dieses Kommunikationsprinzip auf die Gesprächssituation zwischen fiktivem Erzähler und fiktivem Leser lässt sich etwa folgende implizite Handlungsanweisung deduzieren: ‚gewünschter Idealleser, selbstverständlich bist Du nicht einfältig. Ich möchte Dir lediglich die Einfalt einer herkömmlichen Lesererwartung vorführen, damit Du Dich von ihr distanzieren kannst. Sei also ge390 Während sich in der Lesererwartung eine Norm konventionellen Erzählens artikuliert, steht die Reaktion des fiktiven Erzählers durch die lapidare Antwort in auffälliger Opposition zu dieser Norm. Damit erfüllt sich hier das, was Japp in Anlehnung an Sperber und Wilson (Les ironies comme mentions) als das Wesen der Fiktionsironie gelten lässt: Eine Aussageformation, die ein „Echo auf eine Norm“ sei, wobei die Ironie in einen „Gegensatz zur Norm“ gebracht werde. Die Norm werde hierbei „zur Zielscheibe der Ironie“. Vgl. Uwe Japp, Theorie der Ironie, Klostermann, Frankfurt a. M. 1983, S. 44 f. 391 Vgl. zur Rolle des unzuverlässigen Erzählers auch Warning, „Opposition und Kasus – Zur Leserrolle in Jacques le fataliste et son maître“, S. 469 f. 392 Zit. nach Groh, Ironie und Moral, S. 18.
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warnt, Dich erwartet keine konventionelle Erzählung.‘ Angesichts der Frequenz derartiger Gesprächssequenzen zwischen Erzählerfigur und Leserfigur lässt sich die an den Idealleser gerichtete Handlungsanweisung noch dahingehend ergänzen, dass die stereotypen Leserreaktionen systematisch für distanzierungswürdig zu erachten sind. Über ein ironisches Signalverfahren im Rahmen des extradiegetischen Leser-Erzählerspiels kann somit eine implizite Handlungsnorm abgeleitet werden, die der Leser zu gewärtigen hat. Folgt man der Definition von Booth, so ist der fiktive Erzähler gerade deshalb unzuverlässig, weil er gegen eine Handlungsnorm verstößt.393 In diesem Zusammenhang kann es zu Konfusionen kommen, da über den fiktiven Erzähler das soeben erwähnte ironische Signalverfahren vermittelt wird, das die implizite Handlungsnorm mitkonstituiert. Gerade deshalb ist es sinnvoll, an Booths Kategorie des impliziten Autors – er repräsentiert die vom Text vermittelte implizite Handlungsnorm – festzuhalten. Denn die Rede des fiktiven Erzählers ist so, wie sie der fiktive Leser versteht, unzuverlässig, während sie als ironischer Diskurs eine Handlungsnorm indiziert, die sich trefflich als strukturelle Manifestation des impliziten Autors verstehen lässt. Ist die ironische Doppelbödigkeit der Rede des fiktiven Erzählers, die mit der Enttäuschung der fiktiven Lesererwartung einhergeht, erkannt, so lässt sich hieraus ein verlässliches implizites Lenkungsverfahren ableiten. Selbstverständlich bieten selbst derart offensichtliche ironische Hinweise, wie der oben zitierte, keine grundsätzliche Garantie dafür, dass die Ironien im Einzelnen leicht zu entziffern sind, wie Booth einschränkend anmerkt.394 Angesichts der Auffälligkeit der ironischen Markierung kann eine grundsätzliche Rezeptionslenkung allerdings kaum ausbleiben. Wie im Falle der Parodie kann man als wesentliches Resultat der hier vorgeführten ironischen Leserlenkung eine implizite Dekuvrierung eigener Vertextungsqualitäten feststellen. Denn in dem Maße, wie eine konventionelle Lesererwartung ironisiert wird, ist der Leser dafür sensibilisiert, nach Vertextungsmodalitäten Ausschau zu halten, die von dieser Konvention abweichen. Dementsprechend lässt sich in Bezug auf die zitierte Fiktionsironie von der Nichteinlösung eines konventionellen Romananfangs sprechen. Hierbei wird zum einen verdeutlicht, in welcher Weise Bedeutungserzeugung in einem von Lenkungsstrategien geprägten und damit gezielt wirkungsästhetisch angelegten Text dem Leser überantwortet werden. Zum anderen kristallisiert sich angesichts der hier vorgestellten Lenkungsresultate eine deutliche Textthematik heraus, die ich in der Zusammenschau der einzelnen in die Textstruktur eingeschriebenen Lenkungsstrategien detailliert darstellen werde.
393 Vgl. Booth, The Rhetoric of Fiction, S. 158 f. bzw. zu Einzelaspekten unzuverlässigen Erzählens den Sammelband Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film, hg. v. Fabienne Liptay/Yvonne Wolf, Text + Kritik, München 2005. 394 Vgl. Wayne C. Booth, „Ironieprobleme in der älteren Literatur“, in: Ironie als literarisches Phänomen, hg. v. Hans-Egon Hass/Gustav-Adolf Mohrlüder, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1973, S. 57.
III.4 Der ideologisch-erkenntnistheoretische Wert des Erzählprozesses
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III.4 DER IDEOLOGISCH-ERKENNTNISTHEORETISCHE WERT DES ERZÄHLPROZESSES Im Folgenden werde ich veranschaulichen, dass sich die codierten Hinweise der unterschiedlichen Strategien der Rezeptionslenkung in der Zusammenschau zu einer selbstreflexiven Textästhetik verdichten lassen. Darunter ist zu verstehen, dass aus dem Zusammenspiel der an sich selbstreflexiv funktionalisierbaren Narrationsstrategien Ironie, Parodie und explizite Metafiktion die Vertextungsrealität von Jacques le fataliste ableitbar ist. Um diese These zu plausibilisieren und sie zugleich vor dem Vorwurf abzusichern, selbstreflexives Erzählen sei nicht mit den ästhetischen Usancen der Literatur der Aufklärung kompatibel, soll die historische Funktionalität der selbstreflexiven Textästhetik unter Beweis gestellt werden. Mit anderen Worten, die Vertextungsrealität von Jacques le fataliste soll als Analogon einer Ideologiekritik und darüber hinaus einer Erkenntnistheorie ausgewiesen werden, wobei die Anschließbarkeit beider Analogeme an den historischen Philosophiediskurs vorzuführen sein wird.
III.4.1 Parodistisches Erzählen als Analogon einer Fatalismusentwertung III.4.1.1 Die Motivierung der Parodie Die Romanfigur Jacques ist, wie es bereits der Titel vermittelt, vor allem ein unverbesserlicher Fatalist. Unermüdlich verbreitet er in den Gesprächen mit seinem Herrn die Philosophie eines Determinismus spinozistischer Prägung, die ihm sein einstiger Herr, ein Hauptmann, eingeflüstert hat.395 Jener Philosophie zufolge ist das ganze Sein essentialistisch auf eine Substanz zurückzuführen, wobei das Einzelne jeweils als notwendige Folge einer Ursache existiert; dieses Prinzip wiederum perpetuiert sich unendlich.396 Besagte Kausalkette ist aber notwendigerweise durch die Substanz determiniert, was Jacques immer wieder zu dem stereotypen Befund verleitet: „Il fallait que cela fût, car cela était écrit là-haut.“397 Wenn aber das Einzelne nur als Wirkung einer Ursache existiert, die letztlich auf eine göttliche Substanz zurückzuführen ist, so werden auch menschlicher Wille und menschliches Handeln ausschließlich ursächlich bzw. von göttlichem Willen determiniert. In dieser Lesart unterscheidet sich der Spinozismus letztlich nicht vom Fatalismus. Von selbstbestimmter Gestaltungskraft kann dann ebenso wenig wie von selbsttätigem Denken die Rede sein. Dass dies tatsächlich so ist, versucht Jacques an seinem Herrn höchst persönlich zu demonstrieren. So fragt er ihn, ob er bereit sei, sich grundlos von seinem Pferd zu stürzen. Der Herr, von seiner freien Willensentscheidung und seinem selbstständigen Denken überzeugt, willigt ein. Darauf bescheinigt ihm Jacques, er 395 Vgl. DPV, Bd. 23, S. 190. 396 Vgl. Wolfgang Bartuschat, Baruch de Spinoza, Beck, München 2006, S. 65 f. 397 DPV, Bd. 23, S. 190.
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sei höchstens verrückt, aber keineswegs frei. Da er von alleine niemals auf diesen Gedanken gekommen wäre, habe er, Jacques, ihn aus dem Sattel gehoben.398 Die Schwäche dieses Systems ist offensichtlich: Warum sollte der Mensch handelnd in die Natur der Dinge eingreifen oder Emotionen zeigen, wenn alles so kommt, wie es kommen muss? Diese Frage wird auch im Text aufgegriffen, wenn die Erzählerfigur räsoniert: D’après ce système,399 on pourrait imaginer que Jacques ne se réjouissait, ne s’affligeait de rien; cela n’était pourtant pas vrai. Il se conduisait à peu près comme vous et moi. Il remerciait son bienfaiteur pour qu’il lui fît encore du bien. Il se mettait en colère contre l’homme injuste […].400
Damit ist gesagt, dass der Glaube an einen universellen kausalen Determinismus bereits durch den in der menschlichen Natur angelegten Handlungswillen, und sei er auch auf einen Handlungsimpuls reduzierbar, wenn nicht widerlegt wird, so zumindest in Frage gestellt wird. Dieser Widerspruch spiegelt sich am offensichtlichsten in der Figur des leidenschaftlichen Fatalisten Jacques, der indes ein ebenso leidenschaftlicher Provokateur und Lebemann ist, der keine Gelegenheit auslässt, um eigenmächtig zu handeln. So befördert er eines Abends wutentbrannt ein Dutzend um ihre Manieren nicht weiter bekümmerte Wegelagerer, die in derselben Herberge wie er und sein Herr abgestiegen sind, mit vorgehaltenen Pistolen in ihre Betten.401 Ihre komische Pointierung erhält die Szene dadurch, dass der Diener seinem Herrn kurz zuvor in bester Theologenmanier, wie der Erzähler gleichsam augenzwinkernd anführt, die schicksalhafte Vorgeschriebenheit („tout ce qui nous arrive de bien et de mal ici-bas est écrit là-haut“402) jeglichen Geschehens auseinandersetzt. Welcher derart vorsehungsgläubige Mensch aber hätte die Konfrontation mit einer zwölfköpfigen Horde ungeschlachter Banditen nicht als unwiderlegliches Zeichen der Vorsehung gedeutet, sich still in eine Ecke zurückzuziehen? Jacques dagegen wird durch seine natürliche Tatkraft zum personifizierten performativen Widerspruch seines eigenen fatalistischen Denkens. Insoweit wird die Unzulänglichkeit einer Geisteshaltung durch den komischen Widerspruch demonstriert, der durch die Handlungen der Figur zum Ausdruck kommt, die sich explizit als Vertreterin der spinozistischen Doktrin ausweist.403 Und dem Leser wird über die rezeptionslenkende Figur des performativen Widerspruchs eine deutliche Distanzierung von dem auf diese Weise kritisierten Philo-
398 399 400 401 402 403
Vgl. ebd., S. 270 f. Gemeint ist in diesem Zusammenhang die spinozistische Ursachenkette. Ebd., S. 190. Vgl. ebd., S. 29 f. Ebd., S. 28. Die komischen Widersprüche, die sich an der Figur Jacques vollziehen, versucht Salkin Sbiroli dagegen im Sinne des Ausdrucks der widersprüchlichen Natur des Menschen zu lesen. Für meine Begriffe verkennt sie dabei die Funktion des Widerspruchs zwischen Figurenaussage und Handlung. Vgl. Lynn Salkin Sbiroli, „Les paradoxes comiques de Jacques le fataliste“, in: Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie, 3 (1987), S. 33 f.
III.4 Der ideologisch-erkenntnistheoretische Wert des Erzählprozesses
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sophem nahe gelegt.404 In Analogie zu diesem Modus der Kritik wird auch das vom Herrn propagierte Philosophem des freien Willens in ein kritisches Licht gerückt. Denn seine Auffassung einer freien Willensentscheidung und eines unabhängigen Denkens cartesianischer Prägung („mais il me semble que je sens au dedans de moi-même que je suis libre, comme je sens que je pense“405), wird durch das bereits erwähnte Beispiel des vermeintlich freiwilligen Sturzes vom Pferd ad absurdum geführt. Darüber hinaus widerlegt der Herr seine Überzeugung von der Freiheit des Denkens und Handelns durch sein passives Wesen, das er als Zuhörer Jacques’, der bestenfalls auf dessen Erzählungen reagiert, zur Schau stellt. In Einklang mit seinem unreflektiert-fatalistischen Charakter wird er vom Erzähler als automatengleicher Tabakkonsument stilisiert, der zudem beständig auf seine Uhr sieht, ohne sich dieser rituellen Handlungen bewusst zu sein.406 Insofern steht auch sein Verhalten in komischem Widerspruch zu seiner Ideologie des freien Willens. Insgesamt wird die Aufmerksamkeit des Rezipienten grundsätzlich auf einen Themenkomplex im Spannungsfeld der Begriffe Freiheit und Determination gelenkt.407 Allerdings bietet die über die Figuren transportierte performative Geisteskritik keine über diese kritischen Ansätze hinausgehenden Lösungen an. Der Leser wird lediglich darauf hingewiesen, sich von bestimmten Aspekten des Frei404 Plausibilisiert wird diese Lesart durch Diderots Spinoza-Artikel in der Encyclopédie. Darin wird zunächst Spinozas Substanzbegriff als Kernstück seiner Philosophie eingeführt: Eine einzige und unteilbare Substanz weist unendlich viele Attribute auf – darunter Körper und Geist. Alle Körper und Ideen sind folglich Modifikationen der Substanz-Attribute Körper und Geist. Vgl. AT, Bd. 17, S. 174. Sodann geht Diderot auf die vermeintlich zentralen Probleme des Substanzbegriffes ein. Dabei stellt er Spinoza mit Pierre Bayles Worten in ein karikaturales Licht. Letzterer hatte Spinoza unter anderem die vermeintlich behauptete Identität von Modi(fikationen) und Substanz vorgehalten, weil sie absurde Konsequenzen nach sich ziehe. Wenn etwa die Deutschen zehntausend Türken erschlügen, so sei damit eigentlich gesagt, dass der modifizierte Gott zehntausend Türken erschlagen habe. Vgl. ebd., S. 179. Unabhängig von der Frage ihrer Berechtigung deckt sich diese Polemik in der Konsequenz mit der in Jacques le fataliste geübten Determinationskritik, da in beiden Fällen Handlungen als Modifikationen einer göttlichen Substanz gesehen werden. 405 DPV, Bd. 23, S. 270. 406 Vgl. ebd., S. 231. 407 Angesichts der evidenten Zentralstellung dieser Thematik nimmt es nicht wunder, dass in vielen der mit Jacques le fataliste beschäftigten Forschungsarbeiten der Themenkomplex von Freiheit/Zufall und Determinismus/Notwendigkeit behandelt wird. Vgl. Loy, Diderot’s Determined Fatalist; May, „Le maître, la chaîne et le chien dans Jacques le fataliste“, S. 269– 281; Lester G. Crocker, „Jacques le fataliste: an ‚expérience morale‘“, in: Diderot Studies, 3 (1961), S. 73–99; Roger Laufer, „La structure et la signification de Jacques le fataliste“, in: Revue des sciences humaines, 112 (1963), S. 517–535; Erich Köhler, „Est-ce que l’on sait où l’on va?, S. 245–273; Behrens, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz; Jean Ehrard, L’invention littéraire au XVIIIe siècle: fictions, idées, société, PUF, Paris 1997 (darin das Kapitel Paradoxes sur le roman, ou Denis Fataliste), S. 117–146; Ertler, „Notwendigkeit und Kontingenz im Erzählsystem von Diderots Jacques le fataliste et son maître“, S. 9–23; Hilary Rhodes Bailey, „Jacques le fataliste, Chaos, and the Free Will Debate“, in: Disrupted Patterns. On Chaos and Order in the Enlightenment, hg. v. Theodore E. Braun/John A. McCarthy, Rodopi, Amsterdam/Atlanta 2000, S. 51–63.
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heits- und Determinationskomplexes zu distanzieren. Allein aufgrund ihrer provozierenden Ungelöstheit verlangen die aufgeworfenen Fragen jedoch nach Lösungen. Insofern ist es nicht weiter verwunderlich, dass in die Textstruktur Lenkungshinweise eingeschrieben sind, die weiterführende Schlussfolgerungen hinsichtlich der Freiheits- und Determinationsthematik ermöglichen. Dem komplexen selbstreflexiven Textgepräge gemäß führt der Weg dieser Rezeptionslenkung über die Parodie, da die Ideologiekritik in Jacques le fataliste dem romanesken Medium entsprechend mit einer Parodie verknüpft ist.408 Dementsprechend werden im Text romaneske Strukturelemente parodiert, die Warning zufolge in der Traditionslinie des heroisch-galanten Romans stehen. Unter dem Aspekt der Verknüpfung von Ideologiekritik und Parodie ist dieser Ansatz jedenfalls sehr schlüssig. Denn Warning hat mit Rekurs auf die Untersuchungen Lugowskis409 herausgestellt, dass es sich beim heroisch-galanten Roman um ein Genre handelt, das wiederum in der Tradition des hellenistischen Romans steht. Das herausragende Strukturmerkmal der letztgenannten Gattung ist eine schicksalhafte Geschehnisfügung.410 Dieser Wesenszug hat sich im heroischgalanten Roman insoweit tradiert, als er die Gewissheit transportiert, dass alle im Zuge des Erzählens aufgegebenen Rätsel schließlich aufgelöst werden und in eine märchenhafte Ordnung überführt werden.411 Vor diesem literaturhistorischen Hintergrund ist folglich auch die Annahme plausibel, dass über die parodistische Entwertung romanesker Strukturelemente eine Kritik bestimmter deterministischer Ideologieanteile vermittelt wird, da es eine Strukturanalogie zwischen den romanesken Geschehnisfügungen und den kritisierten Ideologieanteilen gibt. Gegen Warnings Ansatz ließe sich allerdings einwenden, dass die Parodierung eines Genres, das bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts als veraltet gilt,412 eher unwahrscheinlich ist. Zumindest ist es unwahrscheinlich, wenn man davon ausgeht, dass eine Parodie im Hinblick auf ein Erkennen der Referenz durch den Leser angelegt ist. Das sieht auch Dirscherl so, doch vertritt er zugleich den Standpunkt, dass die Tradition des heroischgalanten Romans bis weit in das 18. Jahrhundert hinein lebendig blieb, da „wesentliche Elemente der Gattung noch lange Zeit kennzeichnende und von jedem Leser erwartete Grundzüge der Gattung sind.“413 Diese Ansicht sieht er mitunter dadurch belegt, dass La Calprenède und Scudéry als herausragende Vertreter die408 Vgl. insbesondere Warning, Illusion und Wirklichkeit, S. 78 ff.; Dirscherl, Der Roman der Philosophen, S. 131 ff.; Robert Mauzi spricht lediglich von einer Parodierung konventioneller Romanformen. Dazu zählt er unter anderem den pikaresken und den empfindsamen Roman. Vgl. Mauzi, „La parodie romanesque dans Jacques le fataliste“, S. 90. 409 Vgl. Klemens Lugowski, Wirklichkeit und Dichtung. Untersuchung zur Wirklichkeitsauffassung Heinrich von Kleists, Diesterweg, Frankfurt a. M. 1936. 410 Vgl. Warning, Illusion und Wirklichkeit, S. 80. 411 Vgl. Lugowski, Wirklichkeit und Dichtung, S. 9. 412 So stellt etwa Henri Coulet in seiner Literaturgeschichte angesichts von Huets Apologie des heroisch-galanten Romans fest, dass die Gattung bereits um 1670 veraltet gewesen sei. Vgl. Henri Coulet, Le Roman jusqu’à la Révolution, Bd. 2, Colin, Paris 1967, S. 66. 413 Dirscherl, Der Roman der Philosophen, S. 30.
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ses Genres im 18. Jahrhundert weiterhin ediert werden, wenngleich in gekürzten Fassungen.414 1733 erscheint beispielsweise eine neue Edition von Honoré d’Urfés Astrée (1607–1627), „où, sans toucher ni au fond ni aux épisodes, on s’est contenté de corriger le langage et d’abréger les conversations.“415 Einen schlagenden Beweis für das Weiterleben des heroisch-galanten Romans liefert darüber hinaus die Bibliothèque universelle des romans, die als umfangreichstes Unternehmen der Romanverbreitung noch in den Jahren 1775 bis 1788 viele ihrer Bände mit Kurzfassungen der Romane des vorangegangenen Jahrhunderts füllte.416 Selbst kritischen Lesern wie dem Abbé Jacquin, der die „aventures gigantesques“ als „ennuyeuses productions“ bezeichnet, waren angesichts der allgemeinen Bekanntheit der Gattung die wichtigsten Figuren und Ereignisse dieser Romane geläufig.417 Entscheidend für das Fortleben dieser Romantradition dürfte aber gewesen sein, dass in den Augen der zeitgenössischen Leser und Autoren die empfindsamen Romane eines Prévost und einer Mme de Tencin tatsächlich an eben diese Tradition pathetischen Erzählens des 17. Jahrhunderts anknüpfen. Die neuen Helden sind zwar keine Prinzen mehr, und das Unheil der Liebenden, ihre Trennung und wundersame Zusammenführung […] sind nicht mehr in einer imaginären Geographie und Zeitrechnung angesiedelt. […] Gleichwohl bleiben die Hauptfiguren Helden, die Taten vollbringen und Herzensqualen durchleben, wie dies eben nur Ausnahmefiguren möglich ist.418
Dementsprechend ist für Dirscherl die „oberflächliche Fülle von Ereignissen“, die das Ende der Romanhandlung immer wieder aufschiebt, ein Merkmal des empfindsamen Romantypus, das zugleich den Erwartungshorizont des zeitgenössischen Lesers prägt.419 Dem Bonmot Ehrards zufolge ließe sich die Gattung auch unter dem paradigmatischen Romantitel der Madame de Tencin, Les Malheurs de L’Amour, rubrifizieren.420 Diese Charakterisierung bietet Anlass für eine Zuspitzung der Merkmale des Genres. Denn im Zeichen der Liebesunglücke werden Entführungen, Widerstände der Eltern, soziale Unterschiede der Liebenden, Ein414 Folgt man dem Urteil Heinrich Koertings, so ist La Calprenède der modellbildende Autor des heroisch-galanten Romans, weil er jedes Handlungsdetail, das bei der Lektüre kontingent erscheint, mit dem großen Ganzen inhaltlich in Bezug gesetzt hat und damit der leidigen Zerflossenheit des pastoralen und allegorischen Romans ein Ende gesetzt hat. Vgl. Heinrich Koerting, Geschichte des Romans im XVII. Jahrhundert, Bd.1, Maske, Oppeln/Leipzig 1891, S. 362. 415 Jean Ehrard, Le XVIIIe siècle, Bd 1: 1720–1750, Arthaud, Paris 1974, S. 104, zit. nach Dirscherl, Der Roman der Philosophen, S. 30 f. Urfés Astrée gehört zwar zur Gattung des Schäferromans, aber der heroisch-galante Roman ist strukturell an den Schäferroman angelehnt und verdankt ihm weitestgehend seine Form. Vgl. dazu Moses Ratner, „Romantheorie von L’Astrée bis 1670“, in: Die französische Erzählkunst des 17. Jahrhunderts, hg. von Dietmar Rieger, Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt 1985, S. 187. 416 Vgl. Dirscherl, Der Roman der Philosophen, S. 31. 417 Armand-Pierre Jacquin, Entretiens sur les romans, Slatkine Neudruck, Genf 1970, S. 96, zit. nach Dirscherl, Der Roman der Philosophen, S. 31. 418 Ebd. 419 Ebd., S. 34. 420 Ehrard, Le XVIIIe siècle, S. 114, zit. nach Dirscherl, Der Roman der Philosophen, S. 34.
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griffe von Widersachern, Rivalen und sonstigen Bösewichten, Überfälle, Unglücksfälle auf Reisen und Täuschungen aller Art inszeniert, um die Liebenden zu trennen.421 Dem aufschiebenden Trennungsschema gemäß beruht die Motivation der Handlung allein auf der Überwindung der jeweiligen Widrigkeiten, wobei das die Handlungen verknüpfende Element stets ein allgegenwärtiger hasard ist.422 In zufälligen Konfrontationen werden überraschende Entdeckungen gemacht, die bis dahin verborgene Eigenschaften offenbaren oder Wendungen und Handlungszuspitzungen bis hin zur finalen Zusammenführung der Liebenden herbeiführen.423 Wie bereits angedeutet und wie im Folgenden zu zeigen sein wird, stimmen die bisher genannten Strukturmerkmale grundsätzlich mit denen des heroisch-galanten Romans überein. Über Dirscherls Merkmalkatalog hinausgehend lässt sich der empfindsame Roman zudem mit dem zentralen Strukturelement des heroisch-galanten Romans, der schicksalhaften Geschehnisfügung, identifizieren. Denn auch im empfindsamen Genre erwartet den Leser abschließend eine providenzielle Ordnung der erzählten Welt. Veranschaulichen lässt sich das Schema providenzieller Ordnungsmuster an der emblematischen Szene einer Manon in Ketten, die dem Leser zu Beginn von Prévosts prototypisch empfindsamer Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut vorgeführt wird.424 Auf die Anfangsszene mit der in Ketten liegenden Manon folgt in Vor- und Rückblicken eine Serie unmoralischer Liebesfälle und -unfälle bis sich das Schicksal der leidenschaftlichen Manon in der eingangs angekündigten Weise erfüllt: Die Schöne stirbt in Folge ihrer Gefangenschaft auf der Flucht den Erschöpfungstod. Im Nachhinein bekommt die Geschichte Manons somit den Anstrich einer lediglich aufgeschobenen Einlösung eines apriorischen Urteils, das angesichts der bedenklichen gesellschaftlichen Stellung der Protagonistin – sie ist Prostituierte – zur moralisch aufgeladenen Notwendigkeit wird. Mögen die Irrungen und Wirrungen des Handlungsverlaufs auch den Eindruck eines kontingenten Geschehens erwecken, letztlich erfüllt sich das Schicksal der Protagonisten einer feststehenden Moral gemäß. Die vom Text transportierte Sinngebung besteht folglich darin, dem Leser zu vermitteln, dass er sich im Chaos kontingent erscheinender Ereignisse lediglich an den moralischen Imperativ gesellschaftlicher Normen zu halten braucht, um providenzieller Bestrafung, die eine Normabweichung mit sich bringt, zu entgehen. Im Umkehrschluss stellt normgerechtes Verhalten notwendigerweise eine schicksalhafte Belohnung in Aussicht.425
421 422 423 424
Vgl. Dirscherl, Der Roman der Philosophen, S. 34. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 35. Vgl. Antoine-François Prévost, Œuvres, Bd. 3: Histoire du chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, Slatkine Reprints, Genf 1969, S. 245. 425 In diesem Zusammenhang möchte ich Behrens widersprechen, der im Roman des Chevalier des Grieux „in der mangelhaften finalen Sinngebung die Vergeblichkeit eines Bemühens um Einordnung des Lebenszusammenhanges in eine teleologische Struktur“ gegeben sieht. Vgl. Behrens, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz, S. 260.
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Eine derart providenzielle Aufladung moralischer Sinngebung ist auch für die Banditenbiographie charakteristisch. Im 18. Jahrhundert ist diese Textgattung, in der eine historische Kriminellenfigur zum Zwecke der moralischen Erziehung in ihrem Wirken vorgestellt wird, weit verbreitet.426 Die herausragenden Banditenfiguren des Genres sind die berüchtigten Bandenchefs, Mandrin und Cartouche. Ihre respektiven histoires véritables wurden über die populäre Bibliothèque bleue in Umlauf gebracht, die aufgrund ihrer äußerst günstigen Produktions- und Vertriebswege die wohl größte und heterogenste Leserschaft der Zeit erreichte.427 Darüber hinaus gehörten die Geschichten Cartouche (1722) und Mandrin (1755) zu den größten Erfolgen dieser Editionsreihe.428 Man kann folglich davon ausgehen, dass die schicksalhafte Geschehnisfügung als zentrales Strukturmerkmal jener Texte den Produktions- und Erwartungshorizont der narrativen Trivialliteratur prägte. Dem Leser der Histoire de Mandrin429 wird gleich zu Beginn des Textes das zu erwartende Ende der Geschichte in Aussicht gestellt: „Cartouche a péri sur la roue; Mandrin a eu le même sort. C’est toujours par-là que finissent les Brigands, les assasins [sic], les incendiaires. On n’a jamais vu le coupable jouir impunément de son crime.“430 Erwartungsgemäß wird in der Schlusssequenz der Vollzug der angekündigten Geschehnisse vermeldet: „On lui rompit les bras, les jambes, les cuisses et les reins. Il mourut les yeux tournés vers le ciel, vengeur de ses crimes.“431 Die eigentliche Erzählung lässt den Leser angesichts wiederholter Gefangennahmen und Ausbrüche Mandrins zwar an dem in Aussicht gestellten Schicksal des Banditen zweifeln. Doch mit seinem endgültigen Scheitern erscheint auch die Lebensgeschichte Mandrins im Lichte einer aufgeschobenen „fatalité de l’échec“.432 Denn angesichts der moralischen Verwerflichkeit seiner Taten sind Verurteilung und Vollstreckung von providenzieller Notwendigkeit: „un tel scélérat devait périr, le moment marqué par la Providence était arrivé.“433 Auf die Geschichte Mandrins wird am Ende von Jacques le fataliste explizit hingewiesen, wenn Jacques im Rahmen der komischen Schlussszenerie von einer Bande aus dem Gefängnis befreit wird, die als „la troupe de Mandrin“ Erwähnung findet.434 Das ist zwar noch kein zwingender Beweis für eine Parodie der Bandi-
426 Vgl. Jacques Berchtold, Les prisons du roman (XVIIe–XVIIIe siècle). Lectures plurielles et intertextuelles de Guzman d’Alfarache à Jacques le fataliste, Droz, Genf 2000, S. 713 ff. 427 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.), Histoires curieuses et véritables de Cartouche et de Mandrin, Montalba, Paris 1984, S. 4 f. 428 Vgl. Berchtold, Les prisons du roman, S. 714. 429 Der ursprüngliche Text L’Histoire de Mandrin, depuis sa naissance jusqu’à sa mort, avec un détail de ses cruautés, de ses brigandages et de ses supplices der Bibliothèque bleue (Garnier, Troyes 1755) findet sich in der Reproduktion von Hans-Jürgen Lüsebrink, Histoires curieuses et véritables de Cartouche et de Mandrin, S. 157–221. 430 Lüsebrink, Histoires curieuses et véritables de Cartouche et de Mandrin, S. 159. 431 Ebd., S. 221. 432 Berchtold, Les prisons du roman, S. 714. 433 Lüsebrink, Histoires curieuses et véritables de Cartouche et de Mandrin, S. 219. 434 DPV, Bd. 23, S. 290.
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tenbiographie in Jacques le fataliste.435 Allerdings plausibilisiert der explizite Mandrin-Hinweis die Annahme, dass in Jacques le fataliste generell Strukturelemente narrativer Genres parodiert werden – allen voran providenzielle Geschichtsmuster, die sich wenigstens bis zum heroisch-galanten Roman zurückverfolgen lassen, wobei sie auch noch in der empfindsamen Literatur oder in der Banditenbiographie des 18. Jahrhunderts präsent sind. Jedenfalls ist jene Parodietheorie dann besonders wahrscheinlich, wenn man davon ausgeht, dass in Jacques le fataliste eine parodievermittelte Kritik am Fatalismus geübt wird. Im Hinblick auf die Parodie heroisch-galanter Romanstrukturen kann jedenfalls behauptet werden, dass sie angesichts der angeführten Argumente alles andere als unwahrscheinlich ist. Aus literaturhistorischer Sicht spricht allerdings noch ein weiterer entscheidender Aspekt für die Wahrscheinlichkeit einer Parodie des heroisch-galanten Genres. So ist unbestritten, dass Jacques le fataliste als parodistischer Antiroman in der Gattungstradition des französischen roman comique steht.436 Diese Traditionslinie komischer Prosa-Erzählungen geht nach Meinung von Ansgar Thiele auf verschiedene literarische Formen zurück. Dazu rechnet er zum einen volkstümliche literarisierte Kurzformen, wie die fabliaux des Mittelalters und die contes der Renaissance, und zum anderen komische Langformen, wie die Romane Rabelais’. Den größten Einfluss auf die Konstitution der histoire comique schreibt er aber dem pikaresken Roman und vor allem dem Don Quijote zu.437 Da es keinen Zweifel daran gibt, dass Jacques le fataliste auch direkt auf den Don Quijote rekurriert,438 lässt sich eine direkte und eine indirekte, über den roman comique vermittelte Korrespondenz mit Cervantes’ Roman konstatieren. In Bezug auf den roman comique aber kann gesagt werden, dass er sich nicht nur in Abhängigkeit von einer Vielzahl komischer Vorgängertexte und -genres entwickelt hat. Ein ebenfalls konstitutives Element dieser Gattung ist wie schon im Don Quijote und im pikaresken Roman ein kontrastiver Bezug zum idealisierten hohen Roman.439 Während der kontrastive Bezug in Don Quijote die Form einer Parodie des Ritterromans annimmt, findet sich im roman comique ein oppositives Verhältnis vor allem zu zeitgenössischen Subgattungen des idealisierenden Romans, 435 Hierauf komme ich weiter unten noch eingehender zu sprechen. 436 Vgl. Dirscherl, Der Roman der Philosophen, S. 125 ff. 437 Vgl. Ansgar Thiele, Individualität im komischen Roman der Frühen Deuzeit (Sorel – Scarron – Furetière), de Gruyter, Berlin 2007, S. 72. 438 Vgl. dazu auch Nicolas Cronk, „Jacques le fataliste et son maître. Un roman quichotisé“, in: Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie, 23 (1997), S. 63–78 und Dirscherl, Der Roman der Philosophen, S. 144. 439 Vgl. Jürgen Grimm, „Das Jahrhundert der Klassik“, in: Französische Literaturgeschichte, hg. v. Jürgen Grimm, Metzler, Stuttgart/Weimar 2006, S. 181. Zur Linie der idealisierenden Romane zählt Thiele den Ritterroman, den roman sentimental, den Schäferroman und schließlich den roman héroïque. Vgl. Thiele, Individualität im komischen Roman, S. 75. Pollmann spricht im Gegensatz zu Thiele und in Anlehnung an die in den Texten auftretenden Figuren vom aristokratischen Roman, wobei sie ihm beide dieselben Subgattungen unterordnen. Vgl. Leo Pollmann, Geschichte der französischen Literatur. Eine Bewußtseinsgeschichte. Bd. 2: Zeitalter der absoluten Monarchie (1460–1685), Athenaion, Wiesbaden 1975, S. 182.
