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German Pages 488 Year 2015
Carsten Jakobi, Christine Waldschmidt (Hg.) Witz und Wirklichkeit
Mainzer Historische Kulturwissenschaften | Band 23
Editorial In der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften werden Forschungserträge veröffentlicht, welche Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften in Verbindung mit empirischer Forschung entwickeln. Zentraler Ansatz ist eine historische Perspektive der Kulturwissenschaften, wobei sowohl Epochen als auch Regionen weit differieren und mitunter übergreifend behandelt werden können. Die Reihe führt unter anderem altertumskundliche, kunst- und bildwissenschaftliche, philosophische, literaturwissenschaftliche und historische Forschungsansätze zusammen und ist für Beiträge zur Geschichte des Wissens, der politischen Kultur, der Geschichte von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie anderen historisch-kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsfeldern offen. Ziel der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften ist es, sich zu einer Plattform für wegweisende Arbeiten und aktuelle Diskussionen auf dem Gebiet der Historischen Kulturwissenschaften zu entwickeln. Die Reihe wird herausgegeben vom Koordinationsausschuss des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften (HKW) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Carsten Jakobi, Christine Waldschmidt (Hg.)
Witz und Wirklichkeit Komik als Form ästhetischer Weltaneignung
Gedruckt mit Mitteln des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
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Einleitung ............................................................................ CARSTEN JAKOBI / CHRISTINE WALDSCHMIDT
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I. Von der Komik zum Weltbild: Kulturelle Diagnosen und weltanschauliche Perspektiven Ironische Kontamination – Funktionen der Komik in den Haupt- und Staatsaktionen von J. A. Stranitzky ... 19 ANDREAS SOLBACH „Indeß lacht Bückler inniglich“ Historik, Lyrik und Theatralik des Schinderhannes im 19. Jahrhundert ................................................................ 41 BEATRIX MÜLLER-KAMPEL Echt komisch Rutschkys Reise durch das Ungeschick ............................... 69 ULRICH BREUER Das Lachen im Anblick des Despoten Stilformen des Komischen im Stalinismus und ihre Traditionen ..................................................................... 87 RAINER GOLDT
Satirisch, komisch, grotesk – Elfriede Jelineks Theaterstücke ..................................................................... 109 DAGMAR VON HOFF Die Problematik des Komischen bei Schiller Von früher Zustimmung zu später Kritik ................................ 123 WOLFGANG DÜSING
II. Weltbezug als Geltungsanspruch des komischen Urteils Unfreiwillige Komik Strukturelle Subjektivität, mediale Kontextualisierung, literarische Re-Inszenierung .................................................. 151 CARSTEN JAKOBI Mimetischer Realismus, ästhetische Evidenz, poetologische Reflexion Über den Witz in Georg Büchners Drama Danton’s Tod ....... 185 SERENA GRAZZINI Das ,Endliche‘ im Kontrast mit der Idee Die Realität als Teil des komischen Widerspruchs bei Jean Paul ........................................................................ 211 CHRISTINE WALDSCHMIDT Kontinuität der Aufklärung? Einige Bemerkungen zu Komik und Realismus bei Voltaire und Flaubert ....................................................... 241 CAROLINE MANNWEILER
III. Komisierung als Mittel der Tradierung: Gattungsfortschreibungen und behauptete Welthaltigkeit Idylle und Schwank Eine ungewöhnliche Konstellation in Eduard Mörikes Idylle vom Bodensee ............................................................ 275 GÜNTER OESTERLE „Alle Erwählung ist schwer zu fassen“ Die komische Realisierung des Wunders in Thomas Manns Der Erwählte ......................................................................... 293 PHILIPP GILLER Ein neuer Realismus – Funktionen der Parodie in Wolfgang Herrndorfs Adoleszenzroman In Plüschgewittern .............................................................. 317 STEFAN BORN Vom genius loci der Stiege Komik und Komödie in Heimito von Doderers Roman Die Strudlhofstiege ................................................... 335 YVONNE WOLF Das komische Kurzgedicht ................................................ 359 MAREN JÄGER Satura: Figur und Idee bei Martianus Capella – und wie Notker sie vielleicht dachte ................................................ 387 UTA STÖRMER-CAYSA
IV. Komische Verfremdung und kritische Perspektivierung der Wirklichkeit Komik der Realität im Drama Zetdam von Alfred Gong ... 407 NATALIA SHCHYHLEVSKA Kommissar Schneider quermittelt wieder Vom realistischen Kriminalroman zum postrealistischen Anti-Kriminalroman bei Helge Schneider ............................... 429 JUDITH WAGNER Die revolutionierte Ständeklausel Komödie, Tragödie und soziale Realität in Büchners Dramen ................................................................. 449 ARIANE MARTIN Zwischen Gleichnishaftigkeit und Realismus Elemente kafkaesker Komik in Siegfried Lenzʼ Kurzroman Landesbühne ...................................................... 469 CZESŁAW KAROLAK Autorinnen und Autoren ..................................................... 481
Einleitung CARSTEN JAKOBI / CHRISTINE WALDSCHMIDT Wer nach dem Zusammenhang von Komik und Weltdeutung bzw. weltanschaulichen Urteilen fragt, der kann in der literaturwissenschaftlichen Forschung einige regelmäßig konstatierte Sachverhalte antreffen, die vor allem in gattungs- und epochengeschichtlichen Betrachtungen ihren Ort haben: So wird für die Komödie immer wieder die Affinität zu gesellschaftlichen Themen veranschlagt, für den Roman des poetischen Realismus diejenige zum Humor, für die Satire eine zeitgenössisch-politische Valenz. Ist darin ein Zusammenhang von komischen Darstellungsweisen und Bezugnahme auf die Realität unterstellt, wird er allerdings als eine Selbstverständlichkeit behandelt, die selbst keiner weiteren Analyse bedürfe. Diese literarhistorischen ‚Würdigungen‘ des Komischen als Kristallisationspunkt von Gattungs- und Epochenprofilen haben in kulturwissenschaftlichen Ansätzen zur Komik einen Widerpart gefunden. Solche Untersuchungen verschaffen sich, vor allem unter dem Einfluss postmoderner Theoriebildung, einen Zugang zum Thema Komik, indem sie eine Gleichsetzung von Komischem und Lachen nahelegen – und damit eigentlich einen Gegenstandswechsel vollziehen.1 In den Blick kommen die Aspekte des Komischen dann in einer sehr speziellen Modifikation: Sie erscheinen als Gedanken zu seiner Wirkungsweise oder gleich als Verwirklichung von anthropologischen Konstanten. Dies identifiziert das Komische unmittelbar mit einem Gedanken an seine Funktion, also mit seinen kulturellen Valenzen. An einem prominenten Gewährsmann postmoderner Lachtheorie, nämlich an Bachtin und seinen Versuchen, im Lachen die Verwirklichung eines subversiven Potenzials und eine
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Z. B. bei KAMPER/WULF, 1986.
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Carsten Jakobi / Christine Waldschmidt
Abwehr repressiver Wirklichkeit zu beschreiben,2 zeigt sich dieser Übergang als weltanschauliche Zuschreibung an die Form, und zwar darin, dass dem Verfahren ein ganz spezifischer Wirklichkeitsbezug eignen soll: Bei Bachtin kommt dies als ein Relevanzausweis des Komischen vor, der in jedem Auftreten von Komik schon eine subversive Kraft am Werke sehen möchte. Will man sich weder dieser einseitigen Festlegung auf ein notwendig kritisches Potenzial des Komischen noch dem bloßen Nebeneinandersetzen von ästhetischen und weltanschaulichen Phänomenen anschließen, so steht eine Analyse der Komik mit Blick auf den in ihr artikulierten Wirklichkeitsbezug an. Der vorliegende Band macht es sich deshalb zur Aufgabe, die kultur- und dichtungstheoretischen wie die literarhistorischen Bedeutungsaufladungen und Implikationen komischer Bezugnahmen auf die (gesellschaftliche) Realität nicht einfach fortzuschreiben, sondern zu klären, auf welche Weise das Komische als spezifischer Modus der Wirklichkeitsaneignung und -deutung kenntlich und beschreibbar wird und umgekehrt die Komik eines Gegenstandsbezugs bedarf. Auf diese Weise kann sichtbar werden, wie sich sowohl die poetische als auch die kulturelle Produktivität komischer Verfahren entwickelt. Methodischer Ausgangspunkt ist ein Blick auf Texte und andere mediale Formen, für den der Text bzw. die jeweilige Form nicht nur Text oder bloßer Ausdruck einer kulturellen Praxis bleibt, sondern diese kulturelle Praxis produziert und darin ein Urteil über sich selbst und über die Welt formuliert: Die komische Haltung ist eine Weltaneignung, die sich darin als der Welt gegenüber adäquat inszeniert. Eine solche Reflexion geht davon aus, dass Komik nicht von vornherein festgelegt ist auf den Gegensatz einer Norm und ihrer Durchbrechung, wie ihn die komiktheoretischen Ansätze von Bergson, Ritter oder Plessner behaupten.3 Vielmehr erfolgt in der Komik ganz allgemein die Einrichtung eines Widerspruchs, als dessen Inhalt so ziemlich alles in Frage kommt, was die Form eines Gegensatzes annehmen kann – der Gegensatz von Norm und Normverstoß ist dann nur eine Möglichkeit, eine andere wäre der „Kontrast des Wesentlichen und seiner Erscheinung“ oder „des Zwecks und der Mittel“4. Dass die Komik, wenn sie einen Widerspruch festhält, ihn in seiner Unmittelbarkeit anschaulich macht, ist die ästhetische Leistung komischer Darstellung; darin
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S. BACHTIN, 1990. Z. B. PLESSNER, 1982, S. 297. HEGEL, 1990, S. 527. Vgl. dazu auch JAKOBI, 2005, S. 100f.
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ergeht zudem der Verweis auf ein Subjekt, das den Widerspruch ausgestaltet oder überhaupt erst konstruiert. Damit ist eine Aussage über das Verfahren, aber noch nicht über die Inhalte der in der Komik kommunizierten Stellungnahme zur Wirklichkeit getroffen. Anders gesagt: der durch die Komik eingerichtete Bezug zur Realität kann in unterschiedlichen Varianten und Funktionen begegnen. Zunächst kann das Für-nichtig-Erklären eines Zustands der Wirklichkeit zur Kritik an dieser Gegebenheit dienen, worin die Selbstaufhebung des Kritikwürdigen als ästhetische Illusion des wünschenswerten Zustands oder praktisch gemeinte Durchführung der Kritik auftritt. Denkbar ist Komik aber auch als Mittel eines konstruktiven (bis affirmativen) Verhältnisses zur Realität, indem sie mit der Lächerlichkeit bzw. Substanzlosigkeit widriger Verhältnisse gerade das SichErübrigen von Kritik formulieren oder die bessere Alternative als in dieser Welt schon enthalten ausgeben kann. Schließen diese beiden Varianten der Komik noch einen praktischen Geltungsanspruch des in ihr kommunizierten Urteils zumindest potentiell ein, kann sie auch als Verweis auf die Übermacht der Realität sowie die Resignation vor dieser dienen, worin die Komik dem Subjekt die partielle (und bisweilen illusionäre) Möglichkeit der ästhetischen Distanzierung von einer unaufhebbaren Betroffenheit gibt. Über die spezifischen Modi, einen Wirklichkeitsbezug einzurichten, lassen sich auch die bekannten ästhetischen Erscheinungsformen des Komischen beschreiben und differenzieren: So strebt z. B. die Satire in ihrer Darstellung der Wirklichkeit den Gültigkeitsausweis einer Kritik an, in der das Vorkommen der Realität ganz in den Dienst ihrer (Selbst-)Entlarvung gestellt ist.5 Dabei liefert nicht selten die Komik das Mittel der Herabsetzung des Kritikwürdigen; darüber hinaus kommt sie dem Anspruch der Satire auf Realitätsadäquatheit entgegen, indem hier das für die Komik konstitutive distanzierte Urteil ganz in die Selbstdarstellung seines Gegenstandes verlagert wird. Der Humor greift diese Technik der Distanzierung auf und überwindet sie zugleich, indem die reale Geltung eines diagnostizierten Übels in eine heiter-resignative – im Alltagssprachgebrauch: ‚realistische‘ – Anerkennung seiner Notwendigkeit überführt wird. Die Komödie wiederum kennt prinzipiell die ästhetische Funktionalisierung von Widrigkeiten für den dramatischen Konflikt, die sie der Realität entnimmt, um sie mit den Mitteln des komischen Spiels überwindbar erscheinen zu lassen, schon bevor das Ende sie in der Theaterfiktion tat-
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Vgl. SPIES, 1995, S. 304f.
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sächlich entmachtet.6 Die Groteske ist zwar wesentlich weiter entfernt von einem realistischen bzw. mimetischen Zugriff auf die Wirklichkeit, hält aber im Ausganspunkt für ihre Phänomenologie der Sinnwidrigkeiten ebenfalls an einem Urteil über die Wirklichkeit7 fest, das eine solche ästhetische Repräsentation notwendig erscheinen lässt. Die Übergänge zum Nonsens sind fließend, können aber theoretisch bestimmt werden, ganz gleich, ob sich in ihm auf absurdistische Weise eine Weltdiagnose radikalisiert oder ob sich darin das freie Spiel ästhetischer Subjektivität artikuliert. Wurde im bisher Gesagten die Funktion der Komik als Mittel für Gestaltung und Geltendmachen des jeweiligen Urteils über die Welt beschrieben, so kommt umgekehrt die Komik ohne ihren Gegenstandsbezug nicht zustande. Wer Klarheit darüber gewinnen möchte, worin der komische Kontrast besteht und erst recht wie das Weltverhältnis bzw. das in ihr dargebotene kritische oder affirmative Urteil ausfällt, das die jeweilige komische Inszenierung artikuliert, der kommt nicht umhin zu analysieren, welches Material hier ins Verhältnis gesetzt und wie dessen Realitätsbezug verbürgt wird. Zudem sind manche Formen im Repertoire der literarischen, oder allgemeiner, der künstlerischen Komik, etwa die Karikatur oder die Satire, auf die Wiedererkennbarkeit des Dargestellten angewiesen, genauer: sie konstituieren sich durch ein Verhältnis von Realismus und Verfremdung, eine Dialektik von simulatio und dissimulatio. Der vorliegende Band wird in epochen- und medienübergreifenden Analysen den Zusammenhang von Komik und Realitätsbezügen als Verhältnis einer wechselseitigen Funktionalisierung in den Blick nehmen. Hinsichtlich des Anteils der Realitätsbezüge in der komischen Darstellung und der Möglichkeiten von Weltdeutung, die sich darin vornehmen lassen, drängen sich insbesondere vier Aspekte auf, die sich in den einzelnen Sektionen dieses Bandes wiederfinden: I. Von der Komik zum Weltbild: Kulturelle Diagnosen und weltanschauliche Perspektiven: Die Eigenart komischer Darstellung, das Lächerliche der Verhältnisse und damit das kritische Urteil über die Dinge und Gegebenheiten an ihnen selbst sichtbar werden zu lassen, tendiert dazu, das Komische zu einer Qualität der Wirklichkeit zu machen, die von den in ihr anzutreffenden Widersprüchen selbst zeugt. Von dieser Stilisierung ausgehend, die zunächst einmal 6 7
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Vgl. SPIES, 1997, S. 8. In der Groteske ergeht nämlich die Mitteilung, „daß verkehrt zu sein das Gesetz der Welt sei“, SPIES, 1995, S. 306.
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eine Konsequenz des darstellerischen Verfahrens ist, ergeben sich vielfach Ableitungen, die daraus gleich einen Inhalt gewinnen und die in der Komik enthaltene Kennzeichnung einzelner Verhältnisse in der Welt zu einem Weltbild ausweiten. Solchen Übergängen ins Weltbild widmen sich Beiträge, in denen Zuschreibungen von weltanschaulichen Gehalten an das komische Verfahren und an seine Funktion zum Tragen kommen, etwa durch die Reflexion des Komischen im Rahmen politischer, gesellschaftlicher sowie kultureller Diagnosen (Solbach, Goldt, von Hoff), aber auch Beiträge, die beschreiben, wie sich an der Kategorie des Komischen dichtungs- oder wissensgeschichtliche Diskurse kristallisieren (Müller-Kampel, Breuer). Umgekehrt lassen sich aber auch ästhetisch-weltanschauliche Programme mittels Ausschluss des Komischen konturieren (Düsing). II. Weltbezug als Geltungsanspruch des komischen Urteils: Hinsichtlich der Frage, welche Leistung umgekehrt einer realistischen Darstellung für die Umsetzung von Komik zukommt, lässt sich bemerken, dass die Realitätsnähe zur behaupteten Geltung des komischen Urteilens beiträgt, d. h. für die Legitimität des darin artikulierten Anliegens von Nutzen sein kann. Hierher gehören alle Gültigkeitsausweise des komischen Urteils qua Wiedererkennbarkeit des Dargestellten und alle (ästhetischen, rhetorischen) Mittel, den Realitätsbezug des Komischen zu verbürgen. Am stärksten tritt ein solches Angewiesensein des Komischen auf den Wirklichkeitsgehalt des Materials in Realsatire und unfreiwilliger Komik hervor (Jakobi) oder wenn der Anspruch, realitätsadäquate Urteile zu unterbreiten, sich auf die Überzeugungskraft ästhetischer Evidenz stützt (Grazzini, Mannweiler); eine Emphase des Realitätsbezugs begegnet nicht zuletzt beim Zusammenschluss komischer Darstellung mit ihrem Material im Humor (Waldschmidt). III. Komisierung als Mittel der Tradierung: Gattungsfortschreibungen und behauptete Welthaltigkeit: Das Verhältnis von Komik und Realitätsbezug zeitigt eine dezidiert literar- bzw. formengeschichtliche Relevanz: So werden immer wieder die in bestimmten Gattungstraditionen liegenden Vorgaben der Semantisierung an der jeweiligen historischen Wirklichkeit ihres Verwendungskontextes gemessen und für obsolet befunden. In diesen Fällen kann die komische Variation auf die literarische Form bzw. ihre komische Destruktion, ihre Parodie oder ihre Anreicherung mit komischen Elementen die ästhetische Form wieder verwendbar machen – entweder über den Umweg einer Distanzierung von der weltanschaulichen Emphase (Giller) oder in einer Wirklichkeitsanreicherung, einer neuen Welthaltigkeit (Oesterle, Born). Komik wird
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Carsten Jakobi / Christine Waldschmidt
darin zur Bedingung einer Wiederverwendbarkeit weltanschaulich semantisierter Formen und darin eine ganz eigene Weise der Tradierung. Dabei kann man entweder das weltdeutende Potenzial erneuern (Wolf), die Produktivität von Darstellungsmustern durch den fortgesetzten komischen Verstoß gegen sie mobilisieren (Jäger) oder gleich in die Selbstthematisierung des Musters übergehen (Störmer-Caysa). IV. Komische Verfremdung und kritische Perspektivierung der Wirklichkeit: In der Satire dient die Komik in der Regel einer kritischen Wendung gegen die Wirklichkeit, die sich aus der komischen Darstellung ihrer Verhältnisse und Wesensmerkmale ergibt. Auch wenn zur Erzeugung der Komik dabei oft zu Verfahren des Überzeichnens und Verfremdens gegriffen wird, treten diese Verfremdungen nicht selten dezidiert mit dem Geltungsanspruch des Realistischen auf und werden als Enthüllung des ‚wahren‘ Wesens der Wirklichkeit vorgeführt. Dabei kann die Vorstellbarkeit einer praktischen Veränderung als ästhetische Verkehrung auftreten (Martin) oder aber die Komik zum Movens einer intellektuellen Praxis werden, die sich der im Verfahren der Komik enthaltenen Distanzierungen bedient, um dem Subjekt angesichts des Wissens um die praktische Unveränderbarkeit der Verhältnisse und einer (emotionalen, moralischen) Betroffenheit wenigstens noch ästhetisch die Möglichkeit des theoretisch überlegenen Standpunktes abzusichern (Shchyhlevska, Karolak). Dies kann in eine umfassende Durchführung der eigenen Urteilsperspektive münden, aber auch in eine Lizenz, sich in der Nonsensproduktion von der Wiedererkennbarkeit eines konkreten Gegenstands der Kritik zu befreien (Wagner). Der Band folgt einem sowohl epochenübergreifenden als auch innerhalb der Philologien interdisziplinären Ansatz (mit Beiträgen aus der Germanistik, Mediävistik, Romanistik, Slavistik, Komparatistik, Theaterwissenschaft). In vielen Fällen liefern literarische Beispiele das Material oder literaturtheoretische Vorüberlegungen den Ausgangspunkt, sie sind aber zugleich der Anlass für systematische Ausdifferenzierungen oder Übergänge zu Betrachtung alltagskultureller Phänomene. Das zeigt sich in der in mehreren Beiträgen zentralen Rolle populärkultureller Formen der Darstellung und in diesem Kontext nicht selten auch medialer Verschiebungen von der Literatur weg zu Theater, Comedy und Film. Die hier versammelten Beiträge gehen zum größeren Teil auf Vorträge zurück, die im Rahmen einer Arbeitstagung zum Thema „Komik und Realismus“ zur
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Diskussion gestellt wurden. Hinzu kamen weitere Beiträge, welche systematische Ergänzungen bieten und das historische Spektrum erweitern. Die genannte Tagung wurde organisiert von Uta Störmer-Caysa, Judith Wagner sowie den Herausgebern dieses Bandes und fand vom 26. bis 28. September 2013 in Königswinter statt; sie wurde finanziell unterstützt vom Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften, von der Abteilung Internationales und der Frauenförderung des FB 05 der Johannes Gutenberg-Universität Mainz sowie von den ‚Freunden der Universität Mainz e. V‘. Der Teilnehmerkreis setzte sich aus Vertretern unterschiedlicher philologischer, komparatistischer und medienwissenschaftlicher Disziplinen zusammen und umfasste etablierte WissenschaftlerInnen aus den verschiedenen Feldern der Komikforschung ebenso wie NachwuchswissenschaftlerInnen und studentische DiskussionsteilnehmerInnen. Das Thema der Tagung und viele theoretische Ideen zu seiner Klärung, die in diesen Band Eingang gefunden haben, verdanken sich Forschungsbeiträgen, die Bernhard Spies zum Thema Komik vorgelegt hat, und vor allem seinen Anregungen im kollegialen Austausch und in der Lehre. Allen Beteiligten an Tagung und Sammelband danken wir für ihre fundierten, thematisch anschlussfähigen Beiträge, für konzentrierte und weiterführende Diskussionen und die Freude an der gemeinsamen Auseinandersetzung mit einem gleichermaßen ‚welthaltigen‘ wie unterhaltsamen Thema. Ein weiterer Dank gilt dem Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften, insbesondere seinem Sprecher Jörg Rogge und dem Koordinationsausschuss, für die Aufnahme in die Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften und die großzügige finanzielle Unterstützung der Publikation. Mainz, im Januar 2015
Literatur BACHTIN, MICHAIL M., Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Aus dem Russ. übers. u. mit einem Nachwort versehen von ALEXANDER KAEMPFE (Fischer Taschenbuch Wissenschaft 7434), Frankfurt/M. 1990.
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HEGEL, GEORG WILHELM FRIEDRICH, Vorlesungen über die Ästhetik III, in: DERS., Werke (stw 615), Red. EVA MOLDENHAUER/KARL MARKUS MI2 CHEL, Bd. 15, Frankfurt/M. 1990. JAKOBI, CARSTEN, Von den Freiheiten und Grenzen des komischen Dramas in finsteren Zeiten. Exilkomödien über den NS-Rassismus, in: literatur für leser 28,2 (2005), S. 99-111. KAMPER, DIETMAR/WULF, CHRISTOPH, Der unerschöpfliche Ausdruck. Einleitende Gedanken, in: Lachen – Gelächter – Lächeln. Reflexionen in drei Spiegeln, hg. von DIES., Frankfurt/M. 1986, S. 7-14. PLESSNER, HELMUTH, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens, in: DERS., Gesammelte Schriften, hg. von GÜNTER DUX u. a., Bd. 7: Ausdruck und menschliche Natur, Frankfurt/M. 1982, S. 201-387. SPIES, BERNHARD, Feuer im Palast zu Lilliput. Überlegungen zu Satire und Groteske im Jahrhundert der Aufklärung, in: arcadia 30,3 (1995), 303‐315. DERS., Die Komödie in der deutschsprachigen Literatur des Exils. Ein Beitrag zur Geschichte und Theorie des komischen Dramas im 20. Jahrhundert, Würzburg 1997.
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I. Von der Komik zum Weltbild: Kulturelle Diagnosen und weltanschauliche Perspektiven
Ironische Kontamination – Funktionen der Komik in den Haupt- und Staatsaktionen von J. A. Stranitzky ANDREAS SOLBACH Bekanntlich zielt Gottscheds Dramenreform nicht nur auf die Tragödie, sondern auch auf das Lustspiel, dem er untragbare Freiheiten und Freizügigkeiten vor allem um die Harlekin-Figur attestiert. Dennoch unterliege die Komödie denselben ästhetischen Normen und Regeln wie auch die Tragödie, was die Form angeht, während inhaltlich natürlich die aus der Aristoteles-Rezeption herrührenden Bestimmungen übernommen werden: Die Komödie ist nichts anders als eine Nachahmung einer lasterhaften Handlung, die durch ihr lächerliches Wesen den Zuschauer belustigen, aber auch zugleich erbauen kann. […] Es ist also wohl zu merken, daß weder das Lasterhafte noch das Lächerliche vor sich allein in die Komödie gehöre: sondern beides zusammen, wenn es in einer Handlung verbunden angetroffen wird.1
Die wichtigste Bestimmung der Komödie betrifft nun aber nicht die veränderte Ständeklausel oder die Charaktergestaltung, sondern die „Schreibart der Komödien“, vor allem die Frage nach der Quelle der „Lustigkeit im Ausdrucke“: Ich antworte, das Lächerliche der Komödien muß mehr aus den Sachen als Worten entstehen. Die seltsame Aufführung närrischer Leute macht sie auslachenswürdig. […] Dieses ist nun das wahre Belustigende in der Komödie. Al-
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GOTTSCHED, 1751, S. 186.
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Andreas Solbach lein kleine Geister, die keine Einsicht in die Moral besitzen und das ungereimte Wesen in den menschlichen Handlungen weder wahrnehmen noch satirisch vorstellen können, haben sich auf eine andre Art zu helfen gesucht. Sie haben das Lächerliche nicht in den Sachen, sondern in Worten und Gebärden zu finden gemeinet. Daher hat Harlekin und Scaramuz die Hauptperson ihrer Lustspiele werden müssen. Diese müssen durch närrische Kleider, wunderliche Posituren und garstige Fratzen den Pöbel zum Gelächter reizen. […] ein Poet setzt sich also in den Verdacht, als verstünde er sein Handwerk, das ist die Satire nicht: wenn er ohne Beihülfe eines unflätigen Possenreißers nichts Lustiges auf die Schaubühne bringen kann.2
Dies ist bei näherem Hinsehen doch mehr als nur die vorkritische Unterscheidung von Sach-, Situations- und Wortkomik, denn Gottsched verbindet mit seinem wertenden Diktum ein ganz spezifisches Argument, demnach die ‚wahre‘ und alleinige Quelle der Komik in der Sache liegt, die hier als Abbreviatur der Handlungszusammenhänge zu verstehen ist. Der gar nicht so verdeckte Bezugspunkt ist hier die rhetorische Distinktion von res und verba, die bei Gottsched allerdings nur als implizite Legitimation gelten kann und als Grundlage für einen weiterführenden Gedanken dient. Damit die Komik des Lustspiels gebändigt, domestiziert und ihr starker darstellerischer Einfluss auf den Zuschauer moraldidaktisch nutzbar gemacht werden kann, muss sie in strukturell dominante und unzweideutige Kontexte eingebunden werden. Dazu dient die Verwandlung der paradigmatischen Synchronie der burlesken Hanswurstiaden in eine syntagmatisch gebundene, weil die dem Syntagma immanente kausale Handlungslogik die komischen Effekte ihrer brisanten Antilogik beraubt und in moraldidaktischer Hinsicht funktionalisiert. Der Zuschauer soll wissen, warum er lacht, und dieses Wissen soll dem Lachen nicht nur zeitlich vorausgehen, sondern es soll es auch zu jeder Zeit dominieren. Die Komik des Lustigmachers dagegen verabscheut die Kausalkonstruktion; sie unterwirft sich nicht nur nicht der Vernunft, sondern bestreitet energisch deren Geltung und Wirksamkeit, ja deren ‚Vernünftigkeit‘ angesichts der unvernünftigen Verhältnisse, in denen die Menschen sich bewähren müssen. Hier geht jedes Lachen dem vernünftigen Geschmacksurteil voraus, in dem es gerade dieses Urteil bereits als Form dementiert: Im Lachen des Hanswursts errichtet sich zunächst die Dimension des Körpers als Herr über die Vernunft, indem er die Sprache zu seinem Knecht und Instrument macht, um den Logos 2
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EBD., S. 193f.
Funktionen der Komik in Stranitzkys Haupt- und Staatsaktionen
zu züchtigen. Das Lachen, das der Hanswurst provoziert, ist dabei nicht einfach unmittelbarer, es eignet sich durchaus auch zur Vermittlung von Einsichten, die den Zuschauern nützlich sein können; allerdings beziehen sie sich nicht auf die Einübung von christlichen Moralmaximen, sondern auf das Verhältnis von Vernunft und Begehren. Die Dialektik ihrer Auseinandersetzung wird auf der Projektionsfläche des Sprach/Körpers öffentlich begreifbar gemacht und führt zu lustvoll-komischen Erkenntnissen, die sich auf die eigenen Erfahrungen der Zuschauer und ihre alltägliche Affektpraktiken beziehen. Diese Gattung des Burlesken ist als abgegrenzte eigene dramatische Form (Posse, Burleske, Harlekinade, Zwischenspiel, etc.) nur sehr schwer zu kontrollieren. Wir wollen uns im Folgenden dann auch mit der sublimeren Form derjenigen Texte befassen, in denen der Hanswurst als burlesker ‚Spielmacher‘ in einem ‚ernsten‘ Handlungszusammenhang auftritt, also eine wichtige, tendenziell zentrale Strukturposition im Drama einnimmt.3 Die Haupt- und Staatsaktionen sind noch am ehesten als „Mischspiele“ zu charakterisieren, in denen komische und ernste Szenen nicht selten ohne jeglichen Übergang nebeneinander gestellt wurden, was das problemlose Einfügen der komischen Figur in nahezu jedes Stück erlaubte. […] Eine der zwei Ebenen blieb den „hohen“, ernsten Charakteren vorbehalten, auf der anderen wirkte die komische Figur, entweder allein oder (eher selten) mit der Unterstützung eines kleinen komischen Ensembles.4
Diese komische Person entwickelt sich um die Jahrhundertwende zum Hanswurst, in dem sich die Parallel- und Vorläuferfiguren des Scaramutz, Hans Knapkäse, Hans Supp, Jean Potage, Jean Bouschet und vor allem des Pickelhering treffen. Hans Asper hat in seiner grundlegenden Studie zum Hanswurst5 nachgewiesen, dass alle diese Lustigmacher auf die Figur des Clowns6 aus der 3
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Die enge Verbindung der beiden Bereiche ist in Stranitzkys Anthologie lustiger Szenen unmittelbar greifbar; STRANITZKY, 1886. Schon Gottsched kennt die Sammlung als Quelle der zeitgenössischen Komödianten, vgl. GOTTSCHED, 1751, S. 186. Nach neueren Untersuchungen ist es allerdings unwahrscheinlich, dass Stranitzky der Verfasser der Ollapatrida ist. Siehe dazu ASPER, 1980, passim. ERNST, 2003, S. 23f. Vgl. auch FLEMMING, 1958, S. 619-621. ASPER, 1980. Dieser ‚Clown‘ ist bereits eine Kontamination von ‚fool‘ und ‚clown‘, wie wir sie in der englischen Bühnentradition etwa bei Shakespeare kennen. Vgl. ASPER, 1980, S. 13, 23 u. 34. Er stützt sich dabei auf ECKHART, 1902, S. 237-367; vgl. ASPER, 1980, S. 323f.
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Andreas Solbach
englischen Wanderbühnentradition zurückgehen und eine einzige Bühnenfigur ausmachen. In der von Josef Anton Stranitzky als Schauspieler popularisierten Hanswurstfigur ist die komische Person nun zusätzlich mit einer Herkunftslegende und einem dauerhaften Standardkostüm ausgestattet.7 Stranitzkys Haupt- und Staatsaktionen gehen dabei überwiegend auf italienische Opernlibretti8 zurück, in die eine zweite komische, auf Hanswurst bezügliche Handlungsebene eingezogen wird. Die offenkundige Gemeinsamkeit der Stücke liegt in dem Bezug zu den dramatischen Repräsentationen der Wiener Hofkultur, die sich unter Leopold I. fast ausschließlich Oper und Ballett bzw. dem höfischen Fest zuwendet. Ernst zieht gerade diese Repräsentationsfunktion des höfischen Musiktheaters als Grundlage für das Verständnis von Stranitzkys Stücken heran und betont die Außerordentlichkeit und Singularität der Aufführungen, die optischen und mechanischen Überraschungseffekte und die Dominanz der musikalischen Dimension.9 Nicht glaubwürdig gestaltete Figuren oder die Wahrscheinlichkeit der Handlung stehen im Vordergrund, sondern die Vermittlung höfischer Ideologie, die zum einen durch den absolutistischen Herrscherkult, zum anderen durch das Hofzeremoniell geprägt wird. […] Die Handlung der Hofoperntexte bewegt sich fast ausschließlich um die Idealvorstellung von der Tugendwelt des Herrschers und seines Hofes […].10
Als essentielle Tugenden nennt Ernst „pietas, justitia, prudentia, constantia, und fortitudo. Im Umfeld Ludwigs XIV. bilden sich als Ergänzung die Begriffe grandeur, générosité und politesse heraus“11, wobei die générosité, angelehnt an die clementia Caesaris, zum zentralen Persönlichkeitsmerkmal des 7
Die Herkunftslegende hat in der Stranitzky-Forschung allerlei Unheil gestiftet, weil über Stranitzkys Biographie nur wenig bekannt ist. Spätestens seit Asper ist klar, dass Stranitzky nicht der Autor der Ollapatrida ist. Asper zweifelt zudem daran, dass er der Verfasser der von Payer von Thurn aufgefundenen 14 Theatertexte ist; der Zweifel ist nicht unberechtigt, weil sich die Zuschreibung auf keinerlei belastbare Belege stützt. Die Verfasserfrage ist aber angesichts des derivativen Charakters der Texte unbedeutend; wenn hier von Stranitzky als Verfasser gesprochen wird, so immer nur als Konvention in der Forschung. 8 Zumeist in deutschen Übersetzungen; für einige Texte lassen sich allerdings keine Grundlagen oder Übersetzungen ermitteln. 9 ERNST, 2003, S. 35-37. 10 EBD., S. 38. 11 EBD., S. 39. Sie referiert hier Erkenntnisse von EHALT, 1980, S. 159.
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Funktionen der Komik in Stranitzkys Haupt- und Staatsaktionen
absoluten Fürsten wird. Die höfische opera seria entwickelt sich dann auch unter Beachtung strikter Regeln: Die Handlung ist repräsentativ für die höfisch-feudale Wertewelt, und sie gründet in den Vorschriften zeremoniellen Verhaltens am Hofe; Transgressionen werden verfolgt und bestraft, wie auch komische Handlungselemente streng isoliert sind, so dass sie die ernste Haupthandlung nicht beeinträchtigen oder kolorieren. Ernst resümiert: In diesen Kontext sind Stranitzkys Haupt- und Staatsaktionen einzuordnen. Stranitzky bezieht durch die Gestaltung der Hanswurstfigur eine klare Stellung gegen die gespreizte Hofkultur: Hanswurst ist kein naiv-komischer Lustigmacher mehr, der sich durch sein Unverständnis gegenüber adlig-höfischer Lebensweise selbst lächerlich macht, sondern wird zu einer bewusst komischen Figur, die den Anachronismus der durch die Operntexte repräsentierten Hofkultur entlarvt […].12
An dieser Stelle hat sich jedoch eine nicht unbeträchtliche Verkürzung in der Beschreibung eingeschlichen, denn Ernst betrachtet die von Stranitzkys Hanswurst ausgehende Komisierung der höfischen Gesellschaft als Reflex auf die in der prunkvollen opera seria ausgestellten höfischen Repräsentationen. Dementsprechend würden die genannten fürstlichen Charakterattribute (Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Klugheit, Beständigkeit, Stärke, Größe, Höflichkeit und Güte) der Entwertung verfallen; davon kann allerdings nicht die Rede sein.13 Denn die opera seria repräsentiert weniger eine realistische Ansicht des fürstlichen Hofes als ein Inventar adliger Idealprojektionen, wobei dann aber nicht die Projektion an sich interessiert, sondern ihre mediale Umsetzung. Mit anderen Worten: Die Hofoper demonstriert den höfischen Mediengebrauch, und, so können wir vermuten, die Haupt- und Staatsaktionen zielen auf diese Medialisierung und nicht primär auf die damit transportierten Inhalte, die deswegen allerdings nicht unwichtig werden. In der Prunkoper lässt sich anschauen, wie der Hofadel sich selbst in Szene setzt, und es ist eben diese Technik der Selbstrepräsentation, die den Zielpunkt 12 ERNST, 2003, S. 43. 13 Im ersten Teil ihrer Arbeit nutzt Ernst durchgehend die Ergebnisse Aspers, wobei sie versucht, ihre an entscheidenden Punkten abweichende Meinung als mit Asper konform darzustellen; so behauptet sie, dass die Funktion des Hanswurst keineswegs Satire oder Kritik der Adelswelt sei (EBD., S. 82f.), womit sie auf eine der wichtigen Überzeugungen Aspers eingeht und ihre eigenen Thesen (EBD., S. 43f.) schwächt.
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der parodistischen Adaptionen abgibt. Dabei stehen naturgemäß nicht nur die Attribute der fürstlichen Prunkcharaktere im Vordergrund des Interesses, sondern der dabei sichtbar werdende Mediengebrauch. Die in ihm zutage tretende Haltung vorzuführen und zu imitieren, ist die wesentliche Funktion der Hauptund Staatsaktionen; in ihnen ist der adlige Held kein Heros, sondern die Nachahmung der opernhaften Verkürzung seiner selbst. Zweifellos gibt es eine Publikumsschicht, die sich an der Imitation des Opernprunks fürstlicher Gewänder nicht genug tun kann; wir wissen aber, dass die Mehrzahl der Zuschauer aus dem Bürgertum und dem Adel selbst stammten, die besser informiert waren. Für die bürgerlichen Zuschauer dürfen wir eine Rezeptionshaltung annehmen, die bewusst oder unbewusst die Strategien der höfischen Idealprojektionen zum Gegenstand nehmen, um an ihnen bürgerliche Imitationsmöglichkeiten im Sinne des Zivilisationsprozesses (Norbert Elias) zu erproben. Es geht also nicht um die Imitation und Anverwandlung der fürstlichen clementia Caesaris und anderer Herrschertugenden für bürgerliche Zwecke, sondern um die Erkenntnis, wie der, wie alle Welt wusste, imaginäre und illusorische Anspruch der fürstlichen Tugenden medial präsentiert werden konnte und durchsetzbar war. Das Publikum der Haupt- und Staatsaktionen ergötzt sich daran, wie der Adel sich selbst sehen wollte und sich gesehen haben wollte; es handelt sich bei der Hofoper um nichts anderes als die Einübung höfischer Adelsideologie als Haltung. In den Haupt- und Staatsaktionen war es nur in begrenztem Umfang das Ziel, so zu sein wie der Adel; das erreichte man eher durch die bekannten Methoden der alltagskulturellen Mimikry im Bereich der Kleidung, der Tischsitten etc. Die Haupt- und Staatsaktionen dagegen zerlegen die mediale Selbstrepräsentationen und Idealprojektionen der Hofgesellschaft wie ein Kind ein neues Spielzeug, dessen Funktionsweise noch ein Geheimnis darstellt; nicht selten vergeht aber die ursprüngliche Faszination im Angesicht der disparaten Funktionseinheiten, und das endlich wieder zusammengesetzte Spiel-Zeug hat nicht nur an Charisma verloren, sondern nimmt sich auch in erneuerter Form ganz anders aus als das Original. Wird die höfisch-feudale Haltung durch die Unterwerfung unter die Szenenlogik der musikalischen Nummern in ihrem brüchigen Pathos fraglich und nur von der Musik auf ihrer Darstellungshöhe gehalten, enthüllt der Wegfall der musikalischen Einbettung den hohlen sprachlichen Charakter der Librettovorlagen, deren Italienisch den mediokren Sprachgebrauch noch verschleiert. Die deutschen Übersetzungen bemühen sich allerdings gar nicht mehr um das sprachlich-ästhetische Niveau höfischer
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Bühnenwerke des Sprechtheaters. Das adlige Hofopernpersonal erleidet bereits in der Übersetzung einen bemerkenswerten Verlust an Haltungshöhe und Überzeugungskraft. Diese Einbußen sind funktionale Verkürzungen, die dem musikalischen Trägermedium geschuldet sind und der rollenhaften Rhetorik der Arienpathetik dienen. Der Musik entkleidet erscheint die höfische Haltung in Sprache und Handlung als kaum haltbare Pose, und die ausgestellte Adelswelt auf der Bühne entpuppt sich dabei als nichts anderes als eine Big BrotherShow mit B-Promis. Hanswurst ist dabei der injizierte Beobachter, der wie in der Heisenbergschen Unschärferelation durch seine Beobachtung den beobachteten Gegenstand verändert. Indem er versucht, sich in dieser höfischen Bühnengesellschaft zu orientieren und zu integrieren, bemüht er sich, die Elemente des zerlegten Spiel- und Sprachkörpers wieder zusammenzusetzen. Seine fruchtlosen Eskapaden in die Funktionslogik des höfischen Zeremoniells mittels Anpassung und Anverwandlung müssen aber nicht nur deshalb scheitern, weil er ein dummer und grober Bauernlümmel ist, wie Asper glaubt, sondern weil er alles, was er berührt, in seine Sphäre bannt. Unter seiner Berührung wird selbst der Anachoret zum Lüstling, und wie einem perversen König Midas verwandelt sich ihm alles in seinesgleichen. Dabei gelingt ihm vorübergehend die Imitation des Fürstlichen durchaus, am Ende jedoch steht er immer nur für sich. So gerne er der Adelsideologie das Seine abgewinnen möchte, er scheitert immer wieder an seinem Realitätsaffekt, der ihn gerade das Beste für sich selbst suchen lässt und dabei sprachliches aptum und höfisches decorum als Mittel der „politischen“14 Täuschung aus den Augen geraten lässt. Dass dabei schnell die Erkenntnis dämmert, dass sich die adligen Protagonisten in keiner essentiell anderen Position als Hanswurst befinden, sondern sie nur besser täuschen können, liegt zwar jenseits des Figurenhorizonts (denn Hanswurst will ja wie alle profitieren); dennoch manifestiert sich gerade darin der von Asper so energisch bestrittene Effekt der kritischen Offenlegung so:15 Gerade 14 Der Begriff ist im Sinne der frühmodernen politica mit ihren Dis/Simulationsstrategien gemeint. 15 Asper ist darin zuzustimmen, dass es sich nicht um eine von Hanswurst formulierte Gesellschafts- oder Adelskritik handelt. Stranitzky wäre schlecht beraten, sich gerade in Wien derartigen Tendenzen hinzugeben, die zur umstandslosen Zerstörung seiner persönlichen und künstlerischen Existenz geführt hätten. Die schließliche Vertreibung des Hanswurst ist in Österreich dann auch das Resultat politischer Zensurgesetze, die jegliches Extemporieren auf der Bühne als unkontrollierbar illegalisiert, und nicht Konsequenz ästhetischer Überlegungen. Übrigens war Stranitzky weder als Mensch noch als Künstler zur Gesellschaftskritik geneigt, wenn
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seine Verstrickung in die Adelsinteressen macht aus seinen Aktionen ein sicheres Zeugnis seiner Kritiklosigkeit im Sinne der dramatischen Ironie. Wenn seine Ambitionen scheitern, weil er sich als unfähig erweist, seine Affekte in das passende Dissimulationsdecorum zu verpacken, entlarvt das die ideologische Hohlheit des illusionären Adelsideals nachhaltiger als jede unmittelbarliterale Kritik. Hanswurst ist nicht objektiv, er sucht seinen Gewinn im höfischen Spiel der Projektionen, und aus seinem Scheitern erkennt der Zuschauer zum einen die Bedingungen der Möglichkeit, in der höfischen Gesellschaft Erfolg zu haben, zum anderen, dass es keinen Unterschied in der anthropologischen Handlungsmotivation der Gesellschaftsklassen gibt, und drittens, dass und wie die funktionalistische Medialisierung des Adelsideals misslingen muss. Letztlich ist sein Scheitern nichts anderes als das Scheitern des fürstlichen Personals, das die Regeln der höfischen Konvenienz verletzt und überschreitet. Er ist derjenige Vertreter der Unterschichten, dem sich durch Zufall und Glücksfügung die Möglichkeit zu außerordentlichem Vorankommen und erfolgreicher Karriere eröffnet und der doch nur am Ende immer gerade noch das nackte Leben retten kann. An ihm kann das Publikum sehen, wie man es nicht macht, und daraus seine Schlüsse ziehen. Seine dilettantische Mimikry erweist ihn als Amateur der Ambition und als einen Don Quijote unter den Glücksrittern, aber in seiner grotesken Camouflage öffnet er einen erkenntnisreichen Blick auf die Bedingungen seines Scheiterns, denn er verliert nicht die Haltung, er gewinnt sie erst gar nicht. Die Forschung nennt diese Verhältnisse seit Otto Rommel verkürzend die „komische Parallele“,16 in der Hanswurst den ernsten Figuren grundsätzlich unterlegen erscheint; seine dem Hofnarren ähnliche Position im Drama erlaubt ihm demnach keineswegs eine direkte Kritikfähigkeit, wenngleich sie ihm eine über Aspers grobianisches Differenzkriterium17 hinausgehende Funktionalität verschafft. Aus dem „Zusammenstoß von hoher und niederer Sphäre“18 entsteht so neben den Variationen der Wort-, Sach- und Situationskomik auch man seinen selbstzerstörerischen Alkoholismus nicht als stummen Protest nehmen will, was aber unwahrscheinlich ist. 16 ROMMEL, 1952, S. 284. 17 Asper zitiert zu Beginn seiner Darstellung Luthers Hanswurst-Definition, die auf die Differenz von res und verba rekurriert („die groben tolpel, so klug sein wollen, doch vngereimt vnd vngeschickt zur sachen reden vnd thun.“ Zitiert bei ASPER, 1980, S. 1), und bestreitet deren Bedeutung für die Hanswurstfigur auf dem Theater (vgl. EBD., S. 3f.). Im weiteren Verlauf seiner Arbeit macht er jedoch gerade dieses Differenzkriterium zur Grundlage aller seiner Argumente. 18 ERNST, 2003, S. 47f.
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eine weiter ausgreifende strukturelle Funktion des Hanswurst, die seinen Erfolg beim Publikum erklären könnte, der sich wohl kaum allein auf die Slapstick-Elemente im Sinne des Grobianismus gründet. Die ältere Forschung benennt dabei häufig als Grund für den Erfolg der Haupt- und Staatsaktionen die „Entlastungsfunktion“ des Hanswurst; die komischen Einlagen „bewahrten den Unterhaltungscharakter der Aufführung und sorgten dafür, dass die Pathetik der Haupthandlung vom Publikum nicht als erdrückend empfunden wurde.“19 Diese Entlastung oder Erholung betrachtet jedoch nur einen Teil der Rezipientenseite, ohne auch nach der intradiegetischen Funktion der komischen Szenen zu fragen: Was bedeuten die Hanswurstszenen für die ‚ernste‘ Dimension des Textes? Hier müssen wir nun zunächst einen Blick auf die Phänomenologie des Hanswurst werfen, die in ihrer Eindimensionalität dennoch eine überraschende Funktionalität ermöglicht. Asper listet insgesamt zehn Eigenschaften des Hanswurst und handelt sie in dieser Reihenfolge auch ab: Beiseitesprechen, bäuerliche Herkunft, materialistische Weltsicht, Fress- und Sauflust, Feigheit/Aufschneiderei/Soldatenberuf, sexuelle Betätigung, fäkale Ausdrucksweisen, Umgang mit Geistern und Toten, Verwicklung in der Intrige, Zwischenspiele. Diese ungeordneten Punkte lassen sich zunächst einmal in handlungsbezogene und personenbezogene gliedern, so dass das Beiseitesprechen, die Intrigenverwicklung und die Zwischenspiele eine Gruppe bilden. Auch die Charaktereigenschaften lassen sich erheblich straffen: Aus der bäuerlichen Herkunft leiten sich nämlich die klassischen Grobianismen ab, so dass nur noch der Bramarbas-Ton und der Geister- und Totenkontakt als Einzelgruppe bleiben. Betrachten wir die Kerngruppe der Grobianismen zuerst (bäuerliche Herkunft, materialistische Weltsicht, Fressund Sauflust, sexuelle Betätigung und fäkale Ausdrucksweise); Hanswurst ist nach seiner Herkunftslegende ein bäuerlicher Tölpel aus dem Salzburgischen, von Beruf ist er Sauschneider: Von hierher muß sein ganzes Betragen verstanden werden, denn im Grunde pöbelt er die vornehmen Herrschaften ja ständig an […]. [E]r bleibt der grobe Bauer, der sich gerade durch seine fleischlichen Gelüste so ungeheuer grotesk von der durchgeistigten höflichen Welt abhebt, die ihn aber wiederum ästhe-
19 EBD., S. 24f. Auch für die Rezipientenseite dürfen wir zusätzliche und entscheidendere Funktionen annehmen, die mit dem parodistischen Effekt zusammenhängen; zudem wäre nach der sozialen Zusammensetzung des Publikums zu differenzieren.
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Die „Fress- und Sauflust“ bedarf keiner weiteren Beschreibung, und sie verbindet sich auch ganz organisch mit dem Interesse am Sexus und der skatologischen Dimension.21 Aspers Stellensammlung fäkaler Ausdrücke listet zwar auch einige eindeutig sexuelle Begriffe, aber es ist ihm zuzustimmen, wenn er auf die durchgehende Stereotypie der Ausdrücke und deren Bedeutungslosigkeit für die Handlung hinweist. Der Bereich des Sexuellen dient ihm dann allerdings dazu, Hanswurst als eindeutig obszön, unzüchtig und geradezu pornographisch zu bezeichnen,22 weil er dadurch den literaturfernen Charakter der Haupt- und Staatsaktionen zu beweisen glaubt: Man muß sich doch klar machen, daß es weder Stranitzky, noch irgend einem anderen Darsteller der Wandertruppen darum ging, „Kunst“ zu produzieren in dem Sinn, wie wir das heute verstehen. Der Unterhaltungscharakter muß viel stärker betont werden, denn Geld brachte nur, was die Leute amüsierte. Hanswurst machte doch kein Bildungstheater!23 20 ASPER, 1980, S. 129 u. 131. 21 Die sofort auffälligen Parallelen zur frühmodernen Narrenfigur und dem Motivarsenal des seit dem späten Mittelalter bekannten Grobianismus widerlegen Aspers monokausale Herleitung der Hanswurstfigur allein aus dem Spiel der englischen Wandertruppen. Diese Traditionslinie gilt nur für die Bühnenfigur des Hanswurst, der der Sache und dem Namen nach (Luther) längst bekannt war. 22 ASPER, 1980, S. 174. Aus heutiger Perspektive sind diese Zuweisungen begrifflich falsch, und auch für die Zeitgenossen müssen wir das eindeutig relativieren; angesichts der geltenden Zensurvorschriften operiert Stranitzky natürlich an der Grenze des Zulässigen, aber er bringt sein Unternehmen nicht durch krasse Obszönitäten in Gefahr. 23 ASPER, 1980, S. 174. Auch hier ist der Anti-Stranitzky-Affekt deutlich erkennbar. Interessanterweise reproduziert diese zutreffende, wenngleich durch den Vorwurf des Pornographischen keineswegs begründete Argumentation MEYER, 1988, S. 34f.: „Bloße Textinterpretation ist für das Theater nur eine Verständnismöglichkeit unter anderen, die von der Artistik eines Schauspielers, der eindringlichen Visualisierung einer Szene, dem Bühnenkonzept eines Regisseurs immer wieder transzendiert wird.“ Meyer geht es, anders als Asper, gerade um die Vorrangstellung der Aufführung gegenüber der „Druckfixierung der Literaturwissenschaft“ (EBD., S. 35). Neben diesem Affekt gegen die interpretierende Literaturwissenschaft („So geht auch heute noch von der Inszenierung selbst klassischer Stücke
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Hanswurst ist zweifellos nicht an den geläufigen Moralisationen des spätbarocken oder frühaufklärerischen Dramas interessiert, was aber nicht bedeutet, dass er pornographisch ist, und er legt doch gewisse Erkenntnisse sowohl der ihn umgebenden Verhältnisse wie auch seiner eigenen Person nahe, die von bleibender Bedeutung sein können. Anders als der Harlekin, der in die Ensemblekomik eingebunden bleibt, ist der Hanswurst ein Einzelgänger, dem allenfalls eine zweite komische oder halbkomische Figur aus der ernsten Sphäre zur Seite steht. Daraus zieht er die Ermächtigung in höchst unterschiedlichen Funktionen in den Stücken aufzutreten, was übrigens auch der Grund für seine vielfach weitgehende Verstrickung in die Handlungsintrige darstellt. Häufig finden wir ihn im Zentrum der dramatischen Auseinandersetzungen, die nicht selten auch einen Aspekt physischer Gewaltanwendung mit sich führen, in die Hanswurst stets als bramarbasierender Aufschneider hineingeht und aus denen er als kleinlauter, jammernder oder zerschlagener Feigling wieder herauskommt. Überhaupt lässt er sich ohne Schwierigkeiten in Angst versetzen, zeigt aber auch manchmal echten Mut und Entschlossenheit. Im Verhältnis zu seiner Herrschaft entwickelt er eine bemerkenswerte Dialektik von Herr und Knecht, die ihn selten auf Augenhöhe mit dem Herrn zeigt, dem er dennoch oft überlegen ist, auch wenn diese Überlegenheit nie von Dauer ist. Wichtiger erscheint, dass es ihm immer gelingt, seinen Herrn in den Augen der Zuschauer dauerhaft aus dessen Idealposition zu befreien, indem er ihn immer indirekt als seinesgleichen vorführt. Die fürstlichen Ideale erweisen sich im Kontakt mit Hanswurst grundsätzlich als täuschende, kurzlebige Konstrukte affektgetriebener Protagonisten, deren Ernstein beträchtlich größerer Innovationsbeitrag zur Erfahrung geläufiger Texte aus, als von fachwissenschaftlichen Interpretationen.“ EBD., S. 35) verfolgt er eine polemische Leitvorstellung, wie die der Komikferne des norddeutschen Bürgertums: „Die psycho-sozialen Probleme, die das aufstrebende norddeutsche Bürgertum mit dem (öffentlichen) Lachen hatte. […] Diese Reglementierung ist Ausdruck tiefer Verunsicherung und Unsicherheit, Reformen innerhalb dieses Raums sind höchstens Verwaltungsmaßnahmen dieses Defekts, der für Norddeutschland einen anerkannten Kahlschlag im komödiantischen Bereich initiiert hat […]. [U.] a. auch deswegen weil es ihm an dramatischer Kultur und Tradition mangelte und es diesbezüglich als Entwicklungsland gelten muß.“ (EBD., S. 23f.) Erstens ist das Phänomen hier begrifflich falsch gefasst, zweitens dürfte man primär auch ästhetische Gründe nennen, die die weitere Entwicklung des Dramas im 18. Jahrhundert erst ermöglicht haben, drittens ist eine regionale Begründung falsch, weil es gleichwertige Entwicklungen bspw. auch in Mitteldeutschland und der Schweiz gegeben hat, die viertens einen konfessionellen Hintergrund besitzen, der hier wohl entscheidend ist.
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haftigkeit allein in der realen Gewalt liegt, die sie zu ihrer Aufrechterhaltung mobilisieren können. Der Fürst ist nicht Fürst, weil er edel, gerecht, gnädig und tugendhaft ist, sondern weil er jeden, der etwas anderes behauptet, aufs Rad flechten lassen kann – außer Hanswurst, der hier eine Narrenfreiheit genießt, die in ihrer Frechheit manchmal atemberaubend ist, aber dennoch nie die unsichtbare rote Linie der Vermengung von Spiel und Wirklichkeit überschreitet.24 Wenn Hanswurst tatsächlich Kritik an seinem Herrn übt, dann ist es diejenige, die der Zuschauer an ihn richtet: Er möge sich doch bitte seiner Rolle gemäß verhalten und nicht seine Spieleinsätze durch Verblendung und mangelnde Decorumskontrolle unnötig riskieren. Dem ernsten Personal gegenüber ist von der Narrenfunktion nurmehr die Lizenz zum unstandesgemäßen Sprechen geblieben: Der barocke Hof schenkte dem Narren keinen Glauben mehr und sieht in ihm nur noch den Lustigmacher. Zwar wird er in der Handlung ernstgenommen, doch nicht als weiser Narr, sondern weil die komödiantische Entwicklung es mit sich bringt, daß der Komiker in die Spielhandlung verflochten wird: er übernimmt andere, ihm wesensfremde Rollen und Funktionen.25
Auf diese Art und Weise wird Hanswurst auch schnell zum Spielball seiner Herrschaft, die den Lustigmacher in Konfliktsituationen umstandslos wieder distanziert und auf seinen Platz, der ja ohnehin schon eine glückliche Zufallsfügung ist, verweist. Was also leistet die Hanswurstfigur für die ernste Handlungsebene der Haupt- und Staatsaktionen? An dieser Stelle finden wir nun die mehr handlungsbezogenen Charakteristika des Hanswurst, die Asper nennt (Beiseitesprechen, Intrigenverwicklung, Zwischenspiele); sie sind Mittel und Konsequenz einer dramatischen Strategie, die ich bereits kurz skizziert habe und die ich als ironische Kontamination26 bezeichnen möchte. Auch Ernst kennt die Grundüberlegung, die sich bereits in
24 Die Analogie mit Schnitzlers Grünem Kakadu als Steigerungsform dieser Dialektik ist durchaus treffend: Schnitzler entwickelt die komplexe theatralische Repräsentation in der einzig möglichen Richtung weiter, so dass schließlich wirklich die Grenze von Realität, Lüge und Illusion aufgehoben erscheint. Bezeichnend auch, dass sein Stück keinen Lustigmacher mehr führt. 25 ASPER, 1980, S. 171. 26 Auf die mit diesem Begriff assoziierten Überlegungen zur Verschmutzung und Ansteckung bei DOUGLAS, 1984, soll hier nachdrücklich verwiesen werden.
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der älteren Forschung findet, die aber noch einer systematischen Auswertung harrt, und die sie als Mittel der Illusionsbrechung missversteht:27 Eine Illusionsbrechung ist allein schon dadurch gegeben, dass die komische Figur den Fortgang der Haupthandlung durch ihre lazzi unterbricht oder stört. Hanswurst […] löst die Handlungseinheit also bereits durch seine bloße Existenz auf. Stranitzky aber geht noch einen Schritt weiter. […] Hanswurst tritt aus seiner Rolle heraus, überschreitet die Grenze zwischen Bühnengeschehen und Zuschauer […].28
Es sind aber nicht primär die Mittel des Beiseitesprechens und des Illusionsbruchs durch mediale Selbstthematisierung der komischen Figur, die zur ironischen Kontamination führen, sondern vor allem die dramatische Interaktion zwischen Hanswurst und dem ernsten Personal des Stückes. Indem Hanswurst als Dialog- und Handlungspartner überhaupt möglich wird, ist der ernste Charakter der Haupt- und Staatsaktion bereits unabwendbar aufgehoben und verwandelt. Das bedeutet nun allerdings nicht, dass der Text damit notwendigerweise zum Lustspiel mutiert, sondern nur, dass sich durch die Aufhebung der ernsten Dimension eine Reihe von intra- und extradiegetischen Möglichkeiten ergeben. Deutlich wird das zunächst beim beliebten Beiseitesprechen, das traditionell eine Verdeutlichung der Außenseiterposition und ihrer Wertung transportiert: Bei Stranitzky umfasst das à parte grundsätzlich den ganzen Bereich der dramatischen Handlung, macht also Anspruch an die allgemeine Zustimmung über die eigene Position hinaus, auch wenn dies von der Figur überhaupt nicht so intendiert ist, denn wer sich in Gemeinschaft mit Hanswurst begibt, tritt in der Rezeptionssphäre automatisch in einen Wertungsbereich ein, der sich auf die komische Figur bezieht. Hanswurst schreibt intratextuell niemandem die Regeln des Handelns und Wertens vor, extratextuell hat er aber durch Ansteckung sein Reich der unfreiwilligen (Selbst-)Entlarvung längst errichtet. Die Kontamination der ernsten dramatischen Welt gründet dabei in der schadhaften Dialektik von Herr und Narr, der in seiner Funktion nicht mehr ernst genommen wird und nur noch als lustige Figur gilt, die dann aber mit den schwierigsten dramatischen Aufgaben betreut wird, so als ob es sich um eine Figur des ernsten Personals handelt. Dem Knecht wird die Möglichkeit einer dialektischen Entwicklung über den Herrn hinaus einerseits angeboten und 27 Sie bezieht sich dabei auf GREINER, 1992, S. 40f. 28 ERNST, 2003, S. 60.
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durch den eigenen Abstieg auf sein Niveau zugleich entzogen, denn indem der Narrenfigur ihre Diskursfreiheit gelassen, aber ihre Semantisierung verweigert wird, wird ihre Reichweite auf die gesamte Dramenwelt ausgeweitet. Hanswurst darf alles sagen, aber nichts bedeuten, aber diese semantische Entmachtung verwandelt sich in ihr Gegenteil, sobald er – gleichgültig in welcher Hinsicht – in Kontakt mit dem ernsten Protagonisten tritt. Zur Bedeutungslosigkeit verurteilt und auf die rein physisch-affektische Dimension seines Charakters verwiesen, steckt er jeden an, der ihn dennoch als eine dramatis persona anerkennt. Seine bloße Existenz verändert den dramatischen Raum und ihre Möglichkeiten: kein Fürst, der Hanswurst mit einem Auftrag aussendet, kann noch Anspruch auf die Gesetze und Regeln der ernsten Gattung erheben. Nichts kennzeichnet diese kaputte Dialektik, die in der Aporie einer allgemeinen Entmachtung aller endet, so sehr wie die Sprache und die Liebesverhältnisse der Protagonisten. Als Beispiel soll hier Die Enthaubttung deß Weltberühmten Wohlredners Ciceronis Mit HW: den seltsamen Jäger, lustigen Gallioten, verwirten Briefftreger, lächerlichen Schwimer, übl belohnten Botten etc. Daß Übrige wird die Action selbsten vorstehlen. Componirt in Jahr 1724, den 12 Junij29 dienen. Das Stück macht keinen Anspruch auf historische Wahrscheinlichkeit, es geht vielmehr um die Verquickung der allgemein bekannten Ermordung Ciceros auf Befehl Mark Antons mit einer Liebesintrige um Ciceros Tochter und Mark Antons Sohn Julius Antonius. Charakteristisch nicht nur für diesen Text ist die stilistische Ausprägung der einzelnen Rollen, die im ‚ernsten‘ Barockdrama natürlich den hohen Stil (grandis) fordert, der gewöhnlich den Vers zur Grundlage hat. Bei Stranitzky entfällt zunächst einmal die Versgestalt,30 wodurch die spezifische Funktionalisierung der Stileinsätze bedeutend erleichtert wird, denn wir haben es keineswegs mit einem Text zu tun, der ernste Passagen im hohen Stil mit komischen im niederen Stil kontrastiert. Sicher und konsistent bewegt sich Hanswurst vornehmlich im niederen Register mit gelegentlichen Ausflügen in die mittlere Stilebene, die wir noch ansehen werden. Interessanter ist in dieser Hinsicht allerdings der Stilgebrauch des höfischen Personals. In I,1 liegt der von einem Eber verwundete Julius im Wald und klagt mit deutlichen Anklängen an das barocke Drama: „Grimmes Verhängnus! Grausame Sterne! worzu dienet Euch, mir meine Kräffte benohmen zu haben […] O wehe! Ich mus in meinen selbsteignen Bluth vergehen,
29 Der Text findet sich in HOMEYER, 1907. 30 Bis auf die wenigen Liedeinlagen, die zumeist als Monologe fungieren.
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sofehrn mir niemandt zu Hilffe kombt […].“31 Der Versuch, den hohen Stil zu erreichen, ist hier ebenso deutlich sichtbar wie seine Vergeblichkeit. Nicht nur Julius, sondern das gesamte höfische Personal scheitert immer wieder daran, den gehobenen Sprachduktus zu halten, der sich ohnehin auf einige wenige Dialogsituationen konzentriert, etwa in der Anrede der oder des Geliebten sowie beim Ausdruck eigener Affekte. Zumeist rutschen solche Bemühungen schnell in die mittlere Stillage ab, fast immer wenn beiseite gesprochen wird. Interessanterweise ist der stilistische Ausdruck der Protagonistinnen im Regelfall auf der mittleren Stilebene situiert, von wo aus er gelegentlich nach oben tendiert. Es ist überhaupt zu beobachten, dass sich keine Stilkonstanz feststellen lässt, aber auch von Stilverfehlung nur in einem eingeschränkten Sinne geredet werden kann, denn die Verfehlung wird durchgängig von einer Stiltendenz nach oben oder unten begleitet, wobei die männlichen Akteure sich selbst auf der hohen Stilebene lokalisieren, von der sie dann ohne Unterlass nach unten tendieren, und die Frauen umgekehrt eine Tendenz zur oberen Stilebene zeigen. So entwickelt sich der Dialog zwischen Emilia, Tulia und Hanswurst in I,3 gänzlich auf der mittleren Ebene, während der in I,4 hinzutretende Cecina zunächst eine hohe Stillage anschlägt („O Verräther, deine Verstellung kann dir nichtes mehr nutzen, nachdem das Feuer Euerer Bosheit schon ausgebrochen“32), um dann in eine mittlere Lage zu verfallen mit gelegentlichen Tendenzen nach oben. Ganz ähnlich sieht es für Julius aus, der den mittleren Stil nutzt, während die Rivalinnen Emilia und Tulia gelegentlich im Moment der aufwallenden Affekte eine Tendenz nach oben zeigen. Insgesamt jedoch lässt sich feststellen, dass vom mittleren Stil aus die Stilkonstanz durch ständige Tendenzen in beide Richtungen nach oben und nach unten beeinträchtigt wird. Das gilt natürlich nicht für Hanswurst, der seine stilistische Heimat im niederen Stil findet, den er z. B. in I,3 in ganz besonderer Weise nutzt, indem er in den Dialogen mit dem höfischen Personal durch seine Bemerkungen einen einheitlichen Dialog unmöglich macht. Dabei bedient er sich der üblichen intentionalen sprachlichen Missverständnisse und des komischen Kontrasts, der nicht selten skatologisch oder obszön wird, etwa wenn er Tulia und Emilia über den (angeblichen) Tod von Julius mit der Aufforderung tröstet, „blaset ihm hinten wacker zu, vielleicht kombt die Seel wieder hinein.“33 Nahezu jede seiner Bemerkungen geht stilistisch und inhaltlich am Ernst der Situation vorbei; aller31 STRANITZKY, 1908 [1724], S. 71. 32 EBD., S. 75. 33 EBD., S. 73.
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dings zeigt sich auch darin eine zwar oft sprachlich inadäquate, aber sachlich angemessene Bewertung der Situation, so etwa bei dem Ratschlag für Julius, nachdem die Rachegelüste seines Vaters Tulia bekannt werden, die sich dann auch prompt und psychologisch wenig überzeugend von ihm abwendet. Julius, der wie Hanswurst eine ausgeprägte Weinerlichkeit und ein erstaunliches Quantum an Selbstmitleid besitzt, ist verzweifelt und will sich durch Öffnen seiner Wunden entleiben. Hanswurst nutzt bei seinem Ratschlag die neutrale mittlere Stilebene, um seine Argumentation der Schwächung durch Komisierung zu entziehen: Herr, seyd kein Narr, wann ihr die Wunden aufreist, müsßet ihr sterben, und weder die schöne Tulia bekomen, weder Eueren Vattern verhinderlich sein. […] Lasset es bleiben, Herr Julius, ihr martret Euch nur noch mehr ab; sehet lieber, wie ihr gemach aufstehen könt, damit wir nach Haus kommen.34
Doch Julius verharrt weiter in seinem weinerlichen Selbstmitleid: Wohldann, weil mich alle Welt verlast, will ich allhier sterben; adieu, geliebte Julia,35 Vatter, Mutter lebet wohl, ich will sterben, aber meine Rache wird dannoch leben. […] Ach mir, ich seuffze, und niemandt bedauret mich, ich weine, und keiner ist, der sich durch meine Thränen bewegen läst; o Julius, unglückseelicher Julius, wie wirstu verfolgt!36
Verletzt hier ein Mitglied des Hofes das Adelsdecorum, was durch Hanswursts sachlich richtige und sprachlich neutrale Situationseinschätzung in ihrer Wehleidigkeit noch gesteigert wird, so zeigt sich sein Vater Mark Anton in der barocktypischen Rolle des tyrannischen Wüterichs (I, 6-8); in seiner Auseinandersetzung mit Scauro Scatilio finden sich dann auch schöne Beispiele von angestrebter hoher Stilhaltung und deren Verfehlung bis hin in den niederen Stil. Die Liebeshandlung in den Haupt- und Staatsaktionen nutzt nun gerne Versatzstücke aus der barocken Märtyrertragödie37, wie etwa in dem IphigeniaDrama, setzt aber nolens volens auf Szenen opernhafter Verwirrung und wech34 35 36 37
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EBD., S. 77. Falsch für Tulia. STRANITZKY, 1908 [1724], S. 78. Etwa das Papinian-Thema in I,9, das in der folgenden Szene von Hanswurst wieder ironisiert wird.
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selnder Allianzen.38 Die Enthaubttung […] Ciceronis ist insofern ein besonders gutes Exempel, weil die eigentlich ernste Handlung, Ciceros Ermordung und die Verfolgung des Mörders, mit dem ersten Akt bereits abgeschlossen ist und nur die Exposition der folgenden Liebeshandlung abgibt. Tulia und Julius lieben sich; nach dem Mord an ihrem Vater schwört Tulia aber Julius, dem Sohn des Mörders, ewige Rache, wodurch ihre Freundin Emilia ihrer Liebe zu Cecina, der wiederum auch Tulia, wenngleich vergebens, liebt, entsagt und ihre Liebe Julius offenbart, der jedoch Tulia nicht aufgeben kann. Letztlich handelt es sich bei der Liebeskonstellation um das Gegeneinander von aufrichtiger und wankelmütiger Liebe, bei dem die antagonistischen Gefühle von Hass und Liebe miteinander versöhnt werden müssen. Tulias Heirat mit dem ungeliebten Cecina wird schließlich von dem wohlmeinenden Kaiser Augustus angeordnet, findet aber nicht statt, weil Cecina im Liebeswettbewerb mit Julius unterliegt. Während in der Arena wilde Tiere auf ihre menschlichen Gegner warten, lässt Cecina ein ihm als Liebespfand gegebenes Porträt Tulias durch Unachtsamkeit unter die Bestien fallen und weigert sich, sein Leben zu riskieren, um es zurückzuholen. Diesen krassen Bruch des amourösen Decorums nutzt Julius, der heldenhaft alle Tiere tötet und Tulia ihr Porträt zurückerstattet, die es nun ihm verehrt. In dem folgenden Duell tötet er Cecina, der seinem Rivalen verzeiht und Tulia zur Heirat mit Julius auffordert. Diese war schon durch eine Geistererscheinung ihres Vaters über Juliusʼ Unschuld unterrichtet, und so gibt auch Augustus seine Zustimmung. Gleichzeitig heiratet dann auch Emilia ihren Verehrer Lucius, mit dem sie sich ursprünglich nur zur Rache an Julius verbinden wollte. Cecina wechselt das Liebesobjekt einmal (von Emilia auf Tulia) und Emilia zweimal (von Cecina auf Julius und dann auf Lucius), allein Julius bleibt beharrlich in seiner Liebe zu Tulia, die ihre Liebe für Julius zwar bewahrt, sich aber von dem Rachegelüst an dem Sohn des Mörders ihres Vaters überwinden lässt und in eine Verbindung mit Cecina einwilligt. Es ist die einzige Aufgabe des Stücks, eine Lösung für diesen Antagonismus zu finden, die sich dann in der Liebesprobe auch zeigt. Die höfische Liebe wird hier zum einen als relativ unverbindliches Spiel mit unterschiedlichen Partnern und affektbedingt wechselnden Allianzen gezeigt, das den idealen Liebesbeteuerungen schon in den à parte-Partien Hohn spricht; zum anderen bewährt sich die opernhafte ‚große Liebe‘, die eher Tod 38 Nicht selten bis an die Grenzen der Rekonstruierbarkeit der tatsächlichen Verhältnisse, worauf es in der Oper – und auch im Stück – nicht ankam.
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und Untergang sucht als Verzicht zulässt. Es ist aber durchaus fraglich, ob es sich hier um die affirmative Darstellung höfischer Liebesideale handelt oder doch eher um die Übernahme der Medialisierung derartiger Adelsprojektionen. Das hier ausgestellte Ideal entspricht nämlich nur nach außen hin den höfischen Konventionen, die in den affektgeladenen und transitorischen Allianzen von Emilia und Cecina ihre passendere Repräsentation finden.39 Für die sozial und kulturell gemischte Gruppe der Rezipienten wird vor allem die Art und Weise der Darstellung der Beständigkeit, ihre Medialisierung also, interessant. Diese Medialisierung aber konzentriert sich auf die dramatische Lösung des Konflikts zwischen traditionellem affektischen Pathos in der heroischen Verzichts- und Verachtungsgeste Tulias und der sentimentalen Beständigkeit von Julius, der gegen die Härte der Heroik seine unhöfische Empfindsamkeit setzt, die sich als Unbeirrbarkeit seiner gefühlsseligen Liebesorientierung kundtut. In der Übernahme der höfischen Idealprojektionen verändert nun die komisierende Logik der Haupt- und Staatsaktion das hohle Adels-Pathos in eine sentimentalisierende Empfindsamkeit, die selbst allerdings nicht unbefragt bleibt, denn auch auf sie fällt der Schlagschatten der komischen Parallelen. Zentral dafür ist die Szene, in der Julius Hanswurst vorwirft, nicht mit seinem Herrn melancholisch zu sein, und zur Antwort erhält: „Ich hoffire in die Traurigkeit; wann ich zu fresßen und sauffen hab, kan meinethalben die gantze Welt traurig sein.“40 In dieser Haltung beantwortet er dann auch die Leitfrage nach der Definition der Liebe:
39 Auch Emilia vertritt mit ähnlichen Worten wie Julius ihre Liebe bis zum Tod vor ihrem Vater (III,2), allerdings erweist sich ihre Haltung, vor allem nach den offenkundig berechnenden Bemerkungen über Cecina (II,7 u. II,9) als unaufrichtiger Schachzug: „Ich verstehe dich, unhöfflicher Cecina, aber seye versichret, daß ich so viel bei Tulia würcken will, daß du ihrer Gegengunst nie solst zu geniesßen haben. Es gefahlen mir zwar deine hellglänzende Augen, aber mit nichten haben sie noch dieses herz entzindet, Julius Antonius allein ist der wahre Abgott, welchen ich nunmehro desto ehe zu besitzen hoffe, weillen er von Tulia verfolget wird. Ich gehe möglichsten Fleis anzuwenden, ihne auf meine Seiten zu bringen.“ (STRANITZKY, 1908 [1724], S. 104) In III,4 sucht sie Rache an Julius, der sie verschmäht: „[…] ia, ia ich werde sterben, aber bevor diesen gantzen Hoff in die entsetzlichste Verwihrung setzen. Wo ist Lucius, den ich vorhin so sehr gehasßet? Diesen will ich meine Hand reichen, aber nur darumb, damit ich meine Rach desto bequemer bewerckstellen möge.“ (EBD., S. 115) Die folgende Liebesszene zwischen Emilia und Lucius ist dann auch nur noch Ausdruck äußerster höfischer Verlogenheit. 40 STRANITZKY, 1908 [1724], S. 105.
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Funktionen der Komik in Stranitzkys Haupt- und Staatsaktionen Hw.
Ist dieses fragenswerth? mein, sagt mir auch, wer hat mehr Kinder als wir Bauren? Julius. Darauf folget dannoch nicht, daß sie gefunden, was die Liebe sey. Hw. Ey, wann sie es nicht gefunden, so haben sie es schon zu suchen gewust. Julius. Ich mus deiner auch in meiner grösten Betrübnus lachen. Sihe, daß du nicht weist, was die Liebe. Hw. Die Liebe ist halt die Liebe, das heist so viel, wann einer ein schönes Mensch hat, so führt ers spaziren und erzehlet ihr die histori von Plinius, daß in 3 viertl Jahren ein lebendiger Horatius Dociret. Julius. Du bist ein gar grober Liebhaber. Hw. Je gröber, ie lieber: die Bauernmenscher haben die Kerl nicht gehrn, die von Philocranarbeith, ein starcker Dragoner mit Stiffl und Sporn, der kan ihnen das abc recht auffsagen.41
An zwei weiteren Stellen unterbricht nun die komische Parallelhandlung den Ablauf; kurz vor den Schaukämpfen in der Arena frohlockt Scapin, Hanswursts komisches Pendant, ganz im Sinne der materialistischen Liebesauffassung: O Bromia, du allersüsßestes Honigfas meiner vergnügten Hosßen, lasße dir nur deinen Camin heute noch auskehren, damit ich mit Stiffl und Sporn zum Herd deiner feurigen Hölle gelangen möge. Aber iezt fällt mir ein, wie wird es wohl hernach stehen, wann wir khleine Scapinigen haben werden und eins da, das andere dort: Papa, Mama, Brodt! wird schreuen? So last mans halt schreyen, oder treibts auf die Weide wie die Gänse, sie werden schon etwas finden.42
Daran anschließend bringt Bromia, um die sich Hanswurst und Scapin streiten und die am Schluss Hanswurst bekommt, obwohl Bromia sich für seinen Rivalen entscheidet, den gefesselten Hanswurst auf die Bühne. Bei einem Vergewaltigungsversuch hat ihn Bromia überlistet und gefesselt. Das mit einem Tuch komisch vollzogene Todesurteil durch Enthauptung43 nimmt Hanswurst ernst und lässt sich nur mit allerlei lazzi wieder zum Leben erwecken.
41 EBD., S. 105f. 42 EBD., S. 119. 43 Ganz offenkundig eine komische Parallele zur Enthaubttung Ciceronis.
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Abschließend muss noch einmal die Funktion des Hanswurst für die Rezipienten beleuchtet werden, denn es kann sich nicht nur um eine reine Erholungs- und Entlastungsfunktion handeln. Tatsächlich ist das Publikum durch die Dialektik der eigenen Rezeption gebannt; es ist die Faszination, die sich noch ausschließlich an der höfischen Haltung festmacht. Nur den Ahnungslosen dient sie als Verhaltensideal, das ein Tölpel auf komisch-groteske Art verfehlen muss, weil er nicht dorthin gehört. Dieser Rezeptionssphäre prägt sich die Unhintergehbarkeit des Standesunterschieds als Erkenntnisziel ein, in dem süßen Bewusstsein, dass sie die besseren Diener wären. Der abgetragene Mantel der feudal-pathetischen Haltung glänzt in ihren Augen noch als Krönungsschmuck einer Idealprojektion, deren Wahn sie nicht bemerken können und die sie zu ehrfurchtsvoller Unterwerfung stimuliert. Diejenigen Betrachter, die sich aber nicht mehr in dieses Bockshorn jagen lassen, bemerken an sich zwar auch noch Reste der Faszination von der höfischen Haltung, die sich aber schon aufteilt und jetzt auch dem Hanswurst zukommt, der nicht mehr als reiner ineptus politicus bewertet wird, sondern dessen res et verba das Ideal als Projektion enthüllen. Damit verschiebt sich das Interesse vom Inhalt der höfischen Ideale auf ihre mediale Vermittlung, die hier erstmals als brüchige und gebrochene Haltung erkennbar wird. Diese Begrenztheit erwirkt jedoch nicht deren Verfall, sondern eine paradoxe Entwicklung zum Ressentiment sich selbst gegenüber, denn der Betrachter erkennt, dass er Faszination und Kritik nicht auseinanderhalten kann, und für sein Schwanken bestraft er sich und Hanswurst mit Verachtung und – Liebe. Hier ist Hanswurst schließlich der unfähige Parvenü, der seine Ausnahmechance zum Erfolg am Hofe dadurch zunichtemacht, dass er immer wieder gegen die Decorumsrhetorik verstößt und sozusagen mit dem Hintern umwirft, was er mit den Händen aufgebaut hat. Das Ressentiment gründet dabei in der Selbsteinschätzung des Betrachters, dass man selbst diese Chancen ungleich besser genutzt hätte, bei gleichzeitiger Erkenntnis der Haltungsschwäche der höfischen Ideale und der unbewussten Skepsis, ob denn die Anstrengung angesichts der Flüchtigkeit der Adelsillusionen überhaupt lohnt. Es ist diese Skepsis, die den Grund und die Ursache des Scheiterns des Hanswurst ausmacht. Nur demjenigen, der sich völlig dem Parvenüprojekt hingibt, wird die Imitation der abgelebten höfischen Haltung gelingen, aber nur um den Preis der bewussten Verleugnung der Wahrheit. Wer sich aber wie Hanswurst gar nicht von seiner Unfähigkeit, beides zusammenzudenken, realistische egozentrische Selbstbezogenheit und pathetische Adelsillusion, befreien kann und automa-
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tisch mit dem materiellen Substrat der Haltungsillusion, dem Eigennutz, rechnet, der ist unzuverlässig. Unzuverlässig, weil er in einer Aporie von Illusion und Realität befangen bleibt, die es ihm unmöglich macht, sich für eine Seite zu entscheiden: Rebell oder Parvenü, Kritiker oder Nachahmer. So muss Hanswurst jede Rolle misslingen, und je nachdem in welche Richtung sich die Waage gerade neigt, wird er auf jeden Fall zum Opfer. Ein Opfer allerdings, das allezeit überlebt, weil es dem Willen zur Komik des Publikums dienen muss. Dieser Komik wohnt aber ein böser und durchaus gewalttätiger Stachel inne. Der Parvenü, ein langsam verblödender Sycophant, ist dadurch bestraft, dass er sein Leben jenseits der Realität in der unwahren Welt der Hofschranzen verliert, blind vor Neid und Selbsthass. Wer aber ohne Verlust seiner Identität und ohne Verleugnung der Wahrheit, ja gerade durch die realistische Kritik der Haltungslosigkeit jeglicher Adelsprojektionen zu dem Erfolg gelangt, der dem katholischen Hanswurst versagt bleibt, zieht unweigerlich das Ressentiment des Betrachters auf sich: Diese Figur gleicht dem protestantischen Entrepreneur, der seine Erfolgsdynamik aus der Verleugnung der unmittelbaren materiellen Begierden und einer rationalen Planung gewinnt, und dem Stereotyp des Hofjuden, der als fürstlicher Finanzier schnell alle seine Glaubensbrüder in den Strudel des Rassismus und Antisemitismus zieht. Hanswurst selbst neigt zu keiner der beiden Seiten; solange seine Verwurzelung im materiellen Prinzip auch gleichzeitig der Ursprung seiner Enthüllung der Haltlosigkeit der Adelsillusion bleibt, ist er als Bewohner des Reichs der unendlichen Komik gegen die Barbarei gefeit. Wehe ihm und uns, wenn er es verlässt.
Literatur Primärliteratur STRANITZKY, JOSEPH ANTON, Ollapatrida des durchgetriebenen Fuchsmundi [1711], hg. von R. M. WERNER, Wien 1886. DERS., Die Enthaubttung deß Weltberühmten Wohlredners Ciceronis [1724], in: Wiener Haupt- und Staatsaktionen, Bd. 1, hg. von RUDOLF PAYER VON THURN, Nendeln/Liechtenstein 1908, S. 69-132.
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Sekundärliteratur ASPER, HELMUT G., Hanswurst. Studien zum Lustigmacher auf der Berufsschauspielerbühne in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert, Emsdetten 1980. DOUGLAS, MARY, Purity and danger. An analysis of the concepts of pollution and taboo, London u. a. 1984. ECKHART, EDUARD, Die lustige Person im älteren englischen Drama bis 1642, Berlin 1902. EHALT, HUBERT CHRISTIAN, Ausdrucksformen absolutistischer Herrschaft: Der Wiener Hof im 17. und 18. Jahrhundert, München 1980. ERNST, EVA-MARIA, Zwischen Lustigmacher und Spielmacher. Die komische Zentralfigur auf dem Wiener Volkstheater im 18. Jahrhundert (Literatur – Kultur – Medien 3), Münster u. a. 2003. FLEMMING, WILLI, Haupt- und Staatsaktion, in: Reallexikon der Deutschen Literaturgeschichte, hg. von WERNER KOHLSCHMIDT/WOLFGANG MOHR, Bd. 1: A-K, Berlin 1958, S. 619-621. GOTTSCHED, JOHANN CHRISTOPH, Versuch einer critischen Dichtkunst: durchgehends mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert, Leipzig 1751. GREINER, BERNHARD, Die Komödie. Eine theatralische Sendung. Grundlagen und Interpretationen, Tübingen 1992. HOMEYER, FRITZ, Stranitzkys Drama vom Heiligen 6epomuck. Mit einem Neudruck des Textes, Berlin 1907. MEYER, REINHART, Hanswurst und Harlekin oder: Der Narr als Gattungsschöpfer. Versuch einer Analyse des komischen Spiels in den Staatsaktionen des Musik- und Sprechtheaters im 17. und 18. Jahrhundert, in: Théatre, nation et société en Allemagne au XVIIIe siècle, hg. von ROLAND KREBS/ JEAN-MARIE VALENTIN, Nancy 1990, S. 13-39. ROMMEL, OTTO, Die Alt-Wiener Volkskomödie. Ihre Geschichte vom barocken Welt-Theater bis zum Tode Nestroys, Wien 1952.