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wie etwa dem roman héroique.440 Der Kontrast zum Schäferroman und damit zum idealisierenden Roman wird von Sorel, der das komische Genre im Frankreich des 17. Jahrhunderts neu belebt hat, in seinem Roman Berger extravagant kraft seines poetologischen Untertitels, L’Anti-Roman ou l’Histoire du Berger Lysis (1633), zum Charakteristikum der Gattung erhoben.441 Neben den kontrastiven und parodistischen Beziehungen zum idealisierenden Roman kann es auch teilweise zu einer Annäherung oder Vermischung komischer und idealisierender Paradigmen im roman comique kommen, wie Thiele meint. Dennoch sieht er die komischen Romane im Hinblick auf ihre Realitätsentwürfe in einer Linie mit ihren französischen Vorgängerformen, den pikaresken Romanen und dem Don Quijote.442 Dementsprechend ist etwa die Handlung der komischen Romane in Opposition zur Handlungsstruktur der idealisierenden Romane auf Frankreich konzentriert und es wird ein gesellschaftlicher Querschnitt dargestellt, der Randgruppen der Gesellschaft, die bäuerliche Bevölkerung, bürgerliche Kreise und den Adel bis hin zu Hochadel und König umfasst. [Die] Protagonisten entstammen, anders als im pikaresken Roman, einem oft prekären mittleren oder niederen Adel oder dem Bürgertum. Im Mittelpunkt der Handlung steht häufig wie in Don Quijote und pikareskem Roman eine Reise mit mehr oder weniger alltäglichen, niederen Abenteuern. […] Reisethematik wird oft mit dem Durchqueren verschiedener gesellschaftlicher Schichten verbunden, etwa, wie im pikaresken Roman, in Zusammenhang mit dem Wechsel von einem Dienstverhältnis zum nächsten. […] Liebesthematik kann eine größere Rolle spielen, wobei, oft unter direktem Rückgriff auf traditionelle komische Stoffe, körperliche Aspekte betont werden können, aber auch ein gewisser Spielraum zur Einbeziehung idealisierter Varianten besteht. […] Liebes- und Abenteuerthematik kann umgekehrt in für Romane bis dahin kaum denkbarem Umfang zugunsten von Alltagsdarstellung reduziert werden.443
Außerdem kann die Handlung in Anlehnung an den pikaresken Roman linear erzählt werden. Häufiger aber ist, dass in Verbindung mit einem Beginn medias in res mittels eingelegter Digressionen die Vorgeschichten nach und nach erzählt werden. Während die Rahmenhandlung von einem auktorialen Erzähler wieder440 Bei Pollmann ist in Bezug auf Scarrons Roman comique (1651) von einer Unterminierung der fernen Illusionen des heroisch-galanten Romans die Rede. Im Gegenzug sieht er das Prinzip einer komischen Realistik eingeführt. Vgl. Pollmann, Geschichte der französischen Literatur, S. 185. 441 Vgl. Dirscherl, Der Roman der Philosophen, S. 125. Debaisieux attestiert Sorels Romanen Francion und Berger extravagant eine parodistische Schreibweise der Entlarvung romanesker Techniken, die in selbstreflexiver Manier zugleich den Prozess des eigenen Schreibens offenbare. Martine Debaisieux, Le procès du roman. Écriture et contrefaçon chez Charles Sorel, Paradigme, Orléans 2000, S. 6 f. 442 Vgl. Thiele, Individualität im komischen Roman, S. 77. Eine am vérité-Begriff festgemachte Auseinandersetzung mit der ‚realistischen‘ Konzeption des komisch-satirischen Romans findet sich bei Günter Berger, Der komisch-satirische Roman und seine Leser. Poetik, Funktion und Rezeption einer niederen Gattung im Frankreich des 17. Jahrhunderts, Winter, Heidelberg 1984, S. 24 ff. 443 Thiele, Individualität im komischen Roman, S. 77 f.; vgl. zu den Strukturelementen des komischen Romans auch Pollmann, Geschichte der französischen Literatur, S. 182 ff. und Grimm, „Das Jahrhundert der Klassik“, S. 181 ff.
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gegeben wird, werden die nachgeholten Vorgeschichten häufig in der ersten Person erzählt.444 Neben diesen Aspekten zählt Thiele abschließend diverse metafiktionale Strategien der Illusionsdurchbrechung zur Typik des roman comique, wobei zu vermuten steht, dass der kontrastive Bezug zum idealisierten Roman gerade in der seine Bauform unterlaufenden Illusionsdurchbrechung liegt.445 Vor dem Hintergrund dieser gattungstypologischen Betrachtungen zum roman comique lassen sich noch einige Rückschlüsse in Bezug auf die Qualität des parodistischen Diskurses in Jacques le fataliste nachreichen: So ist davon auszugehen, dass in einem Antiroman, der offenkundig in der Tradition von Cervantes’ Don Quijote steht, das kontrastive Spiel mit dem idealisierten hohen Roman im Allgemeinen und im Besonderen die Parodie des Ritterromans fortgeführt wird. Für einen Antiroman, der zudem in der Tradition des komischen Romans steht, ist außerdem die Fortführung einer kontrastiven Beziehung zur Subgattung des heroisch-galanten Romans oder des Schäferromans zu erwarten. Als Beziehungsform zu diesen idealisierenden Gattungen aber kommt nur eine Parodie in Frage, was letztlich an der Einlösung der Gattungsmerkmale des komischen Romans ablesbar ist. Denn der komische Roman ist grundsätzlich als Gattung zu verstehen, die in einer spielerischen Auseinandersetzung mit idealisierenden Romanstrukturen steht. Folglich gilt in diesem Zusammenhang, je mehr Jacques le fataliste als ein am komischen Roman orientierter Erzähltext wahrnehmbar ist, desto dezidierter kündigt sich das kontrastive Spiel mit dem heroisch-galanten bzw. dem idealisierenden Roman an. Schließlich sei noch erwähnt, dass angesichts der für Diderot typischen Abwendungsbewegung von Ideologemen des 17. Jahrhunderts – in Jacques le fataliste ist die Kritik am Determinismusbegriff Spinozas offensichtlich – auch eine oppositive Haltung gegenüber den ästhetischen Formen des 17. Jahrhunderts erwartbar ist. Zumal dann, wenn die jeweiligen ästhetischen Formen und die Ideologeme qua struktureller Analogie miteinander in Verbindung gebracht werden können. Bevor die Parodie in Jacques le fataliste auf ihre Entwertung einer deterministischen Ideologie hin untersucht wird, werde ich mich zunächst einer Vorstellung der Referenzstrukturen widmen, auf die im Text angesichts der aufgezeigten gattungstypologischen Einordnung von Diderots Roman am ehesten parodistisch abgehoben wird. Dies ist nicht zuletzt deshalb notwendig, weil die Strukturen des idealistischen Romans des 17. Jahrhunderts, die ich am Beispiel der subgenerischen Erscheinungsform des heroisch-galanten Romans vorstellen werde, nicht als bekannt vorausgesetzt werden können. Wie es die Gattungsbezeichnung nahe legt, zeichnet dieses Genre eine inhaltliche Verbindung aus abenteuerlichen Verstrickungen und amourösen Verbindungen aus, wobei es stark von der unmittelbaren Vorläufergattung des Schäferromans beeinflusst ist.446 Beide Subgattungen des idealisierenden bzw. aristokratischen Romans orientieren sich ih444 Vgl. Thiele, Individualität im komischen Roman, S. 79. 445 Vgl. ebd., S. 80. 446 Vgl. Grimm, „Das Jahrhundert der Klassik“, S. 180; Pollmann, Geschichte der französischen Literatur, S.180; Ratner, „Romantheorie von L’Astrée bis 1670“, S. 187.
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rerseits am hellenistischen Liebes- und Abenteuerroman und hierbei insbesondere an den Aithiopika Heliodors.447 Den Höhepunkt in der Entwicklung des französischen heroischen Romans sieht Lugowski mit der Clélie (1657) der Mme de Scudéry und vor allem mit La Calprenèdes Cléopatre (1647) erreicht.448 Charakteristisch für die Handlungsstruktur der abenteuerlichen Liebesgeschichten unterschiedlicher Paare, die in der Regel beim geringsten Anlass voneinander getrennt werden, ist die scheinbar unentwirrbare Verschachtelung der einzelnen Abenteuer und Erlebnisse der voneinander getrennten Liebenden. Der Eindruck des „eigentümlichen Gewebes von Liebesgeschichten“ wird noch dadurch verstärkt, dass jedes Paar seine Vorgeschichte in den Roman einbringt.449 Das geht so vor sich, dass irgendeine der beteiligten Figuren einer anderen ihre Geschichte erzählt, wobei diese nachgeholten Vorgeschichten, von denen Lugowski in seinem Beispieltext etwa 30 zählt, beständig ineinander übergehen, bevor sie im Zuge der Erzählung in den Zentralbau des Romans einmünden, wo es zur wundersamen Wiedervereinigung der getrennten Liebespaare kommt.450 Durch die Vielzahl der erzählenden Figuren ergibt sich nicht nur eine verwirrende Anzahl unterschiedlicher Sichtweisen, sondern vor allem die Möglichkeit, die Beschränktheit des subjektiven Blickes zur spannungserzeugenden Verrätselung des Geschehens zu nutzen. Als weiteres Mittel zur Spannungssteigerung macht Lugowski das Quiproquo aus. So erstehen Totgeglaubte wieder auf, Ehen erweisen sich als Scheinehen und Geburten kommen erst nach längerer Zeit ans Licht.451 Die Qualität dieser Spannung besteht folglich darin, dass sich dem Leser Fragen aufdrängen, die zum Teil auch von den Protagonisten gestellt werden. Wie durch Zufall klären sie sich nach und nach,452 und wenn schließlich alle Schleier gelüftet sind, gewinnt der Leser die Sicht auf ein ziemlich geschlossenes Stück ‚historischer‘ Zusammenhänge, die vom Leser zu rekonstruieren sind: Im Ganzen entsteht der Eindruck, als stehe hinter der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit, die der Romanschreiber erzählt und innerhalb derer die Vorgeschichten erzählt werden, eine Reihe fest umrissener Sachverhalte, die von den Vorgeschichten allmählich ans Licht gebracht werden und deren Realität gleichsam noch eine Stufe realer erscheint als die der unmittelbar gegebenen Romanwelt.453
Damit ist gesagt, dass sich dem Leser aus dem verwirrenden Chaos verrätselter Geschichten im Nachhinein eine in sich geschlossene prästabilierte Wirklichkeit erschließt, die eigentlich immer schon zu existieren scheint und deshalb im wahrsten Sinne des Wortes vorgeschrieben sein muss. Letztlich aber beruht das ganze 447 Vgl. Thiele, Individualität im komischen Roman, S. 75; vgl. zur Bedeutung des hellenistischen Romans für den heroischen Roman auch Lugowski, Wirklichkeit und Dichtung, S. 4– 8 bzw. Ratner, „Romantheorie von L’Astrée bis 1670“, S. 187. 448 Vgl. Lugowski, Wirklichkeit und Dichtung, S. 9. 449 Vgl. ebd., S. 3. Vgl. dazu auch Thiele, Individualität im komischen Roman, S. 75 und Ratner, „Romantheorie von L’Astrée bis 1670“, S. 192 ff. 450 Vgl. Lugowski, Wirklichkeit und Dichtung, S. 4. 451 Vgl. ebd., S. 7. 452 Die meisten dieser Aufklärungen ergeben sich aus den nachgeholten Vorgeschichten. 453 Lugowski, Wirklichkeit und Dichtung, S. 13.
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Romankonstrukt auf einer mehr oder weniger gelungenen Illusionierung des Lesers, dem suggeriert wird, hinter einer kontingenten Welt der Rätsel und Verwirrspiele, die ihren narrativen Ausdruck in der Vielheit der Erzähler und Geschichten findet, stecke eine märchenhaft abgerundete Realität der Vorsehung. In der erzählerischen Praxis fügen sich die zunächst unzusammenhängenden Handlungselemente, die das Produkt der Verrätselungsstrategien sind – man denke an die Rätsel aufgebenden Quiproquos – auf der Grundlage kausaler Motivierungen nach und nach zu einem homogenen Ganzen. Wie die Verrätselung das Bauelement der Spannungserzeugung ist, so ist der Zufall das Element zur Erzeugung kausaler Zusammenhänge.454 Unverbunden wirkende Geschichten, Handlungen und Verhaltensweisen werden durch zufällige Ereignisse in ihrer Abfolge kausal motiviert, sodass sich der Zufall schließlich als Bauelement der Handlungsabfolge und somit der Geschlossenheit des Romanganzen erweist. In diesem Sinne gibt es im heroisch-galanten Roman viele zufällige Zusammentreffen, damit etwas passiert. Lugowski führt das klassische Beispiel des Belauschens eines Gespräches an, wobei der Lauscher ein Gespräch mithört und daraus wichtige Inhalte für die weitere Handlung bezieht. Solche zufälligen Ereignisse gibt es im hellenistischen Roman nicht, denn dort ist alles Geschehen fatalistisch vorherbestimmt. Wenngleich es auch im französischen Roman Spuren von solchem Fatalismus gibt, ist der Zufall für Lugowski Ausdruck eines sich langsam ankündigenden kausalen Determinismus. In Anlehnung an diese Interpretation hat Warning indes hervorgehoben, dass der Zufall im heroisch-galanten Roman im Nachhinein eine Umwertung erfährt. Denn sobald sich die verrätselte Welt in ihrer „märchenhaften Idealität“ zu erkennen gibt, werden die Zufälle zu providenziellen Fügungen eines vorgezeichneten Bildes.455 Daraus lässt sich ableiten, dass hinter dem Anschein eines kausalen Determinismus ein letztlich kruder Fatalismus steckt. Verrätselung und Zufall sind folglich die elementaren Bauelemente des heroisch-galanten Romans; dies gilt auch für Teile des idealisierenden Romans im Allgemeinen. Sie erzeugen Spannung und sorgen für die abschließende Kohärenz des Geschehens, mit der auch die Auflösung sämtlicher Rätsel zusammenfällt. Indessen ist auch dem zeitgenössischen Leser nicht entgangen, dass die Gattung an der Unwahrscheinlichkeit ihrer Konstellationen krankt.456 Wenn aber die Kohärenz eines Textes von allzu offensichtlicher Konstruiertheit abhängt, so bleibt ein Beigeschmack der Künstlichkeit zurück. Dies ist umso problematischer, als die Gattung von der Illusionierung des Lesers lebt.
454 Vgl. ebd., S. 20 ff. 455 Warning, Illusion und Wirklichkeit, S. 80. Vgl. dazu auch Lugowski, Wirklichkeit und Dichtung, S. 24. 456 In diesem Sinne hat Boileau die Helden des heroisch-galanten Romans in seinem Dialogue des héros de roman verspottet. Vgl. Lugowski, Wirklichkeit und Dichtung, S. 20. Zur Kritik am Heldenroman vgl. auch Ratner, „Romantheorie von L’Astrée bis 1670“, S. 214 ff.
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III.4.1.2 Unwahrscheinliche und uninteressante Begebenheiten Zunächst werde ich auf die für die Funktionsweise des parodistischen Textes entscheidende strukturelle Gegebenheit in Jacques le fataliste eingehen. Es handelt sich hierbei um die Gesprächssituation zwischen fiktiver Erzähler- und Leserinstanz. Auf die ironische Ambivalenz, von der das Gesprächsklima der beiden Protagonisten der extradiegetischen Diskursebene geprägt ist, und auf die ihr zugrunde liegende implizite Kommunikation oder Leserlenkung ist bereits eingegangen worden. Nun lässt sich diese Lenkungsstrategie auch trefflich im Sinne der von Jauß theoretisierten Evokation eines Erwartungshorizontes,457 der von bestimmten Gattungsmerkmalen geprägt ist, nutzen. Infolgedessen ist auf die Figur des Lesers eine in der Tradition idealisierender Romanästhetik stehende Erwartungshaltung projiziert. Aufgrund der offensichtlichen Ironisierung dieser Haltung wird dem Rezipienten indes signalisiert, sich von ihr zu distanzieren. Im konkreten Einzelfall wird die auf die Leserfigur projizierte Erwartung besagter Romanästhetik enttäuscht bzw. nicht erfüllt. Der Kommentar der Erzählerfigur lässt diesbezüglich keinen Zweifel aufkommen, sondern kündigt mit Selbstverständlichkeit an: „Il est bien évident que je ne fais pas un roman, puisque je néglige ce qu’un romancier ne manquerait pas d’employer.“458 Was der Erzähler in diesem konkreten Fall gezielt außer Acht zu lassen gedenkt, ist die abenteuerliche Ausgestaltung, die sich in der dem metafiktionalen Kommentar vorausgehenden Erzählung anzubahnen scheint. Da werden Herr und Diener von einer Horde aufgebrachter Bauern verfolgt. Im Geiste einer auf abenteuerliche Verwicklungen ausgerichteten Romankonzeption wäre folglich eine Szene zu erwarten, die ein blutiges Hauen und Stechen, einen heroischen Kampf zwischen Jacques und seinem Herrn auf der einen und dem aufgebrachten Pöbel auf der anderen Seite bereithält. Aber dieses Abenteuer findet nicht statt. Der fiktive Erzähler hat vielmehr die Dreistigkeit, dem fiktiven Leser genau diese romanesken Kompositionsversatzstücke mit maliziöser Freude aufzuzählen, anstatt sie illusionsgestützt zu vermitteln. Damit wird ein bestimmter Erwartungshorizont evoziert und zugleich mittels ironischer Nichterfüllung enttäuscht und entwertet, wobei sich in vielerlei Hinsicht ein in der Tradition des komischen Roman stehendes parodistisches Spiel mit dem idealisierenden Roman ankündigt. So finden sich in Anlehnung an Don Quijote bereits im komischen Roman eines Scarron metafiktionale Kommentare, die im Sinne einer kritischen Entwertung des idealisierenden Genres funktionalisiert sind.459 Außer457 Vgl. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, S. 176. 458 DPV, Bd. 23, S. 35. 459 Vgl. zur Metafiktionalität als Strategie komischen Erzählens Thiele, Individualität im komischen Roman der frühen Deuzeit, S. 80. Ratner verweist auf Sorels poetologischen Text De la Connoissance des bons livres (1671), in dem er sich kritisch über den idealisierenden Roman äußert und im Besonderen auf die unwahrscheinlichen Absurditäten des Heldenromans eingeht. Seine Kritik an zufälligen Begegnungen, Verkleidungen, dem immer gleichen Handlungsverlauf mit einleitenden Schiffbrüchen sowie Trennungen der hochadeligen Liebenden und ihrer abschließenden Wiedervereinigung, liest sich wie die negative Poetologie des Heldenromans. Im Geiste dieser Kritik sind auch die explizit metafiktionalen Kommentare der
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dem ist im roman comique auch schon die pikareske Reisegeschichte inszeniert, die in komischer Distanz zum idealisierenden Roman die alltäglichen Abenteuer von Protagonisten des niederen Adels oder Bürgertums erzählt.460 Trotz der relativen Offensichtlichkeit des geschilderten parodistischen Signalverfahrens in Jacques le fataliste gibt es keine Garantie für das Erkennen der jeweils alludierten und zugleich entwerteten romanästhetischen Elemente. Da die Leserfigur jedoch über den gesamten Roman hinweg unbelehrbar ihre absurde Erwartungshaltung beibehält, sind ihre ostentativ ‚falschen‘ Reaktionen als wichtigster Marker des parodistischen Textes verstehbar. In diesem Sinne wird die Parodie an der Enttäuschung der affichierten Lesererwartung entlang geschrieben, wobei sie durchweg auf den heroisch-galanten Stoff par excellence – Abenteuer und Liebe – bezogen ist. Die Parodie ist in Jacques le fataliste allein quantitativ von fundamentaler Bedeutung, weil sowohl das von der auktorialen Erzählerinstanz vermittelte Rahmen gebende Reisegeschehen, das traditionell abenteuerliche Verwicklungen in Aussicht stellt, wie auch die Liebesgeschichten Jacques’ und seines Herrn Stoff für Enttäuschungen abgeben.461 Da Reisegeschehen und Liebesgeschichten den Großteil der Erzählzeit in Anspruch nehmen, ist folglich gewährleistet, dass die wichtigsten Erzählstränge parodistischen Charakter haben. Ungeachtet der jeweiligen Geschichtsebene soll in einer Zusammenschau betrachtet werden, was unter den Aspekt romanspezifischer Entwertung bzw. Parodierung fällt.462 Diese die einzelnen Geschichtsebenen übergreifende Betrachtung bietet sich deshalb an, weil sich die Liebesgeschichten von Herr und Diener in Anlehnung an den idealisierenden Roman heroischen Zuschnitts als Vorgeschichten des Reisegeschehens entpuppen. In der Rückschau handelt es sich folglich um eine auf unterschiedlichen Ebenen erzählte große Liebesgeschichte. Es gilt nun, die einzelnen Determinanten der Nichterfüllung, die gleichzeitig Evokationen der Referenz sind, auf exemplarische Weise hervorzuheben und das aus der ästhetischen Differenz resultierende ideologiekritische Analogon abzuleiten.
Romane einzuordnen. Vgl. Ratner, „Romantheorie von L’Astrée bis 1670“, S. 217 ff. Gezielte Untersuchungen der Parallelen zwischen komischem Roman und Jacques le fataliste finden sich bei Ruth P. Thomas, „Le Roman comique and Jacques le fataliste: Some Parallels“, in: The French Review, 47 (1973), S. 13–24 und in Richard H. Hodgson, „The Anti-Novel from Charles Sorel to Diderot“, in: Deophilologus, 66 (1982), S. 340–348. 460 Vgl. Thiele, Individualität im komischen Roman, S. 78 f. 461 Auch das Muster der Vermittlung des Rahmengeschehens durch einen auktorialen Erzähler sowie der eingeschobenen Liebesgeschichten, die auf intradiegetischer Ebene von Jacques und seinem Herrn in der ersten Person erzählt werden, ist an die Usancen des heroischgalanten Romans angelehnt. Vgl. Thiele, Individualität im komischen Roman, S. 80. 462 Warning, an den ich mich z. T. anlehne, untersucht Reise- und Liebesgeschichte im Hinblick auf die Parodie des heroisch-galanten Romans getrennt voneinander. Vgl. Warning, Illusion und Wirklichkeit, S. 78–95. Dirscherl folgt ihm in dieser Hinsicht und weist die Reisegeschichte als Parodie des Don Quijote aus, während er die Liebesgeschichten unter dem Vorzeichen der Parodie des heroisch-galanten Stoffes untersucht. Vgl. Dirscherl, Der Roman der Philosophen, S. 144–159.
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Zunächst werde ich im Rahmen der Reisegeschichte nochmals auf die oben angesprochene Ankündigung der Nichterfüllung abenteuerlicher Verwicklungen zurückkommen. Denn es stellt sich die Frage, warum der Text diese Art des Erzählens entwertet. Auch in Bezug auf diesen Punkt lässt der fiktive Erzähler seinen fiktiven Leser nicht im Unklaren und gibt ihm einen Rechtfertigungsgrund für die desillusionierende Unterbrechung bzw. die Nichterfüllung der Abenteuer. Für ihn steht nicht weniger als die „vérité de l’histoire“463 auf dem Spiel, die er nicht gewährleistet sieht, falls er sich auf ein derartiges Erzählen einlässt. Damit ist aber auch gesagt, dass die Enttäuschung des fiktiven Lesers an die Erfüllung eines ‚wahrhaftigen‘ Erzählens gekoppelt ist. Das ist die Konsequenz, die sich aus diesem Anspruch ergibt, wobei es zunächst keinerlei Anhaltspunkte für eine positive Bestimmung der besagten vérité gibt. Allerdings kann der komische Antiroman auch in dieser Hinsicht zumindest als wegweisende Vorgängergattung verstanden werden. Denn er stellt der invraisemblance des heroisch-galanten Romans auch schon einen vérité-Begriff entgegen, der an der Komödientheorie orientiert ist und, wie Sorel es formuliert, der alltäglichen Erfahrungswelt („actions communes de la vie“) Rechnung trägt.464 Ob der vérité-Begriff in Jacques le fataliste in dieser Weise gefüllt wird, lässt sich an dieser Stelle nicht sagen. Allerdings ist er wie im komischen Roman vor allem aus dem oppositiven Verhältnis zur idealisierenden Prosatradition zu verstehen. Seine vorläufige negative Bestimmung läuft darauf hinaus, dass der parodistische Text ein grundlegendes Strukturmerkmal der Referenzgattung, den abenteuerlichen Geschehnischarakter, aufgrund seiner Unwahrhaftigkeit ablehnt. Dementsprechend verkündet der fiktive Erzähler, dass Jacques und sein Herr keineswegs verfolgt werden, sondern gemächlich ihrer Wege gehen, wobei sie sich ihre Langeweile und Müdigkeit entweder schwatzend oder schweigend vertreiben. Der Lügenhaftigkeit des abenteuerlichen Geschehens wird folglich die Wahrhaftigkeit der Tatenlosigkeit und Langeweile entgegengesetzt. Dass auch dieser erzählerische Ansatz nicht des Pudels wahrer Kern sein kann, gibt der Erzähler durch die ironische Suspension der Zuverlässigkeit seiner Aussage zu bedenken: „Celui qui prendrait ce que j’écris pour la vérité serait peutêtre moins dans l’erreur que celui qui le prendrait pour une fable.“465 Angesichts dieser Bestimmung ex-negativo des noch äußerst vage gefassten vérité-Begriffes ist lediglich eines mit Klarheit feststellbar: Es handelt sich um eine Begriffsannäherung durch ein progressives Ausschlussverfahren oder anders formuliert, im Text ist ein bewusstseinskritisches Verfahren auszumachen. Denn aus der Entwertung einer bestimmten romanesken Ästhetik ist vom Rezipienten eine zusehends genauere Begrifflichkeit ableitbar. Der Absage an die abenteuerlichen Verstrickungen wird der Enttäuschungslogik entsprechend die Nichterfüllung liebesgeschichtlicher Verwicklungen an die Seite gestellt. Das Muster ist dem der abenteuergeschichtlichen Entwertung ähnlich. Anstelle einer zu erwartenden Liebesgeschichte, die dem Leser als Jacques’ Amouren angekündigt wird, erzählt Jac463 DPV, Bd. 23, S. 35. 464 Vgl. Berger, Der komisch-satirische Roman und seine Leser, S. 31. 465 DPV, Bd. 23, S. 35.
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ques von uninteressanten und banalen Ereignissen, wenngleich sich im Zuge seiner Erzählung immer wieder Konstellationen ergeben, die auf den erwarteten Liebesstoff oder zumindest auf spannende Verwicklungen hoffen lassen. Auch hier ist es wieder der an die Adresse seines fiktiven Lesers gerichtete explizit metafiktionale Erzählerkommentar, der darüber aufklärt, warum Enttäuschungen vorprogrammiert sind: „Je vous fais grâce de toutes ces choses que vous trouverez dans les romans, dans la comédie ancienne et dans la société.“466 Kurz darauf schildert Jacques aber doch eine Szene, die eine Erfüllung der kontinuierlich enttäuschten Erwartung mit sich zu bringen scheint.467 Er, der dank glücklicher Umstände mit seinem verletzten Knie bei Bauersleuten untergekommen ist, wird wegen der dünnen Wände des Bauernhauses Zeuge des Liebeslebens seiner Gastgeber; ein Erlebnis, das er seinem Herrn nicht vorenthält. Detailliert und unmissverständlich gibt er wieder, was sich auf deren Lager abgespielt hat.468 Wenngleich diese durchgehend in ironischem Tonfall wiedergegebene Erzählung erstmals recht wörtlich die Imbroglios der Liebe schildert, so hat sie doch den Makel, dass sie nichts mit Jacques’ persönlichen Erfahrungen auf diesem Gebiet zu tun hat. Und den hoffnungsfrohen Verdacht des Herrn, sein Diener könnte am Ende dem braven Ehemann die Hörner aufgesetzt haben, widerlegt der so Verdächtigte mit einem ebenso klaren wie enttäuschenden Nein. Die Szene erweist sich folglich in Bezug auf das eigentlich zu erwartende Liebesleben Jacques’ als überflüssiges Geschichtselement, das auch im Nachhinein keine inhaltliche Auflösung oder Legitimation erfährt. Dennoch entpuppt sich die Szene als Erfüllung in ganz anderer Hinsicht. Sie setzt nämlich einen der metafiktionalen Ansprüche des fiktiven Erzählers in die Tat um, die dieser im Kontext seiner Unterbrechung der Liebesgeschichte und im Vorfeld der soeben geschilderten Szene über die prinzipielle Beschaffenheit von Erzählungen äußert: „Et je conçus qu’il ne s’agissait pas seulement d’être vrai, mais qu’il fallait encore être plaisant […].“469 Die kleine Szene ist zweifellos gefällig, gerade weil sie detailliert und lebensnah die Auseinandersetzung im Schlafzimmer wiedergibt. Daraus lässt sich aber noch keine positive Ästhetik ableiten. Vielmehr ist das Geschehen als eine lebenslustige Absage an eine vérité de l’histoire zu lesen, die ihrem Wahrhaftigkeitsanspruch nur negativ über die Nichterfüllung romanesker Elemente gerecht wird, und dementsprechend langweilig ist. In diesem Zusammenhang zeichnet sich auch der implizit metafiktionale Charakter des parodistischen Textes ab, der das, was er in Opposition zur Referenzgattung ist, ebenfalls aufdeckt und distanzierender Lächerlichkeit preisgibt, so wie die Referenzgattung selbst. Damit kündigt sich an, dass ein rein oppositives, kritisches Prinzip keineswegs ausreichend ist, obschon es notwendig ist, weil es eine Begriffsklärung mit sich bringt. Trotz der selbstkri466 Ebd., S. 37. 467 Im Kontext aller von Jacques erzählten Geschichten übernimmt der Herr die Rolle des düpierten Lesers, der um seine Erwartungen betrogen wird. Aufgrund der übergeordneten Perspektive von Leser- und Erzählerfigur bleibt die grundsätzliche Funktion des Lesers aber auch auf dieser Konstellationsebene gewahrt. 468 Vgl. DPV, Bd. 23, S. 39–42. 469 Ebd., S. 37.
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tischen Dekuvrierung dessen, was die vérité de l’histoire nicht zu sein hat, nämlich langweilige Nichterfüllung abenteuer- oder liebesgeschichtlicher Umtriebe, ist nach wie vor unklar, was den heroischen Stoff so unwahrhaftig und deshalb kritikwürdig macht. Eine diesbezügliche Zuspitzung des vérité-Begriffes ergibt sich aus der Entwertung eines grundlegenden Bauelements romanesken Abenteuer- und Liebesgeschehens, dem Zufall. So ist bei einer ganzen Reihe von Ereignissen der Reisegeschichte eine besondere Affinität für unwahrscheinliche Zufälligkeiten auszumachen, wie beispielsweise in der Episode mit dem „porteballes“.470 Geschuldet ist diese Episode der Vergesslichkeit von Herr und Diener, die eines Morgens, nachdem sie schon eine ganze Weile unterwegs sind, feststellen müssen, dass sie an ihrem Übernachtungsort, den der Erzähler verschweigt, wichtige Dinge vergessen haben: Jacques seine Geldbörse und der Herr seine Uhr. Der Diener lässt sich nicht lange bitten und macht sich allein auf den Weg, um die vergessenen Gegenstände zu holen. Damit sind endlich grundlegende Voraussetzungen des idealisierenden Romans erfüllt. Die Protagonisten werden getrennt und die Suche könnte erstmals die bislang völlig ziellose Reise motivieren. Insofern wird hier das quêteMotiv evoziert, das schon die Handlung des traditionellen Ritterromans vorantreibt. Allerdings sind die Gegenstände dieser quête von derart beschämender Profanität – denkt man an erhabene Vorgängermotive wie den heiligen Gral –, dass sie sich wie Vorboten großer Enttäuschungen in Bezug auf das in der Erzählung dargebotene Heldentum ausnehmen. So kommt es, wie es kommen muss, wobei zunächst das Trennungsmotiv ad absurdum geführt wird. Dafür sorgt bereits die Portraitierung der Figur des Herrn durch den Erzähler. Im Ergebnis wird ein passiver und uninteressanter Typus vorgestellt, der allein nichts mit sich anzufangen weiß, weshalb er sich in Automatismen flüchtet, die ihn für heroische Leistungen nicht sonderlich qualifizieren. Deshalb sind nach Meinung des Erzählers in seiner Gegenwart auch keine besonders interessanten Ereignisse zu erwarten. Die ganze Erwartung ist fortan auf Jacques gerichtet, dessen kleine Reise der Erzähler schließlich nachvollzieht. Dabei stützt er die Illusion, es handle sich tatsächlich um einen narrativ ‚nachgeholten Weg‘, indem er seinem Leserpendant einen Ausruf Jacques’ präsentiert, den letzterer nur aus der Warte eines bereits erlebten Geschehens und somit nach seiner Rückkehr gemacht haben kann: „Il était donc écrit là-haut qu’en un même jour je serais appréhendé comme voleur de grand chemin, sur le point d’être conduit dans une prison, et accusé d’avoir séduit une fille!“471 Es wird deutlich, dass das kleine Spiel mit der Vermittlungsillusion – hierbei wird der Eindruck erweckt, Jacques sei seiner Wege gegangen, während der Erzähler seinem fiktiven Leser das Portrait des Herrn vermittelt – der verrätselnden Spannungssteigerung dient, da Jacques’ kleines Resümee romaneske Verwicklungen par excellence in Aussicht stellt. Tatsächlich erfüllen die darauf folgenden Szenen den 470 Vgl. ebd., S. 46–50. Der Erzähler bezeichnet den „porteballes“ im Rahmen dieser Episode auch als „mercier ambulant“. 471 Ebd., S. 46.
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traditionellen Erwartungshorizont wenigstens dem Anschein nach. So trifft Jacques sogleich auf einen „porteballes“, der seine Waren lautstark anpreist. Zufällig befindet sich gerade die Uhr des Herrn unter den angepriesenen Objekten des fliegenden Händlers. Das ist der Ausgangspunkt für eine Reihe abstrus anmutender Vorfälle. Zunächst ist es für Jacques ganz selbstverständlich, die ihm rechtmäßig zustehende Uhr ohne Bezahlung an sich zu nehmen. Als sich der fliegende Händler damit überhaupt nicht einverstanden zeigt, bedroht ihn Jacques mit seiner Pistole, besteigt sein Pferd und trabt in aller Ruhe davon. Das eigentliche Abenteuer scheint damit aber erst seinen Lauf zu nehmen, denn der Händler setzt ihm nach, wobei er sein Unglück lauthals in die Welt schreit, sodass sich schließlich ein ganzer Tross aufgescheuchter Bauern an Jacques’ Fersen heftet. Der wiederum sieht trotz der bedrohlichen Verfolgergruppe keine Veranlassung, sein Heil in der Flucht zu suchen. Der komische Umzug erreicht schließlich ein kleines Städtchen, wo es ganz danach aussieht, als würde Jacques im Gefängnis landen, zumal er sich in vorauseilendem Gehorsam dem ortsansässigen Polizeichef ausliefert. Es stellt sich aber wundersamer Weise heraus, dass besagter Amtsträger nicht irgendein Unbekannter ist, sondern der Gastgeber, bei dem Jacques und sein Herr ihre letzte Nacht zugebracht hatten. Umgehend wird Jacques von diesem idealen Zeugen entlastet und wieder in Recht und Würde gesetzt, womit der erste Teil von Jacques’ Ankündigung eingelöst ist. Mit dieser Erfüllung romanesker Erwartungshaltung geht auch die Auflösung des Rätsels einher, wie der „porteballes“, der nun die ganze Schuld auf sich zu nehmen hat, an die Uhr des Herrn gekommen ist. Der Händler erkennt nämlich in einem der Bediensteten des Polizeichefs denjenigen wieder, der ihm das gute Stück verkauft hat. Der zweite Teil der Ankündigung und damit die Auflösung der Frage, in welcher Weise Jacques ein Mädchen verführt haben könnte, ergibt sich in direkter Folge aus dem bisherigen Verlauf des Geschehens. In diesem Zusammenhang bekommt Jacques – ist er doch am Ort des Vergessens angelangt – auch seine Geldbörse als zweites Motivationselement der quête zurück. Zunächst aber tritt eine junge Schönheit auf den Plan und behauptet, Jacques habe ihr die Börse mitsamt Inhalt geschenkt. Der Gastgeber erweist sich auch in diesem Fall als Beschützer Jacques’ und befindet salomonisch, der Diener habe der Dame dem Umfang ihrer Dienste entsprechend nur einen Bruchteil der einbehaltenen Summe zu bezahlen. Damit sind alle Rätsel gelöst und zugleich alle Ankündigungen erfüllt, sodass dem Polizeichef und Gastgeber nichts weiter zu tun bleibt, als Jacques mit den besten Wünschen wieder in die Freiheit zu entlassen. Anders als bei den vorausgegangenen Ereignissen der Reise, wo amoureuse Abenteuer gar nicht stattfinden, werden hier alle Erwartungen, die an eine heroisch-galante Romankomposition gestellt werden, scheinbar erfüllt. Die geschilderten Szenen lesen sich wie eine innerhalb der Reisegeschichte erzählte idealtypische, weil in sich geschlossene Kurzform derselben. So hat diese Episode einen klar definierten Ausgangspunkt, der mit der Trennung der beiden Protagonisten gesetzt ist, während der tatsächliche Romananfang die konventionelle Gestaltung dieses Textteiles lediglich in Form eines fiktiven Gesprächs zwischen Erzähler und Leser ironisch zitiert, nicht aber illusionsge-
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stützt vermittelt. Darüber hinaus ist die Episode durch die quête-Elemente eindeutig motiviert und auf einen Zielpunkt gerichtet. In ihrem Verlauf sorgen zwei Verrätselungsmomente dafür, dass eine gewisse Spannung aufgebaut wird, wobei alle Rätsel nach und nach aufgelöst werden, sodass die Episode an dem eingangs in Aussicht gestellten Zielpunkt endet. Die entscheidenden Stellen, die in diesem Zusammenhang hervorgehoben werden sollen, sind jedoch die die Episode erst ermöglichenden Zufälle. Zum einen handelt es sich dabei um das Zusammentreffen Jacques’ mit dem „porteballes“, der ausgerechnet die Uhr des Herrn sichtbar bei sich trägt. Erst dieser aberwitzige Zufall bringt die voneinander unabhängigen Schicksale von Diener und Händler zusammen und sorgt für die dramatische Verstrickung ihrer Interessen. Das unübersehbare Parodiesignal dieser Konstellation liegt in der provozierenden Unwahrscheinlichkeit und Banalität jenes Zufalls, der dem fiktiven Leser dreist untergeschoben wird. Damit aber nicht genug, denn die herausfordernd banale Unwahrscheinlichkeit wird durch die regelrecht hellseherische Fähigkeit Jacques’ noch potenziert: „En allant472 il crut voir écrit en haut que la montre que cet homme lui avait proposée était celle de son maître.“473 Insofern wird hier der Zufall als Bauelement unwahrscheinlicher Geschichtskonstruktionen romanesken Zuschnitts aufgedeckt, die in keiner Weise dem véritéAnspruch genügen, jedoch die Illusion transportieren, es handle sich um gleichsam providenzielle Fügungen. Die Aussage, die der andere entscheidende Zufallsmoment der Episode impliziert, geht indes noch über die Dekuvrierung der unwahrscheinlich-providenziellen Künstlichkeit des romanesken Referenzhorizontes hinaus. Denn der zunächst wundersam erscheinende Fall, dass Jacques vom ortsansässigen Polizeimagistrat geschützt wird, erweist sich als rein logische Folge der Tatsache, dass er und sein Herr bei diesem Mann die Nacht verbracht haben und er folglich in voller Kenntnis der Tatsachen hierher kommt. Ein wundersamer Fall bleibt dies nur solange, wie der Erzähler besagte Information verschweigt. Im Vorfeld der Episode behauptet er im fiktiven Spiel mit der Leserfigur, er wisse nicht, wo die beiden die letzte Nacht verbracht hätten. Als sich diese Frage im Kontext der Episode schließlich aufklärt, bringt er in der gewohnt ironischen Tonlage hervor, er hätte es schlicht vergessen.474 Indessen impliziert diese Haltung eine rückwirkende Entmystifizierung des Zufalls als vermeintlich schicksalhaftes Fügungselement, hängt doch das ganze Wunder nur am Verschweigen der tatsächlichen Ursache durch den Erzähler bzw. an der gezielten Täuschung des fiktiven Lesers. Die Täuschung des Lesers beruht in erster Linie auf der Wahrheitsillusion des Erzählten. Mit anderen Worten, der fiktive Erzähler stilisiert sich gegenüber dem fiktiven Leser als ehrlicher Vermittler von Ereignissen, die sich tatsächlich so ereignet haben. Ist diese Illusion im Zusammenspiel von parodistischer Handlungsführung und ironischem Erzählerdiskurs dekuvriert, so liest sich die Episode als banale fiktive Abfolge unspektakulärer Begebenheiten in 472 Es sieht zu diesem Zeitpunkt danach aus, als wolle sich Jacques nicht weiter auf den fliegenden Händler einlassen. 473 Ebd., S. 46. 474 Vgl. ebd., S. 48.
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Opposition zum Referenzhorizont. Das Spannungsmoment wird im Nachhinein ebenso der Lächerlichkeit preisgegeben, wie auch die vermeintlich providenzielle quête zur Farce wird, handelt es sich doch tatsächlich um eine rein kausallogisch motivierte Rückkehr an den Ort des Vergessens einiger Gegenstände. Auch Jacques’ im Angesicht der Verfolger kühn anmutender Heroismus erweist sich rückwirkend als Pragmatismus, der auf seinem Wissen um Funktion und Handlungsmöglichkeiten des Gastgebers beruht. Die Szene an sich enttarnt folglich in selbstreflexiver Manier eine vorgeblich wahre kausale Ereigniskettung, die scheinbar vom Geist der Providenz gelenkt und zusammengefügt wird, als Erzählerillusion. Für den poetologischen Begriff der vérité de l’histoire ergibt sich aus parodistischer Perspektive folgender Befund: Eine Geschichte, die auf fiktiven Zufällen beruht, die zudem als providenzielle Fügungen ausgegeben werden, ist Ausdruck eines lügenhaft-romanesken und somit schlechten Erzählens, aber nicht wahrhaftig. Im Gegensatz zum idealisierenden Roman, so der implizite vérité-Anspruch weiter, sind keine Zufälle zur mystifizierenden Geschichtsklitterung zu verwenden. Das differenzielle Element, an dem sich die Qualität einer Geschichte festmachen lässt, ist demnach ihr Wahrheitsgehalt in Abhängigkeit von der Zuverlässigkeit der Vermittlungsinstanz. In Abhängigkeit von dieser fiktionsästhetischen Entwertung lässt sich ein vorläufiger ideologiekritischer Analogieschluss in Bezug auf den Determinismusbegriff ableiten: So ist auch hinter den lebensweltlichen Zufällen keine providenzielle Kraft auszumachen, die die Geschichte auf ein a priori festgelegtes Fatum hin organisiert. In Anlehnung an das Verhalten Jacques’, dessen Handeln de facto auf einer Folge von Kausalschlüssen beruht, ist man am ehesten geneigt, in der Episode die Veranschaulichung eines kausalen Determinismus zu sehen. Denn Jacques’ ruhige Handlungsweise beruht auf dem Wissen um die Macht des Polizeichefs, der ihn entlasten kann. Weitere Schlüsse verbieten sich indes, denn das kritische Verfahren ist noch nicht an seine Grenze geführt. Es gilt folglich, auf das ästhetische Gewährselement für die Qualität der Erzählung, die vérité de l’histoire, die sich im Zuge der parodistischen Entwertung begrifflich ex negativo auflädt, zurückzukommen. Nach bisherigem Stand ist von dem impliziten Postulat einer wahrscheinlichen, nicht konstruierten Geschichte in Abhängigkeit von der Zuverlässigkeit der Vermittlungsinstanz auszugehen. Naheliegend wäre in diesem Zusammenhang das poetologische Konzept einer die Wirklichkeit detailgetreu abbildenden Kunstfertigkeit. Jacques’ Erzählung seiner Liebe, die sich de facto zu einer Geschichte seiner Leiden auswächst, gibt dafür ein gutes Beispiel ab. Während der Herr noch immer vergeblich auf Jacques’ Erzählung seiner Amouren wartet, schildert ihm dieser eine weitere Begebenheit, die sich im Hause der Bauersleute zugetragen hat.475 Ein Chirurg hat sich zur Behandlung von Jacques’ immer noch verletztem Knie eingefunden. Die daraufhin geschilderte Szene ist eine minuziöse Wiedergabe der Geschäftigkeit des Chirurgen und der Konversationen, die sich zwischen den Beteiligten ergeben, wie der Er475 Vgl. ebd., S. 53–56.
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zähler nachdrücklich bekräftigt. In allen Einzelheiten wird geschildert, welche Handgriffe verrichtet werden, wobei Stimmung und Dynamik dieser Handlung sehr überzeugend vermittelt werden. Indessen wird der Wert dieser Szene eindeutig beurteilt, wie der Kommentar, der dem fiktiven Leser von seinem Erzählerpendant im Anschluss an die Szene in den Mund gelegt wird, bezeugt: „La vérité, la vérité, la vérité, me direz vous, est souvent froide, commune et plate. Par exemple, votre dernier récit du pansement de Jacques est vrai, mais qu’y a-t-il d’intéressant? rien.“476 Selbst dem ansonsten naiven fiktiven Leser wird zugetraut, die Sinnlosigkeit einer allzu wörtlich verstandenen vérité de l’histoire zu erkennen, die sich auf eine reine Wiedergabetechnik wahrscheinlicher Lebensumstände beschränkt. Wenn in diesem Zusammenhang von der ironischen Entwertung des faktisch Wahren gesprochen wird,477 das aufgrund einer langatmigen Aneinanderreihung von Details uninteressant ist und insofern noch keine Garantie für gutes Erzählen darstellt, so ist dies nur die halbe Wahrheit. Richtig daran ist, dass die Faktizität an sich keinen literarischen Wert darstellt. Doch ist es nicht die vermeintliche Langatmigkeit des Geschehens an sich, die es so langweilig macht, denn es handelt sich um ein durchaus plastisches, wirklichkeitsnahes Erzählen. Vielmehr steht dieses Erzählen für sich und nicht im Dienste einer werthaltigen Wahrheit, die der Erzähler bei den genialischen Autoren Molière, Regnard, Richardson oder Sedaine ausmacht.478 Ohne diesen genialischen Wahrheitswert aber ist das Erzählen ebenso sinnentleert wie spannungsbefreit. Der Wert, in dessen Dienst ein lebensnahes Erzählen gestellt werden könnte, ist jedenfalls nicht die von den idealisierenden Abenteuer- und Liebesromanen transportierte Lüge einer künstlich-fatalistischen Ideologie. Zunächst aber muss dieses Weltbild über die parodistische Veranschaulichung vollständig aufgedeckt und entwertet werden. Dann erst kann eine fiktionsästhetische Umwertung und Neubestimmung in den Dienst einer ideologischen Wertschöpfung gestellt werden.
III.4.1.3 Quantitative Entwertung durch ständige Unterbrechung Bislang ist auf exemplarische Weise die im parodistischen Text strukturell angelegte Dekuvrierung der grundlegenden Bauelemente und Wesensmerkmale der Referenzgattung nachvollzogen worden. Im weiteren Verlauf soll nun gleichsam synoptisch die parodistische Auflösung und das daraus ableitbare ideologiekritische Analogon ergründet werden. Da die Rahmen gebenden Geschehnisse der Reise und die jeweiligen Liebesgeschichten, die Herr und Diener einander erzählen, als parodistische Textteile schlechthin fungieren, gilt es, ihren jeweiligen Ausgang, der auch mit dem Ende des Romans zusammenfällt, eingehender zu betrachten. In diesem Zusammenhang weise ich erneut darauf hin, dass der paro476 Ebd., S. 56. 477 Vgl. Groh, Ironie und Moral, S. 62. 478 Vgl. DPV, Bd. 23, S. 56.
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distische Duktus auf einer entsprechend markierten Nichterfüllung des idealisierenden Romans beruht. Die Nichterfüllung kann dabei sowohl komische Überzeichnung der Referenz als auch ihre grundsätzliche Boykottierung, verbunden mit einer explizit metafiktionalen Hinweisstrategie, sein. Die bislang vorgestellten Fälle der Nichterfüllung waren indes auf qualitative Aspekte bezogen, ging es doch bislang um die Bestandsaufnahme der durch die Nichterfüllung aufgedeckten strukturellen Bauelemente der Referenzgattung – Zufall und Spannung. Darüber hinaus liegt auch eine strukturelle Nichterfüllung vor, die einen weiteren Blickwinkel erfordert, weil sie die gesamte Romanlänge für sich in Anspruch nimmt. Es handelt sich hierbei um keinen grundsätzlich neuen qualitativen Entwertungsaspekt, sondern um eine Qualität, der erst aufgrund ihrer Frequenz Bedeutung zukommt. Diese Art der Entwertung befördert auch die für Jacques le fataliste charakteristische diskontinuierliche und verschachtelte Erzählstruktur. Dementsprechend sind ständige Unterbrechungen sowohl strukturelles Merkmal des Rahmengeschehens wie auch der Liebesgeschichte Jacques’. Auf die verschiedenen Möglichkeiten der Diskontinuitätserzeugung ist bereits bei der Analyse der Erzählstruktur eingegangen worden. Hier soll nun aus parodistischem Blickwinkel die Funktionalität dieser strukturellen Diskontinuität ergründet werden, von der bei Jüttner die Rede ist.479 Die Absicht, die sich aus parodistischer Sicht hinter der Unterbrechungsstrategie verbirgt, ist keine, die nicht schon bekannt wäre. Es handelt sich auch hier um eine Strategie der Nichterfüllung, die mit der auf die Leserfigur projizierten Erwartungshaltung spielt. So haben die Unterbrechungen im Rahmen der angeblichen Liebesgeschichte Jacques’ zur Folge, dass der eigentlich entscheidende Stoff gar nicht erst entfaltet wird. Die Liebesgeschichte kommt deshalb die längste Zeit nicht über das Stadium ihrer Vorgeschichten hinaus.480 Dadurch wird einerseits dem Anspruch des explizit metafiktionalen Kommentars der Erzählerfigur genüge getan, wonach zur Wahrung der vérité de l’histoire keine romanesken Liebesränke erzählt werden. Andererseits baut die Unterbrechung oder vielmehr die aus ihr resultierende Retardierung eine Rätselspannung auf, die darin besteht, nicht preiszugeben, wer eigentlich Jacques’ Geliebte ist. Das Erzählte ist dabei wie ein Ratespiel angelegt, wobei der Herr, in dessen Bewusstsein sich all jene Fragen formieren, die zu stellen auf extradiegetischer Ebene Aufgabe der Leserfigur ist, nicht darauf kommt, welche Frau Jacques nun liebt. Seine Mutmaßungen über in Frage kommende Kandidatinnen lassen vor allem auf ein von traditioneller Romanästhetik geschultes Auge schließen, da die von ihm Verdächtigten immer die vorhersehbarste Variante darstellen.481 Dementsprechend wird der Herr von Jacques ebenso regelmäßig enttäuscht wie auf anderer Ebene der fiktive Leser vom 479 Vgl. Jüttner, „Heuristisches Erzählen“, S. 289. 480 Erst gegen Ende des Romans erfährt der Leser, wer Jacques’ Geliebte ist. Vgl. DPV, Bd. 23, S. 177. 481 Diese Schlussfolgerung ist zulässig, weil die Mutmaßungen des Herrn einen vergleichbaren Grad an Vorhersehbarkeit haben, wie die von der Erzählerfigur in ihren explizit metafiktionalen Kommentaren ironisierten typisch romanesken Entwicklungsmöglichkeiten des Geschehens.
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Erzähler. Droht die Rätselspannung aufgrund von Jacques’ allzu langatmigen Vorgeschichten beim Herrn in Verzweiflung umzuschlagen, weiß sein beredter Diener dem gezielt entgegenzusteuern. So legt er etwa den Köder aus, seinem Herrn endlich das Bild seiner Geliebten zu offenbaren: „Une grande brune de dixhuit ans, faite au tour, grands yeux noirs, petite bouche vermeille, beaux bras, jolies mains …Ah!“ Damit aber nicht genug, denn er gibt sie zudem als Bekannte des Herrn zu erkennen: „…C’est que ces mains-là […]. C’est que vous les avez prises et tenues plus d’une fois à la dérobée, et qu’il n’a dépendu que d’elles que vous n’en ayez fait tout ce qu’il vous plairait.“482 Die Hoffnung des Herrn, die sehnsüchtig erwartete Liebesgeschichte endlich zu hören, ist erneut geweckt, und Jacques kann wieder auf seine Vorgeschichten zurückschwenken, die scheinbar dadurch motiviert sind, dass sie notwendiges Vorwissen für das Verständnis seiner Liebe sind. Obwohl die retardierenden Unterbrechungen eigentlich der Erwartungshaltung des Herrn entgegenlaufen, weil sich die romaneske Liebesdramatik nicht erfüllt, nähren sie paradoxerweise doch seine Hoffnungen. Denn zumeist wird genau an den Stellen unterbrochen und damit Spannung durch Verrätselung erzeugt, die ein romaneskes Verwicklungsgeschehen und dessen Auflösung in traditionell idealisierendem Sinne in Aussicht stellen. Durch die hohe Frequenz der Unterbrechungen, die aus dieser Sicht lediglich Abschweifungen sind, wird die Auflösung wie im heroisch-galanten Roman beständig aufgeschoben und zugleich in Aussicht gestellt.483 Obschon die Art der Unterbrechungen eine Absage an eine Auflösung im Geiste des idealisierenden Romans ankündigt, besteht aufgrund der strukturellen Evokation dennoch eine erkennbare Beziehung zur parodierten Referenz. Die Verschachtelung der Erzählungen ist somit Voraussetzung und zugleich verstärkendes Moment der paradoxen Verrätselungsmomente. Während beispielsweise die Liebesgeschichte Jacques’ unterbrochen und ihre Fortsetzung erwartet wird, kann auf intradiegetischer Geschichtsebene, insbesondere im Kontext des Rahmengeschehens, eine abenteuerliche Verwicklung in Aussicht gestellt werden,
482 Ebd., S. 96. 483 Im heroisch-galanten Roman wird die finale Zusammenführung der Liebespaare und damit die Auflösung der Rätsel durch den beständigen Einschub neuer Liebesgeschichten retardiert, was ebenfalls für Rätselspannung sorgt. Allerdings werden die Liebesgeschichten der diversen Liebespaare im Unterschied zu Jacques le fataliste trotz ihrer gegenseitigen Unterbrechung beständig weiterentwickelt. In Diderots Roman beginnt die angekündigte Liebesgeschichte Jacques’ streng genommen erst am Schluss, wo sich herausstellt, wem seine Liebe gehört. Als Fortführung der Tradition des komischen Romans sind wiederum Unterbrechungseinschübe nach Art von Jacques’ Entjungferung im Hause von „Maître Bigre“ (vgl. ebd., S. 210–217) oder die Geschichte seiner fingierten Entjungferung durch „dame Marguerite“ und „dame Suzanne“ (vgl. ebd., S. 219–229) zu verstehen. Der parodistische Kontrast zur heroisch-galanten Liebesgeschichte besteht hier nicht in der Auslassung amouröser Verwicklungen, sondern in der Erzählung amoralischer Gaulloiserien, wie sie auch der komische Roman bereithält. So dominieren etwa in Francion, Polyandre, Heure du Berger und Roman bourgeois körperliche bzw. lächerliche Formen der Liebe. Vgl. Thiele, Individualität im komischen Roman, S. 78.
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deren Ausgang ihrerseits durch die Wiederaufnahme der Liebesgeschichte oder anderer Einschübe retardiert wird. Eine in Bezug auf den Aspekt der Unterbrechung recht markante Stelle des Textes mag dies veranschaulichen. So kommt es, dass Jacques nach längerer Unterbrechung wieder die Geschichte seiner Liebe aufnehmen will, doch wird er bereits im Ansatz durch ein tragisches Reiseereignis von seinem Vorhaben abgehalten. Ein düsterer Leichenzug kreuzt den Weg der Reisegefährten, wobei sich herausstellt, dass der Sarg mit dem Wappen des ehemaligen Herrn Jacques’, dem Hauptmann, geschmückt ist. Darauf bricht der Diener zweier Herren in ein Klagegejammer aus, und das Rätsel der Todesumstände seines Hauptmannes wird aufgegeben. Wenig später wird die Episode von einem explizit metafiktionalen Kommentar des Erzählers unterbrochen.484 Nach einem Rückschwenk auf die beiden Protagonisten, die wieder in ein Gespräch verwickelt sind, fährt Jacques endlich mit seiner Liebesgeschichte fort. Er erzählt an dieser Stelle, wie er mit dem Arzt, der ihn bei den Bauersleuten behandelt hat, die finanziellen Details seiner Übersiedlung von besagten Bauersleuten in das Haus eben dieses Mediziners ausgehandelt hat. Im Sinne der Erwartungen des Herrn, die qualitativ mit denen der ironisierten Leserfigur gleichzusetzen sind, ist diese Übersiedlung gleichbedeutend mit der Möglichkeit, im Hause des Arztes endlich der Geliebten Jacques’ zu begegnen. Innerhalb kürzester Zeit sind folglich auf unterschiedlichen Geschichtsebenen Hoffnungen auf abenteuerlich-amouröse Verwicklungen erweckt worden. Zugleich schürt die jeweilige Unterbrechung – denn auch Jacques’ Erzählung wird schon sehr bald wieder unterbrochen – eine Spannung, die aus der Nichterfüllung jener provozierten Erwartung hervorgeht. Diese Art der Spannungserzeugung ist generell für den heroisch-galanten Roman typisch. Dort fließen die von unterschiedlichen Erzählern wiedergegebenen Vorgeschichten, die sich ständig gegenseitig unterbrechen, schließlich in den ‚Zentralbau‘ des Romans ein. Dabei klären sich die von den einzelnen Geschichtssträngen aufgegebenen Rätsel nach und nach auf, sodass sich die scheinbar willkürlich angeordneten Vorgeschichten wie Mosaiksteine zu einem Gesamtbild zusammenfügen lassen.485 Insofern gibt es keine verlorenen Episoden oder Geschichtselemente, da sich jeder scheinbar noch so unsinnige Geschichtsteil irgendwann als sinnvoller Bestandteil des Ganzen erweist. Eine prototypische Konstellation könnte so aussehen: Während aus der Erzählung einer Figur X hervorgeht, dass der Verrat an einer Figur A von einer Figur B begangen wurde, stellt sich dieser Tatbestand für den Leser aufgrund anderer ihm bekannter Geschichtselemente als rätselhaft dar. Also wird er mit Spannung darauf warten, dass sich die Lösung im Laufe des Romans noch ergeben möge. Und tatsächlich wird sich zu einem möglicherweise unerwarteten Zeitpunkt und aus ganz anderer Perspektive das aufgegebene Rätsel lösen, wobei sowohl die Frage nach dem tatsächlichen Verräter wie auch die Frage nach den Gründen für die Sichtweise der Erzählerfigur X beantwortet wird. 484 Vgl. ebd., S. 65 ff. 485 Vgl. Lugowski, Wirklichkeit und Dichtung, S. 9.
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So gesehen ist der Roman Diderots voller verlorener Geschichtselemente. Die Szene mit dem Leichenzug von Jacques’ Hauptmann ist eines von vielen Beispielen dafür. Während die Frage nach dem rätselhaften Tod des Hauptmannes noch unbeantwortet im Raum steht, zieht der Leichenzug nach einer nicht allzu langen Ereignislosigkeit im Kontext des Reisegeschehens erneut an Herr und Knecht vorüber.486 Im Sinne der Referenzmuster wäre eine Szene zu erwarten, die bestenfalls die Aufklärung der Todesursache des Hauptmannes und im schlechtesten Fall weiterführende Verwicklungen bereithält. Anstelle dessen ereignet sich wie so oft nicht viel. Zunächst stellt sich heraus, dass der vermeintliche Leichenzug gar keiner war, denn eine Garde von Reitern der Gendarmerie eskortiert ihn nun, wobei dem Priester, der den Zug zuvor begleitet hatte, die Hände auf den Rücken gefesselt sind. Das gleiche Schicksal hat den vormaligen Kutscher und zwei weitere Bedienstete ereilt. Damit erweist sich die Frage nach der Todesursache des Hauptmannes als sinnlos. Zur entschädigenden Triebfeder für die Weiterentwicklung des Stoffes könnte sich indes die Frage nach dem tatsächlichen Inhalt des Sarges und dem Zusammenhang zwischen dem Wappen des Hauptmannes und dem Sarg entwickeln. Doch werden nach bewährtem Muster nur traditionell romanesk anmutende mögliche Sarginhalte durchgespielt: Der Herr äußert, es könnte sich dabei sowohl um Schmuggelware als auch um den eventuell entführten Hauptmann oder junge Mädchen handeln, und bringt damit seine Wunschvorstellungen zum Ausdruck.487 Ein etwaiges Abenteuer, das des Rätsels Lösung zu Tage fördern könnte, kommt nicht einmal ansatzweise zustande. Als Jacques dem ominösen Zug entgegengehen will, wird ihm bedeutet, dass jedwede Annäherung von sehr ungünstigem Ausgang für ihn sein würde. Jacques findet sich damit ab, und auch der fiktive Leser muss sich damit begnügen, denn auch im weiteren Romanverlauf wird keine Lösung des neu aufgeworfenen Rätsels präsentiert. Der Ereignisfolge von Verrätselung, Entwicklung eines Geschehens und seiner allmählichen Auflösung wird in Jacques le fataliste das Prinzip der Anhäufung vieler Geschichtsbruchstücke und damit verbundener Rätsel entgegengestellt.488 Diese Geschichtselemente sind lediglich aus der Perspektive der ironisierten Leserfigur und des Herrn verloren, die als Stellvertreter einer weit gefassten Ästhetik des idealisierenden Romans stilisiert sind. Die parodistische Textstruktur mit ihren frequenten Modalitäten komischer Nichterfüllung hat allerdings eine an Deutlichkeit kaum zu überbietende Signalfunktion. Mit anderen Worten, der Leser kann unter keinen Umständen mit einer ernsthaften Auflösung der durch die Unterbrechungsstrategie aufgegebenen Rätsel bzw. einer Zusammenfügung der disparaten Geschichtselemente unter idealisierend-romanesken Vorzeichen rechnen.489 In Folge dieses
486 487 488 489
Vgl. DPV, Bd. 23, S. 71. Vgl. ebd., S. 71 f. Vgl. Warning, Illusion und Wirklichkeit, S. 84. Werner Wolf charakterisiert Jacques le fataliste dementsprechend als klassisches Beispiel für die quantitative Entwertung von Geschichte. Vgl. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 310 f.
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komischen Unterbrechungsprinzips, das nicht zuletzt die romaneske Spannungserzeugung als Bauelement der Referenzgattung aufdeckt und komisiert, wird der Lauf der Geschichten, respektive der Reisegeschichte von Herr und Diener bzw. der Liebesgeschichte Jacques’, scheinbar endlos retardiert. So verharren beide Geschehensstränge in einem Zustand der Richtungslosigkeit. Nach der Hälfte des Romans ist noch immer ungeklärt, wohin es die beiden Protagonisten zieht. Sie irren in einer scheinbar raum- und zeitlosen Welt umher, und die Geliebte Jacques’ ist seinem Herrn noch immer so unbekannt wie zu Beginn der Reise, denn der Diener kommt über die seine Liebe einleitenden Episoden nicht hinaus.490 Insgesamt entsteht der Eindruck, die Welt der Geschichten unterläge einer gleichsam blinden Kontingenz, die jegliches Geschehen völlig unvorhersehbar macht. Diesen Eindruck scheint auch Jacques selbst zu bestätigen, wenn er sich seinem Herrn gegenüber beklagt, dass seine Erzählung ständig unterbrochen werde, und er folglich nicht Herr seiner eigenen Ausführungen sei. Als erklärter Fatalist schreibt Jacques dieses Phänomen des Unterbrochenwerdens selbstverständlich der Providenz zu.491 Diese Auffassung suggeriert wiederum, dass die Welt seiner Geschichten wie auch alle anderen Geschichtswelten auf dem „grand rouleau“492 im wahrsten Sinne des Wortes vorgeschrieben sind. Doch das Bild des ‚Vorgeschriebenseins‘ oder auch des vorgeschriebenen Seins kommt nicht ohne die Idee einer sinnvollen, in sich geschlossenen Anordnung aus. Der Eindruck der Kontingenz steht jedoch nicht in Widerspruch zu diesem Bild der Providenz, denn die Empfindung des unvorhersehbar Zufälligen entspricht dem subjektiven Erleben, das Jacques zu seinen Klagen über die Unvorhersehbarkeit des Unterbrochenwerdens verleitet. Erst aus der Distanz des einmal Erlebten, so suggeriert diese Auffassung, werden sich schon alle scheinbaren Zufälligkeiten zu Determinanten eines unumgänglichen Schicksals umdeuten lassen. Jacques’ Auffassung zufolge behält das Geschehen seinen kontingenten Charakter nur für den Zeitraum des unmittelbaren Erlebens oder Erzählens bei. Der Eindruck des Kontingenten, den die Unterbrechungs- und Verschachtelungsstruktur des Textes vermittelt, ist aber nicht als oppositiver Ausdruck eines fehlgeleiteten fatalistischen Determinismus Jacques’scher Prägung zu lesen, sondern stellt zunächst eine Notwendigkeit in parodistischer Hinsicht dar. Die ständige gegenseitige Unterbrechung der jeweiligen Geschehensstränge und damit die Retardierung der Geschichten dient dazu, das spannungserzeugende Moment der Referenzgattung zu entlarven und als romaneskes Textbauelement zu entwerten. Allein diese Finalität macht die scheinbare Kontingenz des Geschehens notwendig. Die Kontingenz ist somit eine Notwendigkeit im Rahmen der Ge490 Jacques’ tatsächliche Liebe beschränkt sich auf ein denkbar kurzes Intermezzo mit seiner letzten Pflegerin. Die sogenannten Vorgeschichten nehmen mit Jacques’ Knieverletzung ihren Anfang und beziehen sich auf die sukzessiven Pflegestationen, die Jacques durchläuft, bis er in den Armen seiner Geliebten landet. Als solche sind die Erlebnisse im Bauernhaus, die Genesungsphase im Hause des Chirurgen, die Episode mit dem zerbrochenen Krug und schließlich die Genesung in den Gemäuern des Schlossherrn Desglands zu unterscheiden. 491 Vgl. DPV, Bd. 23, S. 65. 492 Ebd., S. 28.
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schichtsentwertung, das ist der bisherige Stand des parodistischen Geschehens. Doch damit ist die der Vorstellungswelt Jacques’ inhärente notwendige Wandlung der kontingenten Welt des zufälligen Geschehens in die determinierte Welt des grand rouleau, in der sich dem Betrachter die Zusammenhänge des Geschehens erschließen, noch nicht entlarvt. Die parodistische Textentwicklung ist folglich vorgezeichnet: Der Schluss des Romans muss als große Auflösung inszeniert werden. Schließlich sind alle Bauelemente des romanesken Referenzhorizontes bereits in jeder Hinsicht entwertet worden.
III.4.1.4 Letzte Zufälle als Untergangsszenario einer Geschichtswelt Zunächst soll auf das Ermöglichungselement des Abschlussszenarios eingegangen werden. Wie bereits im Detail am Beispiel der Episode mit dem „porteballes“ ausgeführt, sind es die Zufälle, die sie zu einer zusammenhängenden kleinen Geschichte abrunden. Doch fügt sich die Episode aus der Warte ihrer Abgeschlossenheit keinesfalls zu einem providenziellen Ganzen. Die vermeintlich providenziellen Zufälle werden vielmehr als unwahrscheinliche Fälle bzw. als eine banale Kausalverkettung dekuvriert. Anstelle der Providenz wird die manipulative Hand des fiktiven Erzählers für einen Augenblick sichtbar, wobei er aufgrund der Desillusionierungseffekte des Erzählten als Arrangeur vermeintlich schicksalsträchtiger Verwicklungen enttarnt wird. Aber auch über das Episodische hinaus, das in der „porteballes“-Sequenz einen das Romanganze präfigurierenden Charakter hat, wird er als derjenige ausgewiesen, der hinter dem von Jacques beschworenen Schicksal und somit hinter den Zufällen steckt. So in der Situation, als Jacques in Gegenwart seines Herrn bezüglich seines Unterbrochenwerdens spekuliert: „Oui, je gage que c’est quelque chose qui ne voudra pas que je continue mon histoire, ni que vous commenciez la vôtre.“493 Wie es der Zufall will, trifft Jacques’ Vermutung zu, denn der Erzähler unterbricht ihn genau an der Stelle, obschon er umgehend hinter die Ereignisse, deren Vermittler er ist, zurücktritt. Es zieht der vermeintliche Leichenzug von Jacques’ Hauptmann vorbei, und tatsächlich entsteht der Eindruck, das Schicksal sei wahrhaft die geschichtskonstellierende Kraft. Der lapidare Kommentar des Erzählers, „Jacques avait raison“,494 der auf des Dieners Spekulation folgt, scheint dies zu bekräftigen. Dabei stilisiert sich die Erzählerfigur als Chronist, der nur wiedergibt, was sich unmittelbar zu ereignen scheint. Die Unwahrscheinlichkeit dieses vermeintlichen Zufalls dekuvriert indes die Illusion des Geschichte machenden Schicksals. Hinter dem Schicksal steckt nichts anderes als die gestaltende Hand einer Vermittlungsinstanz, wie die ironische Ambivalenz des lakonischen Erzählerkommentars zu bestätigen scheint: „Jacques avait raison“.495Schließlich räumt der Erzähler in Bezug auf die wahre Beschaffenheit des Schicksals alle Zweideutigkeiten aus. Als nachgereichte Antwort auf 493 Ebd., S. 65. 494 Ebd. 495 Ebd.