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„Indeß lacht Bückler inniglich“ Historik, Lyrik und Theatralik des Schinderhannes im 19. Jahrhundert
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BEATRIX MÜLLER-KAMPEL Sowohl für den fiktiven als auch den historischen Edlen Verbrecher gilt: „er ist das, was über ihn geschrieben wurde“1 – und verändert sich mit jenen, die ihn er-schreiben und er-lesen. Im kollektiven kulturellen Gedächtnis, wie biographische Figurationen in Texten und als Texte es repräsentieren, kommt es dabei wie im individuellen zu verwirrenden Verschiebungen, Ausweitungen, Steigerungen, Teilungen, Abstufungen, Abschwächungen und Mischungen dessen, was durch den Namen Personalität und damit Identität zu garantieren scheint: „Schinderhannes“ in unserem Fall, „Johannes“, „Hanns“, „Hans“ „Bückler“, „Bünkler“, „Pückler“, „Vickler“ oder „Johannes durch den Wald“ (wie er sich mitunter auch selber nannte) in den deutschsprachigen, „Jean Buckler“ in den französischen Quellen. 1779 in Miehlen (oder Weidenbach) bei Nastätten im Taunus geboren, wurde Johannes Bückler nach einer Abdeckerlehre und einigen wenigen Jahren als Dieb, Erpresser und Räuber gemeinsam mit anderen Mitgliedern seiner Bande 1803 in Mainz abgeurteilt und mit der von den französischen Besatzern eingeführten Guillotine hingerichtet. Biographik und figurale Stoffgeschichte, in der die Erforschung von Personen/ Figuren/Typen disziplinär traditionell angesiedelt sind, erschrieben sich ‚ihren‘ Schinderhannes entlang der heuristischen Scheidelinie zwischen Faktum und *
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Für sein inhaltliches Korrektorat und die wertvollen weiterführenden Hinweise danke ich Lars Rebehn von der Puppentheatersammlung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden sehr herzlich. FRANKE, 1984, S. 308, in Bezug auf den Schinderhannes.
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Fiktum, Dokumenten und verbürgten Berichten einerseits und kultureller, künstlerischer, literarischer, (musik-)theatraler etc. Fiktionalisierung andererseits. Womöglich gelingt es, die (sozio-)historische Relevanz und Markanz dieser Figur ‚Schinderhannes‘ besser zu verorten, indem man diese nicht als Figur auffasst, sondern einerseits als Position in historisch je wechselnden sozialen Felder, dann als Diskurs und schließlich Schinderhannes’ Rezeptionsgeschichte als Diskursivierungsprozess innerhalb von und zwischen den Feldern des Rechts, der Historie/Historiographie und der im 19. Jahrhundert z. T. noch oral tradierten Popularmythologien und Popularkulturen mit ihrer Komik. Womöglich bewohnen dann die mit dem Namensetikett ‚Schinderhannes‘ versehenen Gestalten im 19. Jahrhundert gar nicht jenes gemeinsame Haus des (Edlen) Verbrechers, das ihnen Historie, Kultur- und Literaturgeschichtsschreibung bislang gebaut und zugewiesen haben. Die Quellen – nichtliterarische ebenso wie literarische Texte, Sagen, Anekdoten, Romane, Dramen, Puppentheaterstücke, Lieder und Gedichte – verstehe und deute ich dabei zugleich als Kommunikationsschemata, die sich in den kollektiven kulturellen Gedächtnissen (wie man im Plural genauer sagen müsste als im üblichen Singular) von durchaus unterschiedlichen sozialen Schichten und Gruppen durchaus unterschiedlicher Interessen und Loyalitäten, Urteils- und Wahrnehmungsschemata sedimentierten. Wie entscheidend und divergierend spezifische Rede- und Repräsentationsformen den Typenbildungen ihren Stempel aufdrückten und somit voneinander abweichende Personenprofile mit differenten Biographien und Habitus hervorbrachten, erweisen nämlich die Protokolle und Aktenmäßigen Geschichten, Anekdoten und Lieder, Novellen und Romane, Laientheater- und Puppentheaterstücke über den Schinderhannes von Beginn an. Weniger Typen personalen Zuschnitts treten einem nämlich daraus entgegen, sondern janusköpfige Wesen und figurale Phantasmagorien, Wunschbilder und Schreckbilder, die, wie der Begriff ‚Diskurs‘ es in seiner Übersetzung nahelegt, in und zwischen Dekaden, Epochen und Kulturen, Regionen, sozialen Schichten und Milieus ‚hin- und hergingen‘ oder ‚umliefen‘.
Der t ypologische Edle Verbrecher Zumindest in den historisierenden Genres der Popkultur – Musical, Soap, BMovie, volkstümliche Musik, Schlager – treibt sich noch jener ‚Edle Räuber‘
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oder ‚Verbrecher aus verlorener Ehre‘ (so der Titel des Kriminalberichts von Friedrich Schiller, 1786) herum, wie er sich um 1800 als Typ modelliert hatte: Räuber tragen Schlapphüte und Pistolen, hausen in Wäldern und einsamen Wirtshäusern, und sie dienen einem Räuberhauptmann, der zumeist trotz des Raubens und Mordens kein richtiger ‚Verbrecher‘ ist. Stattdessen gilt er als edel, er gibt den Armen, erobert Frauenherzen, rächt sich an der Gesellschaft für erlittenes Unrecht. Allenfalls übertreibt er die Genußsucht, gilt als lebensgierig, was in einer zivilisierten, also triebreduzierten Gesellschaft gleichermaßen Neid wie Ablehnung provoziert. Immer endet ‚der Räuber‘ als reumütiger, armer Sünder, dessen Tatenregister beim besten Willen keine Rückkehr in die Gemeinschaft zuläßt; er muß sterben, sei es tragisch oder auf der Hinrichtungsstätte.2
Dieser typologische Edle Verbrecher entfaltet seine wundersamen Talente innerhalb eines Gegenreichs, das er selber aufgerichtet hat: in der Räuberbande als einer ans Utopische grenzenden soziomoralischen Parallelwelt, in der Werte wie Anstand, Treue, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Tapferkeit, selbst Barmherzigkeit gelten. Damit versucht der Räuberhauptmann, diese Personifikation der Illegalität, einer von Staat, Gesellschaft, Recht pervertierten oder obstruierten moralischen Legitimität – ‚Ehre‘, wenn man so will – Geltung zu verschaffen. In allen europäischen Kulturen gilt dies für das spätmittelalterliche Modell ‚Robin Hood‘, im deutschen Sprachraum seit Beginn des 19. Jahrhunderts ganz besonders für Christian August Vulpius’ Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann (Roman, Leipzig 1799-1801).3 Die popkulturell-‚triviale‘ Mythengeschichte des verbrecherischen Helden verläuft in anderen Epochen als jenen des hochliterarischen Kanons; mit der entelechisch-teleologischen Begriffskette ‚Romantik‘ – ‚Vormärz‘ – ‚Realismus‘ – ‚Naturalismus‘ ist ihr nicht beizukommen. Gerade an der Figurengeschichte des Schinderhannes zeigt sich, dass die Mythengeschichte von Räubern und Wilderern im 19. Jahrhundert zwar als Prozess oder sogar als Entwicklung beschreibbar ist, doch weder entlang der Achse ‚real‘/‚historisch‘ versus ‚fiktiv‘ noch jener von ‚U‘/Unterhaltung versus ‚E‘/Ernst. Am Beginn 2 3
DANKER, 1988, S. 451. In Frankreich hingegen lag der Bewunderung des Banditen „insgesamt ein rückwärtsgewandtes politisches Ideal zugrunde, das auf dem Ehrenkodex der patriarchalischen Feudalgesellschaft des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit basierte“. LÜSEBRINK, 1991, S. 181.
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der Figurengeschichte des Schinderhannes genannten Johannes Bückler steht nämlich nichts weniger als eine Räuberbiographie, die ein wissbegieriges Publikum zur Kenntnis nimmt, sondern Bänkel- und Volkslieder und damit oral tradierte, legendenhafte Schreck- und heldische Wunschbilder von einem räuberischen Subjekt und sozialen Opfer zugleich.
Schinderhannes als Charge kollekti ver poetischer Phantasie 1804 erhebt das Journal für Gesetzkunde und Rechtsgelehrsamkeit Einspruch gegen den bereits zu Lebzeiten formierten Ruf des Schinderhannes als eines ‚großen‘ Verbrechers; ins Treffen geführt werden dabei die ‚Kleinheit‘ bzw. Nichtexistenz seiner Bande sowie die vergleichsweise Harmlosigkeit seiner Verbrechen: Die sogenannte Schinderhannes-Bande habe „blos gestohlen und mishandelt, gedroht und Gefängnisse erbrochen“, wobei Johannes Bückler weder als „Rädelführer noch [als] eine der HauptPersonen [!]“ agiert habe, sondern als „untergeordneter Helfer“.4 Außerdem sei er noch dazu feige gewesen und habe, obwohl bewaffnet, bereits vor einem einzigen Gendarmen Reißaus genommen.5 Den Ruf des Schinderhannes als (Anti-)Helden ernsthaft zu beschädigen oder den juridischen und biographischen Fakten entsprechend zurechtzurücken, gelang freilich nicht: weder dem Journal für Gesetzkunde und Rechtsgelehrsamkeit noch den schon 1803 in sechs Bänden gedruckten Voruntersuchungsakten,6 weder Johann Nikolaus Beckers in mehreren Ausgaben erschienener Actenmäßigen Geschichte der Räuberbanden an den beyden Ufern des Rheins. Erster Theil. Enthaltend die Geschichte der Moselbande und der Bande des Schinderhannes (1804) noch dem anonymen Autor von Schinderhannes und seine Bande oder Johann Bücklers und seiner Gesellen merkwürdige Geschichte, Verbrechen, Verurtheilung und Hinrichtung (1804). Wie eng Fiktum und Faktum von Beginn an verzahnt waren, belegen gerade die Verhörprotokolle, in denen die in allerlei deutschen Regio- und Soziolekten getätigten Aussagen von Schinderhannes und seinen Mitangeklagten in ganzen Sätzen und z. T. hypotaktisch wiedergegeben wurden,7 aber auch das 4 5 6 7
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Johannes Bückler genannt Schinderhannes, 1804, S. 280. EBD., S. 281. Procédure instruite par le Tribunal criminel spécial établi à Mayence, [1803]. Zur Unzuverlässigkeit der Protokolle vgl. FRANKE, 1984, S. 32-35.
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in mehreren Drucken und Versionen als Flugblatt erschienene End-Urtheil, welches von dem Spezialgericht zu Mainz den 20. -ov. 1803. gegen Johann Bückler, Sohn, genannt Schinderhannes und ein und sechzig seiner Mitschuldigen ausgesprochen wurde (1803): Der Auflistung der Delinquenten mit jeweiligem Strafmaß und einem kurzen Bericht über Schinderhannes’ Hinrichtung folgen ein zweistrophiges Lied des Delinquenten, das dieser auf seinem Gang zur Guillotine gesungen habe, sowie Einige Anekdoten, die in dem ersten Verhöre vorgiengen.8 Typologisch wird der Schinderhannes im deutschen und böhmischen Sprachraum meist in die Reihe der historischen Räuber und Wilderer Lips Tullian (eig. Elias Erasmus Schönknecht oder Philipp Mengstein, ? - Dresden 1715), Matthias Klostermayr, genannt Bayerischer/Bairischer Hiasl (Kissing 1736 - Dillingen a. d. Donau 1771, hingerichtet), Karl Stülpner (eig. Carl Heinrich Stilpner, Scharfenstein 1762 - ebd. 1841), Johannes Karasek, genannt Prager Hansel oder Böhmischer Hansel (Jan Karásek, Smíchov, heute zu Prag 1764 - Dresden 1809), Hölzerlips (eig. Georg Philipp Lang, Eckardroth, heute zu Bad Soden-Salmünster in Hessen 1770 - Heidelberg 1812) und Georg Grasel (Jan Jiří Grázl; Neuserowitz/Nové Syrovice bei Budwitz/Moravské Budějovice 1790 - Wien 1818, hingerichtet) gestellt – kriminalsoziologisch zu Unrecht, wie ihre recht unterschiedlichen Biographien erweisen. Einmal literarisiert oder theatralisiert, waren sie im 19. Jahrhundert alle, wie der Volkskundler Carl Müller-Fraureuth schon 1894 vermerkte, nach Karl Moor aus Schillers Die Räuber (Uraufführung Mannheim 1782) geschnitten.9 In einem 1890 bei Bartels in Neu-Weißensee bei Berlin erschienenen anonymen Unterhaltungsroman wird die Überlappung des fiktiven Karl Moor mit dem fiktionalisierten Johannes Bückler sogar explizit in ein Verhältnis von Vorbild und Nachahmung überführt. Schinderhannes, der historische Analphabet, liest dort mit Begeisterung Schillers Räuber, zitiert daraus, zieht jedoch für sich die falschen Schlüsse: „Karl Moor, den er nicht verstand, wurde sein Ideal“.10 Als zweite für die Rezeptionsgeschichte des Schinderhannes mindestens ebenso wichtige fiktive Figur ist der romantische Räuberhauptmann Rinaldo Rinaldini aus dem gleichnamigen Roman des späteren Schwagers von Goethe, Christian August Vulpius, anzusprechen. Das romantisch-heldische Räuberund Männlichkeitskonzept Rinaldo Rinaldini prägte schon zu Beginn des 8 Vgl. End-Urtheil, [1803], [S. 4]. 9 Vgl. FRAUREUTH, 1894, S. 38. 10 Zit. n. FRANKE, 1958, S. 85.
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19. Jahrhunderts jene Muster, nach denen Räuber vom überwiegend bildungsbürgerlichen Lesepublikum wahrgenommen und mit denen diese beurteilt wurden: „Rinaldo Rinaldini ist nicht mehr!“ lautete doch tatsächlich der Kommentar eines Hinrichtungszeugen, nachdem der Kopf des Schinderhannes vom Rumpf gefallen war.11
Fakten? Zumindest darin waren sich die „Signalements“ (Steckbriefe), mit denen man des blutjungen Räubers habhaft zu werden suchte, wie auch seine Kumpane und selbstredend seine Sympathisanten einig: Der äußere Habitus – Wuchs, Kleidung und Umgangsformen – nahmen für Johannes Bückler ein. Vickler ist ein wohlgebauter, junger Mann von einigen zwanzig Jahren. Sein nervigter Körperbau zeigt von der ihm eigenen Stärke. In seinem Gesichte widerspricht ein gewisser Zug von Schwermuth der Jovialität, die noch überall sichtbar leserlich ist. Er hat nicht das wilde Aussehen seines Standes, und niemand würde in ihm den berüchtigten Anführer der Räuber und Mörder erkennen. Die ihm natürliche Gutherzigkeit ist über sein ganzes Wesen verbreitet. Seine Kleidung ist schön und sogar modern, sein Anstand ordentlich, nicht bäurisch.12
Über alles andere: Kindheit, Jugend und Professionen; Art, Zahl und Motive der verübten Verbrechen; Geliebte, Kumpane und Opfer; auch Schinderhannes’ Verhältnis zu Obrigkeit, französischer Besatzung und Klerus, gingen Gerüchte und Texte auseinander. Allein die Voruntersuchungsakten gegen die Schinderhannes-Bande umfassen nahezu 2.800 Dokumente auf 3.722 Seiten.13 Zusammen mit 67 der insgesamt 194 Mittäter wurde er für 211 zwischen 1796 und 1802 begangene Straftaten, zumeist Diebstähle, Raubüberfälle und Erpressungen, verurteilt. Für wie viele der neun Morde bzw. Körperverletzungen mit Todesfolge der Schinderhannes persönlich und hauptverantwortlich war, blieb bis zuletzt unklar. 11 [JOHANN KONRAD FRIEDERICH], 1848, S. 167. 12 [CARL JOSEPH HOFHEIM GRUTHOFER], 1802, S. 303. 13 Vgl. FLECK (Bearb.), 2004.
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Bis auf den heutigen Tag begleiten die Rezeptionsgeschichte der Figur Vermutungen und Ideologeme darüber, ob aus der Opferbilanz des Schinderhannes ein antijüdisches bzw. antisemitisches Ressentiment abzuleiten sei. Schon früh, beispielsweise im Mainzischen Intelligenzblatt vom Juni 1802, stand zu lesen, der Schinderhannes habe die Juden bei seinen Überfällen deshalb so ‚bevorzugt‘, weil diese seinen Vater ökonomisch und sozial ruiniert hätten14 – eine durch die Verhörprotokolle nicht belegte Anekdote, die in der Folge zur antisemitischen Grundlegende des literarisch-legendarischen Schinderhannes mutierte. Auffällig ist der überproportionale Anteil von rund 28 % an jüdischen Raubopfern sehr wohl, doch wird dies weniger auf Schinderhannes’ antijüdische Ressentiments als auf die Berufszugehörigkeit der jüdischen Opfer zurückzuführen sein (was auch durch die Aussagen der Bandenmitglieder belegt scheint).15 Die beste Beute versprachen sich nämlich die Räuber von Bauern und Müllern, die zusammen Opfer von 37,44 % der 211 Delikte wurden, gefolgt von den ihren Professionen nach nicht differenzierten jüdischen Verbrechensopfern mit rund 30 %. Da der Handel an Nahe und Glan vornehmlich von Juden betrieben wurde, standen bei einem Überfall größere Mengen an Geld und Waren zu erwarten;16 und außerdem war kaum damit zu rechnen, dass die anti-jüdische Bevölkerung für die Verteidigung eines Juden Leib und Leben einsetzen würde. Eine Mischung aus antisemitischer Rancune und Mär bietet eine Lebensbeschreibung aus dem Jahr 1804: Den grösten Haß aber hatte er von jeher den Juden geschworen, und gegen sie waren von nun an hauptsächlich seine Unternehmungen gerichtet, theils weil [sie] allgemein gehaßt und zum Theil wegen ihres Vermögens beneidet waren, theils weil man sagt, er habe gewußt, daß seine Familie durch Juden arm geworden sey. Dort zerriß er ihnen Obligationen und Wechsel, besonders solche, die von Bauern ausgestellt waren. Doch ließ er viele von ihnen unangetastet, weil sie ihm entweder von Zeit zu Zeit Geschenke machten, oder ihm einen gewissen Tribut entrichteten, den sie ihm entweder freiwillig anboten, oder den er ihnen abforderte.17
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Vgl. FRANKE, 1984, S. 312. Vgl. FLECK, 2005, S. 103. Vgl. EBD. Schinderhannes und seine Bande, 2009 [1804], S. 24f.
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Jedenfalls gingen Schinderhannes und seine Kumpane oft äußerst brutal zu Werke und schreckten weder vor brachialer Gewaltanwendung noch vor der Folter zurück.
Schinderhannes im und als Diskurs Textlich-schriftlich setzte Johannes Bücklers Karriere zum Erz-Räuber und idealtypischen Räuberhauptmann noch vor dessen Gefangenname ein, nicht mit einem Signalement, sondern bemerkenswerter Weise mit dem Aufruf des Räuberhauptmanns Schinderhannes an seine Kameraden, nebst drey neuen Liedern (um 1800).18 Am 21. Februar 1802 folgte im Frankfurter StaatsRistretto dann der erste Artikel über den Schinderhannes: ein verkappter Steckbrief mit Hinweisen auf dessen „schlanken Wuchs und gewandten Körper“, sein trotz Pockennarben „schönes rundes Gesicht“ und die „geschmackvoll[e]“ Verkleidung als „Kaufmann, […] Kurzwaaren- oder Erdengeschirrhändler“, der am „linken Rheinufer […] meistens in Jäger-Uniform, mit einer kurzen doppelten Büchse und einem Jagdsacke versehen“19 erscheine. Die Zahl von den bis Ende des 19. Jahrhunderts erschienenen Actenmäßigen Geschichten und Berichten, Beschreibungen und Auszügen aus der Lebensgeschichte, Charaktergemälden, Volksbüchern und Volksliedern über den Schinderhannes ist ebenso schwer genau anzugeben wie überhaupt zu recherchieren, kompilierten, camouflierten und kontaminierten die nicht selten anonym oder pseudonym publizierenden Autoren doch Texte unterschiedlichster Gattungen, Funktionen und Wahrheitsansprüche: Protokolle, Zeitungsartikel und Signalements, dem Schinderhannes (fälschlich) zugeschriebene Lieder oder Volkslieder über ihn, nicht zuletzt Anekdoten, deren orale Tradierung wie jene der Lieder noch einige Jahre vor die ersten Textzeugen von 1800 zurückreicht. Den Erscheinungsjahren der historisch-epischen, lyrischen und dramatischtheatralen Texte nach sind zwei Phasen auszumachen, in denen sich Schinderhannes einer ganz besonderen Beliebtheit erfreute: Es sind dies fürs erste die Jahre von 1800 bis 1818, in denen ein anekdotisch-novellistisch dämonisierter und im Lied ein melancholisch-draufgängerischer Sozialrebell vor sein Publikum trat, und die fünf Jahrzehnte von 1848 bis 1900, in denen die elegi18 Aufruf des Räuberhauptmanns Schinderhannes an seine Kameraden, nebst drey neuen Liedern, [um 1800]. 19 Zit. n. FRANKE, 1984, S. 308.
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Historik, Lyrik und Theatralik des Schinderhannes im 19. Jahrhundert
schen Schinderhannes-Lieder zwar eifrig weitergesungen (und dann auch erfasst und ediert wurden), das Profil des novellistischen Schinderhannes jedoch neue Konturen erhielt: Mit dem Umfang der ‚Novellen‘, die auf voluminöse Romane anschwollen, und der Romane, die auf Fortsetzungen in Familienblättern hin konzipiert waren, wuchs nämlich auch die Zahl der erfundenen Räuberepisoden gewaltig an – bei gleichbleibendem Anspruch darauf, nach Akten gearbeitet zu haben und ‚historische Realität‘ wiederzugeben. Quer dazu stand jener Schinderhannes, wie ihn einerseits, wie erwähnt, die oral tradierten Volks- bzw. Räuberlieder modellierten und andrerseits, um hier ein in der Figurengeschichtsschreibung so gut wie ausgeblendetes, doch immens beliebtes Medium in den Blick zu bekommen, die Stücke des populären Marionettentheaters.
Der anekdotisch-novellistische Schinderhannes Nicht erst mit der Hinrichtung20 am 21. November 1803, sondern bereits mit der Verhaftung des Schinderhannes am 31. Mai 1802, dessen Übergabe an die französischen Behörden und Inhaftierung im Holzturm zu Mainz am 16. Juni brach (mit mehr als einem Dutzend Publikationen zumindest für damalige Verhältnisse) eine Flut von Publikationen los. Neben reißerischen Geschichten und Moritaten in Flugblattform erschienen Aechte und wahrhafte oder Authentische Beschreibungen, -eueste Szenen aus dem Leben des berüchtigten Räuberhauptmanns Johann Bücklers und, am erfolgreichsten und diskursgeschichtlich folgenreichsten, 1803 (1805?) in Berlin bei Trowitzsch die Unterschiedlichen Anekdoten zur Lebensgeschichte des Schinderhannes als Teil der anonymen Lebensbeschreibung des berüchtigten Räuberhauptmann Schinderhannes und einiger seiner Spießgesellen sowie 1804 die Actenmäßige Geschichte der Räuberbanden an den beyden Ufern des Rheins. Erster Theil. Enthaltend die Geschichte der Moselbande und der Bandes des Schinderhannes; verfaßt von B. [i. e. Johann Nikolaus] Becker, Sicherheits-Beamten von Simmern. Cöln, bey Keil XII. Die Unterschiedlichen Anekdoten sind mitnichten an der gleichwohl behaupteten Faktentreue und stattdessen an der Breitenwirksamkeit und Unterhaltsamkeit der ‚höheren‘, nämlich moralischen Wahrheit interessiert. Im Zentrum der stationenartigen Folge aus 18 dialogi-
20 So die nicht haltbare These von LACKNER, 2012, bes. Kap. 3.
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schen Szenen mit dem Räuberhauptmann als Mittelpunktsfigur stehen „jeweils einzelne Taten oder Entscheidungen“, wobei diese auch „die innere Beschaffenheit des Menschen Schinderhannes“ verdeutlichen sollen.21 Eine heroisierende Wendung zum philosophischen Sozialrebellen erfolgt insofern, als Schinderhannes zu Beginn, genrebildartig seinen „Hund Sultan guschend zwischen seinen Füßen, rückwärts und vorwärts schnarchen die Räuber im Grase“, die „gute liebe Sonne“ begrüßt und zweiflerisch über den Sinn seiner Existenz grübelt: „Donoro“, spricht er Einen aus seiner Bande an, „was ist unser Leben, und wie werden wir enden? […] Sind wir Herr über unser Leben, giebts nicht dort ein Gericht?“22 Bei der ‚Musterung‘ lässt er die Leute programmatisch schwören: „Rache dem Adel, Rache den Reichen, Rache den Klöstern! […] Schonung des armen Wanderers, Schonung der Tugend, Schonung der Armuth. […] Aber ohne Brudermord, wenn es möglich ist.“23 Gerade derlei Sagen und Legenden wollte Beckers Actenmäßige Geschichte von 1804, die seit ihrer Erstpublikation mehrfach als Titeldruck, aber auch erweitert und ein letztes Mal 1818 anonym wiederaufgelegt wurde, entgegenwirken. Zu erklären war die Fülle und Diversität an Publikationen aus dem quer durch alle Bevölkerungsschichten gehenden, immensen Interesse am ‚Fall Schinderhannes‘. Die Möglichkeit, dieses auch zu befriedigen, war aus den nach der Französischen Revolution und auch in den französisch besetzten Gebieten neu eingeführten Schwurgerichten erstanden, mithin aus dem Prinzip der Öffentlichkeit, in der verhandelt und Recht gesprochen wurde, und aus der öffentlichen Publikation der Gerichtsakten.24 Als Textsorte standen Beckers Actenmäßige Geschichte sowie die Aechte und wahrhafte Beschreibung von der Verhaftnehmung des längst berüchtigten Anführers einer großen Räuberbande mit ihrer Auflistung von Vergehen oder der Wiedergabe von Fällen, Tathergängen, Zeugenaussagen und Geständnissen in der Tradition einer sich deskriptiv verstehenden Historiographie25 – was indessen die Aufnahme semifiktiver Anekdoten, zweifelhafter Augenzeugenberichte und unzuverlässiger Aussagen des Delinquenten und seiner Spießgesellen wie selbstverständlich einschloss.26 Zum Teil verfasst von Justizbeamten, die an der Prozessführung beteiligt gewesen waren, sollten die Berichte zwar Gerüchte widerlegen und 21 22 23 24 25 26
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FRANKE, 1958, S. 68. Unterschiedliche Anekdoten, [um 1803], S. 17f. EBD., S. 20. Vgl. FRANKE, 1958, S. 35. FLECK, 2005, S. 98. Vgl. EBD.
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vor allem der Legendenbildung und Heroisierung entgegenwirken, doch lagen den Berichterstattern philologische Textkritik oder Quellenkritik durchaus fern. Insofern konnte sich das zahlenmäßig im Vergleich mit den Lesern der Flugblätter, den Sängern und Hörern der Moritaten und den Zuschauern der Puppenstücke ohnehin schmale Publikum der frühen Schinderhannes-Historiographie in seinem lust- und/oder schaudervollen Gruseln über den Kriminellen durchaus bestärkt fühlen. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienenen Schinderhannes-Romane waren, wie Untertitel und/oder Vorwort programmatischmarktschreierisch vermerkten, auf „Jung und Alt“ bzw. überhaupt auf das „Volk“ zugeschnitten, wie z. B. Wilhelm Friedrich Wüsts 1854 in den Reutlinger Volksbüchern erschienener Roman Leben und Thaten des berüchtigten Johann Bückler genannt Schinderhannes;27 ein Pseudonymus H. L. Breughel apostrophierte 1870 im Titel seiner 40 Romanhefte Schinderhannes als den grösste[n] Räuberhauptmann des 18. Jahrhunderts und widmet seinen Roman „dem deutschen Volke“;28 noch im selben Jahr erschien der Roman in der Reihe Die Grüne Bibliothek. Eine Sammlung interessanter Volksromane […] in zwei Bänden29 und dann 1880 unter dem noch grelleren Titel Der Banditenfürst am Rhein, oder: Liebesabenteuer, Verbrechen und lustige Streiche des Johannes Bückler, sowie sein und seiner Gesellen entsetzliches Ende nach Acten, Traditionen u. neuen Quellen dem deutchen [!] Volke erzählt mit einem Umfang von satten 969 Seiten.30 „Neu erzählt für das Volk“ heftet sich auch der um 1875 in Reutlingen erschienene Kolportageroman Schinderhannes des bekannten Leben und Taten seine Gefangennahme und Ende [!] auf die Fahnen.31 Die ‚Volksbücher‘ der zweiten Rezeptionsphase spekulierten unter dem Deckmäntelchen des moralischen Exempels auf die Sensationslust des mit Fortschreiten des Jahrhunderts breiter werdenden Publikums.32 Dem entsprechend mussten Missetaten seriell erweitert und der Anti-Held noch dazu dämonisiert, zugleich aber auch der Unterhaltung und Spannung halber romantisch sentimentalisiert werden. Sowohl für die erste Anekdotisierungs- und Legendarisierungsphase von 1800 bis 1818 als auch für die zweite sentimentalisierend-dämonisierende Epi27 28 29 30 31 32
WÜST, 1854. BREUGHEL, 1870a. BREUGHEL, 1870b. BREUGHEL, [1880]. Des bekannten Schinderhannes Leben und Taten, [um 1875]. Vgl. FRANKE, 1958, S. 80.
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sierungsphase von 1848 bis 1900 gilt, dass literarische Professionisten höherer Bildung am Werk waren: erst Justiz- und Polizeibeamte, die den Schinderhannes dokumentarisch zu fassen versuchten, bei den späteren ‚Volksbüchern‘ dann Autoren, die innerhalb eines kommerzialisierten Literaturbetriebs auf massenhaften Absatz hin schrieben und ihren vor Gräuel und Blut triefenden Verbrechensserien, sie alle konstruiert nach dem novellistischen Muster der ‚unerhörten Begebenheit‘, am Ende ein moralisches Häubchen aufsetzten.
Der Moritaten- Schi nderhannes Moral und Fabula docet erschließen sich in den Liedern durchwegs aus der Innensicht eines lyrischen Ich, stets Schinderhannes selber, der seine Kameraden aufmuntert, ermahnt und tröstet, als Gefangener in der Zelle über sein Leben grübelt oder auf dem Weg zur Hinrichtung seinen Lieben, Mutter, Vater und Geliebter, einen letzten lyrischen Gruß entbietet. An Varianten dieses Typus ‚balladeskes Abschiedslied‘ dürften im 19. Jahrhundert mehrere Dutzend gesungen worden sein, ausgehend vermutlich von den zwei Strophen, die der anonyme Verfasser des Flugblattes End-Urtheil, welches von dem Spezialgericht zu Mainz den 20 -ov. 1803. gegen Johann Bückler […] dem Delinquenten in den Mund gelegt hatte.33 Situativ führen die Abschiedslieder wie erwähnt in das Gefängnis, wo Schinderhannes auf sein Leben zurückblickt, oder auf den Karren, mit dem er zur „Golledien“,34 wie die von der französischen Besatzung eingeführte Hinrichtungsmaschine mitunter transkribiert wurde, geführt wird und von wo aus er das Wort an seine Gefährten richtet: an das Publikum, die „Konkubine“35 Juliana Blasius, an Vater und Mutter und vor allem an die Jugend, der er ins Gewissen redet bzw. singt. Je nachdem, ob das Sensationelle von Taten und Hinrichtung oder die Melancholie des Rückblicks auf ein verfehltes Leben im Vordergrund steht, steigen die Lieder mit Feststellungen oder Faktennennungen oder mit elegischen Abschiedsformeln ein, wobei stets der Tod als Nacht metaphorisiert wird. Ein Gestus der Selbstbezichtigung und des moralischen Appells herrscht in ihnen allen vor, ebenso aber auch der für den Bänkelsang, aus dem ein Großteil der Schinderhannes33 Vgl. End-Urtheil, [1803], Bl. 2v. 34 In der Welt bin ich herum gegangen, 1896, S. 349. 35 Ein bewegliches Abschiedslied des längst berüchtigten Johannes Bückler, 1958 [1803], S. 159.
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Lieder hervorgegangen ist,36 typische, marktschreierisch verkündete Wahrheitsanspruch.37 Immer wieder appelliert der Lieder-Schinderhannes an die „die liebe Jugend“,38 die neben dem Rauben, Morden und Plündern vor dem Müßiggang, der aller Laster Anfang sei, gewarnt wird. Sieht man genauer hin, so beschränkt sich Schinderhannes’ Rolle in den Volksliedern freilich nicht auf jene des Predigers mit melancholisch erhobenem Zeigefinger. Bei aller verbrecherischen Sündhaftigkeit bleibt seine (un-) moralische Statur (nach der Räuber-Typologie von Danker) ‚groß‘ in dem Sinne, dass beispielsweise verächtliche Charakterzüge wie Gemeinheit oder Feigheit, Verschlagenheit und Verrätertum, Dünkel und selbstische Gier gerade nicht zum balladesken Täterprofil zählen.39 In einem der Abschiedslieder wird sogar auf einen Topos des Edlen Verbrechers zurückgegriffen: Dass es ihm, dem Schinderhannes, nicht geholfen hätte, „daß [er] den Armen […] viel Guts erwiesen“ hätte.40 Was die Figurenpoetik der Volkslieder am stärksten von jener der Anekdotik und Novellistik abhebt, hat mit der musikalischen Gattung Rollen-Abschiedslied zu tun und damit mit der getragen-elegischen Trauer der Melodien (beispielsweise -un ruhen alle Wälder bzw. O Welt, ich muss dich lassen bzw. Innsbruck, ich muss dich lassen),41 zu der weder ein verächtlicher noch ein aktivistischer Verbrecher als lyrisches Ich passen wollen. Dementsprechend traurig, aber auch gelassen und ohne einen Funken von Furcht nimmt Schinderhannes Abschied von seinen Lieben, seinen Kumpanen und der Welt; und in bemerkenswertem Vertrauen in die Gnade Gottes beschreitet er seine „Schiksals-Bahn“42 zum Schafott.
36 Vgl. FRANKE, 1958, S. 117. 37 Genau daran schließt Carl Zuckmayer dann mit seiner Mainzer Moritat vom Schinderhannes von 1922/23 an, doch hat man es dabei kaum, wie im schelmischen Zusatz „Aus alten Bruchstücken zusammengestellt, / ergänzt und vervollständigt“ behauptet, mit einer Kompilation, sondern mit einem parodistischen Karnevalsscherz zu tun, vom Autor erstmals am 23. Januar 1923 bei einer Matinee der Städtischen Bühnen Kiel vorgetragen; vgl. ZUCKMAYER, 1992. 38 Vgl. stellvertretend End-Urtheil [1803], Bl. 2v. 39 Vgl. DANKER, 1988, S. 475. 40 Schinderhannes Abschiedslied, 1803, S. 272. 41 Bücklers reuevoller Abschied in: Unedierte Schinderhanneslieder, 1961, S. 154. 42 End-Urtheil, [1803], Bl. 2v.
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Der Dilettanten- und der MarionettenSchinderhannes Am allerstärksten prägten im 19. Jahrhundert die Kollektivmemoria des Schinderhannes noch das (Wander-)Marionettentheater sowie das Rollenspiel von Laien für Laien (ehem. „Volksschauspiel“), wobei beider Stücke stofflichmotivisch, mitunter selbst dramaturgisch frappierende Übereinstimmungen aufweisen. In Dörfern des Böhmerwaldes entlang der heutigen tschechischdeutsch-österreichischen Grenze, in Böhmen und Mähren wurden von Ortsansässigen neben Doktor Faust, Die Geistermühle bei Saaz und Genoveva auch Schinderhannes-Stücke gespielt,43 im Allgäu noch um 1900 das Oberstdorfer Fastnachtsspiel vom Schinderhannes.44 Aus der Frühzeit des populären Personen-Rollenspiels hat sich lediglich ein Manuskript Die Räuber oder der berüchtigte Schinder Hanns von einem J. S. Lechner erhalten, das 1804 als Repertoirestück der Laufner Schiffer, die im Salzburgischen und Bayerischen während der arbeitslosen Wintermonate Theater spielten, die Zensur passiert hatte.45 An die zum Teil ja bereits dramatisierten Unterschiedlichen Anekdoten von 1803 anknüpfend, fügte zwar Lechner weder den topischen Gerüchten noch den unweigerlichen Fabulae docent etwas hinzu,46 akzentuierte jedoch dramaturgisch einen immer wieder behaupteten charakterlichen Grundzug des Verbrechers: den des Spotts, den er mit seinen Opfern getrieben hätte. Am allerstärksten tritt dieser Spott in jener Anekdote hervor, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zu den meistkolportierten zählte (wohl auch deshalb, weil sie antijüdisch angelegt war und seit den 1880ern auch für einen deutschnational-antisemitischen und dann nationalsozialistischen Schinderhannes instrumentalisiert wurde): Bei der Begegnung mit einer Gruppe aus 45 Juden und fünf Bauern hätte sich Folgendes zugetragen: Wie vom Donner gerührt standen die Juden da, und klapperten vor Angst mit den Zähnen. Die Räuber forderten ihnen ihr Geld ab, und auf ihre Antwort, daß sie keines hätten, wurden sie durchsucht. Wirklich waren sie alle bettelarm, die
43 Vgl. ALEXY u. a., 1984, S. 368. 44 Vgl. BEHREND, 1902. 45 „Es kann diese Komödie von den Laufner Schiffleuten unbedenklich aufgeführt werden.“ Faksimile des Titelblatts mit Zensurvermerk in FRANKE (Hg.), 1977, S. 115. 46 Vgl. FRANKE, 1958, S. 101.
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Historik, Lyrik und Theatralik des Schinderhannes im 19. Jahrhundert meisten hatten nur ein paar Kreuzer bei sich, die sie als Mäklerlohn auf dem Markt verdient hatten. Die Räuber lachten; theils der Schreken dieses kleinen jüdischen Heers, theils ihre so sehr betrogene Erwartung, machte sie lustig und großmüthig. Sie ließen den armen Israeliten ihre paar Batzen, und von den Bauern forderten sie als gute Christen gar nichts. Blos ein Jude trug ein Päkchen Waaren, dessen sich Hans mit seiner gewohnten Behändigkeit bemeistert hatte. Auf die Vorstellung des Eigenthümers aber, daß er ein armer Teufel sey, und blos diese Waaren habe, um sein Brod verdienen zu können, nahm der Räuber blos 2 Pakete Tabak und eine Pfeife daraus, und gab ihm das Übrige zurük. Während dem er selbst die Visitation vornahm, gab er einem Juden die Flinte zu halten. Nach geschehenen Durchsuchen der Juden rief Hans mit lauter Stimme, „hollah, wem sein Leben lieb ist, ziehe die Schuh aus.“ Im Augenblike flogen die Schuh von allen Füssen. Um sich einen Spaß zu machen, warfen die Räuber solche auf einen Haufen untereinander, und es läßt sich wohl nicht leicht eine komischere Szene denken, als wie die Juden nach erhaltener Erlaubnis, über diesen Haufen herfielen, und wie sie einander um ihr Eigenthum zu erhalten, raufften, schlugen und schimpften.47
„Indeß lacht Bückler inniglich“ und „schläget“ vor Vergnügen „in die Hände“, vermerkt dazu eine Moritat.48 Die komische Theatralität der Anekdote – einer macht sich einen Spaß auf Kosten komischer/komisierter Figuren, verlacht diese und bringt das Publikum dazu, es ihm gleichzutun – hatte mit der antijüdischen Stoßrichtung zur Folge, dass die Sequenz nicht nur von den Laufner Schiffern, sondern generell vom überwiegend antijüdisch agierenden populären Personen- und vom (Wander-)Marionettentheater aufgenommen wurde. Eines der populären Rollenspiele überließ es dem Extempore, womit und wie weit das antijüdische Potenzial der Anekdote ausgeschöpft wurde: Nachdem „zweiundzwanzig Juden“, vom Markte kommend, „ihre Fachsen“ (Faxen) gemacht haben, „springen die Räuber aus dem Gebüsche mit gespanntem Hahne auf sie her“ und „untersuchen“ sie, „ob ihre Aussagen“, sie seien „bettelarm“ und hätten „nichts als ein paar Bandeln“, wahr seien.49 Nach dieser „Untersuchung“, von deren Ausgang man nichts erfährt, lässt „Bünkler“, wie
47 Schinderhannes und seine Bande, 2009 [1804], S. 30f. Auch mitgeteilt im -euen Pitaval von HITZIG/ALEXIS/VOLLERT, 1871, S. 388f., doch ohne Betonung der Großmut des Schinderhannes gegenüber den Juden. 48 Unedierte Schinderhanneslieder, 1961, S. 53. 49 Der Schinderhannes, 1900, S. 40.
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er hier heißt, die Juden ihre Schuhe ausziehen und von den Räubern „über einen Haufen“ werfen. (Dann spricht er.) […]. Wer der letzte ist, mit dem Schuhanziehen, der wird niedergemacht! (Die Juden fielen auf dem Haufen Schuhe her, zankten und rauften und während dem schleichen sich die Räuber davon.) (Der Vorhang fällt.)50
Auch im professionellen (Wander-)Marionettentheater fand der Schinderhannes eine geradezu ideale Heimat,51 bestand doch dessen über Jahrzehnte hinweg gleichbleibendes Repertoire aus ‚Sensationsstücken‘, Ritterstücken, dramatisierten Sagen, Legenden, Kriminalfällen, historischen Ereignissen, Erfolgsromanen und nicht zuletzt aus Adaptionen traditioneller Stoffe wie Faust oder (in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits selten geworden) Don Juan. Überhaupt zählte das Räuberstück zu den beliebtesten Genres des Puppentheaters; fast alle Truppen führten einen Rinaldo Rinaldini und nicht wenige einen Karl Moor mit sich. Das erste fassbare SchinderhannesPuppenstück verbindet sich mit einem ebenso berühmten wie bislang literaturund theatergeschichtlich verkannten Namen, Johann Georg Geisselbrecht, dem Puppenspiel-Genie der Goethe-Zeit (Lars Rebehn),52 der um 1802 ein „Originalschauspiel“ Schinderhannes oder Der große Räuber am Rhein mit Hanswurst gegeben hatte.53 In der einschlägigen Puppentheatersammlung in Dresden und der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln findet sich eine Reihe handschriftlicher Textbücher, deren Besitzernamen auf eine reichhaltige Schinderhannes-Spielpraxis vor allem im Sachsen des frühen 19. Jahrhunderts hindeuten. In den Repertoires sächsischer Puppenspieler dürfte der Schinderhannes nach einer kurzen Blüte von Rinaldo Rinaldini, dem Bayerischen Hiasl, dem Stülpner und noch Abällino, dem ‚großen Banditen‘ nach Heinrich Zschokkes Roman (1793) verdrängt worden sein. Auch in und um Wien wurden Schinderhannes-Puppenstücke gegeben: 1883 und 1884 von einem aus Niederösterreich stammenden Spieler, der seinen Editoren Richard Kralik und Joseph Winter wohl das Mitschreiben während der Vorstellung, nicht aber die Nennung seines Namens erlaubt hatte;54 1885 bis 1887 vom 50 51 52 53 54
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EBD. Vgl. FLÖGEL/BAUER, 1914, S. 31f. REBEHN, 2013, Titel. Eine Edition des Stücks, besorgt von Lars Reben, steht bevor. Vgl. KRALIK/WINTER, 1885, [S. 5].
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Marionettenspieler Albin K. und 1893 vom Rudolf Storch, letzteres mit dem Titel Schinderhannes oder die Räuber im Böhmerwald.55 Die Durchsicht von je einem repräsentativen Beispiel56 aus der süddeutschen bzw. Wien-niederösterreichischen und der sächsischen Tradition belegt an stofflich-thematischen, strukturellen und konzeptionellen Gemeinsamkeiten nichts außer dem Namen „Schinderhannes“ und der Typenkomik des Kasperl. Im Wiener Stück bleibt das Historische, Schinderhannes mit seinem Leben und seinen Taten, gänzlich ausgeblendet: Weder wird auf nur eine einzige der Anekdoten, noch auf historische Mittäter, noch auf Julchen Blasius oder eine andere Geliebte Johannes Bücklers hingewiesen. Den Namen trägt ein geradezu idealtypischer Edler Räuber, gutmütig und gegenüber dem tollpatschigverblödeten Kasperl ebenso nachsichtig wie großzügig. Dass er, als er keinen Ausweg mehr sieht aus dem von Soldaten umzingelten Haus, gewalttätig Gegenwehr leisten könnte, fällt ihm nicht ein; stattdessen gibt er sich „gutwillig“ in seine Verhaftung und bittet „höflich um Vergebung“.57 Rabauken, Räubergesindel und Meuchelmörder, das sind nur die Mitglieder seiner Bande, die der edle Anführer immerfort im Zaum zu halten versucht: So schilt er den Raubgesellen Strudel (man beachte den sprechenden Namen) wegen des heimtückischen Mordes an einem schlafenden Handelsjuden. Und auf die Einwendung, es habe sich ja nur um einen Juden gehandelt, repliziert dieser Schinderhannes: Ein Jude, sagst du, Elender! Aber gewiß ein besserer Mensch als wie du. Unter jenen Bäumen sei es geschworen, wer sich noch einmal für einen solchen Mord herbei läßt, dieser Hund soll an jenen Bäumen aufgeknüpft werden.58
Gerechtigkeit und Recht gehen ihm bei Streitigkeiten über alles, denn: „Jeder muß zuerst gehört werden und dann erst gerichtet werden.“59 „[…] geschrieben den 1/7 Juli 1898“ heißt es am Beginn, „beendet in Delmschütz. d. 5. August. 1898“ am Schluss des Marionettenstücks Johann Bükler genant Schinderhans. Schauspiel in 5. Acten in der Puppentheater-
55 Vgl. MAYER, 1900, S. 140 u. 143. 56 Die dramaturgisch wie thematisch-motivisch schematisch angelegte Gattung populäres Puppenstück legt ein solches Verfahren des repräsentativen kontrastiven Vergleichs nahe. 57 Johann Pückler, 1885, S. 268. 58 EBD., S. 247. 59 EBD., S. 267.
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sammlung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden.60 Die Ortsangabe – Delmschütz, heute zu Ostrau im Landkreis Döbeln, Regierungsbezirk Leipzig – führt ebenso nach Sachsen wie die Provenienz aus dem Marionettentheater Ruttloff (Carl Eduard Ruttloff, Euba, heute zu Chemnitz 1840 – Meißen 1890)61 oder phonetische Eigentümlichkeiten der Figurenrede (beispielsweise die Verschiebung von ‚g‘ zu ‚ch‘). Wie im Wien-niederösterreichischen Schinderhannes tritt uns ein prototypischer Edler Räuber entgegen, doch erfolgt hier die moralische Überhöhung auf gänzlich andere Art: durch (Pseudo-)Historisierung mittels Anspielungen (beispielsweise auf Simmern im Hunsrück, wo der Schinderhannes 1799 mehrere Monate lang gefangen war) und mittels Aktionsanreicherung; durch anekdotische Konkretisierung des allgemeinen Topos, wonach der Räuber von den Reichen nimmt, um die Armen zu beschenken;62 schließlich durch den Rückgriff auf die zwei topischen antijüdische Anekdoten: jene der um ihre Schuhe raufenden Juden, deren sich der Marionetten-Schinderhannes so gerne erinnert,63 sowie jene, dass Johannes Bückler nur durch den von Juden verschuldeten Ruin des Vaters zum Räuber geworden sei. Zwei Erzählungen davon bilden geradezu die konzeptionellideologische Klammer des Stücks: Die Juden seien schuld, dass er „soweit herabgesunken“ sei, betont er schon zu Beginn;64 und in der abschließenden Beichte gerät eben dieses Ereignis zum retrospektiven Movens der gesamten kriminellen Karriere.65 Anknüpfend an dieses fiktive legendarische Trauma spielte Johannes Bückler auch im Laien- und im Marionettentheater meist den eingeschworenen Judenfeind.66 Bemerkenswerterweise erfolgt im österreichischen Puppentheater, wie es das von Kralik/Winter mitgeteilte Stück repräsentiert, die Veredelung des Räubers: einerseits durch Schinderhannes’ Verteidigung des ermordeten Juden und zweitens durch die barsche Ablehnung des vom Mörder in Anschlag gebrachten antisemitischen Mordmotivs. 60 Johann Bükler genant Schinderhans, 1898, [S. 1] und [S. 81]. 61 Zum Zeitpunkt der Entstehung der Abschrift war Eduard Ruttloff bereits gestorben. Die Bühne wurde von seiner Witwe Emilie Ruttloff, geb. Claus, mit Unterstützung ihres Bruders Wilhelm Claus (1844-1910), der vermutlich auch der Schreiber ist, geleitet. Vgl. auch Lars Rebehns Biographie von Emilie Ruttloff (1845-nach 1915) und Carl Eduard Ruttloff (1840-1890) in REBEHN, 2006, S. 121131. 62 Vgl. HOBSBAWN, 1972, S. 49f. 63 Siehe Anm. 47. 64 Johann Bükler genant Schinderhans, 1898, [S. 10]. 65 Vgl. EBD., [S. 78]. 66 Vgl. NIESSEN, 1935, S. 104.
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Welchen Stoffs, welcher Figur sich das Marionettentheater auch immer annahm, ohne eine Lustige Figur, meist den Caspar, Kasper, Kasperl oder, schon weit seltener, einen Hanswurst, kam kein Stück aus. Während Anekdotik und Novellistik den Schinderhannes als höhnisch oder dämonisch (Ver-)Lachenden vorgeführt, aber von jeder Komisierung abgesehen und Volks- und Räuberlied von ihm ein melancholisches Bild des Mitleids gezeichnet hatten, wurde mit dem Kasperl im Marionettentheater ein komischer Akzent gesetzt. Das Wienniederösterreichische und das sächsische Stück verbindet der Typus des Kasper(l)s ebenso, wie die typenkomische Ausführung und das dramaturgische Gewicht der Lustigen Figur sie unterscheiden. Im sächsischen Schinderhannes spielt er eine vergleichsweise untergeordnete Nebenrolle und repräsentiert in nur drei Sequenzen jenen Kasper, wie die Theatertradition ihn modelliert hatte. Vielfraß, Feigling und Dummkopf, der er ist, freut sich der vormalige Schuhflicker und dann Räubergeselle über „Fleisch, Würst[,] Schinken[,] Pökelfleisch, Wein und Braten“, die es bei der Bande immer geben wird;67 fürchtet sich vor seiner Frau, die ihm täglich einmal zu essen gibt und neunmal Prügel verpasst;68 und kann es nicht verstehen, dass er ohne amtliche Bescheinigung weder Pulver noch Blei kaufen kann.69 Die Einsiedler-Szene ist mit dem Handlungsganzen kaum verbunden und stammt bis ins Detail aus dem sprachkomischen Szenen-Fundus des Hanswurst-Theaters aus dem 18. Jahrhundert. Im tiefen Wald treffen die Räuber auf einen Einsiedler, den der Kasper zu befragen hat: Der „Einsiedler“, meint er, sei ein „Leimsieder“; die „Klause“ bzw. „Eremitage“, in der dieser wohnt, eine „Krause“ bzw. eine „Kurasche“ (Courage).70 Der Mann ernährt sich von „Wurzeln und Kräutern“ – was den Kasper ganz besonders freut, denn wenn der Leimsieder sich von „Husaren und Reutern“ ernähre, brauchten die Räuber sich ja überhaupt nicht mehr zu fürchten. Als der Einsiedler wiederholt, er esse „Wurzeln und Kräuter“, versteht der Kasper endlich richtig „Schuster und Schneider“ (was ihm aber denn doch wieder sehr seltsam vorkommt).71 Dem „Pimper“, der im Personenverzeichnis fehlenden zweiten Lustigen Figur, ist nur eine einzige Szene zugedacht, und zwar jene, in der sich der Dreikäsehoch, seines Zeichens Schneider aus Simmern, meldet, um sich als Spion zur Ausforschung der Schinderhannesbande zu melden, und dann tatsächlich daran geht, den Räuberhauptmann zu verhaf67 68 69 70 71
Johann Bükler genant Schinderhans, 1898, [S. 20]. Vgl. EBD., [S. 19]. Vgl. EBD., [S. 66-68]. EBD., [S. 53f.]. Alle EBD., [S. 54f.].
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ten.72 Die Komik der vermutlich extemporierten Sequenz resultierte aus den komischen Kontrasten und Inkongruenzen zwischen der typologischen Feigheit des Pimper(l)s, der im böhmischen und österreichischen Marionettentheater öfter als im sächsischen als kleiner komischer Begleiter des Kasperl eingesetzt wurde.73 Verstärkt wird die komische Fallhöhe zwischen dem kleinen Feigling und dem großen, furchterregenden und legendenumwobenen Räuberhauptmann noch durch den Beruf des Pimpers: „Schneider Meister Pimper aus Simmern der Spion“, stellt er sich ausgerechnet dem Schinderhannes vor, den er ja ausspionieren soll.74 Schneider hielt man, wie eine Reihe sprichwörtlicher Redensarten, Schneiderspottlieder und das Tapfere Schneiderlein aus dem Märchen als Gegenbild belegen, infolge ihrer ansonsten den Frauen zugeteilten, wenig körperliche Anstrengung erfordernden Arbeit und der ungesunden Stubenhockerei für „weibisch, verzärtelt, überempfindlich und nicht genügend abgehärtet“.75 Verfressen, feige und „Narr“, als der er von den Mitfiguren immer wieder tituliert wird, ist auch der Wien-niederösterreichische Marionetten-Kasperl, doch wird dies durch vielerlei Details ergänzt und ausgemalt: Er ist überdies
72 Vgl. EBD., [S. 59-62]. 73 Bairisch „Pimpel“, „Pimperl“ meinte nach dem Deutschen Wörterbuch von Grimm einen Hanswurst und den Eichelbuben im Kartenspiel (die Karte mit dem geringsten Wert); heute wird mit „Pimperl-“ im Süddt.-Bair. als erstem Teil eines Kompositums etwas lächerlich Kleines bezeichnet („ein Pimperl-Betrieb“); „ein Pimperl“ ist ein feiger, schwacher, lächerlicher, nicht ernst zu nehmender Mann, ein „Seicherl“ und „Zniachtl“ zugleich. Im Egerländer Dialekt bedeutete „Pimp(r)l“ neben dem „Kasperl“ die komische Hauptfigur im Puppentheater, aber auch das Marionettenspiel selber (wie „Pimp(r)lgsp(ü)l“). Die dazugehörige Wurzel ist „pimp“: „mit einem (hellen oder dumpfen) getöse umhergeworfen, geschlagen werden, wovon auch pumpern, pimpeln, pempern, pàmpa’n“ stammt; „die figur heisst so als die gehudelte person der stücke“. GRADL, 1870, S. 54f., vgl. ebenso SCHIEPEK, 1899, S. 244. Nach dem Puppentheaterhistoriker PURSCHKE, 1984, S. 136f., geht der „Pimper(l)“ auf „Pumppe“, 1671 in München für „Handpuppe“ gebraucht, zurück, und hat mit dem Adjektiv „pimpelig“: „klein, zierlich“, dem Verb „pimpern“, „zimperlich sein“, am wahrscheinlichsten jedoch mit „pimpern“: „klimpern, bimmeln“ zu tun. Als „pimprl/e“, (Draht-)Puppe, Marionette, und „pimprlata“ (Pl.), Marionettentheater, dürfte es ins Tschechische entlehnt worden sein. – Im Süddeutschen Raum bzw. im deutschsprachigen Österreich bedeutete „Pimperltheater“ bis weit ins 20. Jahrhundert hinein „Marionettentheater“, auf Wien bezogen jenes im Wurstelprater. 74 Johann Bükler genant Schinderhans, 1898, S. 59. 75 RÖHRICH, 1999, S. 1385. Weiters hielt man Schneider für diebisch und lügnerisch, faul und nachlässig, schwächlich, furchtsam und feige. Vgl. EBD., S. 1386.
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prahlerisch, ausfällig und streitsüchtig; angriffslustig, geldgierig und verschlagen; heuchlerisch, boshaft und faul. Seine nicht wenigen Selbstaussagen profilieren ihn als Lustige Person alten Zuschnitts: „A Keuschen hab i ghabt, die hab i vertrunken.“76 „I thu […] nit gern arbeiten.“77 „I bin alleweil a ehrlicher Spitzbub gwesen.“78 Mit seiner „Kurasch“ ist es nicht weit her, dazu braucht er zumindest „a paar Krügel Bier“,79 und auch die 50 auf den Schinderhannes ausgesetzten Dukaten locken ihn eigentlich nur wegen seiner trockenen Gurgel: „Kruzi wuzi kapuzi, da kann i meine trockene Gurgel ordentlich in die Schwemm reiten.“80 Missverständnisse, Verdrehungen und Verwechslungen zählen zu den bevorzugten Erheiterungstechniken des Marionettentheaters und knüpfen figurentypologisch an die vorgegebene Närrischkeit oder Blödheit (oder doch Gewitztheit?) der Kasperl-Figur an. Im Wien-niederösterreichischen Schinderhannes zeugen Kasperls sprach- und situationskomische Verkehrungen von dessen schlichtem, dem Metaphorischen gänzlich un- oder überzugänglichen Gemüt. Um der Verfolgung zu entkommen, will er seiner verqueren Logik nach den Verfolger verfolgen – auch dies ein situationskomischer Lazzo aus dem Lachtheater des 18. Jahrhunderts: „Der geht dahin, da geh i ihm nach. Am besten komm i davon, wenn i ihm nachrenn. Da kommen wir nit so gschwind zusammen, wenn i ihm nachrenn.“81 In seiner Dummköpfigkeit verdreht und verquert er selbst, wie seine Eltern zu Tode gekommen sind: Der Vater, der aufgehängt worden ist, sei Kasperls Meinung nach „erstickt in der Luft“, und die Mutter, die man als Hexe verbrannt hat, habe recte „einen gspaßigen Tod“ gehabt: Sie hätte nämlich „so viel gschwitzt“, dass man „kein Bröckerl Beinderl nit mehr gfunden“ hat.82 Auch mit dieser Ende des 19. Jahrhunderts archaisch gewordenen Form des schwarzen Humor grenzt sich das Schinderhannes-Stück des niederösterreichischen Puppenspielers von 1883/84 von jenem des sächsischen Theaters Ruttloff ab. Ob daraus generell unterschiedliche, regionen- oder kulturspezifische Traditionslinien der Komik im Marionettentheater abzuleiten sind, bleibt weiteren Vergleichen vorbehalten. Jedenfalls belegen die die Kasper(l)Figuren und ihre Komik betreffenden Abweichungen – hier das sächsische 76 77 78 79 80 81 82
Johann Pückler oder Der Schinderhannes, 1885, S. 273. EBD., S. 254. EBD., S. 266. EBD., S. 250. EBD., S. 248. EBD., S. 259. Alle EBD., S. 274f.
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Spiel mit einer dramaturgisch unbedeutenden Lustigen Figur herabgestufter, ja kaum fassbarer Komik, da das Wien-niederösterreichische Spiel mit dem Kasperl als verkappter zweiter Hauptfigur, die Komik nicht nur andeutet, sondern dramatisch-dialogisch ausbreitet – auf ein Neues die vielfach in Abrede gestellten These, dass das Komische im süddeutsch-bayerisch-österreichischen Raum vor die Reformen des deutschen Lustspiels, also vor die Aufklärung, zurückreicht und noch Ende des 19. Jahrhunderts mit quasi-barocker Bildlichkeit operiert. Diskursiv lassen sich Historik, Lyrik und Theatralik des Schinderhannes im 19. Jahrhundert recht präzise durch deren komische Profilierung beschreiben und voneinander abgrenzen. In ihren diskrepanten Verhältnissen zur Historie sind sie poetologisch auf keinen gemeinsamen Nenner festzulegen – wie überhaupt die Begriffe des Historischen, auf die den Schinderhannes betreffende Novellistik, Lyrik und Theatralik angewendet, ins Leere gehen, sind doch gerade jene Anekdoten, die in den Romanen, Liedern, Marionettenstücken am allerhäufigsten und an prominenter Stelle platziert werden, nichts als Fiktion. Während die Anekdoten freilich in den dramatischen Diskursen um den „größten Räuberhauptmann Schinderhannes“ als Erfolgsgaranten realistischhistorisch angelegt waren und mit Namen und einigen wenigen Fakten einen bestimmten Erwartungshorizont des Publikums öffnen wollten, dienten die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits archaisch wirkenden komischen Bausteine aus der Komödientradition dazu, das Historische zu konterkarieren – und zugleich lachende Unterhaltung mittels jener Figur zu garantieren, ohne die der Besuch eines Marionettentheaters im 19. Jahrhundert undenkbar war: des Kasper(l)s. Schließlich hieß es ja ‚Kasper(l)theater‘, und wo sich in den historischen Zusammenhängen und Vorlagen keine vergleichbare Figur fand, musste eben eine hinzugefügt werden – vielleicht sogar eine zweite, z. B. der Pimper(l).
Literatur Primärliteratur Aufruf des Räuberhauptmanns Schinderhannes an seine Kameraden, nebst drey neuen Liedern [o. O. um 1800].
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Des bekannten Schinderhannes Leben und Taten, seine Gefangennehmung und sein Ende. [Titel auf U1; auf dem Titelblatt:] Schinderhannes des bekannten Leben und Thaten seine Gefangennahme und Ende. Neu erzählt für das Volk, Reutlingen [um 1875]. Ein bewegliches Abschiedslied des längst berüchtigten Johannes Bückler oder sogenannten Schinderhanns, sowohl an seine Konkubine, als auch an seine Kameraden. Vor seinem Tode herausgegeben aus dem Gefängniß im Departement Donnersberg bey Maynz (1803), in: CURT-MANFRED FRANKE, Der Schinderhannes in der deutschen Volksüberlieferung. Eine volkskundliche Monographie, Frankfurt/M. 1958, S. 159-161. BREUGHEL, H. L., Johannes Bückler genannt Schinderhannes der grösste Räuberhauptmann des 18. Jahrhunderts sein und seiner Gefährten Leben, Treiben und schreckliches Ende. Nach Akten, Traditionen und neuen Quellen dem deutschen Volke erzählt, Berlin [1870]. DERS., Johannes Bückler genannt Schinderhannes, Tl. 1-2 (Die Grüne Bibliothek. Eine Sammlung interessanter Volksromane aus alter und neuer Zeit nach Aktenstücken und Traditionen für Stadt und Land bearbeitet von bedeutenden Schriftstellern Deutschlands 1.2), Darmstadt [1870]. DERS., Der Banditenfürst am Rhein, oder: Liebesabenteuer, Verbrechen und lustige Streiche des Johannes Bückler, sowie sein und seiner Gesellen entsetzliches Ende nach Acten, Traditionen u. neuen Quellen dem deutchen [!] Volke erzählt, Bd. 1-2, Berlin [1880]. End-Urtheil, welches von dem Spezialgericht zu Mainz den 20. Nov. 1803. gegen Johann Bückler, Sohn, genannt Schinderhannes und ein und sechzig seiner Mitschuldigen ausgesprochen wurde, [Frankfurt/M.] 1803. [FRIEDERICH, JOHANN KONRAD], Vierzig Jahre aus dem Leben eines Todten. Hinterlassene Papiere eines französisch-preußischen Offiziers. In drei Bänden, Bd. 1, Tübingen 1848. [GRUTHOFER, CARL JOSEPH HOFHEIM], Schinderhanns. („Johann Vickler, vom Volke Schinderhanns genannt“.), in: Kriminalgeschichten, voller Abentheuer und Wunder und doch streng der Wahrheit getreu, Bd. 2, Hamburg, Mainz 1802, S. 238-303. HITZIG, J[ULIUS] E[DUARD]/HÄRING, W. (W[ILLIBALD] ALEXIS)/VOLLERT, A[NTON], Der Neue Pitaval. Eine Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit, Neue Serie, Bd. 6, Leipzig 1871.
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In der Welt bin ich herum gegangen, in: Volkslieder von der Mosel und Saar. Mit ihren Melodien aus dem Volksmunde ges. von CARL KÖHLER, hg. von JOHN MEIER, Bd. I, Halle/S. 1896, S. 348f. (Nr. 338). Johann Bükler genant Schinderhans. Ein Schauspiel in 5. Acten, Puppentheatersammlung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Sign. Manuskript 624, hg. von SARAH STADLER/BEATRIX MÜLLER-KAMPEL: http://lithes.unigraz.at/zw_anonym_schinderhans_1898.html, 03.12.2014. Johann Pückler oder Der Schinderhannes, in: Deutsche Puppenspiele, hg. von RICHARD KRALIK/JOSEPH WINTER, Wien 1885, S. 243-280. Johannes Bückler genannt Schinderhannes, (Als RäuberHauptmann zum Tode verurtheilt von demm SpezialGerichte des DonnersbergsDepartements am 28 Brymaire 12 Jahres.) [!], in: Journal für Gesetzkunde und Rechtsgelehrsamkeit 1 (1804), Bd. 1, S. 278-287, u. Bd. 2, S. 76-85. Die Mainzer Voruntersuchungsakten gegen die Schinderhannes-Bande, bearb. von UDO FLECK, Elektronisches Buch auf CD-ROM, Trier 2004. Procédure instruite par le Tribunal criminel spécial établi à Mayence pour le département du Mont-Tonnèrre, en exécution de la loi du 18 Pluvióse, an onze, contre Jean Bückler dit Schinderhannes et soixante sept complices, tous prévenus d’assassinats ou de vol, et de complicité desdits crimes, 6 Bände in 7 Teilen, Mayence [Mainz] [1803]. Der Schinderhannes, in: Volksschauspiele aus dem Böhmerwalde, Tl. III (Beiträge zur deutsch-böhmischen Volkskunde, III. Band, 1. Heft. Volksschauspiele aus dem Böhmerwalde III), hg. von J[OHANN] J[OSEF] AMMANN, Prag 1900, S. 27-52. Schinderhannes Abschiedslied. 20. Novb. 1803, in: Die historischen Volkslieder vom Ende des siebenjährigen Kriegs, 1763, bis zum Brande von Moskau, 1812. Aus fliegenden Blättern, handschriftlichen Quellen und dem Volksmunde ges. und hg. von FRANZ WILHELM FREIHERRN VON DITFURTH, Berlin 1872, S. 270-273. Schinderhannes und seine Bande oder Johann Bücklers und seiner Gesellen merkwürdige Geschichte, Verbrechen, Verurtheilung und Hinrichtung (1804), hg. von MARK SCHEIBE, 2. Neuaufl., Kelkheim 2009. Unedierte Schinderhanneslieder, hg. von OTTO STÜCKRATH, in: Rheinischwestfälische Zeitschrift für Volkskunde 8 (1961), S. 154f. Unterschiedliche Anekdoten zur Lebensgeschichte des Schinderhannes, in: Lebensbeschreibung des berüchtigten Räuberhauptmann Schinderhannes und einiger seiner Spießgesellen, Berlin [um 1803], S. 17-48.
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Historik, Lyrik und Theatralik des Schinderhannes im 19. Jahrhundert
SCHIEPEK, JOSEF, Der Satzbau der Egerländer Mundart. Tl. 2 (Beiträge zur Kenntnis deutsch-böhmischer Mundarten 2), Prag 1908.
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Echt komisch Rutschkys Reise durch das Ungeschick ULRICH BREUER 1. Einleitung Der folgende Beitrag begibt sich auf ziemlich dünnes Eis. Das hat mit der literarischen Gattung zu tun, an der hier die wechselseitige Funktionalisierung von Komik und Realismus untersucht werden soll. Diese Gattung ist der Essay, genauer gesagt der Gegenwartsessay. Essays aber sehen in vielen Fällen bis zum Verwechseln den Texten ähnlich, die Literaturwissenschaftler produzieren.1 Da diese selbst ihre Texte zudem als Sekundärliteratur zu klassifizieren gewohnt sind, droht auch der Essay, sofern er ihnen ähnlich ist, in den Strudel des Sekundären zu geraten.2 Das gilt zumal für den Gegenwartsessay3, der schon durch seine schiere Masse, sein emsiges Weiterwuchern und durch die fehlende historische Distanz seiner Beobachter den literaturgeschichtlichen Wertungs- und Selektionsroutinen erheblichen Widerstand entgegensetzt. Beide Probleme verschärfen sich noch einmal angesichts des Autors, dem der folgende Beitrag sich widmet. Michael Rutschky ist nämlich ‚einer von uns‘. Er hat in Frankfurt a. M., in Göttingen und an der FU Berlin Germanistik studiert und 1978 bei Hartmut Eggert mit einer literaturwissenschaftlichen Arbeit promoviert. Gemeinsam mit Hartmut Eggert gehört Rutschky zu den Pionieren einer empirisch fundierten germanistischen Literaturdidaktik. Vor allem hat er sich intensiv mit dem Problem der literarischen Sozialisation aus1 2 3
Vgl. STANITZEK, 2007, S. 160f. EBD. Vgl. EBD., 2011.
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einandergesetzt. Als es aber um die Entscheidung zwischen Wissenschaft und Essayistik ging, die nach Oliver Jahraus jeder Literaturwissenschaftler unweigerlich treffen muss, wenn er Literaturwissenschaftler werden oder bleiben will,4 ist Michael Rutschky fremdgegangen und hat sich für den Essay und damit auch für die Literatur entschieden – eine Literatur freilich, die auf den Einsichten seiner literaturwissenschaftlichen Studien aufruht und keineswegs auf Theorie verzichtet, ja diese erst produktiv macht.5 Das aber wollen Literaturwissenschaftler doch irgendwie auch – und eben darum begibt sich dieser Beitrag auf dünnes Eis. Der Rutschky-Text, der hier zur Debatte steht, steigert die Problemlage noch einmal. Er trägt den Titel Reise durch das Ungeschick. Zum einen ist er nicht nur als Essay, sondern – ebenso wie ursprünglich dieser Beitrag – auch als Vortrag organisiert; zum anderen zeigt der eine Titel drei verschiedene Textobjekte an. Denn erstens heißt so ein einzelner, in einem Themenheft der Kulturzeitschrift Merkur erschienener Essay Rutschkys. Das Doppelheft 9/10 vom September/Oktober 1986 war dem Thema „Ästhetik und Politik“ gewidmet6 und eröffnete mit Michael Rutschkys Essay Reise durch das Ungeschick das Unterthema „Physiognomie des Politischen“.7 In ihm sollte es um „das Defizit der symbolischen Form in der Politik“ der 1980erJahre gehen,8 besonders in der Regierung des Bundeskanzlers Helmut Kohl. Der Titel Reise durch das Ungeschick geht auf den Untertitel eines 1984 in einem Band der Reihe suhrkamp taschenbuch erschienenen Essays zurück, der Kleine Reise durch das Ungeschick lautete.9 Zweitens ist Reise durch das Ungeschick aber auch der Titel eines 1990 im Zürcher Haffmans Verlag erschienenen Essaybandes. In diesem Band findet sich dann drittens auch der zuerst im Merkur erschienene Essay wieder.10 Dem Haupttitel des Buches ist ein aufschlussreicher Untertitel hinzugefügt. Er zeigt teils ironice, teils aber auch strategisch und poetologisch sehr geschickt an, dass es sich bei den Essays des Bandes um die Ergebnisse handwerklicher Wertarbeit handelt:11 Reise durch das Ungeschick. Und 4 5
Vgl. JAHRAUS, 1997. Zu Rutschkys Essays vgl. WOLFRUM, 1990, SCHÜTZ, 2011, sowie STANITZEK, 2011, S. 122-153. 6 Das von Karl Heinz Bohrer verfasste Editorial trägt den Titel „Ästhetik und Politik sowie einige damit zusammenhängende Fragen“; BOHRER, 1986. 7 RUTSCHKY, 1986. 8 BOHRER, 1986, S. 721. 9 RUTSCHKY, 1984a. 10 RUTSCHKY, 1990a. 11 Zum Selbstverständnis des Essayisten vgl. auch RUTSCHKY, 1990b, S. 210-212.
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andere Meisterstücke. Der Untersuchungsgegenstand dieses Beitrags ist also in publikationstechnischer Hinsicht12 zugleich ein Zeitschriftenbeitrag (dessen Titel auf einen Buchbeitrag referiert), ein Buch und ein Buchbeitrag, er ist insofern – in der Terminologie der Literaturwissenschaft – ein selbständiger und ein unselbständiger Text. Mein Beitrag wird vor allem auf den Buchbeitrag eingehen, der – wenn man so will – zwischen beiden Klassifikationen in der Mitte steht. Ausgewählt wurde dieser Text für den vorliegenden Sammelband aufgrund seines Themas, der Ungeschicklichkeit. Es passt darum gut, weil die Ungeschicklichkeit sowohl Beziehungen zum Realismus als auch zur Komik unterhält. Schon die antike Komiktheorie, beispielsweise Aristoteles, hat bekanntlich das Lächerliche auf einen unschädlichen Fehler zurückgeführt und Ungeschicklichkeiten, wie etwa das Zerbrechen eines alten Kruges durch einen verliebten Dorfrichter, der vor seinem wütenden Rivalen flieht, können als komische Fehler eingesetzt werden. Auf der anderen Seite haben Ungeschicklichkeiten aber auch einen realistischen Kern, da sie die Ordnung der Dinge und damit die kulturelle Realität durcheinanderbringen. Im Ungeschick bricht gewissermaßen die Natur in die Kultur ein. Man kann es insofern nicht auf sich beruhen lassen, sondern muss es benennen, sanktionieren und künftig vermeiden. In der Aufmerksamkeitsszene, die sich um jede Ungeschicklichkeit herum bildet, werden immer auch kulturelle Routinen verhandelt. Diese Routinen sind die Strategien, mit denen Kulturen Unordnung anzeigen, deren Verursacher ausgrenzen und die Ordnung in einem durch die Szene bestimmten Bereich wieder herstellen. Zu den Strategien, mit denen ein ungeschicktes Verhalten angezeigt werden kann, gehören auch das Lachen und die Komik. Insofern funktioniert die Ungeschicklichkeit mit ihren komischen Effekten als realitätssichernder Kulturindikator. Rutschkys Essay Reise durch das Ungeschick und sein gleichnamiges Buch interessiert sich nun für die Ungeschicklichkeit in einer bestimmten, einerseits begrenzten und andererseits weiträumigen Art und Weise. Der Autor hat nämlich bereits früh in den 1980er Jahren behauptet, dass im Ungeschick die Signatur der BRD in diesem Jahrzehnt besteht. Schon 1983 hatte Rutschky in dem Band Wartezeit. Ein Sittenbild die Struktur bzw. die Gestalt des Ungeschicks
12 Zur Bedeutung von Publikationspraxis und Publikationskontext für den Essay vgl. STANITZEK, 2007, S. 166, sowie den funktionsgeschichtlich angelegten, auch auf die Differenz Essay/Feuilleton eingehenden Beitrag von FRANK/SCHERER, 2012, bes. S. 535-539.
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im Ausgang von Fallanalysen als „Idee einer im Zustand des Materials begründeten Inkompetenz“13 bestimmt und erste Bausteine zu einer „Phänomenologie des Ungeschicks“14 vorgelegt. Er nahm zunächst über die achtziger Jahre hinaus eine „Welt voller Ungeschick“15 in den Blick und warnte eindringlich vor dem „Ungeschick der Gegenmaßnahmen, die es nicht beseitigen, sondern steigern“16. In dem 1984 bei Suhrkamp erschienenen Band Zur Ethnographie des Inlands konzentrierte sich Rutschky dann wieder auf das Ungeschick der achtziger Jahre. Er rechnete die „Zeugnisse des Ungeschicks“17 nun der neokonservativen Kohl-Regierung und ihren Anhängern zu und stellte fest, dass sie den politischen Diskussionen der Linken die Macht entzögen.18 Das allgegenwärtige Ungeschick des Neokonservatismus verwandle zunehmend „die Welt in Slapstick“,19 so dass nicht länger politische Sachfragen, sondern nur noch Fragen der Inszenierung eine Rolle spielen.20 Erkenntnisse wie diese werden heute unter dem Begriff des Politainment diskutiert.21 Die These, die hier vertreten wird, steckt im Titel dieses Beitrags. Er ist phraseologisch in dem Sinne, dass ein nicht des Deutschen mächtiger Sprecher oder eine seit längerem im Ausland lebende Deutsche ohne regelmäßigen Sprachkontakt aus dem Wissen um die Bedeutung der Worte ‚echt‘ und ‚komisch‘ die Bedeutung der Kollokation ‚echt komisch‘ in der Gegenwartssprache nicht erschließen kann. Nur wer aktuell zur deutschen Sprachgemeinschaft gehört, versteht, dass ‚echt komisch‘ soviel wie ‚seltsam, ungewöhnlich, kurios‘ meint. Die spezifische Leistung von ‚echt komisch‘ für diese Gemeinschaft besteht darin, Sachverhalte anzuzeigen, die von sich aus Aufmerksamkeit erheischen. Dafür sei auch gleich ein Beleg angeführt. In einem Katzen-Forum, das der Privatsender Sat.1 vor einigen Jahren eingerichtet hat, findet sich der folgende Eintrag, gepostet von Stute1997:
13 14 15 16 17 18 19 20
RUTSCHKY, 1983, S. 21. EBD., S. 100. EBD., S. 169. EBD., S. 202. RUTSCHKY, 1984a, S. 97. Sie ließen diese Diskussionen „seltsam kraftlos“ werden; EBD. EBD. [Herv. i. O.]. EBD., S. 101. Rutschkys Diagnose berührt sich hier eng mit den Überlegungen von Klaus Schwind zu den „Unverbindlichkeitsbehauptungen“ postmoderner Formen des Komischen, insbesondere der Comedy im Fernsehen; SCHWIND, 2001, S. 334; ähnlich JEHLE, 2006, S. 200. 21 Vgl. DÖRNER, 2001.
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Abb. 1: SAT.1-Forum „Meine Katze benimmt sich echt komisch!“ (Auszug)22
Das dialektale, auf das Rheinische verweisende Adverb „daletzt“, der inkonsistente Einsatz von Elisionen („hab“ statt „habe“, aber „streichele“ statt „streichle“ oder „streichel“) die orthografischen Fehler („plötztlich“, „krazt“), sowie die abenteuerliche Syntax unterstreichen zudem, dass der Phraseologismus vom Stilniveau her alltagssprachlich situiert ist. Wer ihn einsetzt, verlässt die besseren Kreise und geht ‚unter die Leute‘. Das ist noch keine These, aber ein Richtungsanzeiger. Um daraus eine These zu machen, ist ein weiterer Schritt nötig. Die Philologin weiß, dass Phraseologismen gerne modifiziert werden, um Stileffekte zu erzielen. Zu den Formen der Modifikation gehört auch die Remotivierung. Wenn man nun den Phraseologismus ‚echt komisch‘ remotiviert, dann ist man beim Thema dieses Sammelbandes: ‚echt‘ steht dann für den Realismus und ‚komisch‘ eben für die Komik. Der Mehrwert des Phraseologismus und seine Thesentauglichkeit besteht nun in der auf seiner Struktur gegründeten Behauptung, dass in Rutschkys Essay Reise durch das Ungeschick Komik und Realis22 STUTE, 1997, o. J.
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mus auf einer kolloquialen, zur Hochliteratur querstehenden und sie tendenziell durchstreichenden Ebene ineinander verschränkt sind. Verkürzt gesagt: der Titel dieses Beitrags wird dadurch zur These, dass man ihn gleichermaßen phraseologisch und motiviert verstehen kann, dass es sich bei ihm um eine Kippfigur handelt. Sie verbindet das Populäre mit der Reflexion.23 Wie kann diese These belegt werden? Indem man sie zuerst in eine Frage transformiert. Sie lautet in diesem Fall: Inwiefern tragen Komik und Realismus in Rutschkys Essay Reise durch das Ungeschick zur Inszenierung der Kippfigur populärer Reflexivität bei? Diese Frage soll gattungspoetologisch im Rekurs auf die Essayforschung beantwortet werden. Die aktuelle Essayforschung bietet drei Analysekategorien an, die vor allem von Georg Stanitzek präzisiert bzw. neu entwickelt worden sind:24 Demnach gilt es in der Analyse erstens das für den Essay poetologisch zentrale Verfahren der Digression, zweitens die Erweiterung oder Überlagerung der für den Essay typischen empirischen Sprecherposition durch fiktionale Momente und drittens auch den Publikationskontext zu beachten. In allen drei Fällen wird nach dem Beitrag von Komik und Realismus zu der jeweiligen Analysekategorie gefragt. Daraus ergeben sich drei Unterkapitel, auf die am Ende ein resümierender und perspektivierender Schlussteil folgen wird.
2. Anal yse 2.1 Digressionen Wie sind nun die Digressionen in Rutschkys Essay ausgestaltet und in welchem Verhältnis stehen sie zu Komik und Realismus bzw. zum Ungeschick? Genauer ist unter dieser Voraussetzung erstens nach der Organisation der transitio, der essaytypischen Übergänge, und des reditus ad rem, der jeweils erfolgenden oder eben nicht erfolgenden Rückkehr zur Sache, zu fragen. Zweitens ist auf Schachtelungen in digressiven Partien, also auf Digressionen innerhalb von Digressionen, zu achten.25 23 Meine Argumentation versucht hier zu praktizieren, was Walter Benjamin im Anschluss an Bertolt Brecht als ‚plumpes Denken‘ bezeichnet hat; vgl. ARENDT, 1971, S. 23f. 24 STANITZEK, 2007, S. 164-166. 25 Vgl. EBD., S. 164.
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Fragt man zuerst nach dem Umgang mit der Digression, dann verdient bereits der Titel von Rutschkys Essay Aufmerksamkeit. Der Begriff der ‚Reise‘, der angesichts seiner Kombination mit dem Ungeschick offenkundig metaphorisch verwendet wird, steht dem des ‚Spaziergangs‘ nahe – und damit der seit Montaigne topischen Metapher für die Poetik des Essays. Ebenso wie der Spaziergang ruft auch die Reise Szenarien des Verlassens eines Ortes, der Bewegung durch wechselnde Prospekte und der Rückkehr auf. In Rutschkys Essay wird nach Auskunft des Titels das Ungeschick durchreist und der erste Abschnitt des Textes verdeutlicht, dass als Schauplatz des Ungeschicks die Bundesrepublik Deutschland nach der Wahl Helmut Kohls zum Bundeskanzler im Herbst 1982 verstanden wird. Die damit eröffneten Möglichkeiten zur Abschweifung in alle nur denkbaren Richtungen werden nun allerdings in Rutschkys Essay – zumindest auf den ersten Blick – gerade nicht ergriffen, sondern in charakteristischer Weise eingehegt und diszipliniert. Das geschieht durch eine Unterwerfung unter die Form des akademischen Vortrags, im weitesten Sinne also durch die Anlehnung an den autoritativen Typus des Essays in der Tradition Bacons und den Redemodus der Wissenschaft. Die Reise durch das Ungeschick ist in klassischer Form aus einer Einleitung, einem dreiteiligen Hauptteil und einem Schluss aufgebaut. Sie verfügt über eine These, klärt die zentralen Begriffe, führt Belege an, die fachmännisch analysiert werden, bündelt und reflektiert die Ergebnisse und formuliert am Ende „Weitere Aufgaben der Forschung“26. Ein Sachtext also? Ja und nein. Als Sachtext wäre der Essay zwar realistisch, nicht aber komisch. Komik kommt ins Spiel, wenn man sich das textuelle Element ansieht, mit dem Rutschky die Teile seines Essays organisiert und aufeinander bezieht. Nachdem der einleitende Teil das Ungeschick als Figur eines sekundären Konservatismus definiert hat, soll der Hauptteil die prägende Leistung des sekundären, die eigene Kompetenz auf ungeschickte Weise nur behauptenden Konservatismus in den sozialen Teilsystemen der Wirtschaft, der Bildung und der Politik der achtziger Jahre nachweisen. Angekündigt wird dieses Vorhaben am Ende des einleitenden Abschnitts durch eine dreifache Epanalepse: „Jetzt wird wieder richtig regiert. Jetzt wird wieder richtig gebildet. Jetzt wird wieder richtig gearbeitet.“27 Wenn man sich in den 80er Jahren nicht beständig die Ohren zugehalten hat (wofür es gute Gründe gegeben hätte), hört man unschwer her26 RUTSCHKY, 1986, S. 777; RUTSCHKY, 1990a, S. 51. 27 RUTSCHKY, 1990a, S. 36.
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aus, woher die Sequenz „Jetzt wird wieder“ stammt. Einen Tag nach dem Wahlsieg der CDU, am 7. März 1983, trug die Bochumer Ska-Band Geier Sturzflug erstmals auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ihren durchaus albernen Neue-deutsche-Welle-Hit Bruttosozialprodukt vor, dessen Refrain folgendermaßen beginnt: „Ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt. / Wir steigern das Bruttosozialprodukt!“ Er ist schon von den Zeitgenossen verschiedentlich als CDU-Hymne apostrophiert worden und eben das macht ihn für Rutschky interessant. Was den strukturierenden Einsatz des Refrainbeginns und damit seine digressive Funktion betrifft, so greift ihn nur der erste Abschnitt des Hauptteils einleitend auf und erweitert ihn dabei sogar noch um das für den Hit typische vorangestellte „Ja“: „Ja, jetzt wird wieder richtig gearbeitet und produziert […]“.28 Im zweiten Abschnitt erscheint der Refrainbeginn nicht anfangs, sondern in einem an dieser Stelle eigentlich verfrühten, weil nach rhetorischer Konvention in den Schluss gehörenden (Zwischen)Resümee,29 während er im dritten Abschnitt des Hauptteils ganz fehlt. Dafür taucht er aber im Schlussteil wieder auf, obwohl der Vortrag zu diesem Zeitpunkt sein Programm eigentlich bereits abgearbeitet haben sollte. Nun wird er überdies in Form eines strengen Parallelismus verwendet: Der erste Abschnitt beginnt mit den Worten „Peter Sloterdijk. Jetzt wird wieder richtig philosophiert.“ Der zweite hebt an mit „Botho Strauß. Jetzt wird wieder richtig gedichtet.“30 Die Ungeschicklichkeit erstreckt sich also über die im Hauptteil analysierten Teilsysteme hinaus noch auf (beliebig viele?) weitere Gegenstandsbereiche wie die Philosophie und die Literatur. Damit aber ist die strenge Gliederung durch Digressionen gesprengt und es entsteht ein für die Komik typischer Kontrast zwischen der autoritativen, zur Statik und Statuarik tendierenden Poetik des akademischen Vortrags und der bereits im Titel angekündigten digressiven, latent anarchischen Poetik des Essays. Die digressive Poetik des Essays setzt sich durch, nimmt den vortragsstrukturierenden Refrainbeginn in ihren Dienst und erweist dadurch die Vortragsform als kalkuliert eingesetzte Fiktion. Das gelingt über den Einsatz eines ebenso realistischen wie signifikant albernen Fundstücks aus der Populärkultur der 80er Jahre. Wie sieht es aber nun mit der essaytypischen Schachtelung von Digressionen in Rutschkys Essay und ihrem Verhältnis zu Komik und Realismus aus? 28 EBD. 29 EBD., S. 45. 30 EBD., S. 51.
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Die Analyse kann sich hier auf ein einziges Beispiel beschränken. Es stammt aus dem ersten Abschnitt des Hauptteils und beschäftigt sich mit dem Kleinproduzenten Helmut Wunschel, der seinen Reklamesendungen Mitte der 80er Jahre regelmäßig auch politische Meinungsäußerungen beilegte: Das Ungeschick manifestiert sich als Fehler in der Ökonomie: Statt seine Reklame so zu inszenieren, daß auch für mich das Seelachsfilet und die Flauschpullis, nun, vielleicht nicht geradezu unwiderstehlich werden, aber doch meine Phantasie beschäftigen – so esse ich niemals Hamburger, weil ich wohl den Verdacht hege, sie seien aus Seelachs und Polyacryl gefertigt, aber ich habe mich schon öfter dabei erwischt, wie ich die McDonald’s-Reklame mit langen Blicken betrachte –, statt also wirklich zu zeigen, wie man es macht, muß sich Helmut Wunschel ausgerechnet mit mir anlegen, mit den klugen Leuten, der Unglücksrabe lärmt so ausgiebig, daß ich seine Dummheiten einfach nicht ignorieren kann …31
Auf einen simplen Hauptsatz, der eine These enthält, folgt als Beleg eine komplexe hypotaktische Infinitivkonstruktion, die aus einer Interruptio und einer resümierenden Wiederaufnahme zusammengesetzt ist. Am Ende steht eine vergleichsweise einfache, aus Gründen der Komisierung nicht durch einen Punkt, sondern nur durch ein Komma abgetrennte Haupt-/Nebensatzkonstruktion, die in eine Aposiopese ausläuft und auf diese Weise den Leser zum Anschluss weiterer Überlegungen auffordert.32 Als digressive Schachtelung kann vor allem der durch Gedankenstriche markierte „so … aber“-Einschub verstanden werden. In ihm meldet sich der Sprecher zu Wort und gesteht eine Regel ein, die sein Essverhalten betrifft; zugleich gibt er zu erkennen, unter welchen Voraussetzungen er diese Regel allenfalls zu brechen bereit wäre. Vor allem in diesem anekdotischen Einschub kommen sowohl Komik als auch Realismus zum Einsatz. Insbesondere der Markenname McDonald’s, aber auch die Konkreta Seelachs und Polyacryl erzeugen in Verbindung mit der Bekenntnishaltung des Sprechers starke Realismuseffekte und komisch ist die Vorstellung, ein Nahrungsmittel wie der Hamburger sei aus Fisch und Kunststoff zusammengesetzt. Es ließen sich weitere Belege anführen, in denen Ko31 EBD., S. 37. 32 Vgl. auch die durch einen Gedankenstrich abgesetzte Aufforderung an die Neokonservativen unter den Lesern im Schlussteil des Essays: „Aber Sie können sich Ihre Kollektion von Musterstücken des postmodernen Ungeschicks ja ohne Mühe selber zusammenstellen […]“; RUTSCHKY, 1990a, S. 52.
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mik und Realismus ebenfalls bevorzugt im Inneren digressiver Schachtelungen auftreten. Daraus ergibt sich der Befund, dass Komik und Realismus sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene des Essays eingesetzt werden. Auf der Makroebene haben sie mit der Durchkreuzung der Vortragsform und des mit ihr verbundenen Theorieanspruchs durch den Rückgriff auf das digressive Moment der Reise zu tun (Montaigne gegen Bacon), während sie auf der Mikroebene bevorzugt im Inneren digressiver Schachtelungen auftauchen und dem Text damit eine politisch subversive Intention einschreiben. Versucht man beide Befunde zu verknüpfen, dann steht in Rutschkys Essay dem elaborierten Theoriedesign und dem akademischen Vortrag ein durch populäre Elemente verstärkter Sog hin zu Realismus und Komik gegenüber. Tendenziell entkernt dieser Sog zugunsten der politischen Wirkung die Reflexion.33 2.2 Sprecherpositionen Üblicherweise redet in einem Essay ein empirischer Autor in der Ich-Form, es kommen aber auch fiktionale Sprecherpositionen vor. Sieht man sich Rutschkys Reise durch das Ungeschick daraufhin an, dann zeigt sich ein erstaunlich breites Spektrum. Der Text beginnt mit theoretischen Setzungen, in denen die 1. Person Singular vermieden und ein ‚man‘ in Anspruch genommen wird. So heißt es etwa am Anfang des zweiten Absatzes über jemanden, der Selbstverständlichkeiten in Frage stellt: „Soll man sagen, er sei ungeschickt?“34 In diesem ‚man‘ kommt, wie man mit Stanitzek vermuten kann, „eine essayspezifische Fiktion ins Spiel“.35 Auch die weiteren Abschnitte (mit Ausnahme des zweiten) setzen dieses ‚man‘ ein. Im vierten Absatz der Einleitung wird dann die Kunstfigur eines Referenten eingeführt: „Der Referent teilt hier seine neuesten Forschungen über das Ungeschick mit.“36 Eine Fußnote zu dieser Stelle verweist auf weitere Arbeiten des namentlich genannten Autors Michael Rutschky zum Ungeschick der achtziger Jahre. Die autofiktionale Kunstfigur des Referenten taucht zwar nur in diesem Absatz explizit auf, ihr muss aber das Format des akademischen 33 Das ist nach Brecht und Benjamin auch die Wirkungsintention des plumpen Denkens. 34 RUTSCHKY, 1990a, S. 34. 35 STANITZEK, 2007, S. 164. 36 RUTSCHKY, 1990a, S. 35.
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Vortrags zugerechnet werden, das den Essay erkennbar überformt und das auch in dem Anspruch zum Ausdruck kommt, es würden Forschungsergebnisse mitgeteilt.37 Die Figur des Referenten verantwortet nicht zuletzt den didaktisch-autoritären, auf die eigene Expertise gegründeten Gestus, der vor allem im dritten, auf das politische Ungeschick bezogenen Abschnitt zum Einsatz kommt. Dort wird zuerst an eine fachgerechte semantische Klarstellung und dann an die Interpretation eines peinlichen Auftritts Helmut Kohls die kolloquiale Vergewisserungsformel „Alles klar?“38 angehängt, um kurz darauf in einen weiteren pointierenden Abstraktionsschritt den rüden Befehl „merken Sie sich das“ einzuschieben.39 Das ‚Sie‘, das im Befehl „merken Sie sich das“ adressiert wird, ist in Rutschkys Text recht scharf konturiert. Es ist zwar selbst keine Sprecherposition, begründet aber eine solche. Das Anredepronomen taucht zuerst in der Einleitung des Essays auf und bezeichnet dort die Vertreter eines sekundären, lediglich auf postulierte und nicht auf echte Selbstverständlichkeiten gegründeten Konservatismus.40 Sie sind es, die der Essay als Verursacher und Träger des Ungeschicks identifiziert. Das ‚Sie‘ bezeichnet insofern den Gegner, den der Essay treffen und politisch vernichten will. Letztlich handelt es sich bei diesem Gegner um den Bundeskanzler Kohl, seine Regierung und deren Anhänger. Ihnen gegenüber konstatiert der Referent im Schlusssatz des Essays, erneut die Refrainformel aufnehmend: „Daß aber Sie mit der Parole, jetzt wieder richtig was auch immer, nicht weiterkommen, das dürfte doch auf jeden Fall klar sein!“41 Der neokonservative Gegner konstituiert nun gewissermaßen erst die ihm entgegengesetzte Sprecherposition des empirischen Autors, der sowohl in der ‚ich‘-, als auch in der ‚wir‘-Form redet und beide Redeweisen strategisch konsistent verschränkt. Die erste Person Singular findet sich erstmals innerhalb der bereits zitierten digressiven Schachtelung, die als Beispiel für Realismus und Komik analysiert worden ist.42 Am Ende dieser Passage rechnet sich der empi-
37 Der Autor in der Rolle des Referenten findet sich auch bei RUTSCHKY, 1990b, S. 212ff. 38 RUTSCHKY, 1990a, S. 48; vgl. EBD., S. 49. 39 EBD.: „Wie dies und jenes ultrapraktisch sei, das bedeutet halt unmißverständlich, merken Sie sich das, daß es überflüssig ist.“ 40 Vgl. EBD., S. 35. 41 EBD., S. 53. 42 EBD., S. 37.
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rische Autor den „klugen Leuten“43 und damit der Gruppe der Intellektuellen zu. Im dritten Abschnitt wird diese Selbstzurechnung ausdrücklich wiederholt.44 Damit entwirft der Essay eine Frontlinie. Der empirische Autor steht zusammen mit den ihm gleichgestellten Intellektuellen der neokonservativen Kohl-Regierung und ihren Anhängern gegenüber, die er offen bekämpft. Die Redefiguren des essayistischen ‚man‘ und des autoritären Referenten, aber auch Komik und Realismus dienen in diesem Kampf als strategische Waffen. Das erklärt sowohl die akademische Überformung als auch die stark ausgeprägte aggressive Stilschicht des Textes: Die eigene intellektuelle Überlegenheit wird öffentlich inszeniert und für den politischen Kampf gegen den Neokonservatismus rhetorisch armiert. 2.3 Publikationskontext Der dritte und letzte Analyseschritt betrifft den Publikationskontext der Reise durch das Ungeschick. Erstmals gedruckt wurde der Essay wie gesagt im Herbst 1986 in einer Doppelnummer des Merkur. Die Zeitschrift für europäisches Denken, wie sie im Untertitel heißt, kann ohne Übertreibung als bedeutendste deutschsprachige Kulturzeitschrift nach 1945 apostrophiert werden. Rutschky hatte von 1979 bis 1980 selbst der damals von Hans Schwab-Felisch geleiteten Redaktion des Merkur angehört und war von dort aus in die Redaktion der neu gegründeten, unter anderem von Hans Magnus Enzensberger initiierten Monatszeitschrift TransAtlantik gewechselt. Nach diesem Wechsel sowie nach seiner Übernahme der Redaktion des Alltag hat er weiterhin Essays für den Merkur geschrieben. Als 1986 die Reise durch das Ungeschick erschien, leitete Karl Heinz Bohrer die Redaktion. Das Thema „Ästhetik und Politik“ trägt seine Handschrift. Von großem Interesse ist nun, dass dieses Thema – und zwar nur auf dem Umschlag des Doppelheftes – nicht nur in die beiden Unterthemen „Ästhetik des Staates“ und „Ästhetik der Kunst“, sondern auch in ein drittes, Staat und Kunst im Politischen zusammenführendes mit dem Titel „Physiognomie des Politischen“ aufgegliedert worden ist. Rutschkys Essay eröffnet das dritte Unterthema, das auf die Konjunktur der Physiognomik in der Klassischen Moderne (Ernst Jünger, Georg Simmel, Walter Benja-
43 EBD. 44 EBD., S. 47.
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min, Siegfried Kracauer)45 zurück- und auf aktuelle kulturpoetische und kulturpolitische Debatten vorausweist. Insgesamt fügt sich die Reise durch das Ungeschick dem allgemeinen Kontext des Merkur und dem speziellen der Zwischenrubrik bruchlos ein. Zu beidem passt die Form des theoriegeleiteten akademischen Vortrags, es passen dazu auch der kulturgeschichtliche Realismus und die Kunstfigur des Referenten und nicht zuletzt passen dazu das Selbstverständnis des empirischen Autors als Intellektueller und sein Schulterschluss mit den übrigen Intellektuellen. Weniger zum Merkur passt allenfalls die Komik. Ähnliches gilt auch für die Verlagsbeziehungen, in denen sich Rutschky zur Publikationszeit der Reise durch das Ungeschick bewegte. Damals war er nach seinen Anfängen bei Kiepenheuer & Witsch Autor des Suhrkamp Verlags geworden, der 1984 innerhalb der Reihe suhrkamp taschenbuch mit der Essaysammlung Zur Ethnographie des Inlands ein erstes Buch von ihm herausbrachte. 1986 folgte in der gleichen Reihe das experimentelle Fotobuch Auf Reisen. Ein Fotoalbum. Intellektualität, Theorienähe und Realismus passen zur Suhrkampkultur, Komik eher nicht. Das ändert sich mit dem Wechsel des Autors zum Zürcher Haffmans Verlag. Haffmans verfolgte seit der Verlagsgründung im Jahr 1982 das Ziel, insbesondere der ernsten und verkopften Suhrkamp-Kultur eine höhere Heiterkeit gegenüberzustellen. Das erste Buch, das der Verlag herausbrachte, war Robert Gernhardts Roman Ich Ich Ich. Es folgten weitere Vertreter der Neuen Frankfurter Schule, wie etwa F. W. Bernstein und Eckhard Henscheid. Michael Rutschky hat die Entwicklung des Verlags aufmerksam beobachtet. In der 1984 erschienenen Sammlung Zur Ethnographie des Inlands hat er auf Gernhardts Ich Ich Ich und den neuen Verlag hingewiesen46 und in der Reise durch das Ungeschick erwähnt er Eckhard Henscheids 1985 bei Haffmans erschienene satirische Biographie Helmut Kohl. Eine Jugend.47 1987 wechselte Rutschky selbst zu Haffmans. Er brachte dort den Band Was man zum Leben wissen muß. Ein Vademecum von A bis Z heraus, dessen Einträge von Zeichnungen F. W. Bernsteins illustriert werden. 1990 folgte dann bei Haffmans der hier thematische Band Reise durch das Ungeschick. Und andere Meisterstücke.
45 Vgl. CHRISTIANS, 2000. 46 RUTSCHKY, 1984b, S. 162. 47 RUTSCHKY, 1990a, S. 48. In der Zeitschriftenfassung wird Henscheids Buch sogar in einer Fußnote bibliographisch vollständig zitiert; RUTSCHKY, 1986, S. 776.
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Der Schutzumschlag des Bandes (Abb. 2) weist eine surreale Zeichnung des Jazzgitarristen und Illustrators Volker Kriegel auf.48
Abb. 2: Cover „Reise durch das Ungeschick“ (Haffmans Verlag 1990)
Die Zeichnung zeigt vor einer mit Antennen übersäten, möglicherweise an Frankfurt orientierten Skyline eine Art Wüste, in der sich (unterschiedlich weit links oder rechts angeordnet) lediglich ein Koffer, ein aufgeschlagenes Notizheft, ein Hut, zwei rote Kugeln und eine blaue sowie ein Bleistift samt Briefumschlag und Briefpapier befinden – alle Gegenstände (ausgenommen Briefumschlag und Briefpapier, in eingeschränkter Weise der Bleistift) sind mit übertrieben langen, nach rechts verlaufenden Schlagschatten versehen, die von 48 Kriegel hatte ebenso wie Rutschky zu Beginn der 60er Jahre in Frankfurt studiert und in den 90er Jahren wiederholt als Zeichner für Haffmans gearbeitet.
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einer schräg von links einfallenden Lichtquelle erzeugt werden. Man ist versucht, links und rechts hier politisch zu verstehen und die Zeichnung insofern als Allegorie aufzufassen. Die auf Empfang gestellten Banken in der Skyline könnten dann als Verursacher der Wüste des Ungeschicks, Koffer und Hut als Attribute des Reisenden gedeutet werden. Hier kommt es vor allem darauf an, dass allein schon der gegenüber dem Merkur veränderte Publikationskontext den komischen Anteil des Essays Reise durch das Ungeschick steigert und den theoretischen Anspruch abschwächt. Auch die Figur des autoritären Referenten, die damit verbundene Form des akademischen Vortrags sowie die Frontenbildung zwischen Intellektuellen und Neokonservativen verlieren dadurch an Gewicht. Zugleich wird angesichts des Verlagsorts Zürich und des Erscheinungsdatums 1990 die Innenperspektive auf die Realität der Bundesrepublik in den 1980er Jahren durch eine Außenperspektive ersetzt und der Sog zur Komik verstärkt. Pointiert lässt sich festhalten, dass anders als im Merkur erst im Publikationskontext des Haffmans Verlags der Essay ‚echt komisch‘ wirkt.
3. Schluss Der Beitrag hat den Versuch unternommen, Rutschkys zuerst 1986 und dann erneut 1990 in unterschiedlichen Werkmedien publizierten Essay Reise durch das Ungeschick unter gattungspoetologischen Aspekten als Kippfigur zu lesen. Er ist insofern echt komisch, als er einen allgemein gehaltenen und unverbindlichen Anspruch auf Aufmerksamkeit, der ihn mit anderen Produkten der Populärkultur gleichstellt, mit einem hohen, Komik und Realismus geschickt integrierenden theoretischen Anspruch verbindet. Beide Ansprüche konvergieren in der politischen, gegen den Neokonservatismus der 80er Jahre gerichteten Intention des Essays. Es konnte gezeigt werden, dass Komik und Realismus die digressive Strukturierung von Rutschkys Essay auf der Makro-, aber auch auf der Mikroebene verstärken, wodurch die Form des akademischen Vortrags durchkreuzt wird. In gattungsgeschichtlicher Perspektive wird in diesem Essay Montaigne tendenziell gegen Bacon gewendet. An der Besetzung der Sprecherpositionen, zu denen auch Fiktionalisierungen wie die Figur des Referenten gehören, wurde die politische Frontenbildung nachgewiesen, die Rutschkys Essay betreibt. Schließlich wurde plausibel gemacht, dass die Neupublikation des Essays im Zürcher Haffmans Verlag seine komischen Seiten verstärkt, den
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theoretischen Anspruch sowie den Realismus abgeschwächt und die politische Intention depotenziert hat. Was das Verhältnis von Komik und Realismus betrifft, so ergibt sich daraus, dass sie gemeinsam dem theoretisch-reflexiven Anspruch des Essays entgegenstehen und seine populäre Dimension verstärken. Zur Konstitution der populär-reflexiven Kippfigur tragen beide in entscheidender Weise bei. Der neue Publikationskontext (i. e. der Zürcher Haffmans Verlag) trennt aber auch Komik und Realismus voneinander, insofern wie gesagt das Verlagsprogramm die Komik des Essays verstärkt und Verlagsort sowie Erscheinungsjahr seinen Realismus abschwächen. Kehrt man von den Ergebnissen wieder zum Ausgangspunkt zurück und fragt nach dem Verhältnis dieses der Intention nach wissenschaftlichen Beitrags zu Rutschkys als Vortrag organisiertem Essay, dann besteht der zentrale Unterschied in den Funktionen. Ein wissenschaftlicher Beitrag wie dieser zielt auf Evidenz und Prägnanz der Einsichten, während es der Reise durch das Ungeschick primär um eine politische, durch mediale Kontexte signifikant verstärkte oder geschwächte Wirkung geht.
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Das Lachen im Anblick des Despoten Stilformen des Komischen im Stalinismus und ihre Traditionen RAINER GOLDT „Weh euch, die ihr jetzt lacht
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In seinen Memoiren Fernes und ahes erinnert sich der russische Maler Il’ja Repin 1908 der Heiligenlegenden, die seine Mutter ihm und seiner Schwester, gelegentlich auch Nachbarn und den im Russland des 19. Jahrhunderts allgegenwärtigen Pilgern und Vagabunden vorzulesen pflegte, wobei sie auch schon einmal schwer verständliche Passagen des kirchenslavischen Originals erläuterte. Eines Tages kommt die Geschichte des heiligen Nifont an die Reihe: „Das war sehr komisch, wie die Teufel ihn zum Lachen bringen wollten und auf Schweinen vor ihm umherritten – so komisch! Doch der heilige Nifont lachte nicht.“1 Nifont ist in der orthodoxen Kirche dafür berühmt, besonders häufig von Teufeln heimgesucht worden zu sein. Darüber hinaus spielt diese Episode aus den sog. Großen Lesemenäen, einer in Russland bis 1917 in verschiedenen Redaktionen als Hausbuch populären Legendensammlung des 16. Jahrhunderts, auf die im Lukas-Evangelium überlieferte Episode an, in der Dämonen in eine Schweineherde fahren. 1
REPIN, 1970, S. 34. Das ahnen in Repins Kindheitserinnerung instinktiv auch die zufällig anwesende Pilgerin Anjuta und die Nachbarin Chimuschka, denn sie „weinten auch dabei die ganze Zeit“ (EBD.). Im russischen Original verwendet Repin für „heilig“ das korrekte Epitheton „prepodobnyj“, das in der orthodoxen Kirche ausschließlich Heiligen aus dem Mönchsklerus, dem Nifont angehörte, vorbehalten ist.
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Rainer Goldt
Mit dieser Begebenheit hat es in der russischen Literaturgeschichte eine besondere Bewandtnis. Dostoevskij wählt sie nämlich als Motto für den düstersten seiner Romane, die 1871/72 entstandenen Dämonen (zuletzt auch Böse Geister): Nun weidete dort an einem Berg gerade eine große Schweineherde. Die Dämonen baten Jesus, ihnen zu erlauben, in die Schweine hineinzufahren. Er erlaubte es ihnen. Da verließen die Dämonen den Menschen und fuhren in die Schweine, und die Herde stürzte sich den Abhang hinab in den See und ertrank. (Lk 8, 3233)
Die Dämonen sind vielleicht dasjenige Werk Dostoevskijs, in dem am meisten gelacht wird, aber es ist das nihilistisch gellende Hohngelächter des politischen Terroristen Stepan Verchovenskij. Schaudern und Gelächter gehören aber auch schon für den kleinen Ilʼja Repin instinktiv zusammen, wenn er an anderer Stelle über das Lied eines betrunkenen Hünen berichtet: „Es war schrecklich und komisch zugleich. Wir kletterten rasch auf den Ofen und schütteten uns aus vor Lachen und vor Grausen.“2 Lachen vor Grausen? Repin erfasst hier sehr genau Kompliziertheit und Komplizität des Lachens als eines „Angriffs auf das soziale Leben“3, wie es Henri Bergson formulierte. Es sind gerade die marginalen, unbeachteten Stellen der Weltliteratur, die solche Erkenntnisse widerspiegeln, den Rang eines Autors aufzeigen. Im fünften Kapitel des ersten Teils von Dostoevskijs Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne), das den Kindheitstraum Raskol’nikovs von dem zu Tode geprügelten Pferd schildert, versucht nur ein einziger alter Mann in der gaffenden und feixenden Menge den rasenden Mikolka von seiner Untat abzuhalten. Doch auch er kapituliert – und zwar nicht unter Drohungen, sondern unter dem suggestiven Eindruck kollektiven Gelächters angesichts des grotesken Todeskampfes, in den das geschundene Tier verfällt. Auch wenn er nur „lächel[t]“, so macht er sich doch zum Komplizen der Untat: Plötzlich ein dröhnendes Gelächter, das alles übertönt. Die Stute erträgt die immer dichter fallenden Hiebe nicht mehr und beginnt in ihrer Ohnmacht aus-
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EBD., S. 27. Das eigenartige Zeugma geht auf die Übersetzung zurück; im Original heißt es stilistisch unmarkiert „my zalezli na pečku i tam chochotali s užasom“. BERGSON, 1988, S. 131.
Stilformen des Komischen im Stalinismus und ihre Traditionen
zuschlagen. Sogar der alte Mann muss lächeln. Wahrhaftig: So eine jämmerliche Stute und schlägt aus!4
Was der kleine Il’ja Repin erlebt, gehört zur selbstverständlichen Sozialisierung eines Russen in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Tabu des Komischen noch in den 1860er Jahren in Malerei und bildender Kunst beleuchtet eine weitere Episode in seinen Memoiren: Ein Student der Akademie hatte die komische Gestalt eines betrunkenen Deutschen modelliert und bereits viele Aufträge erhalten. Da erscheint sein Professor zornumwölkt im Atelier und verlangt, die Figur zu sehen: „Vernichte sie! Sofort!“ sagt er drohend. Mehr tot als lebendig starrt ihn der junge Mann an. Plötzlich – in einer ekstatischen Anwandlung von Reue – nimmt er die Statuette und schmettert sie zu Boden. „Und wo sind die Formen?“ fragt der Professor […] „Man muß das Übel mit der Wurzel ausrotten …“5
Hier findet eine jahrhundertelange Tradition der Verbannung des Komischen aus dem Erhabenen ihren Niederschlag, wie sie die Kunst in der Nachfolge der Religion sanktionierte. Ihre Wurzeln reichen bis zu dem in der Ostkirche besonders verehrten Johannes Chrysosthomos zurück. Maßgeblich für die Theologen waren dabei Jesu Seligpreisungen und Weheklagen nach Lk 6:25: „Weh euch, die ihr jetzt lacht, denn ihr werdet klagen und weinen.“ Wie suspekt die paganen Traditionen der altrussischen Gaukler (skomorochi) der Staatskirche erschienen, zeigt eindrücklich die erste Episode von Andrej Tarkovskijs berühmtem Filmepos über den Ikonenmaler Andrej Rublev (ca. 1360-1428), in der einer der drei Mönche und Ikonenmaler einen Skomorochen denunziert. Er weiß sich im Einklang mit den altrussischen Rechtsdenkmälern, die teilweise bis in das zweite Drittel des 17. Jahrhundert hinein Gültigkeit besaßen wie etwa das sog. Hundertkapitelbuch (Stoglav) von 1551. Ein altrussisches Beichtbuch sieht Strafen sogar wegen harmloser Formen der Belustigung vor, die mit 300 Verbeugungen am Tag zu büßen waren.
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DOSTOJEWSKIJ, 1996, S. 80. „Unser Lachen ist immer das Lachen einer Gruppe“, schreibt Henri Bergson (BERGSON, 1988, S. 15). REPIN, 1970, S. 144.
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Wer gar „Tränen gelacht hat, soll drei Tage die Fasten einhalten, nur trockene Speisen zu sich nehmen und 25 Verbeugungen am Tage vornehmen“6. Ihren anschaulichsten Niederschlag findet die Verbannung des Lachens in der parodistischen Literatur der altrussischen Periode, die eine dichotomische Struktur aufweist: Ihr Kosmos teilt sich in die wohlorganisierte Welt der Kultur und eine irreale, unorganisierte und damit negative Sphäre der Antikultur.7 Will das Lachen geduldet werden, so nur im Sinne einer Distanzierung gegenüber dem Verwerflichen und verführerisch Falschen. Die Gruppe, die diese wenn auch misstrauisch geduldete gesellschaftliche Funktion wahrnimmt, sind die juródivye, die Narren in Christo. Sie werden wie Basilius der Selige (14681552) als der berühmteste unter ihnen zumeist weitgehend nackt dargestellt, ist doch „das altrussische Lachen ein ‚entkleidendes‘ Lachen, das die Wahrheit bloßlegt, das Lachen des Nackten, für den nichts Wert besitzt“.8 In seinen 1675 abgeschlossenen Erinnerungen berichtet der Erzpriester Avvakum, der wenige Jahre später als Führer der Altgläubigen auf dem Scheiterhaufen sterben sollte, wie er dereinst in einem Dorf wandernde Skomorochen antraf: Ich sündiger Mensch ward ergriffen vom Eifer für Christum: Ich vertrieb sie, zerschlug ihnen die Masken, zerschmetterte die Schellentrommeln und nahm ihnen zwei große Bären weg – den einen schlug ich nieder, aber er erholte sich wieder, den andern ließ ich laufen.9
Zwei Jahre zuvor, 1673, hatte Molière bei der Aufführung seiner Komödie Der eingebildete Kranke einen Blutsturz erlitten und war wenige Stunden später noch in seinem Kostüm gestorben. Hätte Avvakum davon auch nur geahnt, er hätte unweigerlich von einem Fingerzeig Gottes gesprochen. An ein weltliches Theater, geschweige denn Komödien, war zu Zeiten Molières in Russland kein Gedanke zu verschwenden, zu manifest war der Widerstand der orthodoxen Kirche. Allerdings wusste sich der gegen Ende seines Lebens immer tolerantere Zar Aleksej I. Michajlovič, Vater Peters des Großen, zu helfen: Ein Jahr vor Molières tödlich endendem Bühnenauftritt engagierte er den deutschen protestantischen Pfarrer Gregory, um wenigstens eine ge6 7 8 9
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Zit. nach PANČENKO, 2000, S. 87, Anm. 1. Übersetzung ins Deutsche von mir, R. G. Vgl. LICHAČEV/PANČENKO, 1971, S. 13. EBD., S. 17. AVVAKUM, 1965, S. 18.
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schlossene Vorstellung bei Hofe zu organisieren. Gregory wählte vorsichtshalber einen biblischen Stoff (Esther und Artaxerxes) und inszenierte am 21. September 1672 eine schon durch die schiere Länge von beinahe zehn Stunden wenig amüsante Aufführung, zugleich Geburtsstunde des russischen Theaters. Diese verzögerte Entwicklung ist eingebettet in die Gesamtgeschichte der säkularen Kunst in Russland von der späten Entwicklung einer weltlichen Porträtmalerei bis hin zu Literatur und Oper. Erst das 18. Jahrhundert bedeutet für Russland mit der Ausrichtung seiner Eliten auf Europa die Einleitung eines Paradigmenwechsels, ehe auch dort durch den konservativen Zweig der Romantik eine Art orthodoxes Renouveau catholique einsetzt. Während nun der 1844 geborene Repin in der tristen Garnisonsstadt Tschugujew am Donez andächtig seiner frommen Mutter lauscht und den Entschluss fasst, ein Heiliger zu werden, erscheinen 1847 Nikolaj Gogol’s Ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden, sein letztes Werk vor der Pilgerreise nach Palästina, seinem selbstzerstörerischen Fasten, dem Verbrennen des 2. Teils der Toten Seelen und dem wenige Tage später eingetretenen Tod. In seiner für die meisten Zeitgenossen schockierenden Wendung zu einem konservativen orthodoxen Christentum distanziert sich der Autor unvergänglicher Satiren und Komödien geradezu verzweifelt von seinem gesamten früheren Werk. Das Lachen besitzt nun lediglich eine einzige Existenzberechtigung, nämlich als moralische Therapie: „Ich habe mich schon von vielen meiner bösen Seiten getrennt, indem ich meine Helden mit ihnen ausgestattet habe, sie in ihnen lächerlich machte und andere dazu brachte, sie gleichfalls zu verspotten.“10 Gogol’s kleines Stück Aufbruch aus dem Theater. ach der Aufführung einer neuen Komödie war nach der äußerlich gelungenen Uraufführung des Revisors, der sogar ein durchaus zufriedener Zar Nikolaj I. beigewohnt hatte, ein Lehrstück über die Zweifel eines komischen Autors, dem die Deutungshoheit über sein Werk abhandengekommen ist. So räsoniert der „Autor des Stückes“, laut Gogol’s eigener Anmerkung eine „ideale Persönlichkeit“, in der „die Lage des Komödiendichters innerhalb der Gesellschaft“ dargestellt wird: Alle anderen Werke und Kunstgattungen unterstehen dem Urteil der wenigen, einzig der Komödiendichter unterliegt dem Urteile aller; jeder Zuschauer besitzt bereits Recht über ihn, jeder Mensch beliebigen Standes kann sich zum Richter über ihn aufwerfen.11 10 GOGOL, 1981, S. 234. 11 GOGOL, 1985, S. 374f.
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Was zu Gogol’s Zeit lediglich eine Verletzung des souveränen dichterischen Selbstverständnisses war, sollte im 20. Jahrhundert zur Bedrohung für Leib und Leben des Schriftstellers werden.
Vom Verlust der Deutungshoheit: Kornej Čukovskijs Poeme für Kinder Wie äußert sich nun die Abhängigkeit des stilistischen Textprofils von texttranszendenten Rezeptionsbedingungen? Diese bieten Anschauungsmaterial über Bedingtheit, Subjektivität und Manipulierbarkeit literarischer Rezeption, in der „in der Beschäftigung mit Stil etwas ganz anderes verhandelt und entschieden werden soll als allein Modi des ästhetischen Gelingens von Aussageweisen, nämlich weltanschauliche bzw. moralische Implikationen der Mitteilung.“12 Dabei sind parodistische und satirische Texte in ideologisch geschlossenen Gesellschaften im Sinne Poppers besonders gut geeignet, Funktionsweise und Wirkungsmacht außerästhetischer Zuschreibungen zu demonstrieren. Ein berühmtes Beispiel ist Lev Tolstojs parodistisch verfremdete Beschreibung eines Gottesdienstes in seinem letzten Roman Auferstehung (18891899), die die orthodoxe Kirche unversöhnlicher gegen ihn aufbrachte als seine religionsphilosophischen Schriften: Zwei Jahre nach Erscheinen des Romans führte sie wesentlich zu seiner Exkommunikation. Steht dieser Fall beispielhaft für eine intendierte Provokation, so existieren zugleich Rezeptionsmuster, die sich vollkommen unabhängig von der Autorintention entfalten und ihre Schöpfer mitunter sogar in Lebensgefahr bringen können. Solche Zuschreibungen geben zugleich Aufschluss über Rezeptionserwartungen in bestimmten historischen Situationen, über die es ansonsten keine Zeugnisse gäbe. Der als Kinderbuchautor und Übersetzer vor allem aus dem Englischen (etwa Whitman) gleichermaßen berühmte Kornej Čukovskij wurde gleich zweimal Opfer einer parodistischen Zuschreibung im Sinne Waldschmidts. Allein auf Grund der Publikationsdaten musste sie zwar falsch sein, doch dies tat der Vereinnahmung der Texte für eine Neuinterpretation keinerlei Abbruch. Im Jahre 1921 verfasst Čukovskij ein kleines Poem für Kinder, den Riesenkakerlak (Tarakanišče), in dem der „Schnauzbärtige“ (usatyj), wie die Kaker12 WALDSCHMIDT, 2011, S. 89. – Zu den Ebenen narrativer Texte, die als potentielle Träger komischer Stilisierung gelten können, vgl. GOLDT, 1997, S. 309-316; dort weitere Literatur.
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lake bald genannt wird, eine nur auf Angst beruhende Herrschaft über das gesamte Tierreich errichtet, bis ein Känguru herbeigehüpft kommt, den Despoten verlacht und damit einen kleinen Spatz ermutigt, den Unhold einfach zu vertilgen. Doch schon wenige Jahre später mussten in der Zeit des Personenkults Zeilen wie die folgenden für erwachsene Leser geschrieben erscheinen: […] Едут и смеются, Пряники жуют.
[…] Sie fahren, lachend ihre Scherze [treibend Sich Honigkuchen einverleibend.
Вдруг из подворотни Страшный великан, Рыжий и усатый Та-ра-кан! Таракан, Таракан, Тараканище!
Doch plötzlich aus der Toreinfahrt Ein Riese furchterregend naht Rotbehaart, ein Schnauz als Bart Ka-ker-lak! Kakerlak, Kakerlak, Riesenkakerlak!
Он рычит, и кричит, И усами шевелит: „Погодите, не спешите, Я вас мигом проглочу! Проглочу, проглочу, не помилую“.
Er schreit herum, er brüllt und knurrt, Und durch den Bart er drohend murrt: „Wartet nur und nicht gemuckt! Im Nu habʼ ich euch sonst verschluckt Und mit der Wimper nicht gezuckt!“
Звери задрожали, В обморок упали.
Den Tieren, von Zittern überkommen Ward ganz und gar beklommen.
Волки от испуга Скушали друг друга. […]
Die Wölfe erschraken solchermaßen Dass sie sich gegenseitig fraßen. […]13
Wie sehr sich die Lesart als gegen Stalin gerichtete Satire verselbständigte, belegt eine Episode aus den Memoiren der langjährigen GULag-Gefangenen Evgenija Ginzburg. Zum Neujahrsfest 1953 erhält sie, die nun mit ihrem zweiten Mann, dem deutschen Arzt Anton Walter, als Verbannte im berüchtigten Kolyma-Gebiet lebt, von dem befreundeten Ingenieur Krivošej für ihre Adoptivtochter ein Buch mit Versmärchen Čukovskijs zum Geschenk. Sie liest auch
13 ČUKOVSKIJ, 1965, S. 174. Übersetzung ins Deutsche von mir, R. G.
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die ihr schon lange bekannten Verse über die schnauzbärtige Schabe – und entdeckt beim Vorlesen einen ganz neuen Sinn: Und plötzlich überraschte uns die Doppeldeutigkeit dieses Verses. Ich lachte. Und Anton lachte auch. Kriwoschej dagegen wurde ungewöhnlich ernst. Seine Brillengläser sprühten Funken. […] Kriwoschej lief pausenlos im Zimmer auf und ab. Er rieb die Hände aneinander und preßte sie so fest zusammen, daß die Finger weiß wurden. „Eine glänzende politische Satire. Unmöglich, daß das bisher niemand bemerkt hat! Nur fürchtet jeder auszusprechen, daß ihm dabei so etwas in den Kopf kommt … So etwas …“14
In einer plötzlichen Aufwallung von Angst verabreden Evgenija Ginzburg und ihr Mann Stillschweigen, doch es ist zu spät: Zwei Tage später wird sie als Kindergärtnerin entlassen, Krivošej hatte sie verraten. Doch dieses Ende war noch glimpflich in den Zeiten des Terrors, die sich erst im März nach dem Tod Stalins ein wenig entspannen sollten. Lag ihre Deutung einfach auf der Hand oder kannte Evgenija Ginzburg den berühmtesten Prätext für die über das gemeinsame Merkmal des Schnauzbarts realisierte Metapher Kakerlake – Stalin, nämlich Osip Mandel’štams selbstverständlich nur mündlich tradiertes Gedicht Der Bergbewohner im Kreml (Kremlevskij gorec, November 1933)? Dort heißt es unter anderem: „Seine Finger wie Maden so fett und so grau, / Seine Worte wie Zentnergewichte genau. / Lacht sein Schnauzbart dann – wie Küchenschaben, / Und sein Stiefelschaft glänzt hocherhaben.“15 Boris Pasternak sprach entsetzt von einem selbstmörderischen Akt und sollte damit Recht behalten: Die Verse wurden Stalin hinterbracht, Mandel’štam kam fünf Jahre später auf dem Transport ins Lager bei Vladivostok ums Leben. Noch größere Ängste als mit der Riesenkakerlake stand Čukovskij mit einer anderen Parabel für Kinder aus, dem Poem Krokodil, nachdem eine innenpolitische Peripetie den Rezeptionskontext grundlegend verändert hatte. Am 1. Dezember 1934 war in Leningrad der Erste Parteisekretär Sergej Kirov erschossen worden, den Stalin als möglichen Konkurrenten fürchtete. Wohl um Gerüchten über einen Auftragsmord entgegenzuwirken, wurde eine Säuberungswelle ohnegleichen gegen eine imaginäre Verschwörergruppe in Gang gesetzt, in deren unmittelbarer Folge allein in Leningrad und Umgebung fast 14 GINSBURG, 1984, S. 300f. 15 MANDELSTAM, 1991, S. 165. Ralph Dutli gibt dem ursprünglich titellosen Gedicht die Überschrift Epigramm gegen Stalin.
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40 000 Menschen deportiert und über 24 000 zu Lagerhaft oder Erschießung verurteilt wurden. Auch Čukovskijs alte, 1919 publizierte Geschichte über die Gefangenschaft und schließliche Befreiung der Tiere aus dem (damals noch) Petrograder Zoo geriet in den Sog der Ereignisse, nachdem es schon früher immer wieder einflussreiche Stimmen wie etwa Lenins Witwe Nadežda Krupskaja (in der Pravda vom 1. Februar 1928) gegeben hatte, die ein Verbot des politisch brisanten Poems gefordert hatten. In der Tat mussten Passagen wie diese nun höchst subversiv erscheinen: И встал печальный Крокодил И медленно заговорил:
Und das Krokodil stand traurig auf Ließ seinem Kummer freien Lauf:
– Узнайте, милые друзья, Потрясена душа моя, Я столько горя видел там, Что даже ты, Гиппопотам, И то завыл бы, как щенок, Когда б его увидеть мог. Там наши братья, как в аду – В Зоологическом саду.
Wisset, ihr liebe Freundesschar, Erschüttert bin ich ganz und gar, Ein Tränenstrom sich dort ergoss Dass sogar du, Rhinozeros, Wie ein Welpe würdest jaulen, flehen Könntest du das alles sehen. Unsere Brüder dulden Höllenmartern In diesem Zoo, in diesem Garten.
О, этот сад, ужасный сад! Его забыть я был бы рад. Там под бичами сторожей Немало мучится зверей,
Oh, dieser Garten, Schreckensort! Er soll aus dem Gedächtnis fort. Unter den Peitschen böser Wächter Geht es den Tieren schlecht und [schlechter, Sie stöhnen und sie weheklagen, an Ketten zerren sie und nagen Aber niemals werden sie hierher [gelangen Im Käfig bleiben sie gefangen.16
Они стенают, и зовут, И цепи тяжкие грызут, Но им не вырваться сюда Из тесных клеток никогда.
Am 28. Dezember 1934 erfährt Čukovskij vom Verbot seines Poems und sucht alle Hebel in Gang zu setzen. Einen Tag später notiert er in seinem Tagebuch:
16 ČUKOVSKIJ, 1965, S. 285f. Übersetzung ins Deutsche von mir, R. G.
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Wegen des „Krokodils“ arbeite ich schon seit zwei Tagen nicht mehr. Bin völlig um den Schlaf gekommen. Rief heute Steckij im CK an […] Möge er verflucht sein, jener Sommer in Kuokkala, als ich das „Krokodil“ schrieb. Es hat mir viel Kummer eingebracht […] All das erschien vor einem Monat noch wie ein unschuldiger Scherz, doch jetzt, nach Kirovs Tod, klingt es allegorisch.17
Die Deutungshoheit war ihm entglitten, doch Čukovskij hatte Glück: Das Schicksal, das einen Verwandten ins Lager und seinen Schwiegersohn vor ein Erschießungskommando führte, verschonte ihn, vielleicht auch deshalb, weil er es vermied, allzu auffällig für sie tätig zu werden.
Legende oder Parodie? Der Fall Michail Zoščenko Zu den Paradoxien des 1934 als verbindliche Kunstnorm eingeführten Sozialistischen Realismus gehört neben der ästhetischen Nivellierung vor allem die Verdrängung der neuen sozialen Wirklichkeit aus der Literatur. Der Gegenwartssatire, die sich wesentlich über die Differenz von Norm und Wirklichkeit definiert, war damit weitgehend der Boden unter den Füßen weggezogen. Andererseits beförderte die immer rigorosere Zensur auch eine ungeahnte Sensibilisierung der Leserschaft für das verborgene, mitunter gar nicht intendierte satirische Potenzial; das offene Kunstwerk entfaltete ausgerechnet in der geschlossenen Gesellschaft ein für die Autoren mitunter existentiell bedrohliches Eigenleben. In besonderem Maße gilt dies für die in den 1930er und 1940er Jahren entstandenen Texte Michail Zoščenkos (1894-1958): „Wie Soschtschenko rezipiert wurde, hing letztlich von den gesellschaftlichen und literarischen Wertvorstellungen des Lesers ab“18 – und seiner Zensoren, wurde doch Zoščenkos Kindererzählung Abenteuer eines Affen (Priključenija obez’jany, 1945) neben Werken Anna Achmatovas im August 1946 Gegenstand eines Erlasses des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei. Zoščenko sah sich in diesem sofort von der amtlichen Pravda veröffentlichten Dokument dem Vorwurf ausgesetzt, ein Pasquill auf die sowjetischen Menschen und ihr Leben verfasst zu haben, das in der jungen Generation „Desorientierung“ und „Vergiftung des Bewusstseins“ hervorrufe. Bezeichnend genug, dass diese Aufmerksamkeit von höchster Stelle dem kleinen Werk erst 17 ČUKOVSKIJ, 1994, S. 115. Übersetzung ins Deutsche von mir, R. G. 18 MAI, 1991, S. 74.
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nach seinem Nachdruck im Juli 1946 zuteilwurde, während die Erstpublikation noch ohne Beanstandung ihren Weg zum Leser gefunden hatte.19 Bis zu Stalins Tod tauchte Zoščenko wie so viele Autoren seiner Generation als Übersetzer unter – und überlebte. Eine besondere Stellung nimmt unter dem Aspekt dieser Rezeptionsästhetik von Satire und Parodie Zoščenkos Zyklus für Kinder Erzählungen über Lenin (Rasskazy o Lenine, 1940) ein, die insgesamt sechzehn hagiographische Texte über den Staatsgründer enthalten. Die mythische Gestalt Lenins und die Entstehungszeit sollten jeden Gedanken an eine Parodie der Gattung Legende ad absurdum führen, und doch wurden zumindest später einige Elemente der Kurzerzählungen als Persiflagen aufgefasst. Michail Kreps hat zutreffend zwei Stilmodi Zoščenkos benannt, die ambivalente Lesarten seiner auf den ersten Blick einfachen Kurzprosa evozieren: einerseits die Doppelfokussiertheit (dvufokusnost’) der satirischen Schreibweise mit ihrer gleichzeitigen komischen Relativierung von Held und Wirklichkeit, andererseits „die Unmöglichkeit, die Person des Skaz-Helden festzulegen.“20 Es ist unter dem Aspekt der Funktionsweise der Gattung Parodie lehrreich zu untersuchen, wie eine solche Lesart von Texten vorstellbar ist, die unter denkbar rigorosesten Zensurbedingungen und der beständigen Drohung physischer Vernichtung entstanden: 90 % der 1934 in den neu gegründeten Schriftstellerverband aufgenommen Autoren wurden Opfer von Verfolgungen – Gefängnis- und Lagerhaft oder Erschießung.21 Betrachten wir eine Episode aus der Erzählung Lenin und der Ofensetzer (Lenin i pečnik). Nachdem der Ofensetzer Benderin zweimal einen Unbekannten unwirsch zurechtgewiesen hat, erfährt er zu seinem Schrecken dessen Namen: Lenin höchstpersönlich. Seiner Frau gesteht er, nun das Schlimmste zu befürchten. Und tatsächlich lassen die Boten des Machthabers nicht auf sich warten. Zwei Uniformierte nehmen Benderin, wie es scheint, zu Hause fest, befehlen ihm, sich anzukleiden und mit nach Gorki, Lenins Datscha, zu kommen: Benderin „zieht sich an, seine Hände zittern. Seiner Frau sagt er: ‚Nun, 19 Die Resolution wurde in der Pravda vom 21. August 1946 publiziert und liegt inzwischen in einer wissenschaftlichen Edition vor (Postanovlenie Orgbjuro CK VKP(b) o žurnalach „Zvezda“ i „Leningrad“, vgl. ARTIZOV/JAKOVLEV (Hg.), 1999, S. 587-591). Zum Verlauf der Affäre unter Hinzuziehung von Archivmaterialien vgl. IOFE, 1996. 20 KREPS, 1986, S. 181; Übersetzung ins Deutsche von mir, R. G. 21 Vgl. KASACK, 1992, Sp. 431, unter Berufung auf die Literaturnaja gazeta vom 28.12.1988.
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leben Sie wohl, Katharina Maksimovna. Es wird uns wohl nicht beschieden sein, uns noch einmal zu sehen.‘“22 Was war geschehen, welches Verbrechen hatte sich der Ofensetzer zu Schulden kommen lassen? Er hatte sich zunächst vom Staatsgründer nicht davon abhalten lassen, Holz zur Reparatur seines Karrens aus dem Staatswald zu schlagen, und Lenin seinerseits ermahnt, sich nicht auf das Gras zu setzen, da es sonst nicht gemäht werden könne. Das Gerechtigkeitsgefühl eines Kindes wird hier auf eine harte Probe gestellt, wenn es mit den Auswirkungen einer solchen doch sehr glimpflichen Missetat konfrontiert wird. Erlernt werden soll an einem harmlosen Beispiel offenkundig die ergebene Fügung in das unanfechtbare Recht der Macht, verbunden mit der Warnung: Wer einmal verhaftet wird, kehrt nie wieder zurück, hat, um in den kindlichen Rezipienten vertrauten Märchenstrukturen zu verbleiben, die Schwelle zum Totenreich, dem Land ohne Wiederkehr, bereits überschritten. Wie aufgesetzt wirkt denn auch der versöhnliche Schluss, dass Lenin den vor Glück fassungslosen Benderin lediglich als Ofensetzer engagieren wollte. In vergleichsweise harmloser Weise unterläuft Zoščenko die Gattungsgesetze der Legende in einer Weise, die zur selben Zeit Ėjzenštejn im zweiten Teil seines historischen Epos Iwan der Schreckliche (Ivan Groznyj, 1944) mit der aus dem Buch Daniel überlieferten Legende vom Feuerofen filmisch realisiert. In Ėjzenštejns Version werden die drei Jungen, die sich weigern, den Götzen anzubeten („Warum dient ihr schamlosen Chaldäer einem gesetzlosen Zaren?“), nicht gerettet. Zu Recht erblickt Joan Neuberger in dieser Szene ein Schlüsselmoment des Films, in dem Narrativ und Bild (bei Zoščenko: Narrativ und Gattung) auseinanderklaffen: Although the narrative in this scene supports the Stalinist’s justification for Ivan’s turn to terror (to eradicate the boyars), its visuals tells a different story. With visual parody and comedy, Eisenstein transforms the liturgical play into a circus-carnival, undercutting the official narrative, dramatizing Ivan’s inner divisions, exposing the tsar’s willingness to embrace naked, brutal despotism […].23
22 ZOŠČENKO, 1960, S. 329. Übersetzung ins Deutsche von mir, R. G. 23 NEUBERGER, 2008, S. 202. Dieses Verfahren liegt der Karnevalisierung von Folter und Tod seit Avvakum zugrunde.
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Das Verlachen des Despoten, von Martyrium und Tod hat im Schatten der beiden Tschetschenien-Kriege jenseits der jüdischen und christlichen Tradition eine unerwartete Wiederbelebung in der russischen Literatur der letzten Jahrhundertwende erfahren, die eine eigene Untersuchung wert wäre. So bewirft der junge Kaukasier Rusan in Valerij Piskunovs Erzählung Die eigenen Trümpfe. Aufzeichnungen eines Söldners (Svoi kozyri. Zapiski naemnika, 1994) im Angesicht des schon auf ihn gerichteten Maschinengewehrs seinen Henker zunächst in einer karnevalesken Gegenwehr mit Schneebällen und bläst dann sein zuvor von seiner Freundin erbetteltes Kaugummi, klägliches Symbol westlicher Lebensweise, zu einem Ballon auf.24 Wenn Dmitrij Lichačev schreibt, es sei typisch für den Erzpriester Avvakum, dass „selbst die tragischsten Szenen in seiner Erzählung den Charakter einer Skomorochen-Clownerie bekommen“25, dann trifft dieser Kommentar mutatis mutandis durchaus auch auf diese makabre Szene zu. Avvakums Schriften enthalten zugleich viele Beispiele für das wahrhaft christliche Lachen, das, gegen sich selbst gerichtet, der Hybris entgegenwirkt und die Angst vor dem Martyrium mildert. Lichačev erblickt hierin gar eine nationale Besonderheit: Die Ermunterung durch Lachen im pathetischen Moment tödlicher Bedrohung war schon immer eine typisch russische Erscheinung […] Avvakum selbst gab die verschiedensten Leiden dem Lachen preis, welche im Namen des alten Glaubens ertragen werden mussten, vor allem seine eigenen. Seine persönliche Lebensbeschreibung sollte nicht erschrecken, sondern auf die Nichtigkeit der ertragenen Qualen sowie die Nichtigkeit und Nutzlosigkeit der Anstrengungen der Machthaber hinweisen, die Anhänger des wahren Glaubens zu erschrecken.26
24 PISKUNOV, 1994, S. 42. Bemerkenswert auch, dass der Chronist berichtet, Rusan habe vor seinem Tod als vermeintlicher Verräter die Sprache gewechselt und seinen kaukasischen Brüdern auf Russisch geantwortet – was genau, habe er allerdings nicht verstehen können. 25 LICHAČEV/PANČENKO, 1991, S. 71. 26 EBD., S. 68. Auch Nikolaj Gogol’ beteuert in seinen Ausgewählten Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden wiederholt, sein Lachen sei stets in erster Linie gegen sich selbst gerichtet gewesen.
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Der amüsi erte Despot An dieser Stelle tritt eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den auf den ersten Blick so verschiedenen Künstlern Ėjzenštejn und Zoščenko auf den Plan: der Diktator als Zuschauer resp. Leser. Bekanntlich bat Stalin Ėjzenštejn und den Darsteller Ivans des Schrecklichen, Nikolaj Čerkasov, zu einer Unterredung in den Kreml, deren Inhalt ausführlich dokumentiert ist und die den Despoten gut vorbereitet zeigt.27 Und obwohl Stalin als Initiator der Resolution gegen Zoščenko gelten darf, las er seinen Kindern ausgerechnet Erzählungen dieses Autors vor, den er doch für ideologisch ‚desorientierend‘ hielt. So berichtet Stalins Adoptivsohn Artem Sergeev in seinen Erinnerungen: Aus der Gegenwartsliteratur liebte er Zoščenko. Er las ihn Vasilij [Stalins Sohn aus zweiter Ehe] und mir manchmal vor. Einmal lachte er beinahe Tränen und sagte dann: „Und hier hat sich Genosse Zoščenko an die GePeU [GPU – politische Geheimpolizei] erinnert und den Schluss verändert. GePeU!“ sprach Stalin aus.28
Der Schluss der oben analysierten Erzählung von Lenin und dem Ofensetzer zeigte, dass Stalin durchaus über ästhetisches Gespür verfügte. Den Zorn Stalins rief vor allem eine Erzählung aus dem Lenin-Zyklus hervor, die der heutige Leser in keiner Weise parodistisch oder satirisch auffassen wird respektive kann: Lenin und der Wächter (Lenin i časovoj, 1940). Ein junger Wachtposten am Petrograder Smol’nyj, dem Sitz der ersten Sowjetregierung, erkennt Lenin nicht und fordert dessen Ausweis, den dieser, in staatsmännische Gedanken versunken, nicht sofort findet. Da ruft dem Wachtposten aus dem Fenster des Smol’nyj ein Mann mit Schnauzbart grob zu, es handele sich um Lenin, er solle ihn ohne Kontrolle durchlassen. Der Posten jedoch beharrt höflich auf der Ausweispflicht, entschuldigt sich danach bei Lenin und wird von diesem nicht etwa gerügt oder gar bestraft, sondern im Gegenteil ausdrücklich belobigt.
27 Vgl. STALIN, 2006, S. 433-440. 28 GUSLJAROV, 2003, S. 663. Die Aufzeichnung des Gesprächs geht auf Stalins Biographen Feliks Čuev zurück. RADZINSKIJ, 1997, S. 505 (ohne Quellenangabe) und nach ihm VAJSKOPF, 1998, S. 51, geben Stalins Tochter Svetlana Allilueva als Quelle an. In ihren Memoiren konnte ich die entsprechende Aussage jedoch nicht ausfindig machen.
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In den mir bekannten, nach Stalins Tod publizierten Fassungen, fehlt jeder Hinweis auf das verräterische Äußere des grobschlächtigen Schreihalses, der wegen seines Benehmens von Lenin gerügt wird. Wie konnte sich Stalin nun sicher sein, hier liege eine parodistische Darstellung seiner Person vor? Es ist ein scheinbar winziger, aber für eine paranoide Persönlichkeit bezeichnender Berührungspunkt mit einem Subtext, der Stalin zeitlebens verfolgte und belastete, nämlich Lenins sogenanntes Testament, eigentlich der Brief an den Parteitag, verfasst Ende 1922 und von Lenins Witwe Nadežda Krupskaja auf dem VII. Parteitag 1924 der RKP(b) bekannt gemacht. Die Unfähigkeit, mit Macht umzugehen, und – so wörtlich – „Grobheit“ hatten Lenin bekanntlich die Mahnung aussprechen lassen, Stalin am besten seines Amtes zu entheben. Diese Bloßstellung bedeutete für den später rituell als „treuestem Schüler Lenins“ Gehuldigten ein traumatisches Ereignis, so dass er sogar seinen Rücktritt anbot. Sobald Stalin seine Machtposition erobert und zementiert hatte, sorgte er für das Verbot des Testaments, dessen bloße Erwähnung bereits ein Grund zur Verhaftung war. Varlam Šalamov, der neben Solženicyn wichtigste literarische Zeuge des GULag-Systems, in dem er u. a. im berüchtigten Kolyma-Gebiet insgesamt 17 Jahre verbrachte, wurde erstmals 1929 wegen der Verbreitung von Lenins Testament verhaftet.29 Aber die Wurzel des Misstrauens saß noch tiefer. Es ist das Verdienst Michail Vajskopfs, in diesem Zusammenhang auf eine unscheinbare Erzählung Zoščenkos unter dem Titel Welche Berufe ich hatte (Kakie u menja byli professii, 1934/35) aufmerksam gemacht zu haben. Der Held, ein früherer Vagabund und Abenteurer, blickt auf seinen Lebensweg zurück und gibt Einblick in eine ebenso wechsel- wie zweifelhafte berufliche Karriere, die den medizinisch dilettierenden Hochstapler schließlich sogar zum Regimentsarzt aufsteigen lässt. Sein bester Kumpan wird schließlich ein wundervoller Georgier, den er nach der Revolution angeblich aus den Augen verloren, von dem er jedoch kürzlich gehört habe, er bekleide nun einen guten, wunderbaren Kommandoposten, so dass der Erzähler sich nichts weiter erwünscht als eine baldige Wiederbegegnung. Als wäre dies nicht schon genug der Provokation, gibt es noch eine zweite parodistische Ebene, und zwar den Bezug auf eine Rede, die Stalin im Jahre 29 Diese rigide Sanktionierung der Verfügung über politisch unbotmäßige Privatdokumente besitzt in Russland eine gewisse Tradition. Fedor Dostoevskij wurde bekanntlich 1849 wegen der Lektüre des verbotenen Briefes Vissarion Belinskijs an Nikolaj Gogolʼ im sog. Petraševcen-Kreis zum Tode verurteilt und erst auf dem Richtplatz zu Lagerhaft und Zwangsarbeit in Sibirien begnadigt.
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1926 im heimatlichen Tiflis hielt und die später auch Eingang in seine Gesammelten Werke fand. Hier schilderte der Diktator auf dem Weg zur absoluten Macht nicht ohne Selbstgefälligkeit seinen verschlungenen ‚Berufsweg‘ in einer Weise, die Zoščenkos Text nur noch deutlichere parodistische Züge verleiht.30 Es erscheint angesichts Tausender anderer Künstlerschicksale rätselhaft, wie Zoščenko die Stalinjahre überleben konnte. Vielleicht wollte Stalin seine Kinder nicht betrüben, die unweigerlich von der Verhaftung erfahren hätten. Wie hätte denn auch der Vater das Verschwinden desjenigen Autors zu rechtfertigen vermocht, den er selbst zur Familienlektüre erkoren hatte und den sein Machtwort sofort befreit hätte? Stalins Lachen im Familienkreis über die Werke eines Autors, den er an den Rand des Selbstmords brachte, erinnert an Baudelaires Definition aus seinem Essay De l’essence du rire: „Das Lachen ist satanisch und demnach tief menschlich.“31 Baudelaires tiefe Skepsis gegenüber dem Lachen – er verweist in klassisch christlicher Tradition darauf, dass Christus niemals gelacht habe – ist bis heute präsent. So paraphrasiert Roger, genannt „Verbal“ Kint, in Bryan Singers und Steven McQuarries The Usual Suspects (1995), jenem unvergänglichen Gleichnis über das Böse, einen anderen Gedanken Baudelaires zum Wesen des Teuflischen: „The greatest trick the devil ever pulled was to convince the world he didnʼt exist.“ In Baudelaires Der hochherzige Spieler (Le joueur généreux aus dem Zyklus Le spleen de Paris, 1869) berichtet der Erzähler von einem nächtlichen Gelage mit dem Teufel, in dem dieser bekennt, nur ein einziges Mal in der Menschheitsgeschichte um seine Macht gefürchtet zu haben, als nämlich ein hellsichtiger Prediger verkündete, dass es „die feinste aller Listen des Teufels ist, euch einzureden, daß er nicht existiert.“32 Singer überbietet Baudelaire in gewisser Weise noch, indem er für den Zuschauer unerkannt den Teufel selbst diesen Satz aussprechen lässt, denn der harmlose Behinderte Verbal ist niemand anders als der Herr der Unterwelt Keyzer Sose selbst. In Russland hat dieser ‚Trick‘ allerdings nicht verfangen. Liegt dies vielleicht auch an Stalins eigener Vorliebe für Parodien, insbesondere für Parodien Toter, die dem ehemaligen Priesterseminaristen als eine Art Antirequiem vielleicht besondere Genugtuung verschafften? Ein klassisches Vorbild dieser Gat-
30 Vgl. hierzu ausführlich VAJSKOPF, 1998, S. 52-54. 31 BAUDELAIRE, 1981, Bd. 3, S. 241 („Le rire est satanique, il est donc profondément humain“). 32 BAUDELAIRE, 1981, Bd. 1, S. 205.
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tung findet sich in Ivan Bunins Erzählung Der Herr aus San-Franzisco (Gospodin iz San-Francisko, 1915), in gewisser Weise eine Variation über Thomas Manns vier Jahre zuvor erschienenen und sofort ins Russische übersetzten Tod in Venedig. In der Nacht – wie sollte es anders sein – nach dem plötzlichen Tod des amerikanischen Millionärs auf Capri spielt der Diener Luigi die Rolle des diabolischen Impresario: Im spärlich erleuchteten Gang [des Hotels] saßen auf einem Fensterbrett zwei Zimmermädchen mit einer Stopfarbeit in der Hand. Luigi kam dazu, in Pantoffeln, einen Packen Kleidungsstücke über dem Arm. „Pronto?“ fragte er besorgt, mit hellem Flüstern, während sein Auge zur Schreckenstür ging, hinten, am Ende des Korridors. Und er schlenkerte in der gleichen Richtung mit der freien Hand. „Partenza!“ rief er im Flüsterton, wie man bei Abfertigung eines Zuges auf einem italienischen Bahnhof zu rufen pflegt, und die Zimmermädchen sanken sich an die Schulter und wäre vor lautlosem Lachen beinahe erstickt. Luigi lief federnd bis unmittelbar vor die Tür, klopfte leicht an und fragte, den Kopf zur Seite geneigt, ehrerbietigst und mit gedämpfter Stimme: „Ha sonato, signore?“ Und mit gepreßter Kehle, den Unterkiefer vorgeschoben, gab er – gleichsam hinter der Tür hervor – knarrend, zögernd und traurig sich selbst zur Antwort: „Yes, come in!“33
Es blieb Iosif Stalin vorbehalten, die literarische Karnevalisierung des Todes durch Verhöhnung des Verstorbenen in die Realität zu transponieren. Eine regelrechte Inszenierung dieses Genres an Stalins Hof soll dies abschließend illustrieren. Der Rahmen allein war sowohl makaber als auch würdig genug: eine Festveranstaltung zum zwanzigjährigen Gründungstag der ČK, der berüchtigten sowjetischen Geheimpolizei. Hier inszenierte der dickleibige, korsettierte und seine Homosexualität hinter einer selbst in diesem Kreis derben Anzüglichkeit verbergende Karl Pauker, bis zu seiner eigenen Liquidierung Chef der Leibgarde, als Stalins persönlicher Impresario die Hinrichtungsszene des kurz zuvor liquidierten Grigorij Zinov’ev, einst enger Weggefährte Stalins. Unter dem dröhnenden Gelächter des Vaters aller Völker (und, wie man annehmen darf, des übrigen Publikums, jener laut Mandel’štam „schmalhalsigen
33 BUNIN, 1983, S. 509f.
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Brut“34) ließ sich Pauker von zwei Kumpanen in der Rolle von Gefängniswärtern in den Raum zerren. Dann äffte er Zinov’ev nach: „Bitte, um Gottes willen, Genosse, rufʼ Josif Wissarionowitsch an!“ Dabei ahmte Pauker, selbst jüdischer Herkunft, Zinov’evs jüdischen Akzent im Russischen nach. Höhepunkt seiner Parodie war dann die Darstellung des atheistischen Opfers, wie es in letzter Verzweiflung die Hände zum Himmel erhob und ausrief: „Höre, Israel, unser Gott ist der einzige Gott!“ (Sch’ma jisrael) Diese Szene musste Pauker sogar noch einmal als Zugabe wiederholen; Stalin hielt sich angeblich vor Lachen den Bauch und konnte es nicht länger aushalten. Ganz von Lachkrämpfen geschüttelt, gab er Pauker schließlich ein Zeichen, er solle aufhören.35 Stalins Höllengelächter über die Parodie der letzten Minuten des von ihm zur Strecke Gebrachten ist nicht verebbt, es gellt noch heute in den Ohren Russlands. Wer also wollte Baudelaire widersprechen, dass das Lachen teuflisch und gerade deshalb zutiefst menschlich sei?
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34 So in dem nur mündlich verbreiteten, Stalin aber bekannt gewordenen und Mandel’štams Todesurteil besiegelnden Epigramm gegen Stalin. MANDELSTAM, 1991, S. 165. 35 Diese in der historischen Literatur über Stalin verschiedentlich kolportierte Begebenheit wird hier nach MONTEFIORE, 2005, S. 226f., wiedergegeben.
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Satirisch, komisch, grotesk – Elfriede Jelineks Theaterstücke DAGMAR VON HOFF Bei Juvenal heißt es in seiner ersten Satire: „difficile est saturam non scribere“ („dann ist es schwierig, keine Satire zu schreiben“)!1 Dies lässt sich ohne weiteres auf das Werk von Elfriede Jelinek anwenden. Denn sowohl Jelineks prosaische Texte und Romane als auch ihre Theaterstücke sind zutiefst satirisch gehalten. Dabei gilt, dass sich der satirische Modus ihrer Texte eben nicht darin erschöpft, nur eine Rhetorik des Schimpfens und Schmähens zu verfolgen, vielmehr besteht die Haltung und Absicht der satirischen Verfahrensweise darin, Negatives zum Ausdruck zu bringen, also eine ‚verkehrte Weltʻ2 aufzuzeigen, und zwar allein auf der Grundlage einer ‚politischenʻ Entrüstung. Juvenal hat diese Form der literarischen Produktivität folgendermaßen dargelegt: „Si natura negat, facit indignatio versum“ („Wenn die Natur es verwehrt, schafft die Entrüstung Verse“).3 Helmut Arntzen verweist darauf, dass es allein die indignatio ist, also das Ausgeliefertsein „negativen Eindrücken“4 gegenüber, das die Produktivität der Satire überhaupt erst entstehen lässt: „Indignatio ist die Kreativität des Satirikers.“5 Vor diesem Hintergrund also sind Jelineks ästhetische Attacken und Mythendekonstruktionen zu verstehen. So kritisiert sie etwa die soziale Wirklichkeit in aller Schärfe, sie rechnet mit der politischen Vergangenheit kompromisslos ab und kann – darin ebenfalls Juvenal ähnlich – als eine große, moralisch inspirierte Hasserin gelten. Ebenso wie der 1 2 3 4 5
JUVENAL, 1993, S. 10f. Der Begriff „Verkehrtheit der Welt“ findet sich bei LAZAROWICZ, 1963, S. 315. JUVENAl, 1993, S. 14f. ARNTZEN, 2010, S. 347. EBD.
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römische Dichter Laster aller Arten – wie zum Beispiel Geldgier – angreift, wenn er in den grellsten Farben versucht, davor Abscheu zu erregen, schlägt auch Jelinek – wie sie selbst sagt – „mit der Axt drein, damit kein Gras mehr wächst“,6 wo ihre dramatischen Figuren hintreten. Und sie entwirft zum Beispiel in Die Kontrakte des Kaufmanns. Eine Wirtschaftskomödie (2009) eine von Profitgier getriebene neoliberale Welt, deren einziges Bestreben darin liegt, Geld zu akkumulieren. Sie zeigt die Mechanismen auf, die zum Kollaps der globalisierten Finanzmärkte geführt haben, und gibt dieses Stadium der entfesselten Märkte mit all ihren Auswirkungen einem allgemeinen Gelächter preis. In diesem von Nicolas Stemann in Köln und Hamburg 2009 aufgeführten Stück wird letztlich in kritischer Weise das Prinzip einer Affinität der Gattung Komödie zur Ökonomie gewahrt und ideal zur Schau gestellt. Und so wie das Geizmotiv und Geldparadigma als grundlegend für die dramatische Konzeption gelten können, fängt die Idee des Marktes letztlich dort an, wo auch das große Komödien-Schauspiel beginnt, weshalb die Komödiengeschichtsschreibung grundsätzlich zur Disposition steht.7 Es gehört zu den vielen Paradoxien der satirischen Methode, dass diese versucht, die konkrete Realität treffend zu beschreiben, indem sie sie überzeichnet, es also unternimmt, in einer ästhetischen Überformung eine spezifische neue fiktionale Modalität zu entwickeln.8 Das Besondere nun dieser ambiguitiven Reflexionsfigur besteht darin, durch die offengelegte immanente Spannung eine kompromisslose Kritik an der sozialen Wirklichkeit zu erzeugen, und zwar durch eine Negativität, die jedoch in der Lage ist, seismographisch vorzuverweisen auf mögliche historische Konstellationen, weshalb auch immer wieder vom Bezug der Satire zur Utopie gesprochen wird.9 Insofern also vermag es die Satire, als eine ästhetische Negation über sich selbst hinauszuweisen. Denn auch wenn die indignatio und die sprachästhetische Darstellung des Negativen der Satire mit Komik, Witz und Humor einhergehen, verstehen sie es dennoch, im Gegensatz zu komischen und grotesken Wendungen, die ebenfalls eine ‚verkehrte Weltʻ inszenieren, eine besondere „Produktivkraft“10 zu entfalten, wie Arntzen feststellt. Jelinek selbst hat immer wieder betont, dass ihr Schreibverfahren dem der Satire sehr nahekommt: 6 7 8
JELINEK, 1984, S. 228. Vgl. FULDA, 2005, S. 519. Auf diesen paradoxalen Aspekt des satirischen Vorgehens verweist u. a. António Sousa Ribeiro in Bezug auf Karl Kraus. Vgl. SOUSA RIBEIRO, 2006, S. 27. 9 Vgl. BRUMMACK, 2002, S. 1728. 10 ARNTZEN, 2010, S. 347.
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Satirisch, komisch, grotesk – Elfriede Jelineks Theaterstücke Meine literarische Technik liegt in der Negativität, in einer satirischen Beugung der Wirklichkeit und im Auf-die-Spitze-Treiben des Wirklichen, und das Wirkliche ist einfach schrecklich, und der Anreiz oder der Impetus meines Schreibens ist einfach Wut und Zorn, das kann ich nicht ändern. Wenn ich nicht Wut empfinde, sehe ich keinen Grund zu schreiben.11
Auch hat sie sich wiederholt in die Tradition der Satire eines Karl Kraus gestellt. So sagt sie in einem Gespräch mit Donna Hoffmeister schon 1987: „Meine frühe Prosa ist eindeutig experimentell. Sonst stehe ich in der Tradition des Sezierens, in der jüdischen Tradition von Karl Kraus und Elias Canetti, die von dem Faschismus vernichtet worden ist oder die eben ausstirbt.“12 Umso überraschender ist es, dass sich die Forschungsliteratur bisher nur punktuell mit der Satirikerin Jelinek auseinandergesetzt hat.13 Als Gründe für diese fehlende Zuordnung der Schriftstellerin zum satirischen Bereich wird angegeben, dass die Satire mit ihrem Aggressionspotenzial, das destruierenden Charakter hat, letztlich als eine ‚männlicheʻ Schreibweise gelten kann, weshalb Christine Künzel auch generell vom „Geschlecht der Satire“14 spricht. Ob dieser Genderaspekt aber wirklich dafür sorgt, dass die Forschung Elfriede Jelinek als Satirikerin verkennt, soll hier nicht entschieden werden. Entscheidend scheint mir vielmehr, dass es darum geht, Jelineks textuelle Strategien – seien sie nun satirisch, komisch oder grotesk gehalten – in ihrer ästhetischen Radikalität wahrzunehmen. Entsprechend entfaltet zum Beispiel Juliane Vogel die Wirkungskraft der literarischen Texte Jelineks vor dem Hintergrund einer Poetik der Intertextualität, in der die Weite und Polyphonie des Werkes Jelineks erhalten bleibt, ohne dass die Texte in Kanonisierungs- und Zuordnungsmechanismen eingebunden werden. Dabei wird an keiner Stelle unterschlagen, dass Jelinek sehr deutlich in der Tradition eines Karl Kraus zu lesen ist.15
11 12 13 14 15
Jelinek, zit. in: BERKA, 1993, S. 129. Jelinek, zit. in: HOFFMEISTER, 1987, S. 109. Vgl. zur Zuordnung Jelineks als Satirikerin: HEIDEMANN-NEBELIN, 1994, S. 197f. KÜNZEL, 2012, S. 99. Vgl. VOGEL, 2013, S. 48.
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Die Theaterautorin Jelinek 16 Ihr Theaterdebüt gab Jelinek mit Was geschah, nachdem ora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften 1979 in Graz. Dieses Stück ist eine Fortsetzung von Henrik Ibsens ora oder Ein Puppenheim (1879). Während Elfriede Jelinek hier noch deutlich eine Theaterfigur des naturalistischen Theaters anzitiert, begann mit dem Theaterstück Clara S. (1981; Uraufführung 1982) eine intertextuellen Verfahrensweise, die verstärkt Zitate und Ausdrucksweisen kanonisierter Literatur miteinbezieht. Diese intertextuelle Schreibstrategie, die in Clara S. ihren Ausgang hatte, setzte sich in Prosatexten Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr (1985) und Lust (1989) fort. Vor allem aber finden sich collagierte Schreibverfahren in Jelineks Text Wolken.Heim (1988), in dem neben markanten Hölderlin-Zitaten vor allem Manifeste und Briefe der Roten Armee Fraktion (RAF) miteinbezogen werden. Aber auch Komödien gehören zu Jelineks Dramenrepertoire, so etwa Raststätte oder Sie machens alle (1994) oder Die Kontrakte des Kaufmanns (2009). Ebenfalls der von Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg 2014 inszenierte JelinekText Strahlende Verfolger (2014), der in das Gesamtprojekt Pfeffersäcke im Zuckerland & Strahlende Verfolger integriert ist, ist ein Prosatext von tiefsinnigem Witz. In Krankheit oder Moderne Frauen verwendet Elfriede Jelinek hingegen zum ersten Mal das Untoten-Motiv, das dann seine Fortsetzung in weiteren Texten wie Die Kinder der Toten (1995) finden sollte. Während Jelinek einen Teil ihrer dramatischen Texte so konzipiert, dass sie über einen Haupt- und Nebentext verfügen, der die Personen festlegt, existieren aber auch Prosatexte, die offen und eben polyphon für das Theater und eine mögliche Inszenierung angelegt sind. Hierzu gehören vor allem Texte für Projekte von Theaterregisseuren, die damit in ihren Inszenierungen einen größeren kreativen Gestaltungsraum erhalten. Denn üblicherweise werden neben den dialogischen und monologischen Repliken der dramatischen Figuren, die die ganze zur Darstellung zu bringende Handlung erzeugen, mit dem Nebentext ein Personenverzeichnis, aber auch Szenen- und Regieweisungen angegeben. Dieses konventionell strukturierte Verhältnis wird von Jelinek jedoch in vielen ihrer Texte für das Theater untergraben, wenn sie eben nicht mehr auf diese Zweiteilung (Haupt- und Nebentext) zurückgreift, sondern reine Prosatexte für das Theater konstruiert, womit dem Theater und der Inszenierung
16 Vgl. hierzu ausführlicher VON HOFF, 2013, S. 131.
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sowie dem Regiekonzept mehr Freiheit und Offenheit zugestanden werden. Festzuhalten ist, dass Elfriede Jelinek schon seit ihren ersten Stücken ein riskantes Theater vorführt, das mit vielen Regeln und Konventionen bricht; ja, es sich zur Aufgabe macht, das Theater zu destruieren. So formuliert sie ihre Programmatik folgendermaßen: „Den Wunsch, Leben zu erzeugen auf dem Theater, der fast alle Schriftsteller angezogen hat, lehne ich ab. Ich will genau das Entgegengesetzte: Unbelebtes erzeugen. Ich will dem Theater das Leben austreiben. – Ich will kein Theater.“17 Zu Recht ist ihr theaterästhetisches Konzept deshalb im Bereich des postdramatischen Theaters verortet worden. Der von Hans-Thies Lehmann geprägte Begriff des Postdramatischen wurde zuerst für Heiner Müller entwickelt und bezeichnet ein Theaterkonzept, das heterogene Stilzüge aufweist, sich verschiedener Medien – gerade auch in gemischter Form – bedient und eine radikale Abkehr vom dramatischen Text und vom Dargestellten zugunsten einer Performance, also der Präsenz der Darstellung selbst, vollzieht.18 Das Theater stellt dann nicht mehr psychologisch durchgearbeitete Figuren in einen szenischen Zusammenhang, sondern Gestalten, die wie Sprechmaschinen wirken. Entsprechend geistern eher Popanze und Scheintote durch Jelineks Stücke. Interessant dabei sind aber auch die Ausgestaltung und das Spiel mit dem für die Komödiengestaltung typischen Ende des Stückes, dem sogenannten Happy End. Carsten Jakobi hat sich intensiv mit der Bedeutung des Happy Ends in der Komödie des 20. Jahrhunderts beschäftigt und darauf hingewiesen, dass diese dramatische Konfliktgestaltung und ihre häufige Modifizierung des klassischen Komödienschemas eine wichtige ästhetische Funktion innehat. Dabei kann zum Beispiel am Dramenautor Peter Hacks gezeigt werden, wie ein sozialistisch-klassischer Komödienschluss behauptet wird, um eine selbstreflexive Gestaltung hervorzubringen.19 Dies gilt übrigens auch für die dramatischen Texte Jelineks, die wie zum Beispiel in Krankheit oder Moderne Frauen oder in Raststätte oder Sie machens alle mit dem inszenierten Ende letztlich eine kritisch-reflexive Öffnung vorbereiten helfen.
17 JELINEK, 1989, S. 31. 18 Vgl. LEHMANN, 1999, S. 29. 19 Vgl. JAKOBI, 2012, S. 43.
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Krankheit oder Moderne Frauen Elfriede Jelineks Theatertext Krankheit oder Moderne Frauen (1984) ist vom Regisseur Hans Hollmann 1987 in Bonn uraufgeführt worden.20 Schon mit diesem Drama geht Jelinek einen Schritt weiter, wenn sie sich hier zwar noch am Haupt- und Nebentext der dramatischen Gattung orientiert, jedoch die Entkernung ihrer Figuren schon vorantreibt und verschiedene Trivialpartikel, Literatur-, Medien- und Theoriediskurse zu einem neuen Textgewebe montiert. Diese Sprachflächen scheinen dann von quasi toten dramatischen Figuren nur noch nachgeplappert zu werden. So entsteht eine modern-groteske Vermischung unterschiedlicher Theaterstile. Neben dem mittelalterlichen Mysterienspiel, der Verwendung des Grand Guignol, eines grausam-monströsen Kasperle-Theaters, worauf Marlies Janz verweist,21 ist es vor allem auch die antike Tragödie, die in den sich unversöhnlich gegenüberstehenden Geschlechtern anklingt. Dabei werden sämtliche theaterästhetischen Konzeptionen miteinander vermengt, sodass die Welt als Farce erscheint. Das in Clara S. anklingende intertextuelle Verfahren wird zudem noch gesteigert, wenn die Dracula-Welten Bram Stokers und damit das für Jelinek wichtige Motiv der Untoten mit Emily Brontës Roman Wuthering Heights (1847), Sheridan Le Fanus Carmilla (1872) sowie Ingeborg Bachmanns Gedichte aus dem Band Anrufung des Großen Bären (1956) in Zusammenhang gebracht werden.22 Dabei erzeugen das Anzitieren des Fremdmaterials sowie das Imitieren unterschiedlicher dramatischer Formen eine parodistische Wirkung. Hier – wie auch an anderer Stelle – werden Wissenschaftsdiskurse benutzt, um parodistische Effekte hervorzurufen, die darauf zielen, sogenannte abendländische Denkgebäude dem Gelächter preiszugeben. Dies gilt auch für die Aufnahme unzusammenhängender Theoriediskurse – so etwa die Rezeption von Michel Foucaults Geburt der Klinik (1963), wenn es bei Jelinek heißt: „Die Klinik ist geboren. Und das Geschlecht ist dann auch irgendwann geboren.“23 Dementsprechend wird ebenfalls konsequent der philosophische Diskurs mit Descartesʼ cogito ergo sum auf den Kopf gestellt: „Ich bin krank, daher bin ich.“24 In extremer Weise werden in dem Stück kulturelle Stereotypien, Ideologien und Diskurse vorgeführt und dekonstruiert. Dabei schraubt sich die Handlung ebenfalls hoch, erzeugt postdramatische Körperbilder und spult den Plot fast wie eine Slap20 Das Folgende greift auf frühere Ausführungen in anderem Zusammenhang zurück. Vgl. VON HOFF, 2013, S. 135f. 21 Vgl. JANZ, 1995, S. 88. 22 Vgl. BERKA, 1995, S. 374. 23 JELINEK, 1987, S. 53. 24 EBD., S. 44.
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stickkomödie ab. Nicht nur die Analogien zwischen der Überblendung des Geschlechterverhältnisses mit dem von Mensch und Vampir lassen eine spezifische Komik entstehen, auch das Spiel mit Geschlechterdiskursen erzeugt eine besondere lächerliche Konstellation.25 Den beiden weiblichen Hauptfiguren (Emily und Carmilla) stehen zwei männliche Protagonisten (Dr. Heidkliff und Dr. Hundekoffer) gegenüber. Während die beiden Männerfiguren die Psychoanalyse Sigmund Freuds vertreten und unablässig Allgemeinplätze ausspucken, scheinen die beiden Frauen demgegenüber alle männlichen Projektionen in sich aufzunehmen. Eine weibliche Protagonistin bringt dies folgendermaßen auf den Punkt: „Ohne Krankheit wäre ich nichts“26 und „Wegen meiner Krankheit kann man mich manchmal in einem Spital anschauen“27. In Krankheit oder Moderne Frauen stirbt Carmilla kurz vor der Geburt ihres sechsten Kindes im Gynäkologenstuhl des sportlichen Facharztes für Kiefer- und Frauenheilkunde Dr. Heidkliff. Die Krankenschwester Emily, ein lesbischer Vampir, verbeißt sich in Carmilla, sodass Emily ebenfalls zum Vampir wird und darüber hinaus zur Medea, wenn sie ihre Kinder aussaugt, bzw. sie zersägt und im Tiefkühlschrank lagert. Das Besondere ist die Steigerung im grotesken Handlungsgeschehen, denn es wird immer noch etwas draufgesetzt. Es ist ein Taumel und Wirbel, der alles mitzureißen droht. Am Ende des Geschehens versuchen die beiden Frauen, die Männer auszusaugen. Jedoch finden sie kein Blut. Schließlich werden sie in der Gestalt eines Doppelgeschöpfes von Heidkliff und Hundekoffer erschossen. Dem Text vorausgestellt ist ein Zitat von Eva Meyer, in dem Weiblichkeit mit dem Modus des Verschwindens kombiniert wird. Jelinek begegnet hier den patriarchalisch geprägten Weiblichkeitsbildern nicht etwa mit einer abstrakten Behauptung weiblicher Alterität, sondern mit der Aneignung und Sinnentleerung dieser Bilder von Geschlechterdichotomien. Sie überbietet die stereotypen Welten, indem ihre Figuren immer monströser werden und schließlich auszubluten scheinen. In dem Stück Krankheit oder Moderne Frauen stoßen Arztpraxis und Heidelandschaft aufeinander und erzeugen ein Amalgam, die Frau schlürft mit Hilfe eines Strohhalms aus dem Kopf ihres Sohnes Blut, der Mann räumt aus der Frau, die auf dem Gynäkologenstuhl liegt, endlos Gedärmeschlingen heraus, schließlich sitzen die beiden Vampirinnen in einer Blutla25 Vgl. STRAUSS, 2009, S. 255. 26 JELINEK, 1987, S. 44. 27 EBD., S. 45.