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die Beschwerde Jacques’, wonach die Liebesgeschichte des Herrn im Gegensatz zur seinen niemals unterbrochen werde,496 gibt er der Leserfigur unmissverständlich zu bedenken: Son maître tira sa montre et sa tabatière, et continua son histoire que j’interromprai, si cela vous convient; ne fût-ce que pour enrager Jacques, en lui prouvant qu’il n’était pas écrit làhaut, comme il le croyait, qu’il serait toujours interrompu et que son maître ne le serait jamais.497
Die eigentümliche Verbindung von Zufall und Schicksal ist damit endgültig als Illusion aufgedeckt, wie sie von Erzählerinstanzen des idealisierenden Romans vermittelt wird. Dagegen offenbart sich die Erzählerinstanz des Textes als die tatsächlich geschichtskonstellierende Kraft. An dieser Stelle bietet es sich an, einen eingehenderen Blick auf die fiktive Erzählerinstanz zu werfen, da ihre ansonsten eingenommene Haltung genau dem Gegenteil ihrer soeben offenbarten Allmacht und der damit einhergehenden Entwertung des Schicksals entspricht. Insofern verkörpert sich in ihr auf exemplarische Weise das ambivalente Wesen der Parodie. So muss der parodistische Text zum einen wesentliche strukturelle Merkmale der Referenz evozieren und sich zum anderen verfremdend von der parodierten Folie absetzen. Da das ErzählerLeser-Paar auf der Grundlage des ironischen Kommunikationsmodus entscheidend für die Signalisierung der Parodie ist, dienen Haltungen der Erzählerfigur im Zusammenspiel mit der Leserfigur sowohl der illusionsfördernden Evokation der Referenz als auch ihrer ironischen Unterminierung. In diesem Sinne kann hier von unzuverlässigem Erzählen gesprochen werden. Repräsentativ für die dem parodistischen Diskurs geschuldete ambivalente Erzählerhaltung in Jacques le fataliste ist die Affichierung der oben erwähnten Pose der Allmacht im Wechsel mit der eines Chronisten, der nur wiedergibt, was sich auch tatsächlich ereignet hat. Die Haltung des Chronisten vermittelt in scheinbarer Übereinstimmung mit der idealisierenden Referenz die Illusion eines geschichtslenkenden Schicksals. Die explizite Variante dieser Illusionierung ist eine metafiktionale Authentizitätsbekundung diverser Erzählungen durch den fiktiven Erzähler. Der vielleicht auffälligste in diese Kategorie fallende Erzählerkommentar ist die Authentizitätsbekundung, die er gegenüber seinem Leserpendant angesichts einer Geschichte hervorbringt, die Jacques über die seltsame Freundschaft zwischen seinem Hauptmann und dessen Freund erzählt hat: Vous allez prendre l’histoire du capitaine de Jacques pour un conte, et vous aurez tort. Je vous proteste que telle qu’il l’a racontée à son maître tel fut le récit que j’en avais entendu faire aux Invalides, je ne sais en quelle année, le jour de la Saint-Louis, à table chez un monsieur de Saint-Étienne, major de l’Hôtel; et l’historien qui parlait en présence de plusieurs autres officiers de la maison qui avaient connaissance du fait était un personnage grave qui n’avait point du tout l’air d’un badin.498
496 Vgl. ebd., S. 251. 497 Ebd., S. 256. 498 Ebd., S. 81.
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Es handelt sich hier um einen peniblen Authentisierungsnachweis, wie ihn nur wahre Chronisten anführen: Ein gravitätischer Erzähler gibt den die Geschichte authentisierenden Gewährsmann ab und die Riege der gesellschaftlich anerkannten Ehrenmänner scheint allein aufgrund ihrer Präsenz die Wahrhaftigkeit des Gesagten zu bezeugen. Zudem schließen die Erhabenheit des Ortes und der ‚heilige‘ Moment der Geschichtswiedergabe jedwede Lügenhaftigkeit aus. All dies ist nun aber bestenfalls geeignet, die Erzählerfigur in den Augen der notorisch ironieresistenten Leserinstanz als glaubwürdigen Chronisten zu legitimieren. Angesichts der übertriebenen Detailversessenheit, die als Beleg für die Korrektheit des Gesagten herhalten muss, fällt es nicht schwer, dem Gesagten einen ironischen Überschuss zu attestieren. Während also die vermeintliche Fundiertheit des Quellenbeleges den Chronistenstatus des Erzählers absichern soll, ridikülisiert die zwanghafte Überkorrektheit der Beweisführung eben jene Chronistenpose. Eine ähnlich vordergründige Beglaubigungsfunktion haben die scheinbaren Unwissenheitsbekundungen der Erzählerfigur, die ihm den Anschein eines einfachen Berichterstatters von Ereignissen, die sich nahezu unmittelbar zuzutragen scheinen, verleihen. Als Beispiel hierfür mag die zur Schau gestellte Unkenntnis in Bezug auf den Aufenthaltsort von Herr und Diener gelten, die dem neugierigen Leser als Antwort auf eine entsprechende Frage dienen soll: […] soit qu’ils aient atteint une grande ville et qu’ils aient couché chez des filles; qu’ils aient passé la nuit chez un vieil ami qui les fêta de son mieux; qu’ils se soient réfugiés chez des moines mendiants, où ils furent mal logés et mal repus pour l’amour de Dieu […].499
Der Erzähler fügt dieser Aufzählung noch eine Vielzahl detaillierter, aber zugleich immer weniger ernst zu nehmender Möglichkeiten hinzu, um der Leserfigur schließlich die Auswahl des letzten Aufenthaltsortes des unzertrennlichen Duos freizustellen. Diese Offerte stellt den fiktiven Erzähler vordergründig auf eine Stufe mit dem fiktiven Leser. Wie Letzterer nur das rezipiert, was ihm vorgesetzt wird, so vermittelt auch der Erzähler nur das, was ihm das wahre Leben der Protagonisten vorschreibt. Die Vielzahl der romanesk anmutenden Möglichkeiten, die er mit Leichtigkeit vorbringt, scheint er dagegen nur mit Verachtung zu bedenken. Er zieht es ganz selbstverständlich vor, dem Leser sein vermeintliches Unwissen einzugestehen. Dieser Schritt wiederum stellt ihn in das Licht einer ernstzunehmenden Chronistenpersönlichkeit, die der Verlockung fiktiver Gestaltung zugunsten größerer Wahrhaftigkeit entsagt. In der darauf folgenden Episode mit dem „porteballes“ stellt sich heraus, dass der fiktive Erzähler sehr wohl um den Aufenthaltsort seiner Protagonisten weiß. Die Fiktion des ehrbaren Unwissens wird in ein Vergessen umgewandelt: „Si je vous ai pas dit plus tôt que Jacques et son maître avaient passé par Conches et qu’ils avaient logé chez le lieutenant général de ce lieu, c’est que cela ne m’est pas venu plus tôt.“500 Diese Aussage ist eine derart offensichtliche Lüge, die für jeden realen Leser mit einem über drei Romanseiten 499 Ebd., S. 43 f. 500 Ebd., S. 48.
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reichenden Gedächtnis deutlich erkennbar ist, sodass sie als impliziter Hinweis zu verstehen ist, die Aussagen des Erzählers gerade nicht ernst zu nehmen. Die angebliche Glaubwürdigkeit des Chronisten ist folglich auch hier als illusionsfördernde Pose entlarvt worden. Damit erweist sich die Doppelgesichtigkeit des Erzählers, der im Verlauf des Romans überwiegend als einfacher Chronist dargestellt wird, der aber zuweilen auch als unabhängiger ‚Geschichtsmacher‘ charakterisiert wird, aus parodistischer Perspektive doch als konsistent und zuverlässig. Denn letztlich stehen sowohl die Scheinkompetenz des Chronisten als auch die durchscheinende Allmacht des ‚Geschichtsmachers‘ im Dienste einer gezielten Entwertung des Zufalls als romaneskem Bauelement sowie des Schicksals als angeblich hinter ihm stehender finaler Ordnungsgröße. Erneut ist auf das vermeintliche Schicksal zurückzukommen. Demaskiert, wie es bereits ist, ‚darf‘ es schließlich in Form von letzten großen Zufällen seine geschichtskonstellierende Kraft entfalten und den Roman zu einem in sich geschlossenen Ganzen lebensweltlicher Geschichte runden. Den Anfang in dieser Hinsicht macht die Liebesgeschichte des Herrn, die in den Hauptstrang des Romans, die Reisegeschichte, einmündet. Eine kurze Zusammenfassung der Geschichte dieser typisch heroisch-galanten Liebe501 ist an dieser Stelle notwendig. Der Herr ist zur Zeit der erzählten Geschehnisse ein noch ganz und gar unerfahrener Jüngling, der sich in ein junges Mädchen verliebt hat. Er weiß jedoch nicht, dass sie mit seinem engsten Freund, dem Chevalier de Saint-Ouen, liiert ist. Während sich der Herr nach ihr verzehrt, entzieht sie sich ihm immer wieder unter irgendwelchen Vorwänden und schürt auf diese Weise sein Verlangen. Der Freund tritt seinerseits als wohlwollender Berater auf den Plan und findet immer wieder Lösungen, wie die Dame zu gewinnen sei. Dadurch hält er den Herrn in emotionaler Anhängigkeit zu ihr. Die jeweiligen Eroberungspläne entpuppen sich jedoch als erfolglose, dafür aber kostspielige Unternehmungen, die die Taschen des Herrn leeren und allem Anschein nach die des Freundes und seiner Komplizin füllen. Trotz oder gerade aufgrund der unverbesserlichen Naivität des Herrn und dank der hilfreichen Hand seines Freundes kommt es schließlich doch noch dazu, dass der Herr eine Nacht in der Kammer seiner Herzensdame verbringt. Aber auch in diesem Fall stellt sich erwartungsgemäß heraus, dass er nicht auf seine Kosten kommt. Die Nacht erweist sich als Höhepunkt der betrügerischen Inszenierungen, da ihm das Kind untergeschoben wird, das die vermeintliche Geliebte eigentlich dem Chevalier de Saint-Ouen verdankt. Zu guter Letzt muss er dieses Kind vor Gericht als sein eigen Fleisch und Blut anerkennen. So endet die Liebesgeschichte mit einer für den Herrn ganz und gar unherrlichen Konstellation: Er bleibt mit dem Sohn einer Frau zurück, die ihn nie geliebt hat, und der vermeintliche Freund bewegt sich ungestraft auf freiem Fuße, was die Torheit des Herrn nachhaltig bestätigt. Auf diese nur karikatural erfüllte Liebesgeschichte, die aber angesichts ihrer unbefriedigenden Schlusskonstellation förmlich nach einer weitergehenden Auflösung verlangt, folgt unmittelbar die Fortsetzung der bislang noch immer im Stadium ihrer Vorgeschichten befindlichen und damit ebenfalls unerfüllten Liebesgeschichte Jac501 Vgl. ebd., S. 235–278.
III.4 Der ideologisch-erkenntnistheoretische Wert des Erzählprozesses
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ques’. Hier aber scheint sich das nicht mehr erwartete Szenario doch noch zu erfüllen. Jacques trifft auf seiner letzten Krankenstation – er befindet sich in der Obhut des Schlossherrn Desglands – endlich auf seine Denise, die ihn auf so hinreißende Weise pflegt, dass er sich in sie verliebt. Aber auch an dieser Stelle gilt das Gesetz, das das Fortkommen dieser Geschichte über den gesamten Roman hinweg bestimmt hat: Das Geschehen wird, noch bevor die beiden Geliebten tatsächlich zusammenfinden, erneut von einem Ereignis der Reise unterbrochen. Das Schicksal scheint der Liebe Jacques’ das Los der Unabgeschlossenheit zugedacht zu haben, wie auch der Roman als Konglomerat unabgeschlossener Geschichten auf unterschiedlichen Konstellationsebenen zu enden scheint, was nicht zuletzt die fortgeschrittene Seitenzahl in Aussicht stellt. Dann aber schlägt doch noch die Stunde der letzten Zufälle. In diesem Zusammenhang avanciert die, wie sich herausstellt, letzte Station der Reise zur verbindenden Schnittstelle zwischen der Liebesgeschichte des Herrn und dem Reisegeschehen. Das Ziel der Reise ist der Aufenthaltsort des vermeintlichen Sohnes des Herrn, den dieser bei einer Pflegefamilie untergebracht hatte. Als er vor deren Haus von seinem Pferd steigt, öffnet sich eine Tür und ein Mann tritt ins Freie. Beide kreuzen sogleich ihre Klingen und nach kurzem Gefecht fällt der Fremde tödlich getroffen zu Boden.502 Die Schlussszene zeigt den Herrn, wie er eilends sein Pferd besteigt und davonreitet. Zurück bleiben Jacques, der anstelle seines flüchtigen Herrn sogleich festgenommen wird, die Leiche des Chevalier de Saint-Ouen und die Geliebte des Getöteten, die ehemals die Herzensdame des Herrn war. Sie hatte mit dem Chevalier de Saint-Ouen ihren gemeinsamen Sohn besucht, den der Herr zufälligerweise zeitgleich aufgesucht hatte. So endet der Roman zumindest vorläufig. Wie angekündigt, verbindet diese Szene die Geschichte des Herrn mit dem Reisegeschehen, wobei Letzteres vom Ende der Liebesgeschichte rückwirkend plausibilisiert wird. Das die Verbindung zwischen den beiden Geschichtssträngen herstellende Element ist ein Zufall par excellence. Unscheinbar steht er in Person des Chevalier de Saint-Ouen vor der Tür, um sodann eine enorme Sinnstiftungskraft zu entfalten. Das für die Leserinstanz unverständliche ruhe- und richtungslose Umherstreifen der Protagonisten, für das auch der Erzähler in seiner Rolle als berichterstattender Chronist nie eine Erklärung parat hat, erfährt plötzlich eine rückwirkende Plausibilisierung. Der Herr brauchte notwendigerweise raumgreifende Zeit in Form des Reisegeschehens, um seine unerfüllte Liebes- und Lebensgeschichte zu erzählen, damit diese, die Allmacht der Providenz unter Beweis stellend, schließlich einem erlösenden Ende zugeführt werden kann. Dementsprechend trägt er die Schmach seiner Demütigung mit sich herum, bis ihm der Zufall, dieser Erfüllungsgehilfe der Providenz, die errettende Revanche frei Haus liefert, die ihn wieder in sein Herrenrecht setzt. Gleich dem fahrenden Gralsritter Parzival, der zur
502 Vgl. ebd., S. 287.
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Tilgung seiner Schuld503 endlose Abenteuer zu bestehen hat, muss auch der Herr für seine jugendliche Torheit büßen, indem er seine Schuld durch die Erzählung des eigenen Versagens abträgt; dafür gibt das abenteuerliche Reisegeschehen den ermöglichenden Rahmen ab. Anders gewendet, das Verhältnis von Reisegeschehen und Liebesgeschichte des Herrn stellt sich dar wie die Fülle der abenteuerlichen Verstrickungsmöglichkeiten zu dem einzig Erlösung bringenden Pfad der Tugend. Am Ende dieses Weges führt ihm das Schicksal, wie schon Parzival, eine zweite Chance zu, die er endlich mannhaft ergreift, indem er den Schänder seiner Herrenehre im ehrlichen Zweikampf tötet. Die Verschränkung der Liebesgeschichte des Herrn mit der Reisegeschichte bzw. der Zufall in letzter Instanz erweist sich im Nachhinein als notwendiger Akt der Providenz, die den Herrn aufgrund der geleisteten Sühne standesgemäß rehabilitiert. Damit ist das vermeintliche Chaos kontingenter Ereignisse, die ein scheinbar unzusammenhängendes Geflecht von überflüssigen Geschichten bedingen, teilweise zugunsten einer höheren Ordnung aufgehoben. Für die Liebesgeschichte Jacques’ steht ein entsprechendes Auflösungsszenario indes noch aus; doch ist die Macht der letzten Zufälle noch nicht ausgeschöpft. Dem Erzähler ist zwar angeblich wieder einmal etwas nicht bekannt und so endet die Geschichte von Jacques und seinem Herrn vorläufig unaufgelöst. Schließlich aber erklärt er sich in seiner letzten Rolle als Herausgeber – einer abschließenden Authentisierungsstrategie – doch dazu bereit, in Memoiren, die sich in seinem Besitz befinden, nach weiterführendem Material zu suchen.504 Wie es der Zufall will, ist die Recherche des Autors, Chronisten bzw. Herausgebers tatsächlich von Erfolg gekrönt. Die Quelle liefert für alle noch offenen Fragen eine Antwort nach. Ein erster Abschnitt bringt Licht in die ungeklärte Beziehung zwischen Jacques und Denise, waren doch Jacques’ Ausführungen gerade an dem Punkt unterbrochen worden, als sich eine endgültige Entscheidung in dieser Frage anzubahnen schien. Auf diese Weise stellt sich zwar heraus, dass beide einander lieben, da sie es sich gegenseitig mehr oder weniger nachdrücklich gestehen, doch mit einer weiterreichenden Entwicklung dieser Liebe sowie einer Anknüpfung an die unaufgelöste Situation der Reise wartet diese Coda nicht auf. Folglich bestätigt jener erste Abschnitt lediglich, dass die Liebesgeschichte diesen Titel zu Recht trägt, wenngleich es sich um eine definitiv unbefriedigte Liebe handelt. In Analogie zur Liebesgeschichte des Herrn verlangt auch diese Konstellation nach einer weitergehenden Auflösung, die allerdings nicht lange auf sich warten lässt. Im letzten Abschnitt, der eine Kettung wundersamer Zufälle bereithält, trägt es sich zu, dass Jacques schließlich an den Ort seiner aus Lesersicht unerfüllten Liebesgeschichte, das Schloss Desglands’, zurückkehrt. Dort trifft er, von einem kollektiven Freudenausbruch begleitet, zunächst auf den Herrn, der ihn nach seiner Flucht schon schmerzlich vermisst hatte, um sodann seine geliebte Denise voraus503 Parzival hat als junger Tor die Schuld auf sich geladen, den Gralskönig Anfortas nicht nach dem Grund seines Leides gefragt zu haben. Doch jugendliche Torheit ist eine lässliche Sünde, sodass sich Parzival eine zweite Chance bietet und er schließlich selbst zum Gralskönig wird. 504 Vgl. DPV, Bd. 23, S. 288–291.
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sichtlich für immer in die Arme zu schließen. Auch an dieser Stelle ist der Zufall als Erfüllungsgehilfe des Schicksals der Weichensteller, der die Verschränkung der Liebe Jacques’ mit dem Reisegeschehen bewerkstelligt. Damit ist die vollständige Harmonisierung der Geschichtswelten, die sich letztlich zu einer großen Illusionsblase auswachsen, abgeschlossen. Das undurchsichtige Rahmengeschehen ist vollständig als Ermöglichungskontext für die wunderbare Auflösung der respektiven Liebesgeschichten legitimiert. Und die schicksalhaften Unterbrechungen der Liebesgeschichte Jacques’ lesen sich aus dieser Warte wie notwendige Retardierungen für die finale Zusammenführung im Schloss Desglands’. Jacques’ fatalistische und insofern ‚rechtgläubige‘ Grundhaltung selbst scheint belohnt zu werden, da tatsächlich alles so kommt, wie es kommen muss; das legt der letzte Satz der Coda, „car c’est ainsi qu’il était écrit là haut“,505 nahe. Insofern lässt sich als Moral der Geschichte festhalten, dass es nicht an der momentanen Undurchsichtigkeit der Geschichtskonstellationen und dem Eindruck blindwütiger Kontingenz zu verzweifeln gilt; lediglich für den Einzelnen sind die Zusammenhänge nicht überschaubar. Das Textende bestätigt, dass Jacques’ Verdienst in der letztlich willfährigen Hinnahme seines Schicksals, unterbrochen zu werden, liegt. Denn allein das Schicksal wirkt tatsächlich den Stoff, aus dem wahre Geschichten sind, was der Erzähler als Chronist bzw. die Herausgeberfigur zu vermitteln weiß. Der Einzelne aber ist ein passives Nichts, das sich von anderen Wesen lediglich durch den Intensitätsgrad seiner Schicksalsgläubigkeit unterscheidet, die dementsprechend belohnt wird. Sein Trost kann die jeweils aposteriorische Erkenntnis sein: Alles fügt sich auf wundersame Weise durch die Hand des Schicksals zu einem wunderbar abgeschlossenen Ganzen. Das vollständige Zusammenwachsen der Geschichtsstränge zu einer in sich geschlossenen Geschichte, hinter der die Providenz hervorstrahlt, stellt den Höhepunkt des parodistischen Textes dar. Ebenso wie sich das Gesamttableau erst auf den letzten Seiten erschließt, wird es auch erst zuletzt vollständig der Lächerlichkeit preisgegeben. Dabei ist der Zufall als ermöglichendes Element der finalen Geschlossenheit zugleich Stein des Anstoßes, der das ganze Konstrukt zum Einsturz bringt. Denn in ihrer übertriebenen Unwahrscheinlichkeit verweisen die letzten Zufälle abschließend auf die parodistische Konstruiertheit des Geschehens, wobei die durch die Zufälle ermöglichten Szenen erneut eine komische Inszenierung aller bereits entwerteten Handlungsstereotype der romanesken Referenz darstellen. So ist das Zusammentreffen des Chevalier de Saint-Ouen mit dem Herrn – er kommt nach etwa zehn Jahren erstmals sein angebliches Kind besuchen und gerät dabei prompt an den eigentlichen Vater des Kindes, seinen alten Rivalen – notwendige Voraussetzung für das erste Duell der Reisegeschichte. Doch der Zweikampf erfüllt die Ansprüche, die an eine dramatische Auseinandersetzung geknüpft werden, nicht im Geringsten. Kaum haben die beiden Recken ihren Kampf aufgenommen, ist er auch schon beendet. Der siegreiche Herr aber macht sich im gestreckten Galopp davon, und erweckt damit den Eindruck, er sei keineswegs, 505 Ebd., S. 291.
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der Haltung eines wahren Helden entsprechend, Herr der Lage. Sein seltsam unheroischer Abgang nimmt ihm jegliche Würde und verkehrt die finale Rehabilitierungsszene in eine definitive Entwertung der antiquierten Welt herrlicher Wertvorstellungen.506 Nebenbei wird in diesem Zusammenhang auch noch das für den idealisierenden Roman typische Trennungsmotiv des Textanfangs durch die erst am Schluss vollzogene Trennung der Reisepartner parodiert. Die entscheidenden Zufälle der Coda, die dann das Wiedersehen aller Beteiligten einleiten, sind ebenfalls über die Maßen künstlich, wobei die grotesk ironisierte Herausgeberfiktion – üblicherweise eine illusionsfördernde Authentisierungsstrategie – die Artifizialität des Codageschehens nachhaltig bestätigt. Wieder sind die Zufälle Grundlage einer romanesken Szenerie par excellence. Jacques, der nach seiner Trennung vom Herrn festgenommen wurde, fristet sein Dasein in einem Kerker bei Wasser und Brot. Dieser Zustand ändert sich ebenso jäh wie nachhaltig, denn der Zufall will es, dass sein Gefängnis von der Räuberbande Mandrins gestürmt wird. Eine parodistische Anspielung mit providenzieller Implikation, ist doch Mandrin eine Figur aus der populären Banditenbiographie, an deren Ende grundsätzlich ein gleichsam vorsehungsmäßiges Urteil vollstreckt wird.507 Ausgerechnet jener Mandrin, der aufgrund seiner moralischen Verwerflichkeit auf dem Rad endet,508 befreit schließlich sämtliche Gefangenen, die sich wiederum seiner Truppe anschließen. Die Umtriebe der Bande führen Jacques eines Nachts wie zufällig zum Schloss Desglands’. Jacques kann seine Räuberkumpanen davon überzeugen, die kleine Schlossgemeinde zu verschonen und so kommt es am Ende der abenteuerlichen Coda nicht zur Hinrichtung Jacques’, sondern zur großen Wiedervereinigung von Herr und Diener sowie zur Hochzeit von Jacques und Denise. Doch die Schlussglückseligkeit, die vorgibt, märchenhafte Belohnung des geduldigen und nie verzagenden Heroen zu sein, verkehrt sich durch den lakonischen Kommentar des Erzählers in eine Ausgangssituation für ein mögliches Fiasko in der Zukunft: On a voulu me persuader que son maître et Desglands étaient devenus amoureux de sa femme. Je ne sais ce qui en est, mais je suis sûr qu’il se disait le soir à lui-même: S’il est écrit là-haut que tu seras cocu, Jacques, tu auras beau faire, tu le seras; s’il est écrit au contraire que tu ne le seras pas, ils auront beau faire, tu ne le seras pas. Dors donc, mon ami…et qu’il s’endormait.509
Auch wenn das Fiasko mit der gewohnten Erzählerironie nur als nebensächliche Möglichkeit in Aussicht gestellt wird, so ist doch gerade die Möglichkeit als Spielart der Ungewissheit die ärgste Feindin märchenhafter Abgeschlossenheit. Die Möglichkeit eines alle geordneten Verhältnisse sprengenden Zukunftsszenarios, wo die Herren in Verkehrung der althergebrachten sozialen Ordnung ihren Dienern, die qua Ehe die rechtmäßige Form des partnerschaftlichen Zusammen506 Unter seinen Wertvorstellungen verstehe ich die auf ihn wie auch auf die Leserinstanz projizierten romanästhetischen Erwartungen einer märchenhaften heroisch-galanten Welt. 507 Vgl. Jacques Berchtold, Les prisons du roman, S. 713 f. 508 Vgl. Lüsebrink, Histoires curieuses et véritables de Cartouche et de Mandrin, S. 221. 509 DPV, Bd. 23, S. 291.
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seins für sich beanspruchen, ihre Frauen bestenfalls abspenstig machen können, ist eine Untergangserklärung. Der absolut unwahrscheinliche Wiedervereinigungsschluss und damit die ganze märchenhafte Fügung der Geschichte lösen sich in Lächerlichkeit auf. Dafür impliziert das Ende der Geschichte aber die Möglichkeit eines Neuanfangs unter verkehrten Vorzeichen. Plötzlich wird eine ganz und gar ungewisse Zukunft denkbar, die das Trugbild der in sich abgeschlossenen Geschichte auflöst.
III.4.1.5 Analogieschlüsse An diesem End- und Höhepunkt des parodistischen Textes wird in einem weiten Sinne der idealisierende Roman bzw. romaneskes510 und damit schlechtes Erzählen entwertet. Im engeren Sinne aber werden vor allem Romanstrukturen parodiert, die die Illusion einer idealen Realität vermitteln, in der die Vorsehung alles auf das immer schon feststehende Telos märchenhafter Geschlossenheit hin lenkt.511 Wenn Warning von der Auflösung des „mythischen Analogons“ spricht,512 so meint er dementsprechend, dass die Parodie die Illusion von der märchenhaften Idealität aufhebt, die unabhängig von ihrem Erzähltwerden immer schon als Realität an sich existiert. Wird folglich die Fiktion in der idealisierenden Romantradition auf der Grundlage der Illusionierung zum Analogon der Realität, so lässt sich unter parodistischem Vorzeichen von der Fiktion als einem Analogon der Realitätskritik sprechen. Darunter verstehe ich, dass die in ihrem fatalistischen Illusionismus enttarnte und entwertete Geschichtswelt, deren märchenhafte Geschlossenheit auf einem als Zufall ausgegebenen Schicksal beruht, als Analogon einer Kritik am fatalistischen Determinismus gelesen werden kann. Insofern diskreditiert die Parodie ein Weltbild, das eine apriorisch festgeschriebene Wirklichkeit statuiert, in der die Kontingenz lediglich eine Konzession an den begrenzten (Über-)Blick eines entmündigten Subjekts darstellt. Kontingenz folglich verstanden als reine Übergangskategorie, die sich aus der Perspektive historischer Distanz in eine Determinante der entsubjektivierten Providenz transformiert. Im Ergebnis ist das gleichbedeutend mit einer apriorisch determinierten Welt, in der es keinen Platz für handlungsfähige Individuen gibt. Es versteht sich, dass diese Weltanschauung im Rahmen aufklärerischer Ideologie keinen Platz hat, weil sie von der Phänomenologie über die Erkenntnistheorie bis hin zu den sozialen und kulturellen Phänomenen alles mit der Vorstellung 510 Romanesk im Sinne von ‚verlogen‘ – ein Attribut, das der Roman als Gesamtgattung, ungeachtet seiner Anlehnung an das Epos, der Traditionslinie des heroisch-galanten Romans verdankt. Vgl. dazu Erich Köhler, Der literarische Zufall. Das Mögliche und die Dotwendigkeit, Fischer, Frankfurt a. M. 1993, S. 31 f. 511 Vgl. dazu auch Behrens, der von einer mit der Dekonstruktion eines traditionellen Romanmodells zusammenfallenden Kritik an der teleologischen Finalität ausgeht. Behrens, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz, S. 345. 512 Warning, Illusion und Wirklichkeit, S. 94.
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einer göttlichen Vorsehung kontaminiert. Welche Konsequenzen dies beispielsweise in gesellschaftlicher Hinsicht hat, wird im Text in komisch-karnevalesker Verkehrung der tatsächlichen Verhältnisse deutlich veranschaulicht. Dementsprechend wird die schicksalsgewollte Herrenordnung, die von einem Volk der Diensthabenden getragen wird, durch Jacques’ eigenwillige Umtriebigkeit fröhlich unterminiert. In diesem Zusammenhang ist die an die Parodie geknüpfte Ideologiekritik vorrevolutionäres Manifest, weil sie die Auflösung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse und damit der gesellschaftlichen Ordnung mit der geistigen Befreiung des Individuums von der Schicksalsfessel verbindet. Die Kritik eines ideologischen Determinismusbegriffes zielt folglich in erster Linie auf die mit ihr verbundene Problematik des Individuums. Deshalb steht zu vermuten, dass eine Neudefinition des Subjekts in Abhängigkeit von einem gewandelten Determinismusbegriff das über die Kritik hinausgehende Desiderat des Textes ist.
III.4.2 Selbstreflexives Erzählen als Analogon ideologischer Umwertung und erkenntnistheoretischer Begriffsbildung III.4.2.1 Fremdmetafiktionalität und Selbstreflexivität Angesichts der Offensichtlichkeit der Analogie zwischen parodistischer Ästhetik und Ideologiekritik ist es auch im Hinblick auf eine über die Kritik hinausgehende Behandlung des Determinismuskomplexes plausibel, von einem fiktionsästhetischen bzw. einem in der Erzählqualität begründeten Analogon auszugehen. Mit anderen Worten, die strukturelle Qualität des Erzählens ist in diesem Zusammenhang relevanter als die vermeintlich dargestellte Wirklichkeit. Vor diesem Hintergrund bietet sich eine weitergehende Untersuchung des Textes unter dem poetologischen Aspekt der vérité de l’histoire als Gewährselement der Qualität des Erzählens an. Nach bisherigem Stand ist unter diesem sich im Erzählverlauf zuspitzenden Begriff implizit das ästhetische Postulat einer wahrscheinlichen Geschichte in Abhängigkeit von der Zuverlässigkeit der Vermittlungsinstanz zu verstehen. Dabei soll das Erzählte nicht detailgetreue Abbildung historischer Wirklichkeit sein, sondern in den Dienst eines Wertes gestellt werden. Angesichts der parodistischen Entwertung kann jener Wert, in dessen Dienst sich die Geschichte zu stellen hat, jedenfalls kein am fatalistischen Determinismus orientierter Wirklichkeitsbegriff sein. Zugleich zeigt die Erfahrung der parodistischen Entwertung, dass auch ein anzunehmender positiver ideologischer Wert nur in Abhängigkeit von der Erzählweise zu erschließen ist. Aus der Perspektive des parodistischen Erzählens ist ‚wahrheitsgemäßes‘ Erzählen zunächst kein auf historische Faktizität hin angelegtes Erzählen, sondern eines, welches die Illusionsmechanismen bzw. die Vertextungsverfahren einer idealisierenden Narrationstradition dekuvriert.513 Aufgrund des daraus ableitbaren 513 Man denke etwa an die der Lächerlichkeit preisgegebene Chronistenpose des Erzählers. Damit einher geht sowohl die implizite (Ironie) als auch die explizite (metafiktionale Kommen-
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Analogons, das sich als schonungslose Kritik am fatalistischen Determinismusbegriff erweist, erfährt die poetologische vérité de l’histoire nachträglich eine ideologische Aufladung. Demzufolge ist unter wahrhaftigem Erzählen eines zu verstehen, das im Dienste entmystifizierender Aufklärung steht. Gleichwohl beinhaltet der aus parodistischer Perspektive gebildete Begriff eines wahrheitsgemäßen Erzählens keinesfalls eine grundsätzliche Entwertung der Fiktionsästhetik an sich. Das Gegenteil ist der Fall: Die Entwertung bezieht sich ausschließlich auf den Umgang eines idealisierenden Erzählens mit der Illusionierung. Der ‚Missbrauch‘ jener Illusionierung des Lesers, der darin besteht, märchenhafte Zusammenhänge als ideale Wirklichkeit zu stilisieren, wird als lügenhaftes Konstrukt einer Vermittlungsinstanz aufgedeckt. Im Umkehrschluss impliziert die parodistische Entwertung das poetologische Konzept einer wahrheitsgemäßen Reflexion bzw. Vorführung der Mechanismen der Illusionskunst des eigenen Textes. Dementsprechend müssten, so die Annahme, mittels reflektorischer Techniken dem Leser die Vertextungsbedingungen des eigenen Œuvres vorgeführt werden. Nur darüber lassen sich in Abhängigkeit von der Zuverlässigkeit der Vermittlungsinstanz wahre Aussagen treffen. Diese poetologische Annahme soll dem weiteren Verlauf des Kapitels vorangestellt werden und wird zu verifizieren sein. Bislang ist Jacques le fataliste in ästhetischer Hinsicht unter dem Aspekt parodistischer Entwertung betrachtet worden, die sich auf die kritikwürdigen Illusionsmechanismen einer romanesken Gattungstradition bezog. Jetzt soll der parodistische Text im Hinblick auf seine selbstreflexiven Anteile bzw. seine Aussagekraft über die Konstitutionsbedingungen des eigenen Erzählens untersucht werden. Dabei stellt sich die Frage, in welcher Weise diese ästhetische Umwertung nachvollziehbar ist.514 Die Idee der Umwertung ist in Bezug auf Diderots Vertextungsverfahren von zentraler Bedeutung, denn im Text wird implizit darauf verwiesen, dass der ästhetische Wert der Illusion nicht etwa durch einen lebensweltliche Ereignisse vermittelnden historiographischen Diskurs zu ersetzen ist;515 lediglich die Einstellung gegenüber der Illusionierung des Lesers wird radikal verändert. Anders gewendet, anstelle einer die Illusionierung verleugnenden oder kaschierenden Erzählweise soll diese dem Leser bewusst gemacht und grundsätzlich als erstes Mittel der Fiktare) Dekuvrierung der tatsächlichen Verhältnisse. So sind alle vermeintlich providenziellen Geschehnisse von einer in idealisierender Erzähltradition stehenden Erzählerinstanz konstruiert. 514 Die hier verwandte Umwertungsbegrifflichkeit geht auf die Nietzsche-Rezeption Gilles Deleuzes zurück. Ihm zufolge ist grundlegend zwischen der Umwertung und dem Austausch der Werte zu unterscheiden. Dementsprechend werden im Falle einer Umwertung nicht die Werte an sich, sondern die Elemente, aus denen die Werte grundsätzlich hervorgehen, ausgetauscht. Das aber bedeutet, dass gegenüber dem Wert eine Bejahungskraft anstelle einer Negationskraft zum Einsatz kommt. Es wird folglich nicht der Wert an sich, sondern die Einstellung gegenüber dem Wert ausgetauscht. Vgl. dazu Gilles Deleuze, Dietzsche und die Philosophie, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 1985, S. 186 f. 515 Konkret wird im Text qua ironischer Narrationsstrategie darauf hingewiesen, dass die entwertete Illusionierung keineswegs durch eine historisch verbriefte Faktensammlung zu ersetzen ist.
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tion affirmiert werden. Das Besondere einer derartigen Vorgehensweise ist der generell antidialektische Modus. So wird der entwerteten Ästhetik nicht oppositiv ein gleichsam positiv bewertetes alternatives ästhetisches Konzept gegenübergestellt,516 sondern ihr ist – und das ist der entscheidende Aspekt – paradoxerweise bereits eine umwertende Ästhetik inhärent. Diese Gleichzeitigkeit wird im Folgenden eingehend zu betrachten sein. Es versteht sich von selbst, dass die Gleichzeitigkeit von Fremdmetafiktionalität und Selbstreflexivität im Text rezeptionsseitig nur in einem Entkoppelungsvorgang nachvollzogen werden kann.517 Das Ende des Romans selbst scheint diese Entkoppelung in Form eines impliziten Leserhinweises allerdings nahezulegen. So implizieren die Schlussworte des Erzählers: „On a voulu me persuader que son maître et Desglands étaient devenus amoureux de sa femme“,518 scheinbar lapidar die Möglichkeit des Neuanfangs einer Geschichte. Angesichts der aufgedeckten Abgeschlossenheitskonstruktion, die der Referenzgattung zugrunde liegt, stellt dies zum einen den Höhepunkt parodistischer Lesart dar. Zum anderen verweist dieser Schluss gleichsam selbstreflexiv auf die Unabgeschlossenheit und die Ungewissheit. Attribute, in deren Zeichen der Textanfang steht: Comment s’étaient-ils rencontrés? Par hasard, comme tout le monde. Comment s’appelaientils? Que vous importe? D’où venaient-ils? Du lieu le plus prochain. Où allaient-ils? Est-ce que l’on sait où l’on va? Que disaient-ils? Le maître ne disait rien, et Jacques disait que son capitaine disait que tout ce qui nous arrive de bien et de mal ici-bas était écrit là-haut.519
Es handelt sich folglich um einen Zirkelschluss, wobei der Neuanfang unter veränderten Vorzeichen steht, denn jetzt gilt es, sich vor allem dem von der Parodie 516 In diesem Zusammenhang ist stellvertretend für eine Vielzahl von Untersuchungen Warnings Betrachtung zu erwähnen, da er in Jacques le fataliste zwei grundsätzliche Stränge unterscheidet. Zum einen den parodistischen Erzählstrang, der einen traditionellen romanesken Diskurstyp entwertet, um die Auflösung des mythischen Analogons zu betreiben. Darunter versteht er die Desillusionsarbeit des Romans bezüglich der Ineinssetzung von fiktiver und realer Welt. Zum anderen sieht Warning in Jacques le fataliste, dem oppositiven Prinzip entsprechend, im Roman eine konstruktive Dimension angelegt. Dem entwerteten Erzählen werde dementsprechend in den eingelegten Geschichten ein positiv bewertetes Erzählen gegenübergestellt, das die Wirklichkeit im Sinne mimetischer Kunst darstelle. Im Rahmen der Widerlegung dieser Sichtweise wird noch genauer auf Warnings Untersuchung einzugehen sein. Vgl. dazu Warning, Illusion und Wirklichkeit, S. 69 ff. Vgl. zum Prinzip der oppositiven Komposition des Jacques le fataliste auch Küpper, Ästhetik der Wirklichkeitsdarstellung, insbes. S. 54 f. Ruth Groh geht von einem oppositiven Illusionsbegriff in Jacques le fataliste aus, den sie doppelt besetzt sieht. Einmal sich distanzierend, wenn es sich um unwahrscheinlich Romanhaftes handelt und einmal positiv, wenn es sich um wahrhaft Nachgeahmtes handelt. Vgl. Groh, Ironie und Moral, insbes. S. 67 f. Vgl. Behrens, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz, S. 350 ff. 517 Unter Fremdmetafiktionalität ist in der Definition Wolfs ein intertextueller Metabezug auf andere Erzähltexte zu verstehen, wie dies bei einer Parodie der Fall ist. Die Reflexion über andere Texte und Gattungen kann wiederum metafiktional im Hinblick auf den eigenen Text funktionalisiert werden. Es liegt dann eine Form indirekter Selbstreflexivität vor. Vgl. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 225. 518 DPV, Bd. 23, S. 291. 519 Ebd., S. 23.