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che und bemalen sich zärtlich mit Blut, bevor sie sich in ein Doppelgeschöpf verwandeln. Diese mit Leiden und Schrecken zur Schau gestellten Körper erinnern an das antagonistische Prinzip der sich unversöhnlich gegenüberstehenden Geschlechter in der antiken Tragödie, an die Bacchanalien, in der die rasenden Frauen umherliefen, lebende Zicklein zerrissen oder sogar ihre Kinder verschlangen. Mit dieser überzeichneten Inszenierungsweise und der damit einhergehenden Anspielung auf archaische Zustände wird die Dekonstruktion einer Theaterpoetologie, die den Gegensatz von Apollinischem und Dionysischem behandelt, überdeutlich. Krankheit oder Moderne Frauen destruiert zudem die dramatische Form und damit ein pathetisches Bedeutungspotenzial, wenn es die Gegenüberstellung von Haupt- und Nebentext unterläuft. So wird im Nebentext, in dem das Urhebersubjekt des Dramas vorgibt, wahrhaft zu sprechen, ausschließlich männlichen Instanzen gedankt: „(Jean Baudrillard, Robert Walser, Roland Barthes, Joseph Goebbels, Bram Stoker, Joseph Sheridan Le Fanu, Der Spiegel, Der Hörfunk, Das Fernsehen u.v.a.)“,28 während gerade offensichtlich aus Texten von Frauen zitiert wird. Die Figur Emily sagt (im Sinne von Ingeborg Bachmanns Fall Franza): „Ich gehe jetzt mit der Stirn gegen den Stein einer Pyramide schlagen.“29 Dabei wiederholt der Nebentext, wovon im Haupttext gesprochen wird, wenn Emily sich bei den männlichen Figuren bedankt: „Du hast mehr als einmal recht.“ Und: „Vielen Dank, daß Du mir zugehört hast.“30 Das Besondere aber dieses Dramas ist es, dass es sich nicht im Kalauern erschöpft, sondern die spezifische sprachliche und thematische Aggressivität dazu nutzt, eben auch widerständig im Sinne der eingangs dargestellten Satirikerin Elfriede Jelinek zu sein.31
Rastst ätte oder Sie machens alle Im Folgenden soll eine Komödie Jelineks vorgestellt werden, die ebenfalls noch im Horizont einer traditionellen Dramenform entwickelt worden ist. Denn auch dieses Drama verfügt über einen Haupt- und Nebentext, der die dramatis personae konturiert und insofern noch profilierte Figuren, wenn auch als Typen, kennt. Raststätte oder Sie machens alle (1994, im selben Jahr ur28 29 30 31
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JELINEK, 1987, S. 5. EBD., S. 9. EBD. Vgl. zum Begriff des Widerstands in Bezug auf dieses Stück HEMPEL, 2006, S. 70.
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aufgeführt von Claus Peymann im Burgtheater in Wien, weiterhin inszeniert in Hamburg 1995 von Frank Castorf) ist eine Parodie auf Mozarts Così fan tutte (Libretto von Da Ponte). Zugleich spielt dieses Drama aber auch an auf Ödön von Horváths Figaro läßt sich scheiden (Uraufführung 1937), das als Kontrafaktur zu der weltbekannten Figuren-Komödie Figaros Hochzeit von Beaumarchais, die vor allem durch die Opern von Mozart und Rossini lebendig geblieben ist, zu verstehen ist. Während Horváths Stück Revolution und EheMelodram mit der Darstellung der Emigration verbindet, markiert es zugleich auch eine politische Botschaft, wie Bernhard Spies gezeigt hat, wenn zum Beispiel das beschriebene Spießertum in seinem opportunistischen Verhalten vorgeführt wird.32 Bei Jelinek hingegen gibt es keine dramatische Entwicklung, hier geht es ausschließlich um eine parodistische Akkumulation des Stoffes, sodass man davon sprechen kann, dass das Geschlecht hier zur Karikatur schlechthin wird.33 Die groteske Komik hat dabei die Funktion, eine parodistische Zersetzung von Weiblichkeitsmythen zu erzeugen. Insofern könnte man davon sprechen, dass hier die Komik der Herabsetzung (Kontrastkomik) mit der der Heraufsetzung (groteske Komik) in gewisser Weise kombiniert werden.34 Wie nun ist diese kontrastiv-groteske Komik gestaltet? Kurzerhand organisiert Jelinek den Handlungsstrang der Oper um. Der turbulente Partnertausch, der bei Mozart aus der Sicht der Männer erzählt wird, die ihre Bräute auf ihre Treue überprüfen wollen, wird in eine weibliche Perspektive umgemünzt.35 Die Ehefrauen mit den banal klingenden Namen Isolde und Claudia (eben nicht Dorabella und Fiordiligi, die die Namen eines Vogels und einer Blume tragen) haben sich auf ein Inserat gemeldet, um ein sexuelles Abenteuer zu erleben. Treffpunkt ist die Raststätte einer deutschen Autobahn, und dort geht es geradezu grotesk zu. Auf der Toilette treffen die beiden auf ihre als Elch und Bär verkleideten Ehemänner Kurt und Herbert. Die Sexualität mit diesen grotesken Figuren auf dem Abort ist sowohl erniedrigend und beschämend als auch in seiner Slapstick-Art außerordentlich komisch. Die Männer sind auf der „Schnitzeljagd nach dem Tier in uns“36, und die Frauen („zwei Äpfel, die mit
32 33 34 35
Vgl. SPIES, 1997, S. 120. Vgl. hierzu STRAUSS, 2009, S. 266. Vgl. GREINER, 1992, S. 115. Die folgenden Ausführungen nehmen frühere Überlegungen auf. Vgl. 2000, S. 242f. 36 JELINEK, 2002, S. 100.
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Garnierung überhäuft, unter ihren Schlafröcken schreien“)37, wollen dringend „so gern ein Tier kennenlernen“38. Bei Jelinek wird der Mythos von Weiblichkeit, Sexualität und Natur als Farce entlarvt, indem er schlicht in den Dreck gezogen wird. Während Gesang und Musik in Mozarts Oper den Glanz und Zauber der Verführung hervorbringen und in hinterlistiger Ironie von den allzumenschlichen Schwächen der Frauen zu berichten wissen, ist bei Jelinek davon nur wenig zu spüren. Das Täuschungsmanöver der Helden der MozartOper mit ihren dunklen Schnurrbärten und den prächtigen besticken Gewändern und Turbanen wird durch die Plumpheit von in Tierfellen gehüllten Popanzen ersetzt. Und bemerkenswert scheint mir, dass, obgleich Jelinek die Vorlage komplett mit Brutalität und Ekel zudeckt, dennoch etwas von der Mozart-Oper – und sei es als Negativfolie – erhalten bleibt. Denn mit ihrem Drama Raststätte oder Sie machens alle produziert sie einen Erinnerungsraum, bei dem die in ihr abgelagerten kulturellen Folien mitgehört werden können. Dabei spielt nicht nur die schwebende Musik eine Rolle, sondern es werden ebenfalls die Figurationen (Partner- und Rollenwechsel) und thematischen Konstellationen (Betrug und Glück) mit evoziert. Der Titel Così fan tutte ist dann bei Jelinek zwar keine heitere Lossprechung, aber enthält zumindest einen dunklen ironischen Unterton. Am Ende des Stückes wird in der Hamburger Inszenierung eine monströs aufgeblasene Elfriede Jelinek-Leuchtplastikpuppe mit blinkenden Brüsten und blinkender Scham auf die Bühne gestellt und verbrannt. Michel Foucaults ‚Tod des Autors‘ scheint hier von Castorf inszeniert worden zu sein. Dass dem aber nicht so ist, liegt an der Stimme der Autorin Jelinek, die vom Tonband zu hören ist – sanft, melodisch – fast wie die transparente Musik der Mozartʼschen Oper. Es kümmert eben doch: wer spricht und wer wie menschliche Verhaltensweisen zur Disposition stellt. Die groteske Wendung und aggressive Attacke auf die Autorin in Gestalt der ausgestellten Puppe ist im Übrigen nicht unhinterfragt geblieben. So kritisiert Christoph Schlingensief Castorfs Raststätten-Inszenierung. Er spricht davon, dass der Regisseur sich „am Ende gegen Jelinek gestellt hat, indem er sie als Puppe mit Möse auf die Bühne gefahren hat“.39 Und er fährt weiter fort in Bezug auf Jelineks spezifische kritische Schreibweise: „Das ist eine andere Form von Literatur, die eher für die Zu-
37 EBD., S. 99. 38 EBD., S. 72. 39 SCHLINGENSIEF, 2010, S. 18.
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kunft bestimmt ist. Ich finde es furchtbar, ihre Texte kleinkariert auszuwerten. Das wird ihren Texten nicht gerecht.“40
Anstatt eines Nachw ortes Elfriede Jelinek hat unterschiedliche Interviews gegeben, unter anderem André Müller. Dort inszeniert sie in einer witzigen und humorvollen Weise einen Gegensatz zwischen ihrem Schreiben und dem von Peter Handke. André Müller fragt: „Was verstehen Sie unter Vitalität?“ „Das, was die anderen tun, zum Beispiel reisen. Der Handke geht zu Fuß durch den japanischen Urwald. Das finde ich toll.“ „Ein besonders glücklicher Mensch ist er trotzdem nicht.“ „Der soll froh sein, dass er überhaupt gehen kann. Ich kann es nicht, tut mir leid. Für mich müsste es eine Fluglinie geben, die sich bereit erklärt, Reisende geknebelt und narkotisiert im Gepäckraum zu transportieren, unter Aufsicht einer sadistischen Krankenschwester. Ich beneide andere Leute, das muss ich gestehen, um Normalität. Deshalb sehe ich mir wahnsinnig gern Doris-Day-Filme an, weil die immer mehrere Kinder hat und einen Mann und ein bürgerliches, geordnetes Leben.“41
In diesen witzigen Repliken Jelineks wird deutlich, dass sie sich humorvoll gegen poetologische Konzepte – wie die zum Beispiel von Peter Handke – stellt. Auch wird von Jelinek in diesem Interview zwar scheinbar ein triviales Happy End gelobt, letztlich jedoch attackiert sie in der Maske der Normalität die Selbstzufriedenheit einer weltgewandten Prosaform. Entsprechend ist eine der häufigen Zielscheiben von Jelineks Dramen die sogenannte Gemütlichkeit, die als Chiffre für tägliche Katastrophen einzustehen hat. Ja, dass es so weitergeht, kann in diesem Sinne – und darauf verweist António Sousa Ribeiro im Blick auf Karl Kraus – als eigentliche Katastrophe gelten.42 Und dass Witz und Humor keine Gegensätze bilden, auch das hat schon Karl Kraus – geradezu vorausdenkend für Jelineks dramatisches Werk – folgendermaßen erklärt: 40 EBD. 41 MÜLLER, 1997, S. 13. 42 Vgl. SOUSA RIBEIRO, 2007, S. 123.
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„Man wird schon gemerkt haben, daß ich Humor mit Witz verwechsle, aber ich tue es gern, indem ich tatsächlich nicht weiß, was das Wesen des Humors ist, wenn ihm der Witz fehlt.“43
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43 KRAUS, 2014, S. 264.
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Die Problematik des Komischen bei Schiller Von früher Zustimmung zu später Kritik WOLFGANG DÜSING 1. Vorbem erkung Die Frage, welches Verhältnis der Tragiker Schiller zum Komischen und zur Komödie hat, liegt nahe, da viele Dramatiker in beiden Gattungen produktiv waren, während Schiller, abgesehen von der kleinen, privaten Posse Körners Vormittag und Wallensteins Lager, dem Lustspiel, das die schwierige Aufgabe hat, auf eine Tragödie vorzubereiten, keine Komödien verfasst hat. Die Frage ist auch deshalb berechtigt, weil Komik, Witz und Satire in den Dramen und in der Lyrik des jungen Schiller eine bedeutende Rolle spielen.1 Es gilt also, zunächst einmal eine Antwort auf die Vorfrage zu suchen, warum Schiller alle Spielarten des Komischen, die für die Jugenddramen und die frühe Lyrik charakteristisch sind, bis zu Dramenfiguren, die an Shakespeares Rüpel und Narren erinnern, später meidet. Schillers klassische Werke bilden nicht die harmonische Weiterentwicklung und Vollendung früherer Ansätze, er distanziert sich, radikaler als Goethe, von seinen Jugenddichtungen, ein Prozess, der auch zu einer Problematisierung des Komischen führt. Eine entscheidende Rolle spielen hier Veränderungen in Schillers Poetik und Ästhetik. Komik und Satire erlauben Tabubrüche. Sie zerstören konventionelle Vorstellungen, um verdeckte Aspekte der Realität zu erfassen. Der
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Den Stand der Forschung zu dem Thema ‚Schiller und die Komödie‘ referiert IMMER, 2006, S. 252ff.
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junge Schiller setzt Komik im weitesten Sinne als Stilmittel ein, weniger um zu erheitern, sondern eher, um zu schockieren und Missstände aufzudecken. Der klassische Schiller fordert dagegen von der Dichtung „Idealisierung“2. Das setzt eine fundamentale Änderung im Selbstverständnis des Dichters voraus, eine Ästhetik, die das Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit neu bestimmt und den Abstand beider betont, während der junge Schiller in der Unterdrückten Vorrede der Räuber seine exzentrischen Charaktere damit verteidigt, dass er ein „getreuer Kopist der wirklichen Welt“ sei.3 Wenn Schiller in der Vorrede zur ersten Auflage schreibt: „Das Laster wird hier mitsamt seinem ganzen inneren Räderwerk entfaltet“4, dann entschuldigt er vieles, woran zeitgenössische Zuschauer und Leser Anstoß nahmen, mit seinem Bemühen um kompromisslose Nähe gegenüber einer Realität, deren falscher Schein zerstört werden müsse. Man könnte einwenden, dass die spätere Intention einer idealisierenden Wirkung der Literatur nichts anderes als die Umkehrung der früher beabsichtigten schockierenden Wirkung sei. In beiden Fällen handelt es sich um extreme Stilisierungen. Der Prosa der Jugenddramen mit ihrer Stilmischung steht die Stilreinheit der klassischen Vers-Dramen mit dem hohen Stil des genus sublime gegenüber.5 Hier interessiert vor allem ein Aspekt des fundamentalen Wandels vom Sturm und Drang zur Klassik, nämlich die Frage, warum sich Schillers Einstellung gegenüber Satire und Komik so signifikant veränderte.
2. Satiren auf den Literaturbetrieb. Zur Anthol ogie auf das Jahr 1782 Die folgenden Bemerkungen zu ausgewählten Texten sollen keine Interpretationen sein, sondern nur eine Vorstellung von der Vielseitigkeit des jungen Schiller im Umgang mit Komik und Satire vermitteln. Mit der Anthologie meldet sich der junge, kaum bekannte Autor selbstbewusst zu Wort. Über die Hälfte der zweiundachtzig Gedichte stammt von ihm. Weil zugesagte Beiträge ausblieben, musste er selber in kürzester Zeit mit eigenen Gedichten die Lücken schließen. Die Anthologie behandelt eine Vielzahl von Themen, sie ist 2 3 4 5
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SCHILLER, 2004, Bd. 5, S. 987f. Im Folgenden abgekürzt mit HA und Bandangabe. HA 1, S. 482. EBD., S. 485. So die Leitbegriffe der Studie von AUERBACH, 1964, S. 405f.; 412f.
Die Problematik des Komischen bei Schiller
aber auch eine polemische Antwort auf den von Gotthold Stäudlin herausgegebenen Schwäbischen Musenalmanach auf das Jahr 1782. Schiller profiliert sich bei seinem ersten öffentlichen Auftritt vor allem als streitbarer Autor in einer literarischen Fehde. Auch später zeigt es sich immer wieder, dass er, obwohl überarbeitet und von Krankheit gezeichnet, durch Polemik produktiv wird. Erinnert sei nur an die Bürger-Rezension, an den Streit mit Fichte oder an die Xenien: „Füchse mit brennenden Schwänzen“, gesandt „ins Land der Philister“, hat er sie genannt.6 In der Anthologie dominieren zwei konträre Haltungen: ein leidenschaftliches Pathos und eine bis zum Zynismus gehende satirische Darstellungsweise. Das Pathos wandelt sich später zum Erhabenen, dem genus sublime. Dieser Stilwandel spiegelt Schillers literarische Entwicklung. In seinen Anfängen stehen sich pathetische und satirische Darstellungsweisen unversöhnlich gegenüber und erzeugen eine dualistische Spannung, für die es erst in den klassischen Werken Möglichkeiten einer Versöhnung gibt. Damit hängt auch das Nebeneinander von hohem Stil und Alltagssprache in der Anthologie zusammen. Fundamentale Dualismen charakterisieren Schillers Geisteshaltung und artikulieren in den verschiedensten Varianten den antithetischen Rhythmus, der eine Vielzahl von Themen und Motiven prägt. Das gilt auch für die lyrischen Gattungen, die in allen Variationen vom knapp formulierten Spruch bis zur weit ausgreifenden Ode, vom Liebesgedicht bis zur Satire, von der kosmischen Hymne bis zum Epicedium vertreten sind. Gewidmet ist die Anthologie dem Tod – eine ironische Widmung, das krasse Gegenteil zum Wandsbecker Boten von Matthias Claudius, der seine Gesammelten Werke 1774 publizierte und sie „Freund Hein“ widmete. Während Claudius versucht, dem Tod seine Schrecken zu nehmen, fordert ihn Schiller, der als Mediziner mit ihm sehr vertraut ist, geradezu heraus, wobei nicht klar ist, ob die Medizin auf Seiten des Lebens oder des Todes steht. Die Herausgeber, bzw. Schiller, stellen sich als eine Gruppe von Poeten aus dem fernen Sibirien dar. „Dahinter steckt eine Schelmerei“,7 aber auch noch etwas mehr. Schiller parodiert damit zeitgenössische Dichterbünde. Er wird aber noch deutlicher, wenn er hofft, dass die Anthologie „das Verdienst“ hat, „Hand in Hand mit ihren Kamerädinnen im weitentlegenen Teutschland“ – die
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HA 1, S. 261. EBD., S. 31.
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leider nicht genannt werden – „dem ausröchelnden Geschmack den Gnickfang geben zu helfen, wie wir […] zu sprechen belieben.“8 Mit dem ersten Gedicht der Anthologie Die Journalisten und Minos attackiert Schiller die verhassten „Zeitungsschreiber“ (V. 55).9 Sie füllen ihre Tintenfässer mit einer Tinte, die aus den Flüssen der Unterwelt stammt, was Rückschlüsse auf den Inhalt zulässt. Einer der Flüsse ist „Lethe“, der Fluss des Vergessens, eine ironische Anspielung auf die Lebensdauer der rastlos produzierten Texte. Die maßlose Schreiberei droht die Flüsse der Unterwelt auszutrocknen. Minos, ein Herrscher der Unterwelt, muss einschreiten. Dann erscheint auch noch Friedrich II., dessen Verhältnis zur deutschen Literatur bekanntlich sehr kritisch war. Dieben schnitt man, um sie kenntlich zu machen, ein Ohr ab. Friedrich lässt den literarischen Dieben den rechten Daumen abschneiden. Damit findet die Schreiberei ihr verdientes Ende und jeder weiß künftig, mit wem er es zu tun hat. Eine ähnliche Tendenz hat das Gedicht Die Rache der Musen mit dem Untertitel Eine Anekdote aus dem Helikon. Der Titel weckt das Interesse durch den komischen Widerspruch zwischen dem erhabenen Göttersitz und anekdotischen Vorkommnissen, die nicht von weltgeschichtlicher Bedeutung sind, aber Unterhaltungswert haben. Der Helikon, der Olymp, wird später ein zentraler Ort, geradezu ein Kristallisationskern für Schillers Dichtung. Die Aufnahme des Poeten in den Olymp in dem Gedicht Die Teilung der Erde wird zur Metapher für den besonderen Status des Dichters und der Dichtung. Von diesem Dichtungskonzept ist der junge Schiller noch weit entfernt. Es handelt sich wie bei den Journalisten und Minos oder der Satire Bacchus im Triller um Mythenparodien, die mit der durch Winckelmann vermittelten Antike-Rezeption in der Klassik nichts zu tun haben. In der Rache der Musen sprechen die kleinen Musen eine Kindersprache und Zeus ist ihr „Papachen“ (V. 3).10 Sie beschweren sich über den Lärm und das wilde, ordinäre Gebaren „junger Dintenlecker“ (V. 5), die sich „hohe Sänger“ und „Barden“ nennen (V. 11f.).11 Zeus reagiert mit Humor. Melpomene, die Muse der Tragödie, soll sich als Furie verkleiden. Kaum erblicken sie die Poeten, stürzen sie sich auf sie:
8 9 10 11
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EBD., S. 31. EBD., S. 34. EBD., S. 68. EBD.
Die Problematik des Komischen bei Schiller Die Göttin abortiert hernach: Kam raus ein neuer – Almanach (V. 57f.).12
Die Anekdote ist nicht ohne Selbstironie, denn auch die Satire auf den Literaturbetrieb präsentiert sich als Almanach!
3. Die Figur des „drolligten Jauner“ in den Räubern und im Fiesko In Schillers Jugenddramen treten Figuren auf, die für den tragikomischen Charakter der Stücke von entscheidender Bedeutung sind. In den Räubern und im Fiesko trifft der Held jeweils auf eine Figur dieser Art, die im Fiesko (I, 9) „drolligter Jauner“13 genannt wird und in der Rollentradition der Komödie die „lustige Person“ bildet.14 Auch der Hofmarschall von Kalb in Kabale und Liebe gehört in diese Kategorie. In den Räubern ist es Spiegelberg, der mit seinen phantastischen Ideen und abenteuerlichen Plänen als Kontrastfigur zu Karl Moor fungiert. In einer längeren Unterredung mit Karl Moor entwickelt er seine absurden Vorstellungen von einem neuen Königreich, das ausgerechnet in Jerusalem geschaffen werden soll. Heute würde man daran Anstoß nehmen, dass Spiegelberg ein Jude ist und der „drolligte Jauner“ im Fiesko ein „Mohrenkopf“.15 Da das Stück insgesamt für die Zeitgenossen, für Zuschauer wie Obrigkeit, eine einzige Provokation war, fielen solche Details nicht auf.16 Aufsehen erregte dagegen ein anderer Plan Spiegelbergs. Er empfiehlt, nach Graubünden zu gehen, und lobt dessen „Spitzbubenklima“. Er nennt Graubünden „das Athen der heutigen Gauner“.17 Das führte zu einer Beschwerde Graubündens. Der Herzog bekam Ärger mit dem Ausland und verbot Schiller, weitere „Komödien“ zu schreiben.18
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EBD. S. 70. EBD. S. 659. IMMER, 2006, S. 254f. HA 1, S. 643. In der Vorlesung Die Sendung des Judentums kommt Schiller zu einer gerechteren Würdigung des Judentums (HA 4, S. 783ff.). 17 HA 1, S. 538. 18 EBD., S. 922 (Kommentar zu S. 538).
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Spiegelberg ist ein Phantast mit schwarzem Humor, eine Karikatur Karl Moors, des „erhabenen Verbrechers“19. „Erhabene Verbrecher“ und „drolligte Jauner“ gibt es später in den klassischen Dramen nicht mehr. Sie treiben „mit Entsetzen Scherz“20. Als Karl Moor mit seiner Epoche abrechnet und sie als „Kastratenjahrhundert“ anprangert, fühlt sich Spiegelberg berufen, eigene Ideen und Pläne zu entwerfen. Darauf „lacht“ Moor „aus vollem Halse“.21 Aber Spiegelberg ist nicht zu bremsen: „wenn mein kreißender Witz in die Wochen kommt […]. Große Gedanken dämmern auf in meiner Seele! Riesenplane gären in meinem schöpferischen Schädel. Verfluchte Schlafsucht! […] ich erwache, fühle, wer ich bin – wer ich werden muß!“ Karl Moor erwidert nur: „Du bist ein Narr.“22 Shakespeares Narren haben hier Pate gestanden. Franz nennt das Geschehen eine „Tragikomödie“23. Dazu gehören nicht nur Figuren wie Spiegelberg, sondern auch die satirische Darstellung eines Paters und einer Kirche, die bei allen Konflikten zur Partei der Mächtigen hält. Der Repräsentant der Kirche glaubt als Abgesandter der „hohen Obrigkeit“, den Räubern die Bedingungen diktieren zu können. Während Karl ihn auffordert, sich „kurz“ zu fassen, setzt der Pater zu einer Strafpredigt an, die aus einer Reihung von Substantivhäufungen, von „Zentnerwörtern“, besteht und den barocken Redestil imitiert: „[…] ihr Diebe – ihr Mordbrenner – ihr Schelmen – giftige Otterbrut, die im Finstern schleicht und im Verborgenen sticht – Aussatz der Menschheit – Höllenbrut – köstliches Mahl für Raben und Ungeziefer – Kolonie für Galgen und Rad –“.24 Die Strafpredigt wird zu einer unfreiwilligen Selbstparodie. Wenn das Lachen – nach Kant – „aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts“ besteht,25 dann gilt das auch für die missglückte Ansprache des Paters. Die Religionskritik Schillers gewinnt später im Don Carlos noch an Schärfe. Sie wird zur leidenschaftlichen Anklage, da ist für Komik und Satire kein Raum mehr. Im Fiesko verkörpert der Mohr den Typus des „drolligten Jauner“. Er war von Gianettino Doria, dem Neffen des Andreas Doria, des Dogen von Venedig, zur Ermordung Fieskos gedungen worden. Der Attentatsversuch misslingt. Fiesko verhört den gescheiterten Attentäter, gewinnt sein Vertrauen, verzichtet 19 20 21 22 23 24 25
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EBD., S. 622. EBD., S. 440 (Das Lied von der Glocke, V. 368). EBD., S. 504. EBD., S. 507. EBD., S. 526. Alle Zitate EBD., S. 550. KANT, 1959, S. 190.
Die Problematik des Komischen bei Schiller
auf eine Bestrafung und nimmt den dankbaren Mafioso in seine Dienste. Fiesko braucht für seine Pläne zur Rettung der Freiheit Venedigs vor dem Tyrannen Gianettino Doria umfassende Informationen aus allen Schichten der Bevölkerung, die ihm der Mohr beschaffen kann. In der Unterredung mit Fiesko erklärt der Berufsverbrecher seine von Stufe zu Stufe führende Karriere. Die Verbrecher sind wie eine Zunft organisiert, der Mohr hat seinen eigenen Ehrenkodex und sein Berufsethos. Es geht zum Erstaunen Fieskos in der kriminellen Zunft ähnlich zu wie im bürgerlichen Leben, allerdings mit einem nicht unerheblichen Unterschied, die ethischen Maßstäbe gelten spiegelverkehrt. Das größte Verbrechen wird in dieser Welt auch am meisten bewundert. Da Fiesko sich selber in seiner Auseinandersetzung mit dem skrupellosen Machtmenschen Gianettino Doria krimineller Mittel bedient, um nicht das Opfer weiterer Attentate zu werden, fällt es dem für seine Rettung dankbaren Mohr nicht schwer, die Fronten zu wechseln. Fiesko ist kein idealistischer Held, sondern ein komplizierter, gemischter Charakter, der sich um vermeintlich höherer, politischer Zwecke willen auch gegenüber seinen besten Freunden verstellt, der zum Schein mehrfach die Fronten wechselt, sodass selbst seine engsten Verbündeten an ihm irre werden – eine illusionslose Darstellung politischen Handelns. Als Fiesko entdeckt, dass der von ihm enttarnte Mohr von der Gegenseite ebenfalls enttarnt wurde und wiederum die Seiten gewechselt hat, lässt er ihn, seines Sieges sicher, großzügig entkommen. Der Auftritt (IV, 9) endet mit der launigen Reaktion des Delinquenten: „Das heißt, der Teufel läßt keinen Schelmen sitzen! – Gehorsamer Diener, ihr Herren – Ich merke schon, in Italien wächst mein Strick nicht. Ich muß ihn anderswo suchen.“26 Der Mohr bildet mit seinem Galgenhumor und seinem Lachen – „Ab mit Gelächter“ lautet die Bühnenanweisung – ein Gegengewicht zu dem dominierenden Tugendfanatismus einiger Revolutionäre. Man kann diese Art von Witz und Humor ablehnen,27 aber da das Verhältnis Mohr – Fiesko ähnlich gestaltet ist wie das zwischen Karl Moor und Spiegelberg und in dem historischen Drama Fiesko der Mohr eine von Schiller frei erfundene Figur ist, geht es hier um Figuren und Konstellationen, die von Schiller bewusst geschaffen wurden,28 um den tragikomischen Charakter dieser Szenen zu betonen.
26 HA 1, S. 724. 27 Vgl. ALT, 2004, Bd. 1, S. 344. 28 Zu Muley Hassan scheint es nur eine Spezialstudie zu geben: MÜLLER, 1972, S. 116-132.
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4. Komik und Satire im Bürgerlichen Trauerspiel. Zu Kabale und Liebe Das gelungenste Beispiel für die hier behandelte Thematik, die Verbindung des Tragischen mit dem Komischen und Satirischen in Schillers Jugenddramen, bildet Kabale und Liebe. Ein bürgerliches Trauerspiel. Die Intention, der Realität, die tragisch und komisch zugleich ist, auf diese Weise möglichst nahe zu kommen, ist geprägt vom Vorbild Shakespeares. Es ist kein Zufall, dass Auerbach in seinem Werk Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur als charakteristisches Beispiel für eine realistische Wirklichkeitsdarstellung in der deutschen Literatur gegen Ende des 18. Jahrhunderts Schillers Kabale und Liebe wählte.29 Eine besondere Brisanz bekommt das Stück durch die Konfrontierung des bürgerlichen Milieus mit dem Adelsmilieu. Die schonungslose Unterdrückung des Bürgertums durch den Adel, die Anprangerung der Machenschaften, an denen die weibliche Hauptfigur, nach der Schiller das Stück zuerst Luise Millerin nannte, zugrunde geht, die Konfrontation der pietistisch geprägten Familie des Musikus Miller mit der zynischen, machiavellistischen Denkweise der Repräsentanten des Adels hat auch nach über zweihundert Jahren nichts von ihrer Wirkung verloren. Die Liebestragödie der Luise Millerin ist eng verbunden mit der ständischen Gebundenheit des deutschen Kleinbürgertums gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Das künstliche, gewaltsam ausbalancierte Gleichgewicht zwischen Hütte und Palast gerät durch eine alle Grenzen negierende Liebe in Gefahr. Die erste Szene mit einem Gespräch zwischen Musikus Miller und seiner Frau über die sich anbahnende Beziehung ihrer Tochter Luise zu Ferdinand, dem Sohn des Präsidenten, des engsten Vertrauten des Landesfürsten, ist die Exposition der Tragödie. Durch die realistische Milieudarstellung entstehen jedoch immer wieder komische Momente, die den drohenden tragischen Konflikt in den Hintergrund drängen. Schon H. Koopmann bemerkt: „Nichts kann komischer wirken als der Eingang zu Schillers bürgerlichem Trauerspiel.“30 Dazu kommt, dass nur Miller den Ernst der Situation erfasst. Seine etwas beschränkte Frau träumt schon von einem gesellschaftlichen Aufstieg. Während Miller in der ersten Szene erregt auf und ab geht und überlegt, wie er weitere Besuche des Junkers verhindern kann, sitzt seine Frau „noch im Nachtgewand“ am
29 Vgl. AUERBACH, 1964, S. 404-421. 30 KOOPMANN, 1969, S. 272.
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Tisch und „trinkt ihren Kaffee“.31 Miller malt sich drastisch aus, was mit seiner Tochter alles passieren kann, seine Frau „schlürft eine Tasse aus“.32 Die Inszenierungen greifen die Anregungen, die mit den Bühnenanweisungen gegeben werden, gerne auf und versuchen sie noch zu steigern Die Frau unterbricht dann mehrfach die Reden Millers mit ihrem geräuschvollen Kaffeeschlürfen. Sie spricht, als sie das Wort ergreift, mit starkem Dialektanklang. Ihr Versuch, gegenüber dem Sekretär Wurm, der sich schon länger erfolglos um die Gunst der Tochter bemühte, die gebildete Dame zu spielen, misslingt durch ihre Vermischung von Hochdeutsch, Dialekt und schwäbisch klingenden französischen Brocken: „Herr Sekertare“, „Bläsier“, „barrdu“.33 Sie bringt ihren Mann geradezu in Rage, weil sie aus ihrem Stolz auf den adligen Umgang ihrer Tochter kein Hehl macht. Die Bühnenanweisung signalisiert eindeutig, wie die temperamentvolle Szene zu inszenieren ist: „voll Zorn seine Frau vor den Hintern stoßend“.34 Als die Frau weiterhin dumm-stolz daherredet, weiß sich Miller nicht anders zu helfen: „Willst das Violoncello am Hirnkasten wissen? […] Marsch du in deine Küche.“35 Das Gespräch des Ehepaars Miller mit dem intriganten Sekretär verläuft so dramatisch, weil sich im Hintergrund eine den bürgerlichen Rahmen in jeder Hinsicht sprengende tragische Liebe entwickelt. Es geht in dieser Szene um sehr ernste Dinge und die folgenden Ereignisse beweisen, dass Millers Befürchtungen, was das Schicksal seiner Tochter betrifft, nur allzu gerechtfertigt waren. Dennoch wird die Stimmung immer wieder aufgehellt, weil Miller in Überschätzung seiner Möglichkeiten glaubt, noch eingreifen und die Tochter retten zu können. Die Mutter verkennt den Ernst der Lage ohnehin, sodass hier die unfreiwillige Komik im Auftreten des Ehepaars Miller die tragischen Aspekte in der Exposition der Tragikomödie ein wenig verdrängt. Die komischen Elemente sind ein wesentlicher Bestandteil der realistischen Milieudarstellung. Es entsteht das gelungene Porträt einer Kleinbürgerfamilie, die unversehens durch ihre Tochter mit der höfischen Welt in Konflikt geraten ist und sich behaupten muss. Der Konflikt, in dem sich Miller als Untertan des Fürsten befindet, ist unlösbar. Einerseits ist er zu Gehorsam verpflichtet, andererseits kann er die beleidigende, erniedrigende Behandlung seiner Tochter nicht dulden. Wenn er 31 32 33 34 35
HA 1, S. 757. EBD. EBD., S. 760f. EBD., S. 760. EBD., S. 761.
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sich wehrt, gefährdet er sein Leben und das seiner Tochter. Wenn er die Vorwürfe und Verdächtigungen, die gegen ihn und Luise vorgebracht werden, akzeptiert, rettet er sein Leben und das seiner Tochter, verrät aber seine und ihre moralische Integrität. Als sich in II, 6 der Streit zwischen dem Präsidenten und Ferdinand und die entehrende Behandlung Luises durch den Präsidenten dem Höhepunkt nähern, ist Miller nicht länger zu halten. Die Bühnenanweisung spricht für sich: „Miller (der bis jetzt furchtsam auf der Seite gestanden, tritt hervor in Bewegung, wechselweis für Wut mit den Zähnen knirschend und für Angst damit klappernd).“36 Eine groteske Körpersprache wird hier vom Schauspieler verlangt. Zwei einander widersprechende Affekte beherrschen Miller und führen zu einem extremen, rasch wechselnden Gefühlsausdruck, der sich auch in seinen widersprüchlichen Formulierungen spiegelt: „Halten zu Gnaden – Wer das Kind eine Mähre schilt, schlägt den Vater ans Ohr, und Ohrfeig um Ohrfeig – Das ist so Tax bei uns – Halten zu Gnaden“.37 Seine Frau ruft dazwischen: „Hilf, Herr und Heiland! – Jetzt bricht auch der Alte los.“ Miller wehrt sich gegen die Vorverurteilung seiner unschuldigen Tochter und geht zum Gegenangriff über: „[…] mit Buhlschaften dien ich nicht. Solang der Hof da noch Vorrat hat, kommt die Lieferung nicht an uns Bürgersleut. Halten zu Gnaden.“38 Mit der Schlussfloskel kehrt Miller nach seiner Kritik schnell wieder in seinen Status als gehorsamer Bürger zurück. Tragikomische Figuren dieser Art gibt es nicht in den klassischen Tragödien, die dem hohen Stil, der stilreinen Gestaltung des Erhabenen und nicht einem Tragisches und Komisches mischenden Realismus verpflichtet sind. Die mit Abstand lächerlichste Figur in Kabale und Liebe, im Bühnenjargon geradezu eine „Knallcharge“, wurde bisher übergangen. Es ist der Hofmarschall mit dem sprechenden Namen „von Kalb“. Beim ersten Auftritt des Hofmarschalls in der 6. Szene des 1. Aktes verrät die ausführliche Bühnenanweisung Schillers, wie die Figur aufzufassen ist: „Hofmarschall von Kalb, in einem reichen, aber geschmacklosen Hofkleid, mit Kammerherrnschlüsseln, zwei Uhren und einem Degen, Chapeau-bas und frisiert à la Hérisson. Er fliegt mit großem Gekreisch auf den Präsidenten zu und breitet einen Bisamgeruch über das ganze Parterre.“39 Die komische Wirkung dieses an satirischen Einfäl-
36 37 38 39
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EBD., S. 795. EBD. EBD. EBD., S. 771.
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len reichen Auftritts wird durch den für die Tragikomödie charakteristischen raschen Wechsel von Komik und Tragik noch besonders betont. Wieder geht es um die „Auflösung einer gespannten Erwartung in Nichts“,40 die Figur selbst ist ein einziger Witz. In der vorhergehenden Szene entwickelte der Präsident mit Wurm einen intriganten Plan, um Ferdinand von Luise zu trennen, sie mit Wurm und Ferdinand mit der früheren Geliebten des Herzogs zu verheiraten. In diesem Spiel soll auch der Hofmarschall eine Rolle übernehmen. Schiller lässt es sich nicht entgehen, bei dieser Gelegenheit das „geistige Niveau“ des Hofmarschalls bloßzustellen. Auf die Frage des Präsidenten, was er zu seinen Plänen sage, antwortet dieser: „(mit einem Schafsgesicht). Mein Verstand steht still.“ Der Präsident erwidert trocken: „Das könnte noch hingehen“.41 Es wurde so ausführlich referiert, um daran zu erinnern, mit welchem Vergnügen der junge Schiller hier das höfische Leben in der Residenz eines kleinen deutschen Fürstentums parodiert. Der Hofmarschall übernimmt die Rolle des „drolligten Jauner“, der komischen Figur in Kabale und Liebe. Dabei sind auch die komischen und grotesken Szenen keine beliebigen Einlagen, sondern kunstvoll mit dem tragischen Prozess verbunden, der die gesamte Entwicklung prägt. Schiller entwickelt hier, wie zu Recht bemerkt wurde, „mit hoher Virtuosität“ eine Form der „Gesellschaftssatire“, „zu der er später nicht mehr zurückkehrt.“42 Auch wenn man sich in der Schillerforschung mittlerweile an diese Entwicklung gewöhnt hat, ist sie alles andere als selbstverständlich.
5. Komik in Gelegenheitsdichtungen Bevor wir uns der klassischen Ästhetik zuwenden, möchte ich in aller Kürze noch an zwei kleinere Texte erinnern, die zeitlich zwischen Kabale und Liebe und dem Don Carlos liegen. Es sind anspruchslose, heitere Gelegenheitsdichtungen, die Schillers Begabung für Komik und Satire, gerade weil sie ohne jeden Ehrgeiz nebenbei verfasst wurden, aufs Schönste dokumentieren. Schiller hat die kleine Komödie Körners Vormittag, der Titel stammt nicht von ihm, so wenig ernst genommen, dass er sie nicht veröffentlicht hat. Sie wurde 1862
40 KANT, 1959, S. 190. 41 HA 1, S. 804. 42 ALT, 2004, Bd. 1, S. 366.
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publiziert 43 und erst in letzter Zeit stärker beachtet.44 Es geht um Episoden aus dem Zusammenleben Schillers mit seinem Freund Körner, dessen Gattin Minna und dem Freundeskreis der Familie. In den Szenen von Körners Vormittag, einer Posse, die zum Geburtstag Körners am 2. Juli 1787 verfasst wurde, parodiert Schiller Körners erfolglose Versuche, an einem Vormittag, im Kampf mit zahlreichen Alltagsgeschäften, ständig gestört von Personen, die ihn dringend sprechen möchten, vor Beginn einer Sitzung des Konsistoriums, noch etwas zu schreiben. Es handelt sich um seinen Part in den Philosophischen Briefen zwischen Julius und Raphael. Schiller tritt auf, er hofft, endlich das Manuskript mit Körners Raphael-Brief mitnehmen zu können. Körner, der sich gerade rasieren lässt und gleichzeitig seinen literarischen Pflichten nachzukommen versucht, ist allerdings schon im ersten Satz stecken geblieben. Er vertröstet Schiller, dem die nun auftretende Minna vorhält, er störe hier nur ihren Mann: „Sieht er denn nicht, daß er ins Konsistorium muß – Hanswurst!“ Schiller verteidigt sich nur schwach, Körner versucht seine „mit schrecklichem Durchbruch“45 geradezu explodierende Minna zu beruhigen. Während dieses Disputs muss Schiller die Bühne bereits verlassen haben, denn er kommt nun in einem anderen Kostüm als Musikalienhändler aus dem Bekanntenkreis wieder, der Körner Noten verkaufen möchte. Auch in dieser Rolle parodiert sich Schiller selber. Der Don Carlos ist noch nicht abgeschlossen, aber er versucht bereits, ihn Akt für Akt unter die Leute zu bringen. Kaum hat Schiller die Bühne wieder verlassen, erscheinen weitere Personen aus Körners Bekanntenkreis. Ein Professor Becker mit Nachrichten aus Politik und Wissenschaft, dann Dorchen, Minnas Schwester, die verkündet, dass kein „Wirtschaftsgeld“ mehr da sei, und Huber mit einer von ihm stammenden Übersetzung aus dem Französischen, aus der er vorzulesen beginnt, obwohl niemand zuhört und das allgemeine Chaos immer größer wird. Mittlerweile ist auch noch ein Schuhmacher erschienen. Die Bühnenanweisung lautet: „Schuster kniet und mißt Stiefel an, Gottlieb rasiert, Minna bringt eine Tasse, Huber geht auf und ab, liest“.46 Nachdem Huber, immer wieder unterbrochen, seinen Satz zu Ende gebracht hat: „Rom ist zweimal der Sitz einer Universalmonarchie gewesen“, ist Minnas Geduld zu Ende. Sie „gibt ihm eine
43 44 45 46
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Vgl. den Kommentar HA 2, S. 1301. Vgl. ALT, 2004, Bd. 1, S. 426f.; IMMER, 2006, S. 262f. HA 2, S. 1077. EBD., S. 1079.
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Ohrfeige“ und geht ab mit den Worten: „Pack Er ein mit seinem Wisch – Esel.“47 Dann kommen weitere Bekannte, Schiller erscheint zwischenzeitlich auch einmal in einer weiblichen Rolle. Die Bühne füllt sich immer mehr, das Chaos nimmt zu, Körner hat die ominöse Sitzung mittlerweile versäumt, die Uhr schlägt, Schiller ist auch wieder da und ruft mit den anderen: „Aber lieber Gott! Wie hast Du den ganzen Vormittag hingebracht?“ Körner antwortet würdevoll: „Ich habe mich rasieren lassen!“48 P.-A. Alt rühmt zu Recht den komischen Kontrast zwischen Körners phlegmatischer Haltung und dem Tempo der rasch aufeinander folgenden Auftritte.49 Der andere hier zu berücksichtigende Text wirkt wie eine Szene aus einer Slapstick-Komödie, die während der Arbeit am Don Carlos entstand. Das lange Ringen mit dem kaum zu bändigenden Stoff hängt unter anderem damit zusammen, dass sich Schiller hier von seiner Sturm und Drang-Dramatik löst. Es geht um eine Gestaltung des Tragischen im Zeichen des hohen Stils, des Erhabenen, das keine Stilmischung mit dem niederen Stil und seinen realistischen Elementen erlaubt. Das Komische existiert nur noch inoffiziell, in häuslichen Szenen, in denen Schiller sich selbst und seine Arbeit an der entstehenden Tragödie parodiert. Da dieser Text kaum bekannt sein dürfte, wird er etwas ausführlicher zitiert. Das Gedicht wird zunächst mit einem Titel von barocker Umständlichkeit angekündigt: Untertänigstes Pro-Memoria an die Consistorialrat Körnerische weibliche Waschdeputation in Loschwitz eingereicht von einem niedergeschlagenen Trauerspieldichter.50 Dann folgt unter dem eigentlichen Titel Bittschrift ein längeres Gedicht, das aus neun vierzeiligen Strophen mit dem Reimschema a b a b besteht. Der Dichter beklagt sich über seine Situation, sein Kopf ist „schwer wie Blei“, „Die Tobaksdose ledig“, der „Magen leer“. Die erste Strophe endet mit dem Seufzer: „Der Himmel sei / Dem Trauerspiele gnädig“.51 Die Nöte des Poeten steigern sich von Strophe zu Strophe: „Wer kann Empfindung und Gefühl / Aus hohlem Herzen pumpen?“ Dazu kommt noch die Kälte. Die 3. Strophe endet mit der Bitte: „O Phöbus, hassest Du Geschmier, / so wärm auch deine Sänger.“52 Am meisten aber stört das klatschende Geräusch, wenn die Wäsche vor seiner Tür mit voller Wucht 47 48 49 50 51 52
EBD. EBD., S. 1082. Vgl. ALT, 2004, Bd. 1, S. 426. HA 1, S. 143. EBD., S. 143f. EBD., S. 144.
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auf einen Stein geschlagen wird, um zu trocknen. Dazu kommt noch eine geräuschvoll arbeitende „Küchenzofe“ (V. 14). Dennoch besteigt der Poet mutig das geflügelte Pferd, schon ist er in Madrid, eilt durch die Galerie und wird Zeuge der auf einem verhängnisvollen Missverständnis beruhenden Begegnung zwischen Don Carlos und der Fürstin Eboli: Jetzt sinkt sie an des Prinzen Brust, Mit wonnevollem Schauer, In ihren Augen Götterlust, Doch in den seinen Trauer. Schon ruft das schöne Weib Triumph, Schon hör ich – Tod und Hölle! Was hör ich? – einen nassen Strumf Geworfen in die Welle. Und weg ist Traum und Feerei, Prinzessin, Gott befohlen! Der Teufel soll die Dichterei Beim Hemderwaschen holen.53
Die Unterschrift lautet: „gegeben in unserm jammervollen Lager ohnweit dem Keller. F. Schiller. Haus- und WirtschaftsDichter.“54 Es ist schon bemerkenswert, wie souverän Schiller hier seine eigene Situation und die äußeren Umstände, unter denen der Don Carlos entstand, ironisiert. Der gleiche selbstironische Abstand gegenüber seiner „Dichterei“ prägt auch Körners Vormittag, bei dem Schiller nicht als melancholischer, mit dem Don Carlos ringender Poet auftritt, sondern unter anderem auch als agiler Geschäftsmann, der das noch nicht abgeschlossene Werk bereits Akt für Akt unter die Leute zu bringen sucht. Wenn man den Begriff der Parodie weiter fasst und ihn nicht nur auf Texte bezieht, womit man allerdings den halbwegs sicheren Boden der Literaturwissenschaft verlässt, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass sich Schiller in Körners Vormittag und in dem Untertänigsten Pro-Memoria als Poet selbst parodiert. B. Spies hat die verschiedenen Ebenen der Parodie, darunter auch die „Selbstparodie“ analysiert. Er versteht darunter allerdings die fiktiven 53 EBD., S. 144f. [Herv. i. O.]. 54 EBD., S. 145.
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Selbstparodien in Löhrs Roman Das Erlkönig-Manöver und ist dabei zu einem paradoxen Resultat gekommen: „Das in der Selbstparodie abgelieferte Eingeständnis der eigenen historischen Relativität“ vernichtet klassische Texte nicht, sondern schafft die Möglichkeit „einer neuen Annäherung“.55 Ein „neue Annäherung“ an Schiller, den man im Allgemeinen so nicht kannte, ermöglichen vielleicht auch Körners Vormittag und die ironische Bittschrift.
6. Wachsende Distanz gegenüber dem Komischen in der klassi schen Ästhetik Mit der Entwicklung der klassischen Ästhetik und der klassischen Tragödie verschwinden die zu den frühen Tragödien gehörenden Elemente des Komischen. Im Schaubühnen-Aufsatz schrieb Schiller noch: „Das Glück der Gesellschaft wird ebenso sehr durch Torheit als durch Verbrechen und Laster gestört. Eine Erfahrung lehrt […], wenn wir Handlungen zu ihrer Quelle zurückbegleiten, wir zehenmal lächeln müssen, ehe wir uns einmal entsetzen.“56 Diese Diagnose fordert geradezu die Komödie als Medium einer realistischen Darstellung: „Mein Verzeichnis von Bösewichtern wird mit jedem Tage […] kürzer, und mein Register der Toren vollzähliger und länger.“57 Es ist für den jungen Schiller die Komödie, „die der großen Klasse von Toren den Spiegel vorhält und die tausendfachen Formen derselben mit heilsamem Spott beschämt.“ Der spätere Tragiker tendiert zu einer Priorität des Lustspiels. Bei dem Versuch, „Lustspiel und Trauerspiel nach dem Maß der erreichten Wirkung zu schätzen, […] würde vielleicht die Erfahrung dem ersten den Vorrang geben.“58 Genau diese positive „Erfahrung“ mit der Komödie wird Schiller später zurücknehmen. Er wird keine Komödie nennen können, die den Anforderungen der klassischen Ästhetik genügt. Dennoch wird er aus prinzipiellen Erwägungen an der Priorität der Komödie festhalten. Wenn man die Entwicklung vom Don Carlos bis zur Braut von Messina als Resultat einer immer stärker werdenden Grundtendenz versteht, dann kommt darin eine zunehmende Distanzierung der Literatur von der banalen Realität zum Ausdruck, der Wille, durch Stilisierung von Form und Inhalt die Autono55 56 57 58
SPIES, 2013, S. 445f. HA 5, S. 825. EBD. EBD.
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mie der Literatur zu betonen. Dazu gehört auch der Wechsel vom Prosa- zum Versdrama, wodurch sich Schiller von den tragikomischen, um Volkstümlichkeit bemühten Elementen seiner Sturm und Drang-Dichtung löst. Die Ursache für diese Entwicklung kann nicht in einem Mangel an Talent für das Komische liegen, wie die angeführten Beispiele belegen. H. Koopmann vertritt die Auffassung, dass die Kant-Lektüre die Ursache für Schillers Entscheidung für die Tragödie war.59 Dass die Kant-Lektüre nicht nur für Schillers philosophische, sondern auch für seine künstlerische Entwicklung von entscheidender Bedeutung gewesen sein soll, überrascht zunächst, wird aber verständlicher, wenn man sie nicht isoliert betrachtet und auch andere Faktoren berücksichtigt. Kants „Analytik des Erhabenen“ lieferte Schiller zunächst die philosophische Basis für seine Theorie der Tragödie. Da das Erhabene bei Kant dem Schönen entgegengesetzt wird, ist von dieser Seite an ein Zusammenspiel von Komik und Tragik und von Stilmischungen nicht zu denken. Damit hängt ein noch weiterer Aspekt zusammen, der Schillers Kunstbegriff nachhaltig beeinflusste. Im Jahre 1785 veröffentlicht Schiller den Brief eines reisenden Dänen, in dem er seinen Besuch des Mannheimer Antikensaals und die Begegnung mit antiken Plastiken darstellt. Der Einfluss Winckelmanns ist unübersehbar: „Empfangen von dem allmächtigen Wehen des griechischen Genius trittst du in diesen Tempel der Kunst. Schon deine erste Überraschung hat etwas Ehrwürdiges, Heiliges.“60 Mit dem „Tempel der Kunst“, mit der Betonung ihres sakralen Charakters fällt das entscheidende Stichwort, das eine quasireligiöse Einstellung gegenüber der Kunst, ihre Sakralisierung und die Entwicklung einer „Kunstreligion“61 anzeigt. In diesem Zusammenhang sind die Bürger-Rezension und die Verteidigung des Rezensenten von besonderem Interesse, weil Schiller hier noch vor den großen theoretischen Schriften sein neues poetologisches Credo formuliert. Die Rezension und die Verteidigung verraten mehr über Schiller als über Bürger. Die von Bürger intendierte Volkstümlichkeit seiner Gedichte wird kritisiert, weil sie sich dem Geschmack und dem Niveau des Volkes anpasse, dabei müsse es das Ziel des wahren Dichters sein, das Volk zu sich emporzuheben. Aus der Aufgabe der Dichtung, die Beschränkungen und Abhängigkeiten des modernen Lebens wenigstens zeitweise zu überwinden und den Menschen an 59 Vgl. KOOPMANN, 1969, S. 277ff. 60 HA 5, S. 880. 61 Zum Begriff der „Kunstreligion“ vgl. AUEROCHS, 2006, und MÜLLER, 2004.
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seine Bestimmung zur Freiheit zu erinnern, ergibt sich die Verpflichtung moderner Dichtung, zu „idealisieren“.62 Bei diesem Gestaltungsprozess stellt der Dichter zugleich sich selber dar. Darauf beruht ein weiterer Leitsatz von Schillers Ästhetik: „Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität“.63 Dass sich bei jeder künstlerischen Darstellung indirekt zugleich auch der Autor darstellt, ist eine moderne Problematik und für Schiller ein Charakteristikum des sentimentalischen Dichters, das nicht für den naiven Dichter gilt. An diesem Punkt der Überlegungen vollzieht Schiller in der Auswahl seiner literarischen Vorbilder einen Paradigmenwechsel, der für den Übergang vom Sturm und Drang zur Klassik und die damit verbundene Trennung des Tragischen und des Komischen charakteristisch ist. Seine Probleme mit Shakespeare, dem literarischen Vorbild seiner Sturm-und-Drang-Epoche, führt Schiller jetzt auf den ‚naiven‘ Charakter dieser Dichtungen zurück. Er kritisiert Shakespeares „Kälte, seine Unempfindlichkeit, die ihm erlaubte, im höchsten Pathos zu scherzen, die herzzerschneidenden Auftritte im ‚Hamlet‘, im ‚König Lear‘, im ‚Macbeth‘ usf. durch einen Narren zu stören“.64 Die Wirkung des Tragischen wird nun für Schiller durch die Indifferenz des Komischen, das frei von Furcht und Mitleid ist, vernichtet. Die für Shakespeare charakteristische Vermischung des Komischen mit dem Tragischen, die das Vorbild für die komischen und satirischen Elemente in Schillers Sturm und Drang-Dramen war, passt nicht mehr zur Poetik des Klassikers, der sich immer stärker an der antiken Tragödie orientiert. Das ist die Gegenposition zu der noch in Über die tragische Kunst vertretenen Ansicht, dass die „blinde Unterwürfigkeit unter das Schicksal“ in der griechischen Tragödie „demütigend und kränkend für freie, sich selbst bestimmende Wesen“ sei.65 Schiller bedauerte damals, dass in der antiken Tragödie „zuletzt an die Notwendigkeit appelliert wird.“ Er ist überzeugt, dass es „auf der höchsten und letzten Stufe […] zu welcher die rührende Kunst sich erheben kann“, gelingen wird, den „einzelnen Mißlaut in der großen Harmonie aufzulösen. Zu dieser reinen Höhe tragischer Rührung hat sich die griechische Kunst nie erhoben“.66 Die „moderne Kultur“ ist „der Poesie nicht günstig“. Die einzige Ausnahme bildet „die tragische Kunst, welche mehr auf dem Sittlichen ruhet. Ihr allein ersetzt vielleicht unsere Kultur den Raub, den sie an der Kunst 62 63 64 65 66
HA 5, S. 971; 980; 986ff. EBD., S. 972 [Herv. i. O.]. EBD., S. 713. EBD., S. 380f. EBD., S. 381.
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überhaupt verübte.“67 In dieser interessanten Passage betont Schiller indirekt den Vorrang der Tragödie vor der Komödie, weil sie „auf dem Sittlichen ruhet“ und weil sie alle Dissonanzen in einer „großen Harmonie“ aufzulösen vermag. Diese optimistische metaphysische Dimension der Tragödie war nach Kants Metaphysikkritik nicht mehr zu halten und wird deshalb später fallengelassen. Schillers Überzeugung von der humanisierenden Wirkung großer Dichtung zwingt ihn zum Kampf gegen die Literatur, die diese Wirkung gefährden könnte, weil sie sie nicht ernst nimmt. Um die schwer zu bändigende Kraft des Komischen zu domestizieren, schreibt er einen Essay Über den Gebrauch des Gemeinen und 8iedrigen in der Kunst. Das „Niedrige“ ist in der Kunst nur erlaubt, wenn es „Lachen erregen soll“.68 Damit verschiebt Schiller alles, was Lachen erregt, auf die unterste Stilebene: „Scherze, die uns an einem Menschen von Erziehung unerträglich sein würden, belustigen uns im Munde des Pöbels.“ Er zieht enge Grenzen und kritisiert wieder einmal „viele Szenen“ des Aristophanes, die „diese Grenze überschreiten und schlechterdings verwerflich sind.“69 Da er derbere Scherze nur in Possen und Farcen akzeptiert, verbannt er im Grunde genommen das Lachen aus der hohen Literatur. Auch die Parodie ist nur als Bereicherung nicht sehr angesehener Varianten des Komischen erlaubt: „Sobald es der Dichter bloß auf ein Lachstück anlegt“, darf er auch Parodien verwenden.70 Mit der Satire verfährt Schiller großzügiger. Die Termini Satire, Elegie und Idylle werden in diesem Zusammenhang nicht als Gattungsbegriffe verwendet, sondern zur Charakterisierung von „Empfindungsweisen“ in der sentimentalischen Dichtung.71 Sie sind der Ausdruck für verschiedene Möglichkeiten des Verhältnisses von Natur und Kunst oder Ideal und Wirklichkeit. Schiller unterscheidet in Über naive und sentimentalische Dichtung zwischen einer „scherzhaften“, zur Komödie gehörenden Form der Satire und einer „pathetischen“ Satire, die in die Tragödie gehört und von Schiller höher geschätzt wird.72 Zur Gattung Komödie ergibt sich aus Schillers Äußerungen ein widersprüchliches Bild. Während die griechische Tragödie für den klassischen Schiller ein Vorbild für alle Zeit bleiben wird, wie die antiken Statuen im „Tempel der 67 68 69 70 71 72
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EBD. EBD., S. 539. EBD. EBD. EBD., S. 728, Anm. 1. EBD., S. 722.
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Kunst“73, hat er bei der griechischen Komödie Vorbehalte. Aber auch für die französische Komödie bringt er wenig Verständnis auf. Keine der bekannten Komödien entspricht seinem Komödienideal, das als Antithese zur Tragödie entworfen wird. Der zivilisatorische Prozess führt zwar zu einer wachsenden Entfremdung des Menschen von der Natur, aber „ein mächtiger und unvertilgbarer Trieb, der moralische, treibt ihn auch unaufhörlich zu ihr zurück, und eben mit diesem Triebe steht das Dichtungsvermögen in der engsten Verwandtschaft.“74 Die Verbindung des „Dichtungsvermögen[s]“ mit dem moralischen Trieb, der den Menschen zur Natur zurückführt, begründet den hohen Anspruch an die Dichtung, der in manchen Formulierungen ein geradezu religiöses Sendungsbewusstsein annimmt. Das führt zu rigorosen Abgrenzungen. Schiller betont, dass „alle sogenannten Werke des Witzes ganz mit Unrecht poetisch heißen, ob wir sie gleich lange Zeit, durch das Ansehen der französischen Literatur verleitet, damit vermenget haben.“75 Die Leichtigkeit des Komischen verträgt sich nicht mit der Dichtung eines sentimentalischen Autors, dem es vor allem um „die Erhebung der Wirklichkeit zum Ideal“, um die „Darstellung des Ideals“ geht.76 Bei Versuchen, das Verhältnis von Komödie und Tragödie genauer zu bestimmen, stellt Schiller zunächst fest, dass die Tragödie „das wichtigere Objekt“ behandelt. Wenn man jedoch danach fragt, „welche von beiden das wichtigere Subjekt erfordere“, dann dominiert für Schiller die Komödie. Schillers Denken in Antithesen könnte ein Grund sein, warum es bei der Kontrastierung von Komödie und Tragödie die Zwischenform der Tragikomödie oder andere Verbindungen zwischen dem Tragischen und dem Komischen, wie sie für die Jugenddramen charakteristisch sind, in der klassischen Ästhetik und den entsprechenden Dramen nicht mehr gibt. Da Schiller Pathos und Gefühl mit der Tragödie verbindet, die Ausdruck einer „erhabenen Seele“ ist, gehört im Rahmen der antithetischen Ästhetik zur Komödie die „schöne Seele“.77 Sie muss sich nicht in einem Aufschwung von der Last der Realität befreien, sondern beherrscht diese souverän in ruhiger Verstandesüberlegenheit und heiterer Unerschütterlichkeit. Schiller fasst seine Überlegungen folgendermaßen zusammen: „Der Tragiker muß sich vor dem 73 74 75 76 77
EBD., S. 880. EBD., S. 716. EBD. EBD., S. 717. EBD., S. 725.
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ruhigen Räsonnement in acht nehmen und immer das Herz interessieren; der Komiker muß sich vor dem Pathos hüten und immer den Verstand unterhalten.“ Das Ziel des einen ist „Erregung“, das des anderen „Abwehrung der Leidenschaft“.78 In diesem dualistisch strukturierten Modell stehen sich Komödie und Tragödie diametral gegenüber. Zwischen schön und erhaben, Verstand und Gefühl, Komödie und Tragödie gibt es ebenso wenig eine Vermittlung, wie zwischen Anmut und Würde, was allerdings theoretische Synthesen wie das Idealschöne nicht ausschließt. Der Dualismus der klassischen Ästhetik, der bei Schiller in dem allgemeinen Dualismus von Geist und Natur verankert ist, verhindert tragikomische Zwischenformen und begründet Schillers Ringen um das Tragische, um eine Sakralisierung der Tragödie, die in der Braut von Messina ihren Höhepunkt erreicht. Damit kontrastiert als Antithese das Ideal einer Komödie, die, wenn es Wirklichkeit würde, die „Tragödie überflüssig und unmöglich machen“ würde, weil jedes Pathos sinnlos geworden ist. Das „Ziel“ der Komödie ist es, „frei von Leidenschaft zu sein, immer klar, immer ruhig um sich und in sich zu schauen, überall mehr Zufall als Schicksal zu finden und mehr über Ungereimtheit zu lachen als über Bosheit zu zürnen oder zu weinen.“79 Was hier als Antithese zur Tragödie angedeutet wird, als Befreiung des Menschen von der Last der Endlichkeit, erinnert an die ästhetische Aufhebung der „Zeit in der Zeit“80, an das freie Spiel des „ästhetischen Zustands“ in den Briefen Über die ästhetische Erziehung.81 Das klassische Komödienideal führt zu enormen Verdrängungen und zur Ausgrenzung zahlreicher Autoren der Weltliteratur: „Der Komödiendichter, dessen Genie sich am meisten von dem wirklichen Leben nährt, ist eben daher auch am meisten der Plattheit ausgesetzt.“82 Er nennt Aristophanes, Plautus und „fast alle der spätern Dichter“: „Wie tief läßt uns nicht der erhabene Shakespeare zuweilen sinken, mit welchen Trivialitäten quälen uns nicht Lope de Vega, Molière […]“. Die Intoleranz, mit der Schiller hier Autoren, die seinem Literaturbegriff nicht entsprechen, kritisiert, hängt mit einer in der klassischen Ästhetik sich vollziehenden Annäherung von Kunst und Religion zusammen. Die Kunstreligion gewinnt, gerade in Verbindung mit der Tragödie, eine immer größere Bedeutung. Die für den klassischen Schiller charakteristische 78 79 80 81 82
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EBD. EBD., S. 726. EBD., S. 613 (Ästhetische Erziehung, 14. Brief). EBD., S. 633 (Ästhetische Erziehung, 20. Brief). Vgl. IMMER, 2006, S. 277. HA 5, S. 757.
Die Problematik des Komischen bei Schiller
Dominanz der Tragödie und die Abwertung aller „niedrigen“ Formen des Komischen ist allerdings nicht unbedingt die notwendige Konsequenz einer idealistischen Ästhetik. Hegel hat in seiner Ästhetik keine Probleme mit der Anerkennung des Lachens und einer Komik in ihren derben, volkstümlichen Ausprägungen. Er lobt Shakespeares Narren und Rüpel und sieht auch in Aristophanesʼ deftigen Scherzen keinen Verstoß gegen die Würde der Kunst: „Ohne ihn gelesen zu haben, läßt sich kaum wissen, wie dem Menschen sauwohl sein kann.“83 Während für Hegel die Kunstreligion in der Antike entstand und mit ihr endet, bleibt für Schiller die enge Beziehung der Kunst zur Dimension des Numinosen auch nach dem Untergang der antiken Welt erhalten. Die Kunst ist auch nicht mehr nur Durchgangsstufe zu Religion oder Philosophie, sondern deren Vollendung. In einem Brief vom 4. November 1795 schreibt Schiller: „In der Poesie endigen alle Bahnen des menschlichen Geistes.“ Das bedeutet: „Die höchste Filosofie endigt in einer poetischen Idee, so die höchste Moralität, die höchste Politik. Der dichterische Geist ist es, der allen Dreien das Ideal vorzeichnet, welchem sich anzunähern ihre höchste Vollkommenheit ist.“84 Schiller bereitet hier den Kunstenthusiasmus Schellings und Wackenroders vor. In dem seit der Aufklärung geführten Prioritätenstreit zwischen Kunst, Philosophie und Theologie vertritt er die Position der Kunst. Es liegt nahe, Schillers Wallenstein, das erste große nach Abschluss der klassischen Ästhetik entstandene Werk im Lichte dieser Vorgaben zu interpretieren. Schiller selbst hat Wallensteins Lager als „Lustspiel“85 bezeichnet und damit das Stichwort gegeben. Für G. Kaiser ist das Lager „die einzige große Komödie Schillers“.86 Goethes Charakterisierung des Schauspiels als „Lustund Lärmspiel“87 wird zur Bestätigung angeführt. Das Lager präsentiert die Armee in ihrer bunten Vielfalt, Soldaten der verschiedensten Regimenter treten auf, wesentliche Themen der Trilogie klingen an, der Dreißigjährige Krieg und der alles dominierende Feldherr Wallenstein werden in den Äußerungen der Soldaten lebendig. Das virtuose Zusammenspiel dramatischer, „erzähleri-
83 HEGEL, [1966], Bd. 1, S. 493. Hegels Stellung zur volkstümlichen Lachkultur behandelt LINDNER, 1977, S. 274f. 84 Brief an Charlotte v. Schimmelmann vom 4. November 1795; SCHILLER, 1943ff., Bd. 28, S. 99. Im Folgenden abgekürzt mit NA und Bandangabe. 85 Brief an KÖRNER vom 30. September 1798; NA 29, S. 280. 86 KAISER, 1977, S. 333. 87 EBD.
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scher und komödiantischer Elemente“88, das erst die Charakterisierung einzelner Figuren, die Darstellung der verschiedenen Situationen und die Erörterung der komplexen politischen Lage aus Sicht der Soldaten ermöglicht, wird von P.-A. Alt zu Recht gerühmt. Dennoch bleibt das Vorspiel zur bedeutendsten Tragödie, die Schiller geschaffen hat, eine Komödie mit düsterem Hintergrund. Die Soldaten ahnen etwas von dem Machtkampf zwischen Wallenstein und dem Wiener Hof, der auch ihr Schicksal entscheidet: „In dieser bedenklichen Lage endigt das Stück“,89 bemerkt Goethe. Das ist kein Komödienschluss, sondern eher die Vorbereitung des Zuschauers auf die Tragödie. N. Immer vertritt deshalb die Auffassung, die in Über naive und sentimentalische Dichtung entworfene ideale Komödie sei nicht zu realisieren und Körners Vormittag bleibe „Schillers einzige Komödie“.90 Da die sentimentalische Komödie jede Tragödie „überflüssig und unmöglich machen“91 würde, dürfte die Trilogie, wenn das Lager das realisierte Komödienideal Schillers wäre, eigentlich nicht mit ihr beginnen, sondern müsste mit ihr schließen. Was durch das Lager aber erreicht wird, ist die Trennung des Komischen und des Tragischen. Schillers rastlose Entwicklung führte dazu, dass er sich schon bald vom Wallenstein distanzierte. Er schreibt 1801 an Körner, es gehe ihm um die „einfache Tragödie, nach der strengsten griechischen Form.“ Er habe „auch eine Idee zu einer Komödie, fühle aber […], wie fremd mir dieses Genre ist.“ Es klingt wie ein enttäuschter Abschied von der Komödie, wenn er hinzufügt: „meine Natur ist doch zu ernst gestimmt; und was keine Tiefe hat, kann mich nicht lange anziehen.“92 Die Kunstreligion gewinnt, gerade in Verbindung mit der Tragödie, eine immer größere Bedeutung. In der Vorrede zur Braut von Messina verteidigt Schiller seinen Synkretismus der drei Weltreligionen, des Christentums, der griechischen Antike und des Islam, denn: „Unter der Hülle aller Religionen liegt die Religion selbst, die Idee eines Göttlichen, und es muß dem Dichter erlaubt sein, dieses auszusprechen.“93 Was hier als Sakralisierung der Dichtung, vor allem der Tragödie bezeichnet wurde, erlaubt keine tragikomischen Mischformen.
88 89 90 91 92 93
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ALT, 2004, Bd. 2, S. 433f. GOETHE, 1950, S. 15. IMMER, 2006, S. 262. HA 5, S. 726. An Körner, 13. Mai, 1801; NA 31, S. 36. HA 2, S. 823.
Die Problematik des Komischen bei Schiller
7. Ausblick Es ist eine Ironie der Literaturgeschichte, dass später vor allem die Gestaltungselemente, die der ‚Idealisierung‘ dienen, in der Schiller-Rezeption in satirischen und parodistischen Umgestaltungen ad absurdum geführt werden. Sei es nun die Braut von Messina in G. Hauptmanns Ratten oder Die Jungfrau von Orleans in B. Brechts Heiliger Johanna der Schlachthöfe, Maria Stuart in W. Hildesheimers Mary Stuart oder Demetrius in V. Brauns Dmitri, um nur einige Beispiele zu nennen, kein deutschsprachiger Dramatiker ist bis heute so intensiv rezipiert und dabei zugleich parodiert worden wie Schiller. Die Konfrontation der modernen Welt mit der klassischen Tragödie führt für moderne Autoren zu einer „aus dem Pathos sprießenden Komik“, um M. Walsers Novelle Dorle und Wolf anzuführen.94 So ist die Schiller-Rezeption des 20. und 21. Jahrhunderts bei aller Anerkennung für den Klassiker auch Ausdruck einer ironischen Distanzierung, die das von Schiller im Rahmen der klassischen Ästhetik verdrängte Komische wieder in seine Rechte einsetzt. Es entsteht allerdings ein falscher Eindruck von Schillers Entwicklung, wenn man nicht wenigstens erwähnt, dass er in der letzten Phase seines Schaffens noch einmal einen Neuanfang plante, der den strengen Kunstbegriff der Klassik relativiert. Es zeigt sich, dass in Schillers Entwicklung philosophische Ästhetik und literarische Praxis immer weiter auseinanderstreben. Die produktive Phantasie folgt ihren eigenen Gesetzen. Es sei nur an die Debatten erinnert, ob Schillers Demetrius, an dem er bis zu seinem Tod arbeitete, den Rahmen der klassischen Ästhetik sprengt. Er ist geradezu das Gegenbild zu Schillers Jungfrau von Orleans. Beide vertrauen ihrer inneren Stimme, nur bei Johanna ist es Gottes Stimme, die ihr den Auftrag gibt, Frankreich zu retten, Demetrius wird Opfer einer Selbsttäuschung, als er seiner inneren Stimme folgt, die ihm suggeriert, er sei der legitime Thronfolger und berufen, Russland zu retten. Ebenso lassen die dramatischen Fragmente Die Polizey und Die Kinder des Hauses erkennen, dass Schiller mit einer Dramengattung experimentiert, die mit dem klassischen Kanon wenig zu tun hat. Hier bricht eher sein frühes Interesse an Kriminalfällen und der Psychologie des Kriminellen wieder durch. Dazu kommt die Faszination über die Polizeiarbeit in einer modernen Großstadt wie Paris, die Schiller durch Merciers Tableaux de Paris (1782/83) kann-
94 WALSER, 1987, S. 62.
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te. Vom ‚Idealisieren‘ ist hier nicht die Rede. Schiller plante ein Streitgespräch zwischen Argenson, dem Chef der Polizei, und einem „Philosophen und Schriftsteller“, das die „Überlegenheit des Realisten über den Theoretiker“ sichtbar machen sollte.95 Der Entwurf eines Kriminalstücks vor dem Hintergrund einer modernen Weltstadt, die „Überlegenheit des Realisten“ gegenüber dem „Theoretiker“, das Fehlen jeder ‚Idealisierung‘ – alles deutet darauf hin, dass sich hier eine lange unterdrückte Antithese zum Idealismus der Klassik zu Wort meldet. Es ist kein Zufall, dass sich Schiller in seiner letzten Schaffensphase, nach dem Aufenthalt in Berlin, als er mit dem Gedanken spielte, Weimar zu verlassen, erneut mit diesem Stoff und dem Demetrius beschäftigte. So wie sich die klassische Ästhetik als Antithese zum Sturm und Drang begreift, so kündigt sich hier ein Abschied von den Normen der Klassik an, was nur den Eindruck betätigt, dass Schillers künstlerische Entwicklung ihre Dynamik aus der Bewältigung polarer Spannungen bezieht. Bemerkenswert ist auch, dass Schiller in den Skizzen zwischen Trauerspiel- und Lustspielentwürfen schwankt96 oder notiert: „Es ist eine Menge Volks beisammen, und die Anordnung darf ins Komische fallen. Weiber führen dabei das große Wort...“,97 was die Bevorzugung der Tragödie und die Absage an die Komödie in dem oben zitierten Brief an Körner98 relativiert.
Literatur Primärliteratur GOETHE, JOHANN WOLFGANG, Weimarischer neudekorierter Theatersaal. Dramatische Bearbeitung der Wallensteinischen Geschichte durch Schiller, in: J. W. Goethe – Gedenkausgabe, hg. von ERNST BEUTLER, Bd. 14: Schriften zur Literatur. Einführung u. Textüberwachung von FRITZ STRICH, Zürich u. a. 1950, S. 13-17. HEGEL, GEORG WILHELM FRIEDRICH, Ästhetik, Bd. 1, hg. von FRIEDRICH BASSENGE, Frankfurt/M. o. J. [1966]. KANT, IMMANUEL, Kritik der Urteilskraft, Hamburg 1959. 95 96 97 98
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HA 3, S. 192. Vgl. dazu BERGHAHN, 2006, S. 555 und DÜSING, 2002, S. 156f. Vgl. HA 3, S. 190 u. 196. EBD. S. 52. An Körner, 13. Mai, 1801; NA 31, S. 36.
Die Problematik des Komischen bei Schiller
SCHILLER, FRIEDRICH, Werke. Nationalausgabe, Briefwechsel, hg. von JULIUS PETERSEN/NORBERT OELLERS, Weimar 1943ff. [Bd. 28 (1969), Bd. 29 (1977)]. DERS., Sämtliche Werke in 5 Bänden, auf der Grundlage der Textedition von HERBERT G. GÖPFERT hg. von PETER-ANDRÉ ALT u. a., München, Wien 2004. WALSER, MARTIN, Dorle und Wolf. Eine Novelle, Frankfurt/M. 1987.
Sekundärliteratur ALT, PETER-ANDRÉ, Schiller. Leben – Werk – Zeit, 2 Bde, München 22004. AUERBACH, ERICH, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (Sammlung Dalp 90), Bern 31964. AUEROCHS, BERND, Die Entstehung der Kunstreligion (Palaestra 323), Göttingen 2006. BERGHAHN, CORD-FRIEDRICH, Schiller in Berlin. Über die Optionen einer urbanen Kultur, in: Der ganze Schiller – Programm ästhetischer Erziehung (Ereignis Weimar-Jena 15), hg. von KLAUS MANGER in Verb. mit NIKOLAS IMMER, Heidelberg 2006, S. 545-559. DÜSING, WOLFGANG, Der Klassiker und das Kriminalstück. Schillers Fragmente Die Polizey und Die Kinder des Hauses, in: Zeitenwende – die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses, Wien 2000, hg. von PETER WIESINGER, unter Mitarbeit von HANS DERKITS, Bd. 6 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A: Kongreßberichte 58), Bern 2002, S. 155-161. IMMER, NIKOLAS, „alle Tragödie überflüssig und unmöglich machen“. Schiller und die Komödie, in: Der ganze Schiller – Programm ästhetischer Erziehung (Ereignis Weimar-Jena 15), hg. von KLAUS MANGER in Verb. mit NIKOLAS IMMER, Heidelberg 2006, S. 251-279. KAISER, GERHARD, Wallensteins Lager. Schiller als Dichter und Theoretiker der Komödie, in: Schillers Wallenstein (Wege der Forschung 429), hg. von FRITZ HEUER/WERNER KELLER, Darmstadt 1977, S. 323-346. KOOPMANN, HELMUT, Schiller und die Komödie, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 13 (1969), S. 272-285. LINDNER, BURKHARDT, Das Lachen im Tempel des Schönen. Zur Subversivität des Komischen in der Autonomieperiode, in: Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik, hg. von KARL OTTO CONRADY, Stuttgart 1977, S. 267-282.
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MÜLLER, ERNST, Ästhetische Religiosität und Kunstreligion. In den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus, Berlin 2004. MÜLLER, JOACHIM, Die Figur des Mohren im Fiesko-Stück, in: DERS., Von Schiller bis Heine, Halle/S. 1972, S. 116-132. SPIES, BERNHARD, Was kann die Parodie? Überlegungen zu ihrem ästhetischen Potenzial, in: Mimesis, Mimikry, Simulatio. Tarnung und Aufdeckung in den Künsten vom 16. bis zum 21. Jahrhundert. Festschrift für Erwin Rotermund (Musik, Gesellschaft, Geschichte 6), hg. von HANNS-WERNER HEISTER/BERNHARD SPIES, Berlin 2013, S. 431-447.
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II. Weltbezug als Geltungsanspruch des komischen Urteils
Unfreiwillige Komik Strukturelle Subjektivität, mediale Kontextualisierung, literarische Re-Inszenierung CARSTEN JAKOBI 1. Zw ei Beispiele und eine klassische Erklärung Seinen letzten bundesweit beachteten Auftritt hatte der seinerzeitige rheinlandpfälzische Ministerpräsident Kurt Beck am 3. Oktober 2012, dem Tag der Deutschen Einheit, der in jenem Jahr turnusgemäß in München zelebriert wurde. Wenige Tage nach der Verkündigung seines Rücktritts wurde er dort von einem Fernsehteam seines heimischen Südwestrundfunks inmitten einer interessierten Menschenmenge interviewt, in deren Schutz sich hinterrücks ein Bayrischer Steuerzahler in das Gespräch einmischte: Bayrischer Steuerzahler: Wir Bayern bezahlen den Nürburg-Ring! Beck (zur Interviewerin): Ich glaube, dass es ganz wichtig ist … Bayrischer Steuerzahler: Und ʼn Betzenberg! Beck (zur Interviewerin): … dass wir, äh, … Bayrischer Steuerzahler: Pfälzer klauen das bayrische Geld! Beck (wendet sich abrupt zu Bayrischem Steuerzahler): Könnten Sie mal ʼs Maul halten ʼn Moment, einfach ʼs Maul halten, … Bayrischer Steuerzahler: Ich bin nur ehrlich! Ich bin nur ehrlich! Beck (zu Bayrischem Steuerzahler gewandt): … wenn ich ’n Interview mach! Das is nich ehrlich, das is dumm, aber das is der Unterschied.
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Carsten Jakobi Bayrischer Steuerzahler: Aber ich finds gut, dass Sie zurücktreten. Beck (wieder zur Interviewerin gerichtet, ärgerlich) Also, jetzt is doch mal gut, also irgendwo … (abschließendes Nicken) Können wir noch mal, ja? [Blende] Interviewerin (aus dem Off): Warum das Thema Bürgerbeteiligung jetzt als Diskussionsthema? Beck (zur Interviewerin): Ich glaube, das ist eine der großen Herausforderungen der Zukunft, denn, ähm, wir haben natürlich unsere Demokratie immer stark aus der Abgrenzung zu diese, zu dieser furchtbaren Nazidiktatur, zu dem DDR-Regime, ähm, begründet, und ich glaube, das reicht nicht mehr, um junge Menschen zu überzeugen.1
Ob dies den offenbar nicht mehr ganz so jungen Bayrischen Steuerzahler überzeugte, ist nicht überliefert, aber jedenfalls fraglich. Denn Beck verfängt sich, und zwar ohne es zu wollen, in der Falle, dass sein Loblied auf die aktive Bürgerbeteiligung von einer – unbestellten – Manifestation der Bürgerbeteiligung gestört wird, und diesen Widerspruch löst er nicht dadurch auf, dass er sich auf eine Diskussion einlässt, sondern indem er dem engagierten Citoyen Zwischenrufer Redeverbot erteilt. Der inhaltliche Widerspruch erfährt eine gleichsam habituelle Fortsetzung, indem Beck bei seiner Zurechtweisung derbe Sprache benutzt, um in seinem dann wieder ungestörten Statement sich staatsmännischer Bedachtsamkeit zu bedienen, und der Übergang von der Publikumsbeschimpfung zur Umschmeichelung des demokratischen Untertans wird auch körperlich markiert, nämlich durch ein abschließendes interpunktierendes Nicken und eine Straffung der Körperhaltung. Beck ist dieser Widerspruch und die dadurch geleistete Selbstaufhebung seiner Nationalfeiertagsäußerungen selbst nicht klar, er ist sich offenbar der Peinlichkeit der Szene keineswegs bewusst und bemüht sich daher nicht um eine Selbstkorrektur – wie auch immer diese aussehen könnte –, wir werden mithin Zeugen eines unfreiwilligen Selbstwiderspruchs, und zwar konkreter: unfreiwilliger Komik. Die komische Wirkung dieses Phänomens zu beschreiben, stellt keine sonderliche Schwierigkeit dar. Die klassischen Theorien des Komischen lassen sich auch heranziehen für den Sonderfall unfreiwilliger, also nicht intentional veranstalteter Komik, soweit diese Theorien sich nicht mit der Produktion,
1
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Hier transkribiert nach: http://www.youtube.com/watch?v=CZSAwX_ocvI.
Unfreiwillige Komik
sondern der Erscheinungsform des Komischen und mit seiner adäquaten Rezeption, dem Lachen, befassen. Schopenhauer erläutert: Das Lachen entsteht jedesmal aus nichts Anderem, als aus der plötzlich wahrgenommenen Inkongruenz zwischen einem Begriff und den realen Objekten, die durch ihn, in irgend einer Beziehung, gedacht worden waren, und es ist selbst eben nur der Ausdruck dieser Inkongruenz.2
In der Tat: Ein Ministerpräsident, der sich qua demokratischer Ermächtigung und seinem Begriff nach als Repräsentant des Volkes verstehen darf, kollidiert hier mit einem realen Objekt, dessen Beziehung zum Begriff gerade darin besteht, Teil dieser Legitimationsinstanz namens ‚Volk‘ zu sein. Hegel weiß über das Lachen zu berichten, „daß dasselbe durch einen sich unmittelbar hervortuenden Widerspruch, durch etwas sich sofort in sein Gegenteil Verkehrendes, somit durch etwas unmittelbar sich selbst Vernichtendes erzeugt wird“3 – womit für das Exemplum Beck dem Gesichtspunkt der für die Komik konstitutiven Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit des Kontrasts Rechnung getragen werden kann. Hegel und Schopenhauer, in nicht eben häufiger Eintracht, sehen in den zitierten elementaren Bestimmungen des Komischen also von dessen Subjekt ab, da in diesem Stadium der Theoriebildung, die sich dem komischen Objekt widmet, derjenige, der einen komischen Widerspruch veranstaltet, noch keine Rolle spielt. Wird Komik als etwas registriert, das zum Lachen anstiftet, ist lediglich von einem Subjekt die Rede, das an der Produktion des komischen Effekts gar nicht beteiligt ist, sondern ihn – wenn es gut geht – im Resultat goutiert. Mit diesem begrifflichen Instrumentarium ließe sich auch analysieren, wie 2002 der ambitionierte Kanzlerkandidat Edmund Stoiber bei seinem Auftritt auf dem CDU-Bundesparteitag ausgerechnet in dem Moment stolperte (Abb. 1), als er durch ein betont energisch-federndes Besteigen einer Parteitagstreppe zu beweisen versuchte, dass er über alle nötigen Attribute eines künftigen Bundeskanzlers verfüge: Souveränität, Entschlossenheit, körperliche Präsenz, Geistesgegenwart.
2 3
SCHOPENHAUER, 1988 [1819], S. 102. [Herv. i. O.]. HEGEL, 1999 [1830], S. 113f.
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Abb. 1: Edmund Stoiber verfehlt das Kanzleramt 4
Im ungewollten Bruch mit dieser Demonstrationsabsicht liegt auch hier ein Phänomen unfreiwilliger Komik vor, das mit Hegel, Schopenhauer oder einem beliebigen anderen Inkongruenztheoretiker5 geklärt werden könnte; wobei sich an der Sache nichts dadurch ändert, dass Stoiber sich – anders als Kurt Beck – über die Peinlichkeit des Ereignisses im Klaren war und ihm womöglich in diesem Augenblick dämmerte, dass er den schon sicher geglaubten Wahlsieg verschenkt hatte.
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Erstaunlicherweise ist der Sturz nicht auf den üblichen Internetvideoplattformen zu finden. Bildquelle: http://www.welt.de/img/deutschland/crop102157641/509872 4831-ci3x2l-w620/Stoiber-DW-Politik-Duesseldorf.jpg. Vgl. einen Spiegel-Bericht, der Stoibers Sturz mit den sinkenden demoskopischen Zustimmungswerten der Union kontextualisiert: WEILAND, 2002. Vgl. zuletzt: KINDT, 2011.
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2. Das Subjekt des komischen Effekts – empirisch und strukturell Bekanntlich bleibt die literaturwissenschaftliche und philosophisch-ästhetische – anders als die anthropologische oder soziologische – Komiktheorie nicht auf dieser Stufe der theoretischen Bemühung um die Erscheinungsformen von (lebensweltlicher) Komik stehen, sondern wendet sich alsbald auch der literarischen, allgemeiner gesagt: der inszenierten Komik zu, wenn sie die Funktionsweise von Witzen oder die Funktionalisierung des komischen Effekts, etwa in der Satire oder der Komödie, analysiert. Der Übergang erscheint dabei, als würde der elementaren Bestimmung nur noch ein subjektiver Gesichtspunkt, nämlich derjenige der Intentionalität hinzugefügt: Der Satiriker verfügt über einen Maßstab der Beurteilung, an dem er das von ihm kritisierte Objekt misst und scheitern lässt;6 dieses Scheitern verdankt sich aber einem Subjekt, das den Vergleich anstellt, das Ergebnis des Vergleichs in ein Bild fasst und dem komischen Effekt – dem anschaulich gemachten Selbstwiderspruch – die Evidenz für die Angemessenheit seines kritischen Urteils überträgt. Aber an der Funktionsweise des komischen Effekts als solchem scheint die Intentionalität nichts zu ändern – sonst gäbe es keine unfreiwillige Komik.7 Unfreiwillige Komik wirkt deshalb so komisch, weil ihr offenkundig etwas fehlt, was bei intentionaler Komik zwar vorliegt, dort aber verschleiert werden muss: dass nämlich der komische Effekt auf einem auf der Produktionsseite angesiedelten subjektiven Vorsatzes beruht, etwas als komisch (d. h. in sich hinfällig) kenntlich zu machen. Denn wenn ein Subjekt nötig ist, dann versteht sich die Hinfälligkeit des Objekts offenbar keineswegs von selbst. Und zur unfreiwilligen Komik gehört eben auch, dass ihr Rezipient gerade nicht unterstellt, dass sie eigentlich intentional operiert, sondern im Gegenteil: Sie geschieht ohne ‚bloß‘ 6 7
Vgl. zur elementaren Bestimmung der satirischen Schreibweise nach wie vor BRUMMACK, 2003, bes. S. 355f. Nicolai Hartmann geht, basierend auf seiner Unterscheidung von Komik (als einer Qualität des Gegenstandes) und Humor (der subjektiven Disposition zur Auffassung von Komischem), so weit zu behaupten: „Alle echte Komik, die uns im Leben begegnet, ist unfreiwillige Komik. Auf den Brettern gibt es freiwillige Komik, bei der der Mensch sich bewußt zum komischen Objekt macht; aber es ist gemimte Komik.“ HARTMANN, 1966 [1953], S. 415. Diese – z. T. bereits von Kemper zustimmend zitierten (vgl. KEMPER, 2009, S. 8) – Sätze sind insofern zu kritisieren, als sie an die Stelle einer Erklärung des Unterschieds von freiwilliger und unfreiwilliger Komik ihre lebensweltliche Situierung treten lassen.
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subjektiven Vorsatz. In Fällen unfreiwilliger Komik ist das komikkonstitutive Moment der unmittelbaren Evidenz von vornherein gegeben und gerade nicht erst Resultat einer bestimmten Darstellungsweise. Man braucht auf die Einblicke der literaturwissenschaftlichen Komikforschung nicht zu verzichten, wenn es um unfreiwillige Komik, also scheinbar etwas ganz anderes geht. Für die intentionale Komik, wie sie in jedem literarischen Text oder jeder als komisch intendierten Alltagsrede auftaucht, hat Dieter Lamping Folgendes festgehalten: Komik ist daher im einfachsten Fall, und das ist der Fall der lebensweltlichen Komik [Lampings Ausdruck für unfreiwillige Komik], ein Reaktionsphänomen: ein Subjekt findet in einer bestimmten Situation ein Objekt komisch. Im komplexeren Fall, und das ist etwa der Fall der literarischen Komik, ist sie ein Kommunikationsphänomen: ein Subjekt findet in einer bestimmten Situation ein Objekt komisch, das ein anderes Subjekt zu diesem Zweck produziert oder manipuliert hat. Insofern kann es mißverständlich sein, von objektiv komischen Gegenständen in der Literatur zu sprechen. Die ‚Gegenstände‘ sind hier immer schon ‚gemacht‘, sie sind ein Produkt der literarischen Darstellung.8
Die von Lamping vorgenommene Unterscheidung zwischen Komik als Reaktionsphänomen und als Kommunikationsphänomen möchte ich dahingehend modifizieren, dass damit nicht zwei verschiedene Erscheinungsformen eines komischen Objekts beschrieben werden, sondern verschiedene Modi seiner Produktion und Rezeption. Interessieren soll hier dagegen eher eine Gemeinsamkeit in der Qualität dieses Objekts9 – das freilich durchaus Rückschlüsse auf seine Genese erlaubt, auch wenn diese im komischen Objekt selbst aufgehoben ist, wie jeder Arbeits- und Vermittlungsprozess in seinem Produkt erlischt.10 So betrachtet, lässt sich durchaus auch unfreiwillige Komik als Resultat subjektiver Bemühung verstehen. Der unfreiwilligen Komik fehlt zwar ein
8 9
LAMPING, 1994, S. 61 [Herv. i. O.]. Kindt geht in diesem Sinne an einer Stelle seiner ambitionierten Untersuchung auf die nachgeordnete Relevanz der Intentionalität komischer Texte ein, wenn er schreibt: „Wenn eine Textpassage im Sinne der entwickelten Bestimmung komisch ist, dann muss das nicht heißen, dass sie von ihrem Urheber komisch gemeint war oder von Lesern je komisch gefunden wurde oder wird.“ KINDT, 2011, S. 137 [Herv. i. O.]. 10 In seiner allgemeinsten Bestimmung des Arbeitsprozesses sagt Marx: „Der Prozeß erlischt im Produkt.“ MARX, 1962 [1867], S. 195.
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Unfreiwillige Komik
empirisch dingfest zu machendes Subjekt – der sich in einem Selbstwiderspruch verfangende Akteur leistet diese Funktion nicht; der stolpernde Edmund Stoiber hat gerade nicht den Entschluss gefasst, sich vor der versammelten Weltpresse auf den Bauch zu legen –, aber es liegt gleichsam im Phänomen ein immanenter Verweis auf ein solches Subjekt vor; ich nenne es im Folgenden – im Unterschied zum empirischen Subjekt intentional veranstalteter Komik – das strukturelle Subjekt unfreiwilliger Komik. Die theoretische Leistung dieser Kategorie wird durch ein charakteristisches Phänomen von Komik deutlich, das Anlass geben sollte, die klassischen Formulierungen eines komischen Kontrasts zu präzisieren, die von einem sich selbst aufhebenden Widerspruch reden: Die Momente des Selbstwiderspruchs müssen zueinander passen, im Sinne einer konkreten 'egation einer bestimmten Selbstdarstellung. Nicht jedes Scheitern ist nämlich komisch: Wenn Edmund Stoiber beim Torwandschießen beim VfB Hintertupfing 09 nicht trifft, ist dies – als isoliertes, nicht in einen anderen Kontext gestelltes Phänomen – nicht komisch, weil es kein Dementi der Prätention ist, ein souveräner Kunstschütze zu sein, auch wenn sich Stoiber redlich Mühe gibt zu treffen. Diese Prätention wird nämlich gar nicht erhoben – solche Veranstaltungen gelten vielmehr dem Beweiszweck der ‚Volkstümlichkeit‘, die schlechterdings durch keine Ungeschicklichkeit beim Balltreten dementiert werden kann. Umgekehrt: Kurt Becks Interview wäre allenfalls ein Drittel so komisch, wenn es darin nicht um Bürgerbeteiligung, sondern um die Energiewende gegangen wäre. Insofern also die beiden Seiten des Widerspruchs auch der Sache nach aufeinander bezogen sind, verweisen sie darauf, dass jemand oder etwas diese Qualität erkannt und zum Thema gemacht haben könnte. Dass dieser ‚jemand‘ empirisch nicht existiert, ändert nichts an dessen strukturellem Subjektstatus. Darin, dass für diese Subjektposition ein empirisches Korrelat fehlt, liegt die spezifische Form jenes ‚Als ob‘, das insgesamt für die Komik, auch die intentional veranstaltete, konstitutiv ist: nämlich der Anschein der Objektivität, die in der unfreiwilligen Komik ausnahmsweise einmal gegeben ist, wodurch das relativierende ‚Als ob‘ empirisch dementiert ist.
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3. Bild- Text-Verhält nisse und ihre inszenatorische Kontextualisierung: Worüber in der Pannenshow gelacht w ird Am ungebrochensten tritt dieser unmittelbare Anschein in seiner optischen Erscheinung auf. Veranschaulichen lässt sich dies an einem Bild aus dem Fotoband Liebespaare bitte hier küssen! des Kabarettisten Jess Jochimsen:
Abb. 2: Reichhaltige Tourismusangebote (© Uli Maier, Sammlung Jess Jochimsen)11
11 JOCHIMSEN, 2013, unpaginiert [S. 68]. – Ich danke Jess Jochimsen und dem dtv für die freundliche Abdruckgenehmigung.
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In paradigmatischer Reihung werden drei in ihrer Qualität recht verschiedene, kompositionell durch das Zweitglied -hof jedoch sprachlich eng verwandte Örtlichkeiten auf einen Nenner gebracht, deren Zusammentreffen über die Richtungsangabe hinaus noch sinnfällig macht, dass die menschliche Ansiedlung, die Stätte dieses Zusammentreffens ist, nicht gerade verschwenderisch mit Sehenswürdigkeiten ausgestattet ist, wenn schon der Friedhof morphologisch und lokal in einer paradigmatischen Reihe mit touristischen Zielen auftaucht. Der Effekt resultiert nicht aus einem subjektiven Arrangement des Fotografen: Das Motiv ist nicht gestellt, sondern entspricht dem Blick eines Passanten vor Ort, und der Bildausschnitt ist nicht manipulativ (im Sinne einer Weglassung oder einer durch absichtsvolle Einstellung produzierten optischen Ergänzung von weit voneinander entfernt liegenden Motiven), sondern realisiert lediglich die einzige Perspektive, unter der alle drei Hinweisschilder lesbar sind. Eine Subjektposition ergibt sich allein daraus, dass hier drei Örtlichkeiten, die räumlich mehr oder minder weit auseinanderliegen, optisch an einem einzigen Punkt zusammengebracht werden, nämlich an einem gemeinsamen Pfeiler, wodurch ihnen scheinbar auch eine unangemessene sachliche Äquivalenz verliehen wird. Daraus resultiert der Eindruck, die gemeinsame Installation sei das Resultat eines komischen Kalküls, bei gleichzeitiger Einsicht, dass ein solches Kalkül nicht existiert. Zu ergänzen ist allerdings, dass das Bild einem Fotoband entnommen ist, der fast ausschließlich aus komischen Fotoabbildungen besteht. Solche kontextualisierten Funde sind fast der Regelfall, sucht man nach Phänomenen unfreiwilliger Komik – einzelne Objekte sind in einen größeren und häufig explizit als komisch gekennzeichneten medialen Kontext eingebettet: in Satirezeitschriften oder in Büchern, und Fernsehen und Internet borden geradezu über von mehr oder weniger fest etablierten einschlägigen Sendeformaten, Plattformen und Foren. Diese Kontextualisierung verdient in mehrerlei Hinsicht Interesse, da sie mit wachsendem Institutionalisierungsgrad das komische Subjekt, wie es aus der intentionalen Komik bekannt ist, ins Spiel bringt: Das strukturelle Subjekt unfreiwilliger Komik erhält sein empirisches Korrelat durch den subjektiven Akt medialer Integration der Einzelobjekte oder deren Aufbereitung. In dieser Aufbereitung liegt nämlich oft genug eine Präzisierung des vorfindlichen Selbstwiderspruchs oder eine Zuspitzung seiner Anschaulichkeit vor. Schon am Eingangsbeispiel lässt sich dies erkennen, denn in dem Fernsehbericht findet sich zwischen Kurt Becks Ausfälligkeit und seinem Lob auf die
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Bürgerbeteiligung erkennbar ein Schnitt, der offenbar einen zeitlichen Abstand zwischen den beiden Äußerungen tilgt und damit die Unmittelbarkeit des Selbstwiderspruchs profiliert. Die Fernsehsendung Upps – die Pannenshow, die seit 2005 in geradezu epidemischem Ausmaß zum Lachen anreizende Heimvideos vorführt, bedient sich nicht qualitativer Kürzung, sondern quantitativer Häufung: Sie produziert allein schon durch die Serialität ihrer Präsentation einen inszenatorischen Überschuss über die Komik des dokumentierten Einzelfalls. Das bloße Material der isolierten Videoclips wirkt nämlich oft genug keineswegs komisch; gezeigt werden mit Vorliebe Personen, die hinfallen, Motorsportler, die von ihren Fahrzeugen katapultiert werden, oder Tiere, die sich allzumenschlich aufführen. Ich erspare mir das einschlägige Material und versuche stattdessen eine Erklärung dafür, worauf die Komik strauchelnder Menschen – ein Paradebeispiel unfreiwilliger Komik – zurückzuführen sein könnte. Schon lange vor der Erfindung des Films, des Fernsehers und der Videokamera, nämlich 1761, hat Justus Möser – natürlich in Anschluss an Aristoteles – in seiner Schrift über den Harlekin festgestellt, dass das Missverhältnis von Größe und Stärke eine denkbare Quelle des Lachens sei. Und zwar mit einer bemerkenswerten Differenzierung: Ein Mann fällt zur Erde, und neben ihm stürzt ein Kind. Man lacht über den ersten, weil man seiner Größe Stärke genug zutraute, um sich vor dem Fall zu bewahren. Letzteres im Gegenteil erweckt Mitleid.12
12 MÖSER, 1981 [1761], S. 326. – Selbst dass man über den stürzenden Mann als solchen lacht, ist bezweifelt worden, nämlich durch August Ernst Umbreit, der in seiner Ästhetik von 1838 kritisiert, dass man in theoretischen Überlegungen „das Lächerliche beim Hinfallen eines Erwachsenen als ein oft beliebtes Beispiel gebrauchen sieht, welches doch, wenn nicht interessante Specialien dabei im Spiele sind, einer nachhaltigen Fülle von Lächerlichkeit entbehrt“. UMBREIT, 1838, S. 191. Der Zweifel ist insofern produktiv, als er festhält, dass sich die Qualität des Lächerlichen (ich sehe hier von dem Unterschied zwischen dem Komischen und dem Lächerlichen ab, der in der philosophischen Ästhetik, etwa bei Hegel, eine wichtige Rolle spielt, da er für meine Fragestellung keine Bedeutung besitzt) im Regelfall nicht als solche einstellt. Wenn Umbreit hier von „interessante[n] Specialien“ spricht, die hinzutreffen müssen, damit das Hinfallen eines Erwachsenen lächerlich wirke, zerlegt er allerdings ein Objekt in voneinander unabhängige Elemente – als müsste z. B. ein alberner Hut dazukommen, um den komischen Effekt zu erzielen –, die doch jeweils aufeinander bezogene Momente dieses Objekts sind. Um beim Beispiel zu bleiben: Es ist gerade der misslingende Gebrauch der motorischen Fähigkeiten eines Erwachsenen, der die konkrete Negation und damit die Komik produziert.
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Die Beobachtung lässt sich damit erklären, dass das menschliche Straucheln durchaus verschiedener Qualität sein kann. Beim Erwachsenen ist das Hinfallen gleichbedeutend mit dem Scheitern eines ernstgemeinten, wenn auch nicht sonderlich anspruchsvollen Plans, der auf das intellektuelle und physische Verfügen über die eigene Situation abzielt. Im Zutagetreten des Widerspruchs als eines Verhältnisses einander negierender Momente macht sich dem Anschein nach eine strukturell subjektive Absicht geltend. Es ließe sich skalieren, in welchem Maße der Plan des Strauchelnden Aussicht auf Verwirklichung oder Anerkennung beanspruchen kann, wovon wiederum die Quantität und irgendwann auch die Qualität des komischen Effekts abhängt: Der stolpernde Millionär oder Kanzlerkandidat ist komischer als der Obdachlose, dieser wiederum komischer als ein kleines Kind. Dass Letzteres weniger zum Lachen reizt, dürfte aber nicht mit der von Möser ins Feld geführten moralischen Behauptung zu erklären sein, dass man mit dem Kind automatisch Mitleid habe: Warum sollte dieses nicht auch dem Erwachsenen gelten? Umgekehrt: Warum sollte die von Bergson so genannte „Anästhesie des Herzens“13 – die in der Rezeption von Komik sich vollziehende moralische und intellektuelle Distanzierung von Betroffenheit – nicht auch bei der Wahrnehmung eines kindlichen Scheiterns eintreten? Diesem kindlichen Scheitern fehlt allerdings die Dimension eines fehlgehenden Plans, denn das kleine Kind verfügt gerade noch nicht über die intellektuelle oder motorische Souveränität, die aus einem Sturz einen praktizierten Selbstwiderspruch im Sinne ihrer konkreten Negation macht. Warum in der Pannenshow dennoch pausenlos Filme weinender Kleinkinder gezeigt werden und offenbar beim Publikum genreadäquat rezipiert werden, hängt von einigen Techniken der Präsentation, ihrer Quantität und ihrer Qualität ab. Der quantitative Gesichtspunkt ist insofern entscheidend, als sich in der Fülle des stereotypen Materials scheinbar eine einsichtsvolle Regel manifestiert: Die Häufung der im wahrsten Sinne des Wortes ‚Fälle‘ suggeriert das Scheitern als geheimes Ordnungsmuster des menschlichen – und gelegentlich auch tierischen – Agierens: eine Psychopathologie des Alltagslebens.14
13 BERGSON, 1991 [1900], S. 15. – Dass diese „Anästhesie des Herzens“ etwas anderes meint als die Harmlosigkeit des verlachten Objekts bzw. seiner ‚Fehler‘, ist in der Komikforschung oft unter verschiedensten Blickwinkeln diskutiert worden; diese Diskussion kann hier nicht referiert oder gar weitergeführt werden. Vgl. dazu KINDT, 2011; LAMPING, 1994; JAKOBI, 2005. 14 Diese suggerierte Ordnung der Regelverletzung halten soziologische Theorien des Lachens für dessen gesellschaftlichen Normalfall. Siehe z. B. BERGER, 1998
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Hinzu kommt die ästhetische Kontextualisierung durch eine launige und auf den Bewegungsablauf der Bilder abgestimmte musikalische Orchestrierung, die dem Geschehen eine choreografische Ordnung unterstellt, wodurch das angeblich unfreiwillig komische Bild zur bloßen Bebilderung einer komischen Inszenierung wird.15 Eine entsprechende Nonsens-Kommentierung aus dem Off tut ihr Übriges.16 Angesichts solch üppiger Kontextualisierung bleibt von der unfreiwilligen Komik kaum mehr übrig als die Behauptung, dass sie vorliege – dazu später mehr.
4. (Sprach-)Denkmäler des Alltagslebens und die Leistungen der äst hetischen Kontext ualisierung: Von Stilblüt ensammlungen zu Telefonstreichprotokollen Kommen wir zu vorwiegend sprachlichen Erscheinungsformen unfreiwilliger Komik. Das erste Beispiel (Abb. 3) ist jedem regelmäßigen Besucher des Philosophicums der Universität Mainz bekannt:
[1997], S. 44: „Das Komische ist au fond eine Suche nach Ordnung in einer ordnungslosen Welt.“ [Herv. i. O.]. 15 Die verwendete Musik ist dabei ganz auf ihre rhythmische Dimension reduziert. Der Refrain der Titelmelodie Happy Hour wird hingegen immer wieder offenbar wegen der semantischen Signalwirkung seiner Titelzeile („It’s Happy Hour Again“) angespielt. Dabei ist es offenbar nebensächlich, dass es sich bei dem Song um eine Satire auf die Alltagskultur der britischen Klassengesellschaft handelt, dargeboten von den Housemartins, einer marxistischen Independent-Pop-Band der 1980er Jahre. 16 Die Off-Kommentierung der versammelten Unglücksfälle durch den Komiker Monty Arnold bedient sich sprachlich bei dem berühmt-berüchtigten ‚Schnodderdeutsch‘, mit dem in den 1970er Jahren deutsche Synchronisationen älterer und neuerer amerikanischer Filme operierten, um die Komik des amerikanischen Originals vergröbernd zu intensivieren. Vgl. NIGGEMEIER, 2013.
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Abb. 3: Philosophicum der Universität Mainz, Ostflügel, 2. Stock
Ein im Treppenhaus angebrachter Aushang verbietet das Anbringen von Aushängen im Treppenhaus – dieser komische Effekt funktioniert als Wortwitz, insofern der performative Selbstwiderspruch nur sprachlich (allgemeiner gesagt: in einem engen Sinne zeichenhaft) formuliert werden kann (wenn auch umgekehrt sprachliche unfreiwillige Komik nicht notwendigerweise auf einem performativen Selbstwiderspruch beruhen muss). Auch derartige Fälle sprachlich unfreiwilliger Komik werden in institutionalisierter Form als Fundstücke präsentiert, etwa in der bekannten Rubrik Hohlspiegel, die allmontäglich die letzte Seite des Spiegels ziert. Als Stilblütensammlungen in Sachen Amtsschreiben, Gallettiana17 oder Schulaufsätze finden sie immer wieder den Weg auf den Buchmarkt. Eine weit verbreitete Sammlung sprachlicher Missgriffe in Schulaufsätzen sind die von dem bayrischen Schulmeister Dr. Wolfgang Krämer erstmals 1952 herausgebrachten und seither laufend neu aufgelegten Lukasburger Stilblüten, die Interesse verdienen, weil sich an ihnen die Frage des
17 Z. B. MINKOWSKI (Hg.), 1965.
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kindlichen Strauchelns und seiner Lächerlichkeit nochmals, und zwar in einer anderen Hinsicht als bisher, diskutieren lässt. Ein erstes Beispiel ist einem Aufsatz über „Unser Schulzimmer“ entnommen: „Der Stuhl des Herrn Professors ist von bräunlicher Farbe und sehr weich.“18 Hier kann, anders als bei den Pannenshow-Kindern, nicht die Rede davon sein, dass dem diesen Satz verantwortenden Schüler keine intellektuelle Absicht zu unterstellen ist, im Gegenteil: Der Satz verrät einen gesteigerten Ausdruckswillen. Der Lehrer erfährt eine ehrfürchtige Anrede, und die Farbqualtität seines Stuhles wird nicht durch das simple Adjektiv ‚braun‘ beschrieben, sondern durch die in der kindlichen Alltagsrede wenig gebräuchliche Präpositionalphrase „von bräunlicher Farbe“. Die schulische Dressur auf ein Stilideal scheint geglückt. Aber offenbar nicht vollständig, denn die Semantik des Satzes ist verschoben. Der angestrengte Stil verhindert nicht nur nicht, dass man die falsche Lesart, hier sei von professoralen Ausscheidungen die Rede, annimmt, sondern diese wird geradezu nahegelegt. Denn zum gewählten genus dicendi passt die Lesart von „Stuhl“ als gehobene Bezeichnung für ‚Kot‘ viel besser als die eher profane Bezeichnung einer Sitzgelegenheit. Die Annahme einer stilistischen Einheitlichkeit des Satzes trägt damit nicht unerheblich zu seiner skatologischen Interpretation bei. Resultat ist ein herber Kontrast zwischen stilistischem Bemühen und semantischem Entgleisen und zugleich ein Zueinanderpassen des wörtlich Gesagten, denn wäre der Stuhl blau, wäre der Spaß nur ein bestenfalls halber: Der Satz über die pädagogischen Verdauungsprodukte stimmt oder könnte stimmen. Dem Schüler ist weder dieser Sinn noch die Fehlleistung überhaupt bewusst, aber hinter dem empirischen Schreibersubjekt scheint eine andere subjektive Intention zu stehen – eben die des strukturellen Subjekts unfreiwilliger Komik. Insgesamt dokumentiert die Stilblütensammlung viele Fälle aus dem unfreiwillig sexuellen und skatologischen Bereich, da sich aus der Inkongruenz dieser Sphären mit dem sittlichen und stilistischen Ernst des Schulaufsatzes ein besonders drastischer und anschaulicher Widerspruch ergibt. Dass die Textsorte beim Schüler zwangsläufig eine besondere sprachliche Anpassungsleistung evoziert, deren Scheitern komisch wirkt, lässt sich auch an einem zweiten Beispiel erkennen, wo die Anpassungsleistung an das staatsbürgerliche Ideal sich auch auf politischer Ebene ausdrückt. „Aus der Zeit des Dritten Reiches“ (so die Kapitelüberschrift) wird folgendes Beispiel überliefert: „Nach dem ersten Weltkrieg strömten die Juden nach Deutschland und wollten es ausrauben; 18 KRÄMER, 1958 [1952], S. 14.
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aber sie kamen zu spät, Hitler und seine tatkräftigen Anhänger waren ihnen zuvorgekommen.“19 Auch hier kommt die Komik nicht zuletzt dadurch zustande, dass die unbeabsichtigte Bedeutung des Satzes sinnvoll ist. Bekanntlich führt Sigmund Freud in seiner Besprechung von Fehlleistungen in der Psychopathologie des Alltagslebens aus, dass eine komische Rede „ebensowohl einen vortrefflichen Witz wie ein lustiges Versprechen bedeuten kann“,20 und was er in seiner umfangreichen Beispielsammlung auflistet, hätte in der Tat häufig Anrecht darauf, in ein Corpus unfreiwilliger Komik aufgenommen zu werden. So etwa, wenn der deutschnationale Reichstagsabgeordnete Lattmann im Jahre 1908 seine Kollegen beschwört: Wir glauben, daß der einheitliche Gedanke und der Wunsch des deutschen Volkes dahin geht, eine einheitliche Kundgebung auch in dieser Angelegenheit zu erreichen, und wenn wir das in einer Form tun können, die den monarchischen Gefühlen durchaus Rechnung trägt, so sollen wir das auch rückgratlos tun. (Stürmische Heiterkeit, die minutenlang anhält.) Meine Herren, es hieß nicht rückgratlos, sondern rückhaltlos […].21
Das im Protokoll getreulich registrierte Gelächter quittiert, dass der kaisertreue Abgeordnete hier etwas ausgeplaudert hat, was ihm durchaus zuzutrauen war, er aber zweifellos lieber verschwiegen hätte (bei August Bebel wäre der Lacherfolg sicherlich geringer ausgefallen, oder Gegner und Anhänger hätten dem sozialdemokratischen Parteiführer Absicht, d. h. intentionale Komik unterstellt), und Freud interpretiert diese und vergleichbare Stellen auch ganz im Sinne seiner Theorie, dass die fehlgehende Äußerung einen eigenen Sinn artikuliere. Dieser eigene Sinne wird für Freud durch das Unbewusste produziert; Freud führt also die Kategorie eines verborgenen Subjekts ein, das hinter dem sich seiner selbst bewussten Subjekt operiert (ich verzichte bewusst auf die einschlägige Freudʼsche Terminologie), also ein omnipräsentes empirisches Korrelat dessen, was ich das strukturelle Subjekt unfreiwilliger Komik nenne. Um aber eine Differenz der von mir vorgeschlagenen Subjektkategorie zu Freud zu präzisieren: Freud geht es bei seiner Versprecher-Analyse, zumal in seiner psychoanalytischen Praxis, darum, einen bis dato verborgenen Sinn
19 EBD., S. 43. 20 FREUD 1973 [1901], S. 87. 21 EBD., S. 105f. [Herv. i. O.]. Freuds Zitation weicht nur unwesentlich vom Protokoll der Reichstagssitzung ab. Vgl. Verhandlungen des Reichstags, 1909, S. 5437.
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herauszupräparieren, der die tatsächliche Wahrheit der Äußerung darstellt; in den meisten Fällen sind die Beziehungen zwischen der getanen Äußerung und ihrem vermeintlichen Sinn im übrigen wesentlich weniger evident – und daher unkomischer – als bei dem rückgratlosen Reichstagsabgeordneten, was Freud häufig zu seinen assoziativen Motivketten führt, nach denen etwa der Versprecher „Tassenmescher“ Ausdruck einer unbewussten Schwangerschaftsvorstellung sein soll.22 Für meine Frage nach der Funktionsweise unfreiwilliger Komik ist dieser offenkundige Gegen-Sinn nur insoweit von Relevanz, als er einen komischen Kontrast konstituiert, indem er den offenkundigen Umschlag des Gesagten in seine Negierung vollzieht. Ob dieser Gegen-Sinn etwas über das Subjekt oder sein Unbewusstes auszusagen imstande sei, ist dagegen ganz unerheblich. Um nochmals zu den medialen Aufarbeitungsformen solcher Fehlleistungen zurückzukommen und zugleich eine Differenzierung ihrer Genese vorzunehmen: Nicht nur Formate wie die Pannenshow präsentieren unfreiwillige Komik, sondern bereits früher – noch vor der allseitigen Verbreitung privater Kameras – wurden Unterhaltungssendungen damit bestritten, unprominente und prominente Zeitgenossen dabei vorzuführen, wie sie im Alltag an kleinen oder größeren Anforderungen scheiterten und sich dabei ausgesprochen hilflos aufführten. Gemeint sind Formate wie Vorsicht Kamera, Verstehen Sie Spaß? usw., die mit versteckten Kameras operieren und die Zuschauer vor der Ausstrahlung des gewonnenen Materials über Machart und Ziel einer Situationsmanipulation ins Bild setzen. Der Unterschied zur Pannenshow ist indes aus theoretischer Perspektive gravierend, denn diese von unfreiwilligen Akteuren produzierte Komik ist durch ein äußeres Arrangement provoziert: Ein Fernsehteam konstruiert eine lebensweltlich untypische oder zumindest problematische Situation, in der das ahnungslose Opfer gar keine Chance hat, nicht zu scheitern. Es agiert also, wie in intentionaler Komik, ein empirisches Subjekt, das die Handlungsalternativen seiner Akteure restriktiv beschneidet. Dass sich das Opfer auftragsgemäß täppisch aufführt, erscheint dann in der Rezeption wiederum als unfreiwillig komisch – mit allen bereits angesprochenen Implikationen und Zuspitzungen des komischen Gehalts. Darin findet zwischen dem empirischen und dem strukturellen Subjekt der Komik eine ständige Verschiebung statt. Um dies an einem elaborierteren Beispiel zu zeigen und zugleich zu den Fällen von sprachlicher Komik zurückzukehren: Die Satirezeitschrift titanic 22 Vgl. FREUD, 1973 [1901], S. 70f.
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begann 1996 unter Federführung ihres damaligen Redakteurs Martin Sonneborn – heute23 MdEP – eine Aktion, die sich später unter der Rubrikenbezeichnung „TITANIC-Telefon-Terror“ verstetigte. Der Einfall bestand darin, arglose Zeitgenossen unter falschem Namen – häufig als vermeintlicher Repräsentant ehrwürdiger Institutionen wie z. B. der Telekom – anzurufen und sie in absurde Gespräche zu verwickeln. Diese Telefonate wurden anschließend der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, indem die titanic sie in das Medium Schrift transponierte und in dieser transkribierten Form abdruckte. Auch hier wurden die ahnungslosen Gesprächspartner oftmals in heillose Selbstentblößungen verwickelt, forciert durch die insinuierende Fragetechnik Sonneborns. So rief er auf dem Höhepunkt der BSE-Krise – der britische Rinderwahnsinn spukte in jedem medial instruierten Kopf herum – als „Oberfeldwebel Sonneborn, Nachschubkompanie 320, Abteilung Fleisch/Beschaffe“24 in verschiedenen deutschen Mensen an, um ihnen zu enorm günstigen Preisen englisches Rindfleisch aus Bundeswehrbeständen anzubieten. Keineswegs abgeneigt zeigten sich die Mensen in Leipzig, Frankfurt/O., Osnabrück und Dresden. Die Mensa Frankfurt/O. sorgte sich allenfalls um möglichst unauffällige Techniken, den sensibilisierten studentischen Endverbrauchern die Herkunft ihrer Mittagsmahlzeit zu verschleiern: „Nee, wir haben da so Pülverchen, das tun wir dazu, dann schmeckt das ganz anders! Gut, dann spreche ich das noch mal mit unserer Leitung ab, und dann werden wir hier ein paar Küchen von uns damit bestücken!“25 Der aufklärerische Gewinn, dass nämlich die Studierendenwerke aufgrund ihrer finanziellen Ausstattung und der kulinarischen Alternativlosigkeit ihrer Gäste der permanenten Versuchung ausgesetzt sind, fragwürdige, aber billige Lebensmittel zu beschaffen, dürfte kaum der beabsichtigte Zweck dieser Aktion gewesen sein – das Resultat war zu erwartbar, genauer gesagt war das darin bestätigte Vorurteil zu offensichtliche Voraussetzung des Kalküls gewesen –; der Verlauf ist indes geradezu subtil: Das empirische Subjekt bringt sich einerseits laufend in seiner gewählten Rolle zur Geltung, lässt aber andererseits seinem Gesprächspartner – womöglich: scheinbar – alle Freiheit, sich auf das Thema konstruktiv einzulassen und darin wunschgemäßen Aberwitz zu produzieren. Man könnte sagen: Es liegt ein beständiges Gleiten zwischen intendierter und unfreiwilliger Komik und damit zwischen ihrem empirischen und strukturellen Subjekt vor. Da, wo die Ge23 Stand: 07.10.2014. 24 SCHIFFNER/SONNEBORN, 1996, S. 13. 25 EBD., S. 16.
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sprächspartner das schamlose Angebot strikt zurückwiesen (z. B. in Bielefeld), stellte sich bezeichnenderweise keine Komik ein: Ohne ein entsprechend agierendes Pendant auf Seiten des strukturellen Subjekts ist in einer solchen Konstellation das empirische Subjekt der Komik machtlos.
5. Unfreiw illige Komik in der Literatur Nicht nur im Alltag taucht sprachliche unfreiwillige Komik auf; auch ist diese keineswegs nur auf die gesprochene Sprache beschränkt. Sieht man davon ab, dass nahezu jede freie wörtliche Rede etwas unfreiwillig Komisches erhält, wenn man sie getreu verschriftet (man hieße denn Adorno),26 können auch von vornherein schriftlich fixierte wissenschaftliche und literarische Text in Teilen oder in Gänze unfreiwillig komisch sein. Für die theoretische Bemühung um das Phänomen ist der Einbezug solcher Beispiele nicht unbedingt notwendig, er trägt aber dazu bei, das vorgestellte Corpus weiter zu diversifizieren. Aus der Welt der Wissenschaft wähle ich nur ein, und zwar ein älteres Beispiel, nämlich einen Abschnitt aus Adam Smithʼ The Wealth of 'ations: Wenn Smith darin den Segen der Arbeitsteilung für die Schöpfung des gesellschaftlichen Reichtums, der sich „bis in die untersten Volksschichten“27 verteile, beispielhaft bebildern will, tut er dies wie folgt: Man betrachte die Lebenshaltung des einfachsten Handwerkers oder Tagelöhners in einem zivilisierten und wohlhabenden Land, und man wird bemerken, daß die Anzahl der Personen, deren Fleiß einen Teil, wenn auch nur einen kleinen Teil, dazu beitrug, diese Lebenshaltung zu ermöglichen, alle Berechnungen übersteigt. Der wollene Rock beispielsweise, der den Tagelöhner klei26 Ein drastisches Beispiel für die Komik verschrifteter wörtlicher Äußerungen bietet die Abschrift eines Telefongespräch, in dem Günther Wallraff sich 1987 nach der Verleihung des Karl-Kraus-Preises durch Hermann L. Gremliza an ihn – ein mit 30.000 DM recht gut dotierter Preis, dessen Bedingung allerdings darin bestand, niemals wieder eine Zeile zu publizieren, weswegen sich weder Wallraff noch sein Preisträger-Vorgänger Fritz J. Raddatz ihr Preisgeld auszahlen ließen – gegen den Vorwurf zu verteidigen suchte, nicht er selbst, sondern Gremliza habe Wallraffs erstes Buch über die Bild-Zeitung geschrieben. Heiner Müller, der das Telefonat geführt hatte, setzte Wallraffs Telefonäußerungen mit all ihren Anakoluthen und Verzögerungslauten unredigiert auf die Titelseite der sog. Buchmessen-tageszeitung. Vgl. MÜLLER, 1987, S. 1f. Vgl. zum Kontext auch: GREMLIZA, 1987. 27 SMITH, 1999 [1776], S. 95 (Buch I, Kapitel I).
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Unfreiwillige Komik det, ist, so grob und rauh er auch aussehen mag, das Ergebnis der vereinigten Arbeit einer großen Zahl von Arbeitern.28
Es folgt eine ganze engbedruckte Seite, auf der die einzelnen an der Produktion eines solchen Rockes und an der Produktion der Produktionsmittel und am Transport der Resultate dieser Produktion beteiligten Arbeitskräfte aufgelistet werden. Seltsam aber, dass am Ende dieser organisierten Arbeitsteilung bloß das ärmliche Gewand einer ärmlichen Tagelöhnerexistenz steht. Die Differenziertheit der zur Produktion primitiver Alltagsgegenstände nötig gewordenen Arbeitsteilung ist nämlich offenkundig und sogar eingestandenermaßen nicht dasselbe wie ein persönlicher Vorteil, der sich daraus ziehen ließe. Nun zu zwei prominenten literarischen Beispielen. Als erstes greife ich einen Autor heraus, der auf keinen Fall im Verdacht zu stehen beanspruchen kann, intentionale Komik zu produzieren, nämlich Ernst Jünger. Die Prätention seiner Texte ist allerdings keine schlechte Voraussetzung dafür, dass ihm unfreiwillige Komik unterläuft. Zwei Zitate aus seinen Tagebüchern aus dem Zweiten Weltkrieg sollen genügen; sie zeigen, wie unfreiwillige Komik aus dem Verhältnis zwischen einer notierten Beobachtung und ihrer Reflexion entstehen kann. In einem wehmütigen Rückblick auf eine vergangene Zeit, die Jünger für ritterlich hält, schreibt er am 11. Mai 1943 über den vormaligen Generalfeldmarschall und Reichspräsidenten Hindenburg: Sein [Hindenburgs] Unterliegen war unvermeidlich; es lag auch nicht an seinem hohen Alter, das vielmehr symbolisch war. Das Organische an ihm hat eine besondere Beziehung zum Holze; sein Kopf kann eigentlich nur aus diesem Stoff gebildet gedacht werden.29
Dass Hindenburg einen Holzkopf habe, könnte als mäßig witziger Einfall eines Kabarettisten der 1920er Jahre durchgehen; als ernsthaftes Resultat einer Reflexion, die ihren Ausgangspunkt in der materialästhetischen Ehrwürdigkeit von Hindenburgs Gesicht nimmt und mit morphologischer Folgerichtigkeit das Kompositum ‚Holzkopf‘ nur um Haaresbreite verfehlt, erscheint der Textauszug jedoch als unfreiwilliger Lapsus, und eben in der Unfreiwilligkeit liegt sein Witz: als formuliere hier ein strukturelles Subjekt eine Kritik an Jüngers 28 EBD. 29 JÜNGER, 1949, S. 329.
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Glorifizierung von Hindenburg, und zwar eine Kritik, die, da der Schreiber selbst einen Widerspruch zwischen Prätention und ihrer Realisierung produziert, als Selbstkritik des Schreiber fingiert ist, ohne dass er selbst ihren Einwand durchschaut. Im zweiten Beispiel macht Jünger sich selbst und seine Beobachtungsperspektive auf die Welt zum Thema. Ebenfalls in Paris, am 25. Juni 1941, notiert er in sein Tagebuch: Wenn ich mich, wie am Montag bei der Verabschiedung von meiner Kompanie, vor einer Truppe aufstelle, bemerke ich dabei an mir das Bestreben, von ihrer Mittellinie abzuweichen: das ist ein Zug, der den Beobachter und das Vorherrschen kontemplativer Neigungen andeutet.30
Hier entzündet sich an der banalen Beobachtung, in welchen Winkel und wie sich der Offizier Jünger zur aufmarschierten Kompanie stellt, ein weitreichendes Urteil über die besondere Begabung zur Kontemplation. Die Eitelkeit enthüllt sich an der Beliebigkeit, mit der Jünger einen logischen Schluss zieht – beliebig deshalb, weil der Diarist ohnehin schon mit dem zufriedenen Urteil über sich selbst fertig ist, noch bevor er die erste Beobachtung gemacht hat, und deshalb unterschiedslos in jedem beliebigen Gegenstand stets die Exklusivität der eigenen Existenz wiederkennt –, worin sich die Prätention einer außerordentlichen geistigen Sensibilität für ihre Gegenstände dementiert. Die Absicht, etwas Außergewöhnliches festzustellen und darin die Außergewöhnlichkeit der eigenen Subjektivität zu feiern, mündet infolge der stereotypen Gleich-Gültigkeit ihrer Anlässe in einer Selbstaufhebung, weil die Behauptung durch ihre Begründung auf eklatante Weise nicht gedeckt ist, ohne dass der sorgfältige (Selbst-)Beobachter dies selbst bemerkt. Gerade weil Jüngers Weltsicht vollkommen unkomisch ist und sich durch einen durchgängig gravitätischen Ernst – nomen est omen! – auszeichnet, wirkt der Autor bisweilen unfreiwillig komisch. Dieses Angebot ist von parodistischer Seite gerne angenommen worden; so schrieb Armin Eichholz eine Stilparodie auf Jüngers Tagebücher, in der sich der treffende Satz findet: „Gedanke: ohne Mund könnte man nicht essen.“31 Eine Autorin darf in einem Überblick über unfreiwillige Komik natürlich keinesfalls fehlen: Friederike Kempner, in die Literaturgeschichte eingegangen 30 EBD., S. 50. 31 EICHHOLZ, 1989 [1954], S. 338.
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als ‚schlesischer Schwan‘, ‚schlesische Nachtigall‘ oder ‚Nachtigall im Tintenfass‘. 1880 bezeichnete sie der Kritiker Paul Lindau als „Genie der unfreiwilligen Komik“.32 Er fand diese Bezeichnung anlässlich eines Gedichts von Kempner auf die Stadt Paris, das mit den zwei Versen anhebt: Ihr wißt wohl, wen ich meine, Die Stadt liegt an der Seine.33
Das verballhornte Reimwort taucht nochmals im Schlussvers auf, und es ist repräsentativ, insofern der von keinerlei komischer Intention geplagten Dichterin in der Tat eine Vielzahl ähnlicher Missgriffe unterlaufen ist. Nur ein weiteres, oft zitiertes Beispiel aus dem Gedicht Wirklichkeit, in dem Kempner den Mensch mit einer Raupe vergleicht und sich in der Schlussstrophe gegen eine antizipierte Beschwerde gegen diesen Vergleich wehrt: Süßes Kindchen, Menschenräupchen, Mach kein bitterbös Gesicht, Und verbittre drum das Leben Deinen Mite-Raupen nicht. –34
In der Tat, der vierhebige Trochäus gelingt auch im Schlussvers, wenn auch nur um den Preis, dass Kempner den daktylischen Mitraupen eine Epenthese verordnet. Die bemerkenswerte Leistung dieses Gedichts und vieler anderer Gedichte aus Kempners Œuvre besteht darin, solche Fehlgriffe an pointierter Stelle, eben häufig im Schlussvers, zu platzieren. Wüsste man es nicht besser, fiele es schwer, nicht an Absicht zu glauben.35 Aber gerade das Fehlen der 32 Zit. nach: MÖBUS, 2009, S. 8. Mit diesem Oxymoron wird die Problematik unfreiwilliger Komik auf den Begriff gebracht – eines Missverhältnisses zwischen Vorsatz und Resultat. Ähnlich hat schon Marx in doppelter ironischer Brechung über Jeremy Bentham geschrieben: „Wenn ich die Courage meines Freundes H. Heine hätte, würde ich Herrn Jeremias ein Genie in der bürgerlichen Dummheit nennen.“ MARX, 1962 [1867], S. 637, Fußnote 63. 33 KEMPNER, 2009 [1873], S. 83. 34 EBD., S. 47. 35 In einer der wenigen wissenschaftlichen Bemühungen um den ‚Kempner-Effekt‘ löst Susanne Kord ihren Gegenstand auf, indem sie den in der Tat für die Diagnose literarischer unfreiwilliger Komik zentralen Gegensatz zwischen Autorintention und Wirkung mithilfe von Foucaults Diktum vom Tod des Autors auf der denkbar allgemeinsten Ebene eliminiert (vgl. KORD, 2012, S. 173). Die damit theoretisch
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Absicht, mithin eines empirischen Subjekts des komischen Effekts, macht die Wirkung dieses Falles unfreiwilliger Komik aus. Kempners Rezeptionsgeschichte ist allerdings kaum minder komisch als etliche ihrer Gedichte. Von den halb legendarischen, halb wahren Geschichten abgesehen (Kempners Familie waren angeblich die lyrischen Publikationen dermaßen peinlich, dass sie die vollständige Auflage ihres Gedichtbandes aufkaufte, was dann aber marktwirtschaftlich korrekt als enorme Nachfrage interpretiert wurde und immer neue Auflagen nach sich zog; über Alfred Kerr hielt sich das hartnäckige, aber falsche Gerücht, er sei Friederike Kempners Neffe und habe daher seinen Nachnamen geändert, tatsächlich war Kempner aber die Großtante von Jakob van Hoddis36): das kurioseste Rezeptionsphänomen besteht darin, dass Kempners Werk seit den 1880er Jahren eifrig parodiert wurde und diese Parodien als Werke Friederike Kempners selbst angesehen wurden, so dass sie in zahlreichen späteren Anthologien als authentisch auftauchten.37 Zu diesen sogenannten Pseudo-Kempneriana zählt etwa das Widmungsgedicht für den Astronomen Johannes Kepler: Du sahest herrliche Gesichte In finstrer Nacht, Ein ganzes Blatt der Weltgeschichte: Du hast es vollgemacht!38
zunächst bestrittene Komik wird dann wieder eingeführt, indem Kord behauptet, das Ausmaß der Komik bestehe in der Unklarheit über ihre (Un-)Freiwilligkeit (vgl. EBD., S. 180) – als könnte über Kempner erst gelacht werden, wenn man aus Foucaultʼscher Perspektive die Klarheit über ihre Intentionalität gänzlich verabschiedet hätte. 100 Jahre Kempner-Rezeption werden damit nachträglich für unmöglich erklärt. 36 Vgl. MÖBUS, 2009, S. 25. 37 Z. B. MOSTAR, 1965; KEMPNER, 1956; KEMPNER, 1971. Es entbehrt wiederum selbst nicht der unfreiwilligen Komik, wenn Hans-Georg Kemper in seinem Buch Komische Lyrik – Lyrische Komik als Beispiele unfreiwilliger Komik von Friederike Kempner ausschließlich Pseudo-Kempneriana zitiert, die er der editionsphilologisch völlig unzuverlässigen Textausgabe von Gerhart Herrmann Mostar entnimmt. Vgl. KEMPER, 2009, S. X, 33, 119f., 187, 207. 38 MOSTAR, 1965, S. 25. Halb und halb gestand Mostar diese Fälschungen selbst ein, rechtfertigte sie aber mit dem bemerkenswerten Argument: „[…] das geschah auch nicht aus Bosheit, weder da, wo wir sie kürzten, noch da, wo wir nicht der von der Dichterin gewählten Urform, sondern der endgültigen Form [!] folgten, die sie, von Mund zu Mund weitergegeben, im Volke und durch das Volk gewannen, zumal uns oft nur die mündliche Überlieferung zur Verfügung stand.“ (EBD., S. 24).
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Im Unterschied zu Armin Eichholzʼ Stilparodie auf Ernst Jünger handelt es sich bei diesen Pseudo-Kempneriana gerade nicht um Texte, die als Parodie erkannt werden wollen. Im Gegenteil versuchen sie, den parodistisch-kritischen Umgang mit der Vorlage zu verschleiern und Authentizität zu suggerieren. Das empirische Subjekt dieser Komik bestreitet seine eigene kritische Subjektivität, und zwar nicht nur, wie in der Satire, indem es die Begründung seines Urteils über die Sache in die Sache selbst verlegt, sondern indem es überhaupt die Form des Urteils vermeidet. Auch die Satire nimmt nämlich noch eine Perspektivierung auf ihren Gegenstand vor, die etwa eine Unterscheidbarkeit zwischen Erzählperspektive und Dargestelltem ermöglicht. Zugleich sieht man an diesen verdeckten Parodien, wie sich das empirisch fassbare Subjekt intentionaler Komik selbst in das strukturelle Subjekt unfreiwilliger Komik aufzulösen vorgibt.
6. Die Leistungen der ästhetischen Re-Inszenierung: Glosse und Komödie Ich komme damit zu einem letzten Schritt meiner Überlegungen, nämlich zur literarischen Funktionalisierung des Phänomens unfreiwilliger Komik. Damit meine ich sowohl die schon angesprochenen Techniken einer medialen Kontextualisierung tatsächlich vorfindlicher unfreiwilliger Komik als auch die sprachlich-literarische Inszenierung angeblich unfreiwilliger Komik. In dieser Inszenierung setzt sich auf literarische Weise fort, was schon elementar im Alltagsdiskurs geschieht, wenn ein kritikabler Sachverhalt für lächerlich hinfällig erklärt wird, indem man ihn als „pure Realsatire“39 bezeichnet. Dieses von der ästhetischen Form verselbstständigte theoretische Urteil behauptet, was sich offenbar nicht ohne Weiteres von selbst versteht: dass sein Objekt sich ohne jeden subjektiven Zusatz seines Kritikers als ungültig entlarve. Indem das Urteil ausgesprochen wird, tendiert es aber zu seiner eigenen Selbstaufhebung – denn der kritische Kommentar muss offenbar expliziert werden, um Geltung zu erlangen. Auf subtilere Weise leistet die Literarisierung unfreiwilliger Komik Ähnliches. An zwei literarischen Gattungen, der Glosse und der Komödie, lässt sich dies nachzeichnen.
39 Fundstelle: World Wide Web, passim.
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Die Glosse ist eine genuine Form, das Urteil unfreiwilliger Komik zu formulieren, also das Komische als Qualität eines realen Gegenstandes an ihm selbst zu behaupten. Sie bezieht sich auf einen Prätext, den sie auch selbst sprachlich als Zitat integriert40 und mit dessen sprachlichem Material sie operiert. Schon indem ein Prätext in eine Glosse integriert wird, wird ihm ein Urteil gesprochen, dass er nämlich einen erwähnenswerten Selbstwiderspruch aufweise, den der Glossist mit mehr oder weniger großem argumentativem oder veranschaulichendem Aufwand herauszustellen gedenkt.41 Karl Kraus richtete 1908 in der Fackel die Rubrik der „Glossen“ ein, auch unter anderen Rubriken erschienen dort glossenförmige Präsentationen von Zeitungsfunden.42 Der Grenzfall solcher Glossierung besteht darin, ein kommentar- und titelloses Zitat zu präsentieren, wie in diesem Beispiel: „Seine Exzellenz wird gleich da sein, um 1 Uhr wird aber gegessen!“ „Beruhigen Sie sich, liebenswürdigster aller Famuli, ich will den Minister nur fragen, wie er geschlafen hat, um es nach Wien zu drahten“. „Exzellenz wird gleich erscheinen“ … „Eure Exzellenz sieht gut aus. Sie haben sich gründlich ausgelüftet, ehrenwerter Tittoni“ (‚Neue Freie Presse‘, 29. August).43
Hier stiftet nur der mediale Kontext den Anhaltspunkt einer von außen an den Text herangetragenen kritischen Kommentierung: Dem geübten Leser der Fackel reicht schon der Hinweis auf den Fundort 'eue Freie Presse, um einen Einwand des Herausgebers Karl Kraus zu vermuten; der Leser der 'euen Freien Presse (erst recht ihr ältester Abonnent) wird an diesem Dokument journa-
40 Ich beziehe mich bei dieser Bestimmung auf Ernst Rohmer: „Die Glosse geht von einem Text aus. […] Die Glosse deutet das in ihr enthaltene Lemma, den in ihr präsentierten Prätext aus. […] Für die literarische Glosse muß in besonderer Weise gelten, daß sie Lemma oder Prätext in ihren Text integriert.“ ROHMER, 1988, S. 220. 41 Nicht jede Glosse ist dabei per se komisch bzw. auf den Nachweis unfreiwilliger Komik ihres Prätextes angelegt. Eines der bekanntesten Beispiele einer solchen unkomischen Glosse sind Karl Marxʼ ausführliche Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei (1875), seine kritische Kommentierung des Gothaer Programms der sozialdemokratischen Partei. Auch wenn sich Marx hier gelegentlich eines ironischen Tons bedient, verfährt er im Wesentlichen argumentativ, indem er ausführlich den Prätext zitiert und ihm eine ausgeführte theoretische Kritik entgegensetzt. 42 Zumeist Textfunde, gelegentlich auch Bildfunde. Vgl. dazu LENSING, 1988. 43 KRAUS, 1908, S. 43.
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listischer Devotheit gegenüber dem italienischen Außenminister Tittoni nichts Kritikwürdiges entdecken. Vergleichbar mit dieser Technik kommentarloser Zitierung ist die kommentarlose (Parallel-)Montage divergenter Textfunde, wie in folgendem Beispiel, erschienen unter dem lapidaren Titel Kritiker:44 ‚Arbeiterzeitung‘: „Den dichtenden Kammerdiener spielte Herr Wilhelm Klitsch. Ein junger Mann, der Schwung und Hitze hat, auch ein prächtiger Sprecher werden könnte.“
‚Zeit‘: „Herr Klitsch verdarb die Hauptrolle durch seine äußerliche, unbeseelte und im übrigen nur selten verständliche Deklamation.“
Inszeniert wird so das Aufeinanderprallen zweier unvereinbarer Standpunkte zum gleichen Objekt. Der Widerspruch ist keiner verschiedener Meinungen bzw. unterschiedlicher ästhetischer Maßstäbe (über die Fähigkeit zur verständlichen Artikulation eines Schauspielers sind nicht zwei derart verschiedene sachgerechte Urteile denkbar), sondern ein objektiv nicht aufhebbarer Selbstwiderspruch der feuilletonistischen Theaterkritik, der es an elementarer Urteilsfähigkeit mangelt und die offenbar ihrem Gegenstand gegenüber vollkommen gleichgültig ist. Die Montage suggeriert also, etwas Objektives festzuhalten, dessen Selbstaufhebung nicht auf einen kritischen Vorsatz des Glossisten zurückzuführen ist. Im Material, über das qua Zitierung behauptet wird, es liege unfreiwillige Komik vor, findet das Urteil des Kritikers Kraus seinen sachlichen Grund. Diese Rhetorik, etwas in sich Komisches vorzufinden und in der Glossierung bloß zugänglich zu machen, findet sich auch in den entwickelteren Formen der Gattung, in denen der Prätext durch eine Kommentierung eingerahmt, wenn nicht sogar überwuchert wird. Karl Kraus praktiziert dies ebenso wie sein legitimer Nachfahre Hermann L. Gremliza, der allmonatlich auf der letzten Seite der von ihm herausgegebenen Zeitschrift konkret die Rubrik „Gremlizas Express“ veröffentlicht, in der er sprachliche Missgriffe von Politikern und Journalisten aufgreift, kommentiert und in ihrer politischen Symptomatik analysiert. Ein Beispiel muss genügen, um den Übergang von der Zitatglosse zum freien Witz nachzuvollziehen. Im Januar 1990 erschien dort folgender Text: 44 KRAUS, 1907, S. 39.
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Carsten Jakobi Herr Schmidt aus Barmbek gratuliert einer Blankeneser Gräfin zum Achtzigsten: Kaum jemals habe ich einen Aufsatz aus Marion Dönhoffs Feder nicht gelesen … Wir Deutschen bedürfen Ihrer Feder auch in Ihrem nächsten Lebensjahrzehnt … Sie ist immer noch die hoch herausragende Feder des deutschen Journalismus. Helmut heißt er, der so viel Federlesens macht. Man nennt ihn auch den zweimal abgesägten und doch zu kurzen Kuli der deutschen Bourgeoisie.45
Ausgangspunkt der Glossierung ist der inszenierte Gegensatz zwischen einem bürgerlichen Niemand mit dem deutschen Allerweltsnachnamen Schmidt (und dem nachgetragenen Allerweltsvornamen Helmut) und der Gräfin; ein Gegensatz, der durch den regionalen und damit sozialen Kontrast des feinen Stadtteils Blankenese mit dem Kleine-Leute-Viertel Barmbek unterstützt wird. Die überstrapazierte Metonymie der „Feder“, zumal der „hoch herausragende[n]“, wird kontrastiert mit der bekanntlich nicht sehr erheblichen Körpergröße des Helmut Schmidt. So wird aus dem körperlichen und sozialen Verhältnis ein Dienstverhältnis von Oben und Unten, das sich auch in der Gratulationspraxis ausdrückt. Der Einfall Gremlizas, wo er über die polemische Markierung des Urhebers dieser Gratulation und seiner Adressatin hinausgeht, besteht in der modifizierten Anwendung des bekannten Wortwitzes „dreimal abgesägt und immer noch zu kurz“, hier als Kommentar über Helmut Schmidts Rolle in der bundesrepublikanischen Politik. Die Willkür des subjektiven Einfalls entfernt sich vom bloßen Zitat eines vorfindlichen Selbstwiderspruches und geht damit über die Dokumentation eines Falles unfreiwilliger Komik hinaus, jedoch versucht Gremilza durch ein spezifisches Verfahren der Synthetisierung von Bedeutungen, die Gegenstandsadäquatheit seines Einfalls zu untermauern. Er greift Benennungen, etwa des Schreibgeräts der Feder, auf und entwickelt sie in ihrem Wortfeld kontrastiv weiter: So wird aus der edlen Feder der profane Kugelschreiber bzw. der noch profanere Kuli. In einem logisch nächsten, sprachlich aber unmittelbar gleichzeitig vollzogenen Schritt wird aus der Metonymie des Kulis eine Metapher und damit Schmidt zum Diener. Das politische Urteil liegt auf der Hand, und es verdankt seine Plausibilität der rhetorischen Folgerichtigkeit, mit der Gremliza die semantischen Relationen seines sprachlichen Materials entwickelt. Die Komik beruht hier nicht mehr auf dem Zitat selbst, 45 GREMLIZA, 1990, S. 98 [Herv. i. O.].
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sondern auf Gremlizas ästhetischen Anknüpfungen an dieses Material. Es bleibt allerdings der Gestus des Vorfindens, also die Behauptung, unfreiwillige Komik wahrzunehmen und sie als solche dem Leser vor Augen zu führen.46 Gremliza suggeriert, dass dem Gegenstand seiner Kritik, dem früheren sozialdemokratischen Bundeskanzler, eine Selbstentlarvung unterlaufen sei, die dieser selbst nicht bemerkt habe. Die angebliche Unfreiwilligkeit dieser Selbstentlarvung rückt Krausʼ und Gremlizas Glossierungstechnik in den Bereich komischer Literatur, in der Komik eine inszenierte Leistung ist. Die Sphäre der unfreiwilligen Komik wäre damit verlassen, dennoch spielt diese auch in der Literatur eine Rolle. In Hinblick auf die Komödie und ihr Personal findet sich bei Hegel eine einschlägige Unterscheidung: Man muß beim Komischen unterscheiden, ob die Personen für sich selbst komisch sind oder nur für uns. Es gibt eine Menge Torheiten, die nur für ein drittes Bewußtsein komisch sind […]. In den Molièreschen Stücken, auch in spanischen sehen wir Individuen, die einen Zweck haben. Sie verfolgen ihre Zwecke gegenseitig und zerstören sie oft unabhängig voneinander. Dies ist komisch für uns, während es jenen bitterer Ernst ist.47
Festgehalten wird der Sachverhalt, dass die Komik in der Komödie häufig nicht Resultat einer Intention ist, die von der komischen Figur selbst bewusst gehandhabt wird. Im Gegenteil, die Komik, das heißt: das Scheitern ihrer Zwecke, vollzieht sich gegen ihren Willen und mitunter hinter ihrem Rücken. In der Binnenlogik des ästhetischen Spiels liegt also unfreiwillige Komik vor. In Lessings Freigeist etwa liefern sich die Diener der beiden Hauptfiguren einen Streit über die Religion, in dem die Auffassungen ihrer Herren satirisch vergröbert gespiegelt sind, dabei verwenden sie die Argumente der zeitgenös46 Interessanterweise hat Gremliza in einer späteren Fassung dieser Glosse, die er in die Buchversion seiner „Express“-Rubrik aufnahm, die Willkür des bloß subjektiven Einfalls gemildert. Hier heißt es nach dem Zitat des Prätextes: „Helmut heißt er, der da so neidisch zur Feder hinaufblickt. Er selbst hat es bloß zum Kuli des Blankeneser Briefadels gebracht.“ GREMLIZA, 1990, S. 149. Der Kommentar ist hier sprachlich näher am Prätext, insofern er auf das Fremdzitat des „zweimal abgesägten“ Kuli verzichtet. 47 HEGEL, 1998, S. 310. Ich zitiere diesen Gedanken in der gegenüber der Moldenhauer/Michel-Ausgabe (vgl. HEGEL, 1990, S. 552) präziseren Formulierung der Hotho-Edition und sehe auch hier von Hegels idealistischer Unterscheidung der „wahrhaften Komik“ (EBD.) und des Lächerlichen ab.
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sischen Theologie und Religionskritik in reichlich derber Form. Der Streit eskaliert, und Johann, der atheistische Diener des Freigeistes, spielt einen, wie er meint, unwiderleglichen Trumpf aus, indem er ein Buch zur Sprache bringt, das die Nicht-Existenz von Teufel und Hölle beweist; selbstredend hat er es nicht gelesen: Kurz, ich verweise dich auf das Buch, so wie man mich darauf verwiesen hat, und will dir nur im Vertrauen sagen: Der muß ein Ochse, ein Rindvieh, ein altes Weib sein, der einen Teufel glauben kann. Soll ich dirs beschwören, daß keiner ist?48
Dass der von jeglicher ungeprüfter Autorität emanzipierte Freigeist sich zum Beweis seiner Anschauungen auf ein Buch bezieht, das er nur vom Hörensagen kennt, ist die inszenierte Selbstwiderlegung, deren er sich nicht bewusst ist – im Rahmen der literarischen Fiktion also unfreiwillige Komik. Johann ist, in Hegels Ausdruck, eine komische Person „für uns“. In einem zweiten Schritt tritt nun eine komische Person „für sich“ auf. Als Johann beschwört: „Nun, sieh, – ich will, ich will – – auf der Stelle verblinden, wenn ein Teufel ist“49, hält ihm die Dienerin Lisette von hinten die Augen zu, sie veranstaltet also ein ihr bewusstes komisches Spiel. Mit durchschlagendem Erfolg: Johann beginnt umgehend zu wehklagen: „Ach! ich bin gestraft, ich bin gestraft. […] (Er fällt auf die Knie) Ich will mich gern bekehren! Ach! was bin ich für ein Bösewicht gewesen!“50 Womit der vormalige Atheist sofort in seine zweite komische Rolle verfällt: den Leichtgläubigen, die er ebensowenig durchschaut wie die vorherige. Das Spiel um eine komische Figur funktionalisiert also durchaus die Logik unfreiwilliger Komik. Den übrigen Figuren muss das Agieren der Figur binnenästhetisch als unfreiwillige Komik erscheinen, wie umgekehrt den außerhalb der literarischen Fiktion angesiedelten Rezipienten vollkommen bewusst ist, dass es sich um intentionale Komik handelt. In diesem Zusammenhang, der in der Forschungsliteratur erstaunlicherweise gelegentlich übersehen wird,51 48 49 50 51
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LESSING, 1996 [1749], S. 504 (II/5). EBD. EBD., S. 505. Z. B. MÜLLER, 1964, S. 54: „Nun gibt es noch eine höhere Komik, die ich die dramatische nennen möchte, weil sie unbewußt, objektiv und unfreiwillig ist, indem die in einen komischen Vorgang verwickelten Personen kein Bewußtsein davon haben, daß sie komisch wirken.“ [Herv. i. O.]. Für eine andere literarische Gattung
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tritt das komische Subjekt in einer doppelten Erscheinungsform auf: einerseits binnenästhetisch als strukturelles Subjekt ohne empirisches Korrelat, durch das sich das Agieren der komischen Figur in eine Selbstaufhebung überführt, und andererseits als empirisches Subjekt, das diese Selbstaufhebung realiter inszeniert. Sehr allgemein formuliert: In dieser doppelten Erscheinungsform der Komik schlägt sich die ontologische Trennung der Produktions- von der Rezeptionssphäre nieder. Ist das Lachen des außerfiktionalen Rezipienten literarisch inszenierter Komik programmiert, so gilt dies nicht notwendigerweise für die binnenfiktionalen Rezipienten unfreiwilliger Komik: Die Fehlleistungen von Brechts besoffenem Herrn Puntila werden von den übrigen Komödienfiguren keineswegs lachend quittiert, weder von seinen Klassengenossen, bei denen das unpassende Verhalten des Gutsbesitzers Peinlichkeit verursacht, noch vom Heer seiner Knechte, die über den gefährlichen Menschlichkeitsausbrüchen ihres Herrn nicht vergessen, dass sie nach wie vor seiner Macht unterstehen.52 Und auch ein Soziopath wie der hyperbolische Nerd Sheldon Cooper, Hauptfigur der US-amerikanischen Comedy-Serie The Big Bang Theory, provoziert mit seinen von ihm selbst unbemerkten monströsen Schwierigkeiten, die simpelsten Anforderungen des Alltagslebens zu bewältigen, bei seinen situativ involvierten Freunden in der Regel nur abwechselnd Fassungslosigkeit und Leiden, aber kein Lachen.
vgl. ENGEL, 2010, S. 512, der in Hinblick auf bestimmte Passagen in Kafkas Gracchus-Notizen von unfreiwilliger Komik spricht, obwohl es sich gerade um eine durch den Erzähler inszenierte Komik handelt. Auch Kemper verwischt diesen Unterschied, wenn er über die Hauptfigur von Carl Sternheims Komödie Die Hose schreibt: „Es ist gerade die maßlose Ernsthaftigkeit, mit der [Theobald] Maske die ehrenhafte Fassade seiner bürgerlichen Existenz zu verteidigen sucht, aus welcher der Eindruck unfreiwilliger Komik entspringt […].“ KEMPER, 2009, S. 8 [Herv. i. O.]. 52 Vgl. zur Frage des auch im Trunkenheitszustand fortbestehenden Verfügungsanspruchs Puntilas SPIES, 1997, S. 57.
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7. Ein terminologischer Zusatz: Die (In-) Adäquat hei t des Begriffs ‚Real satire‘ – zugleich ein Fazit ‚(Pure) Realsatire‘ – so lautet häufig die Bezeichnung für das hier behandelte Phänomen, die zugleich ein Urteil darstellt. Ob es sich dabei auch um einen theoretisch validen Begriff handelt, ist nach den bisherigen Überlegungen unklarer denn je. Unglücklich scheint der Begriff der ‚Realsatire‘ zu sein, versuchte man, Anhaltspunkte einer Klärung der damit bezeichneten Phänomene aus der Satiretheorie zu gewinnen, denn die implizite Behauptung, ‚Realsatire‘ funktioniere – mit einer kleinen Modifikation – wie die Satire, unterschlägt einen gravierenden Unterschied dieser Formen: Konstitutive Momente der satirischen Darstellung gehen dem Phänomen unfreiwilliger Komik ab. Letzterer fehlt in ihrer Genese die entschlüsselbare Norm, gegen die der konkrete Fall verstößt – also dasjenige, was gleichsam die theoretische Achse der von Brummack formulierten Satiremerkmale53 darstellt: Die Gegenstandsgebundenheit der Satire stellt sich durch den impliziten Vergleich des kritisierten Gegenstandes mit der Norm dar; die Aggressivität ist die psychologische Verlaufsform dieses Vergleichs, die Indirektheit ist die ästhetische Form des Vergleichs, der seinen eigenen Maßstab nicht expliziert. Jedoch ist die Subjektivität des satirischen Verfahrens, an der sich ein gravierender Unterschied zur unfreiwilligen Komik ablesen lässt, gerade eine, die sich selbst dem satirischen Anschein nach dementiert. Der vom Satiriker auf diese Weise hergestellte Selbstwiderspruch des kritisierten Objekts kommt gerade nicht dadurch zustande, dass der Maßstab, gegen den es verstößt, aktiv thematisiert werden muss: Der Satiriker unterstellt die objektive Ungültigkeit dessen, was von seinem Maßstab abweicht, das verworfene Objekt spricht gegen sich selbst. Genau dieser Modus, wie ein subjektiver Standpunkt dem Anschein nach nicht ins Spiel gebracht wird, findet sich nun in der Tat auch in der unfreiwilligen Komik. Wenn der Kanzlerkandidat Stoiber ins Stolpern gerät, bedarf es nicht des vorherigen Gebotes, er habe beim Besteigen einer Treppe das Gleichgewicht zu wahren. Wenn also unfreiwillige Komik vorliegt, scheint sie tatsächlich auf einen der Sache immanenten Gelingensmaßstab zurückzuverweisen, der im Unterschied zu vielen – nicht allen – Satiren allerdings reichlich banal ausfallen dürfte: Es ist das immanente und von allen frag53 Vgl. BRUMMACK, 2003.
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los geteilte Bedürfnis nach Störungs- und Widerspruchsfreiheit, gegen den der unfreiwillig Strauchelnde verstößt. So kann die Frage nach der Adäquatheit der Bezeichnung ‚Realsatire‘ vorläufig unbeantwortet bleiben.
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Mimetischer Realismus, ästhetische Evidenz, poetologische Reflexion Über den Witz in Georg Büchners Drama Danton’s Tod SERENA GRAZZINI 1. Zur Einführung Am 5. Mai 1835 schrieb Georg Büchner von Straßburg aus an die Familie und teilte ihr unter anderem die bevorstehende Veröffentlichung des Dramas Danton’s Tod als Buch mit. Er fasste sich diesbezüglich allerdings sehr kurz: Das Ganze muß bald erscheinen. Im Fall es euch zu Gesicht kommt, bitte ich euch, bei eurer Beurtheilung vorerst zu bedenken, daß ich der Geschichte treu bleiben und die Männer der Revolution geben mußte, wie sie waren, blutig, liederlich, energisch und cynisch. Ich betrachte mein Drama wie ein geschichtliches Gemälde, das seinem Original gleichen muß.1
In diesem – weidlich bekannten – Brief lenkte Büchner das Augenmerk ausschließlich auf die Figuren des Dramas, auf die „Männer der Revolution“ und auf jene moralischen Charakteristika, durch die sich die Eltern hätten gestört fühlen können. Die topische Metapher vom Gemälde sollte die Vorstellung des Kopisten hervorrufen, der für die (moralischen) Fehler des Originals nicht verantwortlich zu machen sei. Viel mehr schrieb er vorerst nicht zu seinem Dra-
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BÜCHNER, 2012, Tl-Bd. 1, S. 59-60.
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Serena Grazzini
ma. Erst als er „die Ruine der Verwüstung“2 – wie Karl Gutzkow das Resultat seiner Eingriffe in Büchners Manuskript bezeichnete3 – zur Kenntnis nahm, äußerte er sich am 18. Juli 1835 in einem weiteren Brief an die Familie etwas ausführlicher zu seinem Werk und zum Verhältnis zwischen Dichtung und historischer Wirklichkeit. Es ist bekannt, dass die durch den Willen des Verlegers bedingten und der Präventivzensur Gutzkows geschuldeten Änderungen eine Dämpfung und in manchen Fällen sogar eine Streichung der krassen sexuellen Anspielungen der Dantonisten und der Figuren aus dem Volk herbeiführten: Nicht nur wurden die Zoten ganz gestrichen oder durch mildere Ausdrücke ersetzt, sondern der das Drama kennzeichnende Witz wirkte insgesamt reduziert, was Büchner, der sich zwar keine Illusionen hinsichtlich eines unveränderten Drucks gemacht hatte und dem Verleger „die Erlaubnis, einige Aenderungen machen zu dürfen“4 erteilt hatte, stark missfallen musste. Der Druck und die Kenntnisnahme dieser Änderungen bewegten ihn dazu, im Brief vom 18. Juli 1835 das Thema der „sogenannte[n] Unsittlichkeit“5 seines Dramas etwas ausführlicher zu behandeln. Er lehnte die Sittlichkeit, die ab Mitte des 18. Jahrhunderts zum höchsten Wert der Dichtung, der politischen Kämpfe, der Philosophie, aber auch der Historiographie6 erhoben worden war und als „die Wirklichkeit der Welt“ ausgegeben sowie „durch die Existenz sittlicher Subjekte in allen Ständen und Nationen [als] garantiert“ betrachtet wurde,7 als ästhetisch leitendes Prinzip radikal ab: Nur die Geschichte, das heißt die Wirklichkeit, gebe dem Dichter den Maßstab an Sittlichkeit oder auch an Unsittlichkeit für seine Darstellung.8 Durch diese Behauptung stellte Büchner nicht nur die Einheit von Sittlichkeit und Dichtung, sondern auch diejenige von Sittlichkeit und Realität in Frage; gleichzeitig denunzierte er die spezifische Funktion des sittlichen Arguments: Es würde ausschließlich den 2 3
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GUTZKOW, 1837. Zuerst in einer gekürzten Form in zehn Folgen (vom 26. März bis zum 7. April 1835) im bei Sauerländer herausgegebenen Tagblatt Phönix. Frühlings-Zeitung für Deutschland erschienen, wurde Danton’s Tod Anfang Juli 1835 beim selben Verleger als Buch veröffentlicht. Karl Gutzkow übernahm die redaktionelle Arbeit. Der von Gutzkow redigierte Erstdruck ist seit 1997 in der dtv-Reihe „Bibliothek der Erstausgaben“ jedem interessierten Leser zugänglich. Vgl. BÜCHNER, 2006. BÜCHNER, 2012, Tl-Bd. 1, S. 66. EBD. Vgl. VON LAAK, 2003. SPIES, 1992, S. 12. Vgl. BÜCHNER, 2012, Tl-Bd. 1, S. 66.
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Regierungen dazu dienen, ihren Feinden und deren Werken den Kampf zu erklären.9 Dabei sprach er aber indirekt auch ein Thema an, das in seinem Drama eine wichtige Rolle in der Gestaltung des Konflikts zwischen Dantons und Robespierres Lebensauffassung spielt. In diesem Schreiben an die Familie hat die Büchner-Forschung schon seit langem den poetologischen Umriss des realistischen ästhetischen Kerns erkannt, von dem Büchners literarische Produktion sicheres Zeugnis ablegt. Diesen Kern bildet u. a. das besondere Verhältnis, das er zwischen (historischer) Wirklichkeit und Dichtung herstellte und welches nicht nur den Stoff, sondern auch die Form seiner Werke bestimmte. Ohne auf die Einzelheiten des Briefes eingehen zu müssen,10 ist es im Hinblick auf diese Arbeit wichtig zu betonen, dass Büchner, wenn er sich in diesem Bekenntnis zur realistischen Schreibweise11 auf die Geschichte berief, sowohl die Autonomie der Dichtung von außerdichterischen (moralischen und politischen) Kriterien reklamierte als auch die Einschränkung dieser Autonomie postulierte: Die poetische Verarbeitung des historischen Stoffes – in der der dramatische Dichter „uns die Geschichte zum zweiten Mal erschafft und uns gleich unmittelbar, statt eine trockne Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hinein versetzt, uns statt Charakteristiken Charaktere, und statt Beschreibungen Gestalten gibt“12 – sollte letztendlich zurück auf die Wirklichkeit verweisen. Durch Dichtung könne also die Wirklichkeit wieder zu sich selbst finden und dabei Gelegenheit zur Überlegung bieten, ohne jedoch spezifische moralische oder erzieherische Ziele zu verfolgen.13 Der im Brief schnell hingeworfene poetologische Entwurf deckt in der Tat eine poetische Dynamik auf, die Büchners Drama charakterisiert. Nicht nur das: Diese Dynamik, auf die die sich im Titel dieses Beitrags angegebene Triade – mimetischer Realismus, ästhetische Evidenz und poetologische Reflexion – bezieht, kennzeichnet im Besonderen den Witz in Danton’s Tod, was auch Büchners über den gekränkten Stolz eines Dichters hinausgehende, viel-
9 Vgl. EBD. 10 Viele Forscher haben sich mit diesem Brief auseinandergesetzt. Hier sei beispielshalber nur auf zwei hingewiesen, die trotz ihrer Unterschiede große Resonanz gefunden haben: POSCHMANN, 1985 und MEIER, 1983. 11 Schon Karl Viëtor bezeichnete Büchners Danton’s Tod als „das erste deutsche Drama im Stil eines entschiedenen Realismus“. Vgl. VIËTOR, 1949, S. 115. Zum Thema ‚Realismus‘ in diesem Drama, vgl. u. a. GOLTSCHNIGG, 1975. 12 BÜCHNER, 2012, Tl-Bd. 1, S. 66. 13 Vgl. EBD.
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mehr ästhetisch motivierte Verärgerung über die am Manuskript angeführten Änderungen erklären kann:14 Diese gehorchten dem kunstfernen Sittengesetz und standen dabei der Wirklichkeitsnähe des Dramas, seiner ästhetischen Kohärenz und seinem Erkenntnispotenzial im Wege. Der Folge seiner Eingriffe in den Text war sich Gutzkow jedoch bewusst: „Der ächte Danton“, so seine vom Pathos durchaus nicht freien Worte im Nachruf auf den früh verstorbenen Dichter, „ist nicht erschienen.“15 Was nicht gedruckt werden durfte, war in seinen Augen jedoch „der individuellste, der eigenthümlichste Theil des Ganzen“16. Es ist bekannt, dass er in seinem Brief an Büchner vom 10. Juni 1836 das Thema des Witzes in Danton’s Tod direkt angesprochen hatte und die Gründe für die relativ geringe Aufmerksamkeit, die das Drama oder, wie er schrieb, die „Comödie“ gefunden hatte, mit folgenden Worten benennt: Ihr Danton zog nicht: vielleicht wissen Sie den Grund nicht? Weil Sie die Geschichte nicht betrogen haben: weil einige der bekannten heroice Dicta in Ihre Comödie hineinliefen u[nd] von den Leuten drin gesprochen wurden, als käme der Witz von Ihnen. Darüber vergaß man, daß in der Tat doch mehr von Ihnen gekommen ist, als von der Geschichte u[nd] machte aus dem Ganzen ein dramatisiertes Kapitel des Thiers.17
Hält man sich an Gutzkows Worte und behält man auch den Erstdruck im Auge, so kann man feststellen, dass der Witz in Danton’s Tod, obwohl „abgestumpft“18, stark genug wirken musste, um als ein kreativer Bestandteil des Dramas rezipiert (und aus diesem Grund auch abgelehnt) zu werden, auch da, wo er eigentlich aus den historischen Quellen übernommen worden war. Büchners und Gutzkows Einschätzung des Witzes als poetisch bedeutender Träger und Zeuge des für die damaligen literarischen Verhältnisse sehr besonderen Realismus des jungen Dramatikers trifft genau zu, und aus diesem
14 „..... Ueber mein Drama muß ich einige Worte sagen: erst muß ich bemerken, daß die Erlaubnis, einige Aenderungen machen zu dürfen, allzusehr benutzt worden ist. Fast auf jeder Seite weggelassen, zugesetzt, und fast immer auf die dem Ganzen nachtheilige Weise. Manchmal ist der Sinn ganz entstellt oder ganz und gar weg, und fast platter Unsinn steht an der Stelle“, EBD. 15 GUTZKOW, 1837, unpaginiert. 16 EBD. 17 BÜCHNER, 2012, Tl-Bd. 1, S. 95 [Herv. i. O.]. 18 GUTZKOW, 1837, unpaginiert.
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Grund wurde hier entschieden, sie der Untersuchung voranzustellen: Büchner versah seine Figuren mit einer sprachlichen Schlagfertigkeit, die historisch belegt war, und gleichzeitig verlieh er seinen Gestalten Wirklichkeitscharakter, d. h. er schuf Charaktere, die auch durch ihren Witz in einer unmittelbaren Beziehung zu ihrer Realität stehen. Die hier vorgeschlagene Analyse wird zeigen, wie sich im Witz diese poetische Dynamik entwickelt, und sich dabei besonders auf das Verhältnis zwischen Witz und (historischer und poetischer) Wirklichkeit konzentrieren. Die im Brief an die Familie vom 18. Juli 1835 skizzierten poetologischen Äußerungen gehören zu den in der Büchner-Forschung am meisten zitierten Stellen aus dem Briefwechsel, aber indem sie auf die gesamte ästhetische Auffassung des jungen Autors bezogen worden sind, ist der Witz, dessen Tilgung oder Milderung sie z. T. veranlasste, etwas aus dem Blick geraten.19 Im schlimmsten Fall hat die Idee eines historisch mimetischen Realismus nur dazu geführt, dass man in gewissem Maße gerade noch geduldet hat, was tendenziell als ein Störelement der Dichtung empfunden wurde. Dass es nicht so ist, dass es sich beim Witz im Gegenteil um ein wichtiges ästhetisches Mittel handelt, dessen poetische Funktion sich durchaus nicht in der reinen historischen Abbildung der Sprechweise und einiger moralischer Eigenschaften der historischen Personen erschöpft, soll die folgende Untersuchung belegen.
19 Eine wichtige Ausnahme stellt LEVESQUE, 1989, dar. In seiner Analyse werden die Themen und die Zielpersonen des Witzes in Danton’s Tod herausgearbeitet, der Witz wird als eine Gegensprache („counterlanguage“) aufgefasst, mit der die Robespierres und St. Justs Reden kennzeichnende Rhetorik der Revolution ironisch depotenziert wird. An Levesques Analyse gilt es festzuhalten, auch wenn nicht alle Schlussfolgerungen, die er daraus zieht, geteilt werden können. Die von ihm bestimmten Aspekte sind durchaus wichtig – vor allem was die Witze der Dantonisten angeht –, jedoch weist die literarische Funktion des Witzes in Danton’s Tod eine größere Komplexität auf, die hier ergründet werden soll. In ganz andere Richtung geht hingegen SCHWARZ, 1954, dessen Untersuchung nicht spezifisch auf Danton’s Tod, sondern auf das Gesamtwerk Büchners fokussiert. Er betont die psychologisch-existentielle Funktion des Witzes, wobei die ästhetische Dimension der Figuren sehr in den Hintergrund gerät. Dabei sollte man nicht vergessen, dass die literarische Komik meistens eine spezifisch ästhetische und keine genuin psychologische Funktion hat. Nicht zufällig erweisen sich diejenigen Studien als besonders hilfreich, die dieses ästhetische Potenzial zu schätzen und zu bewerten wissen. Einen Beweis dafür liefert die exemplarische Studie zur Groteske im Woyzeck in JAKOBI, 1999.