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aufgedeckten Determinismusproblem zuzuwenden. Es ist zwar geklärt worden, dass ein fatalistischer Determinismusbegriff nicht hinnehmbar ist, doch stellt das noch keine Antwort auf diese drängende Frage dar. Es bietet sich deshalb an, den Weg der Protagonisten unter der Prämisse ästhetischer Umwertung nochmals exemplarisch nachzuvollziehen und den Aspekt der Gleichzeitigkeit von Entwertung eines traditionellen romanesken Diskurstyps und selbstreflexiver Umwertung zu veranschaulichen.
III.4.2.1.1 Affirmation romanesker Diskurstypbestimmtheit Der Zusammenhang von Entwertungs- und Umwertungsästhetik wird bereits bei der grundsätzlichen Betrachtung des Textes in parodistischer Lesart erkennbar.520 Denn sobald es sich bei einem Text nachweislich um eine Parodie handelt, ist gewährleistet, dass zumindest auf einen Text, mitunter auf eine Gattung wie in Jacques le fataliste oder auf mehrere Texte und Gattungen rekurriert wird. Anders gesagt, ein Text, der erkennen lässt, dass er einen traditionellen romanesken Diskurstyp bzw. dessen Illusionsmechanismen parodiert, deckt eine grundlegende Bedingung der eigenen Vertextung auf: So gilt für den Roman Jacques le fataliste, dass er von einer romanesken Gattungstradition determiniert wird, doch nur insoweit, als er die Strukturen dieses romanesken Diskurstyps negativ verfremdend inszeniert.521 Ein großer Teil des Textes – das rahmengebende Reisegeschehen wie auch die respektiven Liebesgeschichten von Herr und Knecht – lässt sich dementsprechend als Nichterfüllungsszenario einer idealisierenden Vertextungsästhetik lesen. Ich möchte zunächst beim ersten Teil der Aussage bleiben: Jacques le fataliste als Parodie offenbart, dass der Text von einem traditionellen romanesken Diskurstyp determiniert wird. Auch wenn dieser Umstand im Verlauf des Textes nicht explizit erwähnt wird, so gibt es doch viele Textstellen, die eine grundsätzliche Aussage zur Intertextualität beinhalten. Insbesondere jene Szene veranschaulicht dies, in der die Erzählerfigur gegenüber der Leserfigur auf Ereignisse Bezug nimmt, die sich zwischen einem Herbergswirt und einem Bauern abspielen. Jacques und sein Herr sind Zeugen dieser Ereignisse der Reise: „Je vous entends, Lecteur, voilà, dites-vous, le vrai dénouement du Bourru bienfaisant.“522 Im Fol520 Ist unter der Entwertung das Aufdecken von Illusionsmustern eines traditionellen romanesken Diskurstyps zu verstehen, so meint die Umwertung das Dekuvrieren eigentextueller Fiktionsmechanismen. 521 Auch Schwalm weist allgemein darauf hin, dass es eine enge Verbindung zwischen Selbstreflexivität und Parodie im Roman gibt. Denn nur über die parodistische Aufnahme und Verfremdung von Prätexten kann ein Roman jeweils seine Eingebundenheit in die historische Tradition vorführen. Sie argumentiert hier wie Wolf, wenn sie die „metafictional parody“ als eine Textart ausweist, die die Tradition als Bestand eigener Semantik markiert. Helga Schwalm, Dekonstruktion im Roman. Erzähltechnische Verfahren und Selbstreflexion in den Romanen von Vladimir Dabokov und Samuel Beckett, Winter, Heidelberg 1991, S. 94. 522 DPV, Bd. 23, S. 117.
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genden führt der Erzähler explizit aus, wie er Goldonis Stück gestaltet hätte,523 wäre er der Autor dieses Textes gewesen. Im Kern sieht er dabei die Einführung einer Figur vor, die dieselbe Rolle innehat wie der Bauer in der Begegnung mit dem Wirt.524 Insofern zeigt sich, dass das vom Erzähler imaginativ umgeschriebene Goldoni-Stück nichts anderes als eine Adaptation der Wirt-Bauer-Szene darstellt. In ungewohnter Analytikerhaltung bemerkt der fiktive Leser, dass ein derartiger Abschluss des Goldoni-Stückes eine ästhetisch ansprechendere Schlusskonstellation offenbare. Diese Erkenntnis ruft einen kühnen Entschluss in der Leserfigur hervor: „Et si je rencontre jamais M. Goldoni, je lui réciterai la scène de l’auberge.“525 Tatsächlich führt das geschilderte Zusammenspiel von Ereignissen auf der intradiegetischen Geschichtsebene und Kommentaren auf der extradiegetischen Diskursebene die Inszenierung literarischer Interaktion vor. Der metafiktionale Kommentar der Erzählerfigur gibt dies selbstverständlich nicht ausdrücklich zu verstehen, wird die von Jacques und seinem Herrn erlebte Wirt-Bauer-Geschichte doch als tatsächlich erlebtes Ereignis und nicht als Erzählerfiktion ausgegeben. Folglich ist die Erzählerfigur in der Rolle des Chronisten zu erleben, der die Erlebnisse der Protagonisten lediglich wiedergibt. Wie es der Zufall will, stellen gerade diese Erlebnisse einen vermeintlich gelungeneren Abschluss von Goldonis Text dar, was der Erzähler in seiner umsichtigen Art nicht nur hervorhebt, sondern auch noch praktisch am Text Goldonis vorführt. Diese Stilisierung des Erzählers als unbeteiligter literarischer Ratgeber, den das ‚wahre Leben‘ zu diesem Tun inspiriert hat, ist der Gipfel einer alle tatsächlichen Verhältnisse verkehrenden ironischen Inszenierung. Dementsprechend ist die Romanstelle zu lesen: Der Kommentar des Erzählers, „Je vous entends, Lecteur, voilà, dites-vous, le vrai dénouement du Bourru bienfaisant“,526 fungiert als explizit metafiktionaler Hinweis auf Goldoni als eigentliche Inspirationsquelle der Wirt-Bauer-Szene, wobei besagte Szene eine Transformation von Goldonis Vorgabe ist. Diese Differenz im Detail deutlich zu machen, ist in dieser Lesart Funktion der expliziten Adaptationsphantasie der Erzählerfigur. Sie belegt, in welcher Weise der Text über die Referenz hinausgeht. Das Zusammenspiel dieser Textelemente scheint mir indes als impliziter struktureller Verweis auf ein zu rekonstruierendes Autorbewusstsein lesbar zu 523 Dass es sich beim Bourru bienfaisant um ein Stück Goldonis handelt, darüber klärt im Verlauf des Gesprächs die ausnahmsweise gut instruierte Leserfigur auf. 524 Die Szene mit dem Wirt lässt sich wie folgt zusammenfassen: Ein Bauer verschuldet sich zusehends bei dem Herbergswirt, um sich mit seinem kleinen Pachtbetrieb über Wasser zu halten. Als er sich erneut beim Wirt Geld beschaffen möchte, verweigert es ihm dieser kategorisch. Der Bauer schildert zu seiner Ehrenrettung die Verfahrenheit seiner Situation, wobei der scheinbar hartherzige Wirt plötzlich eine emotionale Kehrtwende vollzieht. In einem großen Tränenfinale löst sich die ganze Situation zur allgemeinen Zufriedenheit. Der gerührte Wirt entschuldigt sich bei dem gekränkten Bauern, dessen Schulden er darüber hinaus zu bezahlen gedenkt. 525 Ebd., S. 118. 526 Ebd., S. 117.
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sein, das entgegen der konjunktivischen „si j’en avais été l’auteur“-Signalhaltung der Erzählerfigur die Goldoni-Rezeption in die literarische Form der Wirt-BauerSzene überführt und zugleich transformiert hat. Das geschilderte Zusammenspiel von Wirt-Bauer-Szene und ihrer Adaptation durch die Erzählerfigur lässt sich deshalb als funktionale Inszenierung der Intertextualität auffassen, wie sie das leserseitig zu rekonstruierende Autorbewusstsein des Textes als tatsächlich geschehen kommuniziert. Vor dem Hintergrund der Anschuldigung, Diderot habe in seinem Stück Le Père de famille (1758) ein anderes Goldoni-Werk, Le vrai ami, plagiiert, erhält diese Inszenierung ein besonderes Sinnstiftungspotenzial. Es geht schließlich gerade nicht darum, die Plagiatsanschuldigung durch nachträgliche Besserwisserei bzw. durch die Entwertung der Arbeit Goldonis wettzumachen,527 sondern um eine grundsätzliche Stellungnahme zum vermeintlichen literarischen Plagiat. Als Notwendigkeit der Vertextungspraxis, wie sie das textuell implizierte Autorbewusstsein zu artikulieren scheint, wird hier der gezielte Rückgriff auf literarische Vorgängertexte dargestellt, wobei sie in dem Maße, wie sie aufgenommen werden, auch transformiert werden. Dabei ist das angebliche Plagiat nur Grundlage der Umformung und Erweiterung eines literarischen Stoffes, wie die Inszenierung der Intertextualität zeigt. Der Vertextungsprozess ist folglich in erster Linie als literarische Interaktion aufzufassen, – eine grundlegende autoreflexive Aussage – die in Jacques le fataliste auch noch an anderen Stellen mehr oder weniger explizit thematisiert wird.528 Überträgt man das hier veranschaulichte Intertextualitätsprinzip von Übernahme und gleichzeitiger Umformung auf den parodistischen Umgang des Textes mit der parodierten Gattung, so lässt sich behaupten, dass es in diesem Zusammenhang zu seiner radikalsten Anwendung kommt. Einerseits strukturiert die vermeintliche Nachahmung bzw. die beständige Evokation von Strukturen der parodierten Gattung den Text, doch findet gleichzeitig eine beständige Transformation der Referenz statt, da die Differenz zur parodierten Gattung und damit die 527 Diesen Standpunkt vertritt Yvon Belaval, der die Plagiatsanschuldigung aufgebracht hat. Vgl. Yvon Belaval, „Notes“, in: Diderot, Jacques le fataliste et son maître, hg. v.Yvon Belaval, Gallimard, Paris 1974, S. 355. 528 Stellvertretend für dieses Intertextualitätsverständnis sei hier auch noch die explizite Bezugnahme auf Sternes Tristram Shandy angeführt: „Voici le second paragraphe copié de la vie de Tristram Shandy, à moins que l’entretien de Jacques le fataliste et de son maître ne soit antérieur à cet ouvrage et que le ministre Sterne ne soit le plagiaire, ce que je ne crois pas […].“ DPV, Bd. 23, S. 289. Auf das gesamte Netzwerk der intertextuellen Bezüge, die Jacques le fataliste mitkonstituieren, und vor allem auf ihre spezifischen Funktionen kann hier nicht systematisch eingegangen werden. Die expliziten Verweise auf den Don Quijote Cervantes’ sowie auf Rabelais’ Werk (vgl. etwa die mit der „gourde de Jacques“ vorgenommenen Anspielungen auf die „dive bouteille“ des Quart livre und Cinquième livre, ebd., S. 231 ff.) möchte ich nochmals in dem Sinne hervorheben, dass Diderot seinen Text dezidiert in die Tradition prominenter Antiromane stellt. Im Falle des Don Quijote ist der Bezug so textkonstituierend, dass Cronk von Jacques le fataliste als einem „roman quichotisé“ spricht. Vgl. Cronk, „Un roman quichotisé“, in: Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie, 23 (1997), S. 69 und 77. Dirscherl interpretiert Jacques le fataliste als Parodie der Parodie Don Quijote. Vgl. Dirscherl, Der Roman der Philosophen, S. 144 ff.?
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Originalität des vorliegenden Textes in Abhängigkeit von einem traditionellen romanesken Diskurstyp durch eine ausgeprägte Nichterfüllungsstruktur evident gemacht wird.529 Das Paradox dieser Nichterfüllung liegt darin begründet, dass der Text die Bestimmtheit durch Strukturen eines traditionellen romanesken Diskurstyps transparent macht, wodurch seine Eigenbestimmtheit im Sinne von selbstgesetzter Eigentextualität erst ermöglicht wird. Damit kann als erster Schritt des ästhetischen Umwertungsprozesses eine Bejahung der Bestimmtheit durch einen traditionellen romanesken Diskurstyp festgehalten werden, die sich als notwendige Voraussetzung einer in transformativer Differenz begründeten Eigenbestimmtheit erweist. In Analogie zu dieser vorläufig angenommenen selbstreflexiven vérité de l’histoire kann ein erster Umwertungsschritt im Hinblick auf den Determinismusbegriff abgeleitet werden. Die aus der Entwertung der parodierten Gattung deduzierbare Begriffskritik sieht die vollständige Verwerfung einer fatalistischen Weltanschauung vor, der zufolge vorgeblich kontingente Vorfälle sich letztlich zu einer immer schon feststehenden providenziellen Geschichte fügen. Dagegen liegt dem aus der ästhetischen Umwertung ableitbaren Determinismusbegriff das Bild der Entstehung einer Erzählwelt zugrunde, die die vorgeschriebene Schicksalswelt ersetzt. Darunter ist die selbstreflexive Vertextungsästhetik zu verstehen, die die Konstitution des eigenen Textes transparent macht. Anstelle einer unreflektierten Ästhetik, die die Illusion einer schon vorgeschriebenen Geschichte und ihres Sinnes transportiert, wird hier eine Ästhetik entworfen, die die Entstehung von Bedeutung aus dem ihm Heterogenen sichtbar macht.530 Da die Vertextung nicht voraussetzungslos ist, lässt sich analog zur ästhetischen Entstehung ein vorläufiger ideologischer Determinismusbegriff skizzieren, dem zufolge die Geschichte und die in die Geschichte eingeschriebenen Handlungen kausal determiniert sind. Insofern wird hier unter Tilgung der spinozistischen Substanzlehre531 an den Aspekt des kausalen Determinismus in Spinozas Lehre bzw. an den materialistischen
529 Zu dem Schluss, dass in Jacques le fataliste das Zitat anderer Texte eine neue Textualität begründet, weil jener neu entstandene Text zugleich seine Differenz zur Referenz affirmiert, kommt auch Marie-Hélène Chabut. Sie macht dies punktuell an der explizit intertextuellen Beziehung zu Sternes Tristram Shandy fest. Ihre dezidiert poststrukturalistische Lesart führt sie dann zu dem Ergebnis, dass sich der metadiskursive Text vor allem einer vereindeutigenden Sinnzuschreibung verweigert. Damit liegt sie sicher richtig, aber sie unterlässt es, eine historische Funktionalisierung der selbstreflexiven Ästhetik vorzunehmen, die meines Erachtens nur philosophischer Natur sein kann. Vgl. Chabut, „Jacques le fataliste: relativisation d’une performance parodique et métadiscursive“, S. 253–269. 530 Diese Art von selbstreflexiver Literatur meint Julia Kristeva, wenn sie von écriture, vom Prozess oder von der Arbeit des Schreibens spricht. Vgl. Inge Suchsland, Julia Kristeva zur Einführung, Junius, Hamburg 1992, S. 64. 531 Es sei daran erinnert, dass der Substanzbegriff Spinozas, so wie er in Jacques le fataliste dargestellt wird, fatalistischer Natur ist. Denn die Kausalkette wird letztlich von einer göttlichen Substanz determiniert.
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Determinismus angeschlossen.532 Denn die Phänomene werden lediglich auf die sie unmittelbar bedingenden Ursachen zurückgeführt. Gerade so, wie sich analog dazu der selbstreflexive Roman nicht als voraussetzungsloser und für sich stehender Text, sondern als ein in ein Netz der Vorgängertexte eingeschriebener Antiroman offenbart. Einzuwenden wäre hier freilich, dass der Autor letztlich die lite532 In diesem Zusammenhang vertritt Campion die auf dem Analogieprinzip beruhende These, wonach Diderot über die Reflexivität des Narrationsprozesses eine spinozistische Philosophie vermittle. Campion spricht de facto weder von Analogie noch von der Selbstreflexivität des Erzählens, sondern von dem „conatus de la narration“. Im Einzelnen versteht er darunter die sich in der Veranschaulichung des literarischen Produktionsaktes spiegelnde Theorie Spinozas, der zufolge jeder Gegenstand danach trachte, in seinem Sein fortzuexistieren („persévérer dans son être“). Dabei offenbare sich in jeglichem Gegenstand die Spannung und die produktive Natur der Substanz („sa nature essentiellement narrative“). So sei auch der zur Schau gestellte literarische Produktionsakt Ausdruck eines „conatus“. Allerdings eines auf den literarischen Produzenten zurückführbaren Schaffensaktes, der sich als kausale Verkettung von Ereignissen darstelle. Insofern verweise er seinerseits auf den spinozistischen Determinismus. Campion, „Diderot et le conatus de la narration, S. 63–76. Auch Behrens schreibt Jacques le fataliste die Vermittlung eines neu modellierten Determinismus zu. Dabei geht er allerdings nicht von einem qua selbstreflexiver Ästhetik vermittelten, sondern von einem direkt in der Figurenwelt veranschaulichten kausalen Determinismus aus. Anhand einzelner Episoden, wie der Szene mit dem vermeintlichen Leichenwagen von Jacques’ Hauptmann, versucht er diese Ansicht zu belegen. Vgl. Behrens, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz, S. 353. In Anlehnung an J. Robert Loys altbekannte Studie (Diderot’s Determined Fatalist. A Critical Appreciation of Jacques le fataliste, King’s Crown Press, New York 1950) stellt Bailey die drei im Text behandelten Ideologien, den Fatalismus, den freien Willen und den Determinismus, als Mittelweg zwischen Fatalismus und freiem Willen, vor. Eine weitere Möglichkeit, die ihrer Ansicht nach im Text verhandelt wird, ist eine Art Chaos-Theorie. Die sieht sie dahingehend umgesetzt, dass ausgehend von einem banalen Effekt wie der Knieverwundung Jacques’ alles darauf folgende Geschehen eine jeweils kausal kohärente Fortsetzung darstelle, wobei alles als Möglichkeit eingeschlossen werde. Grundsätzlich lassen sich für Bailey vor diesem Hintergrund sämtliche Geschichten integrieren, weil sie jeweils eine der genannten Ideologien veranschaulichten. Dementsprechend kommt sie zu dem Schluss, dass Diderots Text keine der genannten Ideologien favorisiere, sondern am ehesten eine Mischung aus allen propagiere. Auf die Art des Mischungsverhältnisses aber geht sie nicht ein. Vgl. Bailey, „Jacques le fataliste, Chaos, and the Free Will Debate“, S. 51–63. Auch Conroy geht davon aus, dass Determinismus und Freiheit in ein ausgeglichenes Verhältnis gebracht werden. Grundlage seiner Interpretation ist allein das Verhältnis von Erzähler- und Leserfigur, wobei er in drastischer Verkennung ihrer Funktionalität zu willkürlich anmutenden Rollenzuschreibungen kommt. So charakterisiert er den Erzähler in Analogie zum Herrn als determinierten Fatalisten, während er im Hinblick auf einen freiheitlichen Habitus die Leserfigur und Jacques miteinander assoziiert. Die Unhaltbarkeit dieser Annahme lässt sich angesichts einer konsequenten Einrückung von Leser- und Erzählerfigur in den Gesamtkontext leicht nachvollziehen. Vgl. Peter V. Conroy, „Jacques’s Fatal Freedom“ , in: Eighteenth-Century Fiction, 4 (1990), S. 309–326. Was für Conroy gilt, ist eine in vielen Aufsätzen zu Jacques le fataliste auszumachende Tendenz. Aufgrund der vermeintlichen Unverbundenheit bzw. Offenheit des Textes werden häufig einzelne Textelemente als Ausdruck für allgemeingültige Thesen überstrapaziert. Diese Thesen werden mit anderen ästhetischen Teilaspekten von Jacques le fataliste nicht abgeglichen, sodass mitunter der Eindruck willkürlichen Interpretierens entsteht. Übergreifende Untersuchungen der Textästhetik und ihrer möglichen historischen Funktionalisierungen stellen daher die Ausnahme dar.
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rarischen Vorgängertexte, von denen er sich kontrastiv abwendet, wie auch die Prätexte, in deren Traditionslinie er den Roman stellt, gezielt auswählt. Dieses Argument verfängt allerdings nicht, da der Tatbestand der prinzipiellen Unhintergehbarkeit von Traditionsfortschreibung und Traditionsbruch unabhängig von bewusst gewählten einzelnen Bezugstexten ungebrochen bleibt. Insofern lässt sich das selbstreflexiv vermittelte Axiom notwendiger Determination des Textes durch Vorgängertexte aufrechterhalten. Was im selbstreflexiven Umwertungsprozess allerdings auch schon anklingt, ist eine die reine Determination durch andere Texte transzendierende Originalität des eigenen Textes. Im Hinblick auf den ideologischen Determinismusbegriff lässt sich somit bereits mutmaßen, dass es nicht bei der kausalen Determination der Geschichte und der in sie eingeschriebenen Handlungen bleibt, sondern dass es darüber hinausgehend selbstbestimmte Handlungsanteile gibt. Jedenfalls lässt sich das vor dem Hintergrund der Problematisierung und Transzendierung des deterministischen Materialismus im Rêve de d’Alembert begründet annehmen. Im Rahmen des erkenntnistheoretischen Entwurfes im Rêve de d’Alembert wurde gezeigt, dass ein strikter mechanischer Determinismus den Erkenntnisprozess auf den passiven Empfindungsvorgang reduzieren würde, wobei jedwede Form der Eigenmächtigkeit aus der Erkenntnistheorie getilgt wäre. Die Konsequenzen, und damit die Integration der Imagination als apriorischem Erkenntnisvermögen in die Erkenntnistheorie, sind aufgezeigt worden. Es ist daher nahe liegend, in der Qualität des kausalen Determinismus, wie er in Jacques le fataliste präsentiert wird, eine ähnliche Problematik wie im Falle des erkenntnistheoretischen Materialismus zu sehen und folglich auch von analogen Lösungsmustern auszugehen. Denn hier wie dort sind die Konsequenzen identisch: Ob in Bezug auf das Denken oder das Handeln, die Tilgung der Eigenmächtigkeit führt letztlich zu dem Erfahrungswiderspruch einer de facto existierenden anthropologischen Konstante, der Urteilskraft.533 Dieses Bewusstsein transportiert der Text bereits in seiner Lust am komischen Widerspruch, wenn er Jacques’ Urteilsvermögen wider seine fatalistische Theorie pointiert in Stellung bringt.
III.4.2.1.2 Affirmation der eigenbestimmten Setzung des Textes In der Logik eines auf dem Intertextualitätsprinzip beruhenden Textes ist die Übernahme einer Textstruktur mit ihrer Umformung gleichzusetzen. Dieser Transformationsprozess ist im Falle parodistischen Erzählens – einer Sonderform der Intertextualität – besonders stark ausgeprägt, weil die vermeintlich übernommenen Strukturen negativ inszeniert werden. Anders gewendet, mit der Affirmation der Bestimmtheit des Textes durch einen traditionellen romanesken Diskurstyp 533 Vgl. dazu auch Anne Beate Maurseth, die den Fatalismus – sie verwendet den Begriff des Determinismus nicht, weil er erst Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich aufkommt – als monistischen Materialismus ausweist, weil beiden Doktrinen gleichermaßen die Dimension eigenständiger Schaffenskraft abgeht. Maurseth, L’analogie du probable, S. 151 u. 153.
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geht die Affirmation der Selbstgesetztheit des Textes einher. Am deutlichsten lässt sich diese Gleichzeitigkeit an der Vermittlungsqualität der Erzählerfigur veranschaulichen. Sie wird ostentativ als eine die Ereignisse von Jacques und seinem Herrn vermittelnde ‚Chronistenpersönlichkeit‘ stilisiert, die nur berichtet, was ihr gleichsam vom Zufall, dem Erfüllungsgehilfen eines allgewaltigen Schicksals, aufgegeben wird. Diese Stilisierung hat in parodistischer Hinsicht grundsätzlich die Funktion, die Textstruktur des traditionellen romanesken Diskurstyps zu evozieren, um zugleich eine ironische Distanz herzustellen. Im Falle der bereits angeführten Szene, in der Jacques in Gegenwart seines Herrn bezüglich seines Unterbrochenwerdens spekuliert: „Oui, et je gage que c’est quelque chose qui ne voudra pas que je continue mon histoire, ni que vous ne commenciez la vôtre…“,534 ist es schließlich der im Kontext ironische Erzählerkommentar „Jacques avait raison“,535 der den Leser implizit darauf hinweist, den providenziellen Zufall als Strukturmerkmal der Referenzgattung einzuordnen und zugleich von der damit verbundenen Illusion einer providenziell gefügten Geschichte Abstand zu nehmen, die der vermeintlich ehrliche Erzähler-Chronist lediglich nach bestem Wissen und Gewissen vermittelt. In parodistischer Lesart ist es tatsächlich der als Autor stilisierte fiktive Erzähler, der in besagtem Fall den Leichenzug ins Bild setzt, der wiederum Jacques’ Ausführungen unterbricht. Anders ausgedrückt, wenn es kein geschichtskonstituierendes Schicksal gibt, so kann es letztlich nur der lügenhafte Autor der idealisierenden Romantradition selbst sein, der tatsächlich Hand an die Geschichte anlegt. Im Sinne selbstreflexiver Umwertung manifestiert sich über das parodistische Aussagegefüge hinausgehend zugleich eine entscheidende Vertextungsrealität des Romans Jacques le fataliste. Denn in dem Maße wie die Erzählerfigur ihre die Geschichte zusammensetzende Allmacht durch ironische Hinweise oder explizit metafiktionale Kommentare signalisiert,536 wird der Text als selbstgesetzte Textualität markiert. Diese an der Erzählerfigur festgemachte Affirmation eigenmächtiger Textsetzung wird darüber hinaus von regelrechten Inszenierungen zum Thema der Selbstbestimmtheit flankiert. Es kommt hierbei zu einem Zusammenspiel von Geschichten unterschiedlicher Geschichtsebenen und Kommentaren unterschiedlicher Diskursebenen, die inhaltlich zunächst nicht miteinander verrechenbar sind. Deshalb entsteht der Eindruck ihrer willkürlichen Aneinanderreihung. Bei der Betrachtung dieser willkürlich erscheinenden Aneinanderreihung soll die Frage im Mittelpunkt stehen, ob die an der Erzählerfigur festgemachte Vermittlungsqualität noch eingehender reflektiert wird bzw. ob es weiterführende selbstreflexive Textaussagen zum Vermittlungsstatus des Erzählten gibt. Zunächst werde ich in chronologischer Folge die Geschichten und Episoden vorstellen, die für die soeben erwähnte Inszenierung relevant sind:
534 DPV, Bd. 23, S. 65. 535 Ebd. 536 Darunter fallen die immer wieder vorgetragenen Erzähleranmerkungen, in denen er sich an die Leserfigur wendet und sich als Herr der vermittelten Konstellationen ausgibt. In diesem Sinne erzählt er lediglich, was er für richtig hält. Vgl. dazu ebd., S. 24 f. oder S. 252 f.
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1. Auf metadiegetischer Ebene: Die von Jacques im Rahmen seiner Liebesgeschichte erzählte Episode vom ‚zerbrochenen Krug‘.537 2. Auf intradiegetischer Ebene: Die von der Erzählerinstanz vermittelte Geschichte von ‚Gousse und seiner Geliebten‘.538 3. Auf intradiegetischer Ebene: Das von der Erzählerinstanz wiedergegebene Reisegeschehen.539 Die Episode vom ‚zerbrochenen Krug‘ ist ein Rührstück empfindsamer Machart, das Jacques so lebensnah zu vermitteln versteht, dass sein Herr den Eindruck gewinnt, das Geschehen spiele sich geradezu vor seinen Augen ab: Jacques, der sich aufgrund seiner Knieverletzung in der Obhut eines Chirurgenehepaares befindet, beschließt, einen Ausflug in das nahe gelegene Dorf zu machen. Dort wird er Zeuge des Missgeschicks einer Bediensteten. Sie hat versehentlich ihren teuren Ölkrug fallen lassen und beklagt ihr Schicksal, weil sie das Geld für einen neuen nicht aufbringen kann. Jacques hat so großes Mitleid mit der armen Frau, dass er ihr spontan nahezu sein ganzes Geld schenkt, um den Schaden zu beheben. Als er schließlich den Heimweg antritt, wird er, noch während er über die Dummheit seiner Freizügigkeit nachdenkt, von Straßenräubern überfallen, die Zeugen seiner großmütigen Tat gewesen sein müssen. Als sie feststellen, dass Jacques kaum mehr Geld bei sich hat, überlegen sie, im Ärger über die schlechte Ausbeute, ihn umzubringen. Er kommt nur deshalb unversehrt davon, weil die Bande von einem verdächtigen Lärm aufgescheucht wird. Zerschunden und mit großen Schmerzen im Knie trifft er schließlich wieder bei seinen Gastleuten ein. Der Herr ist angesichts der Schilderung voller Anteilnahme, doch schlägt sie umgehend in eine zornige Erregung um, der er in einer Tirade freien Lauf lässt: „Dis-moi comment celui qui a écrit le grand rouleau a pu écrire que telle serait la récompense d’une action généreuse.“540 Der Erregungsausbruch lässt sich auf die zentrale Frage zuspitzen: Warum Handeln und noch dazu gut Handeln, wenn das göttliche Schicksal ohnehin nicht nach individueller Handlungsbefähigung und -qualität fragt, sondern nach seinen eigenen Gesetzen verfährt? Die einzige Konsequenz, die der Mensch aus diesem Dilemma ziehen könnte, wäre, wie Jacques es formuliert: „de me moquer de tout.“ Doch ist diese Form fatalistischer Indifferenz angesichts der den Menschen umtreibenden Affekte nicht durchzuhalten, wie Jacques abschließend einräumt: „Ah! Si j’avais pu y réussir.“541 Somit steht die Frage im Raum, welchen Sinn individuelles Reaktionsvermögen und darüber hinaus engagiertes und selbstständiges Handeln angesichts einer alles bestimmenden Providenz macht.
537 538 539 540 541
Vgl. ebd., S. 97 f. Vgl. ebd., S. 101 ff. Vgl. ebd., S. 103 f. Ebd., S. 99. Ebd., S. 100.
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Darauf folgt scheinbar unmotivert die vom fiktiven Erzähler vorgetragene Digression über ‚Gousse und seine Geliebte‘. In dieser kurzen Geschichte geht es um die Frage, wie es Gousse gelingen konnte, sich selbst ins Gefängnis zu bringen. Der Schlüssel zur Lösung des Rätsels liegt bei einer Frau, in die sich Gousse verliebt hat. Sie ist seine Bedienstete, und um ein neues Leben mit ihr anzufangen, ist er bereit, seine Ehefrau zu verlassen. Dem Unternehmen steht lediglich ein Geldproblem im Wege, denn Gousse hat all seine Mittel in Möbel, Maschinen und andere Gegenstände investiert. Aber auch dieser Umstand kann ihn nicht von seinem Vorhaben abbringen. Umgehend stellt er Schuldscheine auf den Namen seiner Geliebten aus. Die wiederum soll, so sieht es sein Plan vor, seine Habe pfänden lassen und die Ware anschließend verkaufen. Die Geliebte zieht es indes vor, ihn selbst für die Schulden haftbar zu machen und auf die Pfändung der Gegenstände zu verzichten. Damit ist geklärt, wie es Gousse gelungen ist, sich selbst ins Gefängnis zu befördern. Vor dem Hintergrund der ungelösten Frage nach dem Stellenwert individuellen Handelns in einer vom Schicksal regierten Welt erweist sich die GousseGeschichte als inszenierte Beantwortung des Problems. Auf die gezielte Anbindung besagter Geschichte an das vorangegangene Geschehen verweist bereits der Einleitungskommentar des Erzählers. Dementsprechend wird dem fiktiven Leser provokativ die scheinbare Willkür der folgenden Ausführungen in Aussicht gestellt: Lecteur, si je faisais ici une pause, et que je reprisse l’histoire de l’homme à une seule chemise parce qu’il n’avait qu’un corps à la fois, je voudrais bien savoir ce que vous en penseriez? Que je me suis fourré dans une impasse à la Voltaire ou vulgairement dans un cul-desac, d’où je ne sais comment sortir […].542
Der ironischen Lenkungsstrategie entsprechend erweist sich schließlich die Verhaltensweise des „homme à une seule chemise“ alias Gousse als inszenierte Antwort auf die aus dem vorangegangenen Geschehen ableitbare Frage. Gousse ist dem Leser bereits aus einer anderen eingelegten Geschichte der Erzählerfigur als Mann ohne Prinzipien bekannt.543 Diesem Bild entspricht er auch als Mann, der seine Frau zugunsten einer Geliebten verlässt und sein Hab und Gut verpfändet, weil er Geld benötigt. Zugleich ist er ein rationaler Mensch, der sich mit dem Zeichnen geometrischer Figuren beschäftigt, wie der Erzähler zu berichten weiß. Ein solches Original, das seiner Außenwelt ohne moralische Voreingenommenheit begegnet und an die Grenzen des Machbaren geht, ist in der Lage, eine Welt, die vermeintlich von der Providenz regiert wird, aus den Angeln zu heben. Dementsprechend nimmt Gousse sein Schicksal rücksichtslos in die Hand. Dass es in dieser Geschichte nicht um die moralische Frage geht, ob Gousse gut oder schlecht handelt, belegt die absurde Schlusspointe. Die Geliebte, die mindestens ebenso amoralisch wie Gousse ist, besiegelt sein vorläufiges Schicksal, weil sie, wie er selbst, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen versteht. Die Ge-
542 Ebd., S. 101. 543 Ebd., S. 82.
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schichte von Gousse ist folglich das inszenierte Plädoyer für die grundsätzliche Handlungsbefähigung des Einzelnen, wobei sich Gousses Schicksal als das Ergebnis des Zusammenspiels selbstbestimmter Handlungen erweist. Die Frage nach dem Sinn individuellen Reagierens und darüber hinaus selbsttätigen Handelns, die das Dilemma der vorausgegangenen Geschichte Jacques’ zusammenfasst, wird dadurch beantwortet, dass die Gousse-Geschichte zunächst die Ursache des Dilemmas außer Kraft setzt. In einer Geschichtswelt, die von dem Vorurteil eines alles bestimmenden grand rouleau beherrscht wird, gibt es verständlicherweise Probleme mit dem Sinn eigenständigen Handelns. Dagegen stellt sich die Sinnfrage in einer Geschichtswelt, die dieses Vorurteil aufgrund der Verfasstheit ihrer Protagonisten außer Kraft setzt, ganz anders. In diesem Kontext ist selbstbestimmtes Handeln nicht nur sinnvoll, sondern notwendig, weil es Grundlage für die Fortschreibung der Geschichte ist. Es sind folglich die vorurteilslosen Handlungen der Protagonisten, die die Geschichte konstituieren und nicht die Vorgaben eines vermeintlichen Schicksals. Der Protagonist Gousse darf nicht am Maßstab der Wirklichkeit gemessen werden. Als amoralisches Demonstrationsobjekt selbstbestimmten Handelns ist Gousse eine überzeichnete Kunstfigur.544 Dabei ist nicht von Belang, ob es in der Wirklichkeit tatsächlich jemanden gegeben hat, an den die Figur aus der Geschichte angelehnt ist.545 Denn im Text ist Gousse kein Original, das aufgrund exemplarisch menschlicher Wesenszüge besticht. Vielmehr ist er originelle Kunstfigur, die eigens zum Zwecke der Veranschaulichung selbstbestimmten Handelns geschaffen ist. Dementsprechend verlässt er ohne moralische Bedenken und wird seinerseits ebenso bedenkenlos verlassen, sodass insbesondere das Prinzip eigenwilliger Bestimmung zur Anschauung kommt. Auf die Inszenierung folgt ein Rückschwenk auf das von der Erzählerinstanz vermittelte Reisegeschehen. Der Erzähler berichtet davon, dass Jacques und sein Herr zu später Stunde in eine Herberge einkehren und geht dann genauer auf die Verhältnisse vor Ort ein: Là j’entends un vacarme… – Vous entendez! Vous n’y étiez pas, il ne s’agit pas de vous. – Il est vrai. Eh bien! Jacques, son maître… On entend un vacarme effroyable. Je vois deux hommes… –Vous ne voyez rien, il ne s’agit pas de vous, vous n’y étiez pas – Il est vrai. Il y
544 Groh macht ihr Verständnis von Überzeichnung am Beispiel der von Jacques erzählten Geschichte der beiden Hauptleute (ebd., S. 78 ff.) deutlich. In deren bizarrer Überzeichnung sieht sie das Stilmittel einer exemplarischen Zuspitzung der Wirklichkeit: „Mag es auch diese beiden Hauptleute nicht gegeben haben, es gibt aber Leute ihrer Art.“ Vgl. Groh, Ironie und Moral, S. 103. Insofern liegt auch ihrem Konzept der Übertreibung die Annahme eines für Jacques le fataliste gültigen Mimesis-Prinzips zugrunde, das allerdings im Vergleich zu Köhlers Ansatz gänzlich neu bestimmt ist. Demgemäß sieht sie in der gezielt übertriebenen Szene der beiden Hauptleute eine Veranschaulichung des Wesens der Freundschaft. Im Unterschied zu Köhler geht sie nicht davon aus, dass sich in den eingeschobenen Geschichten, wie der der beiden Hauptleute, die unanfechtbare Wahrheit des tatsächlich Geschehenen manifestiere, die sich gegen die künstliche Wahrheit der parodistischen Textteile abhebe. Vgl. Köhler, „Est-ce que l’on sait où l’on va?“, S. 143. 545 Tatsächlich gab es im Bekanntenkreis Diderots einen Gousse. Vgl. dazu Groh, Ironie und Moral, S. 103.
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avait deux hommes à table causant assez tranquillement à la porte de la chambre qu’ils occupaient […].546
Der fiktive Erzähler begeht scheinbar die Unachtsamkeit, in der ersten Person Singular anstatt in der dritten Person Plural von den Ereignissen der Reise zu erzählen. Das führt de facto zur Auslassung einer Vermittlungsebene bzw. zum Eindringen des Erzählers in die intradiegetische Reisegeschichte, sodass sich von einer Metalepse sprechen lässt,547 die zunächst die Illusion einer von Jacques und seinem Herrn tatsächlich erlebten Geschichte empfindlich stört, wie die Leserfigur zu verstehen gibt. Darüber hinaus signalisiert die Metalepse, auf die mittels des affichierten Ärgers der Leserfigur explizit hingewiesen wird, eine inszenierte Störung der Vermittlungsillusion, die wiederum selbstreflexiv die eigentliche Qualität der Vermittlung indiziert. Denn jenseits der dem parodistischen Spiel geschuldeten Autorrolle, die der Erzählerfigur zuweilen im Text zugewiesen ist,548 verweist die implizite Autoritätsbekundung des fiktiven Erzählers analog zur Auslassung der Vermittlung der Liebesgeschichte durch Jacques auf jene Autorität, die tatsächlich für die Liebesgeschichte Jacques’ und darüber hinaus für den gesamten Text verantwortlich zeichnet. Mit anderen Worten, der selbstreflexive Vorgang des Dekuvrierens der Vermittlungsillusion lässt sich als Hinweis auf die prinzipielle Abhängigkeit jedweden Textteils von dem leserseitig zu rekonstruierenden Autorbewusstsein interpretieren, kann doch strukturell auch der als Autorfigur dargestellte Erzähler als Vermittlungsinstanz hintergangen werden. Wird die Metalepse mit ihrem impliziten Verweisungspotenzial ihrerseits in den Kontext der vorausgegangenen Geschichten, insbesondere der von Gousse, eingerückt, gerät sie zu einer auf das zu rekonstruierende Autorbewusstsein ausgedehnten Affirmation der Selbstbestimmtheit, hängen doch schlechterdings alle Geschichten von seiner Einbildungskraft ab. Insofern zeichnet es auch für die Geschichte Gousses und die hierbei zum Ausdruck gebrachte Selbstbestimmtheit verantwortlich. Das wiederum bedeutet, die aufeinander beziehbaren Geschichten vom ‚zerbrochenen Krug‘ und von Gousse illustrieren in der Zusammenschau das Phänomen der Selbstbestimmtheit, das zugleich als grundlegende Vertextungsbedingung des vor546 DPV, Bd. 23, S. 104. 547 Zur Definition der Metalepse vgl. Genette, Figures III, S. 244. De Vos kommt in seiner Analyse zu dem Schluss, dass die Metalepsen in Jacques le fataliste in Analogie zu den philosophischen Textinhalten die Unfreiheit der Erzählerinstanz offenbaren. Zugleich aber räumt er ein, dass den Metalepsen ein metafiktionales Potenzial zu Eigen ist, das die Regiefunktion und damit die schöpferische Dimension des Autors hervorhebt. Er führt diesen finalen Hinweis aber leider nicht weiter aus. Wim De Vos, „La narration est-elle un acte libre? La métalepse dans Jacques le fataliste“, in: Les Lettres Romanes, 44 (1990), S. 3–13. 548 Zum Thema der uneinheitlichen Identität der Erzählerfigur findet sich bei Breines die Ansicht, dass der Erzähler einerseits die Rolle eines Autors ausfüllt, der den Text unmittelbar niederschreibt, während er in anderen Zusammenhängen lediglich wiedergibt, was schon niedergeschrieben oder festgehalten ist. Für Breines ist diese ästhetische Anlage Ausdruck von Diderots Beschäftigung mit der Identitätsfrage („unity of the self“), die wiederum an Leibnizʼ diesbezügliche Fragestellungen rückgebunden werden kann. Joseph Breines, “A Trial Against Myself: Identity and Determinism in Diderot’s Jacques le fataliste”, in: Romanic Review, 90 (1999), S. 259 f.
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liegenden Romans aufgedeckt wird. Insofern geht aus dem verifizierbaren Zusammenspiel der Dekuvrierung der selbstbestimmten Setzung des Textes durch das zu rekonstruierende Autorbewusstsein und veranschaulichenden Geschichten unterschiedlicher Ebenen eine unterschwellige Textkohärenz hervor, die auf einem Strukturprinzip des ‚Sagens‘ und ‚Zeigens‘ beruht.549 So gesehen veranschaulichen die angeführten Teilgeschichten das Phänomen der Selbstbestimmtheit (‚Zeigen‘), wobei die Gültigkeit dieses Phänomens für den eigenen Text implizit konstatiert (‚Sagen‘) wird. Im Rahmen des selbstreflexiven Erzählens bzw. ästhetischen Umwertens kann folglich die Affirmation der Selbstgesetztheit des Textes komplementär zur Affirmation der Bestimmtheit durch einen traditionellen romanesken Diskurstyp als grundsätzliche vérité de l’histoire festgehalten werden. Dabei zeigt es sich, dass mit der Affirmation der Selbstgesetztheit des Textes eine Ordnung einhergeht, die Textteile aller Geschichts- und Diskursebenen integriert. In diesem Sinne wird die dem parodistischen Entwertungskontext zuzurechnende Krugszene – es handelt sich dabei um eine Episode der Liebesgeschichte Jacques’ – im Kontext ästhetischer Umwertung zu einer notwendigen Negativ-Inszenierung, die Voraussetzung für die anschließend im Gespräch zwischen Herr und Diener zugespitzte Frage nach der Selbstbestimmtheit ist. Die Gousse-Digression gibt ihrerseits eine in Szene gesetzte Antwort auf eben diese Frage. Das Zusammenspiel dieser Geschichten (Textanteil des ‚Zeigens‘) steht wiederum in Beziehung zu der Gesprächssituation zwischen Erzähler- und Leserfigur (Textanteil des ‚Sagens‘). Hier wird implizit die Selbstgesetztheit des Textes affirmiert. Damit sind sowohl Gesprächssituationen der extradiegetischen als auch der intradiegetischen Diskursebene sowie Geschichten der intradiegetischen histoire-Ebene (Reisegeschehen, Geschichte von Gousse und seiner Geliebten) und der metadiegetischen histoire-Ebene (Geschichte vom ‚zerbrochenen Krug‘ als Episode der Liebesgeschichte) in der beschriebenen Weise miteinander verbunden und auf eine implizite Kohärenzebene angehoben. Aus der bisher beschriebenen ästhetischen Umwertungskonstellation ist, wie soeben erwähnt, eine entscheidende Neubestimmung des vérité de l’histoire- Begriffes ableitbar: Zunächst bestätigt sich, dass wahrheitsgemäßes Erzählen im
549 Wolf verwendet in diesem Zusammenhang das Begriffspaar „telling“ und „showing“, wobei er damit im Detail unterschiedliche metafiktionale Strategien bezeichnet. Von „telling“ spricht er, wenn im Text mehr oder weniger explizit über Fiktion gesprochen wird, während er „showing“ verwendet, wenn sich der Text über Inszenierungen als das zu erkennen gibt, was er ist, mit anderen Worten, wenn er seine Textrealität über Inszenierungen dekuvriert. Vgl. Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung, S. 266 f. Wolfs Begriffe verwende ich hier nicht, weil sie in der modernen Narratologie die Bedeutung des platonischen Begriffspaares Diegesis (telling) und Mimesis (showing) übernommen haben. In Anlehnung an seine Terminologie benutze ich hier die Begriffe ‚Sagen‘ und ‚Zeigen‘ für sich ergänzende Metafiktionsstrategien. Dabei bezeichne ich den Vorgang des mehr oder weniger impliziten Redens über die Vertextungsrealität als ‚Sagen‘ und den Vorgang veranschaulichender Inszenierung des implizit Gesagten als ‚Zeigen‘. Das Zusammenspiel beider Vorgänge soll dementsprechend als Prinzip des ‚Sagens‘ und ‚Zeigens‘ bezeichnet werden.
III.4 Der ideologisch-erkenntnistheoretische Wert des Erzählprozesses
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Kontext ästhetischer Umwertung die Dekuvrierung der eigenen Vertextungsbedingungen meint. Hierbei ist ein Paradoxon auszumachen. Der Text dekuvriert sich notwendigerweise als von einem traditionellen romanesken Diskurstyp bestimmt,550 wobei diese textuelle Determination durch einen spezifischen Diskurstyp zugleich Voraussetzung für die Dekuvrierung der Selbstbestimmtheit des Textes ist.551 Mit anderen Worten, die ästhetische Umwertung stellt die paradoxe Vertextungskonstellation von selbstgesetzter Textualität in Abhängigkeit von einer gleichzeitigen spezifischen Diskurstypbestimmheit als vérité de l’histoire heraus. Diese Vertextungsrealität des Jacques le fataliste impliziert zunächst das poetologische Selbstverständnis eines selbstreflexiv am eigenen Schreiben festgemachten Wahrheitsbegriffes. Das Erzählen an sich ist somit Gegenstand des Erzählens, wobei über den Vertextungsvorgang wahre Aussagen getroffen werden. Dementsprechend kann im Rahmen von Jacques le fataliste auch nicht von einer Fortschreibung mimetischer Vertextungstraditionen die Rede sein, denn die Wirklichkeit ist als Referenzhorizont kein Maßstab für die Qualität bzw. die Authentizität des Erzählten. So ist Jacques le fataliste kein lügenhafter oder schlechter Roman, weil die Figuren oder die geschilderten Situationen den Wahrscheinlichkeitskriterien mimetischen Erzählens nicht entsprechen. Die Konstitutionskriterien für einen Jacques oder einen Gousse und ihrer respektiven histoire-Kontexte sind aber keineswegs willkürlich, sondern in erster Linie an den Erfordernissen der künstlichen Textrealität orientiert. Jacques’ Wesensmerkmale – er ist eine typische Figur des komischen Antiromans – sind zunächst an die parodistischen Erfordernisse angepasst. Erst in einem zweiten Schritt kann die parodistische Textstruktur als Analogon einer Kritik fatalistischer Ideologie bzw. apriorischer Determination individuellen Handelns gelesen werden. Jacques’ Denken in den Kategorien fatalistischer Ideologie und sein augenscheinlich eigeninitiatives Handeln fügen sich wiederum nahtlos in dieses kritische Spektrum ein. Diesem Muster gemäß ist auch die Figur Gousse text- und nicht wirklichkeitsreferentiell auf die Erfordernisse ihres unmittelbaren Kontextes hin zugeschnitten. Im Rahmen eines komplexen Zusammenspiels verschiedener Textelemente dient das Verhalten von Gousse der Veranschaulichung selbstbestimmten Handelns, das wiederum als Qualität des Roman Jacques le fataliste oder vielmehr seines vom Leser zu rekonstruierenden Autorbewusstseins ausgewiesen wird. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass über die Figuren, die Geschichten und schließlich den Text keine Wirklichkeitsentwürfe vermittelt würden oder keine Rückbindungsmöglichkeiten an bestimmte Wirklichkeitshorizonte möglich wären. Die dem Text zugrunde liegende Ästhetik ist aber gerade nicht mimetischer, sondern selbstreflexiver Natur. Denn der Text steht in keinem direkten Darstellungsverhältnis zur Wirklichkeit. Die Rückbindung der ästhetischen Struktur an historische Diskurse erfolgt auf der Grundlage von Ähnlichkeitsbeziehungen, wie auch die an die Diskurse anschlussfähigen Wirklichkeits550 Das Evozieren der spezifischen Referenzgattung ist Voraussetzung für eine funktionsfähige Parodie. 551 Der Text dekuvriert die Differenz zur Referenz.
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entwürfe auf diesem Prinzip beruhen. In diesem Sinne lassen sich in Analogie zum parodistischen Entwertungskontext auch im Kontext ästhetischer Umwertung und somit ausgehend von der selbstreflexiven Textstruktur Analogieschlüsse ziehen.
III.4.2.2 Analogieschlüsse Die vérité de l’histoire liest sich wie der genetische Code des Textes: Sie impliziert die Affirmation der Selbstgesetztheit des Textes in notwendiger Abhängigkeit von einer traditionellen romanesken Diskurstypbestimmtheit. Dabei ist zu berücksichtigen, dass jene vérité de l’histoire als von einem leserseitig zu rekonstruierenden Autorbewusstsein gesetzt ausgewiesen wird – es offenbart sich als das ästhetische Bewusstsein des Textes, das sowohl um die intertextuelle Bedingtheit des eigenen Textes als auch um seine souveräne Selbstbestimmtheit weiß und dafür verantwortlich zeichnet. Dieser paradoxe und zugleich differenzierte Vertextungsbegriff ist somit substanzielle Grundlage für die Entstehung von Jacques le fataliste. Insofern wird das Bild einer vorgeschriebenen Welt, das als Trugbild romanesker Illusionierung entlarvt wurde, zu dem selbstreflexiven Entstehungsbild einer sich selbst affirmierenden Erzählwelt umgewertet. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich im Spiegel selbstreflexiven Erzählens ein Autorbewusstsein rekonstruieren lässt, das, seiner selbst bewusst, in der Lage ist, im Rahmen notwendiger Determination durch bestimmte romaneske Erzählwelten eine selbstbestimmte Erzählwelt und damit eine eigene Schöpfung hervorzubringen, die wiederum auf den Kontext der Erzählwelten transformierend zurückwirkt usw. Diese Vertextungsrealität kann als vorläufiges Resultat der ästhetischen Umwertung festgehalten werden. Darüber hinaus impliziert die ästhetische Umwertung die Antwort auf die aus der ästhetischen Entwertung ableitbare Kritik eines vorgefertigten Weltbildes, das auf dem Konzept eines fatalistischen Determinismus und der damit einhergehenden Negation subjektiver Handlungsbefähigung beruht. Dementsprechend ist aus der ästhetischen Umwertung ein transformierter Determinismusbegriff deduzierbar, der die Idee aktiven Determinierens in Abhängigkeit von einer kontextbedingten kausalen Determination beinhaltet. Entscheidend ist dabei, dass dieser Determinismus-Begriff an die Vorstellung eines selbstbewussten Subjekts gekoppelt ist, das um die Zwangsläufigkeit seiner kausalen Determiniertheit weiß und zugleich in der Lage ist, souverän zu handeln. Auch bedingt ein derartig gewandelter Determinismusbegriff ein gewissermaßen offenes oder unabgeschlossenes Weltbild. Darunter ist zu verstehen, dass die sich gegensätzlich bestimmenden und konditionierenden individuellen Handlungen eine dynamische Welt unaufhörlichen Werdens beschreiben. Mit anderen Worten, das grand rouleau ist nicht a priori beschrieben, sondern wird beständig fortgeschrieben. Dieser ideologische Analogieschluss beruht allein auf der Ähnlichkeitsbeziehung zur selbstreflexiven Vertextungsrealität, die wiederum aus den leserlenkenden Hinweisstrategien konstruierbar ist. Es lässt sich aber noch eine weitere ent-
III.4 Der ideologisch-erkenntnistheoretische Wert des Erzählprozesses
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scheidende Ähnlichkeitsbeziehung zur Vertextungsrealität herstellen. Wie das am Determinismusbegriff festgemachte ideologische Analogon basiert auch das im Rêve de d’Alembert transzendierte materialistische Erkenntnistheorem auf der Vorstellung ambivalenter Determination. Demgemäß konstituiert sich Erkenntnis zum einen notwendigerweise auf der Grundlage des apriorischen Erkenntnisvermögens der passiven Sinneswahrnehmung. Zum anderen werden die Eindrücke der sinnlichen Wahrnehmungen in einem Vorgang selbsttätiger Verknüpfung zu komplexen Ideen kombiniert. Dieser Anteil des Erkenntnisprozesses aber ist auf das Erkenntnisvermögen der selbsttätigen Imagination zurückzuführen, die insbesondere im Genie zu außergewöhnlichen Kombinationsleistungen fähig ist. Angesichts der selbstreflexiven Vertextungsrealität von Jacques le fataliste, der zufolge sich ein implizites autoriales Textbewusstsein als notwendigerweise von anderen Textanteilen bestimmt zeigt, wobei es besagte Textanteile eigenständig transformiert und offensichtlich neu kombiniert, scheint mir besagter erweiterter Analogieschluss zulässig zu sein. Um ihn gezielt zu plausibilisieren, ist allerdings eine weitergehende Untersuchung des selbstreflexiven Erzählprozesses notwendig. Denn auf dem bisherigen Stand der vérité de l’histoire lässt sich die bislang aufgezeigte Affirmation der Selbstbestimmtheit des Textes noch nicht zwingend an den Begriffen von Imagination und Genie festmachen. Zudem ist das metafiktional reflektierte Zusammenspiel von passiver Determination durch traditionell romaneske Textstrukturen und aktiver Neukombination der vorgegebenen Textstrukturen durch eine geniale Einbildungskraft bislang nicht dezidiert am Text veranschaulicht worden. Aus der bisher dargestellten ästhetischen Konstellation lässt sich allerdings schon auf die Funktionalität der wirkungsästhetischen Konzeption des Textes schließen. Denn nur in dem Maße, wie das durch das implizite Zusammenspiel der Erzählstrategien transportierte Ideologem der Souveränität des Subjekts in Abhängigkeit von seiner kausalen Determination vom Leser mitkonstruiert wird, kann es zu einem Erfahrungswert und damit zu einer die Lebenswirklichkeit des konkreten Lesers umwertenden Realität werden. Es lässt sich auch sagen, dass der vorläufig abgeleitete ideologische Schluss seine praktische Anwendung zur Voraussetzung hat, muss sich der Leser doch dem impliziten Bedeutungsangebot entsprechend in der Rolle eines handelnden Subjekts bewähren. In dieser die Leserlebenswelt umwertenden Erfahrbarkeit ist das sublimierte Aufklärungskonzept Diderots zu sehen, das tatsächlich die Erscheinungsform einer Umwertungsästhetik annimmt. In einem letzten Schritt werde ich zeigen, dass es, wie eben angekündigt, nicht bei dem bisher vorgestellten Analogieschluss bleiben muss, zumal viele Textteile des Romans noch unberücksichtigt geblieben sind. Im Hinblick auf die sich weiterhin zuspitzende selbstreflexive vérité de l’histoire und damit einhergehender möglicher Analogieschlüsse gilt es, in einer Zusammenschau möglichst alle strukturell relevanten Romanteile konsistent miteinander zu kombinieren. Dabei soll eine definitive und zugleich historisch plausible Funktionalität der Selbstreflexivität des Romans und der leserseitig zu vollziehenden Analogieschlüsse vorgestellt werden.
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III.5 DIE VERANSCHAULICHUNG GENIALER EINBILDUNGSKRAFT III.5.1 Die selbstreferentielle Struktur des ‚Sagens‘ und ‚Zeigens‘ Vor dem Hintergrund der bislang konstruierten paradoxen vérité de l’histoire, aus der sich wiederum ein differenzierter Determinismusbegriff und damit einhergehend das Bild selbstbewusster Subjektivität ableiten lässt, werde ich nochmals im Allgemeinen auf die Struktur des ‚Sagens‘ und ‚Zeigens‘ zurückkommen. Vorgeführt wurde bereits, dass das Zusammenspiel von Gousse-Geschichte und KrugEpisode die Selbstbestimmtheit veranschaulicht (‚Zeigen‘), während die anschließende Szene, in der die Vermittlungsillusion qua Metalepse transparent gemacht wird, genau dieses Prinzip für den Text selbst als gültig erklärt (‚Sagen‘). Daraus geht hervor, dass die Struktur des ‚Sagens‘ und ‚Zeigens‘ Ausdruck eines selbstreferenziellen Textmechanismus ist, der in dem bereits analysierten Zusammenhang Garant für die implizite Kohärenz der Textteile ist. Dementsprechend werden die dekuvrierten Vertextungsbedingungen, die Ausdruck einer bestimmten vérité de l’histoire sind, mehr oder weniger implizit in Form von Geschichten veranschaulicht und dabei zugleich erweitert. Im Folgenden wird anhand exemplarischer Textstellen eben diese Progression und somit die Gültigkeit des besagten Mechanismus über den gesamten Roman hinweg zu verdeutlichen sein. Dieser Logik entsprechend werde ich abschließend zeigen, dass mit der komplexesten Aussage zur vérité de l’histoire eine alle Textteile integrierende Veranschaulichung eben dieser Vertextungsrealität korrespondiert. Voraussetzung für diese Art der Rückwärtsrechnung bleibt indes die grundsätzliche Erkenntnis, dass in Jacques le fataliste eine ästhetische Umwertung vollzogen wird, da im Text der Begriff der vérité de l’histoire selbstreflexiv mit der Dekuvrierung der eigenen Vertextungskonditionen verknüpft wird. Deshalb gilt es in diesem Zusammenhang auch nochmals eindeutig nachzuzeichnen, dass der vérité de l’histoire-Begriff gerade nicht mimetisch gefüllt wird und deshalb auch kein direkter Wirklichkeitsbezug im Text intendiert ist. Mit anderen Worten, es ist von zentraler Bedeutung, dass der Text in keiner Weise auf die unmittelbare Darstellung lebensweltlicher Zusammenhänge abhebt. Besonders belegenswert ist diese Ansicht angesichts der bekanntesten romanpoetologischen Aussagen Diderots in der Éloge de Richardson, wo er der Ästhetik der kleinen Details – einer Art effet de réel – und damit einer tendenziell realistischen Romanschreibweise das Wort redet.552 Wenn Jacques le fataliste entgegen aller vordergründigen poetolo552 „Le monde où nous vivons est le lieu de sa [Richardson, Y.L.] scène; le fond de son drame est vrai; ses personnages ont toute la réalité possible; ses caractères sont pris du milieu de la société; ses incidents sont pris dans les mœurs de toutes les nations policées […].“ DPV, Bd. 13, S. 194. Dennoch ist der Begriff des Realismus mit Vorsicht zu gebrauchen, da er bei Diderot an einen dezidierten Kunstverstand rückgebunden ist. So gibt Richardson nicht einfach historische Begebenheiten wieder, sondern versteht sich auf die Kunst, den Leser anhand von lebensweltlichen Details zu illusionieren: „Sachez que c’est à cette multitude de petites choses que tient l’illusion: il y a bien de la difficulté à les imaginer, il y en a bien encore à les rendre. Le geste est quelquefois aussi sublime que le mot, et puis ce sont toutes ces vérités de
III.5 Die Veranschaulichung genialer Einbildungskraft
197
gischen Wahrscheinlichkeit ausschließlich im Zeichen einer selbstreflexiven Ästhetik stehen soll, so muss es dafür einen historisch plausiblen Grund bzw. eine nachvollziehbare Anschließbarkeit der Textästhetik an einen historisch verifizierbaren Diskurshorizont geben.
III.5.1.1 ‚Histoire du poète de Pondichéry‘ Die ‚histoire du poète de Pondichéry‘553 ist die erste Parallelgeschichte zur Rahmenhandlung, die von der Erzählerfigur vermittelt wird. Sinngemäßer wäre für diese anekdotische Digression indes ein Titel wie ‚Ein Tag im Leben des Autors Diderot‘. Diese Annahme soll nun anhand des Zusammenspiels von Geschichtsinhalt und -kontext verdeutlicht werden, wobei zugleich das Textmuster von ‚Sagen‘ und ‚Zeigen‘ nachzuweisen sein wird. Der fiktive Erzähler führt aus, dass er eines Tages von einem jungen Schriftsteller besucht worden sei, der ihm eine Kostprobe seines Könnens vorgelegt habe. Darauf habe er ihm geraten, die Schriftstellerei aufzugeben oder wenigstens seinen Broterwerb nicht von ihr abhängig zu machen. Da der untalentierte Dichter dennoch an seiner Leidenschaft festhalten will, überredet er ihn, nach Pondichéry in die Kolonien zu gehen. Dort solle er sein Glück als Geschäftsmann versuchen, während er nebenbei weiterhin Verse schreiben könne. Der junge Poet hält sich an den Rat und kommt Jahre später tatsächlich als reicher Mann aus der Fremde zurück, sodass er fortan, existenziell abgesichert, seine schlechten Verse für die Schublade produzieren kann. Dass sich die Geschichte dem Textschema von ‚Sagen‘ und ‚Zeigen‘ gemäß auf eine Kohärenzebene mit ihrem Kontext anheben lässt, das belegt der metafiktionale Erzählerkommentar über das Verhältnis von Pondichéry-Digression zu eben diesem Kontext: „Mais, Lecteur, quel rapport cela a-t-il avec le voyage de Jacques le fataliste et de son maître?“554 Der rituell ironische Duktus des Kommentars signalisiert entgegen der eigentlichen Aussage, dass hier sehr wohl eine Verbindung zwischen Reisegeschehen und Erzählerdigression zu vermuten ist. Das lässt sich daran ablesen, dass der Geschichte die detailgetreue Schilderung der Knieoperation Jacques’ vorausgeht,555 auf die wiederum eine explizit metafiktionale Gesprächssequenz zwischen Erzähler und Leser folgt. Fazit dieser auf die KnieEpisode bezogenen Ausführungen ist die Aussage, dass ‚faktisch wahres‘ Erzählen ohne gezielte Funktionalisierung langweilig ist.556 Das ist der begriffliche Stand der negativ bestimmten vérité de l’histoire, die sich aus dem Zusammenspiel einer dementsprechend negativ codierten Knie-Inszenierung und den explizit metafiktionalen Ausführungen von Erzähler und Leser ergibt. An dieser Stelle
553 554 555 556
détail qui préparent l’âme aux impressions fortes des grands événements.“ DPV, Bd. 13, S. 198. DPV, Bd. 23, S. 56 ff. Ebd., S. 56. Vgl. ebd., S. 53 ff. Es handelt sich hier um eine Episode der Liebesgeschichte Jacques’. Vgl. ebd., S. 56.
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fügt der Erzähler scheinbar beiläufig hinzu: Man müsse sich an Molière, Regnard, Richardson oder Sedaine halten, wenn es gelte, tatsächlich ‚Wahrhaftiges‘ hervorzubringen. Denn den genannten Autoren attestiert er unumwunden geniale Kapazitäten.557 Damit ist gesagt, dass es nicht genügt, die Wirklichkeit detailversessen so wiederzugeben, wie sie sich einem präsentiert. Vielmehr gilt es, wahrhaftige Zusammenhänge zu erkennen und die Darstellung gekonnt in den Dienst jener Wahrheiten zu stellen. Mit anderen Worten, in der genialischen Komposition eines Molière oder Richardson liegt Wahrhaftiges. Vor dem Hintergrund dieser allgemeingültigen Aussage über die Voraussetzung wahrhaftigen Erzählens,558 die eine Konsequenz aus der negativ bestimmten vérité de l’histoire ist, liest sich die Geschichte des poète de Pondichéry wie die selbstbezügliche Veranschaulichung eines genialen Autorbewusstseins.559 Dementsprechend steht im Zentrum der Digression auch nicht der unerhebliche und aus dem Kontext fallende Schicksalsbericht über einen unbegabten Poeten. Vielmehr affirmiert sich in der Autorfiktion der fiktiven Erzählerfigur auf implizite Weise gerade die autoriale Kapazität, von der bei Molière, Regnard, Richardson und Sedaine die Rede war. Der poète de Pondichéry als vermeintlicher Hauptprotagonist dient in diesem Zusammenhang nur dazu, den Erzähler als genialen Autor zu stilisieren: Après les compliments ordinaires sur mon esprit, mon génie, mon goût, ma bienfaisance, et d’autres propos dont je ne crois pas un mot, bien qu’il y ait plus de vingt ans qu’on me les répète et peut-être de bonne foi, le jeune poète tire un papier de sa poche.560
Wie es einem Autor von Rang und Namen gebührt, wird der fiktive Erzähler von allen möglichen Leuten um Rat gebeten. Dass dieser Rat so weitreichend ist, das Leben eines Menschen zu bestimmen, ist krönender Abschluss der Autoritätsbekundung. Dass es sich beim fiktiven Erzähler indes nicht um den Autor des vorliegenden Textes handelt, das ist allein aufgrund der offensichtlich unzuverlässigen Rolle des Erzählers und somit aufgrund des fiktionalen Spielcharakters erkennbar. Allerdings kann die vom Erzähler vermittelte Autorfiktion als Index der Wirkungsmacht des textimmanenten Autors Diderot gelesen werden, der auf diese Weise in Anlehnung an die zuvor genannten Autoren selbstbewusst geniale Autorschaft für sich reklamiert. Nicht zu Unrecht, wie das Ergebnis dieser nach dem Prinzip des ‚Sagens‘ und ‚Zeigens‘ komponierten Textsequenzen zeigt. Die Geschichte des poète de Pondichéry ist in den Kontext der Liebesgeschichte Jacques’ bzw. des Reisegeschehens eingelegt, und es zeigt sich, dass dieser Einschub motiviert und alles andere als willkürlich ist. Jeder Textteil bezieht sich auf den vorangegangenen, wobei sie sich im Zusammenspiel wiederum auf andere miteinander verbundene Textteile beziehen. In diesem Sinne fügen sich der explizit metafiktionale Erzählerkommentar zum Thema des genialen Autors als Anteil des ‚Sagens‘ und die Pondichéry-Digression als selbstbezüglicher Anteil des ‚Zeigens‘ zu 557 „S’il faut être vrai, c’est comme Molière, Regnard, Richardson, Sedaine; la vérité a ses côtés piquants qu’on saisit quand on a du génie.“ Ebd. 558 Es handelt sich bei dieser Aussage um das Textmuster des ‚Sagens‘. 559 Hierbei handelt es sich um das Textmuster des ‚Zeigens‘. 560 Ebd., S. 56 f.
III.5 Die Veranschaulichung genialer Einbildungskraft
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einer Textentität. Bemessen ist diese Entität an der vérité de l’histoire, die aus ihr ableitbar ist. Sie ist dementsprechend zugespitzter als die aus dem vorangegangenen Kontext ableitbare vérité, der zufolge faktisch wahres Erzählen, das lediglich etwas Vorgegebenes wiedergibt, uninteressant ist. Dagegen kann faktisch wahres Erzählen, das von einem genialen Autor im Hinblick auf einen Erkenntnisgewinn komponiert wird, sinnvoll sein. Hier kündigt sich folglich eine vérité de l’histoire an, die weit über das faktische Wiedergabeprinzip als Ausdruck schlichter Mimesis oder Geschichtsschreibung hinausgeht, da hier eine genialische Schöpferkraft und damit die eigenständige Imaginationsleistung eines künstlerisch aktiven Subjekts anklingt. Zudem belegt die beschriebene Textrealität, dass der Roman keineswegs das Konzept einer oppositiven Ästhetik widerspiegelt, wie Warning das etwa für gegeben sieht. Er geht davon aus, dass Jacques le fataliste über den parodistischen Textanteil eine Gattungsästhetik verwirft, die als Analogon einer ‚lügenhaften‘ providenziellen Wirklichkeitskonzeption firmiert.561 Dieser verworfenen Ästhetik sieht er sodann, einem dialektischen Prinzip Rechnung tragend, ein positiv gesetztes ästhetisches Konzept gegenübergestellt, das eine objektiv wahre Wirklichkeitskonzeption transportiert. Warning spricht in diesem Zusammenhang von der „bizarren Wirklichkeit in den eingelegten Geschichten“.562 Eine derartige Dialektik, die aus Jacques le fataliste einen Text macht, der gleichsam in ästhetisch nicht miteinander verbundene Hälften zerfällt, ist aber gerade nicht angezeigt. Vielmehr erweist sich die vermeintliche Opposition von parodistischem Textanteil und eingelegten Geschichten in der aufgezeigten Art als homogenes Zusammenspiel. Dabei hat die als Teil der Liebesgeschichte Jacques’ in parodistischem Textzusammenhang stehende Knie-Episode zugleich die Funktion einer NegativInszenierung in Bezug auf die vérité de l’histoire. Die Knie-Episode ist somit notwendige Voraussetzung für die über den metafiktionalen Kommentar und die darauf bezogene Geschichte des poète de Pondichéry transportierte Vertextungsrealität, die den ästhetischen Begriff der vérité de l’histoire erweitert. Daraus lässt sich schließen, dass kein Textteil für sich stehend und ohne seinen jeweiligen Kontext gelesen werden kann; immer ist er in ein Bezugssystem integriert. Darüber hinaus gilt, dass keine Geschichte und kein Diskursteil des Romans mehr Wahrhaftigkeit für sich in Anspruch nehmen kann als ein anderer. Denn die selbstreflexive vérité de l’histoire ist nur aus dem intrikaten Zusammenspiel der Textteile zu erschließen, die vom genialischen impliziten Autorbewusstsein angeordnet werden. Dennoch lassen sich Textentitäten aus dem Gesamttableau herausdividieren, die, gemessen an dem sich erweiternden Vertextungsbegriff, als punktuelle Zustandsbeschreibungen desselben aufzufassen sind. Diese Momentaufnahmen setzten sich aus einem Anteil des ‚Sagens‘ und einem des ‚Zeigens‘ zusammen, wobei eine Geschichte oder Episode (‚Zeigen‘) den jeweils mehr oder weniger impliziten Vertextungsbegriff (‚Sagen‘) exemplifiziert. Je 561 Warning behandelt diesen Aspekt in seinem Kapitel „Die Auflösung des mythischen Analogons“. Warning, Illusion und Wirklichkeit, vgl. insbes. S. 94. 562 Ebd., S. 95 ff.
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entwickelter dieser Begriff ist, desto weitläufiger ist das Textgefüge, auf das er rekurriert, um sich zusammenzusetzen, und desto selbstreferentieller ist gewissermaßen die ihn veranschaulichende Geschichte.