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2. Die drei Ebenen des Verhältnisses von Witz und Realität in Büchners Drama In der Tat geht der Witz in Danton’s Tod weit über den historisch-mimetischen Realismus hinaus und ist als ein besonderer poetischer Ausdruck der Beziehung zwischen den Charakteren und ihrer Welt zu interpretieren. In diesem Drama ist der Witz nie Selbstzweck und auch nicht nur Mittel zur moralischen und psychologischen Charakterisierung der Figuren. Im Gegenteil handelt es sich um einen realistischen Witz, d. h. um einen Witz, der stets einen Anhaltspunkt in der poetischen Wirklichkeit hat, über die sich die Figuren eben auf witzige Weise äußern. Dieser Realismus wird nicht zuletzt durch die komischen Kontraste möglich, auf denen der Witz in Danton’s Tod baut: Die Komik bietet der Dichtung das spezifische ästhetische Mittel, die Wirklichkeit und die Haltung dazu auf eine unmittelbare, d. h. anschauliche Weise miteinander zu verbinden. Wie die Ästhetik des 18. und des 19. Jahrhunderts noch sehr genau wusste,20 gehört allgemein zum komischen Kontrast sowohl eine subjektive als auch eine objektive Seite. Durch den auf solchem Kontrast basierenden Witz wird der Blick auf die Realität, d. h. das subjektive Urteil über diese, als eine Eigenschaft der (im Witz dargestellten) Realität maskiert und mitgeteilt. Um überhaupt bei seinen Empfängern anzukommen, muss der Witz, der sich wie in Büchners Drama auf die Realität beziehen und nicht bloß ein Beweis der Geistesgegenwart oder der Sprachgewandtheit der Witze machenden Figur sein will, dementsprechend eine komische Qualität des Objektes entdecken und anschaulich machen, wodurch sie auch für andere erkennbar wird. Der Witz verbindet also in Danton’s Tod das Gegebene und die Sichtweise darüber. Er entsteht aus der Verschmelzung einer objektiven, d. h. allgemein erkennbaren, anschaulichen, präsenten und realen Dimension und einer subjektiven, er ist Ausdruck einer Erkenntnis über die Realität und gleichzeitig ein Mittel, diese Erkenntnis für andere real zu machen. Ist nämlich das Gesehene und durch den Witz zum Ausdruck Gebrachte im Gegebenen nicht erkennbar, nicht unmittelbar anschaulich, dann geht die dem Witz zugrundeliegende erkennende Absicht fehl. Die Angst vor dem Witz und überhaupt der Ärger über die Witzeleien – wie sie z. B. in Büchners Drama Robespierre und seine Parteigänger zeigen – rühren oft nicht zuletzt daher, dass der Witzmacher im ge20 Vgl. u. a. JEAN PAUL, 1990, S. 114.
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wissen Sinne recht behalten könnte, dass sein Witz nicht nur auf seine Laune zurückzuführen wäre, sondern Seiten der Wirklichkeit ans Licht bringen könnte, die man lieber versteckt, verhüllt wissen möchte. Aus diesem Grund hat der komische Witz auch ein politisches Potenzial,21 wie Büchners Drama zweifelsohne zeigt. Auch durch den Witz kreierte also Büchner Charaktere und setzte sie ins Verhältnis zu ihrer Welt. Haben die Beschreibungen des Historikers überwiegend einen dokumentarischen und antiquarischen Wert für ihn,22 so dient der literarische Witz dem eigentlichen Schaffensprozess des Dichters, der die Fakten nicht in ihrer Faktizität, sondern in ihrer Bedeutung für seine Charaktere gelten lässt. Auch durch den Witz findet also bei Büchner – um bei seinen Begriffen zu bleiben – das „Leben“23 in der Dichtung seine Realität wieder. Die Art des Witzes weist auf die persönlichen Charakteristika der Witzemacher hin, der Witz selber bürgt aber für ihre Qualität als Charaktere, die wie „Menschen in Fleisch und Blut“24 wirken sollen, welche in einer Zeit leben und sich mit dieser Zeit auseinandersetzen und deren Wirklichkeit interpretieren. Der Witz in Danton’s Tod ist also Mittel eines mimetischen Realismus, der den Eindruck des historisch Authentischen erwecken soll; zugleich dient er der ästhetischen Stringenz des Dramas und der poetischen Evidenz des Verhältnisses, das die Figuren zu sich und ihrer Wirklichkeit haben. Diese doppelte Ebene überkreuzt sich mit einer dritten, poetologischen Dimension, welche die ersten beiden miteinander verbindet, sich von ihnen aber auch distanziert und dem Witz sowohl eine metahistorische als auch eine metatheatralische Funktion verleiht: Er dient der Entlarvung des Prinzips, nach dem die Figuren gestaltet sind, die in diesem Drama durch ihren direkten Bezug auf die historischen Personen Figuren zweiten Grades sind. Die Untersuchung des Witzes in Büchners Drama der französischen Revolution wird auch aus diesem Grund wichtig: nicht nur weil er die historische Realität evoziert, sondern auch und vor allem, weil er zum Träger der (poetischen) Reflexion über diese Realität wird und auf die besondere dichterische 21 Um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Das politische Potenzial, von dem hier die Rede ist, bezieht sich nicht einzig auf die Witze, die wegen ihres Stoffes und ihrer Zielpersonen als politische Witze im engsten Sinne des Wortes zu verstehen sind. Zum eigentlichen politischen Witz vgl. u. a. SPEIER, 1975. 22 Vgl. BÜCHNER, 2012, Tl-Bd. 1, S. 66. 23 EBD. 24 EBD., S. 67.
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Bearbeitung des historischen Stoffes hinweist. Und ebenso wie beim Thema der Sittlichkeit wird auch der Witz von den Dramenfiguren nicht nur aufgegriffen, sondern auch thematisiert. Mehr noch: Sittlichkeit und Witz liegen im Drama zwei konträren Perspektiven zugrunde, deren Kontrast letztendlich eine politische und eine ästhetische Tragweite hat.
3. Anal yse 3.1 Die Witze der Dantonisten Danton, weil freimüthiger und unverschämter als Robespierre, und deshalb weniger zu fürchten, hatte ein ehernes Herz, und übte die philosophischen Grundsätzen des Atheisten aus. Sein Gesicht glich einem Medusenhaupt auf einem athletischen Körper. Wenn der Donner seiner Stimme rollte, so erzeugte der scharfe, schneidende, gigantische und convulsivische Ausdruck seiner Beredsamkeit mit lebhaften, aber fürchterlichen Bildern überladen, Grausen in allen Gemüthern. Er mochte gern bei lasterhaften Vergnügen von seinen Arbeiten ausruhen, und diese Vergnügungen machten ihn menschlicher. Bei seinen nächtlichen Orgien lachte er über den Schrecken, den er am Morgen verursacht hatte. Ein besänftigendes Vorwort fand bei ihm Gehör, und Thränen vermochten seine Grausamkeit zu erweichen; doch ein weit sicheres Mittel war das Gold. Menschen, auf die er Einfluß hatte, oder die er beherrschte, bewies er eine fast romanhafte Freundschaft und Treue; er ließ ihnen seinen Unterricht zukommen, und dictirte ihnen seine Orakelsprüche im Clubb der Franziskaner. Indessen erreichten seine verschrieensten Schüler nie eine so unersättliche Grausamkeit, als jene, welche aus Robespierre’s Schule hervorgegangen waren. Danton vermochte nicht zu fassen, wie dieser zu einer Revolutionszeit den Heuchler spielen konnte.25
Diese Schilderung des historischen Danton war im dritten Band von Carl Strahlheims (alias Johann Konrad Friedrich) Geschichtswerk Unsere Zeit, oder geschichtliche Uebersicht der merkwürdigsten Ereignisse von 1789-1830 25 BÜCHNER, 2000, Tl-Bd. 3, S. 115 [Herv. von mir, S. G.]. Im dritten Band der Marburger Ausgabe sind viele Auszüge aus dem historischen Material wiedergegeben, das Büchner als Vorlage diente, darunter auch sehr lange Teile aus dem Fortsetzungswerk Unsere Zeit (s. o.), aus dem das Zitat stammt.
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(1826-1831) zu lesen, das zu den wichtigsten historisch belegten Materialquellen von Büchners Drama zählte. Durch eine Erzählung, die, um Büchners Ausdruck zu verwenden, alles andere als eine „trockne Erzählung“26 war, zeichnete der Autor ein lebhaftes und höchst ambivalentes Bild von Danton, der auf der einen Seite durch seine imposante Figur und seine schneidende Rhetorik Grausen, auf der anderen ein Gefühl der Herzlichkeit und der Freundschaft bei denen wecken konnte, auf die er seinen Einfluss ausübte. Diese Freundschaft wird, ähnlich wie seine körperliche Gestalt und seine bilderreiche Sprache, als ein Mittel Dantons aufgefasst, den anderen zu imponieren. Genannt werden seine lasterhaften nächtlichen Orgien und sein nächtliches Lachen über den am Tag verursachten Schrecken, und auf eine für einen sich an das liberale Bürgertum wendenden Autor eher auffallende Weise werden diese lasterhaften Vergnügungen als Grund für Dantons größere Menschlichkeit gegenüber dem „Heuchler“27 Robespierre angegeben. Die Mischung von Witz, Laster, Grauen und Menschlichkeit charakterisiert Danton und die Dantonisten auch in Büchners Drama.28 Was diese Figuren und die Gegenstände ihres Witzes und dessen kommunikative Handlungssituationen angeht, so zeigt der Autor Nähe zur historisch überlieferten Wirklichkeit. Diese Nähe wird dramaturgisch verarbeitet und die überlieferte Verbindung zwischen Laster und Schrecken gewinnt im Witz an eigentümlicher poetischer Relevanz. Die meisten Witze der Dantonisten stehen in der Tat im Zeichen des „lasterhaften Vergnügen[s]“, d. h. es handelt sich um obszöne Witze, die das ‚Laster‘ thematisieren und es zugleich als eine von der Heuchelei des sittlichen Gedankens produzierte Kategorie entlarven und dementsprechend ablehnen. Im ersten Akt werden die obszönen Witze überwiegend dann gemacht, wenn Danton und seine Freunde zusammen oder in Begleitung von zweifelhaften Damen oder Grisetten und Huren sind (I,1, I,5). Die für den Witz konstitutive kommunikative Handlungskonstellation ist hier, wie im oben angegebenen historischen Zitat, jene einer geschlossenen Gruppe, die eine ähnliche Lebensweise teilt und sie durch den Witz unter Komplizen – „Spitzbuben“ wird Lacroix sagen29 – zu ihrem sprachlichen Ausdruck bringt. Im Kontext des Dramas bewirkt der obszöne Witz der Dantonisten eine unmittelbare Entlarvung von 26 BÜCHNER, 2012, Tl-Bd. 1, S. 66. 27 BÜCHNER, 2000, Tl-Bd. 3, S. 115. 28 Zum Thema der Freundschaft anhand der Analyse der Figur von Hérault, vgl. CHAMBERLAIN, 1988. 29 BÜCHNER, 2000, Tl-Bd. 2, S. 23.
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Robespierres propagiertem revolutionärem Tugendideal als Lüge und Instrument eines sich zu moralischer Autorität erhebenden Machtwillens. Gegen jegliche Idealisierung wird der Mensch durch diese spezifische Art von Witz auf entheiligende und endgültige Weise auf seine Körperlichkeit zurückgeführt: Diese sollte auch die realistische Grundlage eines politischen Programms darstellen, das in den Augen der Dantonisten fähig sein sollte, in die Wirklichkeit der Menschen einzugreifen, ohne sie einem dieser Wirklichkeit fremden Tugendideal zu unterwerfen. Indem sich die Witzemacher auch durch ihren Witz ostentativ zu ansonsten als lasterhaft bezeichneten Genüssen bekennen, behaupten sie in der Tat ihre Distanz zur Idee des Lasters als solchem, über die sie sich ebenfalls lustig machen. Ein Beispiel bietet bezeichnenderweise schon die erste Szene des Dramas, in der Hérault-Séchelles das Kartenspiel mit einigen Damen durch die Bewegung seiner Finger und durch die Sprache als ein erotisches Spiel inszeniert und zugleich und in unmittelbarem Kontrast dazu den verbreiteten sittlichen Gesichtspunkt zu übernehmen fingiert, über den er sich mokiert: Ich zettelte eine Liebschaft mit einer Kartenkönigin an, meine Finger waren in Spinnen verwandelte Prinzen, Sie Madame waren die Fee; aber es gieng schlecht, die Dame lag immer in den Wochen, jeden Augenblick bekam sie einen Buben. Ich würde meine Tochter dergleichen nicht spielen lassen, die Herren und Damen fallen so unanständig übereinander und die Buben kommen gleich hinten nach.30
Das Kartenspiel und die Witze darüber wirken wie ein komischer Wechselgesang auf die ernsten Themen, die der melancholische, mit seiner Frau nebenan sitzende Danton auf ironisch distanzierte Weise anspricht: die grundsätzliche Einsamkeit des Menschen, die Unmöglichkeit des Sich-Untereinander-Kennens, die sterbende Liebe und die Liebe zum Tod. Durch Héraults Witzeleien wird eine Distanz zum melancholischen Blick Dantons eingeführt, was eine Spannung im Drama erzeugt, die den Rezipienten unmittelbar in eine beobachtende Position zwingt. Zugleich leistet der Witz etwas mehr als Ablenkung und Distanz: Auf komisch-spielerische Weise antizipiert er nämlich die ernsten und konstitutiven Themen des Stücks, in dem die Entgegensetzung von Laster und Tugend eine schwerwiegende politische Rolle hat und die weitere Betätigung der Guillotine durch die Jakobiner legitimiert. Das Wort ‚Dame‘ hat die witzi30 EBD., S. 5.
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ge explizite Verschiebung vom Kartenspiel in die erotische Sphäre ermöglicht, implizit rufen jedoch die Kartenfiguren (Königin, Buben und Prinzen – die den Rezipienten das unausgesprochene Bild der König-Kartenfiguren automatisch mitdenken lassen) auch die Wirklichkeit der infolge der Revolution ‚übereinanderfallenden‘ königlichen und adligen Leichen („Herren und Damen“31) auf, kurzum: Auf komisch verfremdete Weise evozieren sie die Realität der Guillotine. Schlüsselwort ist auch das Wort „Herren“, das in I,2 eine bedeutende Rolle spielt: „Es giebt hier keine Herren! An die Laterne“32. In der Tat: Wörter wie ‚Damen‘, ‚Herren‘, ,übereinanderfallen‘, ‚Wochen‘ und hinten nachkommende ‚Buben‘, die hier den sexuellen Witz möglich gemacht haben, sind noch frisch im Gedächtnis des Rezipienten, wenn unmittelbar nach Héraults Witz Camille Desmoulins und Philippeau eintreten und letzterer ankündigt: Heute sind wieder zwanzig Opfer gefallen. [...] vielleicht auch weil die Decemvirn sich verloren glaubten wenn es nur eine Woche Männer gegeben hätte, die man mehr fürchtete, als sie. [...] Wie lange sollen wir noch schmutzig und blutig seyn wie neugeborne Kinder, Särge zur Wiege haben und mit Köpfen spielen?33
Einige Wörter haben eine partielle Resemantisierung erfahren – hier ist z. B. die Rede von „Männern“ und nicht von „Herren“, was auf die Neuorientierung in der Hinrichtungspraxis hinweist –, die allerdings Licht auf die Dreideutigkeit des vorigen Zitats werfen: Die Buben, die dort den übereinanderfallenden Damen und Herren „gleich hinten nach“34 kamen, werden hier zu den „neugeborne[n] Kinder[n]“35, die mit Köpfen spielen. Die historische Wirklichkeit der auf den Pariser Straßen mit den guillotinierten Köpfen spielenden Kinder wird hier evoziert. In Philippeaus Worten wird diese Szene zum Bild der Conditio Humana schlechthin in der Zeit der Revolution erhoben. Durch den Witz werden also drei für das Stück grundlegende Sphären eng miteinander verbunden: das Spiel (als Karten- und Kinderspiel doppelt evoziert), die Erotik und die Guillotine.
31 32 33 34 35
EBD., S. 11. EBD. EBD., S. 6 [Herv. von mir, S. G.]. EBD. EBD.
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Die witzige Verbindung von Guillotine und Erotik, die Lacroix’ Worten in I,5 – „Gute Nacht, Danton, die Schenkel der demoiselle guillotiniren dich, der mons Veneris wird dein tarpeiischer Fels“36 – ihren pointierten Ausdruck findet, bildet eine Konstante im Drama, die nicht nur die Witze der Dantonisten, sondern auch diejenigen des Volkes verbindet, auf die noch zurückzukommen sein wird. Bei den Dantonisten bringt der Witz die grausame Realität auf eine komisch verfremdete Weise ins Spiel, die es ermöglicht, diese Realität mit Distanz zu betrachten und sie womöglich auf einer ästhetischen Ebene sogar zu goutieren, wie auch die vielen Anspielungen auf das Theater verdeutlichen. Es gilt für alle Komik, dass sie die emotionale Teilnahme an dem komischen Gegenstand ausschließt.37 Für die Dantonisten wird sie allgemein zu einem Mittel, sich über die Bedrohung durch die Wirklichkeit wenigstens für die Dauer eines Witzes zu erheben (man denke z. B. an die Witze, durch die einige der nunmehr zum Tode verurteilten Dantonisten in der Conciergerie in III,3 dem Tod gegenüber Souveränität zu zeigen versuchen). Dazu wird spezifisch durch den obszönen Witz aber auch das Bewusstsein der Figuren ausgedrückt, dass ihre erotische Wollust Nahrung für die Todeswollust der nun herrschenden Partei abgeben wird. Um auf einen traditionellen Topos zurückzugreifen, der im Drama – wenn auch verfremdet – keine unwichtige Rolle spielt, könnte man behaupten, dass die politischen Gegner in der Wollust, sei sie durch Eros oder durch Thanatos erweckt, zu einer unbequemen neuen Einheit finden. Aber der Witz der Dantonisten kennt auch eine Umkehrung gegen seine Macher und geht teilweise zuungunsten der ihn produzierenden Absicht: Sein Insistieren auf die erotische Dimension führt nämlich zur poetischen Entlarvung der tiefen Distanz der Dantonisten von ihrem Genussprogramm, das auf Begriffen wie Wohlbefinden statt Pflicht, Notwehr statt Tugend, „nackte Götter, Bacchantinnen, olympische Spiele und melodische Lippen“38 basieren sollte. Diese Distanz unterminiert ausgerechnet das politische Wirklichkeitspotenzial des Programms. Durch den obszönen Witz erfährt nämlich die Körperlichkeit eine Veräußerlichung und eine Verdinglichung, die nichts mehr mit dem politischen Projekt einer freien sinnlichen Entfaltung des Menschen und der Gestaltung der Staatsform als „durchsichtiges Gewand […], das sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt“39 zu tun hat. Sexualität wird zum leerlaufenden
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EBD., S. 24. Vgl. BERGSON, 1972, S. 16. BÜCHNER, 2000, Tl-Bd. 2, S. 7. EBD., S. 6.
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komischen Diskurs, der zwar zum Gegenprogramm des ernsten „erhabne[n] Drama[s] der Revolution“40 eines jegliche Form von Witz verabscheuenden Robespierres wird, selber jedoch ein totes (und tötendes) Ding ist, wie die ständigen komischen Hinweise auf die Syphilis verdeutlichen. Haben die Dantonisten für die Beschreibung des Programms keine eigentliche politische Sprache – und nicht von ungefähr wird es überwiegend durch aus der Literatur entlehnte Bilder ausgedrückt41 –, so dass es schon bei seinem Ausdruck an Substanz zu verlieren droht, verdeutlichen die Witze die Unfähigkeit der Figuren, dieses Programm in eine tatsächliche Wirklichkeit zu übersetzen. Besonders kennzeichnend ist in dieser Hinsicht nicht nur der witzige Austausch zwischen den Paaren Danton/Lacroix und Adelaide/Rosalie in I,5, der bei Danton einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt – „Sie dauern mich, sie kommen um ihr Nachtessen“42 –, sondern auch die komische Unterbrechung des Gesprächs zwischen Danton und Marion durch den lachenden Lacroix in derselben Szene. Während sich Danton danach sehnt, „ein Theil des Aethers [zu] seyn“ und sich „auf jeder Welle deines [Marions] schönen Leibes zu brechen“,43 tritt Lacroix ein, bleibt jedoch bei der Tür stehen und spricht folgende Worte: „Ich muß lachen, ich muß lachen. […] Die Gasse fällt mir ein. […] Auf der Gasse waren Hunde, eine Dogge und ein Bologneser Schooßhündlein, die quälten sich. […] Das fiel mir nun grade so ein und da mußt’ ich lachen“.44 Lacroix’ Worte, die nicht als Witz formuliert sind, jedoch eine komische Situation schildern, geben sich unverschleiert als direkten Kommentar zu der Szene zwischen Marion und Danton, jener „Dogge mit Taubenflügeln“45, wie ihn Mercier in III,1 bezeichnen wird, die in II,2 das erotische Spiel zwischen Rosalie und dem Soldaten beobachtet und mit folgenden sprachlichen Bildern
40 So Robespierre in I,3 à propos der Abteilung der Hébertisten: „Sie parodirte das erhabne Drama der Revolution um dieselbe durch studirte Ausschweifungen bloß zu stellen.“ EBD., S. 14f. 41 Das ‚Programm‘ der Dantonisten besteht aus einer Mischung von politischen Formulierungen, die zum Teil aus der Zeit der französischen Revolution, zum Teil aus Büchners Gegenwart stammen, und literarischen Zitaten. Zu den wichtigsten Autoren, die hier verfremdet zitiert werden, zählen Heinrich Heine, Johann Wolfgang von Goethe, Sappho (in der Wiedergabe Herders) und Johann Gottfried Seume. Für eine Rekonstruktion der den Figurenreden zugrunde liegenden literarischen und historischen Bezüge, vgl. BÜCHNER, 2000, Tl-Bd. 4., S. 40-46. 42 BÜCHNER, 2000, Tl-Bd. 2, S. 21. 43 EBD., S. 20. 44 EBD. 45 EBD., S. 50.
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kommentiert: „Möchte man nicht drunter springen, sich die Hosen vom Leibe reißen und sich über den Hintern begatten wie die Hunde auf der Gasse?“46 Ist Marion eins mit ihrem Körper, kennt sie nunmehr keinen Bruch in ihrem Wesen, kennt dementsprechend ihre Sprache anders als z. B. die der sich aus Hunger prostituierenden Adelaide und Rosalie keinen Witz, bemüht sich der innerlich und körperlich zerrissene Danton, der „die mediceische Venus stückweise bey allen Grisetten des palais royal zusammen“ sucht und „Mosaik“47 macht, vergeblich um dieselbe Einheit. Lacroix’ ernüchternde Worte bringen diese Realität Dantons zum Ausdruck, die in krassem komischen Kontrast zu Dantons Lyrismen steht, welche damit ins Lächerliche gezogen werden: Danton wird an Danton lächerlich gemacht, seine Lyrismen als Lüge entlarvt. Der Witz zerstört jede Täuschung, indes gewinnt die Realität wieder die Oberhand gegen jegliche Hingabe des Subjekts an utopisches Denken: Dadurch aber fixiert der Witz diese Wirklichkeit ein für alle Mal und trägt zu ihrer Fortsetzung bei, eine Wirklichkeit, die Danton eigentlich gut kennt und der er auch überdrüssig ist. Ihm bleibt der lügnerische Weg des Erhabenen versperrt. Aber auch mit dem „unendlich Kleinen“,48 wie Jean Paul von der Warte seiner romantischen Ästhetik aus das Lächerliche definierte, kann er sich nicht zufriedengeben. Regelmäßig schwankt er zwischen den beiden Polen, bis er am Ende mit einem komischen Witz fürchterlicher Wirkung aus dem Leben scheiden wird. 3.2 Die Witze Dantons Danton’s Tod beginnt mit einem sexuellen Witz: Sieh die hübsche Dame, wie artig sie die Karten dreht! Ja wahrhaftig sie versteht’s, man sagt sie halte ihrem Manne immer das coeur und andren Leuten das carreau hin. Ihr könntet einem noch in die Lüge verliebt machen.49
Der Witz und der darauffolgende Kommentar sind nicht nur die Worte, mit denen das Drama anfängt, es sind auch die allerersten Worte Dantons, der auf 46 EBD., S. 35. 47 EBD., S. 18. 48 „Kurz, der Erbfeind des Erhabenen ist das Lächerliche; und komisches Heldengedicht ist ein Widerspruch und sollte heißen das komische Epos. Folglich ist das Lächerliche das unendliche Kleine [...]“. JEAN PAUL, 1990, S. 105. 49 BÜCHNER, 2000, Tl-Bd. 2, S. 4.
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einem Schemel zu den Füßen seiner Frau Julie und „etwas weiter weg“50 vom Spieltisch sitzend das zweideutige Kartenspiel zwischen Hérault und einigen Damen belustigt und affektiert-melancholisch zugleich beschreibt. Der Witz ist im selben Stil wie die oben erläuterten und durch ihn werden die eigentümlichen Charakteristika der Gestalt Dantons präsentiert: seine distanzierte Haltung, seine Erkenntnis der Wirklichkeit, seine Interpretation derselben als eine lüsterne und lügenhafte. Durch die hinzugefügten kommentierenden Worte geht er aber über den Witz hinaus und spricht seine Zugehörigkeit zu dieser Lust und dieser Lüge, kurz: zu dieser Wirklichkeit, aus. Nicht nur die ersten Worte Dantons, sondern auch seine letzten auf dem „Blutgerüst“51 der Guillotine werden in der Form eines (schaurigen) Witzes formuliert: Während der lustige Hérault beim vom Henker verhinderten Versuch, Danton zu umarmen, feststellen muss, „nicht einmal einen Spaß mehr heraus“52 zu bringen, und dies als eindeutiges Zeichen für das endgültige Eintreten des Todes – „Da ist’s Zeit“53 – interpretiert, kann Danton noch einen Witz aussprechen, durch den er einen letzten Widerstand gegen den „grausame[n]“54 Henker leistet, der seine Rolle als Vollzieher der politischen Entscheidung zu ernst nimmt und die Umarmung zwischen den zwei Freunden unnötigerweise verhindert: „Willst du grausamer sein als der Tod? Kannst du verhindern, daß unsere Köpfe sich auf dem Boden des Korbes küssen?“55 Für diesen provokativen Witz greift Büchner auf historische Quellen zurück, die er vermutlich miteinander verbindet, und der Satz gehört zu jenen heroice dicta, auf die sich Gutzkow im oben zitierten Brief vom 10.6.1836 bezog. Im Drama wirkt dieser letzte Witz stark und grotesk zugleich. Er erweckt Größe und Lächerlichkeit im selben Moment: Es handelt sich nämlich um eine makabre Komik, die sich keine Täuschung über die Realität des Todes gönnt, durch die sich die Figur Danton jedoch in gewisser Weise an dieser Realität revanchiert, und die dennoch auch ein parodistisches Bild des einst grauenerregenden Revolutionärs bietet. Das Bild der zwei Köpfe, die sich im Korb bald küssen werden, steht auf der einen Seite in krassem unmittelbarem Kontrast zu der trennenden Geste des Henkers, die nicht nur als grausam, sondern auch als lächerlich absurd entlarvt wird, da dieser nicht zu merken scheint, dass der Tod 50 51 52 53 54 55
EBD. EBD., S. 79. EBD. EBD. EBD. EBD.
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in Kürze das endgültig vereinigen wird, was er zu trennen versucht. Auf der anderen Seite antizipiert Danton durch diesen Witz den Witz, den die Wirklichkeit der Guillotine für ihn und seinen Freund bereithält und den er nicht verhindern kann: Der Tod wird ein groteskes Bild von ihm und Hérault – und dabei von der Revolution selbst – abgeben. Der Anführer der Septembermorde und Initiator des Revolutionstribunals und einer der Urheber der Verfassung von 1793, gefallen durch denselben Tod, den sie in der Vergangenheit für andere bestimmt haben, werden zu Symbolen eines sich von ihren Urhebern verselbständigt habenden Mechanismus – des Saturns, der die eigenen Kinder frisst56 –, der durch Indifferenz gekennzeichnet und nicht mehr durch einen Willen zu leiten ist. Dieser Mechanismus verwandelt den Tod in eine sinnlose und fürchterliche Groteske, die ihre Versinnbildlichung in den zwei sich küssenden, vom Körper abgeschnittenen Köpfen findet. Durch diesen seinen Witz gibt Danton ein letztes Zeichen von Souveränität über die Wirklichkeit des Todes. Er zeigt eine intellektuelle und emotionale Distanz, die Gleiches im Rezipienten weckt, auf den die gesamte Szene (III,7) durch den sprachlichen Schlagabtausch zwischen den zuschauenden Weibern und den zum Tode Verurteilten und durch die Verdoppelung des Theatereffekts sowieso verfremdet wirkt. Der Witz drückt damit eine Erkenntnis über die Realität der Guillotine aus, die ihr jegliche vernünftige Legitimation abstreitet. Gleichermaßen antizipiert er diese unvernünftige Wirklichkeit, die sich ausgerechnet durch Dantons Worte vor der Zeit bewahrheitet. Und in dieser Antizipation ist der Schrecken dieser Wirklichkeit mit enthalten. Dieses Schwanken zwischen dem Bewusstsein der lächerlich-grotesken Lebensdimension und der Zugehörigkeit zu ihr charakterisiert Büchners Danton, der ständig zwischen „Thür und Angel“57 zu stehen scheint, vom Anfang bis zum Ende des Dramas. Neben den sexuellen Witzen, die oben untersucht worden sind, bedient sich Danton nicht von ungefähr einer anderen Art von Witzen, die man als grammatikalisch und lexikalisch bezeichnen könnte und die eine ganz spezifische Funktion erfüllen: die Argumente der Gesprächspartner ihrer Substanz zu entleeren, sie zu rein sprachlichen Gebilden zu reduzieren, um sich einer ernsthaften Auseinandersetzung damit zu entziehen bzw. das Gespräch auf eine andere Ebene als die vom Partner intendierte zu verschieben. Als Beispiel sei hier Dantons Antwort auf die Aufforderungen seiner Leute zur Tat in I,1 zitiert: 56 Vgl. BÜCHNER, 2000, Tl-Bd. 2, S. 22. 57 EBD., S. 7.
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CAMILLE. [...] Danton du wirst den Angriff im Convent machen. DANTON. Ich werde, du wirst, er wird. Wenn wir bis dahin noch leben, sagen die alten Weiber [...].58
Diese Witze stehen meistens unter dem Zeichen der politischen Ohnmacht und der existentiellen Melancholie, die alles menschliche Treiben aus der Distanz betrachtet und seine Sinnlosigkeit feststellt. Die Erkenntnis, die diese Witze zum Ausdruck bringen, wirkt als eine definitive, die keine Revision duldet. Das erkennende Subjekt kann sie höchstens wie in einem Schauspiel betrachten und nur noch ästhetisch goutieren, wie Dantons Worte an Camille in der Szene „Promenade“ im zweiten Akt klar verdeutlichen: Muthe mir nichts Ernsthaftes zu. Ich begreife nicht warum die Leute nicht auf der Gasse stehen bleiben und einander in’s Gesicht lachen. Ich meine sie müßten zu den Fenstern und zu den Gräbern heraus lachen und der Himmel müsse bersten und die Erde müsse sich wälzen vor Lachen.59
Diese Sätze, deren metatheatralische Bedeutung die Forschung mehrmals und zu Recht betont hat, entbehren jeglichen Witzes, ähnlich wie die in IV,5, wenn sich Danton nochmals auf das Lachen der Götter bezieht. Obwohl Danton das Leben und den Tod wie ein komisches Spiel präsentiert, das da ist, damit die Götter ihren Spaß haben können, ist seine Sprache pathetisch und ganz und gar unkomisch. Der Melancholiker sieht die Lächerlichkeit in allem und allen,60 aber indem er sich als Teil dieser Lächerlichkeit weiß, wird er, von einzelnen Momenten abgesehen, zur Distanz und dementsprechend zur Komik unfähig. Das Lachen wird deswegen auf eine kosmische Dimension projiziert und zum Zitat. Hierin liegt auch der große Unterschied zwischen dem lustigen Hérault – der mit seinem komischen Witz bis zum Letzten versucht, den Tod auf Distanz zu halten – und dem melancholischen Danton, für den der Witz meistens zu einer Pose, zu einem Zeitvertreib,61 zu einem Muss geworden ist – „Nun gut, 58 EBD. 59 EBD., S. 36. 60 Nach seinem Gespräch mit Danton fühlt sich auch Robespierre von der Lächerlichkeit bedroht: „Es ist lächerlich wie meine Gedanken einander beaufsichtigen.“ EBD., S. 26. Zu den zwischen Robespierre und Danton bestehenden Symmetrien und Asymmetrien vgl. SANNA, 2010. 61 In II,1: „PHILIPPEAU. Und Frankreich bleibt seinen Henkern? DANTON. Was liegt daran? Die Leute befinden sich ganz wohl dabey. Sie haben Unglück, kann
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man muß lachend zu Bett gehen“62, behauptet er zweideutig in III,1. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist, dass Büchners Danton – wie übrigens auch der historische Danton – Voltaires La Pucelle d’Orléans als nächtliche Lektüre in der Conciergerie wählt: ausgerechnet jenes Buch, dessen Witz Friedrich Schillers strenge Kritik auf sich zog und dem er seine nobilitierende Dichtung entgegensetzte.63 Für sein Drama und insbesondere für seinen Danton wählt Büchner das Pathos und den Witz. Aber nur durch den Witz findet der ansonsten müde Danton noch die Kraft, sein letztes Wort gegen den Tod auszusprechen, mit dem er in seiner Melancholie schon öfter kokettiert hat.64 Kann die Melancholie dem Tod noch einen Sinn abgewinnen und im Melancholiker einen süßen und tendenziell selbstgefälligen Schmerz erzeugen, indem er in diesem Schmerz seinen Platz auf der (entfremdeten) Welt wieder findet, verfährt der groteske Witz gnadenlos gegen solche Vorstellungen, die nicht zuletzt auf einer Idealisierung basieren. Gegen den melancholischen Schwärmer bringt der Witz die Realität auf eine Art wieder ins Spiel, die dem Subjekt keinerlei Zuflucht mehr ermöglicht, auch wenn man aus dieser Realität eigentlich nur flüchten kann. 3.3 Das Lachen Luciles und die Witze des Volks Die Szene IV,7 (Der Revolutionsplatz) scheint Barrères Worten in III,6 – „Aber Collot es ist nicht gut, daß die Guillotine zu lachen anfängt, die Leute haben sonst keine Furcht mehr davor. Man muß sich nicht so familiär machen“65 – Gestalt zu verleihen, wenn auch in einem anderen Sinn als von der Figur gemeint: Die gegen die zum Tode Verurteilten gerichteten Witze des Volkes und die Gegenangriffe der Dantonisten darauf scheinen die Guillotine und die Revolution in eine karnevalistische Farce ihrer selbst, in einen sich im Takt der Carmagnole und der Marseilleise aufgeführten verkehrten Totentanz
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man mehr verlangen um gerührt, edel, tugendhaft oder witzig zu seyn oder um überhaupt keine Langeweile zu haben?“ [32]. In diesen Worten wird die Tugend dem Witz als Zeitvertreib gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung findet in Camilles Worten in IV,5 ihr Echo: „Schneidet nur keine so tugendhafte und so witzige und so heroische und so geniale Grimassen, wir kennen uns ja einander, spart Euch die Mühe.“ BÜCHNER, 2000, Tl-Bd. 2, S. 76. EBD., S. 50. Vgl. SCHILLER, 1987, S. 460. In II,IV: „Ich kokettire mit dem Tod, es ist ganz angenehm so aus der Entfernung mit dem Lorgnon mit ihm zu liebäugeln“. BÜCHNER, 2000, Tl-Bd. 2, S. 39. EBD., S. 60.
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verwandelt zu haben. Die Guillotine ist so vertraut geworden, dass sie kaum noch beeindrucken kann, was auf der anderen Seite aber den Rezipienten beeindruckt, der diese verkehrte Welt beobachtet. Über das Schauspiel des Todes scheinen die Figuren den Tod – oder zumindest den Ernst des Todes – zu vergessen. Bis zum Letzten bleiben sich die Dantonisten treu, und sie führen sich so auf, wie man es von ihnen erwartet: witzig, vulgär, entheiligend und grausam. Das Volk sucht Ablenkung von seinem Hunger – „Platz! Platz! Die Kinder schreien, sie haben Hunger. Ich muß sie zusehen machen, daß sie still sind. Platz!“66 – und macht seinerseits auch derbe Witze, die wie eine Art Rache gegen die genießenden Dantonisten klingen und die nur noch durch Dantons letzte, oben zitierte Worte an Wucht übertroffen werden. Diese Worte schließen die Szene der Hinrichtung. Mit dem Ortswechsel tritt eine Stille ein, in der Lucile eine andere Wahrheit als jene ausspricht, die aus der vorigen Szene ableitbar wäre: „Es ist doch was wie Ernst darin“.67 Ihre Sätze bilden eine Zäsur im Rausch des Witzes angesichts des Todes und stellen einen Moment des Innehaltens und der Überlegung dar – „Ich will einmal nachdenken. Ich fange an so was zu begreifen. Sterben – Sterben –“68 –, jener Überlegung, der schließlich der Rezipient im Prozess seiner Bewusstwerdung bedarf und durch die er an etwas erinnert wird, was in Dantons Worten schon präfiguriert war: „[…] wir stehen immer auf dem Theater, auch wenn wir zuletzt im Ernst erstochen werden“.69 Durch den Kontrast zur Derbheit der Witze gewinnt Luciles klare Sprache an poetischer Intensität, ohne dass jedoch dadurch eine (zumindest anhaltende) poetische Verklärung der Wirklichkeit zustande käme. Wenn sie in IV,4 über den „langen Steinrock“ Camilles und über das Wort „Sterben“ noch hat lachen müssen,70 weil sie einen Kontrast zwischen den „ernste[n] Gesichter[n]“ der Leute und ihrer Wahrnehmung der Wirklichkeit fühlte: Mit Camilles tatsächlichem Tod – und anders als er es ihr gewünscht hat – kann sie auch ihr Wahnsinn nicht vor dem Ernst der Wirklichkeit schützen. Auch sie muss die Gleich-
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EBD., S. 78. EBD., S. 79. EBD., S. 80. EBD., S. 32. „Höre Camille, du machst mich lachen mit dem langen Steinrock und der eisernen Maske vor dem Gesicht, kannst du dich nicht bücken“, „Höre! Die Leute sagen du müßtest sterben und machen dazu so ernsthafte Gesichter. Sterben! ich muß lachen über die Gesichter. Sterben! Was ist das für ein Wort? Sag mir’s Camille. Sterben! Ich will nachdenken. [...]“. EBD., S. 73.
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gültigkeit der Menschen und der Natur angesichts des Todes feststellen: „Das hilft nichts, da ist noch Alles wie sonst, die Häuser, die Gasse, der Wind geht, die Wolken ziehen. – Wir müssen’s wohl leiden“.71 Ähnlich wie Lenz – „[…] sein Dasein war ihm eine nothwendige Last. – – So lebte er hin“72 – oder, wenn auch auf komisch verfremdete Weise, wie Leonce – „Meine Herren […] Ihre Stellung ist so traurig […]. Gehn Sie jetzt nach Hause, denn morgen fangen wir in aller Ruhe und Gemüthlichkeit den Spaß noch einmal von vorn an […]“73 – muss auch Lucile der Unentrinnbarkeit der Wirklichkeit gewahr werden. Anders als Lenz oder Leonce entscheidet sie sich aber dafür, es doch nicht zu leiden, und wählt den Tod – „Es lebe der König!“74 Dass „noch Alles wie sonst“75 ist, ist nicht nur auf die Wahrnehmung der Figur zurückzuführen, sondern es erhält poetische Evidenz durch das Gespräch „einige[r] Weiber“76 unmittelbar nach Luciles herzzerreißender Feststellung. Sie sprechen über den hübschen Hérault und über die erbauliche Wirkung des öffentlichen Sterbens, das ihnen die Möglichkeit gegeben hat, Héraults Erscheinung am Triumphbogen des Constitutionsfestes mit der auf der Guillotine zu vergleichen. Der Kontrast zwischen Luciles Worten und diesem Gespräch erzeugt eine (wieder einmal grausame) Komik, die auf Kosten der Figuren der Weiber und zugleich auf Kosten der Politik geht: Constitution oder Guillotine werden gleichgesetzt, sie haben für das Volk eine rein ästhetische Wirkung, sie greifen in sein Leben (in seinen Körper) nicht ein und sind ihm eine im Grunde exzentrische Sache. Die Szenen, in denen das Volk auftritt, gestatten, diese Behauptung nicht nur auf die drei Frauen, sondern auf das ganze Volk zu beziehen, was auch die Platzierung dieses merkwürdigen Gesprächs am Ende des Dramas erklärt. Wie schon oft und richtig bemerkt worden ist, straft das Volk im Drama sowohl Robespierres Tugendprogramm als auch das sensualistische Programm der Dantonisten Lüge77 und verbietet dem Interpreten, Büchners Werk als ein „Thesenpapier“78 zu lesen. Andererseits hat die Darstellung des Volkes in diesem Drama schwerwiegende Probleme in der Forschung in Bezug auf Büch71 72 73 74 75 76 77 78
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EBD., S. 80. BÜCHNER, 2001, S. 49. BÜCHNER, 2003, S. 123. BÜCHNER, 2000, Tl-Bd. 2, S. 81. EBD., S. 79. EBD., S. 80. Als Beispiel vgl. u. a. GREINER, 1993. LEHMANN, 2002, S. 142.
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ners Verhältnis zum Volk aufgeworfen. Die Untersuchung des Witzes kann einen Beitrag dazu leisten, die ästhetische Begründung dieser Darstellung aufzuklären. Worauf am Ende dieser Arbeit noch eingegangen werden soll, ist nämlich die spezifische poetische Funktion des Witzes des Volkes in Danton’s Tod, die auch in diesem Fall über den mimetischen Realismus weit hinausgeht. Die Idealisierung, die Politik und Literatur oft praktizieren (wenn auch mit meist entgegengesetzten Absichten) wird an der komischen Person von Simon (I,2) als Lüge entlarvt: Er ist betrunken, als Souffleur besitzt er keine eigene Sprache, und die literarischen Zitate, die er im Kopf hat und durcheinander bringt, machen ihn für die Erkenntnis seiner Realität völlig untauglich: einerseits weil er diese Realität von sich abweist, andererseits weil er sie verklärt. Diese Erkenntnis wird durch die schlagfertigen Antworten seiner Frau herbeigeführt, die brutal die ebenso brutale Wirklichkeit zur Sprache bringt: „Du Judas, hättest du nur ein Paar Hosen hinaufzuziehen, wenn die jungen Herren die Hosen nicht bey ihr herunterließen? Du Brantweinfaß, willst du verdursten, wenn das Brünnlein zu laufen aufhört, he?“79 Ihm gelten auch die obszönen Witze der anderen Figuren aus dem Volk, die sich über die „erbärmliche Wirklichkeit“80 keine Illusionen machen: So zu lesen in I,2 aber auch in II,2 („Eine Promenade“) und in II,6 („Straße vor DANTON’S Haus“). Die Witze des Volkes sind nie Selbstzweck in diesem Drama, und ausgerechnet die obszönen Witze gelten der Entlarvung der Heuchelei des idealistischen Menschenbildes, so wie es in Simons betrunkenen Mund gelegt wird. Ist Simon mit all seinen literarischen Zitaten für die Erkenntnis der Wirklichkeit untauglich, ist er dennoch als Mittel der Macht tauglich: Robespierres Worte – „Armes, tugendhaftes Volk! Du thust deine Pflicht, du opferst deine Feinde. Volk du bist groß“81 – haben ihre Wirkung auf ihn, der am Ende der Szene gerührt sein Sannchen sucht und seine Frau „mein tugendreich Gemahl“82 nennt. In einer grotesken Wendung ist es Simon, der Danton verhaftet. Dabei führt er sich wie ein Held der Revolution auf und bedient sich der revolutionären Rhetorik. Er zieht dadurch aber auch den Spott der anderen auf sich, die diese Rhetorik als leere Floskeln entlarven und wieder auf die wortwörtlich nackte Wahrheit hinweisen.83 Die Komik ihres Witzes geht zuungunsten von 79 80 81 82 83
BÜCHNER, 2000, Tl-Bd. 2, S. 9. EBD., S. 37. EBD., S. 12. EBD., S. 13. „SIMON. Wir müssen hinauf! Fort Bürger! Wir haften mit unseren Köpfen dafür. Todt oder lebendig! Er hat gewaltige Glieder. Ich werde vorangehn, Bürger. Der
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Simon, aber durch ihn geht sie zuungunsten der Politik, die das Volk in Sprengstoff verwandelt hat, um es dann aber in seinem Elend im Stich zu lassen. Die Figuren aus dem Volk wissen sehr genau darum, daher macht es keinen großen Unterschied mehr, einen jungen Herren an die Laterne zu hängen, weil er ein Schnupftuch hat, oder ihn gehen zu lassen, einfach weil er durch einen – historisch belegten, auch wenn von Abbé Maury ausgesprochenen – guten Witz Geistesgegenwart und echtes Lachen verursacht und dabei, als Pointe in der Pointe, sogar eine sowohl konkrete als auch symbolische Wahrheit ausspricht: „Meinetwegen, ihr werdet deßwegen nicht heller sehen!“84 Es macht keinen Unterschied mehr, weil an der Guillotine die Willkür herrscht: Die Herrscher werden sich abwechseln, die Guillotinierten auch, das Tribunal wird in eine groteske Farce verwandelt (III,2) und das Töten zum Produkt der Laune der jeweiligen herrschenden Partei, wie die sadistischen Witze Billauds oder Collots zeigen. Ein Beispiel: COLLOT. Sie ist zu alt. Madame verlangt den Tod, sie weiß sich auszudrücken, das Gefängniß liege auf ihr wie ein Sargdeckel. Sie sitzt erst seit vier Wochen. Die Antwort ist leicht. (er schreibt und liest.) Bürgerin, es ist noch nicht lange genug, daß du den Tod wünschest.85
Der Sadismus dieser Figuren verweist darauf, wie sich der Mechanismus des Todes von jeglicher Vorstellung des kollektiven Rechts und der kollektiven Gerechtigkeit verselbständigt hat, und die Szenen aus dem Volk geben dieser Verselbständigung ästhetische Evidenz. Dieser Mechanismus braucht Vollstrecker, die mit ihm identisch sein müssen: grausam, korrupt, gnadenlos. Billauds und Collots sarkastische Komik dient dazu, diese Qualität der Figuren und der Guillotine auf prägnante und anschauliche Weise zu entlarven. Die neue Politik hat eine Leerstelle eröffnet, in der sowohl der Einzelne als auch das Kollektiv das Bewusstsein dafür verloren haben, wo ihr Platz auf der Freiheit eine Gasse! Sorgt für mein Weib! Eine Eichenkrone werdʼ ich ihr hinterlassen. 1. BÜRGER. Eine Eichelkron? Es sollen ihr ohnehin jeden Tag Eicheln genug in den Schoß fallen. SIMON. Vorwärts Bürger, Ihr werdet Euch um das Vaterland verdient machen. 2. BÜRGER. Ich wollte das Vaterland machte sich um uns verdient; über all den Löchern, die wir in anderer Leute Körper machen, ist noch kein einziges in unsern Hosen zugegangen.“ EBD., S. 42. 84 EBD., S. 11. 85 EBD., S. 60.
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Welt ist.86 In dieser Leere taucht das alte Gespenst noch einmal auf, das zumindest den Vorteil hat, gut identifizierbar zu sein: „Es lebe der König!“ Aber „Es lebe der König!“ bedeutet endgültig den Tod. Und mit dieser toten Welt wird sich Büchner in Leonce und Lena konfrontieren und sich des Witzes wieder bedienen, wenn auch auf eine andere Art und Weise.
Literatur Primärliteratur BÜCHNER, GEORG, Briefwechsel, in: DERS., Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe), Bd. 10, 2 Tl-Bde., hg. von BURGHARD DEDNER u. a., Darmstadt 2012. DERS., Danton’s Tod, in: DERS., Sämtliche Werke und Schriften. Historischkritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe), Bd. 3, 4 Tl-Bde., hg. von BURGHARD DEDNER/THOMAS MICHAEL MAYER, Darmstadt 2000. DERS., Danton’s Tod. Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckenherrschaft. Frankfurt am Main 1835 (dtv Bibliothek der Erstausgaben), hg. von JOSEPH KIERMEIER-DEBRE, München 22006. DERS., Leonce und Lena, in: DERS., Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe), Bd. 6, hg. von BURGHARD DEDNER u. a., Darmstadt 2003. DERS., in: DERS., Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe), Bd. 5, hg. von BURGHARD DEDNER u. a., Darmstadt 2001. GUTZKOW KARL, Ein Kind der neuen Zeit, in: Frankfurter Telegraf, Neue Folge Nr. 42-43 (Juni 1837). http://buechnerportal.de/dokumente/ textdokumente/lz-4570/. SCHILLER, FRIEDRICH, Das Mädchen von Orleans, in: DERS., Sämtliche Werke, hg. von HERBERT G. GÖPFERT, Bd. 1, 8. durchges. Aufl., München 1987, S. 460. 86 Zum Thema Identität und Geschichte, vgl. FISCHER-LICHTE, 1990, S. 72-83.
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Sekundärliteratur BERGSON, HENRI, Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen. Aus dem Franz. übers. von ROSWITHA PLANCHEREL-WALTER, Zürich 1972. CHAMBERLAIN, TIMOTHY J., Signs of Friendship: The Function of Hérault in Dantons Tod, in: Monatshefte 80,2 (1988), S. 200-210. GOLTSCHNIGG, DIETMAR, Realistische Intentionen im historischen Revolutionsdrama. Robert Hamerlings Danton und Robespierre und Georg Büchners Dantons Tod, in: Österreich in Geschichte und Literatur 19 (1975), S. 105-113. GREINER, BERNHARD, Des vers: Wurmfraß und Verse der Revolution. Büchners Weg zur Dichtung in Dantons Tod, in: Tanz und Tod in Kunst und Literatur (Schriften zur Literaturwissenschaft 8), hg. von FRANZ LINK, Berlin 1993, S. 213-226. JAKOBI, CARSTEN, Kritischer Zweischritt. Georg Büchners ästhetische Entmächtigung moralischer Sinnsysteme im Woyzeck, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 118,2 (1999), S. 216-33. JEAN PAUL, Vorschule der Ästhetik. Nach der Ausgabe von NORBERT MILLER (Philosophische Bibliothek 425), hg. von WOLFHART HENCKMANN, Hamburg 1990. LEHMANN, HANS-THIES, Dramatische Form und Revolution, in: DERS., Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten. Sophokles, Shakespeare, Kleist, Büchner, Jahnn, Bataille, Brecht, Benjamin, Müller, Schleef (Recherchen 12), Berlin 2002, S. 133-152. LEVESQUE, PAUL, The Sentences of Death and the Execution of Wit in Georg Büchner’s Dantons Tod, in: The German Quarterly 62,1 (1989), S. 85-95. FISCHER-LICHTE, ERIKA, Geschichte des Dramas. Bd. 2: Von der Romantik bis zur Gegenwart (Uni-Taschenbücher 1566), München 1990. MEIER, ALBERT, Georg Büchners Ästhetik (Literatur in der Gesellschaft 5), München [o. J.]. POSCHMANN, HENRI, Georg Büchner. Dichtung der Revolution und Revolution der Dichtung, Berlin, Weimar 21985. SANNA, SIMONETTA, Die andere Revolution. Dantons Tod von Georg Büchner und die Suche nach friedlicheren Alternativen, Paderborn, München 2010. SCHWARZ, EGON, Tod und Witz im Werke Georg Büchners, in: Monatshefte 46,3 (1954), S. 123-136.
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SPEIER, HANS, Witz und Politik. Essay über die Macht und das Lachen, Zürich 1975. SPIES, BERNHARD, Politische Kritik. Psychologische Hermeneutik, Ästhetischer Blick. Die Entwicklung bürgerlicher Subjektivität im Roman des 18. Jahrhunderts (Germanistische Abhandlungen 73), Stuttgart 1992. VIËTOR, KARL, Georg Büchner. Politik, Dichtung, Wissenschaft, Bern 1949. VAN LAAK, DIRK, Alltagsgeschichte, in: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaften (Aufriß der Historischen Wissenschaften 7), hg. von MICHAEL MAURER, Stuttgart 2003, S. 14-80.
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Das ‚Endliche‘ im Kontrast mit der Idee Die Realität als Teil des komischen Widerspruchs bei Jean Paul CHRISTINE WALDSCHMIDT Komik entsteht, darauf hat sich die einschlägige Forschung weitgehend geeinigt,1 wenn die Darstellung bestimmter Zustände oder Objekte einen Widerspruch an diesen zutage treten lässt – und zwar nicht einen beliebigen, sondern einen solchen Widerspruch, der geeignet ist, diese entweder in ihrer Werthaltigkeit herabzusetzen oder in ihrer Geltung zu dementieren.2 Komik ergibt sich also in einem Verfahren, das einen Widerspruch einrichtet, der den vorgestellten Inhalten oder Zuständen innewohnt, d. h. sie in Gegensatz zu etwas bringt, was gerade ihre Substanz oder ihre praktische Wirksamkeit ausmachen würde, und überführt darin die Produktion eines Selbstwiderspruchs des Vorgestellten in dessen Selbstaufhebung.3 Anders formuliert, könnte man sagen, dass die komische Darstellung ihre Objekte bzw. Gegenstände im Resultat für substanzlos
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Zuletzt KINDT, 2011; vgl. auch KABLITZ, 2000, S. 289. Dass diese Herabsetzung des lächerlichen Objekts eine Aufwertung enthält, nämlich desjenigen, der die Selbstwiderlegung der Verhältnisse bemerkt oder in Szene setzt und sich – zumindest für den Moment – von der Substanzlosigkeit der vorgeführten Objekte und Inhalte nicht betroffen gibt, sondern sie aus einer überlegenen Position festhält und durchschaut, wäre dann die Kehrseite des Verfahrens, die hier der Vollständigkeit halber erwähnt werden soll und in der nicht zuletzt die Einladung der Komik an ihren Rezipienten liegt, diese Überlegenheit zu teilen. Vgl. SPIES, 1996, S. 33 (mit Bezug auf die Komik in Becketts Dramen). Bei Hegel heißt es, das Lachen werde „durch einen sich unmittelbar hervortuenden Widerspruch“, „durch etwas unmittelbar sich selbst Vernichtendes erzeugt […]“ HEGEL, 1970 [1830], S. 113f. [Herv. von mir, C. W.].
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erklärt, sie der Hinfälligkeit überführt.4 Dafür ist die Darstellung, die ästhetische Präsenz dieser Gegenstände notwendig; dies ist zunächst eine ebenso formale wie banale Aussage: Sie gilt erstens in dem trivial-tautologischen Sinn, dass jeder Kontrast an etwas hervortreten muss, zweitens aber insofern der Gültigkeitsausweis des in der Komik ergehenden Urteils von der Nichtigkeit der Dinge und Verhältnisse von ihnen selbst abhängen soll: Es gehört gerade zur Eigenart komischer Darstellung, die Widersprüche nicht in Form eines theoretischen Urteils über die Gegebenheiten zu sagen, sondern als Missverhältnisse an den Dingen selbst zu zeigen, diese gleichsam gegen sich selbst zeugen zu lassen.5 Was die ästhetische oder literarische Darstellung anbelangt, so ist es eine Möglichkeit komischer Gestaltung, den Gültigkeitsausweis der komisch inszenierten Hinfälligkeit qua Selbstentlarvung der Dinge und Verhältnisse inhaltlich ernst zu nehmen, d. h. ihn zum Mittel einer rhetorischen Strategie zu machen: Dies geschieht immer dann, wenn die Darstellung darauf angelegt ist, dem von ihr geäußerten Urteil Allgemeinheit zu verschaffen, indem sie es als weltgemäß ausweist. Das Komische wird dann entdeckt als Möglichkeit, die Wirklichkeit gleich als (ggf. kritisches) Urteil über sie erscheinen zu lassen – z. B. in der simulatio der Satire oder im Auftreten der sich als substanzlos offenbarenden dem Subjekt entgegenstehenden Widrigkeiten in der Komödie. Solche Verwendungen der Komik tendieren in zweierlei Hinsicht zu einer Hinwendung zu ihrem Material: Erstens enthalten sie die Aufforderung, in den komischen Kontrasten auch etwas von der Welt vorkommen zu lassen, nicht zuletzt damit die in der Herabsetzung erfolgende Kritik auch einen existierenden Gegenstand trifft bzw. einen Inhalt hat. Ein Konkretisieren oder fortgesetztes Ausmalen der Verhältnisse ist eine Option, den Objektivitätsausweis glaubhaft zu machen. Zweitens gibt es ästhetische Konzepte, die über diese Möglichkeit komischer Objektivierung von einem Interesse des Verfahrens an der Präsentation der (komisch herabgesetzten) Gegenstände zu einer Wert-
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Vgl. SPIES, 1996, S. 28. Darin liegt auch die Funktion der Komik für die Komödie, die nicht zuletzt darin besteht, die widrigen Zustände herabzusetzen noch bevor sie im guten Ende des Stückes überwunden erscheinen, vgl. SPIES, 2003, S. 436f. In der genannten Objektivierung des komischen Kontrastes liegt gerade keine inhaltliche Vorgabe; für Aussage und Funktion der Komik (und übrigens auch für ihren Realitätsbezug) ist damit noch gar nichts entschieden – ebensowenig darüber, wie ,realistisch‘ oder realitätsnah oder wie ,sachgemäß‘ diese Komik ausfällt. Die Entscheidung fällt immer erst mit der Einrichtung des jeweils bestimmten (und in der Analyse des komischen Kontrastes zu bestimmenden) Widerspruchs.
Die Realität als Teil des komischen Widerspruchs bei Jean Paul
schätzung der Objekte der Komik, genauer: der komisch dargestellten Realität, gelangen – indem sie die Tatsache, dass das Fortsetzen der komischen Negation (was eigentlich eine Ausweitung des Für-substanzlos-Erklärens betreibt) auch ein Fortschreiben des realen Materials ist, als Übergang oder Umschlagpunkt zu einer Affirmation dieses Materials nutzen bzw. zum Anlass nehmen, das Material mit einer eigenen Emphase zu versehen. Solch ein Fall findet sich in der Verwendung der Komik im Werk Jean Pauls – und zwar in Form eines durchgängig aufrechterhaltenen und immer wieder inszenierten, man könnte sagen: produktiven Widerspruchs von Nichtigkeit und Affirmation der dargestellten Realität. Die bekanntermaßen zahlreichen Untersuchungen zur Rolle der Komik im Werk Jean Pauls haben, je nachdem ob sie die kritische Haltung oder den Verweis auf ihren Idealismus in den Vordergrund stellen wollten, regelmäßig einen von zwei Wegen eingeschlagen, die unter den Schlagworten ,Satire‘ und ‚Humor‘ firmieren – ersteres mit dem Gewinn, eine Kontinuität vom Frühwerk bis zu den späteren Erzählungen behaupten sowie die Frage nach der historisch-politischen Konstellation von Jean Pauls Schreiben stellen zu können6, letzteres im Versuch, die ästhetische Programmatik als Instanz der Deutung zu etablieren7. Unbestritten ist, und darin sind sich beide Richtungen einig, dass die Komik das Für-nichtig-Erklären der gegebenen Wirklichkeit leiste, ob es nun einem Missfallen an ihrer spezifischen Einrichtung (Satire) oder gleich nur noch dem Goutieren der sie transzendierenden Entwürfe (Humor) entspringt. Das bestätigt zunächst einmal die Feststellung, dass vom Standpunkt einer romantischen Weltanschauung, die eine Wahrheit der Welt gerade jenseits der Wirklichkeit aufgehoben weiß, jeder Blick auf die konkreten Zustände der Realität immer nur deren Defizit bemerkt. Wie darin aber immer auch das Kippen in die Affirmation der defizitären Sphäre zustande kommt und welche Funktion dies erfüllt, soll im Folgenden gezeigt werden.
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Arbeiten, die den Schwerpunkt auf den Satiriker Jean Paul legen, finden sich seit den 1970er Jahren, u. a. Wolfgang HARICH, 1974, SCHMIDT-BIGGEMANN, 1975, vgl. dazu zusammenfassend BRUMMACK, 1979, S. 82-84. So u. a. MAYER, 1964, WÖLFEL,1989b, ZYMNER, 1995.
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1. Wie man eine Weltanschauung als Kunsttheorie rettet: Komische und humoristische ‚Sinnlichkeit‘ in der Vorschule der Äst hetik Die Komik und ihr Verhältnis zur dargestellten Realität erhalten in der Vorschule der Ästhetik einen ganz spezifischen Ort im System Jean Paul’scher Programmatik; dies erfolgt, indem die Vorschule den soeben beschriebenen Widerspruch von Für-nichtig-Erklären und Affirmation der präsentierten Gegenstände in der Komik nicht löst, vielmehr ausschreibt und wiederholt. Wie das geschieht, sieht man deutlich an der expliziten Verbindung der gelingenden komischen Herabsetzung mit der realistischen bzw. anschaulichen Konkretion ihrer Gegenstände: Wenn Jean Paul im VII. Programm seiner Vorschule der Ästhetik anhand einiger Beispiele mehr oder weniger vorbildlicher komischer Dichtungen8 die „Humoristische Sinnlichkeit“ (§ 35) bespricht, hält er eine Tendenz des humoristischen Stils zur Konkretion, zum ‚Individualisieren‘, fest: „so heftet uns der Komiker gerade eng an das sinnlich Bestimmte, und er fällt z. B. nicht auf die Knie, sondern auf beide Kniescheiben, ja er kann sogar die Kniekehle gebrauchen.“9 Die Ausführungen haben hier den Übergang von der Definition zu den Gelingensidealen komischer Gestaltung vollzogen; in einer solchen Überlegung, wie Komik gelingt, kommen zwar ihre Prinzipien, also Unterscheidungen am Verfahren und ästhetische Anforderungen an die Komik, sehr wohl vor. Sie kommen aber nicht als ästhetische Unterscheidungen vor, sondern gleich als Inhalt der Form: Komik mache die sinnlich-materielle Welt thematisch, sie verwende nicht nur, sondern sie meine die sinnliche Konkretion – bei Jean Paul: das Endliche – selbst. Auf ähnliche Weise nehmen auch Passagen, die zunächst eine Bestimmung des Lächerlichen (§ 28) leisten sollen, das komische Verfahren als Inhalt und konstruieren, wenn auch nicht so direkt wie im obigen Zitat, ein Zugleich von Haltlosigkeit der Gegebenheiten und Zusammenschluss mit ihnen. Jean Paul
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Genannt werden Beispiele v. a. komischer Ausdrücke, Ausmalungen und Eigennamen bei Sterne, Rabelais, und Fischart, JEAN PAUL, 1963, S. 141-143. Die Vorschule der Ästhetik im 5. Band der Werkausgabe wird im Folgenden zitiert mit JPW5 und Seitenzahl. JPW5, S. 140.
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fasst das Lächerliche weiterhin als Kontrastverhältnis auf,10 um ihm allerdings eine eigene Wendung zu geben: Es bleibt also für dasselbe [das Lächerliche] nur das Reich des Verstandes übrig, und zwar aus demselben das Unverständige. Damit aber derselbe eine Empfindung erwecke, muß er sinnlich angeschauet werden in einer Handlung oder einem Zustande; und das ist nur möglich, wenn die Handlung als falsches Mittel die Absicht des Verstandes, oder die Lage als Widerspiel die Meinung desselben darstellt und Lügen straft. […] Allein noch immer haben wir nur einen anschaulich ausgedrückten endlichen Irrtum […]. Wenn Sancho eine Nacht hindurch sich über einem seichten Graben in der Schwebe erhielt, weil er voraussetzte, ein Abgrund gaffe unter ihm: so ist bei dieser Voraussetzung seine Anstrengung recht verständig; und er wäre gerade erst toll, wenn er die Zerschmetterung wagte. Warum lachen wir gleichwohl? Hier kommt der Hauptpunkt: wir leihen seinem Bestreben unsere Einsicht und Ansicht und erzeugen durch einen solchen Widerspruch die unendliche Ungereimtheit; […] Unser Selbst-Trug, womit wir dem fremden Bestreben eine entgegengesetzte Kenntnis unterlegen, macht es eben zu jenem Minimum des Verstandes, zu jenem angeschaueten Unverstande, worüber wir lachen, so daß also das Komische, wie das Erhabene, nie im Objekte wohnt, sondern im Subjekte.11
Erläutert ist das Zustandekommen von Komik in zwei Schritten, die auf eine Doppelung des komischen Widerspruchs hinauslaufen: Wird das Lächerliche zunächst als sinnliche Präsenz eines Widerspruchs von Lage bzw. Handlung und Absicht beschrieben, am Beispiel: als der Kontrast von Sancho Pansas Vorstellung bzw. daraus resultierendem Verhalten und seiner anschaulich gemachten Situation (Jean Paul bezeichnet dies später als den objektiven Kontrast12), so ist dem sodann ein weiterer (sog. subjektiver) Kontrast13 hinzuge-
10 So z. B. in der Bezugnahme auf Aristoteles und das Lächerliche als „unschädliche[-] Ungereimtheit“ im § 26, JPW5, S. 102f. 11 JPW5, S. 109f. [Herv. i. O.]. 12 Vgl. EBD., S. 114. Differenziert wird zudem der objektive und der sinnliche Kontrast – wobei letzterer das Anschaulich-Werden des Kontrastes in den Dingen beschreibt. 13 PROFITLICH, 1970, S. 164, hebt die zentrale Position des Subjekts für die Argumentation der Vorschule hervor und behauptet deren Folgerichtigkeit innerhalb der Jean Paul’schen Programmatik. Worin diese Folgerichtigkeit besteht, wird weniger
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fügt, ein Gegensatz, den der Betrachter nun nicht in den Verhältnissen vorfinde, sondern in sie hineinlege. Da der sinnlich angeschaute Widerspruch, sofern er ein Widerspruch ist, schon das Festhalten eines logischen Verhältnisses und damit eine intellektuelle Leistung impliziert, kommt in Jean Pauls KomikBestimmung derselbe Inhalt eigentlich zweimal vor: als geistiger Inhalt der dargestellten Verhältnisse und als intellektuelle Tätigkeit des Subjekts, sodass es sich um eine Verdoppelung gerade des geistigen Moments handelt. Die Formulierung, in der Komik „leihe[-]“ das Subjekt den Verhältnissen seine „Einsicht“, gibt zu erkennen, worauf diese amplificatio zielt, nämlich auf einen weltanschaulichen Gehalt, welcher dem Verfahren der Komik hier zugeschrieben wird: Wo Komik zustande kommt, soll in den gerade an der Welt konstatierten Widersinn ein irgendwie sinnhaftes Verhältnis hineingelegt sein, eine geistige Hinsicht, die dem Gegenstand geliehen wird und wodurch das Subjekt sich mit dem bemerkten Unverstand wieder verbindet.14 Auf diese Weise soll das Lächerliche nicht nur eine Betrachtung der gezeigten Verhältnisse als widersinnig, d. h. die Distanzierung von der Realität, ergeben, sondern auch das potentiell affirmative Verhältnis zu der komisch erscheinenden Realität, eine Durchgeistigung der Welt, in welcher der Zusammenschluss des Subjekts mit ihr wieder möglich wird. Damit ist aber schon an dieser Stelle offensichtlich, dass Jean Pauls Theorie der Komik auf den Humor als die ihr adäquate Manifestation hinausläuft, da sie die Kontraste gleich auch als ‚verstehendes‘ Verhältnis denkt und die im Bemerken der Widersprüche enthaltene Distanzierung in eine gegenläufige Bewegung des Zusammenschließens umkehrt. Die dezidiert auch so benannten Ausführungen zum Humor (§§ 31ff.) spielen nun den der Komik eigenen Widerspruch durch, indem sie ihn auf ein ganz bestimmtes Verhältnis festlegen, worin das Lächerliche erst „romantisch[e]“ Qualität erlange:15 Während bisher der komische Widerspruch zwischen Endlichem und Endlichem (Verstand)
deutlich. Stattdessen sind der Unterscheidung der Kontrastverhältnisse noch weitere Möglichkeiten der Differenzierung hinzugefügt. 14 In der Verdoppelung in objektiven und subjektiven Kontrast wird zudem ein Zusammenfallen von Produzieren und Erkennen des Widerspruchs hergestellt. Die von der Komik den Sachen unterstellte höhere Hinsicht, in der sie sinn-förmig sind, soll dementsprechend nicht nur eine (rein subjektive) Spielerei, sondern ein Beitrag zur Sache sein. 15 S. JPW5, S. 124: „Wie soll aber das Komische romantisch werden, da es bloß im Kontrastieren des Endlichen mit dem Endlichen besteht und keine Unendlichkeit zulassen kann?“
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entstehe, kontrastiere der Humor das Endliche mit dem Unendlichen.16 Es kann an dieser Stelle offen bleiben, wie genau die Verschiebung des subjektiven in einen objektiven Kontrast von ‚Endlichkeit‘ und ‚Idee‘ zu denken sein soll,17 der Übergang von den Ausführungen zum Lächerlichen, das als Eröffnen verschiedener bestimmter Relationen besprochen wurde, in ein Weltverhältnis des Subjekts ist kenntlich. „Der Humor […] vernichtet nicht das Einzelne, sondern das Endliche durch den Kontrast mit der Idee. Es gibt für ihn keine einzelne Torheit, keine Toren, sondern nur Torheit und eine tolle Welt, […] weil vor der Unendlichkeit alles gleich ist und nichts.“18 Der Humor wird einerseits zur Mitteilung einer ebenso grundsätzlichen wie umfassenden Relativierung zu allem in der Welt: Die im Humor eingenommene Perspektive sub specie aeternitatis lässt alles Wirkliche ,endlich‘ erscheinen; gemeint ist damit nicht die tautologische Aussage, dass das, was existiert, auch vergänglich sei, sondern eine Wertaussage über die Dinge in der Welt, welche diese generell als defizitär bzw. nichtig19 erfasst, darin aber den ganz abstrakten und leeren Gedanken einer Totalisierung durchführt, in dem alles in der Welt (in Abstraktion von den offenkundigen Unterschieden) unter dem Attribut ‚Endlichkeit‘ zusammengefasst wird.20 In dieser Totalisierung liegt das Versöhnliche des Humors gegenüber den Gegebenheiten, die „humoristische Milde und Duldung gegen einzelne Torheiten“, da in der Einordnung des einzelnen Missstands in das 16 Das ‚Romantisch-Werden‘ der Komik im Humor als Einführung der Unendlichkeit bzw. des Verhältnisses der ‚Idee‘ zum Endlichen erläutert auch PROFITLICH, 1970, S. 166; DERS., 1971, S. 67f.; BAIERL, 1992, S. 89f. 17 Die Auslegungen pflegen hier in der Regel eine begriffliche Konsistenz Jean Paulscher Programmatik und des Gedankens zu retten, die der Text gar nicht bietet. So liefert PROFITLICH, 1970, S. 167, gleich mehrere Paraphrasen der immer wieder zu Ausdeutungen herausfordernden Humor-Bestimmung in § 31 (JPW5, S. 124f.), die insgesamt auf eine von seiner These geleitete, aber weniger von der Formulierung der Vorschule gedeckte Rekonstruktion eines ‚Klartexts‘ der Passage hinauslaufen. Am überzeugendsten ist zu dieser Stelle die Analyse von DEMBECK, 2007, S. 346 (es gehe darum, „[d]en mithin eigentlich nur subjektiv zu konstruierenden Kontrast zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit für einen objektiven zu nehmen“), die auch die metaphysische Wendung des Humorverständnisses bei Jean Paul erläutert. 18 JPW5, S. 125. 19 Vgl. zum Stichwort des humoristischen ,Vernichtens‘ des Endlichen die Paraphrase von PROFITLICH, 1971, S. 81. 20 Entsprechend lässt sich dann auch zwischen dem Humoristen, der die „tolle Welt“ (d. h. das komische Missverhältnis als Eigenschaft der Welt) erfasst, und dem Satiriker, der einzelne Dummheiten und jeweils ein konkretes Missverhältnis in den Blick nimmt, differenzieren, vgl. dazu ZYMNER, 1995, S. 238.
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allgemein (und d. h. notwendig) Defizitäre alles Endlichen die Herabsetzung ohne Vorwurf vorkommt.21Andererseits soll in der Betrachtung der unendlichen Relativität der Objektwelt auf den Standpunkt der Subjektivität verwiesen sein, von dem aus diese Wahrnehmung einer universellen Lächerlichkeit erfolgen kann („so kann ich, da […] die objektive eine verlangte Unendlichkeit sein soll, diese nicht außer mir gedenken und setzen, sondern nur in mir, wo ich ihr die subjektive unterlege“22), und damit darauf, dass diese Wahrnehmung jenseits der Endlichkeit liegt.23 Zu den für die Komik nötigen konkreten Kontrasten passt diese Auflösung aller Unterschiede vom Standpunkt des Unendlichen aus zugegebenermaßen nicht mehr so gut, umso besser aber zum Zusammenschluss mit der Wirklichkeit, in dem das Einzelne gerade nicht mehr bloß vernichtet ist, sofern es stets von einer Allgemeinheit, nämlich der Endlichkeit, zeugt, und demnach alles Konkrete den Verweis auf eine über es hinausgehende, darin aber der geistig-ideellen Dimension der Subjektivität entsprechende Hinsicht enthält.24 21 JPW5, S. 128; vgl. auch EBD., S. 125: Wo etwas als menschliche Torheit betrachtet wird, ist der Vorwurf der Kritik zurückgenommen. Zum Humor als Einsicht in die Bedingtheit jeden Seins, in der es keine Eindeutigkeit der Verurteilung mehr gebe, zusammenfassend DEMBECK, 2007, S. 343. Daraus abzuleiten, dass im Humor damit auch eine Überwindung des Leidens an den widrigen Zuständen liege, so MÜLLER, 1983, S. 254f., erfordert allerdings eine recht einseitige Betonung der ‚weltverachtenden‘ Distanzierung. 22 JPW5, S. 132 [Herv. i. O.]. 23 Das Verfahren verweist also auf das Subjekt, das den Widerspruch in den Dingen bemerkt und gleich die Hinsicht repräsentiert, in der alle Widersprüche aufgehoben wären. 24 Insofern kann die konkrete Wirklichkeit als sinn-förmig bzw. bedeutsam wahrgenommen werden und als Zeichen fungieren, das über sie hinaus auf eine ‚andere‘ Welt verweist und damit die Entsprechung der Welt zum Inneren, zur Seele des Menschen herstellt, wie es die Jean-Paul-Forschung nicht müde wird zu betonen, vgl. KÖPKE, 1990, S. 151. WÖLFEL, 1989b, S. 268. – Bilder, die das Argument auf sein Resultat reduzieren, indem sie den Humor immer als Einheit bzw. Zugleich von Thematischwerden des Irdisch-Endlichen und einer darin liegenden Transzendierung bestimmen, ohne den Zusammenhang von beidem noch explizit zu machen, finden sich in der Vorschule zuhauf, am prominentesten ist vielleicht das vom Vogel Merops, „welcher zwar dem Himmel den Schwanz zukehrt, aber doch in dieser Richtung in den Himmel auffliegt“ JPW5, S. 129. Auch die Forschung hat dieses Zusammentreffen und eine darin begründete Relevanz der Sinnenwelt als Vermittler der geistigen Welt wiederholt benannt: Humor leiste die „Verknüpfung von ‚kleiner Weltperspektive‘ und ‚unendlicher Welt‘ als Gegenstand der Wahrnehmung“, ZYMNER, 1995, S. 236f. „Der Humor als ‚Unendlicher Kontrast‘ besteht im doppelten Verhältnis der Teilhabe der Wirklichkeit an der Idee und der
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Wozu das mehrfach inszenierte Zugleich von Vernichtung und Affirmation dient, ist freilich kein Geheimnis: Die Vorschule der Ästhetik hat Komik und Humor25 ähnlich wie Phantasie, Witz oder das Wunderbare eingeordnet in eine Bedeutungszuschreibung an die Kunst, und zwar indem sie in ihnen nur unterschiedliche Variationen einer Möglichkeit entdeckt hat, der Möglichkeit, eine Weltanschauung – nämlich die eines geistigen Zusammenhangs aller Dinge – als Methode bzw. Verfahren der Poesie zu erfassen und darin abzusichern. Sie teilt damit das Anliegen der Klassik wie der Romantiker, die Objektivität der Welt in einem geistigen Prinzip zu sehen, das in ihr waltet, sowie den romantischen Anspruch, die Dichtung als geeignetes Mittel zu fassen, die Welt auf jene Wahrheit (die ‚zweite Welt‘26, die Unendlichkeit) hin zu transzendieren. Sofern die Vorschule aber in der Komikbestimmung darauf setzt, diese Durchgeistigung bzw. den Übergang in einen transzendenten Standort aus der ästhetischen Hinwendung zu den dinglichen Widersprüchen abzuleiten, besteht sie zugleich darauf, dass der Idealismus, den sie sich zurechtgelegt hat, auch ein Idealismus zu dieser Welt sein soll,27 d. h. dass sie auf den Gültigkeitsausweis an der Welt nicht verzichten will. gleichzeitigen und unaufhebbaren Unterschiedenheit von Idee und Wirklichkeit“ EBD., S. 238. Er ermögliche, wie jedes Poetisieren der Wirklichkeit, das Transzendieren der Sinnenwelt, und zwar „indem er sie zum Vehikel macht, das ihm bei der Himmelfahrt seines Herzens dienstbar ist“ WÖLFEL, 1989b, S. 268, ebenso S. 270. 25 Die Ironie wiederum ergibt bei Jean Paul nur eine andere Akzentuierung des in der Komik angelegten Verhältnisses: PROFITLICH, 1971, S. 67, hat zu Recht bemerkt, dass bei der Ironie der Sprecher die Darstellung des lächerlichen Objekts, d. h. den objektiven Kontrast, in den Vordergrund rücke und den subjektiven ,verberge‘. Wenn die Ironie sich den Anschein gibt, als zeigten die Dinge von selbst die Widersprüche vor, ohne dass jemand sie gesucht hätte, dann wird klar, dass Jean Paul den Verweis auf das Subjekt von der Ironie trennt und ganz dem Humor vorbehält, die Ironie dadurch zu einer Alternative, nicht zum Mittel des Humors macht – eine Einseitigkeit, die der Systematik des Gedankens geschuldet ist, der die Vorschule regiert. 26 Vgl. § 1 der Vorschule, JPW5, S. 30: „die Poesie ist die einzige zweite Welt in der hiesigen“ [Herv. i. O.]. 27 ESSELBORN, 1989, S. 152, hebt in seinem Nachvollzug der Bildkonzeptionen von Jean Paul zu Witz und Phantasie hervor, dass im Festhalten an der Wirklichkeit, sei es dass die Phantasie sich im Idealisieren auf ein „wirkliches Objekt“ beziehe oder der Witz auf die „Merkmale der Dinge als Material [seiner] Tätigkeit angewiesen“ bleibe, die Nähe Jean Pauls zur aufklärerischen Nachahmungspoetik und die Abgrenzung von den Romantikern bestehe. Vgl. auch die wiederholten Wendungen der Vorschule gegen einen von der Wirklichkeit abgelösten Idealismus: „Wenig kann daher das stärkste Geschrei nach Objektivität aus den verschiedenen Musen- und andern Sitzen verfangen und in die Höhe helfen, da zu Objektivität
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Die in den Paragraphen zum Lächerlichen und zum Humor erfolgende Zuschreibung an die dichterischen Verfahren wiederholt damit eine programmatische Festlegung, welche schon die ersten Abschnitte der Vorschule kennzeichnet, in denen sie sich in Form einer Abgrenzung nach zwei Seiten formuliert findet: gegen die Romantik à la Schlegel, also die „poetischen Nihilisten“28 einerseits, deren Anliegen, das Transzendieren der Wirklichkeit auf dem Wege der Subjektivität zwar geteilt, aber in der Umsetzung eines Widerspruchs überführt wird – wo ästhetische Bedeutungskonstitution im reinen Selbstbezug des Subjekts erfolgt, da hat sie gar keine Bedeutung, keinen Inhalt mehr –, und die „poetischen Materialisten“29 andererseits, die sich der komplementären Einseitigkeit, also der Vernachlässigung des geistigen Gehalts im bloßen Abschildern des Gegebenen schuldig machen.30 Wenn solche Überlegungen schließlich in die Ansage münden, die Dichtung „soll die Wirklichkeit, die einen göttlichen Sinn haben muß, weder vernichten, noch wiederholen, sondern entziffern“31, ist als allgemeine Anforderung an die Dichtung vorgegeben, was die späteren ‚Programme‘ dann bezüglich der einzelnen dichterischen Mittel durchspielen: Die sinnhafte Einheit der Welt ist nicht in der Gegebenheit der Wirklichkeit oder der Natur einsichtig, sondern als Leistung und Anliegen der Poesie beschrieben. Eingestanden ist damit, dass allein diese die Realisierung einer Sinndimension der Wirklichkeit noch garantiert. Die Vorschule macht diese Leistung nun gerade nicht von den jeweils artikulierten Inhalten abhängig, sondern betreibt die Anstrengung, sie in der poetischen Methode angelegt zu finden. Sie führt deshalb den extensiven Nachweis, auf welche Weise die einzelnen Verfahren es ermöglichen, das Ideale als die Welt regierend vorzustellen.32 Das Komische und der Humor sind dann ein Anwendungsfall davon, wie sich die Durchgeistigung der Welt an ihren Widersprüchen manifestiert.
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durchaus Objekte gehören, diese aber neuerer Zeiten teils fehlen, teils sinken, teils (durch einen scharfen Idealismus) gar wegschmelzen im Ich.“ JPW5, S. 73. § 2, EBD., S. 31ff. § 3, EBD., S. 34ff. Vgl. KÖPKE, 1990, S. 149: Jean Paul betone „den Kunstcharakter des literarischen Werkes, zumal gegen die poetischen Materialisten“, aber zugleich „gegen die poetischen Nihilisten die Notwendigkeit der Wirklichkeitselemente in der Kunst […]“. JPW5, S. 447. Die Instanz der Vermittlung ist auch bei Jean Paul das Subjekt, das den geistigen Gehalt in der Welt erkennt (weshalb es auf Phantasie und Witz als Vermögen des Subjektes ankommt). Gerade die Phantasie stellt eine Analogie zwischen geistigem Verfahren und einem metaphysischen Inhalt her: wie die Phantasie über ihren Stoff regiert, so soll das Geistige über die Welt regieren.
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2. Satire und Humor in den Flegeljahren Die erzählerische Umsetzung entfaltet den Widerspruch auf andere Weise, nicht mehr in einer Zuschreibung an die Komik, sondern in einem Nebeneinander der komischen Szenen. Die Handlung des Romanfragments nimmt bekanntlich ihren Ausgang von der Eröffnung des van der Kabel’schen Testamentes, durch das der junge Notarius und Dichter Gottwalt Harnisch zum Universalerben des Kabel’schen Vermögens eingesetzt wird, allerdings unter der Bedingung, dass er zuvor die im Testament festgelegten Auflagen erfüllt. Andernfalls fällt das Erbe den sieben Verwandten des Erblassers zu, die in der Folge der Handlung alle Mittel aufwenden, Walt zu möglichst vielen Fehlern bei den ihm auferlegten ‚Erb-Ämtern‘ zu veranlassen. Damit ist der zentrale Konflikt benannt. Die Erzählung präsentiert recht wenig von seiner Entwicklung,33 sie fügt ihm stattdessen noch einen weiteren Konflikt, den der ungleichen Brüder Walt und Vult, hinzu und nimmt beides zum Anlass, in einzelnen Szenen ein gesellschaftliches Panorama der Kleinstadt Haßlau und Umgebung sowie ein inneres des Dichters Walt zu entwerfen, ferner die Darstellung der Ereignisse mit dem Entstehen des Doppelromans von Walt und Vult zu synchronisieren. Komik hat in den Flegeljahren ihren Ort zuvorderst in zahlreichen satirischen Szenen; als Objekte der Satire kommt dabei so ziemlich alles vor: Adel und Bürgertum (im Rahmen einer Ständesatire), Hochstapelei und prätentiöses Weltmanngehabe, quasi-gelehrte Gespräche, private Eitelkeit und weibliche Hässlichkeit.34 In jene Kapitel um „Peter Neupeters Wiegenfest“, die für 33 Zu den Hinweisen darauf, wie wenig das Testamentsmotiv die anschließende Handlung motiviert bzw. strukturiert, vgl. MEYER, 1963, S. 60f. So stehen Walts Schwärmerei für Klothar, seine Liebe zu Wina und auch die Auseinandersetzung der Brüder Walt und Vult in keinem direkten Zusammenhang mit den Bedingungen des Testaments. Auch von einer Entwicklung des Protagonisten im Sinne eines im Testament angelegten Erziehungsprogramms kann, wie häufig bemerkt wurde, keine Rede sein, da Walt gerade keine ‚Bildung‘ im Sinne einer Versöhnung von subjektiven (hier poetischen) Ansprüchen und Realität bzw. ihrer praktischen Bewältigung erreicht; vgl. dazu GRÖTZEBACH, 1966, S. 116f., MEYER, 1963, S. 59f. Das Erzählmuster des Bildungsromans wird also aufgerufen und in der Umsetzung negiert. 34 Die Rolle der Satire für die Flegeljahre ist verschiedentlich beleuchtet worden: In der Regel wird das satirische Schreiben – in Anlehnung an ein Zitat Jean Pauls – als Ausdruck des „Dualism zwischen Poesie und Wirklichkeit“ (zit. nach FREYE, 1907, S. 25) ausgemacht, der den Kern des Romans beschreiben soll. Die Satire komme immer dort zum Einsatz, wo es um die Herabsetzung der bürgerlichen
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Brummack den Kern der Jean Paul’schen Satire in den Flegeljahren beinhalten,35 fällt eine Miniatur-Satire auf die Provinz-Theologen, in der Erzählung repräsentiert durch den Kirchenrat Glanz, der sich offenkundig gerne selbst reden hört und sich nicht wenig auf seine pseudointellektuelle Überlegenheit zugutehält. Der Erzähler vermerkt einen Kommentar Vults zu Glanzens „schale[r] Kanzelphilosophie“: Von alten Schimmelwäldchen der Philosophen klauben sich die Theologen die abgefallnen Lese-Früchte auf und säen damit an. – Diese größten engsten Egoisten machen Gott zum frère servant der Pönitenzpfarren, wohin sie voziert worden, und auf dem Wege nach dem Filial glauben sie, die Sonnenfinsternis sei gekommen, damit sie weniger schwitzen und schattiger reiten […].36
Vults Bemerkung beginnt mit der Kennzeichnung von Glanz’ Gelehrsamkeit als geistloses Schmarotzertum, das von obsoleten und zudem nicht selbst hervorgebrachten Gedanken lebt, um dann dieser Geistlosigkeit einen eigenen Geist zu attestieren, nämlich eine Intelligenztätigkeit, die sich die ganze Welt (auch deren eher schäbig ausfallende Seiten) immer als Mittel zum eigenen, Welt, ihr materielles Kalkül, ihre Heuchelei etc. geht und wo sie im Gegensatz zur poetischen Idealisierung erscheint. Als Vertreter der Satire wird zumeist Vult ausgemacht, vgl. MAYER, 1964, S. 411f. Solche Betrachtungen sind nicht selten der Auftakt dazu, eine Ergänzungsbedürftigkeit des Satirischen analog der Konstellation Walt – Vult zu behaupten; das Konstatieren solcher wechselseitigen Bedingtheiten von Satire und Poesie bei Brummack, 1979, S. 114f. u. 122, ihr notwendiges Zusammengehören bei MEYER, 1963. Übersehen ist übrigens bisweilen, dass Vult nicht einfach die Negativfolie zu Walt abgibt, sondern beide Brüder die Poesie bzw. einen Kunstidealismus verkörpern und im Gegensatz zur spießigen bürgerlichen Wirklichkeit stehen, vgl. MEYER, 1963, S. 71; Walt und Vult teilen im Grunde Anliegen und Maßstab der Weltbetrachtung, wenngleich sie unterschiedliche Methoden haben, diesem Geltung zu verschaffen (die Entlarvung der Welt bei Vult, ihre Verklärung bei Walt); Poetisieren und Satire sind, zumindest in dieser Hinsicht, nicht einfach Gegensätze. 35 BRUMMACK, 1979, S. 97ff., 101f., analysiert die Kapitel als Satire Jean Pauls auf die kaufmännische Sphäre und, allgemeiner, die Bürgerwelt, ihr Besitz- und Profitstreben bzw. vom Besitz abhängiges Selbstbewusstsein; Brummack will hier etwas pauschalisierend den gesellschaftskritischen Einwand gegen eine pervertierte Gleichheit aller durch das Geld sehen und den ästhetischen gegen eine falsche Vornehmheit, welche Kunst nur als Wertobjekte und Demonstration des eigenen Reichtums betrachtet. Vgl. zu Letzterem sowie zur Ständesatire auch GRÖTZEBACH, 1966, S. 147-150. 36 JEAN PAUL, 1959, S. 730. Im Folgenden zitiert mit der Sigle JPW2 und Seitenzahl.
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materiellen Wohlergehen oder als Anerkennung der eigenen Position zurechtlegt.37 Die Komik ist hier das Mittel der satirischen Kritik dieses Weltbildes: Sie inszeniert im Missverhältnis von göttlicher Instanz oder kosmischem Ereignis und seiner Einschätzung als Beitrag zu privaten Annehmlichkeiten eine Unangemessenheit des Gedankens und damit den Verweis, dass er seine Substanz in nichts anderem gewinnt als in einer Haltung, einer bloßen Eitelkeit der Personen. In der satirischen Verwendung liefern die komischen Kontraste also einen ganz bestimmten Inhalt sowie die Durchführung der Kritik; schon der kurze Textabschnitt zeigt, dass dies hier ein serielles Verfahren darstellt, welches die Inhalte der Kritik sowie deren Maßstab permanent wechselt, wobei für jeden weiteren Aspekt wieder ein Witz ausreicht, um ihn abzutun. Die komische Entlarvung fungiert damit als die Art und Weise, die ganze Realität, gesellschaftliche Verhältnisse und Haltungen, vorkommen zu lassen, worin sie das Material eines überall sich ausweisenden Durchschauens der Welt abgibt. Ein anderes Vorgehen, aber ein ähnliches Resultat zeitigt die Entfaltung der komischen Szene: So entspinnt sich gleich im Anschluss (anknüpfend an Raphaelas Frage, wie es komme, „daß alle Bilder im Auge verkehrt sind, und wir doch nichts verkehrt erblicken“38) ein ‚gelehrter Dialog‘ zwischen Glanz und Klothar, in dem die Redebeiträge der beiden Beteiligten offenbar nur insofern auf das Thema und auf die Äußerungen des Gegenübers Bezug nehmen, als diese lediglich die Stichworte für die eigenen Wortmeldungen geben (bei Glanz [Selbst-]Zitate und erbaulich-moralische Phrasen, bei Klothar rhetorische Fragen und quasi-logische Spitzfindigkeiten, deren gewählte Formulierung immer über deren inhaltliche Leere hinweghelfen muss). Es entsteht ein argumentativ unzusammenhängendes, keineswegs logisch fortschreitendes Reden, das die Vorstellung, es gehe darin um ein Interesse an der Sache, dementiert und den gelehrten Dialog in seiner Gleichgültigkeit gegen die vorgetragenen Inhalte als verbreitete Praxis der Selbstdarstellung entlarvt. Ein weiteres Beispiel liefert die gleich zu Beginn des Romans stehende Testamentseröffnung vor den versammelten Mitgliedern der Haßlauer Gesellschaft. Die „3te Klausel“ des van der Kabel’schen Testamentes sieht nämlich vor, dass einer aus der Reihe der soeben wider ihr Erwarten nicht bedachten Verwandten, doch noch van der Kabels Haus erben könne. Das Haus soll an
37 Vult schließt dann mit der Rückkehr zum Vorwurf der Geistlosigkeit, mit der Kritik, dass hier das Amt ohnehin jeden Geist ersetze. 38 EBD., S. 729.
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denjenigen fallen, der in einem Zeitraum von 30 Minuten zuerst ein paar Tränen um den Erblasser vergießt.39 – Daß es, solange die Erde geht und steht, je auf ihr einen betrübtern und krausern Kongreß gegeben als diesen von sieben gleichsam zum Weinen vereinigten trocknen Provinzen, kann wohl ohne Parteilichkeit nicht angenommen werden. Anfangs wurde noch kostbare Minuten hindurch bloß verwirrt gestaunt und gelächelt; […] vom Verwünschen wurde man zu schnell ins Beweinen emporgerissen. An reine Rührung konnte – das sah jeder – keiner denken, so im Galopp an Platzregen, an Jagdtaufe der Augen; doch konnte in 26 Minuten etwas geschehen. Der Kaufmann Neupeter fragte, ob das nicht ein verfluchter Handel und Narrensposse sei für einen verständigen Mann, und verstand sich zu nichts; doch verspürt’ er bei dem Gedanken, daß ihm ein Haus auf einer Zähre in den Beutel schwimmen könnte, sonderbaren Drüsen-Reiz und sah wie eine kranke Lerche aus, die man mit einem eingeölten Stecknadelknopfe – das Haus war der Knopf – klistiert. Der Hoffiskal Knoll verzog sein Gesicht wie ein armer Handwerksmann, den ein Gesell Sonnabend abends bei einem Schusterlicht rasiert und radiert; er war fürchterlich erboset auf den Mißbrauch des Titels von Testamenten und nahe genug an Tränen des Grimms. Der listige Buchhändler Paßvogel machte sich sogleich still an die Sache selber und durchging flüchtig alles Rührende, was er teils im Verlage hatte, teils in Kommission […]. [Flitte kann im Unterschied zu den anderen nur lachen.] Zuletzt sah ihn der Polizei-Inspektor Harprecht sehr bedeutend an und versicherte: falls Monsieur etwan hoffe, durch Gelächter aus den sehr bekannten Drüsen und aus den Meibomischen und der Karunkel und andern die begehrten Tropfen zu erpressen und sich diebisch mit diesem Fensterschweiß zu beschlagen, so wolle er ihn erinnern, daß er damit so wenig gewinnen könne, als wenn er die Nase schneuzen […] wollte […]. – Aber der Elsasser versicherte, er lache nur zum Spaß, nicht aus ernstern Absichten. […]
39 Man muss sich nicht gleich der Übertreibung anschließen, die sich Eduard Berend in seiner Einleitung zum 10. Bd. der Akademieausgabe leistet, wenn er dies „wohl die komischste Szene nicht nur in Jean Pauls Werken, sondern in der ganzen deutschen Literatur“ nennt. BEREND, 1934, S. LIV.
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Die Realität als Teil des komischen Widerspruchs bei Jean Paul Der Frühprediger Flachs sah aus wie ein reitender Betteljude, mit welchem ein Hengst durchgeht; indes hätt’ er mit seinem Herzen, das durch Haus- und Kirchenjammer schon die besten schwülsten Wolken um sich hatte, leicht wie eine Sonne vor elendem Wetter auf der Stelle das nötigste Wasser aufgezogen, wär’ ihm nur nicht das herschiffende Flöß-Haus immer dazwischengekommen als ein gar zu erfreulicher Anblick und Damm.40
Der komische Einfall liegt darin, die Rührung für den Toten zum Bereich der Austragung eines Wettstreits zu machen, worin die unwillkürliche emotionale Regung nun zum Ziel einer absichtsvollen Anstrengung und damit eines Verhältnisse von Zweck und Mittel wird. Im Einzelnen entwickelt sich die Komik der Szene im der Reihe nach an jedem potentiellen Erben vorgenommenen Ausmalen der in dieser Konstellation entstehenden Missverhältnisse: Erstens dementiert das Weinen im Dienste eines materiellen Gewinns ohnehin den erforderlichen Grund des Weinens (Trauer oder Rührung). Zweitens wird die dann ausgemalte Anstrengung und Findigkeit im Ersinnen der Mittel, Rührung hervorzubringen, mit ihrem Scheitern kontrastiert, wobei es z. T. die Mittel selbst sind, die den angestrebten Zweck verhindern (Flachs benutzt die Imagination seiner erbärmlichen Zustände, wobei ihm der Gedanke vom Gewinn des Hauses ins Gehege kommt; Neupeter denkt nach, wobei ihn dies an jeder praktischen Umsetzung hindert und nur seinen Ärger steigert). Etwas schwieriger scheint es, den Inhalt der Herabsetzung in dieser Inszenierung der sich selbst um ihren Zweck bringenden Versammlung zu bestimmen, gerade weil sie die Tendenz hat, über die Kritik am materiellen Interesse der Beteiligten hinauszugehen (bei Flachs ist es sogar ausdrücklich als berechtigtes Interesse beurteilt, dem in seinem Sieg in der Konkurrenz dann auch entsprochen wird). Es mag an eine Heucheleikritik, die jede Geltung von Moralität unter generellen Verdacht stellt, noch gedacht sein,41 jedoch tendiert die Allgemeinheit des moralischen Vorwurfs dazu, weniger ein einzelnes Verhält40 JPW2, S. 574-576. 41 GRÖTZEBACH, 1966, S. 143, hält dies als zentrale Stoßrichtung der Satire in dieser Szene fest: „Indem sie Heuchelei postuliert, wo wahre Trauer nicht zu erwarten ist, denunziert diese Verfügung die Trauer der Erben beim Ableben eines reichen Verwandten als Heuchelei. […] Sie enthüllt die Anteilnahme als verkapptes Besitzstreben, gerade indem sie die gespielte Trauer zur Erbbedingung macht.“ Für eine bloße Enthüllung der Habgier der Präsumptiverben wäre die Gestaltung der Szene weniger tauglich, ebensowenig geht es um einen Missbrauch der Phantasie oder darum, sie in eine Nähe zum Geld zu stellen, wie es WIETHÖLTER, 1981, S. 177, als Deutung anbietet.
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nis, sondern eher die Eigenart einer ganzen Sphäre materieller Interessen und Zweck-Mittel-Kalkulationen der Lächerlichkeit zu überführen. Anteil an der Vagheit der Kritik hat auch ein weiteres komisches Verfahren, das die Szene kennzeichnet: Die Vergleiche und Bilder, welche sich an die Beschreibung der einzelnen Personen anschließen und das negative Resultat ihrer Anstrengung im Bild eines unglücklichen oder unwürdigen Äußeren zusammenfassen. (So sehe Neupeter aus „wie eine kranke Lerche“, die man klystiert, Knoll wie ein „armer Handwerksmann, den ein Gesell Sonnabend abends bei einem Schusterlicht rasiert“ oder Flachs „wie ein reitender Betteljude, mit welchem ein Hengst durchgeht“). Die Komik liegt hier in einem einfachen Gleichsetzen mit dem abwertenden Bild, wobei z. T. gar nicht mehr nachvollziehbar ist, worauf dieses Bild und seine Konkretion (z. B. der eingeölte Stecknadelknopf oder der durchgehende Hengst) im Einzelnen zielt; bisweilen ist auch gar keine Vorstellung damit zu verbinden.42 Der Vergleich verlängert eigentlich nur das widrige Verhältnis, indem er dieses auf einen anderen Gegenstand überträgt (bisweilen wechselt die Konkretion sogar das Objekt der Komik, indem sie einen Witz auf die wissenschaftlichen Theorien der Zeit einschließt, wie im Fall der ‚klistierten Lerche‘). Der Text nutzt den Gestus einer näheren Bestimmung, in dem diese dann aber gar nicht erfolgt, sondern nur ein neues Bild eröffnet wird. Es entsteht eine Komik, die von ihrem Objekt und dem konkreten Inhalt des daran sichtbaren Widerspruchs gerade absehen muss, damit sie zustande kommt.43 Die Komik in den Flegeljahren versteht es, den einzelnen Widerspruch an der Welt zwar in satirischer Absicht weiterhin festzuhalten, in der sich fortsetzenden Anwendung auf alle möglichen Gegenstände der Realität sowie im Ausweiten der Komik als Absehen vom Inhalt des Widerspruchs tendiert sie aber dazu, die Wirklichkeit als Wirklichkeit für defizitär zu erklären (womit sie
42 Vgl. ebenso die Aufzählung der verschiedenen physischen Details des Tränenreizes und ihrer wissenschaftlichen Benennungen in Harprechts Äußerung. 43 Vgl. auch die – allerdings die vorhandenen Konkretionen der Kritik ganz übersehenden – Ausführungen von Meyer zur Produktion von Jean Pauls Bildlichkeit; Meyer konstatiert zunächst eine „Fülle der Bildlichkeit“, um dann das Prinzip ihrer Produktion zu zeigen, nämlich das Zusammenstellen von Elementen ganz unterschiedlicher Bereiche nach einem ganz abstrakten Kriterium der Identität (z. B. Anzahl, Farbe etc.), und um schließlich zu Recht zu bemerken, die Bilder tragen „nichts zur inhaltlichen Bereicherung oder näheren Bestimmung der Gegebenheit bei und [wollen] es auch nicht tun“ MEYER, 1963, S. 78-81, das Zitat S. 81. Zur Fortschreibung der Bildlichkeit als Prinzip der Textproduktion, vgl. ebenso ESSELBORN, 1989, S. 191f.
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schon nahe an die Diagnose vom Widersinn als Prinzip der Welt44 kommt) und sie in allen ihren Erscheinungsformen als ein immer nur wiederholbares Dementi des Idealen zu begreifen. Der indirekte Verweis der satirischen Darstellung auf den Maßstab, an dem gemessen ihre Gegenstände kritikwürdig und lächerlich erscheinen, trifft deshalb auch weniger auf einen bestimmten Inhalt als auf die vage Vorstellung eines ganz Anderen. Das Ideal ist in dieser Fassung nur als Negation zu haben,45 als das nicht-bürgerliche, nicht-kalkulierende, nicht-materielle Denken, ein von den alltäglichen Widrigkeiten, sozialen Abhängigkeiten und Zwecken getrennter Zustand. Die Darstellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit füllt diesen Maßstab weniger mit Inhalt, als sie ihn in einen Bereich jenseits der Realität verweist. Gefüllt wird dies eher im narrativen Gegenstück zur Satire, den idyllischen Szenen oder jenen schon kitschig anmutenden Passagen,46 die mit ernstgemeinter Pathetik eine Ästhetisierung der Natur vornehmen und ein Aufgehen des poetischen Geistes in der ihn umgebenden Landschaft zeigen: kurz, die Einheit des Subjekts mit seiner Welt, in der alle geistige Betätigung des Subjekts auf ein, Ideelles und Materielles umfassendes, Kontinuum an Bedeutung und in jeder einzelnen Erscheinung auf die Totalität der Welt stößt. Nun steht aber häufig bei Jean Paul – und so auch hier – neben diesen Widersprüchen der Wirklichkeit, die sich zu einer Bebilderung einer derart eingerichteten defizitären Welt zusammenfügen, noch ein zweiter Fall komischer Darstellung. Diese betrifft nämlich auch diejenigen Figuren oder, bei den Flegeljahren, denjenigen Charakter, in denen bzw. in dem sich das soeben ausgeführte poetische Ideal, das für die Gesellschaftssatire den Maßstab bietet, am 44 So ist die Testamentseröffnungsszene auch als grotesk eingestuft worden (vgl. u. a. MAURER, 1981, S. 57; ebenso GRÖTZEBACH, 1966, S. 144, die darin allerdings den Übergang zum bloßen Goutieren der Komik ausmacht, in dem es nicht mehr um Kritik gehe). 45 Eine ähnliche Diagnose findet sich bei WÖLFEL, 1989b, S. 267: Die satirische ‚Vernichtung‘ gebe qua Kontrast die Idee des Menschen an, die mit der Wirklichkeit verglichen werde. 46 Vgl. dazu BRUMMACK, 1979, S. 93: Die Satire deute „,negativ‘ auf das Ideal hin, das die Gesamtform der Werke wie auch besonders ihre ‚poetischen‘ Elemente anders, ‚positiv‘ vergegenwärtigen.“ So kann Brummack auf seine Frage, welche Bedeutung es habe, dass die Satire in Jean Pauls Romanen nicht „für sich steht“ (EBD., S. 98), das Verhältnis von satirischen und poetischen Momenten als inhaltlich notwendiges beschreiben, sofern das „poetische Verfahren Jean Pauls in [seinem] Verhältnis zur Satire als Methode[-] der Normvermittlung“ kenntlich werde und die Poesie dadurch den Status eines Gegenbildes zur bürgerlichen Welt und eine kritische Dimension erhalte (EBD., S. 106 u. 109).
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ehesten verkörpert findet.47 Walt, der Polymeter-Dichter und Romanschreiber, der seine Mitmenschen nur nach den ihm selbstverständlichen moralischen Idealen behandelt und beurteilt, der – reinen Herzens – keine List und keine Durchsetzung seiner Interessen kennt und die ganze Welt gemäß seiner poetischen Subjektivität in eine Offenbarung geistiger Zusammenhänge umdeutet, ist dennoch alles andere als die Normfigur der Satire; Walt erscheint selbst fragwürdig, in ihm wird das, was zuvor den Maßstab der Skepsis gegenüber der Welt abgab, selbst zum Objekt der Komik.48 Diese Komik basiert durchgängig auf dem Kontrast, in den die Deutungen Walts mit der Realität der gesellschaftlichen Verhältnisse und praktischen Einrichtungen der Welt geraten.49 So ist Walts Ausritt aus dem elterlichen Dorf mit Hindernissen verbunden, die nicht zuletzt darauf beruhen, dass er das Pferd zuvor lediglich in seinen „vier Gehirnkammern“50, also im Geiste, geritten ist, in der Praxis das Pferd aber seinem Willen sehr wirksam Widerstände entgegensetzt, d. h. sich entweder nicht vom Fleck bewegen lässt, oder eigenmächtig zurück zum Stall und später zu einem ihm bekannten Wirtshaus läuft oder eine Gruppe Pilger überrennt.51 Unverkennbar ist der Idealismus Walt’scher Gedankenkonstruktionen (auf die mitzudenkende Fichte-Kritik sei hier nur
47 So bemerkt BRUMMACK, 1979, S. 107, zur Funktion Walts für die Satire in den Flegeljahren: „In einzelnen Situationen wirkt er neben Flitte, Glanz und Neupeter wie die Norm neben dem Fehler, und der fortwährende Kontrast der Wirklichkeit zu den Erwartungen des Jünglings und Poeten verstärkt nicht nur die Drastik der Darstellung, sondern weist auch wenigstens vorläufig auf das Ideal hin.“ 48 Natürlich ist er auch ein Objekt, nicht nur ein Mittel der Satire, so aber BRUMMACK, 1979, S. 87 (mit Blick auf Wutz, Fibel und Fixlein bzw. deren eingeschränkte Weltsicht); der Unterschied besteht eher darin, dass bei diesen Figuren, die durchaus lächerlich erscheinen, die Gültigkeit ihres Lebensentwurfs damit nicht bestritten ist. 49 Vgl. GRÖTZEBACH, 1966, S. 108. 50 JPW2, S. 635. 51 Das sog. „Reiterstück“ reiht komische Szenen, die auf dem Widerspruch zwischen dem Verhalten des Tieres und den Intentionen seines Reiters basieren und ihm immer neue Aspekte des Gegensatzes abgewinnen, so z. B. die Widrigkeit zur emotionalen Aufladung der Situation: „Das war dem Tier ein Wink, bis an den Bach vorzuschreiten; hier stand es vor dem Bilde des Reiters fest, kredenzte den Spiegel, und als der Notar droben mit unsäglicher Systole und Diastole der Füße und Bügel arbeitete, weil das halbe Dorf lachte, und der Wirt ohnehin, glaubte der Harttraber seinen Irrtum des Stehens einzusehen, und trug Walten von der Tränke wieder vor die Stalltüre hin, störtʼ aber die Rührungen des Reiters bedeutend.“ EBD., S. 636.
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hingewiesen52) problematisiert, wobei auf einmal daran gedacht ist, dass dieser seine Gültigkeit an der Wirklichkeit ausweisen muss und die sich geltend machende Realität nun zum maßgeblichen Kriterium wird. Ob er gleich nicht imstande war, unter einer fremden Stubendecke den Hut aufzubehalten – sogar unter seiner sah er ungern bedeckt aus dem Fenster aus Artigkeit –: so hatt’ er doch seine Freude daran, daß andere Gäste ihren aufhatten und sonst überall von den herrlichen akademischen Freiheiten und Independenzakten der Wirtsstuben den besten Gebrauch machten, es sei, daß sie lagen oder schwiegen oder sich kratzten. Ihm schienen die Wirtsstuben ordentlich als hübsche geräumliche, aus abgebrochenen eingeäscherten Reichsstädten unversehrt herausgehobene reichsunmittelbare Diogenes-Fässer vorzukommen, als hübsche aus Marathons-Ebenen ausgestochne Grünplätze, vom Keller grünend gewässert. […] Der Mut der Menschen wächset leicht, ist er nur herausgekeimt; – Kommende grüßten leise, Gehende laut; der Notarius dankte beiden lauter. Er war so freudig bei einem Freudenbecher, den nicht einmal sächsischer Landwein hätte wässern können. Er liebte jeden Hund, und wünschte von jedem Hund geliebt zu sein. Er knüpfte deswegen mit dem Wirtsspitze – um nur etwas für das Herz zu haben – ein so enges Band von Bade-Bekanntschaft und Freundschaft an, als ein Stückchen Wursthaut bei solchen Wesen sein kann.53
Die Freiheit der Reise und die Idylle des einfachen, ländlichen Lebens erweist sich erkennbar als eine Konstruktion, die Walts Weltanschauung erst leistet. Die Szene wird aus der Perspektive Walts geschildert, in der die realen Versatzstücke seiner Idealisierung einerseits noch kenntlich („daß sie lagen, […] oder sich kratzten“, der Hund, der durch eine Wursthaut zu erfreuen ist), andererseits schon in harmonisierende Bilder umgewandelt sind, welche sowohl in
52 HOLDENER, 1993, S. 19-21, 32-42, hat die gesamte Reitszene, ausgehend von der eindeutig auf die Frühromantiker zielende Passage um das „Wirtshaus zum Wirtshaus“ (JPW2, S. 640f.) als eine Parodie auf Fichte gelesen, genauer: auf ein Denksystems, das sich alles Reale als Produkt des Subjekts vorstellt. Durchgeführt ist die Satire, indem der idealistische Entwurf einfach mit einer sich ihm bzw. dem Willen des Subjekts nicht fügenden Realität konfrontiert wird. Dass im „Wirtshaus zum Wirtshaus“ eine romantische Potenzierung und eine Polemik gegen die poetischen Nihilisten der Vorschule liegt, betont KÖPKE, 1990, S. 149. 53 JPW2, S. 843f.
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der Formulierung „Ihm schienen die Wirtsstuben […] vorzukommen“54, der häufenden Metaphorik als auch im komischen Kontrast, in den die Bilder mit der Realität geraten (das derbe Verhalten als „herrliche akademische Freiheiten“ sowie der Kontrast von allumfassendem Liebesgefühl und seinem gerade konkreten Objekt, dem Spitz), als Übertreibung ausgewiesen werden.55 Dass Walts Bild von der Wirtsstube den Gegebenheiten gegenüber inadäquat ist, daran lässt der Text keinen Zweifel und auch nicht daran, dass diese Inadäquatheit hier weniger einen Einwand gegen das unpoetische ländliche Leben als gegen den realitätsuntauglichen oder -beschönigenden Protagonisten enthält;56 die Art der Inszenierung der Komik zeigt – auch und gerade, wenn die Metaphorik mit ihrer wörtlichen Bedeutung konfrontiert wird („Freudenbecher, den nicht einmal sächsischer Landwein hätte wässern können“, „Er liebt jeden Hund“) – die Bilder als Abweichung von Realität und diese damit als Maßstab,57 an dem eine Relativierung von Walts Poetisierungsleistung erfolgt. Walt hat so gesehen an seiner Täuschung über die Welt und die Motive der handelnden Personen durchaus seinen Anteil – nicht nur in der für ihn harmlosen Weise wie in dieser Szene. Walts naives Verhältnis zur Welt, seine Unbe-
54 EBD. [Herv. von mir, C. W.] 55 Zur narrativen Darstellung von „Walts Fähigkeit, Wirklichkeit in Poesie umzudeuten“, insbesondere auch recht ärmliche oder widrige Verhältnisse in eine Entsprechung zu ihm zu verwandeln, und der gleichzeitigen distanzierenden Kommentierung durch den Erzähler, der die Wirklichkeit neben der poetischen Deutung präsent hält, vgl. NEUMANN, 1966, S. 39, anhand der Beschreibung von Walts Zimmer bei Neupeter. Die sprachlichen Mittel einer Distanzierung des Erzählers von Walts Sicht sind wiederholt festgehalten worden, v. a. als ‚Ironie‘ des Erzählers, vgl. MEYER, 1963, S. 69; GANSBERG, 1968, S. 380. 56 Zum Widerspruch zwischen Walts Idealismus und der Wirklichkeit im Reisekapitel ausführlich VONAU, 1997, S. 54-57, allerdings innerhalb einer vornehmlich auf die (durchaus romantisch gemeint) ironische Selbstbezüglichkeit romanhaften Erzählens bzw. scheiternder Formadaptionen bedachten Durchsicht der Passagen, was zu bisweilen unzutreffenden Einseitigkeiten führt. 57 Es ist in der Tat nicht der Maßstab eines ‚wahren‘ Idealismus, an dem gemessen Walts Verklärung der Welt komisch erscheint; deshalb muss aber nicht gleich eine willkürliche „Stimmung“ des Erzählers oder „der Autor mit seinem Witz“ als Maßstab angesehen werden (so aber GRÖTZEBACH, 1966, S. 117). Dieser liegt eindeutig in der Realitätsangemessenheit von Walts Verhalten. Durchaus konform dazu hat Sprengel in den Flegeljahren eine Anerkennung der prosaischen Wirklichkeit, eine Aufwertung des Materiellen, des ökonomischen Prinzips gegenüber der Poesie gesehen, und zwar sofern dessen Geltungsanspruch unabweisbarer werde (SPRENGEL, 1977, S. 288f., 291).
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darftheit gegenüber der List der Präsumptiverben ließe sich durchaus als Dummheit bzw. Blindheit einordnen.58 Gleichwohl macht sich hier eine eigenartige Version der Komik bemerkbar, da sie dem Verfahren nach eine Relativierung der vorgeführten Projektion betreibt, eine Berechtigung des gerade lächerlich erscheinenden Weltbildes aber gar nicht bestreitet.59 Dies macht sich schon dadurch bemerkbar, dass die Geschichte – anders als beispielweise der Picaro-Roman, in dem auch das Verhalten gemäß einem vorher gefassten moralisch-idealistischen Weltbild wiederholte Situationen des Nichtpassens zur Welt aufführt – gerade nicht auf eine 58 Vgl. MAURER, 1981, S. 51. 59 Grötzebach geht eine ganze Reihe von Aspekten durch, in denen diese gegenläufigen Bewegungen zutage treten: „Das Verklären der Wirklichkeit […] wird in der Reflexion des Werkes teils positiv gesehen, teils der Lächerlichkeit preisgegeben“ (GRÖTZEBACH, 1966, S. 107). Walts Menschenliebe sei z. T. als Dummheit dargestellt und dann wieder „sentimental verherrlicht“ (EBD., S. 118); im Missverhältnis vom Ideal einer Freundschaft empfindsamer Seelen und Klothar als dem unpassenden Objekt dieser Freundschaftssehnsucht werde das Freundschaftsideal an sich nicht kritisiert (vgl. EBD., S. 137f., 139), auch die poetische Idealisierung der Wirklichkeit fällt nicht immer komisch aus, sie ist durchaus als poetische Leistung Walts beschrieben, als Erleben, das die Realität transzendiert, und werde „vom Erzähler ernst genommen und auch nachträglich nicht relativiert“ (EBD., S. 111); das betrifft insbesondere die Streckverse Walts, deren Qualität sich nicht zuletzt dadurch bestätigt findet, dass selbst Vult von ihnen angetan ist, während Knolls abwertende Einschätzung v. a. gegen die Figur (als Entlarven ihrer Borniertheit) sprechen soll (vgl. EBD., S. 111-113). Daran ist im Übrigen abzulesen, dass Walt nicht einfach die bloße Parodie des romantischen Dichters bzw. poetischen Nihilisten und seines leeren Potenzierens abgibt, wie es HOLDENER, 1993, S. 87-106, (verbunden mit dem eher psychologisierenden Vorwurf eines bei Walt fehlenden, aber erforderlichen Sich-der-Welt-Stellens) an Walts Reise nach Rosenhof ausführt. Fragwürdig ist aber auch der Schluss bei Grötzebach, Walts Verhalten werde so nicht als Mangel kritisiert, sondern sei nur „Mittel zur Evozierung von Komik“ (GRÖTZEBACH, 1966, S. 117), sowie die Begründung dafür, warum der Held komisch und sentimental dargestellt werde, die zur „Laune des Erzählers im biographischen Augenblick des Niederschreibens“ Zuflucht nehmen muss (EBD., S. 131). Maurer wiederum löst das widersprüchliche Zugleich von realitätsinadäquatem Verhalten Walts und seiner Überlegenheit über die Widrigkeiten in eine psychologische Folgerichtigkeit auf: Das Poetisieren der Welt durch Walt erscheint als Identitätsproblematik, wobei die Subjektivierung der Welt in den komischen Situationen als reine Illusion vorgeführt ist (vgl. MAURER, 1981, S. 38f.), in der die Subjektivierung eine Trennung von der Welt bedingt (vgl. EBD., S. 52, 54); diese wird aber um eines psychologischen Gewinns willen aufrechterhalten, der in einer Kompensation der Trennung durch eine innere Harmonie mit der Welt oder poetische Allmachtsvorstellungen bestehen soll (vgl. EBD., S. 75 u. 46: „Walt kompensiert in der Phantasie, worauf ihn das Leben zu verzichten zwingt“).
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Auflösung der Illusion über die Welt hinausläuft. Für Walt selbst gibt es keinen Bruch mit der Realität,60 die Anwendung seines Weltbildes auf alles, was ihm begegnet, erreicht stattdessen durchaus das Resultat, diese Realität in der Subjektivierung zu seiner Welt zu machen; was objektiv als ein Missverhältnis auffällt, ergibt subjektiv ein gelingendes Verhältnis. Auf die Relativierung des Walt’schen Weltbildes folgt also ihre Zurücknahme. Spätestens an dieser Stelle ist nicht mehr klar zu bestimmen, wogegen die Komik dieser Konstellation noch sprechen soll. Die bisherigen Analysen ergeben ein widersprüchliches Bild: Sie konstatieren das Nebeneinander zweier Richtungen des komischen Kontrastes, in dem die Gegebenheiten bzw. die Verhältnisse der Realität einerseits den Ort der Widersprüche und das Material für das Bemerken einer universellen Sinnwidrigkeit darstellen, andererseits den Maßstab für den Idealismus, der diese Widersprüche überwinden soll. Was in dieser Formulierung wie eine Unentschiedenheit der Gestaltung anmutet, erweist sich in einer Hinsicht durchaus als konsistent. Dazu noch einmal zurück zu Walt als Objekt der Komik: Wie gern hätt’ er [Walt] sich öffentlich ausgedrückt und ausgesprochen! Leider wie Moses saß er mit leuchtendem Antlitz und mit schwerer Zunge da, weil er schon zu lange mit dem Vorsatze gepasset, in das aufgetischte Zungen- und Lippen-Gehäcke, das er fast roh und unbedeutend fand, etwas Bedeutendes seinerseits zu werfen, da es ihm unmöglich war, etwas Rohes wie der Kaufmann zu sagen: ein Westfale, der einen feinen Faden spinnt, ist gar nicht vermögend, einen groben zu ziehen. Je länger ein Mensch seinen sonnigen Aufgang verschob, desto glänzender, glaubt er, müßt’ er aufgehen, und sinnet auf eine Sonne dazu; könnt’ er endlich mit einer Sonne einfallen, so fehlt ihm wieder der schickliche Osten zum Aufgang, und in Westen will er nicht gern zuerst empor. Auf diese Weise sagen nun die Menschen hienieden nichts.61
Ohne hier noch einmal im Einzelnen darzulegen, wie Walts Anliegen im Gegensatz von eigenem Anspruch und tatsächlichen praktischen Erfordernissen des Anlasses zunichte wird, soll die Art der Ausführung des komischen Verhältnisses betrachtet werden. Der an Walts Verhalten konstatierte Widerspruch wird nämlich zuerst in eine Art Sentenz und dann in eine allgemeine Aussage 60 Vgl. BAIERL, 1992, S. 156. Ähnlich auch NEUMANN, 1966, S. 41: Walt erfahre den Konflikt von Realität und Poesie selbst gar nicht. 61 JPW2, S. 726.
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gekleidet, die Walts Situation in eine Gesetzmäßigkeit solcher menschlichen Bestrebungen überführt.62 In der Fortschreibung der Komik wird Walts Verhalten Beispiel für ein Allgemeines63 und darin Material für die Möglichkeit, Analogien zu stiften zwischen dem einzelnen Geschehen und lauter (moralischen) Prinzipien der Wirklichkeit; das komische Dementi von Walts Idealismus bzw. Emphase zwischenmenschlicher Kommunikation ist der Auftakt zu einer Bekundung des Sich-Auskennens, wie es in der Welt zugeht, (und darin eines Anspruchs der Mitteilung, einer Wahrheit über die Welt Ausdruck zu verleihen). In dieser Hinsicht aber ist das Lächerlichmachen des Ideals dann nur die Fortsetzung der Satire, dessen Maßstab es relativiert; beides sind Modi einer Desillusionierung, die permanent das Abweichen der Empirie vom Ideal vorführt, in der es nicht darum geht, welcher Seite im einzelnen Fall Recht gege62 Vgl. auch BACHMANN, 1986, S. 188, der einen Hang zum Sentenziösen als Komplement zur Metapher diagnostiziert. Es stellt ein für Jean Pauls Schreiben insgesamt typisches Verfahren dar, das erzählte Geschehen bzw. Verhalten der Figuren im Nachhinein zu einem Exempel für ein Allgemeines zu machen; dies deutet auch WÖLFEL, 1989a, S. 239, an, wenn er konstatiert: dass „sich an die erzählerische Gestaltung des menschlichen Seins oder Geschehens die ‚Übersetzung‘ dessen, was so zur individuellen poetischen Gestalt gedieh, in die Allgemeinheit eines Exempels anschließt […]“. Der Übergang in eine allgemeine Gesetzmäßigkeit kann dann wiederum der Ausgangspunkt für weitere Bilder werden, vgl. dazu EBD., S. 240: „Er [der Begriff] entläßt aus sich eine neue Bildlichkeit, mit der wiederum sich individuell konkretisiert, was soeben noch in der Allgemeinheit begrifflicher Abstraktion sich abschließen wollte.“ Zur „verallgemeinernde[n] Kommentierung“ als Mittel des Humors vgl. ZYMNER, 1995, S. 240 (zum Titan); warum darin aber gleich die metaphysische Dimension der Unendlichkeit eingeführt sein soll, erschließt sich nicht mit Blick auf die Textstelle, sondern nur sofern Zymner die literarische Gestaltung unmittelbar als Einlösung der programmatischen Aussagen der Vorschule (bzw. jene als „heuristisches Werkzeug“, EBD., S. 243) liest. Zymner übernimmt hier die inhaltliche Aufladung des humoristischen Verfahrens bei Jean Paul. 63 Vgl. für ein weiteres von zahlreichen Beispielen JPW2, S. 696; an die Darstellung von Walts Neigung, sich für Petrarca zu halten, schließt sich folgender Erzählerkommentar an: „So geht eigentlich in dieser Minute kein Jüngling in ganz Jena, Weimar, Berlin u.s.w. über den Markt, der nicht glauben müßte, als Schrein – Sakramentshäuschen – Heiligenhaus – Rindenhaus – oder Mumienkasten irgendeines jetzt oder sonst lebenden Geister-Riesen heimlich herumzulaufen, so daß, wenn man besagten Schrein und Mumienkasten aufschlüge, der gedachte Riese deutlich ausgestreckt darin läge und munter blickte. Ja, Schreiber dieses war früher fünf bis sechs große Männer schnell nacheinander, so wie er sie eben gerade nachahmte. Kommt man freilich zu Jahren, nämlich zu Einsichten, besonders zu den größten, so ist man nichts.“
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ben wird, die vielmehr darin resultiert, die stets von der Welt zurückgewiesene Sinnvorstellung als omnipräsenten Inhalt des Urteilens einzurichten. Das unausgesetzte Thematisieren und Verneinen der Realisierung dieser Sinnvorstellung ergibt eine Weise, sie für wichtig und gültig zu erklären, also dennoch am Idealismus festzuhalten64 – wenn man so möchte, eine eigenwillige Immunisierung dieses Idealismus, der ständig eingesteht, dass er nicht in der Welt stattfindet, vom Aufgehen der Sinngedanken aber nicht Abstand nehmen muss, sofern er sich von der Bestätigung nicht mehr abhängig macht, sondern gerade seine ständige Infragestellung als das fortgesetzte Affirmieren der Relevanz des Ideals bzw. der Sinnperspektive entdeckt.65 Es ist diese sehr emphatische Affirmation eines Sinngedankens und ihr Zustandekommen, ohne dass die Kritik zurückgenommen würde,66 sondern mittels der Kritik, was am poetischen 64 Eine ähnliche Konstruktion bietet eine bei Jean Paul wiederkehrende Gedankenfigur, die am prominentesten die Rede des toten Christus veranschaulicht: Dass es die Sehnsucht nach sinnhafter Welteinheit gibt, wird als „psychische Notwendigkeit des Ersehnten“ (BACHMANN, 1986, S. 186), als dessen Unverzichtbarkeit verstanden, worin es Substanz gewinnen und die Realität des Ersehnten belegt sein soll. Bei Jean Paul sei „die Wünschbarkeit einer Sache so oft [das] Argument für ihre Wirklichkeit […], wie die Unerträglichkeit eines Gedankens [das] Argument gegen das Gedachte“, so WÖLFEL, 1989b, S. 283. 65 Es gibt in den Flegeljahren noch andere Verfahren der Affirmation einer Sinnhaftigkeit der Welt jenseits der Komik: Neumanns Untersuchung zu den Flegeljahren hat auf motivische Bezüge und Analogien aufmerksam gemacht sowie auf Konstellationen von „Bild und Gegenbild“, wodurch der Roman eine ganze Welt von Entsprechungen entwirft, in denen sich Bedeutungszuschreibungen vornehmen lassen und einzelne Verhältnisse symbolische Qualität erlangen; vgl. v. a. für das Motiv der Zwillinge bzw. der Differenz in der Identität NEUMANN, 1966, S. 49ff. Neumann macht solche Bezüge freilich mehr als Dokumentation eines durchgehenden, ästhetischen Kompositionswillens, weniger als Mittel der Bedeutungsaufladung kenntlich. 66 BRUMMACK, 1979, S. 85f. u. 128, hat zu Recht festgehalten, dass die Übergänge vom einzelnen Missstand zur allgemeinen Torheit, worin das einzelne Fehlverhalten nur „Beispiel für die Unzulänglichkeit des Endlichen“ bzw. für die Unvermittelbarkeit von Idee und schlechter Wirklichkeit sein kann, die satirische Kritik des Einzelfalls nicht notwendig abschwächen oder weniger konkret werden lassen; sie ist auch weiterhin auf die Aufhebung des konkreten Missstandes gerichtet, EBD., S. 86f. Der Gleichzeitigkeit von Kritik und Affirmation müssen jene Ansätze immer einen argumentativen Aufwand widmen, welche die politische Dimension Jean Paul’scher Satire retten wollen: Während GANSBERG, 1969, S. 384, 396f., die Totalisierung der Kritik im Humor gleich als deren praktische Bedeutungslosigkeit wertet, dann aber in dieser Konstellation die Widersprüche in der Ideologie des deutschen Bürgertums um 1800 sieht, wird für SPRENGEL, 1977, S. 293, in der Affirmation gegenüber den Gegebenheiten die Gesellschaftskritik erst unabweisbar,
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Werk Jean Pauls immer gleich auffällt. Das Aufführen dessen, worin ein subjektgemäßer Sinn der Verhältnisse dauernd in Frage gestellt ist, als Affirmation dieses Sinns, ist allerdings ein sehr versöhnlicher und nicht unproblematischer Gedanke, sofern er – zu Ende gedacht – das Subjektgemäße jeder schäbigen Situation gleich mitgarantiert.67 Dass Letzteres bei Jean Paul nicht die Konsequenz darstellt, zeigt sich schon daran, dass er die konkreten Einwände gegen die Welt nicht fallen lässt. Das Versöhnliche kommt viel eher dadurch zustande, dass die Widrigkeiten auf eine spezielle Art wahrgenommen werden, eine „Art, feindliche Umstände als solche festzuhalten und doch den Eindruck des Gegensatzes durch den Eindruck des von den Subjekten selber herbeigeführten Passens zu ergänzen“, also durch eine übergeordnete Perspektive, von der aus „der Gegensatz zwischen den Menschen und ihren Lebensbedingungen nicht mehr vernichtend“ sein soll68 und die hier in der Sinn-Bezogenheit all ihres Tuns (auch im Negativen) besteht. Insofern lässt sich die Komik in den Flegeljahren durchaus als humoristisch bezeichnen. 69
es sei „die Tragik Jean Pauls, daß er die Entfremdung der Phantasie nicht anders als durch Rückbindung des Genies an die bürgerliche Ökonomie korrigieren kann“; BRUMMACK, 1979, S. 91f., legt sich dagegen auf die Abhängigkeit der Satire vom sozialen Stand ihrer Objekte fest (nur die höheren Stände treffe eine satirische Kritik an ihren Unzulänglichkeiten) und nimmt die Ausweitung der Satire auf das Bürgertum gleich als ihren politischen Inhalt (kritisiert werde eine neue Abhängigkeit und Ungleichheit, EBD., S. 111). 67 Der Vorwurf des allzu Versöhnlichen auch bei GANSBERG, 1968, S. 394. 68 So SPIES, 2003, S. 448, zum Versöhnlichen der Komik in Zuckmayers Der Hauptmann von Köpenick. 69 Die Forschung hat den Humor in den Flegeljahren unterschiedlich, aber kaum mit Blick auf diese Affirmation der Realität bestimmt: Bei GRÖTZEBACH, 1966, S. 118, soll die humoristische Konzeption darin bestehen, dass „der verlachte Pseudopoet zugleich als wahrer Poet“ erscheinen kann. MEYER, 1963, S. 93, identifiziert die humoristische Totalität des Romans mit dem Ineinander von hoher und niederer Sprachebene. In einer Rechtfertigung Jean Pauls gegen den Vorwurf, er sei kein guter Erzähler, die aber den Maßstab des Vorwurfs, nämlich eine emphatische Vorstellung der Geschlossenheit des Kunstwerks, übernimmt, und diese Einheit in die Struktur verlegen will, führt Meyer nicht mehr als den Nachweis eines Nebeneinanders bzw. Wechsels von erhabener und komischer bis grotesker Stilebene (die gleich zwei Sprachwelten darstellen sollen). Dieser Kontrast – der übrigens keiner im Verfahren ist, da die angeblich einfache Bildlichkeit der niederen Ebene so einfach gar nicht ausfällt, was auch die Beschreibung nicht umhinkommt einzuräumen, sondern schon an Inhalte denken muss, um einen Unterschied festzuhalten – wird hier eröffnet, um den Widerspruch abstrakt als Zusammengehörigkeit bzw. Einheit zu sagen und als Prinzip, das die Geschichte bewegt.
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Dass die komische Kritik den Zusammenschluss mit der Welt immer sucht, ist auch der narrativen Darstellung anzumerken, genauer: dem, was die so explizite Präsenz des Erzählers leistet. Neben Vorreden und Einmischungen des Erzählers auf der Handlungsebene stellt auch die erläuterte komische Gestaltungsweise, insbesondere sobald die Fortschreibung der Vergleiche und Bilder zur Herstellung des Kontrastes dient, stets heraus, dass ihre Komik das Produkt einer geistreichen Inszenierung durch den Sprecher ist. Es ist der Verweis auf die Willkür wie die Überlegenheit des Erzählers, eine Überlegenheit, die das komische Verfahren mit der Produktion einer Distanz zu seinen Gegenständen noch untermauert.70 Erst die Inszenierung der überlegenen Position erlaubt es aber, den Zusammenschluss mit den Gegenständen der Komik wieder zu erreichen: Sie ist die Voraussetzung dafür, den gerade bemerkten Widersinn auch ohne Vorwurf bestehen zu lassen, da die Überlegenheit auch einschließt, die partielle Aufhebung ihres Standpunktes bzw. die Anwendung ihres Maßstabs außer Kraft setzen zu können. Hierin liegt nun auch die Affirmation des Materials der komischen Darstellung, d. h. der in der Erzählung dargestellten Realität: Die Desillusionierung als Auftakt oder Umweg zur Behauptung des Idealismus (nicht für sein Dementi) zu nehmen, beruht theoretisch freilich auf einem eher dürftigen Argument (eigentlich auf einem Paradox71). Funktionieren oder Substanz gewinnen 70 Zur Inszenierung der Erzählinstanz als Subjektivität durch die eingestreuten Paratexte, die Vermischung der Fiktionsebenen (der Erzähler erscheint als Figur seiner Geschichte), durch über mehrere Werke sich erstreckende und diese Werke verbindende Verschmelzung von Autorname und Erzählinstanz, vgl. ZYMNER, 1995, S. 224-228. Zum Ineinander von Wirklichkeit und fiktionaler Welt in den Flegeljahren, s. MEYER, 1963, S. 87 u. bes. 94 (der im Roman geschriebene Roman ist bekanntermaßen partiell identisch mit dem Roman Flegeljahre, Vult erscheint als der Verfasser der Grönländischen Prozesse, einer frühen Satiresammlung von Jean Paul, und ‚Jean Paul Friedrich Richter‘, der mit dem Autor namensgleiche Erzähler ist in der Romanfiktion ein Verwandter van der Kabels). Solche Erzählerinszenierungen haben, ebenso wie die Abweichung vom handlungszentrierten Erzählen, die Funktion, die Aufmerksamkeit auf den zu richten, der diese Ablenkung vornimmt, vgl. dazu auch RASCH, 1961, S. 10. Von einer Zurücknahme der Erzählerreflexion oder einem Übertragen der Kommentierung an die Figuren, wie es VONAU, 1997, S. 41, 42f., insbesondere mit Blick auf die in den Flegeljahren fehlende Vorrede behauptet, kann schlechterdings keine Rede sein. 71 Auch hier hat die Forschung nicht mit eigenen Paraphrasen des paradoxen Verhältnisses gespart: „Es ist die Paradoxie seiner Dichtung, daß sie, die doch von dieser Welt sprechen, nicht von dieser Welt sein will“ WÖLFEL, 1989b, S. 266. „Es gehört zu den nicht auflösbaren Widersprüchlichkeiten in Jean Pauls Denken, daß er einerseits auf die Künstlichkeit der durch den poetischen Geist erzeugten Realität
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kann der theoretisch angreifbare Gedanke eigentlich nur als seine praktische Entfaltung, als Übergang in ein Weltbild und dessen narrative Ausführung. Die komische Darstellung der Realität ist die Art und Weise, das Material für dieses Weltbild auszubreiten und dabei den Widerspruch in das narrative Nacheinander aufzulösen. Der Gedanke von der im Dementi bekräftigten Sinndimension wird dann davon abhängig gemacht, dass er sich in allen Erscheinungsformen konstruieren lässt, dass für ihn gleich ein ganzer (subjektiver) Weltentwurf garantiert; deshalb kommt in Jean Pauls Werk so vieles an komischer Konkretion der Realität vor, von dem man gar nicht immer weiß, inwiefern es nun für die Handlung oder auch die Spitze der Satire noch funktional sein soll.
Literatur Primärliteratur HEGEL, GEORG WILHELM FRIEDRICH, Werke in 20 Bden, Bd. 10: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse III [1830], Redaktion Eva MOLDENHAUER/KARL MARKUS MICHEL, Frankfurt/M. 1970. JEAN PAUL, Flegeljahre, in: DERS., Werke, hg. von NORBERT MILLER, 2. Bd.: Siebenkäs. Flegeljahre, München 1959, S. 567-1063. DERS., Vorschule der Ästhetik, in: DERS., Werke, hg. von NORBERT MILLER, 5. Bd.: Vorschule der Ästhetik. Levana oder Erziehlehre. Politische Schriften, München 1963, S. 7-514.
Sekundärliteratur BACHMANN, ASTA-MARIA, Das Umschaffen der Wirklichkeit durch den „poetischen Geist“. Aspekte der Phantasie und des Phantasierens in Jean Pauls Poesie und Poetik (Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur 891), Frankfurt/M. u. a. 1986. BAIERL, REDMER, Transzendenz. Weltvertrauen und Weltverfehlung bei Jean Paul (Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft 74), Würzburg 1992.
des Ideals in der Poesie hinweist, andererseits aber die Gültigkeit dieser Realität über den Rahmen der Poesie hinaus emphatisch postuliert.“ BACHMANN, 1986, S. 180.
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BEREND, EDUARD, Einleitung, in: Jean Pauls Sämtliche Werke. HistorischKritische Ausgabe, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Verb. mit der Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums und der Jean-Paul-Gesellschaft, 1. Abt., Bd. 10: Flegeljahre, Weimar 1934, S. V-LXX. BRUMMACK, JÜRGEN, Satirische Dichtung. Studien zu Friedrich Schlegel, Tieck, Jean Paul und Heine (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Texte und Abhandlungen 53), München 1979. DEMBECK, TILL, Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 18. Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul) (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 46), Berlin, New York 2007. ESSELBORN, HANS, Das Universum der Bilder. Die Naturwissenschaft in den Schriften Jean Pauls (Studien zur deutschen Literatur 99), Tübingen 1989. FREYE, KARL, Jean Pauls Flegeljahre. Materialien und Untersuchungen, Berlin 1907 [Nachdruck als Bd. 61 in der Reihe Palaestra, 1987]. GANSBERG, MARIE-LUISE, Welt-Verlachung und „das rechte Land“. Ein literatursoziologischer Beitrag zu Jean Paul’s Flegeljahren, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 42,3 (1968), S. 373-398. GRÖTZEBACH, RENATE, Humor und Satire bei Jean Paul. Exemplarische Untersuchungen mit besonderer Berücksichtigung des Spätwerks, Diss. FU Berlin 1966. HARICH, WOLFGANG, Jean Pauls Revolutionsdichtung. Versuch einer Deutung seiner heroischen Romane, Berlin 1974. HOLDENER, EPHREM, Jean Paul und die Frühromantik. Potenzierung und Parodie in den Flegeljahren, Paris, München 1993. KABLITZ, ANDREAS, Komik, Komisch, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2: H-O, hg. von Harald Fricke u. a., Berlin, New York 2000, S. 289-294. KINDT, TOM, Literatur und Komik. Zur Theorie literarischer Komik und zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 1), Berlin 2011. KÖPKE, WULF, Jean Pauls Begriff des Kunstwerks im Kontext der zeitgenössischen Ästhetik, in: Revolution und Autonomie. Deutsche Autonomieästhetik im Zeitalter der Französischen Revolution. Ein Symposium, hg. von WOLFGANG WITTKOWSKI, Tübingen 1990, S. 143-156.
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MAYER, GERHART, Die humorgeprägte Struktur von Jean Pauls Flegeljahren, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 83,4 (1964), S. 409-426. MAURER, PETER, Wunsch und Maske. Eine Untersuchung der Bild- und Motivstruktur von Jean Pauls Flegeljahren (Palaestra 273), Göttingen 1981. MEYER, HERMAN, Jean Pauls Flegeljahre, in: DERS., Zarte Empirie. Studien zur Literaturgeschichte. Stuttgart 1963, S. 57-112. MÜLLER, GÖTZ, Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie (Studien zur deutschen Literatur 73), Tübingen 1983. NEUMANN, PETER HORST, Jean Pauls Flegeljahre (Palaestra 245), Göttingen 1966. PROFITLICH, ULRICH, Zur Deutung der Humortheorie Jean Pauls. Vorschule der Ästhetik § 28 und § 31, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 89,2 (1970), S. 161-168. DERS., „Humoristische Subjektivität“. Über einige Äquivokationen in Jean Pauls Vorschule der Ästhetik, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 6 (1971), S. 46-85. RASCH, WOLFDIETRICH, Die Erzählweise Jean Pauls. Metaphernspiele und dissonante Strukturen, München 1961. SCHMIDT-BIGGEMANN, WILHELM, Maschine und Teufel. Jean Paul Jugendsatiren nach ihrer Modellgeschichte (Symposion 49), Freiburg, München 1975. SPIES, BERNHARD, „Nichts ist komischer als das Unglück.“ Komik in den Dramen Samuel Becketts, in: Compass. Mainzer Hefte für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 1 (1996), S. 25-42. DERS., Komik und komisches Drama bei Carl Zuckmayer, in: ZuckmayerJahrbuch 6 (2003), S. 423-451. SPRENGEL, PETER, Innerlichkeit. Jean Paul oder Das Leiden an der Gesellschaft (Literatur als Kunst), München, Wien 1977. VONAU, MICHAEL, Quodlibet. Studien zur poetologischen Selbstreflexivität von Jean Pauls Roman Flegeljahre (Literatura, Wissenschaftliche Beiträge zur Moderne und ihrer Geschichte 2), Würzburg 1997. WIETHÖLTER, WALTRAUD, Jean Paul: Flegeljahre (1804/05), in: Romane und Erzählungen der deutschen Romantik. Neue Interpretationen, hg. von PAUL MICHAEL LÜTZELER, Stuttgart 1981, S. 163-193. WÖLFEL, KURT, Antiklassizismus und Empfindsamkeit. Jean Paul und die Weimarer Kunstdoktrin, in: DERS., Jean Paul-Studien (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 742), hg. von BERNHARD BUSCHENDORF, Frankfurt/M. 1989a, S. 238-258.
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DERS., „Ein Echo, das sich selber in das Unendliche nachhallt“. Eine Betrachtung von Jean Pauls Poetik und Poesie, in: DERS., Jean Paul-Studien (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 742), hg. von BERNHARD BUSCHENDORF, Frankfurt/M. 1989b, S. 259-300. ZYMNER, RÜDIGER, Manierismus. Zur poetischen Artistik bei Johann Fischart, Jean Paul und Arno Schmidt. Paderborn u. a. 1995.
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Kontinuität der Aufklärung? Einige Bemerkungen zu Komik und Realismus bei Voltaire und Flaubert CAROLINE MANNWEILER Vous savez bien que je ne partage nullement votre opinion sur la personne de M. de Voltaire. C’est pour moi un saint! Pourquoi s’obstiner à voir un farceur dans un homme qui était un fanatique? […] Je m’étonne que vous n’admiriez pas cette grande palpitation qui a remué le monde. Est-ce qu’on obtient de tels résultats quand on n’est pas sincère? […] Bref, cet homme-là me semble ardent, acharné, convaincu, superbe. Son „Écrasons l’infâme“ me fait l’effet d’un cri de croisade. Toute son intelligence était une machine de guerre. Et ce qui me le fait chérir, c’est le dégoût que m’inspirent les voltairiens, des gens qui rient sur les grandes choses ! Est-ce qu’il riait, lui? Il grinçait!1 Sie wissen, dass ich Ihre Meinung zu M. de Voltaire nicht im Geringsten teile. Für mich ist er ein Heiliger! Warum darauf beharren, einen Witzbold in einem Mann zu sehen, der ein Fanatiker war? […] Ich bin erstaunt, dass Sie diesen großen Enthusiasmus, der die Welt bewegt hat, nicht bewundern. Erreicht man derartige Ergebnisse, wenn man nicht aufrichtig ist? […] Kurzum, dieser Mann scheint mir leidenschaftlich, unermüdlich, überzeugt, wunderbar. Sein „écrasons l’infâme“ wirkt auf mich wie der Ruf eines Kreuzzuges. Seine ganze Intelligenz ist eine Kriegsmaschine. Was mich ihn lieben lässt, ist die Abscheu, den die Voltaireanhänger bei mir hervorrufen, Menschen, die über die großen Dinge lachen. Hat er etwa gelacht? Geknirscht hat er!2
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FLAUBERT, 1991, S. 72. Alle Übersetzungen stammen, wo nicht anders angegeben, von mir, C. M.
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Ein halbes Jahrhundert nach Voltaires Tod formuliert Flaubert diesen Kommentar in einem Brief an Madame Roger des Genettes – einen Kommentar, den man wohl als Apologie bezeichnen könnte. Dass Voltaire einer solchen bedarf, liegt dabei gewiss nicht an seinem konkreten politischen Wirken – die wenigsten bestreiten seine Verdienste, ob in der Affäre Calas oder ähnlichen Fällen –, sondern an seinem Gebrauch von Komik und Ironie und den diesen Verfahren entgegengebrachten Vorbehalten. Voltaire gilt als „farceur“, als „Witzbold“, womit ihm zugleich eine unernste, unaufrichtige, anderen gegenüber gleichgültige Haltung attestiert wird. Eine Haltung, die Flaubert selbst ‚verabscheut‘, von der er allerdings lediglich die „voltairiens“ betroffen sieht: Voltaire selbst ‚lache nicht‘, er ‚knirsche‘. Darin drückt sich die Energie, aber auch die Ernsthaftigkeit des Engagements Voltaires aus, das Flaubert betont und mit der rhetorischen Frage ‚begründet‘: „Erreicht man derartige Ergebnisse, wenn man nicht aufrichtig ist?“ Zugute kommt dem „Witzbold“ Voltaire, dass seine konkreten politischen Erfolge über jeden Zweifel erhaben sind. Umso bemerkenswerter ist es, dass gleichwohl der Vorwurf der Unaufrichtigkeit im Raume steht, dem Flaubert entschieden entgegentritt. Dazu greift er gleich zu Beginn zu starken Ausdrücken, wenn er Voltaire als „Heiligen“ bzw. als „Fanatiker“ bezeichnet. Bedenkt man Voltaires lebenslangen Kampf gegen „l’infâme“, womit nicht nur die Kirche, sondern jede Form von Fanatismus gemeint ist, scheinen diese Begriffe durchaus provokant. Doch Flaubert versieht Voltaire auf diese Weise mit genau solchen Attributen, die am wirksamsten den mit dem Gebrauch von Ironie einhergehenden Oberflächlichkeitsverdacht widerlegen können. Wie überzeugend Flauberts Apologie ist, steht hier nicht zur Debatte. Festhalten lässt sich aber, dass Flaubert, im Gegensatz zu vielen Kritikern, Voltaires Witz keinesfalls für inkompatibel mit glühendem, aufklärerischen Engagement hält. Und mehr noch: diese Kombination scheint bei Flaubert große Begeisterung, gar Bewunderung hervorzurufen. Inwiefern Voltaire für Flaubert tatsächlich ein künstlerisches Vorbild geworden ist und inwiefern Flaubert die Verbindung von ‚Witz‘ und Aufrichtigkeit übernommen und fortentwickelt hat, sollen die folgenden Ausführungen skizzieren. Leitgedanke ist dabei, dass Voltaire und Flaubert eine literarische Linie bilden, in der aufklärerische Positionen nicht ‚verfochten‘, sondern in literarische Verfahren umgesetzt werden, wobei Ironie und Komik eine besondere Rolle zukommen.
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Komik und Realismus bei Voltaire und Flaubert
Voltaire Heute nahezu ausschließlich für seine satirischen contes philosophiques, seine philosophischen Erzählungen, bekannt, galt Voltaire insbesondere zu Beginn seiner literarischen Karriere allen voran als der zu seiner Zeit maßgebliche französische Tragödiendichter. Außerdem hatte er ein Versepos, die Henriade verfasst. Es sind also zweifelsohne die ‚ernsten‘ Gattungen, mit denen Voltaire literarischen Ruhm zu erlangen suchte und auch tatsächlich erlangte. Vor diesem Hintergrund mögen die eher zurückhaltenden Äußerungen zur Verwendung von Ironie in den unterschiedlichen Gattungen nicht überraschen: La figure de l’ironie tient presque toujours du comique; car l’ironie n’est autre chose qu’une raillerie. L’éloquence souffre cette figure en prose. Démosthène et Cicéron l’emploient quelquefois. Homère et Virgile n’ont pas dédaigné même de s’en servir dans l’épopée; mais dans la tragédie il faut l’employer sobrement: il faut qu’elle soit nécessaire; il faut que le personnage soit dans des circonstances où il ne puisse s’expliquer autrement, où il soit obligé de cacher sa douleur, et de feindre d’applaudir à ce qu’il déteste […].3 Die Figur der Ironie gleicht fast immer der Komik; denn Ironie ist nichts anderes als Spott. Die Redekunst erträgt diese Figur in der Prosa. Demosthenes und Cicero nutzen sie ab und an. Homer und Vergil waren nicht abgeneigt, sie selbst im Epos zu verwenden; aber in der Tragödie muss sie maßvoll angewendet werden: sie muss notwendig sein; die Figur muss in einer Lage sein, in der sie sich nicht anders erklären kann, in der sie gezwungen ist, ihren Schmerz zu verstecken, und so zu tun, als würde sie das, was sie hasst, beklatschen […].
Noch sehr eng an die Auffassung von Ironie als Trope4 gebunden, beurteilt Voltaire deren Verwendung durchaus ‚kritisch‘: Am wenigsten ‚stilbrechend‘ wirkt sie seiner Auffassung nach in der Prosa; dass Homer und Vergil sie im 3 4
VOLTAIRE, 1975b, S. 24. Im Wörterbuch der Académie française von 1694 ist Ironie definiert als „figure de Rhétorique, par laquelle on veut faire entrendre le contraire de ce qu’on dit, & qui consiste presque toute dans le ton de la voix & dans la manière de prononcer […]“ (Dictionnaire de l’Académie française, 1694, S. 612) Diese Definition der Ironie als „rhetorische Figur, durch die man das Gegenteil dessen zu verstehen geben möchte, was man sagt“, bildet den Hintergrund für Voltaires Begriff von Ironie, deren Funktionen und Einsatzmöglichkeiten er allerdings im Laufe der Zeit unterschiedlich bewertet. Zu dieser Entwicklung vgl. auch MASON, 1996, S. 51-62.
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Epos verwenden, erscheint Voltaire bemerkenswert; in der Tragödie allerdings habe sie nur sehr bedingt ihren Platz. Hier müsse sie „notwendig“ sein, womit das implizit ‚argumentative‘ Potential der Ironie angesprochen scheint, das den Ton der Tragödie nicht sprengt, sondern eine Form indirekten Sprechens darstellt, die Schlussprozesse auf Seiten des Zuhörers anregt. Diese den Intellekt des Zuhörers oder Lesers ansprechende Funktion der Ironie ist in theoretischen Äußerungen immer wieder aufgegriffen worden5 und findet sich bei Voltaire mit zunehmender Deutlichkeit: „Point dʼinjure; beaucoup dʼironie et de gaieté. Les injures révoltent; l’ironie fait rentrer les gens en eux mêmes, la gaieté désarme.“6 „Keine Beleidigungen; viel Ironie und Heiterkeit. Beleidigungen empören; Ironie bringt die Menschen zur Einkehr, Heiterkeit entwaffnet.“ Die Ironie wird hier explizit als eine Strategie bezeichnet, die den Leser zur Reflexion führt, im Gegensatz zu Invektiven, die zwar ähnlich wie die Ironie einen Missstand anzeigen können, allerdings eine emotionale, tendenziell aggressive Antwort hervorrufen. Die Heiterkeit sieht Voltaire im Verbund mit der Ironie, da sie „entwaffnet“ und so den Zuhörer für die Botschaften des Werkes empfänglich macht. Wichtig scheint in beiden Fällen, dass das Werk nicht zu ‚überreden‘ versucht: Die Heiterkeit erzeugt vielmehr den Eindruck, dass auch das Scheitern der im Werk vermittelten Botschaften diesem nichts anhaben könnte, eine ‚Souveränität‘, wie sie Beleidigungen, die immer ein emotionales Involviertsein zu erkennen geben, gerade vermissen lassen. Die Ironie erzeugt zudem einen Eindruck von ‚Selbstständigkeit‘ auf Seiten des Zuhörers, der die Positionen des Werks zunächst erschließen muss, was eine gewisse Auseinandersetzung mit ihnen erfordert. Dies dürfte der Zustimmungswahrscheinlichkeit zur erschlossenen Position zuträglich sein, da der Zuhörer sie zumindest einmal selbst nachvollzogen haben muss.
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Wie in der Definition im Akademie-Wörterbuch angedeutet, muss die Ironie durch den Hörer dekodiert werden, wozu ihn die „manière de prononcer“ („Art der Aussprache“) oder der „ton de la voix“ („Ton der Stimme“) aufrufen. Der Erfolg der Ironie hängt somit vom Hörer ab, der die von Weinrich so genannten „Ironiesignale“ empfangen und die wörtliche Aussage entsprechend uminterpretieren muss. Den Code dieser Signale bezeichnet er als „Geheimcode der Klugen“ (WEINRICH, 1974, S. 65). Sofern dem Hörer das Dekodieren zugetraut wird, schmeichelt die Ironie den „intellektuellen Fähigkeiten“ des Lesers, wie Warning ausführt (vgl. WARNING, 1982, S. 295). Auch bei Bergson richtet sich die Komik an den Intellekt und erfordert sogar eine „anesthésie momentanée du cœur“ (BERGSON, 1961, S. 4). VOLTAIRE, 1975a, S. 387. Die Orthographie von „gaieté“ wurde modernisiert.
Komik und Realismus bei Voltaire und Flaubert
Es sind diese aufklärungsaffinen Aspekte der Ironie,7 die Voltaire mehr und mehr faszinieren: Les livres les plus utiles sont ceux dont les lecteurs font eux-mêmes la moitié; ils étendent les pensées dont on leur présente le germe; ils corrigent ce qui leur semble défectueux, et fortifient par leurs réflexions ce qui leur paraît faible.8 Die nützlichsten Bücher sind diejenigen, die die Leser zur Hälfte selbst schreiben; sie weiten die Gedanken aus, deren Keim man ihnen präsentiert hat; sie korrigieren, was ihnen fehlerhaft scheint und stärken durch ihre Überlegungen dasjenige, was ihnen schwach erscheint.
Die Selbsttätigkeit des Lesers ist hier ausdrückliches Ziel, er ergänzt und führt weiter, wird in gewissem Sinne zum Ko-Autor. Was postmoderne Theorien von Lektüre vorwegzunehmen scheint, hat bei Voltaire freilich konkrete politische Hintergründe, nämlich die Suche nach einer möglichst wirksamen Form der Kritik: Je crois que la meilleure manière de tomber sur l’infâme, est de paraître n’avoir nulle envie de l’attaquer; […] de laisser le lecteur tirer lui-même les conséquences […]. [L’auteur] dit que l’ouvrage sera sage, qu’il dira moins qu’il ne pense, et qu’il fera penser beaucoup. Cette entreprise mʼintéresse infiniment.9 Ich glaube, die beste Art, das Infame anzugehen, ist so zu tun, als ob man nicht die geringste Lust hätte, es anzugreifen […], ist es, den Leser selbst die Schlussfolgerungen ziehen zu lassen […] [Der Autor] sagt, dass das Werk weise sein würde, dass er weniger sagen würde, als er denkt, und dass er viel zu denken geben würde. Dieses Vorhaben interessiert mich außerordentlich.
Bedenkt man, was mit „infâme“ – ein Kampfbegriff, den Friedrich II. verwendete, ehe ihn Voltaire aufnahm – bezeichnet ist, schließt sich in gewisser Weise der Kreis zwischen der Strategie der Ironie und der Zielsetzung von Voltai7
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Dass die Verknüpfung von ästhetischen Verfahren und philosophisch-weltanschaulichen Positionen problematisch ist, liegt auf der Hand, wenn sie auch in der Diskussion um die Ironie eine gewisse Tradition hat, mit einem prominenten Höhepunkt in der Romantik. Es soll hier weniger um die Bestätigung solcher Verknüpfungen gehen als um eine historische Betrachtung des Themas bei den betreffenden Autoren. VOLTAIRE, 1878, S. 2. VOLTAIRE, 1973, S. 17.
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res Werk: Denn mit „infâme“ ist jede Art von Fanatismus bezeichnet, mithin das Gegenphänomen zu selbstständiger gedanklicher Auseinandersetzung. Wenn Erasmus in Voltaires Totengespräch Conversation de Lucien, Erasme et Rabelais aux Champs-Elysées seine Umgebung als „Fanatiker[-]“10 beschreibt, so erscheinen diese weniger als leidenschaftliche Verfechter einer Idee, sondern als intolerante, machthungrige Menschen, die keinerlei abweichende Auffassungen dulden und somit jedes Denken im Keim ersticken. Gipfel dieser ‚Verrücktheit‘ ist folglich die Unfehlbarkeit des Papstes.11 Die Mönche, zu denen Erasmus gehört, sind innerhalb dieser ‚fanatischen‘ Gesellschaft dazu verdammt, ihren „sens commun“12 und ihre Freiheit aufzugeben, was Lukian als großes Opfer ansieht (dass sie, wie Erasmus ausführt, untätig auf Kosten der Gesellschaft leben, findet er eher nachvollziehbar). Freiheit und geistige Unabhängigkeit: dies sind im Grunde die Werte, die die drei Gesprächspartner vertreten, ohne sie jedoch explizit zu fordern. Sie schildern vielmehr ihre Strategien, wie sie in einer Gesellschaft, in der diese Werte nicht gelten, agieren, und zu diesen Mitteln gehören, wenig überraschend, der Witz und das Lachen. Das Lachen, das ostentative Nicht-Ernstnehmen, wird inmitten des Fanatismus Mittel zur Rettung der intellektuellen Freiheit, die eine durchaus „ernste“ Angelegenheit darstellt. Dass diese ernste Angelegenheit mit einer wiederum dogmatischen ‚Herrschaft‘ der Vernunft wenig zu tun hat, auch dies machen die drei Gesprächspartner durch den lustvoll-humorvollen Ton und die erfahrungsgesättigten, stets für Revisionen offenen Argumente deutlich. Doch so konsequent Voltaire, der in diesem Dialog selbstverständlich seine zeitgenössische Situation spiegelte, Ironie und Ernst, Verstand und Leidenschaftlichkeit als vereinbar vermittelt, so häufig wurde er in der Rezeption einseitig auf der Seite des ‚bloßen‘ Verstandes verortet, etwa wenn Schiller schreibt: Er kann uns als witziger Kopf belustigen, aber gewiß nicht als Dichter bewegen. Aber seinem Spott liegt überall zu wenig Ernst zum Grunde, und dieses macht seinen Dichterberuf mit Recht verdächtig. Wir begegnen immer nur seinem Verstande, nicht seinem Gefühl. Es zeigt sich kein Ideal unter seiner lufti-
10 VOLTAIRE, 1879a, S. 340. 11 Vgl. EBD., S. 342. 12 EBD., S. 340.
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Komik und Realismus bei Voltaire und Flaubert
gen Hülle […]. Beinahe muß man also fürchten, es war in diesem reichen Genius nur die Armut des Herzens, die seinen Beruf zur Satire bestimmte.13
Voltaires Intention, die er mit dem Verfahren der Ironie verbindet, nämlich den Zuhörer zur Reflexion zu führen und gerade keine emotionale Reaktion hervorzurufen, wird hier mit einer Abwesenheit von Emotion gleichgesetzt, die als Schwäche erscheint. Dasselbe gilt für Voltaires Sympathie für ein ‚undogmatisches‘ Denken, dessen fehlende Tiefe als Makel aufgefasst wird, obwohl es Tiefe gar nicht zum primären Ziel hat, sondern zunächst auf seiner freien Ausübung beharrt. Dass Voltaire sich mit diesen Auffassungen in einem Literatursystem, das sich zunehmend dem Prinzip der Authentizität zuwendet, in dem gerade die Suggestion von Unmittelbarkeit und sich im Gefühl bestätigender Echtheit relevant wird, auf mitunter feindlichem Terrain befindet, dürfte leicht nachvollziehbar sein. Gleichwohl fand und findet sein Schaffen Anhänger, wie die Rezeption seines Candide eindrucksvoll beweist.
Candide „[…] Candide – ein Lieblingsbuch aller Leute von Verstand“14 – was mitunter an Voltaires Werk bemängelt wurde, nämlich dass es den Verstand anspricht, wird bei Wieland zum Ausweis von Qualität. Womit zugleich gesagt ist, dass die Ziele, die Voltaire mit den Verfahren von Ironie und Komik verfolgte, in Candide erreicht werden. Denn dass Candide auf diesen Verfahren aufbaut, ist bereits in der Grundanlage des Werkes offensichtlich: Wenn man Komik, wie es bis in die aktuelle Forschung hinein praktiziert wird, als Inszenierung eines Kontrastes definiert,15 so lässt sich dieser kaum virtuoser konstruieren als in Candide: Der entfernt an Leibniz orientierten, vom „Metaphysiko-TheologoKosmolo-Nigologie“16 lehrenden Pangloss verfochtenen These von der vorge13 SCHILLER, 1960, S. 727. 14 WIELAND, 1787, S. 297. 15 Vgl. dazu umfassend KINDT, 2011, der gerade die auch unter Kontrast- bzw. Ambivalenztheorie firmierende Inkongruenztheorie als tragfähige Komiktheorie stark macht: „Dass ein enger Zusammenhang zwischen dem Inkongruenten und dem Komischen besteht, ist gegenwärtig vielleicht der einzige markante Konvergenzpunkt innerhalb der ansonsten äußerst vielstimmigen Humorologie.“ (EBD., S. 59). 16 VOLTAIRE, 2011, S. 3.
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fundenen Welt als der besten aller Welten stellt Voltaire in Candide ein Feuerwerk an Katastrophen und Situationen menschlichen Leids entgegen: Krieg, Erdbeben, Sklaverei, Folter, Menschenhandel, Vergewaltigungen gehören dabei zu den eher erwartbaren Skandalen, aber auch die Langeweile der Großstadtbewohner und ständige Enttäuschungen durch Mitmenschen gehören zu den Abgründen, denen Candide begegnet. Dass diese ‚Fakten‘ durchaus der Aktualität zu Zeiten Voltaires entstammen und mitunter heute noch relevant sind, mag für den Weltbezug des Werkes sprechen, die bleibende Wirkung Candides beruht aber nicht auf diesem ‚Realitätsgehalt‘, sondern auf der Art der Darstellung und diese bedient sich unter anderem ‚zeitloser‘ Komik: „Le texte de Voltaire est ironique à jamais pour tout lecteur capable de penser logiquement.“17 „Der Text von Voltaire wird für immer ironisch sein, für jeden Leser, der in der Lage ist, logisch zu denken.“ Diese Aussage erweist sich bei der Analyse des Werkes als triftig und erklärt auch, warum die mitunter kritisierte fehlende philosophische Auseinandersetzung Voltaires mit Leibniz den ‚Roman‘ nicht treffen kann: Gerade weil die Wirkung Candides auf ästhetischen Verfahren beruht, zu deren Verständnis eine genaue Kenntnis der Leibniz-Wolffʼschen Philosophie nicht nötig ist, konnte das Werk so viele Leser finden: Monsieur le baron était un des plus puissants seigneurs de la Westphalie, car son château avait une porte et des fenêtres. […] Madame la baronne, qui pesait environ trois cent cinquante livres, s’attirait par là une très grande considération, et faisait les honneurs de la maison avec une dignité qui la rendait encore plus respectable.18 Der Herr Baron, war einer der mächtigsten Edelherren Westfalens, denn sein Schloß hatte eine Tür und Fenster. […] Die Frau Baronin wog gut dreihundertfünfzig Pfund und genoß deswegen großes Ansehen, das sie durch die Würde, mit der sie die Honneurs des Hauses erwies, noch zu steigern wußte.19
Auch isoliert ist diesen Sätzen ihre Komik nicht zu nehmen. Zentralen Komikdefinitionen entsprechend, stellen sie eine harmlose Inkongruenz vor,20 die in
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DUSSUD, 1995, S. 201. VOLTAIRE, 1877, S. 138. VOLTAIRE, 2011, S. 3. Das Harmlosigkeitspostulat geht dabei letztlich auf Aristoteles zurück, der bezüglich der Komödie das Lächerliche als „ein[en] mit Häßlichkeit verbundene[n] Feh-
Komik und Realismus bei Voltaire und Flaubert
diesem Fall in der kausallogischen Verknüpfung von Aussagen besteht, die keinerlei kausales Verhältnis zueinander aufweisen. In folgender Passage erfolgt zwar die Rückbindung dieser Pseudo-Logiken an die Leibniz-Wolffʼsche Terminologie der besten aller möglichen Welten: Remarquez bien que les nez ont été faits pour porter des lunettes; aussi avonsnous des lunettes. Les jambes sont visiblement instituées pour être chaussées, et nous avons des chausses. Les pierres ont été formées pour être taillées et pour en faire des châteaux; aussi monseigneur a un très beau château: le plus grand baron de la province doit être le mieux logé; et les cochons étant faits pour être mangés, nous mangeons du porc toute l’année: par conséquent, ceux qui ont avancé que tout est bien ont dit une sottise; il fallait dire que tout est au mieux.21 Seht eure Nasen an: sie wurden gemacht, damit ihr Brillen tragen könnt; folglich gibt es Brillen. Wie der Augenschein dartut, habt ihr Beine, um Stiefel zu tragen; deshalb gibt es Stiefel. Die Steine sind dazu da, daß man sie behaut und Schlösser daraus baut; daher haben seine hochfreiherrliche Gnaden ein prächtiges Schloß, denn der mächtigste Edelherr des Landes muß auch am besten wohnen. Die Schweine sind da, daß man sie ißt, deshalb essen wir das ganze Jahr Speck. Aus alledem ergibt sich klar und einleuchtend: eine Dummheit sagt, wer da behauptet, alles sei gut geschaffen worden; nein, man muß sagen: alles wurde auf das beste gemacht.22
Für das Gesamtverständnis des Textes ist es jedoch nicht wesentlich, diese Bezüge zu erkennen. Es genügt, die Komik wahrzunehmen, da diese die folgende Rezeption des Textes steuert: Was immer an potentiell tragischen Geschehnissen folgen mag – und Candide ist reich an diesen –, durch die stets wiederkehrende Komik verhindert Voltaire, dass sich diese zu einer Weltsicht verdichten.23 ler, der indes keinen Schmerz und auch kein Verderben verursacht“ (ARISTOTELES, 1994, S. 17), beschreibt. 21 VOLTAIRE, 1877, S. 138. 22 VOLTAIRE, 2011, S. 4. 23 Vgl. hierzu CAMPION, 1992, S. 870: „Dans Candide, les facéties du langage, l’atomisation du récit, les inventions et incongruités permanentes créent un commentaire burlesque au sein d’une ‚deuxième voix‘ et empêchent à tout instant que ne se forment une continuité dramatique et, à travers elle, une pitié et une identification vis-à-vis du malheureux héros. Ainsi l’idée de tragique est-elle soigneusement évitée, pour que ne se reconstitue pas sournoisement une idéologie de la na-
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Auch die gleich zu Beginn eingesetzte simple Sprachkomik („Thunder-tentronckh“24) hat insofern ihre Funktion innerhalb eines kunstvollen Arrangements von realistischen und komischen Elementen, die in der Summe die ‚Offenheit‘ des Werkes garantieren. Zwar haben die ‚Fakten‘, die Voltaire auswählt, eine eindeutige Tendenz und die Masse an Gräueln könnte auf eine Absicht hinweisen, in der Darstellung der Realität auch gleich ein Urteil über selbige mitzuliefern, in etwa der Devise folgend: ‚Da die Welt so ist, wie sie ist, ist sie schlecht‘. Doch gerade eine solche Weltsicht kritisiert Voltaire in Candide, wenn auch in der positiven Variante des ‚Da die Welt so ist, wie sie ist, ist sie gut‘. Beide Sätze sind Dogmen und somit Angriffe auf die Freiheit des Geistes. Insofern sind sie gewissermaßen das denkerische Pendant des Fanatismus, den Voltaire in Candide bezeichnenderweise unter anderem folgendermaßen präsentiert: Après le tremblement de terre qui avait détruit les trois quarts de Lisbonne, les sages du pays n’avaient pas trouvé un moyen plus efficace pour prévenir une ruine totale que de donner au peuple un bel auto-da-fé; il était décidé par l’université de Coïmbre que le spectacle de quelques personnes brûlées à petit feu, en grande cérémonie, est un secret infaillible pour empêcher la terre de trembler.25 Nach dem Erdbeben, das drei Viertel von Lissabon zerstört hatte, wußten die Weisen des Landes kein wirksameres Mittel gegen den völligen Untergang der Stadt zu finden, als dem Volke den Anblick eines schönen Autodafé zu gewähren. Die Universität Coimbra hatte das entscheidende Wort gesprochen, daß das Schauspiel einiger feierlichst und auf langsamem Feuer verbrannter Menschen ein unfehlbares Mittel sei, die Erde am Beben zu hindern.26
ture des choses, d’une nature immuable, et donc non critiquable.“ „Die Sprachwitze, die Atomisierung der Erzählung, die Erfindungen und die ständigen Ungereimtheiten erzeugen in Candide einen burlesken Kommentar in einer ‚zweiten Stimme‘ und verhindern jederzeit, dass eine dramatische Kontinuität entsteht, durch die sich Mitleid und Identifikation mit dem unglücklichen Helden einstellen könnten. Die Vorstellung des Tragischen wird auf diese Weise sorgsam vermieden, damit sich nicht unterschwellig wieder eine Ideologie von der Natur der Dinge aufbaut, von einer unwandelbaren und deshalb nicht kritisierbaren Natur.“ 24 VOLTAIRE, 2011, S. 3. 25 VOLTAIRE, 1877, S. 148. 26 VOLTAIRE, 2011, S. 17.
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Dem Fanatismus wirft Voltaire mithin nicht seinen Fanatismus vor, sondern seine Unterkomplexität – ein Argument, das auch Voltaires Kritik am Krieg bestimmt: Zum englisch-französischen Krieg lässt er Martin bemerken: „Vous savez que ces deux nations sont en guerre pour quelques arpents de neige vers le Canada, et qu’elles dépensent pour cette belle guerre beaucoup plus que tout le Canada ne vaut.“27 „[E]s ist Ihnen doch bekannt, dass diese beiden Nationen um einige Klafter Schnee in der Gegend von Kanada Krieg führen, und dass dieser schöne Krieg sie weit mehr kostet, als ganz Kanada wert ist?“28 Statt einer auf die Leiden des Krieges abhebenden Kritik nutzt Voltaire das Verfahren der Komik, der Inszenierung von Inkongruenz, die in diesem Fall in der krassen Unverhältnismäßigkeit von Kriegsanlass und Kriegskosten besteht. Die humanitären Konsequenzen des Krieges werden nicht thematisiert, aber durch die pointierte Darstellung seines ökonomischen Irrsinns ist dessen Absurdität dennoch festgehalten. Eine solche indirekte Kritik nimmt Voltaire schon zu Beginn des Werkes vor: On lui met sur-le-champ les fers aux pieds, et on le mène au régiment. On le fait tourner à droite, à gauche, hausser la baguette, remettre la baguette, coucher en joue, tirer, doubler le pas, et on lui donne trente coups de bâton; le lendemain, il fait l’exercice un peu moins mal, et il ne reçoit que vingt coups; le surlendemain, on ne lui en donne que dix, et il est regardé par ses camarades comme un prodige.29 Seine Füße werden in Eisen geschlossen, man führt ihn zum Regiment. Er muß rechtsum, linksum machen, Gewehr auf Schulter, Gewehr ab, Feuer, Laufschritt, marsch, marsch. Dabei bekommt er dreißig Stockschläge; am folgenden Tag exerziert er schon etwas besser und erhält nur zwanzig, am übernächsten Tag kriegt er nur zehn, und seine Kameraden begaffen ihn als Weltwunder.30
Das Missverhältnis zwischen dem Maß der Anerkennung und der relativen ‚Einfachheit‘ der geleisteten Aufgaben ridikülisiert das Militär mit den Mitteln der Komik. Und auch im folgenden Abschnitt ist es die Inszenierung eines Missverhältnisses, eines Kontrasts, der die Komik erzeugt, nämlich der zwi-
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VOLTAIRE, 1877, S. 196. VOLTAIRE, 2011, S. 78. VOLTAIRE, 1877, S. 140. VOLTAIRE, 2011, S. 6.