III.5.1.2 ‚Histoire des deux capitaines bizarres‘ Im Sinne veranschaulichender Inszenierung impliziter Vertextungskonditionen erfüllt die von Jacques erzählte Geschichte von seinem Hauptmann und dessen Kameraden563 die oben genannten Bedingungen selbstreferenziellen Erzählens, wobei sie auf einen weiterentwickelten Vertextungsbegriff und damit auf ein weit umfangreicheres Textspektrum rekurriert als die Pondichéry-Digression. Um dies zu verdeutlichen ist es notwendig, auf den impliziten Stand der vérité de l’histoire einzugehen, der aus dem Digressionskontext ableitbar ist. Wie im Text üblich, geht der Diskurs Jacques’ aus einem Gespräch mit seinem Herrn hervor, dessen Thema ein besonderes Ereignis der Reise darstellt. Es handelt sich um das ebenso ärgerliche wie rätselhafte Verhalten von Jacques’ Pferd, das ohne ersichtlichen Grund bereits zum zweiten Mal mitsamt Reiter davon galoppiert ist, um schließlich an einem nahe gelegenen Galgen innezuhalten. Herr und Diener können in dem seltsamen Verhalten des Pferdes nur einen ungünstigen Fingerzeig des Schicksals erkennen: Mon ami, n’en doutez pas. Votre cheval est inspiré, et le fâcheux, c’est que tous ces pronostics, inspirations, avertissements d’en haut par rêves, par apparitions, ne servent à rien: la chose n’en arrive pas moins. […] L’arrêt du destin, prononcé deux fois par votre cheval, s’accomplira.564
Während es für den Herrn eine ausgemachte Sache ist, dass Jacques am Galgen enden wird, gibt sich dieser noch vagen Hoffnungen hin: „Il est peut-être écrit làhaut que j’assisterai seulement à la potence d’un autre […].“565 Dass in dem Verhalten des Pferdes ein untrügliches Anzeichen eines bevorstehenden Schicksalsschlages zu sehen ist, halten allerdings beide Protagonisten für ausgemacht. Diese Wahrnehmung der Reisegefährten lässt sich auch unter dem Aspekt einer parodistischen Anspielung auf die populäre Banditenbiographie verstehen. Dem Topos dieser Gattung gemäß wird am Textanfang gleichsam prophetisch das Ende der Geschichte vorweggenommen, das mit der Aburteilung der jeweiligen Banditenfigur erreicht ist. Mit der Erfüllung des vorhergesagten Schicksals des Banditen, der wahlweise am Galgen, auf dem Rad oder in einer anderen Maschinerie der moralischen Sanktion sein Ende findet, ist somit eine fatalistisch determinierte Geschichtswelt konstruiert, in der a priori feststeht, dass moralisch verwerfliche Taten von der Providenz sanktioniert werden. Indem in Jacques le fataliste beständig der Galgen als übliches Vehikel der Jenseitsverbringung unmoralischer Subjekte auftaucht, scheint unter parodistischen Vorzeichen auch die fatalistische 563 Vgl. DPV, Bd. 23, S. 77–81. 564 Ebd., S. 76. 565 Ebd., S. 77.
III.5 Die Veranschaulichung genialer Einbildungskraft
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Erwartungshaltung der Protagonisten gerechtfertigt zu sein. Im weiteren Kontext des Reisegeschehens wird das seltsame Verhalten des Pferdes aber schließlich aufgeklärt. Es kostet Jacques zwar noch einen Höllenritt auf dem satanischen Gaul, der einen schmerzhaften Kopfstoß zur Folge hat, doch damit hat das rätselhafte Ungemach ein Ende. Die parodistische Pointe besteht nun darin, dass Jacques entgegen des evozierten Erwartungshorizontes der Banditenbiographie nicht gehenkt wird, obwohl das Pferd ihn direkt ins Henkerhaus bringt. Anstelle der providenziellen Sanktion hat Jacques lediglich einen komischen Sturz zu beklagen, bei dem sein Kopf mit dem zu niedrig geratenen Türrahmen des Henkerhauses Bekanntschaft macht, durch den ihn das Pferd im Galopp zu tragen gedenkt. Weil es einst das Pferd des Henkers war, erklärt sich auch, warum es Jacques immer wieder an die Arbeitsstätten seines vormaligen Besitzers und schließlich in dessen Haus geführt hat.566 Damit ist auch klar, dass die Ausbrüche des Pferdes nicht auf die Manifestation einer fatalistischen Gewalt zurückzuführen sind. Insofern gerinnt die erst im Nachhinein sichtbar gemachte Vergangenheit jenes Pferdedaseins zu einer Geschichte und damit zu einem Teil von Jacques’ Schicksal, dessen sichtbares Zeichen eine Narbe auf seiner Stirn ist. Anders gewendet: Die banale Vorgeschichte des Pferdes determiniert diese Episode des Reisegeschehens. Wird besagte Episode wiederum in den parodistischen Entwertungskontext und damit einhergehend in den Kontext ästhetischer Umwertung eingeordnet, so liest sie sich einerseits als Analogon der Entwertung fatalistischer Determination, da die providenzielle Geschehnisstruktur der Referenz als romaneske Illusion entlarvt wird. Andererseits transportiert die Episode einen umgewerteten Vertextungsbegriff, da mittels des parodistischen Spiels implizit metafiktional darauf verwiesen wird, dass die Episode nicht von der Providenz, sondern von einer banalen Vorgeschichte kausal determiniert wird. Vor dem Hintergrund dieser Kontextschau, die den soeben hervorgehobenen Vertextungsbegriff impliziert, ist nun die ‚histoire des deux capitaines bizarres‘ als veranschaulichender Textanteil des ‚Zeigens‘ zu betrachten, der auf eben jene vérité de l’histoire Bezug nimmt.567 In Analogie zu dem seltsamen Verhalten des Pferdes handelt diese Geschichte von dem seltsamen Verhalten, das Jacques’ Hauptmann und dessen Regimentskamerad an den Tag legen. Beide verbindet der zwanghafte Spleen, sich ständig miteinander duellieren zu müssen. Während sie an einem Tag die besten Freunde sind, stehen sie sich am nächsten Tag mit gezückten Waffen als erbitterte Feinde gegenüber. Jene seltsame Vorliebe für das Duell führt zu einem äußerst paradoxen Lebenswandel:
566 Vgl. ebd., S. 86 f. 567 Es sei nochmals darauf verwiesen, dass diese Art der ästhetisch-strukturellen Kohärenzstiftung nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass sich der Text gegen jedwede Form inhaltlicher Kohärenzbildung sperrt.
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Teil III S’il arrivait que l’un des deux fût blessé, l’autre se précipitait sur son camarade, pleurait, se désespérait, l’accompagnait chez lui et s’établissait à côté de son lit jusqu’à ce qu’il fût guéri. Huit jours, quinze jours, un mois après, c’était à recommencer […].568
Die Geschichte dieser beiden „hommes extraordinaires“,569 wie sie der fiktive Erzähler nennt, bringt in ihrem weiteren Verlauf nur noch Variationen dieser gleich bleibenden Zwanghaftigkeit mit sich. Der Schluss liegt nahe, dass die Hauptleute-Digression, wie schon die Pferde-Episode, zunächst zum Zwecke der Herausstellung einer Aporie erzählt wird. Denn hier wie dort stellt sich die Frage nach dem Grund für die sonderbaren Verhaltensweisen, wobei im Rahmen der Hauptleute-Digression die noch ungelöste Frage der Pferde-Episode gezielt evoziert wird. Erzähltechnisch ist dies durch die regelmäßige Einstreuung scheinbar lebensnaher Spontanausrufe Jacques’ gelöst, der dadurch seine eigenen Ausführungen über die zwei Kameraden unterbricht: „…Je crois que ce maudit cheval me fera devenir fou…“ Etwas weiter dann: „… Maudite bête, tiendras-tu ta tête droite?…“ Und wieder etwas weiter: „…Va donc où tu voudras! Y a-t-il encore là quelque gibet qu’il te plaise de visiter?… Riez bien, monsieur; cela est en effet très plaisant…“570 Die Referenz der Digression Jacques’ auf ihren unmittelbaren Kontext wird durch diese Markierung zwar angedeutet, doch wird die Qualität dieses Bezuges erst mit der Auflösung des Geschehens in vollem Umfang erfahrbar. Vorauszuschicken ist, dass besagte Auflösung nicht im Rahmen der Erzählung Jacques’ erfolgt. Seine Ausführungen bringen kein Licht in das Dunkel des seltsamen Verhaltens der beiden Hauptleute. Die Nachricht vom Tod einer der beiden Kameraden ist die letzte Information, die Jacques zu vermitteln hat. Grund genug für Warning, in dieser eingelegten Geschichte einen ungelösten Kasus zu sehen. „Die bizarrerie de leur conduite meint eine kasuistische Rivalität zweier Normen: der der Freundschaft und der des militärischen Ehrenkodex. Diese Rivalität könnte zwar durch den Tod des Hauptmannes abgebrochen, aber nicht gelöst werden.“571 Die Unhaltbarkeit dieser Sichtweise wird angesichts eines von der Erzählerfigur nachgereichten Kommentars deutlich. Mit der ihr eigenen Beiläufigkeit konstatiert sie bezüglich der bizarrerie der beiden Militärs: Mais laissons tout cela et disons que c’était leur coin de folie. Est-ce que chacun n’a pas le sien? Celui de nos deux officiers fut pendant plusieurs siècles celui de toute l’Europe, on l’appelait l’esprit de chevalerie. […] Eh bien! Nos deux officiers n’étaient que deux paladins, nés de nos jours, avec les mœurs des anciens.572
Damit klärt sich das rätselhafte Verhalten der beiden Hauptleute auf, und die These, die Geschichte sei ein ungelöster Kasus, wird hinfällig. Die zitierte Stellungnahme ist Teil eines ausführlichen Erzählerkommentars, der in apologetischer Manier die seltsamen Verhaltensweisen der Hauptleute zu rechtfertigen sucht. Mit 568 569 570 571 572
Ebd., S. 78. Ebd., S. 81. Ebd., S. 78 f. Warning, Illusion und Wirklichkeit, S. 98. DPV, Bd. 23, S. 85.
III.5 Die Veranschaulichung genialer Einbildungskraft
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der Beiläufigkeit eines Nebensatzes wird indes die Erklärung für das bizarre Verhalten der beiden Kameraden nachgereicht. Denn der Erzähler weiß zu berichten, dass ihr Verhalten, das zugleich der Stoff ist, aus dem sich ihre Geschichte konstituiert, das Produkt einer Prägung durch den „esprit de chevalerie“ sei. Diese geistige Haltung ist ihrerseits ein literarisches Erzeugnis. In diesem Sinne impliziert der Erzählerkommentar, dass die beiden Offiziere absurde, quichoteske Ritter sind („deux paladins“), und dass ihre Geschichte in Abhängigkeit von einem bereits vorhandenen literarischen Erzeugnis zu lesen ist, wie dies bei Parodien quichotesken Zuschnitts unvermeidlich ist. Mittels des Hinweises der Erzählerfigur wird die Geschichte der beiden Hauptleute nachträglich zu einer Inszenierung der zwangsläufigen Determination ihrer Geschichte durch literarische Vorgängererzeugnisse. Die komische Zwanghaftigkeit der Protagonisten ist dabei dem Umstand geschuldet, dass sie wie im Don Quijote ihr Handeln an der Realitätsferne des idealisierenden Ritterromans ausrichten. Zugleich verdeutlicht diese Erzählerauflösung die Qualität des Bezugs der Hauptleute-Digression zum Kontext der Pferde-Episode, wird doch die selbstreflexive vérité de l’histoire jener Episode (Textanteil des ‚Sagens‘) in der Digression nochmals exemplifizierend inszeniert (Textanteil des ‚Zeigens‘). Bezeichnend ist auch, dass die Auflösung der Hauptleute-Geschichte durch den explizit metafiktionalen Kommentar des fiktiven Erzählers erfolgt, der ebenso gut als fiktive Reflexionsinstanz bezeichnet werden kann. Dadurch bestätigt sich der insgesamt selbstreflexive Duktus des Romans. Denn die explizite Reflexion über das Erzählen und die gleichzeitige Inszenierung des Gesagten machen den Roman zu einem Werk selbstreflexiver Ästhetik, wobei die strukturelle Entsprechung dieser Ästhetik in der gedoppelten Reflexions- und Erzählebene zu sehen ist. Auf zwei Ebenen wird abwechselnd erzählt und über das Erzählen nachgedacht. Insofern hat das nicht immer offensichtliche Textmuster des ‚Sagens‘ und ‚Zeigens‘ in der Erzählstruktur seine explizite Entsprechung. In diesem Zusammenhang wird nochmals deutlich, wo die Problematik von Warnings Analyse liegt. Für ihn ist Jacques le fataliste ein mimetischer Roman,573 der letztlich eine objektive Wirklichkeit abzubilden versucht. Diesen Anspruch sieht er in den eingelegten Geschichten realisiert, in denen sich Wirklichkeit auf exemplarische Weise manifestiere.574 In diesem Sinne repräsentiert beispielsweise die bizarre Geschichte der beiden Hauptleute einen unlösbaren Kasus, der für die Unlösbarkeit der bizarren Wirklichkeit schlechthin steht.575 Es wird deutlich, dass es dieser von Warning auf Jacques le fataliste übertragene Mimesis-Begriff ist, der der metafiktional angelegten Auflösung der Hauptleute-Geschichte im Wege steht. Groh, die die Geschichte der beiden Hauptleute ebenfalls eingehender be-
573 Warning legt seiner Interpretation ein aus Diderots ästhetischen Schriften abgeleitetes Mimesis-Konzept zugrunde. Er geht davon aus, dass kleine, lebenswahre Details, an deren Glaubwürdigkeit nicht zu zweifeln ist, dargestellt werden. Vgl. Warning, Illusion und Wirklichkeit, S. 69 ff., insbes. S. 74. 574 Vgl. ebd., S. 99. 575 Vgl. ebd., S. 100 u. 115.
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trachtet, geht indes über Warnings Mimesis-Begriff hinaus, denn sie sieht gerade in dieser Geschichte eine beispielhafte Distanzierung von einem „realistisch verstandenen Prinzip der vraisemblance“. Darunter versteht sie, dass das Dargestellte nicht länger „als realistisches Abbild des Wirklichen, sondern als parodistisch verzerrtes Abbild des Wirklichen“ erscheint, und genauer als „satirische Illustration wahrer Sätze über das Wirkliche.“576 Der Unterschied zu Warning ist folglich darin zu sehen, dass sie die Geschichte der beiden Hauptleute nicht mehr als ein Geschehen betrachtet, das sich in Wirklichkeit tatsächlich so hätte zutragen können. Vielmehr sieht sie in der Geschichte eine parodistisch karikaturale Verzerrung eines moralisch paradoxen Verhaltens im Allgemeinen und des Duellwesens im Besonderen.577 Ihr abstrakterer Mimesis-Begriff erlaubt ihr im Gegensatz zu Warning die Integration des Erzählerkommentars auf extradiegetischer Diskursebene („Nos deux officiers n’étaient que deux paladins […].“578). Dieser Kommentar ist in ihren Augen das Ironiesignal für die nachträgliche Parodierung der HauptleuteDigression, die dadurch moralisch aufgelöst wird. Eine Moral, die mitunter besagen soll, dass das Duellwesen keine zeitgemäße Form der Auseinandersetzung mehr darstellt. Doch auch Grohs Ansatz geht nicht weit genug, da sie prinzipiell von einer mimesisästhetischen Textkonzeption ausgeht. Demgemäß wird der Roman nach wie vor als Feld für die Illustration wahrer Aussagen über die Wirklichkeit gelesen, denn darin besteht für sie die vérité de l’histoire. Indessen ist ihr abstrakterer Mimesis-Begriff ein Indiz dafür, dass die Textkohärenz in dem Maße zunimmt, wie die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit abstrakter beurteilt wird. So ist sie im Unterschied zu Warning in der Lage, den Kommentar des expliziten Erzählers mit der Geschichte der beiden Hauptleute zu verrechnen, was dem Umstand geschuldet ist, dass sie den Kommentar als Signal einer karikaturalen Wirklichkeitsverzerrung liest. Behrens geht in diesem Sinne über beide hinaus, weil er einer Konzeption Lotmans folgend für den Romantyp des 18. Jahrhunderts, der sich vom providenzialistischen Romantyp emanzipiert, nicht von einem Abbildungsverhältnis zwischen Roman und Wirklichkeit, sondern von einem sekundär modellbildenden System mit einem vermittelten Zugang zur Realität ausgeht.579 Auf dieser Grundlage ist Behrens’ These, dass der neue Romantyp des 18. Jahrhunderts – dazu zählt er Diderots Jacques le fataliste – Schemata und damit modellbildende Systeme lebensweltlich erfahrbarer Kontingenz verarbeitet.580 Passend zur eben vorgeführten Funktionalität der Geschichte der beiden Hauptleute gehört dazu etwa das Sichtbarmachen von Kausalzusammenhängen.581
576 577 578 579
Groh, Ironie und Moral, S. 108. Vgl. ebd., S. 107. DPV, Bd. 23, S. 85. Behrens, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz, S. 38 f. bzw. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, Fink, München 1972, S. 300 ff. 580 Vgl. Behrens, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz, S. 13. 581 Vgl. ebd., S. 38.
III.5 Die Veranschaulichung genialer Einbildungskraft
205
Behrens argumentiert in diesem Zusammenhang weiter,582 dass etwa die Verkettung „von Ereignissen zu einem Handlungszusammenhang und die Verknüpfung dieser Handlungszusammenhänge zu Erzählsequenzen“ so eine Wirklichkeit modellierten. Schon in der Art und Weise ihrer Verkettung gäben sie Auskunft wie lebensweltliche Konsistenz gedacht sei.583 Konkret gefüllt sieht er das modellbildende System in Jacques le fataliste durch einen materialistischen Determinismus, der die providenzielle Weltdeutung ablöst und kausale Zusammenhänge veranschaulicht.584 Zu diesem Schluss kommt er letztlich aufgrund einer ähnlichen Einschätzung wie Warning, da er wie letzterer von einer oppositiven Ästhetik in Jacques le fataliste ausgeht. So nimmt er zum einen an, dass mit der Entwertung des traditionellen Romanmodells die Kritik an der teleologischen Fatalität einhergeht, während er zum anderen der Meinung ist, dass der kausale Determinismus in einer positiv gewendeten Ästhetik über die Figurendarstellung zur Anschauung kommt.585 Auch er sieht somit unter dem Aspekt einer „bedenklichen Aktualisierung“ von der grundsätzlichen Selbstreflexivität des Romans, der aus meiner Sicht nichts positiv formuliert oder demonstriert, ab.586 Erst in einer Rezeptionsperformanz kann die ästhetische Darstellung auf einen Vertextungsbegriff gebracht werden, der dann qua Analogieschluss in ein Wirklichkeitsmodell überführbar ist. Die Negation einer romanübergreifenden selbstreflexiven Ästhetik ist vor allem deshalb problematisch, weil der von Behrens aus der veranschaulichenden Qualität des Textes abgeleitete Determinationsbegriff einem konsistenten Freiheitskonzept letztlich keinen überzeugenden Platz einräumt.587 Diderots Roman wird dadurch um eine historisch referenzialisierbare Dimension seines experimentellen Entwurfes verkürzt.
III.5.2 Fazit Die untersuchten Passagen bestätigen, dass es sich bei Jacques le fataliste um einen selbstreflexiven Text handelt, der gerade in keiner Weise in einem abbildenden oder darstellenden Verhältnis zur Wirklichkeit steht, das Wahrhaftigkeit 582 Behrens bezieht sich hier wohlgemerkt nicht auf die Szene der Hauptleute, sondern spricht immer noch allgemein vom Roman des 18. Jahrhunderts. 583 Ebd. S. 39. 584 Vgl. ebd., S. 146. 585 Vgl. ebd., S. 345 ff. 586 In diesem Zusammenhang ist auf Pruner zu verweisen – Behrens bezeichnet ihn als Hauptvertreter der ‚essenzialistischen‘ Deutungsrichtung –, der anders als Behrens eine selbstreflexive Ästhetik in jeder Hinsicht ablehnt, weil er von der „intention démonstrative“ des Textes überzeugt ist. Vgl. Pruner, L’unité secrète, S. 326. Gegen das Demonstrieren oder ‚Zeigen‘, wie ich es genannt habe, ist selbstverständlich nichts einzuwenden. Allerdings bezieht sich die Demonstration aus meiner Sicht allein auf das ästhetische Phänomen des eigenen Textes. Diese Form der Selbstreflexivität ist, das sei hier nochmals betont, keine modernistische Aktualisierung, da sich eine historische Funktionalität der Selbstreflexivität nachweisen lässt, wie ich noch deutlicher zeigen werde. 587 Vgl. Behrens, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz, S. 352 f.
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Teil III
für sich in Anspruch nähme. Dieser Umstand manifestiert sich in der Textkohärenz, die auf einem impliziten Muster des ‚Sagens‘ und ‚Zeigens‘ beruht; die explizite Entsprechung dieses Musters ist in dem beständigen Wechsel von Kommentar- oder Gesprächsmodus zum Modus des Erzählens zu sehen, der sich auf zwei Diskursebenen vollzieht. In diesem Sinne steht das beschriebene Muster im Dienste eines selbstreflexiven und dynamisch fortgeschriebenen vérité de l’histoire-Begriffes. Dabei sind aufeinander bezogene Entitäten als jeweilige Zusammensetzungen aus einem Textanteil des ‚Sagens‘ und des ‚Zeigens‘ auszumachen, die für einen jeweils weiterentwickelten Vertextungsbegriff stehen. Der jeweilige Vertextungsbegriff lässt sich aber auch statisch betrachten. Er ist dann begriffliche Momentaufnahme, die mit einer Textentität zusammenfällt. Je entwickelter dieser Begriff ist, desto mehr Textteile liegen dem Anteil des ‚Sagens‘ zugrunde und desto weitläufiger ist der implizite Textrekurs des veranschaulichenden Anteils des ‚Zeigens‘. In der Konsequenz ist der komplexeste Vertextungsbegriff implizites Resultat einer Synopsis aller Textteile, wobei sich besagter Begriff wiederum in einer veranschaulichenden Inszenierung spiegelt.
III.5.3 Die mise en abyme des Vertextungsbegriffes in der ‚histoire de Madame de la Pommeraye‘ An dieser Stelle sei nochmals in Erinnerung gerufen, dass das Resultat der ästhetischen Umwertung ein paradoxer Vertextungsbegriff ist, der die Selbstgesetztheit des Textes bzw. die Gestaltungskraft eines impliziten Autorbewusstseins in notwendiger Abhängigkeit von seiner Bestimmtheit durch einen romanesken Diskurstyp hervorhebt. Die Konstitution dieses selbstreflexiven Vertextungsbegriffes, aus dem qua Analogieschluss ein umgewerteter allgemeiner Determinismusbegriff ableitbar ist, transparent zu machen und den jeweiligen begrifflichen Stand zugleich bildhaft zu inszenieren bzw. seine Gültigkeit am eigenen Text zu veranschaulichen, das ist die Textrealität in Jacques le fataliste. Abschließend werde ich deshalb die veranschaulichende Inszenierung dieser komplexesten vérité de l’histoire nachzeichnen, wobei es vorzuführen gilt, dass der ‚histoire de Mme de la Pommeraye‘ diese Spiegelungsfunktion zukommt.588 Darüber hinaus soll gezeigt werden, dass dem Textmuster von ‚Sagen‘ und ‚Zeigen‘ gemäß auch der finalen Veranschaulichung eine letzte Zuspitzung der vérité de l’histoire zu Eigen ist. Diesen Vorannahmen zufolge ist die Pommeraye-Digression mit dem Textanteil des ‚Zeigens‘ gleichzusetzen, dem als Anteil des ‚Sagens‘ die unter dem As588 Wenn der komplexe Vertextungsbegriff nichts anderes als die vérité de l’histoire im Sinne einer Essenz des Gesamttextes darstellt, so spiegelt die Geschichte der Mme de la Pommeraye diese Textessenz wider. Dementsprechend liegt hier, wie zu zeigen ist, eine Form der mise en abyme oder der structure en miroir vor, repräsentiert doch ein Einzelelement des Textes den Gesamttext. Vgl. dazu Annette Gersbach-Bäschlin, Reflektorischer Stil und Erzählstruktur. Studie zu den Formen der Rede- und Gedankenwiedergabe in der erzählenden Prosa von Romain Rolland und André Gide, Keller, Aarau 1970, S. 21.
III.5 Die Veranschaulichung genialer Einbildungskraft
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pekt ästhetischer Umwertung vollzogene Synopsis des Gesamttextes gegenüberzustellen ist. Das ist die Textentität, mit der die begriffliche Momentaufnahme der vérité de l’histoire zusammenfällt – in diesem Falle handelt es sich um die höchste begriffliche Stufe. Es gilt folglich zu untersuchen, inwieweit die Geschichte der rätselhaften, rachsüchtigen und vor allem genialen Mme de la Pommeraye – mit diesen Attributen wird sie im Text bedacht – als Metapher des paradoxen Vertextungsbegriffes und seiner finalen Zuspitzung gelesen werden kann. Bereits die zentrale Situierung des Geschehens im Roman und die Komplexität der geschilderten Ereignisse,589 die für sich genommen den Stoff für einen eigenständigen Roman abgeben, verweisen auf die Sonderstellung dieser Geschichte. Erzählt wird das Geschehen aus der Perspektive einer Herbergswirtin, in deren Etablissement sich Jacques und sein Herr im Zuge ihrer Reise aufhalten. Innerhalb kürzester Zeit lernen die Reisegefährten das Talent ihrer Gastgeberin kennen, die sie mit ihrem unermüdlichen Rede- und Erzählfluss in die Zuhörerrolle drängt. Was sie zu erzählen hat, ist jedoch so beachtlich, dass ihre Geschichte trotz der zahlreichen Unterbrechungen, die den Anforderungen des Gasthausbetriebes geschuldet sind, für ihre beiden Zuhörer spannend bleibt. Es stellt sich heraus, dass der Wirtin die Geschichte von einem ihrer Gäste – einem gewissen Marquis des Arcis – über Umwege zugetragen wurde. Im Zentrum des Geschehens stehen Mme de la Pommeraye und besagter Marquis des Arcis. Beide sind bester adeliger Herkunft und genießen, ihrer Geschlechterrolle entsprechend, einen guten Ruf: Der Marquis als ehrenwerter Libertin und die attraktiv gebliebene Witwe als Verkörperung geistvoller Tugend. Dieser Gegensatz scheint auf die beiden Protagonisten eine besondere Anziehungskraft auszuüben, denn Mme de la Pommeraye gibt dem Drängen des Marquis, sich mit ihm zu verbinden, trotz der Erfahrung einer unerfreulichen Ehe schließlich nach. Die Regeln dieser Beziehung stellt die tugendhafte Dame auf. Nicht die Attraktion des Verbotenen, sondern eine offizielle Beziehung, die von gegenseitigem Respekt und dem Vertrauen in den Partner getragen wird, wünscht sie sich. Der Marquis, der sich im ersten Liebesgefühl, vielleicht auch nur unter dem Eindruck der schmeichelhaften Eroberung, auf die Vorstellungen der Geliebten einzulassen scheint, wird dieses herkömmlichen Liebeslebens nach einiger Zeit überdrüssig. Im Gefühl des gegenseitigen Einverständnisses erzählt er seiner Partnerin von der Abkühlung seiner Leidenschaft für sie. Die hatte einen derartigen Verdacht bereits gehegt und ihm dieses Geständnis erst durch die kunstvolle List einer vorgetäuschten Leidenschaftslosigkeit abgerungen. Die grausame Bestätigung ihrer Intuition führt zu einer tiefen Kränkung ihres Ehrgefühls, doch verliert sie kein Wort über ihre wahren Gefühle. Insgeheim jedoch fasst sie den Entschluss, sich am Marquis für seine unverzeihliche Verfehlung zu rächen: „[…] elle songea à se venger, mais à se venger d’une manière cruelle, d’une manière à effrayer tous ceux qui seraient tentés à l’avenir de séduire et de tromper une honnête femme.“590 589 Die Pommeraye-Digression erstreckt sich mit Unterbrechungen über annähernd fünfzig Seiten. Vgl. DPV, Bd. 23, S. 122–169. 590 Ebd., S. 138.
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Im zweiten Teil der Geschichte wird nachgezeichnet, welche Formen diese Rache annimmt. Von dem Entwurf des Planes über die praktische Umsetzung der Intrige bis hin zu ihrer Auflösung ist alles geboten, was den Reiz eines ungewöhnlichen Geschehens ausmacht. Dabei erweist sich Mme de la Pommeraye als virtuose Intrigantin, die sich nie in die Karten blicken lässt, die dafür aber alles über das Blatt ihrer ahnungslosen Gegenspieler weiß. In diesem Sinne bleibt sie die engste Vertraute des Mannes, der es gewagt hatte, ihr Vertrauen so gefühllos zu missbrauchen, um ihrerseits Kapital aus seinem blinden Vertrauen in ihre vermeintliche Freundschaft zu schlagen. Schon bald hat sie eine Intrige ersonnen, für deren Verwirklichung ihr die Gefühlsoffenbarungen des Marquis von großem Nutzen sind. Ihre erste Maßnahme besteht jedoch darin, eine Mutter mit ihrer Tochter in ihre Dienste aufzunehmen, um ihnen unter der Bedingung blinden Gehorsams eine hohe Belohnung in Aussicht zu stellen. Das Kriterium für die Auswahl des Paares ist zugleich Voraussetzung für das Gelingen ihres Racheplanes. So sind die Frauen zwar ursprünglich aus gutem Hause, doch haben sie all ihr Vermögen aufgrund eines unglücklichen Prozesses verloren. Zur Sicherung ihrer Existenz verkuppelt die Mutter ihre Tochter, die von engelsgleicher Schönheit ist, der aber jegliches Geschick für ihr Handwerk wider Willen fehlt. Als einschlägig in ihrem Metier bekannte Leute genießen Mutter und Tochter einen denkbar zweifelhaften Ruf. Für Mme de la Pommeraye, deren Plan vorsieht, sie die Rolle zweier mittelloser, dafür aber umso tugendhafterer Pietistinnen einnehmen zu lassen, sind sie gerade deshalb ideale Erfüllungsgehilfinnen. Da Mutter und Tochter sich nichts sehnlicher wünschen, als ihr altes Leben hinter sich zu lassen, akzeptieren sie die Bedingungen ihrer Herrin und nehmen die für sie vorgesehene Identität an. Fortan gehen sie – den präzisen Anweisungen von Mme de la Pommeraye Folge leistend – in völlig neuer Umgebung einem zurückgezogenen Leben nach. Im Einzelnen spielt sich dieses Leben abwechselnd in den Gemäuern ihrer Kirchengemeinde bei Beichte, Gebet und Gottesdienst oder in den eigenen bescheidenen vier Wänden ab, wo sie ihren Lebensunterhalt mit redlicher Handarbeit verdienen. Diese Konstellation ist nun geeignet, um den Marquis mit ins Spiel zu nehmen. Als Meisterin der Intrige fällt es Mme de la Pommeraye nicht schwer, ein erstes zufälliges Zusammentreffen der beiden Parteien zu arrangieren, um die Sinne des Marquis zu schärfen. Die Wirkung des Treffens bleibt nicht aus, ist dem Kenner der Damenwelt doch nicht entgangen, welch zauberhaft unschuldiges Wesen in das Kleid der sittsamen Armut gehüllt ist. Es folgen weitere kunstvoll arrangierte Treffen, die den Sinn Mme de la Pommerayes, das Richtige im rechten Moment zu tun, eindrucksvoll unter Beweis stellen. Nachdem die Leidenschaft des Marquis für die junge Mlle d’Aisnon entbrannt ist, sorgt Mme de la Pommeraye dafür, dass das Objekt der Begierde für ihn zusehends außer Reichweite gerät. Das Innenleben des Marquis als Vertraute kennend, reizt sie auf diese Weise seine Leidenschaft bis zur Schmerzgrenze und erhöht zugleich seine Einsatzbereitschaft für die junge Schönheit. Dann wiederum entschärft sie den Übereifer des Marquis, um den Eingebungen seiner Leidenschaft, die ihre Pläne konterkarieren könnten, keinen Raum zu geben. Nachdem der Marquis des Arcis alle Ge-
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fühle durchlitten hat und ernsthaft davon überzeugt ist, aus freien Stücken zu der Entscheidung gekommen zu sein, lieber heiraten zu wollen, als seine anmutige Schöne zu verlieren – eine andere Alternative kann das Anstandsgefühl der beiden vermeintlich Sittsamen verständlicher Weise nicht zulassen –, steht Mme de la Pommeraye vor der Erfüllung ihrer Rachegelüste. Der Vollzug der Hochzeit ist nur noch formaler Abschluss einer Intrige, deren Sinn in der Offenbarung der tatsächlichen Verhältnisse von Mutter und Tochter d’Aisnon liegt: Marquis, (lui dit-elle) apprenez à me connaître. Si les autres femmes s’estimaient assez pour éprouver mon ressentiment, vos semblables seraient moins communs. Vous aviez acquis une honnête femme que vous n’avez pas su conserver; cette femme c’est moi; elle s’est vengée en vous en faisant épouser une digne de vous. Sortez de chez moi, et allez-vous en rue Traversière, à l’hôtel de Hambourg où l’on vous apprendra le sale métier que votre femme et votre belle mère ont exercé pendant dix ans sous le nom de d’Aisnon.591
Da der Marquis durch den Bund der Ehe eindeutig der Einlassung mit einer Prostituierten überführt ist, deren tatsächlicher Name Mlle Duquênoi ist, scheint sein gesellschaftliches Schicksal endgültig besiegelt zu sein. Denn der kapitale Fehltritt, so die Annahme Mme de la Pommerayes, muss ihn in adeligen Gesellschaftskreisen zwangsweise zu einem sozial Geächteten machen, für den es keine Aussicht auf Wiederaufnahme in die Gesellschaft gibt. Dieser gesellschaftlichen Konvention und somit den eigentlichen Vorstellungen Mme de la Pommerayes entsprechend, wäre bestenfalls das Schlussbild eines verbitterten Marquis zu erwarten, der sich nach der selbstverständlichen Trennung von seiner infamen Frau in die unumgängliche soziale Isolation begibt. Dies tritt jedoch nicht ein. Anstelle dieses zu erwartenden Endes der Geschichte einer gelungenen Rache weiß die Wirtin von einer ganz anderen Entwicklung zu berichten: Zwar ist der Marquis, nachdem er sich von der Richtigkeit der Aussagen Mme de la Pommerayes überzeugt hat, tatsächlich erschüttert und empört. Doch nach einer kurzen Phase der Zurückgezogenheit beschließt er, seine Frau nicht nur bei sich zu behalten, sondern ihr zu verzeihen, sie als seine Ehefrau zu respektieren und mit ihr sein zukünftiges Leben zu teilen. Das Geschehen für sich resümierend formuliert er die daraus zu ziehenden Konsequenzen: En vérité je crois que je ne me repens de rien, et que cette Pommeraye, au lieu de se venger m’aura rendu un grand service. Ma femme, allez vous habiller, tandis qu’on s’occupera à vous faire vos malles. Nous partons pour ma terre où nous resterons jusqu’à ce que nous puissions reparaître ici sans conséquences pour vous et pour moi…592
Auf diese Schlussworte der ‚histoire de Mme de la Pommeraye‘ folgen unmittelbar die Kommentare von Jacques, seinem Herrn und der Wirtin, die bereits die ganze Geschichte unterbrechend begleitet hatten. Es geht bei all ihren Einwürfen in erster Linie um die Beurteilung von Handlungsweise und Charakter der beteiligten Personen, allen voran Mme de la Pommerayes. Während sie für Jacques angesichts ihrer Taten nur eine Ausgeburt des Teufels sein kann („cette femme a 591 Ebd., S. 165. 592 Ebd., S. 169.
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le diable au corps“), ist der Herr um die Verteidigung ihrer Person bemüht: „Jacques, vous n’avez jamais été femme, encore moins honnête femme, et vous jugez d’après votre caractère qui n’est pas celui de Mme de la Pommeraye.“593 Dementsprechend verweisen die Kommentare auf das, was das eigentliche Erkenntnisinteresse der Geschichte, oder genauer gesagt, was die Problemstellung der Geschichte zu sein scheint: Es lässt sich nicht entscheiden, wie die Hauptfigur vom moralischen Standpunkt aus zu bewerten ist.594 Das liegt vor allem daran, dass es keine hinreichende Erklärung bzw. Motivation für ihre Handlungsweise zu geben scheint. Ihr Tun ist schlichtweg „incompréhensible“,595 wie der Herr meint. Deshalb fallen auch die respektiven Urteile über ihre Person je nach subjektivem Dafürhalten aus. Wie schon bei der Geschichte der beiden Hauptleute, die zunächst Inszenierung eines rätselhaften Verhaltens zu sein scheint, reicht auch in diesem Falle der Kommentar der Erzählerfigur die Auflösung der unerklärlichen Hintergründe der Handlungsweise Mme de la Pommerayes nach. An sich ist der Kommentar des fiktiven Erzählers,596 wie schon im Kontext der Digression über die beiden Hauptleute, eine ausgewachsene Apologie; an dieser Stelle von Mme de la Pommeraye: Es wird detailliert angeführt, dass sie ihren Ruf als höchst angesehene Frau („elle jouissait de la plus haute considération“597) für den Marquis in die Waagschale geworfen habe und dass sie als Verkörperung des Stolzes und der Tugend keine andere Beziehung mehr hätte eingehen können. Durch den Bruch mit dem Marquis sei sie aufgrund dieses Charakterzuges zu „ennui“ und „solitude“ verurteilt gewesen.598 Bei all ihrem Tun sei aber keinerlei „motif d’intérêt“599 im Spiel gewesen, was allein der Umstand belege, dass sie dem Marquis seinen schönen Diamantring ins Gesicht geworfen habe, der ihr einst von ihm geschenkt wurde. Je mehr Beispiele der Erzähler zur Untermauerung des hohen moralischen An593 Ebd., S. 162. 594 Ich möchte an dieser Stelle nicht näher auf Warnings und Grohs Interpretationen der Pommeraye-Digression eingehen, zumal ich bereits unter Kap. III.5.1.2 auf die aus meiner Sicht grundsätzliche Problematik dieser Arbeiten eingegangen bin. Dennoch sei hier erwähnt, dass Warning in der Pommeraye-Digression gerade aufgrund ihrer scheinbar ungelösten moralischen Problematik, die sich in den gegensätzlichen Urteilen Jacques’ und des Herrn spiegle, ein weiteres Beispiel für die „dunkle Kasuistik des Lebens“ sieht. Mit anderen Worten, Warning unterstellt, die Geschichte lasse sich nicht auf eine verbindliche Moral reduzieren, weil ihr tieferer Sinn gerade darin liege, diese Unauflösbarkeit exemplarisch darzustellen. Vgl. dazu Rainer Warning, „Opposition und Kasus – Zur Leserrolle in Diderots Jacques le fataliste et son maître“, in: Rezeptionsästhetik, hg. v. R. Warning, Fink, München 1975, S. 490. Im Gegensatz zu Warning geht Groh davon aus, dass im Text eine implizite Auflösung der expliziten moralischen Opposition, die sich in den divergierenden Ansichten von Herr und Diener spiegelt, angelegt ist. Dementsprechend kommt sie zu dem Ergebnis, dass die PommerayeDigression eine aufgeklärte Moral impliziere. Vgl. dazu Groh, Ironie und Moral, S. 217 f. 595 Weder Jacques noch der Herr können die Ausmaße ihres Rachefeldzuges nachvollziehen. Vgl. DPV, Bd. 23, S. 165. 596 Vgl. ebd., S. 171 ff. 597 Ebd., S. 172. 598 Ebd., S. 173. 599 Ebd., S. 171.
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spruches Mme de la Pommerayes anführt bzw. je tugendhafter er sie darstellt, desto plausibler wird in dieser Logik die tiefe Verletzung, die sie angesichts des Verrats durch den Marquis empfinden musste. Umso nachvollziehbarer wird dann auch, dass eine derart gekränkte Seele in der Lage ist, einen unerbittlichen Rachefeldzug zu inszenieren. Insofern – das suggeriert der Erzählerkommentar in dieser Perspektive – wird Mme de la Pommerayes Handlungsweise und somit die Geschichte ihrer Rache von ihrem eigenen Tugendideal, das wiederum auf eine gesellschaftliche Prägung zurückgeht, determiniert. Der Kommentar scheint ihre Handlungsweise zu adeln, die bis zu diesem Zeitpunkt bestenfalls Unverständnis (Herr) und schlimmstenfalls blankes Entsetzen (Jacques) hervorgerufen hatte, ist sie doch auf einen festen und tugendhaften Charakter zurückzuführen. Spätestens diese völlig absurde Legitimation markiert die Ausführungen der Erzählerfigur als blanke Ironie. Bereits sein pathetischer Tonfall entlarvt den ironischen Duktus der Verteidigungsrede:600 „Elle avait avalé tout le calice de l’amertume préparé aux femmes dont la conduite réglée a fait trop longtemps la satire des mauvaises mœurs qui l’entourent.“601 Entscheidend ist nun aber die Bewertung der ironischen Hinweisstrategie. Es genügt nicht zu unterstellen, die Ironie signalisiere an dieser Stelle, dass die Apologie „wortwörtlich“ nicht so ernst zu nehmen sei.602 Denn sie signalisiert in diesem Zusammenhang ganz deutlich, dass die Apologie in Bezug auf die moralische Rechtfertigung der Mme de la Pommeraye überhaupt nicht ernst zu nehmen ist. Mit anderen Worten, die moralische Frage, mit der Jacques, die Wirtin, der Herr und auch die Leserfigur – der Kommentar des fiktiven Erzählers ist schließlich an sie gerichtet – an die Geschichte herangehen, wird hier grundsätzlich ironisiert und somit ad absurdum geführt. Für die Bedeutung der Geschichte, das impliziert der Kommentar, ist es völlig unerheblich, ob Mme de la Pommeraye oder ihre Taten in moralischer Hinsicht als gut oder schlecht bewertet werden. Es geht bei dieser Geschichte nicht um Fragen der Moral. Der Kommentar reduziert sich nach Abzug des ironischen Überschusses allein auf die Aussage, dass Mme de la Pommerayes Handeln von einem gesellschaftlichen Ideal der Tugendhaftigkeit, das sich auf sie übertragen hat, determiniert wird. Diese Aussage ist jedoch völlig wertfrei zu betrachten. Gleichzeitig signalisiert der Erzählerkommentar wie immer in aller Beiläufigkeit, was den tatsächlichen Wert dieser Geschichte ausmacht oder vielmehr, in welcher Weise die Geschichte vom Leser zu rezipieren ist. Der Hinweis steckt bereits in der ersten Anmerkung des fiktiven Erzählers, die sich auf Mme de la Pommeraye bezieht: Vous entrez en fureur au nom de Mad. de la Pommeraye, et vous vous écriez: Ah! la femme horrible! Ah! l’hypocrite! Ah! la scélérate! … Point d’exclamation, point de courroux, point
600 Vgl. dazu auch Groh, Ironie und Moral, S. 216. 601 DPV, Bd. 23, S. 172. 602 Groh, Ironie und Moral, S. 216.
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Teil III de partialité: raisonnons. Il se fait tous les jours des actions bien plus noires, sans aucun génie.603
Die entscheidenden Stichworte sind „génie“ und „action“. Folglich – das legt die Aussage nahe – ist die Pommeraye-Digression unter dem ästhetischen Aspekt genialischer Handlungsführung zu betrachten. Diese Gewichtung scheint allein deshalb plausibel zu sein, weil eine moralische Funktionalisierung der Geschichte ausgeschlossen werden kann, und somit eine ästhetische in Frage kommt. Darüber hinaus würde jedwede direkte moralische Funktionalisierung des Textes eine wie auch immer geartete Abbildung von Wirklichkeitsverhältnissen bedeuten, was der prinzipiell textreferenziellen Ästhetik von Jacques le fataliste zuwiderliefe. Insofern ist davon auszugehen, dass dem Roman Diderots auch im Kontext der „histoire de Mme de la Pommeraye“ eine textreferenzielle Ästhetik attestiert werden kann. In Bezug auf die genialische Handlungsführung lässt sich festhalten, dass der Begriff des „génie“ selbstverständlich an der Figur Mme de la Pommerayes festzumachen ist. Ihre Genialität besteht auf den ersten Blick darin, vollendete Intrigantin zu sein. Sie beherrscht die Kunst, andere für ihre Zwecke zu instrumentalisieren und sie wie Schachfiguren zu bewegen. Dabei überlässt sie nicht das kleinste Detail dem Zufall, sondern stimmt die einzelnen Handlungsstränge ihrer Intrige aufeinander ab, um sie schließlich in einem finalen Knotenpunkt zusammenlaufen zu lassen. So werden beispielsweise Mutter und Tochter gezielt ausgesucht und in ein neues Umfeld integriert, während der Marquis auf einem ganz anderen Feld bearbeitet wird. Die kunstvolle Vernetzung dieser beiden Aktionsfelder kulminiert in der Vermählung des Marquis des Arcis mit der schönen Mlle d’Aisnon. Damit ist das Feld für die finale Offenbarung und den Vollzug der Rache bestellt. Bis zu diesem Zeitpunkt trägt die Geschichte die Handschrift Mme de la Pommerayes. Als geniale Intrigantin ist sie die wahre Herrin des Geschehens, sind doch alle in die Geschichte involvierten Personen der Kombinationsgabe ihres Genius unterworfen. In diesem Sinne ist die Intrige Ausdruck ihrer geschichtskonstituierenden Handlungs- bzw. Einbildungskraft, die explizit an ihrer Künstlernatur festgemacht ist. Die Intrige ist somit als Metapher der Kunst des Komponierens einer Geschichte lesbar. Die Doppelbedeutung des französischen Wortes ‚intrigue‘,604 das sowohl Intrige als auch theatrales oder romaneskes Handlungsgeflecht bedeuten kann, bekräftigt diese Sichtweise. Allerdings steht die von ihr komponierte Intrige, die sich de facto zu einer Geschichte verdichtet, nicht referenzlos und unabhängig im Raum. Im Kontext des apologetischen Erzählerkommentars wird darauf verwiesen, dass die Handlungsweise Mme de la Pommerayes auf ihren tugendhaften, moralisch einwandfreien Charakter zurückzuführen ist. Anders gewendet, das Handeln der Protago603 DPV, Bd. 23, S. 171. 604 Vgl. Douveau Petit Robert. Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française, hg. v. Paul Robert, Paris 2008. Als Wortbedeutungen sind u.a. angegeben: „3. Ensemble de combinaisons secrètes et compliquées visant à faire réussir ou manquer une affaire. 4. Ensemble des événements qui forment le nœud d’une pièce de théâtre, d’un roman, d’un film.“
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nistin wird von ihrem tugendhaften Charakter determiniert, wobei es offensichtlich ist, dass diese charakterliche Eigenart wiederum auf ein gesellschaftliches Tugendideal zurückzuführen ist. In diesem Sinne ist die Intrige in den persönlichen und darüber hinaus in den gesellschaftlichen Prägungskontext Mme de la Pommerayes eingeschrieben. Deshalb ist ihr Handeln notwendigerweise in Abhängigkeit von dieser kontextuellen Prägung zu lesen. Genau dieses Verhältnis spiegelt sich in der Zweiteilung der ‚histoire de Mme de la Pommeraye‘ wider. Während der erste Teil der Geschichte im Stile einer Vorgeschichte, die die Beziehung zwischen Mme de la Pommeraye und dem Marquis darstellt, dazu dient, den tugendhaften Charakter Mme de la Pommerayes vorzuführen, leitet sich der zweite Teil der Geschichte, der die Intrige und somit die Handlungsweise der virtuosen Rächerin zur Anschauung bringt, direkt aus dieser Vorgeschichte ab. Vor diesem Hintergrund, aber auch im Hinblick auf die der Intrige Mme de la Pommerayes nachfolgende Handlung des Marquis des Arcis mag es naheliegend erscheinen, die gesamte Pommeraye-Digression im „Lichte der Determinismusthematik“ und im Besonderen als Einlösung eines „materialistischen Determinismus“ zu lesen, wie Behrens dies vorschlägt.605 Auf welche Weise dies in dem abschließenden tableau der Geschichte – einer Art Coda – eingelöst sein soll, werde ich gleich erläutern. Zunächst aber gilt es, dem in besagter Coda nochmals erweckten Eindruck nachzuspüren, die Intrige könnte doch moralisch auflösbar sein. Jener Eindruck ist darauf zurückzuführen, dass sich der Marquis des Arcis schließlich für ein Leben mit seiner jungen Frau entscheidet, was ihn offensichtlich zum moralischen Gewinner macht, während Mme de la Pommeraye aufgrund des Scheiterns ihres Racheplanes als große Verliererin dasteht. Die wahre Liebe zweier Menschen trüge so gesehen den Sieg über die hinterhältige Intrige davon, wobei die Handlungsweise der perfiden Intrigantin durch diesen Schluss endgültig diskreditiert wäre. Die banale Erfüllung eines Liebesklischees nach dem Muster des idealisierenden Romans ist indes als zusätzlicher Hinweis zu verstehen, eine moralische Lesart der Pommeraye-Digression definitiv auszuschließen. Das aber macht Behrens’ Ansicht von der im fiktionalen Rahmen stattfindenden Modellierung eines materialistischen Determinismus nur umso wahrscheinlicher, reagiert doch der Marquis des Arcis gezwungenermaßen so, „wie er gehandelt hat, sei es unter dem Zwang seiner nunmehr festgesetzten passion oder unter dem Zwang, der diabolischen Intrigantin Paroli zu bieten und ihren Sieg zu verhindern, oder auch aus beiden Zwängen heraus.“606 Man wird hier unweigerlich an die Szene erinnert, in der Jacques seinen Herrn soweit bringt, aus vermeintlich freien Stücken von seinem Pferd zu springen. Während der Herr davon überzeugt ist, er würde durch die Entscheidung tatsächlich seinen freien Willen unter Beweis stellen („mais il me semble que je sens au-dedans de moi-même que je suis libre, comme je sens que je pense“607), klärt Jacques ihn über den Mechanismus von Ursache und Wirkung auf und erläutert, dass er ihn durch seine Sug605 Behrens, Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz, S. 363 f. 606 Ebd., S. 363. 607 DPV, Bd. 23, S. 270 f.
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Teil III
gestion erst auf die Idee gebracht habe, seine Freiheit dergestalt unter Beweis zu stellen. Insofern ist Behrens zunächst auch gar nicht zu widersprechen, denn tatsächlich bildet sich im Reaktionsmuster des Marquis des Arcis das ab, was die gesamte ‚histoire de Mme de la Pommeraye‘ ebenfalls veranschaulicht: Die kausale Determiniertheit jedweden Handelns. Indessen lässt sich die Schlussfolgerung, die Handlungen Mme de la Pommerayes hätten den gleichen Wert wie die des Marquis des Arcis, weil beide allein die Ideologie eines kausalen Determinismus veranschaulichen, nur auf den ersten Blick aufrechterhalten. In der Tat handelt der Marquis zunächst so, wie er im ersten Teil der Pommeraye-Digression – der Vorgeschichte – dargestellt wird: Als Libertin, der er aufgrund seiner gesellschaftlichen Prägung ist, verlässt er Mme de la Pommeraye, so, wie sie im Gegenzug ihre Racheintrige nur aufgrund ihrer Prägung durch ein Tugendideal, das der Marquis verletzt hat, inszeniert. Wenn er in der Coda die Entscheidung trifft, Mlle d’Aisnon bzw. Mlle Duquênoi zu ehelichen, so lässt sich auch diese Handlungsweise, wie soeben erläutert, als Ausdruck eines kausalen Determinismus deuten. Hier aber enden die Gemeinsamkeiten in der Handlungsqualität der Protagonisten. Die kausal motivierte Handlungsweise Mme de la Pommerayes ist weit mehr als nur eine Reaktion auf eine kontextuelle Prägung. Sie ist auch nicht einfach ein aus einem Affekt geborener Handlungsimpuls oder die Summe aus beidem. Vielmehr hat man es hierbei mit einer kühlen Rachehandlung („[…] elle songea à se venger […].“608) zu tun, die zwar durch die genannten kontextuellen Faktoren bedingt wird, diese aber in einem kunstvollen Anordnungsprozess in eine komplexe Handlung überführt. Der Maßstab für die Bewertung ihrer Handlung ist somit dezidiert ein ästhetischer, wobei aus der Sicht der Erzählerfigur auch schon eine Wertung getroffen ist: Ihr Tun ist genial. Mit anderen Worten, die Geschichte Mme de la Pommerayes veranschaulicht die Wirkung der genialen Einbildungskraft ihrer Protagonistin, der sich ihre Geschichte verdankt. In diesem Sinne unterscheidet sich die Qualität der Handlung Mme de la Pommerayes deutlich von der des Marquis des Arcis, da ihre Handlung einen Mehrwert erzeugt, der endlich auch dem Empfinden des Herrn („mais il me semble que je sens au-dedans de moi-même que je suis libre, comme je sens que je pense.“609) Rechnung trägt. Mme de la Pommeraye ist gewissermaßen die textuelle Personifikation eines Bewusstseins, das die Selbstbestimmtheit der Einbildungskraft in Abhängigkeit der Konditioniertheit bzw. Affiziertheit des Bewusstseins durch kontextuelle Elemente zur Anschauung bringt, weil schließlich eine neue Geschichte aus der Aktivität dieses genialen Bewusstseins hervorgeht. Zugleich ist damit gesagt, dass sich in der ‚histoire de Mme de la Pommeraye‘ der implizite Vertextungsbegriff des Romans spiegelt, denn die Rachetat der Intrigantin ist wesentlich mit dem Tun des impliziten Autorbewusstseins gleichzusetzen, das im Spiegel selbstreflexiven Erzählens den Vertextungsbegriff einer eigenständigen Schöpfung in Abhängigkeit von einer notwendigen Determination durch andere Erzählwelten zur Anschauung bringt. Dabei wirkt das eigene Erzählen 608 Ebd., S. 138. 609 Ebd., S. 270 f.
III.5 Die Veranschaulichung genialer Einbildungskraft
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wiederum auf den Horizont der nachfolgenden Texte transformierend zurück. Über die Veranschaulichung des Vertextungsbegriffes hinaus ist aus der ‚histoire de Mme de la Pommeraye‘ zudem eine Zuspitzung jener vérité de l’histoire ableitbar, da der schöpferische Begriffsanteil als genialische Einbildungskraft einer Autorität (Mme de la Pommeraye) ausgewiesen wird. Gleichwohl ist jene genialische Qualität der vérité de l’histoire noch nicht verbindlich an die Aktivität des impliziten Autorbewusstseins rückgebunden. Es gilt deshalb zu zeigen, dass der Roman auch diesen Schluss zulässt. Jedenfalls dann, wenn man der Frage nachgeht, inwieweit die Pommeraye-Digression als Anteil des ‚Zeigens‘ konkret auf ein Kontextelement rekurriert, das den Anteil des ‚Sagens‘ dieser Textentität repräsentiert. Unmittelbar ist die Geschichte in den Herbergskontext eingelegt, wobei sich zeigt, dass diese Szenen des Reisegeschehens dazu dienen, die Vermittlungsumstände der Pommeraye-Digression zu inszenieren. Dazu gehört sowohl die Einführung der Wirtin als Erzählerin des Geschehens als auch die Motivierung ihrer Erzählung. In Bezug auf letztere ist zu sagen, dass die Wirtin die Geschichte über Umwege von einem Gast in Erfahrung gebracht hat, dass sie gerne erzählt und dass sie diese Geschichte aufgrund ihrer Einmaligkeit für erzählenswert hält. Entscheidend im Kontext der Vermittlungsumstände aber ist, dass die Wirtin die Geschichte angeblich über Umwege von einem ihrer Gäste in Erfahrung gebracht hat: Il n’y a pas plus de trois heures qu’ils [gemeint sind der Marquis des Arcis und sein Begleiter, Y.L.] sont ici, et il ne me manque pas un mot de toute leur affaire. Elle est plaisante, et si vous n’étiez pas plus pressé de vous coucher que moi, je vous la raconterais tout comme leur domestique l’a dite à ma servante qui s’est trouvée par hasard être sa payse qui l’a redite à mon mari qui me l’a redite.610
Es ist offensichtlich, dass diese Aussage weder zur Klärung noch zur Authentisierung der Vermittlungsumstände beiträgt, sondern zu ihrer Ironisierung. Denn innerhalb von drei Stunden ist es schlichtweg unmöglich, eine derart verwickelte Geschichte dreimal wiederzugeben, zumal ihre vermeintlichen Übermittler, zwei Bedienstete und der schwerfällige Gatte der Wirtin, alles andere als geeignet erscheinen, eine Geschichte dieser Raffinesse auch nur annähernd adäquat zu vermitteln. Wie schon im Falle des fiktiven Erzählers, dessen Chronistenposen als Authentizitätsfiktionen entlarvt wurden, so hat auch hier die Ironisierung der Vermittlungsumstände durch die Wirtin die Funktion, den tatsächlich fiktiven Status des erzählten Geschehens zu markieren. Insofern müsste die Wirtin, die hier nicht irgendeine Lügengeschichte, sondern tatsächlich einen kleinen Roman zum Besten gibt, eine Erzählkünstlerin oder vielmehr eine wahrhaft geniale Autorin sein. Damit aber ist die metafiktionale Thematisierung der Vermittlungsillusion noch nicht abgeschlossen, denn der standesgemäß gebildete Herr wundert sich über die Erzählkünste der Gastwirtin, die ihn mehrmals stutzig machen: „C’est que cette femme raconte beaucoup mieux qu’il ne convient à une femme
610 Ebd., S. 107.
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Teil III
d’auberge.“ Darauf erwidert Jacques scheinbar unpassend: „Il est vrai. Les fréquentes interruptions des gens de cette maison m’ont impatienté plusieurs fois.“611 Der inszenierte Zweifel des Herrn ist an sich bereits Hinweis genug, dass niemand anderes als das implizite Autorbewusstsein für den Diskurs der eloquenten Wirtin verantwortlich zeichnet. Doch Jacques’ Replik macht es zur Gewissheit, spielt sie doch auf ein bekanntes Signal jenes leserseitig zu rekonstruierenden Autorbewusstseins des Textes an. Tatsächlich werden die Ausführungen der Wirtin immer wieder aufgrund verschiedener Vorkommnisse im Gasthaus kurzfristig unterbrochen, was für den Leser auf den ersten Blick den Anschein einer Wirklichkeitsillusion haben mag. Jacques scheint es indes an die zahlreichen Unterbrechungen seiner eigenen Liebesgeschichte zu erinnern, die er in diesem Kontext auf ein lenkendes Schicksal zurückgeführt hatte. In parodistischer Lesart war das als gezielte Illusionsstörung zu lesen, die wiederum als Hinweis auf die Aktivität des impliziten Autorbewusstseins deutbar war. Vor diesem Hintergrund wird der scheinbar unsinnige Kommentar Jacques’ zu einer hintergründigen Anspielung, die auf das implizite Autorbewusstsein als eigentlichen Vermittler des Textgeschehens verweist. In Bezug auf die Vermittlungsillusion könnte Jacques’ Aussage störender nicht sein, macht sie doch nur vor dem Hintergrund des Wissens der Figur um die tatsächlichen Vertextungsverhältnisse Sinn. Eine Figur, zumal im Kontext einer vermeintlichen Wirklichkeitsillusion, darf dies nicht zu wissen vorgeben. Ein Grund mehr, in den Figuren, den Geschichten, wie überhaupt in dem Zusammenspiel aller Textelemente nur die vom impliziten Autorbewusstsein eingesetzten Hinweisstrategien zur Veranschaulichung der selbstreflexiven Vertextungsrealität zu sehen. In diesem konkreten Zusammenhang aber impliziert die Textstruktur, dass der gesamte Herbergskontext nur der Aufdeckung der tatsächlichen Vermittlungsumstände der ‚histoire de Mme de la Pommeraye‘ dient. Dieser selbstreflexiven Enttarnung zufolge erklärt sich das implizite Autorbewusstsein zum Schöpfer der Geschichte Mme de la Pommerayes. Wird aber die Geschichte Mme de la Pommerayes, die sich als veranschaulichende Inszenierung des paradoxen Vertextungsbegriffes offenbart (Textanteil des ‚Zeigens‘), bewusst der Imagination des impliziten Autorbewusstseins zugeschrieben, das den Gesamttext in den Dienst der Inszenierung einer paradoxen vérité de l’histoire zu stellen scheint, so bestätigt sich konkret, dass auch in diesem Fall ein Verhältnis von ‚Sagen‘ und ‚Zeigen‘ und somit eine grundsätzlich selbstreferenzielle Ästhetik vorliegt. Denn in der Pommeraye-Geschichte veranschaulicht sich das, was ihr Kontext stellvertretend für den Gesamttext als Aussage (Textanteil des ‚Sagens‘) impliziert: Die „histoire de Mme de la Pommeraye“ dient der Veranschaulichung einer nochmals zugespitzten vérité de l’histoire, die auf das implizite Autorbewusstsein zurückgeht. Damit impliziert der Text, dass jenes mit genialer Einbildungskraft gesegnete Autorbewusstsein den paradoxen Vertextungsbegriff vermittelt.
611 Ebd., S. 128.
III.5 Die Veranschaulichung genialer Einbildungskraft
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III.5.4 Letzte Analogieschlüsse als Performanz der Begriffsbildung Ausgehend von den bisherigen Ausführungen lässt sich sagen, dass mittels einer grundsätzlich selbstreflexiven Ästhetik vorgeführt wird, wie kraft der genialischen Einbildungskraft des impliziten Autorbewusstseins aus den unhintergehbaren prätextuellen Voraussetzungen in einem Umformungsprozess der originelle Roman Jacques le fataliste komponiert wird. Gleichwohl kann diese spezifische Vertextungsrealität aufgrund der ausgeprägt ironischen Appellstruktur des Textes nur im Bewusstsein des Lesers bzw. mittels einer Leserperformanz auf den ästhetischen Begriff der vérité de l’histoire gebracht werden. Darüber hinaus haben die bisherigen Analogieschlüsse gezeigt, dass der ästhetische Vertextungsbegriff als Analogon eines umgewerteten ideologischen Determinismusbegriffes lesbar ist. Der zuletzt vorgeführten Zuspitzung der vérité de l’histoire gemäß kann dieser Begriff abschließend nochmals erweitert werden: So ist die Vorstellung selbstbestimmten Determinierens in Abhängigkeit von kontextbedingten kausalen Determinationen an ein mit genialer Einbildungskraft begabtes Subjekt gekoppelt, das um die Notwendigkeit seiner kausalen Determiniertheit weiß. Zugleich ist es diesem Bewusstsein gegeben, eigenständig denkend und handelnd neue Konstellationen zu schaffen und auf diese Weise einen begrifflichen Mehrwert zu schöpfen. Damit ist die Ideologie eines rein materialistischen Determinismus endgültig zugunsten einer Vorstellung transzendiert, welche die Selbsttätigkeit von Denken und Handeln in einen kausalen Determinismus einbindet. Gerade in diesem Zusammenhang aber lässt sich der Analogieschluss über die ideologische Umwertung des Determinismusbegriffes hinaus auf eine erkenntnistheoretische Ebene bringen. Denn die selbstreflexive vérité de l’histoire offenbart sich als ein Zusammenspiel von unhintergehbarer Diskurstypbestimmtheit und genialischer Einbildungskraft, das im Bewusstsein des impliziten Autors vor sich geht. Angesichts dieses Umstandes ist die selbstreflexive Ästhetik, die in besagtem Vertextungsbegriff gipfelt, erkenntnistheoretisch funktionalisierbar. Darunter verstehe ich, dass sich die Konstitution des Vertextungsbegriffes im allgemeinsten Sinne wie eine komplexe Begriffsbildung ausnimmt, der die Kombination von Sinnesdaten durch die genialische Einbildungskraft zugrunde liegt. Dieser Analogieschluss ist naheliegend, weil bei der Textkonstitution, die in Jacques le fataliste mit einer ästhetischen Begriffskonstitution gleichgesetzt ist, wie in der Theorie des Erkenntnisprozesses unhintergehbare Voraussetzungen, die kausal determinierend sind – im einen Fall sind es die Strukturelemente, die auf das intertextuelle Kontinuum der Prätexte zurückführbar sind, während es im anderen Fall die Eindrücke bzw. die Ideen der Sinneswahrnehmung sind – von dem apriorischen Erkenntnisvermögen der Einbildungskraft in einer Kombinationsleistung zu einem komplexen Begriff synthetisiert werden. Da der Vorgang der Begriffsbildung an sich nicht analysierbar und damit auch nicht begrifflich fixierbar ist, weil über diesen Vorgang keine objektivierbaren Erkenntnisse vorliegen, lässt sich historisch lediglich auf die annähernd abgesicherte Beobachtung bauen, dass ausgehend von der Affizierung des Bewusstseins mit Sinnesdaten, im Bewusstsein selbst eine Kombination jener Daten oder einfachen Ideen zu komplexen Begrif-
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fen erfolgt. Ich habe bereits gezeigt, dass Diderot in der Erkenntnistheorie des Rêve de d’Alembert im Bewusstsein seiner Unkenntnis der Verstandesprozesse gleichsam hypothetisch und komplexitätsreduzierend die Einbildungskraft als das die Daten der Sinneswahrnehmung anordnende Erkenntnisvermögen ausweist, um in einem fiktionalen Versuchsrahmen eben dieses synthetisch-kombinatorische Begriffsbildungsvermögen vorzuführen. Aus meiner Sicht wird in Jacques le fataliste in erkenntnistheoretischer Perspektive genau dieser Begriffsbildungsprozess zur Anschauung gebracht, wenn in Analogie zur Verstandesleistung die Textkonstitution auf den Begriff gebracht wird. Diese Annahme ist dann jedenfalls plausibel, wenn die Einbildungskraft sowohl als das den Text anordnende bzw. auf den (Vertextungs-) Begriff bringende wie auch als das die komplexen Verstandesbegriffe schöpfende Vermögen ausgewiesen wird. Dann nämlich lässt sich aufgrund eben dieser Analogie in der Veranschaulichung der Textkonstitution eine Metapher der Verstandesleistung sehen, über die empirisch nachweisbar nichts Wahrheitsgemäßes ausgesagt werden kann. Mit anderen Worten, der Veranschaulichung als fiktionalem Zeigen eignet im Fall von Jacques le fataliste eine erkenntnisbildende Qualität, die der faktischen Aussage über das Denken oder vielmehr über die Vermögen des Verstandes allein aus Mangel an Erkenntnissen nicht zukommt. Zumindest dann nicht, wenn die Aussage nicht nur ein Dahinsagen oder eine unbelegbare Hypothese sein soll, die womöglich einer dogmatischen Behauptung oder einem Trugschluss gleichkommt. Wenn der Erkenntnisprozess und damit die die Elemente der Sinneswahrnehmung anordnende Verstandesleistung irreduzibel ist, so lässt es sich gleichwohl unternehmen, die komplexe Begriffsbildung und somit den Denkvorgang auf einem Feld zu untersuchen, dessen Struktur sich detailliert aufdecken lässt. Vor diesem Hintergrund kann von einer historisch plausiblen Zweckmäßigkeit der selbstreflexiven Ästhetik und der damit verbundenen Analogieschlüsse gesprochen werden. Denn in dem Maße wie das der Textstruktur eingeschriebene Autorbewusstsein in der vorgeführten Weise die Entstehungsbedingungen von Jacques le fataliste reflektiert, wird dem Leser das geschichtskonstituierende und darüber hinaus textkonstituierende Vermögen genialer Einbildungskraft veranschaulichend zu Bewusstsein gebracht. Dem Leser obliegt es indes, den Begriff dieser Vertextung in der vorgeführten Weise zu bilden und in selbsttätiger Erprobung seiner respektiven Einbildungskraft qua Analogieschluss den ideologischen Determinismusbegriff umzuwerten. Dadurch aber wird in einer komplexen Leserperformanz gerade die Begriffsbildung selbst zu einer über den fiktionalen Veranschaulichungswert hinausgehenden Erfahrung selbsttätigen Denkens, deren konkreter Mehrwert sich am Begriff des neu geschöpften paradoxen Determinismus ablesen lässt. Mit anderen Worten, auf der Grundlage der selbstreflexiven Fiktionalisierung der Vertextung wird durch den performativen Analogieschluss eine Theorie des Denkens nicht nur zur Anschauung gebracht, sondern zu einer in historischer Perspektive kongenialen schöpferischen Erfahrung, die jenseits ‚natürlicher‘ Erfahrungsgrenzen liegt. In diesem Sinne scheint mir Kants Aussage zur ästhetischen Idee an Diderots fiktionale Veranschaulichungsphilosophie mit ihrer
III.5 Die Veranschaulichung genialer Einbildungskraft
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komplexen, auf der Leserperformanz beruhenden Begriffsbildung anschließbar zu sein: Unter einer ästhetischen Idee verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlasst, ohne dass ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann. […] Man kann dergleichen Vorstellungen der Einbildungskraft Ideen nennen: eines Teils darum, weil sie zu etwas über die Erfahrungsgrenze hinaus Liegendem wenigstens streben, und so einer Darstellung der Vernunftbegriffe (der intellektuellen Ideen) nahe zu kommen suchen, welches ihnen den Anschein einer objektiven Realität gibt; andrerseits, und zwar hauptsächlich, weil ihnen, als inneren Anschauungen, kein Begriff völlig adäquat sein kann.612
Jenseits möglicher Anschlüsse an Kants in der Kritik der Urteilskraft entwickelte Vorstellungen zur Bedeutung der Einbildungskraft möchte ich abschließend hervorheben, dass in Jacques le fataliste Freiheits- und Notwendigkeitsprinzip miteinander in Einklang gebracht werden. Was auf der figuralen Ebene im komischen Konflikt zwischen Jacques und seinem Herrn anklingt und doch widersprüchlich und unaufgelöst bleibt, wird in der Interaktion von implizitem Textbewusstsein und Leserbewusstsein zu einem paradoxen und doch funktionalen Determinationsbegriff geformt. In seiner aktiven Bildung ist das Zusammenspiel von kausaldeterministischen Prämissen und selbsttätigem Denken und Handeln realisiert. In dieser Begriff gewordenen Freiheit des transformierenden Denkens und Handelns liegt die Quintessenz eines die materialistischen Naturgesetzmäßigkeiten transzendierenden Gedankens der Selbsttätigkeit, in dem sich das Werden des Seins materialisiert. Allerdings ist die im Genie verortete Einbildungskraft als Garantin schöpferischer Transformationen kein exklusives Vermögen genialer Autoritäten. Die wirkungsästhetische Textanlage, die den Leser zur eigenständigen Konstruktionsperformanz bzw. zur Entfaltung seiner Einbildungskraft in assoziativen Analogieschlüssen nötigt, mag hierfür Beleg genug sein. Insofern wird selbst unabhängig von der jeweils ergründeten Textbedeutung ein eigenständiges Weiterdenken provoziert, dessen Konsequenzen nicht ausbleiben können. Das ist die womöglich einzige Wahrheit, die der sich abgeschlossenen Sinnsystemen und Bedeutungen verweigernde Text bereithält.
612 Immanuel Kant, Die Kritik der Urteilskraft, Bd. 10, hg. v. Wilhelm Weischedel, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1974, S. 249 f.
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Als Philosoph der französischen Aufklärungsbewegung lehnt Diderot in der Tradition Lockes die Ansicht gottgegebener Ideen ab und setzt sich vornehmlich in materialistischer Perspektive mit dem Problem einer Theorie der Entstehung von Ideen auseinander. Dabei hat er die eng gesteckten Grenzen der empirischen Überprüfbarkeit seiner Erkenntnistheorie früh gesehen. Um diese Beschränkung zu überwinden – und aus ästhetischer Kons-
truktionslust – erkundet er die Rätsel der Erkenntnis auch mit den exploratorischen Möglichkeiten der fiktionalen Literatur. Yann Lafon entdeckt hier neue Zusammenhänge der fiktionalen Texte des Autors Diderot. Dabei rekonstruiert er bislang nicht berücksichtigte Dimensionen seiner Erkenntnistheorie, die über die materialistischen Grundannahmen des Theoretikers Diderot hinausweisen.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-09853-3
9 7 83 5 1 5 09853 3