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schen der scheinbar harmlosen Tätigkeit des Spaziergangs und seiner Interpretation als Desertion. Candide, tout stupéfait, ne démêlait pas encore trop bien comment il était un héros. Il s’avisa un beau jour de printemps de s’aller promener, marchant tout droit devant lui, croyant que c’était un privilège de l'espèce humaine, comme de l’espèce animale, de se servir de ses jambes à son plaisir. Il n’eut pas fait deux lieues que voilà quatre autres héros de six pieds qui l’atteignent, qui le lient, qui le mènent dans un cachot. On lui demanda juridiquement ce qu’il aimait le mieux d’être fustigé trente-six fois par tout le régiment, ou de recevoir à-la-fois douze balles de plomb dans la cervelle. Il eut beau dire que les volontés sont libres, et qu’il ne voulait ni l’un ni l’autre, il fallut faire un choix; […].31 Candide war ganz verblüfft und begriff noch gar nicht, wie er zum Helden geworden war. An einem schönen Frühlingsmorgen kam es ihm in den Kopf, spazierenzugehen, immer der Nase nach, denn er glaubte, Menschen wie Tiere genössen das Vorrecht, sich ihrer Beine nach Belieben bedienen zu dürfen. Noch hatte er keine zwei Meilen zurückgelegt, als vier andere Helden von sechs Fuß Länge ihn einholen, binden und ins Gefängnis bringen. Ein Kriegsgericht fragt ihn, was er lieber hätte: sechsunddreißigmal Spießruten zu laufen oder sich zwölf bleierne Kugeln zugleich ins Hirn jagen zu lassen. Candide hatte gut reden, der Wille des Menschen sei frei, und er möge weder das eine noch das andere; [er musste eine Wahl treffen].32
Was Voltaire durch diese Verfahren gelingt, ist durchaus bemerkenswert: Er entgeht der schwierigen Diskussion um die Legitimität von Kriegen und bringt den Leser alleine dadurch auf seine ‚kriegskritische‘ Seite, dass er ihm zumutet, seine komische Betrachtung des Krieges nachzuvollziehen. Dass Komik und Ironie eine Solidarisierung von Erzähler und Leser gegenüber dem ironisierten Objekt erreichen, ist in der Komikforschung häufig postuliert worden.33 Hinzu kommt, dass diese Solidarisierung unabhängig davon zustande kommt, ob Leser und Erzähler die gleiche Auffassung vertreten: Der Erzähler gibt diese im Verfahren der Ironie ja gerade nicht preis, sondern baut darauf, dass der Leser die Ironie erkennt und sich so einzig qua Verfahren auf den Erzähler
31 VOLTAIRE, 1877, S. 140f. 32 VOLTAIRE, 2011, S. 6f. Sander übersetzt am Ende nicht sinngemäß mit „Man ließ ihm keine Wahl“. 33 Vgl. hierzu WARNING, 1976, S. 416-422.
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einstimmt.34 Voltaire macht sich diese Eigenschaften des Verfahrens zunutze, erkennt aber auch die Gefahren, die darin lauern: Enfin, je vous parlerais de toutes les différentes façons de montrer de l’esprit si j’en avais davantage; mais tous ces brillants […] ne conviennent point ou conviennent fort rarement à un ouvrage sérieux et qui doit intéresser. La raison en est qu’alors c’est l'auteur qui paraît, et que le public ne veut voir que le héros. Or ce héros est toujours ou dans la passion ou en danger. Le danger et les passions ne cherchent point l’esprit.35 Kurzum, ich könnte Euch von all den verschiedenen Arten sprechen, Witz zu beweisen, wenn ich mehr davon hätte, aber all diese Glanzlichter […] passen nicht oder passen nur sehr selten für ein ernsthaftes Werk, das auch noch Anteilnahme erregen soll. Der Grund dafür ist, dass dann der Autor sichtbar wird, und dass das Publikum nur den Helden sehen will. Dieser Held ist jedoch immer in Leidenschaft oder in Gefahr. Die Gefahr und die Leidenschaft verlangen nicht nach Witz.
Als hochartifizielle Verfahren, die gerade darauf angewiesen sind, eine nicht explizit geäußerte Stimme in ihnen zu erkennen, verweisen Ironie und Komik auf den Autor und dessen Kunstfertigkeit, was dem Identifikationsbedürfnis des Lesers widerstrebt. Dem abzuhelfen hat Voltaire mit Candide zwar keineswegs eine psychologisch plausible Figur geschaffen, aber doch eine Figur, die eine zumindest minimale Entwicklung durchläuft. Während er zu Beginn mechanisch und naiv an der Devise seines Lehrers Pangloss festhält, nach der alles zum Besten sei, gerät er im Verlauf der Erzählung doch zunehmend ins Zweifeln. Höhepunkte erreicht seine Verzweiflung dabei bezeichnenderweise nicht in Momenten, in denen er selbst in Gefahr ist: Les chiens, les singes et les perroquets sont mille fois moins malheureux que nous. Les fétiches hollandais qui m’ont converti me disent tous les dimanches que nous sommes tous enfants d’Adam, blancs et noirs. Je ne suis pas généalogiste; mais si ces prêcheurs disent vrai, nous sommes tous cousins issus de ger-
34 Dass die Ironie ihr „Nein“ zur gegnerischen Position nicht durch die Artikulation einer eigenen Position „belastet“, verleiht der Ironie nach Warning ihre „ganze Stoßkraft“ (WARNING, 1982, S. 295). 35 VOLTAIRE, 1879b, S. 3.
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mains. Or vous m’avouerez qu’on ne peut pas en user avec ses parents d’une manière plus horrible. – Ô Pangloss ! s’écria Candide, tu n’avais pas deviné cette abomination; c’en est fait, il faudra qu’à la fin je renonce à ton optimisme. Qu’est-ce qu’optimisme? disait Cacambo. Hélas! dit Candide, c’est la rage de soutenir que tout est bien quand on est mal; et il versait des larmes en regardant son nègre, et en pleurant il entra dans Surinam.36 Hunde, Papageien und Affen sind tausendmal weniger unglücklich als wir; die holländischen Fetische, die mich bekehrt haben, sagen mir jeden Sonntag, wir alle seien Kinder Adams, Schwarze wie Weiße. Ich bin kein Genealoge, doch wenn diese Prediger die Wahrheit sprechen, sind wir alle leibliche Vettern. Sie werden mir aber doch wohl zugeben müssen, daß man seine Verwandten kaum schrecklicher behandeln kann. „O Pangloß!“ rief Candid, „von diesen Greueln hast du nichts gewußt; es ist aus, jetzt muß ich deinem Optimismus entsagen.“ „Optimismus? Was ist das?“ fragte Cacambo. „Ach“, sagte Candide, „das ist der Irrsinn, alles wunderschön zu finden, wenn es einem hundsmiserabel geht.“ Und als er seinen Neger anschaute, vergoß er Tränen, und weinend betrat er Surinam.37
Es ist nicht das eigene Leid, sondern das Mitleid mit dem Schwarzen, das Candide zum ersten und einzigen Male dazu bringt, Pangloss’ Lehre nicht mehr zu akzeptieren. Eine Lehre, die er dabei als „rage“, als „Wut“38 bezeichnet, was ihre Nähe zum denkfeindlichen Fanatismus dokumentiert. Und auch die zweite von größter Verzweiflung Candides geprägte Passage ist aufschlussreich: Ce procédé acheva de désespérer Candide; il avait à la vérité essuyé des malheurs mille fois plus douloureux; mais le sang-froid du juge, et celui du patron dont il était volé, alluma sa bile, et le plongea dans une noire mélancolie. La méchanceté des hommes se présentait à son esprit dans toute sa laideur; il ne se nourrissait que d’idées tristes.39 Dieses Verfahren brachte Candide vollends zur Verzweiflung; er hatte ja schon tausendmal Bitteres erduldet, aber die Kaltblütigkeit des Richters und des 36 VOLTAIRE, 1877, S. 180f. 37 VOLTAIRE, 2011, S. 57f. 38 Sander übersetzt „rage“ mit „Irrsinn“, im Wortsinn ist „rage“ aber durchaus mit „Wut“ zu übertragen. 39 VOLTAIRE, 1877, S. 182.
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Schiffsherrn, der ihn bestohlen hatte, brachte seine Galle zum Überlaufen und stürzte ihn in düstere Melancholie. Die menschliche Nichtswürdigkeit bot sich seiner Seele in ihrer ganzen Häßlichkeit dar; er plagte sich mit trüben Gedanken.40
Es ist die Kaltblütigkeit des Richters, die Candide resignieren lässt und die er als schlimmer empfindet als die unzähligen Schrecken, denen er begegnet ist. Herzenskälte als die schlimmste Untugend, tief empfundenes Mitleid als Tugend: bei Lektüre dieser Passagen fällt es schwer, der Schiller’schen Interpretation Voltaires zu folgen. Dass Voltaire Candide nicht in Resignation verharren lässt, bleibt gleichwohl wahr. Das viel gedeutete Ende Candides („il faut cultiver notre jardin“41) ist in der Tat eine Absage an Resignation, sofern diese mit Weltflucht einhergeht. Es ist allerdings auch eindeutig kein ‚positives‘ Ende oder gar der simple Aufruf zu ‚Pragmatismus‘. Das Ende erscheint als eine deutliche Anti-Klimax im Erzählverlauf und gestaltet sich auch inhaltlich wenig euphorisch. Candide ist von Unsicherheit umgetrieben, ebenso wie Pangloss. Die Frage der Alten steht im Raum: Je voudrais savoir lequel est le pire, ou d’être violée cent fois par des pirates nègres, d’avoir une fesse coupée, de passer par les baguettes chez les Bulgares, d’être fouetté et pendu dans un auto-da-fé, d’être disséqué, de ramer en galère, d’éprouver enfin toutes les misères par lesquelles nous avons tous passé, ou bien de rester ici à ne rien faire? Cʼest une grande question, dit Candide.42 Ich möchte wissen, was schlimmer ist, hundertmal von Negerpiraten genotzüchtigt zu werden, eine abgeschnittene Hinterbacke zu haben, bei den Bulgaren Spießruten zu laufen, bei einem Autodafé ausgepeitscht und gehängt und dann seziert zu werden, Galeerensklave zu sein, kurz, all das Elend zu erdulden, das wir durchgemacht haben, oder hier herumzusitzen und nichts zu tun?“ – „Ja, das ist eine schwierige Frage“, sagte Candid.43
Und auch Martins etwas später folgende ‚Antwort‘ verrät in ihrem Appell zur Selbstbeschränkung eine gewisse Ernüchterung: „Travaillons sans raisonner.“44 „Wir wollen arbeiten, ohne uns zu zergrübeln.“45 Diese Aussage trägt 40 41 42 43 44
VOLTAIRE, 2011, S. 60. VOLTAIRE, 1877, S. 218. EBD., S. 215. VOLTAIRE, 2011, S. 102. VOLTAIRE, 1877, S. 218.
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alle Merkmale eines letzten Wortes und bleibt doch nicht als solches stehen. Candide bemerkt die gute Formulierung Martins und ergänzt: „Cela est bien dit, répondit Candide, mais il faut cultiver notre jardin.“46 „‚Wohlgesprochen‘, erwiderte Candid, ‚allein es gilt, unseren Garten zu bebauen.‘“47 Dass man den Garten bestellen müsse, ist Candides einzige Gewissheit eine Gewissheit, die allerdings nicht unmittelbar befreiend wirkt. Vielmehr hat sie Candides naives Weltvertrauen abgelöst. Damit ist noch nichts gewonnen – außer der Freiheit, Veränderungen für möglich zu halten, aber diese nicht unbedingt zu erwarten. Anstatt an der Welt festzuhalten, weil sie die beste aller möglichen ist, verzichtet Candide nunmehr auf eine nähere Begründung seines Festhaltens. In diesem Verzicht liegt die ‚Offenheit‘ des Werkes und seine ‚aufklärerische‘ Qualität – so man darunter schlicht eine Auffassung versteht, die Dogmen in jeder Form ablehnt, worunter sowohl Positionen fallen, die aus Leid die Schlechtigkeit der Welt ableiten, als auch solche, die Leid als notwendig erachten, da alles auf der Welt notwendig ist. Was diese im Roman durch den Manichäer Martin bzw. Pseudo-Philosophen Pangloss vertretenen Einstellungen gemein haben, ist ihre Aufgabe des ‚freien‘ Denkens, welches Martin explizit als Devise ausgibt: „Travaillons sans raisonner“ und Pangloss gleichsam permanent betreibt, da seine Vorabinterpretation aller Geschehnisse lediglich dem karikierten Schein eines Denkprozesses gleichkommt. Denken, so könnte man sagen, ist letztlich vor allem dem Leser des Romans aufgegeben, dessen offenes Ende im Verbund mit der komikdurchsetzten ironischen Struktur des Textes zumindest keine einfache Antwort zulässt.
Flaubert Parlez-moi de vous quand vous n’aurez rien de mieux à faire. Travaillez le plus possible, c’est encore le meilleur! La morale de Candide ‚il faut cultiver notre jardin‘ doit être celle des gens comme nous, de ceux qui n’ont pas trouvé.48 Erzählen Sie mir von sich, sobald Sie nichts Besseres zu tun haben. Arbeiten Sie so viel wie nur möglich, das ist noch am besten. Die Lehre von Candide
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VOLTAIRE, 2011, S. 105. VOLTAIRE, 1877, S. 218. VOLTAIRE, 2011, S. 105. FLAUBERT, 1991, S. 60f. [Herv. i. O.].
Komik und Realismus bei Voltaire und Flaubert
„wir müssen unseren Garten bebauen“ muss die Lehre für Leute wie unsereiner sein, für die, die nicht gefunden haben.
Candide sei ein Werk für diejenigen, die nicht gefunden haben. So formuliert Flaubert in einem Brief an Amélie Bosquet und reiht sich sogleich selbst in diese ‚Gruppe‘ ein. Anders als Interpretationen, die in Candides ‚Aufruf zur Arbeit‘ eine geschlossen pragmatische Weltsicht erkennen, in der Arbeit zum Selbstzweck geworden ist, betont Flaubert mithin die Offenheit des Werkes: Es sind die Suchenden, die sich Arbeit zur Devise geben, und nicht die, die in der Arbeit bereits ihr Ziel gefunden haben oder diese einem bereits gefundenen Ziel unterordnen. Dass es gerade die von Candide ausgehende intellektuelle Freiheit ist, die Flaubert schätzt und die ihn sehr persönlich anspricht, macht auch ein weiterer Auszug aus seiner Correspondance deutlich: „Nʼimporte! il faut être philosophe et ‚blaguer tout de même‘! Candide est un beau livre.“49 „Wie dem auch sei! Man muss Philosoph sein und ‚dennoch scherzen‘. Candide ist ein schönes Buch.“ In durchaus schwierigen, von persönlicher Bedrohung geprägten Zeiten – die Preußen rücken gerade in Frankreich ein – erinnert sich Flaubert an Candide. Philosoph bleiben, das Denken nicht aufgeben, den Witz nicht verlieren, das sind die Ratschläge, die sich Flaubert erteilt und die der bereits erwähnten Tendenz Voltaires verblüffend ähneln, nach der es gerade in fanatischer Umgebung gelte, die Rechte des Verstandes zu wahren, notfalls mit den Mitteln des Spottes. Man mag dies als eine Pose intellektueller Überlegenheit gegenüber widrigen Verhältnissen ansehen, die die Veränderung selbiger torpediert oder zumindest nicht vorantreibt. Doch sowohl bei Voltaire als auch bei Flaubert wird deutlich, dass der ‚Spott‘ viel weniger einer Abwertung anderer dient als der Ermöglichung eines weiterhin aufgeklärten Weltbezuges, der an einer Kritik der Verhältnisse festhält: Die mit Spott und Ironie einhergehende Distanz schützt davor, in Resignation oder in Fatalismus (beides durchaus unaufklärerische Haltungen) zu verfallen, gerade dann, wenn es die Umstände besonders nahelegen. Flaubert scheint sich dieser Schutzfunktion sehr persönlich bewusst: „Ce qui m’a gardé de la débauche, ce n’est pas la vertu, mais l’ironie.“50 „Es ist die Ironie, die mich vor der Schwelgerei bewahrt hat, nicht die Tugend.“ Angesichts verbreiteter Untugend ist es die Ironie, die vor einem 49 FLAUBERT, 1998, S. 57f. 50 FLAUBERT, 1980, S. 697 [Herv. i. O.].
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Rückzug ins Irrationale bewahrt. Aufschlussreich für den hier untersuchten Zusammenhang ist, dass Flaubert offensichtlich Ironie als Gegenmittel zu Weltflucht begreift oder anders gesagt als Möglichkeit einer wenn auch distanzierten Weltzugewandtheit. Gerade diese Verbindung von kritischer Distanz und Weltzugewandtheit ist es auch, die Flaubert bei Voltaire ausmacht: Oui, c’est beau Candide! fort beau! Quelle justesse! Y a-t-il moyen d’être plus large, tout en restant aussi net? Peut-être non. Le merveilleux effet de ce livre tient sans doute à la nature des idées qu’il exprime. C’est aussi bien que cela qu’il faut écrire, mais pas comme cela.51 Ja, Candide ist schön. Sehr schön. Welche Exaktheit! Ist es möglich, umfassender zu sein und zugleich so klar zu bleiben? Vielleicht nicht. Die wunderbare Wirkung dieses Buches hängt wahrscheinlich mit dem Wesen der Ideen zusammen, die es ausdrückt. Man muss genauso gut schreiben, aber nicht genauso.
Was Flaubert an Voltaires Candide schätzt, ist seine Verbindung von Klarheit und ‚Breite‘, mit der gewiss nicht der textuelle Umfang gemeint ist, sondern das verblüffende Maß an Welthaltigkeit, die Voltaire in den wenigen Seiten, die der Candide umfasst, konzentriert hat. Dass Voltaire trotz dieses Panoramas ‚exakt‘ bleibt, findet Flauberts Bewunderung und macht für ihn die Schönheit des Werkes aus. Wie sich in Flauberts Auffassung gedankliche „Exaktheit“ mit einem Konzept von Schönheit verbindet, macht auch folgende Aussage deutlich: Mais il m’est resté de ce que j’ai vu – senti – et lu, une inextinguible soif de vérité. Goethe s’écriait en mourant: „De la lumière! de la lumière!“ Oh! oui, de la lumière! dût-elle nous brûler jusqu’aux entrailles. C’est une grande volupté que d’apprendre, que de s’assimiler le Vrai par l’intermédiaire du Beau.52 Aber es ist mir geblieben, von dem, was ich gesehen, gespürt und gelesen habe, ein unstillbares Verlangen nach Wahrheit. Goethe rief im Sterben aus: Licht! Licht! – Oh ja, Licht! Auch wenn es uns bis ins Innerste verbrennen würde. Es ist eine große Lust zu lernen, sich das Wahre durch die Vermittlung des Schönen anzueignen.
51 EBD., S. 432. 52 EBD., S. 698.
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Komik und Realismus bei Voltaire und Flaubert
Wahrheit ist für Flaubert keine Gegebenheit mehr, aber die Suche nach ihr ein Bedürfnis. Dieser Haltung des Lernenden entspricht ein Verständnis von Schönheit, die keinen Gegenbegriff zur Wahrheit bildet, sondern Wahrheit enthält – und hierfür steht Candide: ein Werk, das in seinem Aufspüren von Missständen das von Flaubert so bezeichnete ‚brennende‘ Potential der Wahrheit aufweist, das diese schonungslose Wahrheitssuche allerdings nicht in ein Urteil verwandelt, sondern in eine ironiedurchzogene ästhetische Komposition. Diese künstlerische Kraft Candides scheint bei Flaubert tiefe Spuren hinterlassen zu haben, wie nicht nur seine mehrfache Lektüre des Werkes zeigt: Quelle singulière idée tu as de vouloir que l’on continue Candide! Est-ce que c’est possible? Qui le fera? Qui pourrait le faire? Il y a des œuvres tellement épouvantablement grandes – celle-là est du nombre – qu’elles écraseraient celui qui voudrait les porter. Armure de géant, le nain qui se la mettrait sur le dos en serait assommé avant d’avoir fait un pas.53 Was für eine seltsame Idee hast Du, zu wünschen, dass man Candide fortsetzt! Ist es überhaupt möglich? Wer wird es tun? Wer wäre dazu in der Lage? Es gibt Werke, die so fürchterlich groß sind – dieses gehört dazu –, dass sie denjenigen, der sie tragen möchte, erdrücken würden. Rüstung eines Riesen, der Zwerg, der sie sich anlegen wollte, würde von ihr erschlagen, noch ehe er einen Schritt getan hätte.
Ohne so weit gehen zu wollen, Flauberts Werk in ‚Einflussangst‘54 von Voltaire zu lesen, könnte es gleichwohl lohnend sein, einige Aspekte seines Schaffens vor dem Hintergrund seiner Voltaire-Affinität zu betrachten. Dies soll im Folgenden anhand einiger kurzer Bemerkungen zu Flauberts Madame Bovary geschehen.
Madame Bovary Sucht man nach Kontinuitäten zwischen Flaubert und Voltaire, so scheint es naheliegend, diese im Gebrauch von Ironie zu verorten, die sowohl Voltaires
53 FLAUBERT, 1973, S. 425. 54 Vgl. BLOOM, 1973.
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als auch Flauberts Werk aufweist.55 Es ließe sich behaupten, dass Flaubert auf Ironie zurückgreift, um unter den Prämissen des modernen realistischen Romans ‚Distanz‘ zu seinen Gegenständen zu ermöglichen. So führt Pierre Campion aus, dass im Flaubert’schen Roman, wo die Realität aus Sicht der Figuren geschildert wird und diese Sicht gleichzeitig „unantastbar“56 und für Kritik unzugänglich ist, nur die Ironie in der Lage ist, einen kritischen Standpunkt (den man mit dem des Autors gleichzusetzen tendiert) zu vermitteln. Auch Rainer Warning stellt in seiner erkenntnisreichen Studie zu Flauberts Madame Bovary eine Verbindung zwischen personaler Erzählhaltung und dem Verfahren der Ironie her: „Die Unpersönlichkeit des Erzählers ist eine Form ironischer dissimulatio der eigenen Position, das Erzählen aus der Perspektive des Mediums ist eine Form ironischer simulatio dieser Perspektive […].“57 Aufschlussreich ist aber auch, wie Warning die Ironie und deren Wirkung in Madame Bovary näherhin erläutert. Zum einen weist er darauf hin, dass die Ironie in Flauberts Roman nicht in Form eines permanenten indirekten Kommentars über die Figuren auftritt, sondern vielmehr in Form häufig subtil wechselnder Perspektiven, die den Leser ständig darüber zweifeln lassen, aus wessen Sicht eigentlich gerade und mit wessen Stimme erzählt wird.58 Damit geht einher, dass die als ironietypisch ausgewiesene Solidarisierung des Lesers mit dem abgeleiteten ironischen Standpunkt gegen die Figuren zugunsten eines mitunter nahezu dialogischen Verhältnisses aufgehoben wird.59 Ebenfalls in Richtung einer Relativierung der distanzierenden Wirkung der Ironie bei Flaubert weist Warnings These, dass das im Verfahren der Ironie notwendige Zitieren des ironisierten Objektes dieses in gewisser Weise zumindest als ästhetisches Objekt erhält.60 Dies sei im Falle Flauberts auch insofern relevant, als der 55 Einen großen Raum nimmt die Betrachtung der Ironie bei Flaubert in Jonathan Cullers einflussreicher Studie The uses of uncertainty ein (CULLER, 1985). Auch in vielen Arbeiten zur bei Flaubert so komplexen Frage der Erzählhaltung kommt die Ironie in Flauberts Werk zur Sprache, etwa bei GOTHOT-MERSCH, 1971, aber auch bereits bei LUBBOCK, 1921. Victor Brombert geht in seiner Monographie The hidden reader punktuell auf sie ein (BROMBERT, 1988). Eine umfassende und sehr erhellende Studie widmet ihr, wie bereits häufig zitiert, WARNING, 1982. 56 CAMPION, 1992, S. 866. 57 WARNING, 1982, S. 301. 58 Vgl. EBD., S. 302. 59 Vgl. EBD., S. 303. Booth stellt dieses Phänomen in seiner Monographie A rhetoric of irony als häufig anzutreffenden Zug der Ironie im Roman fest: „the building of amiable communities is often far more important than the exclusion of naïve victims“ (BOOTH, 1974, S. 28). 60 Vgl. WARNING, 1982, S. 304.
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romantische Diskurs als eines der Hauptobjekte der Ironie im Roman durchaus faszinierend für Flaubert geblieben sei: Denn wenn die romantische Rede mit der Zitierbarkeit als jene diskursive Ordnung bloßgelegt wird, die sie nicht sein will, so ermöglicht die ironische Distanz doch zugleich einen neuen Umgang mit diesem Diskurs, der seine geheime Faszination für Flaubert und das gesamte neunzehnte Jahrhundert nie verloren hat, war es doch der letzte, der die existentielle Erfahrung des Scheiterns metaphysisch kompensierte und damit einzubinden vermochte in die Sinnhaftigkeit einer übergreifenden kosmischen Ordnung.61
So plausibel Warnings Ausführungen zur Ironie sind, so scheint es doch geboten, die These einer „Faszination“ Flauberts für den ‚Romantikdiskurs‘ zumindest zu nuancieren. Denn wiewohl Flaubert in eigenen Aussagen sich als Erbe der Romantik auswies, seine Kritik an dieser ist nicht minder explizit: Ne sens-tu pas que tout se dissout maintenant par le relâchement, par l’élément humide, par les larmes, par le bavardage, par le laitage. La littérature contemporaine est noyée […]. Il nous faut à tous prendre du fer pour nous faire passer les chloroses gothiques que Rousseau, Chateaubriand et Lamartine nous ont transmises.62 Spürst du nicht, dass sich jetzt alles durch Nachlassen auflöst, durch das feuchte Element, durch die Tränen, durch das Geschwätz, durch die Milchkost. Die Literatur der Gegenwart ist ertrunken […] Wir müssen alle Eisen zu uns nehmen, um die gotischen Chlorosen zu heilen, die Rousseau, Chateaubriand und Lamartine uns vererbt haben.
Diese ‚ästhetische‘ Kritik mag auch deshalb so scharf und dezidiert ausfallen, weil sich in ihr zugleich dringende politische Fragen artikulieren. Denn anders als im deutschen Romantikkontext, in dem Begriffe wie ‚metaphysische Kompensation‘ und „kosmische Ordnung“63 am Platz sind, sah sich die französische Romantik nicht zuletzt als politische Bewegung und vor allem als ‚Erbe‘ der französischen Revolution. Romantik und Sozialismus, Romantik und Brüderlichkeit, dies sind im französischen Kontext relevante Begriffspaare, wel61 EBD., S. 305. 62 FLAUBERT, 1980, S. 508f. 63 WARNING, 1982, S. 305.
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che Flauberts Kritik herausfordern. Nicht, dass er die Republik prinzipiell abgelehnt hätte,64 aber den Einfluss rousseauistischer Ideale im politischen Leben Frankreichs sah er mit höchst gemischten Gefühlen: Bien que je sois dans le troupeau de ses petits-fils, cet homme [Rousseau] me déplaît. Je crois qu’il a eu une influence funeste. C’est le générateur de la démocratie envieuse et tyrannique. Les brumes de sa mélancolie ont obscurci dans les cerveaux français l’idée du droit.65 Obwohl ich zur Herde seiner Enkelkinder gehöre, missfällt mir dieser Mann [Rousseau]. Ich glaube, dass er einen verhängnisvollen Einfluss hat. Er ist der Erzeuger der neidischen und tyrannischen Demokratie. Die Nebel seiner Melancholie haben in den französischen Gehirnen die Idee des Rechts verdunkelt.
Bemerkenswert und für die vorliegende Studie von Interesse ist zudem die mit der Ablehnung Rousseaus einhergehende ‚Präferenz‘ für Voltaire: je crois même que, si nous sommes tellement bas moralement et politiquement, c’est qu’au lieu de suivre la grande route de M. de Voltaire, c’est-à-dire celle de la Justice et du Droit, on a pris les sentiers de Rousseau, qui, par le sentiment, nous ont ramenés au catholicisme. Si on avait eu souci de l’Équité et non de la Fraternité, nous serions haut!66 Wenn wir moralisch und politisch so daniederliegen, liegt das, glaube ich sogar, daran, dass wir, anstatt der großen Straße von Herrn von Voltaire zu folgen, also derjenigen der Justiz und des Rechts, die Pfade von Rousseau eingeschlagen haben, die uns, vermittels des Gefühls, zum Katholizismus zurückgeführt haben. Wenn wir uns um Gerechtigkeit und nicht um Brüderlichkeit gekümmert hätten, stünden wir jetzt hoch.
Dass Flaubert mit Voltaire mithin auch ganz bestimmte ‚politische‘ Ideale verbindet, darunter allen voran Rechtsstaatlichkeit, mag für sein literarisches Schaffen nicht unmittelbar relevant sein. Gleichwohl lassen sich diese politischen Präferenzen durchaus mit ästhetischen Präferenzen in Verbindung brin-
64 „Notez que je la défends, cette pauvre République; mais je n’y crois pas.“ (FLAUBERT, 2007, S. 233) „Halten Sie bitte fest, dass ich sie verteidige, diese arme Republik; aber ich glaube nicht daran.“ 65 FLAUBERT, 1991, S. 342. 66 EBD., S. 720.
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gen, die das Rationale, Skeptische dem irrational Leidenschaftlichen vorziehen: Zwei Äußerungen illustrieren diese Präferenzen in aller Kürze: Il y a un mot de La Bruyère auquel je me tiens: „Un bon auteur croit écrire raisonnablement“. C’est là ce que je demande, écrire raisonnablement et c’est déjà bien de l’ambition.67 Es gibt ein Wort von La Bruyère, an das ich mich halte: „Ein guter Autor glaubt vernünftig zu schreiben“. Das verlange ich, vernünftig schreiben, und das ist schon ein hoher Anspruch. À l’heure qu’il est, je crois même quʼun penseur (et qu’est-ce que l’artiste si ce n’est un triple penseur?) ne doit avoir ni religion, ni patrie, ni même aucune conviction sociale. Le doute absolu maintenant me paraît être si nettement démontré que vouloir le formuler serait presque une niaiserie.68 Ich glaube sogar, dass heutzutage ein Denker (und was ist der Künstler anderes als ein dreifacher Denker?) weder Religion, noch Vaterland noch irgendeine soziale Überzeugung haben darf. Der absolute Zweifel scheint mit jetzt so klar erwiesen, dass es fast eine Dummheit wäre, ihn formulieren zu wollen.
Vor dem Hintergrund dieser Äußerungen und Flauberts Bewunderung für Candide mag es sinnvoll sein, sich dem Problem der Ironie in Madame Bovary erneut und unter anderen Vorzeichen zu widmen. Denn es scheint, als läge auch Warnings Ausführungen eine Vorstellung von Ironie zugrunde, die mit dem Verfahren vor allem eine kritische, das Objekt der Ironie tendenziell abwertende Haltung verbindet, weshalb die in Madame Bovary ausbleibende eindeutige ‚Abwertung‘ erläuterungsbedürftig scheint. Es fragt sich aber, ob eine solche Auffassung von Ironie nicht genau die eingangs erwähnten Muster reproduziert, die von Voltaires Gebrauch der Ironie auf dessen ‚Herzlosigkeit‘ schlossen. Es soll stattdessen versucht werden, das, was bezüglich Madame Bovary mit ‚Ironie‘ bezeichnet wurde, als ein Verfahren zu begreifen, das den Realismus zu einem ‚aufgeklärten‘ macht. Dafür spräche unter anderem die zeitgenössische Rezeption des Romans, die viel weniger die Ironie des Textes wahrnahm, als vielmehr den schonungslosen Realismus gepaart mit einem ausbleibenden eindeutigen Urteil. Dieser Verzicht auf ein Urteil war es, der zum Prozess führte, der aber auch eine Parallele zwischen Flauberts Roman und dessen Candide-Interpretation darstellt. Wie sich die Offenheit, die Flaubert an 67 FLAUBERT, 1980, S. 288. 68 EBD., S. 316f.
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Candide so sehr schätzte, auch in seinem Werk findet, sei anhand einiger Bemerkungen zur Darstellung der Figur des Charles Bovary zumindest angedeutet. Oberflächlich ließe sich Charles als der von Beginn an lächerliche, langweilige Ehemann Emmas beschreiben, der in der Trauer nach ihrem Tod eine gewisse tragische Größe erlangt. Aber oberflächliche Beschreibungen gehen prinzipiell an Literatur und umso mehr an Flauberts Texten vorbei: So ist bereits die Eingangsszene, in der Charles Bovary als neuer Schüler vorgestellt und zum Gespött der Klasse wird, symptomatisch für die Komplexität des Romans: Welches Urteil ergeht hier über Charles? Le nouveau, prenant alors une résolution extrême, ouvrit une bouche démesurée et lança à pleins poumons, comme pour appeler quelqu’un, ce mot: Charbovari. Ce fut un vacarme qui s’élança d’un bond, monta en crescendo, avec des éclats de voix aigus (on hurlait, on aboyait, on trépignait, on répétait: Charbovari! Charbovari!), puis qui roula en notes isolées, se calmant à grandʼpeine, et parfois qui reprenait tout à coup sur la ligne d’un banc où saillissait encore çà et là, comme un pétard mal éteint, quelque rire étouffé. Cependant, sous la pluie des pensums, l’ordre peu à peu se rétablit dans la classe, et le professeur, parvenu à saisir le nom de Charles Bovary, se l’étant fait dicter, épeler et relire, commanda tout de suite au pauvre diable d’aller s’asseoir sur le banc de paresse, au pied de la chaire. Il se mit en mouvement, mais, avant de partir, hésita. „Que cherchez-vous? demanda le professeur. – Ma cas…, fit timidement le nouveau, promenant autour de lui des regards inquiets. – Cinq cents vers à toute la classe!“ exclamé d’une voix furieuse, arrêta, comme le Quos ego, une bourrasque nouvelle. „Restez donc tranquilles! continuait le professeur indigné, et s’essuyant le front avec son mouchoir qu’il venait de prendre dans sa toque: Quant à vous, le nouveau, vous me copierez vingt fois le verbe ridiculus sum.“ Puis, d’une voix plus douce: „Eh! vous la retrouverez, votre casquette; on ne vous l’a pas volée!“69 Da fasste sich der +eue ein Herz, riss den Mund sperrangelweit auf und brüllte, als riefe er jemanden, aus vollem Hals das Wort: Schahbovarie.
69 FLAUBERT, 2010, S. 294f. [Herv. i. O.].
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Sogleich erhob sich ein Heidenlärm, schwoll an im crescendo, mit schrillen Tönen (man kreischte, jaulte, trampelte, wiederholte Schahbovarie! Schahbovarie!), grollte in vereinzelten Noten weiter, legte sich nur mühsam und brauste in einer Bankreihe immer wieder plötzlich auf, wenn hier und dort, wie ein schlecht gelöschter Knallfrosch, ersticktes Lachen hervorsprang. Unter dem Hagel von Strafarbeiten kehrte jedoch langsam Ordnung ein in der Klasse, und als der Lehrer endlich den Namen Charles Bovary verstand, nachdem er ihn sich hatte diktieren lassen, buchstabieren und repetieren, befahl er dem armen Teufel stante pede, sich in die Eselsbank zu setzen, gleich vor den Katheder. Der gab sich einen Ruck, zögerte jedoch, bevor er losging. „Was suchen Sie?“ fragte der Lehrer „Meine Mü…“ antwortete zaghaft der +eue mit ängstlich wanderndem Blick „Fünfhundert Verse, die ganze Klasse!“ mit zorniger Stimme gerufen, unterdrückte, wie das Quos ego, einen neuerlichen Sturm. „Geben Sie doch Frieden!“ fuhr der aufgebrachte Lehrer fort und wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch, das er aus seiner Kappe gezogen hatte. „Und Sie, +euer, Sie schreiben mir zwanzigmal das Verb ridiculus sum.“ Dann, mit sanfterer Stimme: „Na! Die finden Sie schon wieder, Ihre Mütze; die ist nicht gestohlen!“70
Macht sich Charles lächerlich oder wird er lächerlich gemacht? Während der Leser sich noch fragt, ob er Mitleid empfindet oder die Lächerlichkeit nachvollzieht, wird die Aufmerksamkeit auf das Gespött als akustische Szenerie gelenkt, womit die Frage nach der Berechtigung des Gespötts aus dem Blick gerät. Die bald folgende Bezeichnung „arme[r] Teufel“ führt eine ambivalente Betrachtung Charles weiter, die sich in der Rolle des Lehrers fortsetzt, der sowohl die Klasse rügt als auch Charles Lächerlichkeit bestätigt, indem er ihn auffordert, „ridiculus sum“ zu notieren, ehe er ihn ungeduldig, doch bald „mit sanfterer Stimme“ und tröstend anspricht. Wie diese wenigen Sätze verdeutlichen, erlaubt es Flauberts Schreibweise nicht, Figuren zu ‚beurteilen‘. Zu den fluktuierenden Perspektiven, die Flauberts Schreibweise kennzeichnen und die sich in den hier angeführten Textpassagen auch durch die Kursivierungen71 äußern, kommt Flauberts Bemühen, 70 FLAUBERT, 2012, S. 13f. 71 Das Wort „nouveau“, das im Kontext der Passage zur Erzählerstimme gehört, erscheint durch die Kursivierung als zitierter Wortschatz der Schüler und des Lehrers. Da der Erzähler in diesem ersten Kapitel mit „nous“ einsteigt, ist zwar durchaus das Zusammenfallen von Erzählerperspektive und Schülerperspektive denkbar. Da das Kapitel jedoch keine interne Fokalisierung aufweist, die tatsächlich die
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ehe sich ‚Bilder‘ und mithin ‚Interpretationen‘ vervollständigen, Perspektivwechsel durchzuführen, wie die Eingangsszene, aber auch eine Passage am Ende des Romans deutlich macht, die ebenfalls Charles zum Mittelpunkt hat. Par respect, ou par une sorte de sensualité qui lui faisait mettre de la lenteur dans ses investigations, Charles n’avait pas encore ouvert le compartiment secret d’un bureau de palissandre dont Emma se servait habituellement. Un jour, enfin, il s’assit devant, tourna la clef et poussa le ressort. Toutes les lettres de Léon s’y trouvaient. Plus de doute, cette fois! Il dévora jusqu’à la dernière, fouilla dans tous les coins, tous les meubles, tous les tiroirs, derrière les murs, sanglotant, hurlant, éperdu, fou. Il découvrit une boîte, la défonça d’un coup de pied. Le portrait de Rodolphe lui sauta en plein visage, au milieu des billets doux bouleversés. On s’étonna de son découragement. Il ne sortait plus, ne recevait personne, refusait même d’aller voir ses malades. Alors on prétendit qu’il s’enfermait pour boire. Quelquefois, pourtant, un curieux se haussait par-dessus la haie du jardin, et apercevait avec ébahissement cet homme à barbe longue, couvert d’habits sordides, farouche, et qui pleurait tout haut en marchant. Le soir, dans l’été, il prenait avec lui sa petite fille et la conduisait au cimetière. Ils s’en revenaient à la nuit close, quand il n’y avait plus d’éclairé sur la Place que la lucarne de Binet. Cependant la volupté de sa douleur était incomplète, car il n’avait autour de lui personne qui la partageât; et il faisait des visites à la mère Lefrançois afin de pouvoir parler d’elle.72 Aus Ehrfurcht oder aus einer Art von sinnlichem Genuss, der ihn langsam vorgehen ließ bei seinen Nachforschungen, hatte Charles das Geheimfach des Palisanderschreibtischs, den Emma gewöhnlich benutzte, bisher nicht geöffnet. Eines Tages setzte er sich schließlich davor, drehte den Schlüssel herum und drückte die Feder. Léons sämtliche Briefe lagen da. Diesmal gab es keinen
‚Sicht‘ eines Schülers auf das Geschehen vermitteln würde, wird auch das Zitieren des Schülerdiskurses und damit die Kennzeichnung dieses Diskurses als der eines anderen möglich. Offensichtlich wird der Effekt der Kursivierung auch in der zweiten Passage: Die Hypothese, dass Charles sich einschließe, um zu trinken, ist durch die Kursivierung als Zitat des Gerüchtes sichtbar, so dass kurzfristig Perspektive und Stimme der Dorfbevölkerung den Erzählerdiskurs ‚doppeln‘ und somit eine Oszillation der Perspektiven, wenn auch nur punktuell, erfolgt. 72 FLAUBERT, 2010, S. 609 [Herv. i. O.].
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Zweifel! Er verschlang sie bis auf den letzten, wühlte in allen Ecken, allen Möbeln, allen Schubladen, hinter den Wänden, schluchzend, heulend, verzweifelt, wahnsinnig. Er entdeckte ein Kästchen, zertrümmerte es mit einem Fußtritt. Rodolphes Porträt sprang ihm ins Gesicht, inmitten durcheinandergeworfener Liebesbriefe. Man verwunderte sich über seine Mutlosigkeit. Er ging nicht mehr aus dem Haus, empfing niemanden, wollte nicht einmal seine Patienten besuchen. Da wurde behauptet, dass er sich einschließe, weil er trank. Manchmal jedoch spähte ein Neugieriger über die Gartenhecke und sah zu seiner Verblüffung diesen Mann mit langem Bart, in dreckige Kleider gehüllt, verwildert, der laut weinend umherlief. Abends, im Sommer, nahm er seine kleine Tochter und besuchte mit ihr den Friedhof. Erst in stockdunkler Nacht kehrten sie heim, wenn nirgendwo am Platz mehr Licht brannte, außer in Binets Dachluke. Doch konnte er seinen Schmerz nicht mit voller Lust auskosten, denn er hatte niemanden, der ihn teilte; und er besuchte Mutter Lefrançois, um über sie reden zu können.73
Das Porträt des leidenden Charles wird in diesem Fall wirksam unterbrochen durch die Erwähnung der Sichtweisen der Bewohner, die von Charles Rückzug auf ein Alkoholproblem schließen. Dieser Perspektivwechsel ändert nichts am Leid Charles’, ändert aber etwas an dessen Einschätzung, weil der Leser unvermittelt genötigt ist, dieses Leid mit dem Phänomen ungerechtfertigter Gerüchte in Zusammenhang zu bringen. Fast scheint es möglich, dies als Inszenierung eines Kontrastes und mithin als ‚Komik‘ zu interpretieren, zumal „alors“ eine kausale Verknüpfung nahelegt, während es eigentlich um einen Fehlschluss geht. Allerdings dürfte diese Komik kaum ein Lachen auslösen, sondern vielmehr den Eindruck, dass diese Art von Komik oder besser Inkongruenz sehr häufig anzutreffen, mithin ‚Normalität‘ ist. Dies mag eine triviale Erkenntnis scheinen. Das Besondere ist aber, dass es Flaubert gelingt, die ‚Normalität‘ wahrnehmbar zu machen, indem er sie in einem Kontext mit Unerhörtem beschreibt. Wobei nicht nur die Verzweiflung Charles’ in ihrer Intensität ‚unerhört‘ ist, sondern mehr noch die Charakterisierung selbiger als Wollust. In der unvermittelten Reihung von Banalitäten und tabuisierten Banalitäten – denn dass Trauer und Verzweiflung auch eine genussvolle Komponente aufweisen, mag üblich sein, dies auszusprechen, ist es nicht – erreicht Flaubert
73 FLAUBERT, 2012, S. 448f. [Herv. i. O.].
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eine Beschreibung, die die Fakten für sich sprechen lässt, weil sie keinem vorgefassten Urteil untergeordnet werden. Eine solche Beschreibung kann man wohl ‚aufklärerisch‘ nennen, insofern sie den Dogmatismus der üblichen Sichtweise kurzzeitig stört. Aber hat diese etwas mit Ironie zu tun? Gewiss teilt sie mit der Ironie den Verzicht, eine eigene Position zu unterbreiten. Sie bleibt ‚negativ‘. Was sie allerdings von der Ironie unterscheidet, ist, dass ihr jeder ‚inszenatorische‘ Aspekt fehlt. Die so viel kommentierten Flaubert’schen Kriterien des Erzählers, nämlich impersonnalité, impassibilité und impartialité, entfalten gerade in dieser Frage all ihre Wirksamkeit: Sie verhindern den inszenatorischen und damit auch letztlich ‚autorbezogenen‘ Aspekt von Komik und Ironie. Statt eines Verfahrens, das auf die Intelligenz und Überlegenheit der Erzeuger und Rezipienten von Ironie hinweist und damit eine indirekte Abwertung des ironisierten Objekts vornimmt, kann das Verfahren bei Flaubert zum Instrument einer ‚undogmatischen‘, weil Kontraste nicht meidenden Sichtweise werden. Interessant ist, dass man den fehlenden Überlegenheitsgestus der Ironie bei Flaubert durchaus festgestellt hat, dass man ihn aber nie ‚aufklärerisch‘ interpretiert hat. Von Mitleid, das Flaubert für seine Figuren empfinde, ist die Rede,74 oder von geheimer Faszination für den ironisierten romantischen Diskurs.75 Diese Hypothesen lassen sich gewiss stützen, vor dem Hintergrund von Flauberts VoltaireBegeisterung lässt sich aber auch eine andere Interpretation vorschlagen, nämlich die, dass Flaubert selbstverständlich keine Abwertung seiner Figuren intendierte, sondern eine möglichst wahrheitssuchende Darstellung, „large“ et „net“76. Da zur ‚largesse‘ allerdings im 19. Jahrhundert eben auch das Ernstnehmen der Psychologie der Figuren gehört, muss er sich diesen annähern. Und wohl aus dieser in der literarischen Entwicklung der Zeit begründeten Notwendigkeit ergibt sich der Eindruck, dass die Distanz, die Flaubert gleichwohl selbstverständlich sucht – ohne Distanz ist ‚netteté‘ kaum zu erreichen –, als Abwendung erscheint, die dann wieder interpretatorisch relativiert werden 74 Vgl. u. a. BROMBERT, 1974, S. 59: „Rien ne serait plus difficile que d’établir une ligne de démarcation bien précise entre la caricature des rêves romantiques et la compassion du romancier […] le langage de la banalité se trouve à la fois ridiculisé et transmué en poésie.“ „Nichts wäre schwieriger als eine präzise Trennlinie zwischen der Karikatur der romantischen Träume und dem Mitleid des Romanautors zu ziehen […] die Sprache der Banalität wird gleichzeitig lächerlich gemacht und in Poesie verwandelt.“ Und auch in Barbara Vinkens Publikation Duchkreuzte Moderne (VINKEN, 2009) spielt Mitleid eine wichtige Rolle. 75 Vgl. WARNING, 1982, S. 305. 76 FLAUBERT, 1980, S. 432.
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muss. Der Rückgriff auf Voltaire mag dabei helfen, die Flaubert’sche Ironie nicht in Kategorien von Zu- und Abwendung, Kritik oder Affirmation zu denken, sondern als Bemühen um eine aufgeklärte und mithin nicht-tragische Sicht der Dinge. Dass das Einnehmen einer solchen Sichtweise durchaus nicht immer als angenehm empfunden wird, zeigt die Kritik an Flaubert, aber auch an Voltaire. Beide sehen sich Einwänden gegenüber, denen sich der Tragiker nie zu stellen braucht. Die Tragik, die auch Inkongruenzen aufzeigt, diese aber kausal mit dem Scheitern der Betroffenen verknüpft und somit Notwendigkeit suggeriert, sieht sich weder dem Vorwurf mangelnder Tiefe ausgesetzt noch dem, sich über ihr Objekt zu erheben. Für eine solche Weltsicht des notwendigen Scheiterns – die durchaus ihre entlastenden Funktionen hat – sind aber weder Voltaire noch Flaubert zu haben. Mag sein, dass das Leid bleiben wird, wahrscheinlich sogar. Sich aber aller Ressourcen zu berauben, mit diesem Leid ‚kritisch‘ umzugehen – wie es von Notwendigkeiten ausgehende, dogmatische Ansätze im Grunde tun –, dagegen rebellieren Voltaire und Flaubert. Die Ironie, die gerade diese Ressourcen anspricht – sie ist ihnen eine Herzenssache.
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III. Komisierung als Mittel der Tradierung: Gattungsfortschreibungen und behauptete Welthaltigkeit
Idylle und Schwank Eine ungewöhnliche Konstellation in Eduard Mörikes Idylle vom Bodensee GÜNTER OESTERLE 1. Einführung Von einer Unwahrscheinlichkeit in der Literaturgeschichte ist zu berichten. Zur Sattelzeit im 19. Jahrhundert, zwei Jahre vor der 48er Revolution, inmitten einer Konjunktur trivial-epigonaler Idyllenproduktion1 hat Eduard Mörike das Kunststück vollbracht, nach drei großen Meilensteinen deutscher Idyllendichtung, die mit den Namen Salomon Gessner, Johann Heinrich Voss und Johann Wolfgang Goethe verbunden sind, noch einmal ein vollendetes idyllisches Epos zu schaffen. Sein Titel lautet: Idylle vom Bodensee oder Fischer Martin. Mit Blick auf die Rezeption und die Forschung könnte man allerdings diese hier getätigte Aussage von einem vollendeten Werk in Zweifel ziehen. Hat doch immerhin eine Kennerin, die prinzipiell in Mörikes Poesie die „reinste Ausprägung“ „der Idee von Idylle“ in der deutschen Literatur wahrnehmen zu können glaubte, der Idylle vom Bodensee nichts Positives abgewinnen können.2 Sie schreibt: Mörike habe einmal eine Idylle von größerem Ausmaß zu realisieren versucht. „Mit über 1400 Versen“ scheine sich die Idylle vom Bodensee „dem idyllischen Epos zu nähern“. Dann aber heißt es abschließend abwertend:
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Vgl. SCHNEIDER, 1978, S. 24. BÖSCHENSTEIN, 1967, S. 94.
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Günter Oesterle Der äußeren Ausdehnung entspricht jedoch keine innere Erweiterung. Es werden vielmehr zwei schlichte Handlungen ausgebreitet, die nur durch die Person des Hauptakteurs, eines schalkhaften Fischers, zusammenhängen. Scherzhafte Erfindungen, deren Schwäbisch-Kauziges der hexametrischen Stilisierung ins Allgemeingültige entschieden widerstrebt.3
Vergleichbare kritische Urteile finden sich auch bei Mörikes Zeitgenossen, etwa bei dem Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer. An versteckter Stelle schreibt er: Wir haben eine Idylle, die fast lauter Schwank ist: Mörikeʼs Idylle vom Bodensee. Sie dreht sich um zwei harmlose Bauernspäße, komponiert eigentlich Schwank in Schwank und schwächt dadurch leider ihre einzelnen wunderschönen Bilder. Ein bedeutenderer Hintergrund, wie ihn Göthe seiner Idylle Hermann und Dorothea gegeben, ließ einem solchen Vordergrunde sich nicht anfügen, wiewohl der Bodensee Anhalt genug zu großem Ausblick geboten hätte.4
Bei derartigen Kritiken ist auffallend, dass sie von einer thematischen Unterkomplexität (,schlicht‘ / ,harmlos‘) und einer gleichzeitig formalen Überkomplexität ausgehen, ohne diese scheinbare Asymmetrie als Signal zu lesen, darin ein poetisches Experiment Mörikes zu erkennen, das eine neuartige die Grenzen bisheriger Idyllentradition überschreitende Innovation versucht. Eine Analyse wird zeigen können, dass es sich in Mörikes Idylle vom Bodensee weder um „schlichte“ bzw. „harmlose“ Geschichten handelt5 noch um „SchwäbischKauziges“ und dass die aus der Technik der Prosaerzählung6 in das idyllische Epos importierte Schachtelung artistische Effekte erzeugt mit dem Ziel einer so noch nie gewagten Steigerung des Idyllischen durch Komik. Mörikes Idylle am Bodensee ist solitär, weil paradox angelegt: Die Vollendung der Gattung Idylle geschieht zugleich in der Aufhebung des Idyllischen in Komik und Schwank. Gattungshistorisch ist es freilich ein langer Weg, der mit dem Komischwerden der Idylle umschrieben werden kann. Schon hundert Jahre vor Mörikes poetischem Experiment lässt sich feststellen, dass die Idyllenproduktion dem an sie herangetragenen Anspruch einer „Darstellung nach dem Le-
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EBD. VISCHER, 1881 [1847], S. 160. MAYER, 2004, S. 246. SENGLE, 1972, S. 1003.
Idylle und Schwank
ben“7 durch Aufnahme ironischer und komischer Elemente gerecht zu werden versucht. Derartige Ansätze einer Integration des Komischen in die Idylle sind aber noch weit, sehr weit entfernt von der Drastik der Schwankliteratur. Stehen doch Themen dieser Gattung „Verdrehungen und Lügen, Normverletzungen, Tücken des Alltags, Tölpelhaftigkeit, Revanchegelüste und Streichespielen, List und Schlagfertigkeit“8 in schärfstem Gegensatz zu Motiven der Idylle, als da sind Frieden, Harmonie, Freundlichkeit und Zärtlichkeit. Und doch scheint es 1846 nur noch möglich zu sein, auf drastisch schwankhafte Weise in verlachender Austreibung „toter Habe“9 den idyllischen Glanz wiederzugewinnen. Eine Revitalisierung der Idylle schien nur möglich durch die Revision eines der Kernstücke bürgerlicher Idyllik, ihrer Apologetik „der schönen Güter Besitztum“.10 Helmut J. Schneider hat in einem Aufsatz, der ein Glanzstück der Literaturwissenschaft genannt zu werden verdient, zeigen können, dass zu diesem Zweck eine Gattungskorrektur notwendig war: eine Distanzname der von Vergil inspirierten Darstellung einer als Ideal konzipierten Kommunikations- und Wunschlandschaft zu einer im Geiste Theokrits erfolgten Konzentration der Idylle allein auf poetische Herstellung von Wünschen im „Bannraum der Kunst“11 Eine derartige Beschränkung auf die Herstellung des Idyllischen allein durch die Kraft einer „Dichtungsbeschwörung“12 schließt nicht aus, der besitzgierigen Welt durch lachenden Exorzismus den Kampf anzusagen. Mit den im Rahmen der Idylle erzählten beiden Schwänken, dem Glockenraub und der Verspottung einer untreuen habgierigen Braut, stellt Mörikes Idylle eine gestörte Ordnung wieder her.13 Die kritische Stoßrichtung der Schwänke, den Störenfrieden mit gezieltem Einsatz „bürgerlicher Angst vor Schmach und Isolation“ zu drohen14, fördert im Kontrast dazu eine Intensivierung des Idyllischen: statt einer toposartig aufgerufenen anmutigen Gegend eine lokal situierbare erhaben-schöne See- und Gebirgslandschaft, statt erotischer Zärtlichkeit ein ekstatischer Ausbruch von Liebe, statt graziöser Bewegung bacchantischen Tanz. Die beidseitige Intensivierung des Schwankhaften und Idyl7 8 9 10 11 12 13 14
SCHLEGEL, 1846 [1798], S. 49. DIETL, 2007, S. 681. BENJAMIN, 1989, S. 802. GOETHE, 1965, S. 514. SCHNEIDER, 1978, S. 27. EBD. Vgl. BÖHN, 2004, S. 204. DIETL, 2007, S. 685.
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lischen wird bis zum Erschrecken gesteigert, so weit, dass die kontrastiven Gattungen ineinander umschlagen. Zwei Beispiele mögen genügen: Das idyllische Glücks- und Schönheitsbild der Braut, die bei der Überfahrt auf dem Bodensee in unbewusst erotischer Pose zwischen ihren Knien ein von einer geschnitzten Meerjungfrau bekröntes Ruder hält, schlägt überraschend schnell in die schwankhafte Schreckfigur eines Abscheu erregenden „Meer Krokodil“15 um, oder um ein weiteres Beispiel aus der anderen Schwankgeschichte zu erwähnen: für die besitzgierigen, von der Sonnenglast des Mittags geblendeten Glockendiebe schien das im Glockenturm hängende Monster von dreckigem, durchlöchertem Hut wie ein idyllisches „Wunder“ und „Weltsding“16. Auf diese Weise wird durch das Zusammengehen von Idylle und Schwank der schöne Schein auf die Probe gestellt. Die mit Raffinement gehandhabte Rahmungs- und Verschachtelungstechnik erlaubt zudem Goethes Innovation aufzugreifen, der Idylle einen welthistorischen Hintergrund zu geben – freilich mit einem gänzlich anderen Akzent. Statt des von Goethe in die Idyllentradition eingebrachten Pathos der Französischen Revolution mit ihrer die Privatsphäre stimulierenden Allgemeinmenschlichkeit tritt bei Mörike als historische Folie ein weit skeptischer betrachteter, komikbefördernder gesellschaftlicher Umbruch, die Säkularisation. Mit einer solchen Akzentuierung wird es möglich, im rahmenden Schwank, dem Glockendiebstahl, nicht nur die schwankhafte „Darstellung verkehrter Ordnung“17 in die Idylle zu integrieren, sondern auch den in der mittelalterlichen Schwankpraxis häufig erprobten Aufprallen von Profanem und Heiligem im Lachen zu reaktualisieren.18 Auf diese Weise gelingt es, im rahmenden Schwank des Glockenraubs Natur, Geschichte und religiöse Bräuche zu vergegenwärtigen, um danach im Binnenschwank sich auf die ,klassischenʻ Themen der Idylle – Gesang, Tanz und Liebe – zu konzentrieren. Mörike vermag die Schnittmenge der kontrastierenden Gattungen derart herauszustreichen, dass als Resultat die kreative Schaffensfreude sowohl aus dem bukolischen wie aus dem schwankhaften Reservoir ihre Inspirationen zu holen in der Lage ist. Dadurch entsteht in der Idylle am Bodensee eine Skala von Tönen, die vom Derben, Wilden, Frech- Witzigen bis zum Sublimen und Schönen reicht. Bei dieser Konfrontation und Kombination von zwei sehr
15 16 17 18
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MÖRIKE, 2008 [1846], S. 35. EBD., S. 53. DIETL, 2007, S. 683. EBD.
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unterschiedlichen Gattungen mitsamt ihrem jeweiligen Tönearsenal ist ein Höchstmaß an ‚Takt‘ und ein Sensorium für eine poetische Gratwanderung vonnöten, die gerade die jüngeren Schriftsteller wie Berthold Auerbach, Paul Heyse und Theodor Storm an Eduard Mörikes poetischen Arbeiten geschätzt haben.19 Denn es ist die schwierige Aufgabe, das drastisch Schwankhafte idyllenfähig zu machen, ohne ins Harmlose abzugleiten, und das Idyllische durch Komik aufzuladen, ohne ins Possenhafte auszuarten. Im Folgenden soll in drei Schritten Mörikes kühner Versuch, Schwänke in epische Idyllenpoesie zu integrieren, vorgestellt werden. Der erste Schritt, gleichsam als Vorschule, lässt sich in der Poetik des 18. Jahrhunderts finden, nämlich der Befund, dem Komischen eine partiale Lizenz im Idyllischen einzuräumen. Danach folgt als zweiter Schritt die in den Idyllen Johann Heinrich Vossʼ feststellbare Dynamisierung des Idyllenraumes durch humorvolle Darstellung von Verhaltensveränderungen. Das Komischwerden der Idylle und die Dynamisierung des Verhaltens in der Idyllenwelt ist die Voraussetzung, dass drittens als Steigerung die von Hebel in den Kalendergeschichten virtuos erzählten Schwänke Eingang in das idyllische Epos Mörikes finden können.
2. Das Komischw erden des Idyllischen In die traditionelle idyllische „breite, gemächliche, detailverliebte Beschreibung der Außenwelt der Figuren, ihrer Verrichtungen, Zustände und Situationen“20 kommt Mitte des 18. Jahrhunderts Bewegung, was sich mit der Tendenz des Komischwerdens des Idyllischen beschreiben lässt. Auf der Suche nach mehr Welthaltigkeit erlauben Moses Mendelssohn21 und in seinem Gefolge Johann Jakob Engel22 in ihren poetologischen Überlegungen eine Abweichung idyllischer Idealität, solange nur die Laster der großen Gesellschaft ausgeschlossen bleiben. Infolgedessen treten kleinere Übel, Fehler, Defizite der Menschen und ihrer Handlungen ins Blickfeld einer nuancierten idyllischen Darstellung; dazu zählen etwa Eifersucht, Untreue, Verlust eines Freundes, aber auch Krankheit und Elend. Die Lizenz zur Darstellung kleinerer Schwächen ist aber nicht nur einlinig das Einfallstor für das Komische in der Idylle. 19 20 21 22
Vgl. OESTERLE, 2014. SENGLE, 1972, S. 721. Vgl. MENDELSSOHN, 1760, S. 126. Vgl. ENGEL, 1804, S. 84.
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Das Komischwerden des Idyllischen modelliert und transformiert auch das Komische, indem es dieses von Spott und Verlächerlichung absetzt. Die Äußerung des Poetologen Johann Georg Sulzer in der Mitte des 18. Jahrhunderts, „jedem Schriftsteller ist Kenntnis der Welt nützlich, aber einem komischen Verfasser unentbehrlich“, basiert auf einer Verschiebung im komischen Feld vom superiören Spott zur kritisch-sympathetischen Beobachtung der Schwächen und Stärken der Mitmenschen.23 Das Verlachen verschiebt sich zum Mitlachen. Die selbstgestellte Hausaufgabe des Bündnisses von Komik und Idylle kurz vor 1800 geht aber noch einen Schritt weiter. Sie soll nicht nur der Immunisierung vor Empfindelei und Sentimentalismus dienen sowie die Erweiterung von Welthaltigkeit durch Integration von Dissonanzen ermöglichen; sie soll drittens in die Lage versetzen, im Blick auf historische Veränderungen und eine gesellschaftliche Dynamisierung die Statik des idyllischen Geschehens vorsichtig aufzubrechen. In der Idyllenproduktion beginnt ein kompliziertes Balancespiel. Es sollte weder der Stachel des Spottes und das als pöbelhaft abgewertete expressive Lachen gänzlich getilgt und verbannt werden; freilich sollten diese mutwilligen Affekte mit artistischer Höchstleistung zivilisiert, es sollten aber auch zugleich durch eine ausdifferenzierte Wahrnehmungs- und Darstellungsweise langfristige mentale Veränderungen im komischen Kleide akzeptabel gemacht werden.
3. Die humorvolle Darstellung von Normabw eichungen und Verhaltensänderungen in Johann Heinrich Vossʼ Luise Das um 1800 entstandene produktive und hochartistische Bündnis von Idylle und Komik kann exemplarisch Johann Heinrich Vossʼ Idyllentrilogie Luise belegen.24 Es werden dort nicht nur lässliche kleine Schwächen, die Vergesslichkeit der „Mama“25, Benehmensfehler des Bräutigams beim Zuprosten26 oder gar das Malheur der Braut, am Tage der Ankunft des Bräutigams zu ver-
23 24 25 26
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SCHWIND, 2001, S. 361. VOSS, 1969 [1802]. EBD., S. 41. EBD., S. 72.
Idylle und Schwank
schlafen,27 in einer Klaviatur des Komischen durchgespielt, die vom „Schalkhaften“, Launigen bis zu durch Mitlachen gedämpften Affekten der Schadenfreude28, des Hohns29, der Spötterei30 reichen. Parallel lässt sich ein Aufbrechen der statischen Konstitution der Idylle beobachten, die durch die komischhumorvolle Darstellung von Normabweichungen und Verhaltensänderungen erreicht wird. Als Beispiel kann das neckisch-fröhliche Verhalten der Braut dem Knecht gegenüber gelten und von der Seite des Knechtes dessen ungewöhnliche und als Ungewöhnlichkeit registrierte Eigenständigkeit, die Fröhlichkeit des Hochzeitsfests durch seine Schalksstreiche zu erhöhen.31 Die Eigenmächtigkeit des Knechts wird von dem der älteren Generation zugehörenden Pfarrer mit „zürnendem Lächeln“ geduldet und vom Knecht selbst mit „verhaltener Lache“ bzw. „schämigem Grinsen“32 quittiert. Derartige poetisch sanktionierte Konventionsbrüche werden allesamt von den Generationen im Spielfeld des Idyllisch-Komischen erprobt. So wird zum Beispiel die bei dieser hochzeitlichen rite de passage von der 18-jährigen Braut und werdenden Ehefrau traditioneller Weise erwartete Verabschiedung des „jugendlichen Leichtsinns“ zugunsten einer biederernsten „Ehrbarkeit“33 rundweg abgelehnt. Scherz und Mutwille werden von der jungen Frau aus der neuen Generation als unverzichtbares Lebenselixier auf lebenslange Permanenz gestellt. Das Bündnis von Idylle und Komik läuft auf die „vorsichtige“34 Verbindung von griechischem sinnenfrohen Geist mit einem wie beim „Landvolk“ üblichen „mutwilligen, aus dem Herzen“35 stammenden ausgelassenen Lachen hinaus. Die idyllisch komische Kooperation aus hedonistisch eingestelltem griechischem Geist und Freude am Scherz36 findet ihren adäquaten Ausdruck und Höhepunkt an dem zur Hochzeit umgewidmeten Polterabend in einer Mixtur aus jubilierendem Gesang und exzessivem Gelächter. Dieser Schlussakkord aus weinselig musikalischem Jubel und triumphalem Gelächter scheint inszeniert zu sein, um die Dämonen bei dieser rite de passage zu bannen. Die durch Musik gesteigerte jubelnde Vermittlung von Idylle und Komik ist die 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36
Vgl. EBD., S. 95, 111. Vgl. EBD., S. 42. Vgl. EBD., S. 95. Vgl. EBD., S. 139. Vgl. EBD., S. 246, 279. EBD., S. 279. EBD., S. 313. EBD., S. 152. EBD., S. 141. Vgl. EBD., S. 202.
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protestantische Variante eines karnevalesken Weltentwurfs, die aus dem Blickpunkt des allgemeinen Bewusstseins und der Forschung geraten ist.
4. Berthold Auerbachs Apologi e von Schw änken und literarischen G aunereien im Blick auf Johann Peter Hebel Johann Heinrich Vossʼ Versuch, griechisch sinnenfrohen Geist mit dem Volkshumor zu verknüpfen, hat eine bemerkenswerte Parallele in Johann Peter Hebels Kalendergeschichten. Berthold Auerbach, ein Mitbegründer der im Vormärz Furore machenden Dorfgeschichte, publiziert im selben Jahr wie Mörikes Idylle vom Bodensee – also 1846 – eine Programmschrift37, die mit Blick auf Johann Peter Hebel eine Apologie des Volkshumors anvisiert. Danach dient die „pure Lustigkeit“, der ausgelassene Spaß des Schwankes, alle Arten von Gaunereien der Hebung der inneren Freiheit, der „Spannkraft und Dehnbarkeit des Geistes“38. Prononciert schreibt Auerbach: „Nur der Freie, sei es ein Individuum, eine Genossenschaft, ein Staat, kann sich selber zum Besten haben und zum Besten geben.“39 Mitten im Vormärz bringt er das Politikum des heiter Komischen zur Sprache: „Es wird das ganze Jahr soviel losgedonnert auf das Volk, in Predigten und Verordnungen“, dass das Volk „mit Recht von dem der sich ihm anschließt erwarten kann, daß er ein heiterer Geselle sei und, nicht wiederum bloß zu schelten und zu korrigieren habe“.40 Zwei Jahre vor der Märzrevolution 1848, im selben Jahr, als Berthold Auerbach die Apologie polizeiwidriger Gaunerei mit ausdrücklichem Verweis auf Hebel publizierte, hat Eduard Mörike die Idylle vom Bodensee oder Fischer Martin veröffentlicht. Darin versucht er die Hebel’sche Manier des Schwankes mit der klassischen griechischen Idylle zu verschmelzen. Am 2. November 1845 gibt Mörike in einem Schreiben an den Stuttgarter Verleger Cotta die Matrix seiner Idylle preis: „Die Idylle Fischer Martin und die Glockendiebe an den Ufern des Bodensees spielend, ist eine freie Erfindung, der heitern und komischen Art, und steht ihrem Geist nach ungefähr in der Mitte zwischen den griechischen Mustern und Hebels erzählender Darstellungswei37 38 39 40
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AUERBACH, 1846. EBD., S. 294. EBD., S. 273. EBD., S. 278.
Idylle und Schwank
se.“41 Angesichts der poetologischen Innovation, schwankhafte Komik und klassische Idylle zu verbinden, konnte Mörike die Erwähnung der gattungsimmanenten Bedeutung des Idyllenkonzepts von Johann Heinrich Voss für seinen Entwurf vernachlässigen. Für einen Gattungshistoriker ist heutzutage Mörikes im Vormärz vorgenommener Wechsel von einer komischen Mutwillensdarstellung in der Manier von Voss zur schwankhaften Gaunerei Hebels allerdings genauso bedeutsam wie die Fortführung und Steigerung der Vossschen Schlussidee, in seiner Idyllentrilogie Musik, Lachen und Idylle zu vermählen. Mit Gewissheit lässt sich sagen: Das Dreigestirn Theokrit, Voss und Hebel sind die Geburtshelfer von Mörikes neuartiger und eigenständiger Vermittlung von Komik und Idylle gewesen.
5. Mörikes Poetische Innovationen in seiner Idylle vom Bodensee Die Innovationen Mörikes lassen sich in folgenden vier Punkten zusammenfassen: a. Den in Vossʼ Idyllen angelegten emanzipatorischen Gestus, komischen Mutwillen als Probebühne zur Bewältigung menschlicher Schwächen und in die Moderne führende Verhaltensänderungen einzusetzen, steigert Mörike bis zur Darstellung schwankhafter List in der idyllengemäßen Absicht, menschliche Fehler (wie etwa Habgier) durch ein komisches Ritual zu beantworten. Das Bündnis von Komik und Idylle dient als Plattform einer rituell inszenierten Wiedergutmachung. Der Regelverstoß im menschlichen Verhalten wird durch einen ästhetischen Regelverstoß spottender Komik ausgeglichen und kompensiert. b. Die zündende Idee in der Vossʼschen Schlussvision der Luise, der Musik neben Komik und Idylle eine zentrale Rolle in der böse Geister bannenden rite de passage der Hochzeitsnacht zuzuschreiben, wird von Mörike aufgegriffen und in beiden Schwänken zur tragenden Säule der Vermittlung von Komik und Idylle gemacht. c. Die Einführung der Hauptfigur in Mörikes Idylle, der auch titelgebende Fischer Martin, ist vom Geschlecht der Hebelʼschen Spitzbuben. Fischer Martin ist ein echter Hebelʼscher „Zundelfrieder“, eine wie es in der Idylle vielsa41 MÖRIKE, 1994 [1845], S. 283.
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gend heißt „durchtriebene Haut vom Galgen gestohlen“42. Er ist der Inbegriff einer Schwankfigur, listig und schlau, bis zur Lüge verschlagen, ein Virtuose im Erfinden von Streichen, einer, der die Leute nicht nur zum Besten hält, sondern auch noch ihre versteckten bösen Gelüste aus ihnen herauslockt, um sie zu verführen. Er erfüllt aber auch die Funktion des schalkhaften Gerechten, indem er beispielsweise mit seinen Streichen sich revanchiert für die Demütigungen, die seinem besten Freund angetan worden waren.43 Mörike verändert aber diesen Ausbund an Hebelʼschem Schalk um wenige Akzente in der Absicht, ihn damit idyllenfähig und zum Nachfahren arkadischer Schäfer zu machen. Fischer Martin ist nicht nur wie Hebels Spitzbuben ein Stimmenimitator und Streicheerfinder, er ist zugleich ein begnadeter Erzähler und Geschichtenkenner (er liest den Freunden bei Gelegenheit aus einem alten Buch Geschichten vor)44, vor allem aber ist er ein Musikant, ein ,ländlicherʻ Klarinettist. Idyllenfähig wird dieser Schalk aber vor allem durch seine Einfügung in eine epische erinnernde Tiefendimension. Mörike gelingt diese Transformation der prosaisch erzählten Schwänke in epische Poesie durch die erinnernde Spiegelung von Jugend- und Altersstreichen. Der von vielen Zeitgenossen, Paul Heyse45 und Friedrich Theodor Vischer gerügte „Schwank im Schwank“46 hat hierin seine poetologische Pointe. Sie fördert zugleich eine Medienreflexion der Gattung Idylle an den Bruchstellen zur verschiedenartig inszenierten Komik. d. Die Erzählstruktur von Mörikes epischer Idylle ist geprägt von einer komplexen Rahmung, Schachtelung und Spiegelung. In der Gesamtarchitektur der Idylle kommt dabei der jeweiligen Positionierung des Schwankhaften oder Idyllischen eine zentrale Rolle zu. Ungewöhnlich und überraschend dürfte es für den eine Idylle erwartenden Leser sein, dass die aus sieben Gesängen bestehende Idylle zum größten Teil aus zwei Schwänken besteht. Da findet sich die Erzählung eines Jugendstreiches: Nachdem sein bester Freund von seiner Verlobten verraten wurde, organisiert Fischer Martin als Revanche eine parallel zum Hochzeitsfest der falschen Braut inszenierte karnevaleske Fress- und Saufkompanie. Das jugendliche männliche Dorfkollektiv nutzt dazu die schon verpackte Aussteuer zur wohnlichen Bestückung eines wildnisartigen Platzes fern vom Dorf. Das Resultat ist ein bacchantisches Gastmahl in stellvertreten42 43 44 45 46
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MÖRIKE, 2008 [1846], S. 34. Vgl. OESTERLE, 2011. Vgl. MÖRIKE, 2008 [1846], S. 40. Vgl. HEYSE, 1854, S. 3. VISCHER, 1881 [1847], S. 160.
Idylle und Schwank
der Anwesenheit der aus Stroh und Blumen ausstaffierten Neuvermählten. Die Erzählung dieses jugendlichen Hauptstreichs wird in dem Moment in die Gesamtchoreographie der Idylle ein- und zurückgeblendet als der inzwischen 70jährige Greis Martin seinen zweiten großen Altersstreich im Begriffe ist auszuführen – die komische-humorvolle Bestrafung zweier von ihm verführter Glockendiebe. Mit diesem Altersstreich beginnt und endet die gesamte Idylle.
6. Drei Konstellationen des Verhältnisses von Idylle und Schw ank In der komplexen Verschachtelung der verschiedenen Geschichten lassen sich drei Konstellationen von Wider- und Zusammenspiel von Idylle und Schwank ausmachen: eine des Kontrasts, eine der Sukzession und eine der Synthese. Die Verschachtelungsartistik hat mit der Einblendung des Jugendstreichs in den vom Greis initiierten zweiten Streich noch nicht sein Ende gefunden. Auch der von der dörflichen Jugend ausgeführte Schwank wird noch einmal unterbrochen und in verschiedene schwankhafte und idyllische Erzählstränge aufgeteilt. Genau im goldenen Schnitt der Gesamtarchitektur des Versepos,47 mitten in der Vorbereitung des nächtlichen Gastmahls, wird in einem einzigen der sieben Gesänge eine ganz ohne komische Elemente auskommende idyllische Liebesszene, das „bukolische Herzstück“48, platziert. Dieser idyllische Solitär ragt gleichsam eruptiv aus dem ihn umrahmenden Schwankgeschehen und dem parodierten und karikierten Interieur bürgerlicher Idyllik heraus. Und doch ist diese am hellen Morgen am Waldrande sich ereignende idyllische Situation durch und durch glaubwürdig geraten. Das liegt zum einen an der bezaubernd dargestellten Bodenseelandschaft, zum anderen an einem alle Konventionen hinter sich lassenden Liebesbekenntnis des jungen noch vor kurzem betrogenen Fischers, das mit gleicher offener Inbrunst von der zukünftigen Braut beantwortet wird. Neben dieser aus dem Kontrast zu seinem komischen Umfeld gesetzten klassisch zu nennenden ‚lauterenʻ Idyllik im 5. Gesang lässt sich ein zweiter idyllischer Formtyp ausmachen, der sich als Vorgeschichte der jeweiligen Schwänke entpuppt. Da ist zum einen die fröhlich-gesellige Überfahrt auf dem
47 Vgl. SCHNEIDER, 1978, S. 46. 48 EBD.
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Bodensee zu nennen, zum zweiten die Erzählung einer idyllisch-legendenartigen Geschichte der Stiftung eines Kirchleins und der dazugehörenden Glocke. Die Funktion dieser idyllischen Vorgeschichten der darauffolgenden Schwänke ist leicht auszumachen. Sie demonstriert die Labilität und das Prekäre des Idyllischen in der Moderne. Es bedarf nur ein Weniges und schon kippt die gerade noch harmonische Idylle in Missstimmung oder in böse Gelüste um. Es reicht ein „kleines“, unscheinbar erscheinendes „Vergehen“49 des Fischers Tone bei der Überfahrt auf dem See – mitten im Glück und Frohsinn fordert er die im Boot befindlichen jungen Paare zum Singen auf, genaugenommen zu einer Urszene des Idyllischen – und schon ist seine Verlobte, die über keine anmutige Stimme verfügt, verstimmt. Gesellschaftlich brisanter ist die Vorgeschichte des Glockendiebs; anders als der Jugendstreich thematisiert sie indirekt die Folgen der Säkularisierung als Freisetzung von kirchenräuberischen Gelüsten. Mit der Nachricht von der Existenz einer im Dachstuhl des verlassenen Kirchleins vergessenen Glocke hatte der erzählende 70-jährige Greis bei den Zuhörern eine Leimrute ihrer Begierden gelegt, diese Situation als „gnädiges Wunder“50 wahrzunehmen, um einen „kleinen Profit“51 daraus zu machen. So einleuchtend diese beiden Konstellationen von komischem Schwank und Idylle als Kontrast oder Folge auch sein mögen, zur Idylle wird dieses von Schwänken beherrschte Versepos erst durch die Transformation von Schwankhaftem ins Idyllische. Eine derartige Übergänglichkeit der beiden ziemlich fremden Gattungen erfolgt beim jeweiligen Höhepunkt beider Meisterstreiche. Man beobachte etwa die allmähliche Steigerung der Inszenierung des jugendlichen Streichs der männlichen Dorfjugend, eine Hochzeitsgesellschaft in einem wilden Hain nachzustellen: zunächst wie der Versammlungsort Stück für Stück zum groteskkomischen Interieur ausstaffiert wird mit Spiegeln, die in den Bäumen hängen, und dem voluminösen Ehebett mit dem strohblumig ausgestopften ,falschenʻ Ehepaar – begleitet vom „Scherz und Witz, nicht immer des feinsten“52, dann das Werden der Fress- und Saufkompagnie, initiiert zunächst durch das lachende Selbstlob der jungen Agenten, die „ihr hohes Glück bei so großer Gefahr“ gegenseitig nicht genug53 herausstellen konnten, während ihr
49 50 51 52 53
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MÖRIKE, 2008 [1846], S. 25. EBD., S. 21. EBD. EBD., S. 47. EBD., S. 48.
Idylle und Schwank
Brambasieren unterbrochen wurde von der falsch gestellten Kuckucksuhr.54 Diese drastische Komik wird ins Karnevaleske gesteigert durch die Inversion des Zuprostens: „mit ledigen Gläsern, verkehrt sie haltend am Fuße“55 wird auf die „Neuvermähleten“ karikierend angestoßen, um im nächsten Moment gefüllt „den beleidigten Freund hochleben“ zu lassen.56 Diese karnevaleske Verkehrung der Hochzeitsgratulation wird untermalt von der boshaften Simulation eines fiktiven Gesprächs mit den Neuvermählten, wobei die jungen Männer die Braut mit „kitzligen Fragen“ „neckten“57 und dem blöden Bräutigam allerlei launigen „Rath“ zuflüsterten58, während der Arrangeur der gesamten Installation, Fischer Martin, mit „täuschende[r] Stimme zum Ergötzen der Anderen“59 die dazu passenden Antworten parat hatte. Diese gesamte Inszenierung lief darauf hinaus, den monströsen groteskkomischen Kern dieses verkuppelten Ehepaars zu demonstrieren – die Braut als „Meer-Krokodil“60 und den Bräutigam als einen herabgekommenen kinderfressenden Saturn61. Als aber im Zenit der karnevalesken Inversion während des bacchantischen Taumels der fackelschwingende, Juhu schreienden Jünglinge die Tanzorgie sich verselbständigt und die Schwankinitiatoren selbst ins „Schwanken“62 geraten, ist der Punkt erreicht, an dem ihnen wehmütig klar wird, dass ihnen am Ende doch die aus Dezenz und Klugheit weggebliebenen jungen Partnerinnen fehlen: Die karnevalesk-satirische Inversion kippt hier in eine idyllisch-komische Situation um. Wird in dem geschilderten Jugendstreich der Übergang vom karnevalesken Spott in den komisch-idyllischen Tanz gleichsam physiologisch vorgeführt, so verschmilzt im Streich des alten Greises die groteske Komik mit dem Idyllischen durch eine das Mitlachen der Geschädigten einholende kommunikative Vereinbarung. Die Pointe, auf die der Glockendiebschwank nämlich zuläuft, ist die Einsicht der Diebe, nachdem sie tief in der Nacht im Dachgebälk des Kirchenturms statt der verheißenen geldbringenden Glocke einen alten erdverschmierten, löchrigen Hut, ein Monstrum, erblickten, dass sie auf höchst brisante Weise zum Besten gehalten wurden. In diesem Moment realisieren sie
54 55 56 57 58 59 60 61 62
Vgl. EBD. EBD., S. 49. EBD. EBD. EBD. EBD. EBD., S. 35. Vgl. EBD., S. 52. EBD., S. 49.
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mit zunehmendem Schrecken, wie groß die Gefahr ist, zum Gespött der ganzen Dorfbevölkerung zu werden. Diese schwankmotivierte „Prangerangst“63 wird aber durch ein schelmisches, immer schneller, ja ekstatisch werdendes Klarinettenspiel (ein ironisches Loblied auf die Gewitztheit der Schneider) übertönt und am Ende lachend hinweggebannt. Es eröffnet sich ein von Altersweisheit gesteuerter idyllischer Spielraum, in dem den Verlachten nach Aushändigung eines Obolus die Möglichkeit geboten wird, selbst über sich und den Spaß, der mit ihnen getrieben wurde, zu lachen.64 Zu Recht hat man in der Forschung betont, dass mit dieser versöhnlichen Geste der vom Greis Fischer Martin initiierte Schwank zum „Selbstzweck“ wird.65 Die zweckorientierte Komik des Schwanks ist in reine Artistik und, mit Baudelaire gesprochen, in „das absolut Komische“66 des Idyllischen verwandelt worden. Die Zeitgenossen haben diese durch die Doppelung der Schwänke mögliche Lizenz einer öffentlichen schwankgemäßen Abmahnung im Binnenschwank und einer idyllischen Versöhnung im rahmenden Schwank nicht nachvollziehen können. Der damals sehr bekannte Schriftsteller und ansonsten feinsinnige Interpret der Werke Mörikes, Paul Heyse, tadelt als ein empfindliches Ungeschick […], dass die Hauptgeschichte als Episode in die kleine Schnurre, die auch der Titel ankündigt (Fischer Martin und die Glockendiebe) eingeschaltet ist […] Ja wir müssen uns mühsam in die lang unterbrochene Situation zurückfinden, um nach der Freude an einem hochergötzlichen Schwank und einer gelungenen Komödie des Volkswitzes mit jenem etwas trockenen Streich vorlieb zu nehmen.67
Der versuchte Glockendiebstahl ist aber nur dann eine schwächliche Ausgabe zu nennen im Vergleich mit der drastisch-plastischen Hochzeitskarikatur des jugendlichen Dorfkollektivs, wenn der Blick allein auf die handelnden Personen gerichtet bleibt. Wird die Aufmerksamkeit aber auf die Dinge gerichtet, auf die schwankhaft-idyllische Austreibung der „stummen und stumpfen Besitzwelt“68, dann lässt sich der Rahmenschwank als Steigerung des Binnenschwanks lesen. Denn das „Ungeheuer von Hut“ (das „statt der Glocke […] 63 64 65 66 67 68
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DIETL, 2007, S. 685. Vgl. MÖRIKE, 2008 [1846], S. 56. MEYER-GUYER, 1977, S. 117. BAUDELAIRE, o. J., S. 262. HEYSE, 1854, S. 3. SCHNEIDER, 1978, S. 33.
Idylle und Schwank
am Stricklein“ schwebt)69 ist weit mehr noch als die beiden im „Zentrum der Hochzeitstafel […] in Natur eingekleideten Lumpen-Ding-Mensch“70 ein hässlicher outcast, „ein Auswurf seines Geschlechts“71. Und doch ist er auch schon wieder im Status werdender Natur „Gelb vom Regen gewaschen der Filz und gedörrt an der Sonne / löcherig, ohne Gestalt […]“.72 Dieser ausrangierte Gegenstand von Hut ist eben beides, Schwank und Idylle, in einem.
7. Ausblick: Die Idee des Idyllischen und das Komische in den spätidealistischen Äs thetiken Die Gattung Idylle ist eine komplexe ästhetische Konfiguration. Sie ist ein poetisches Erprobungsfeld für die Erkundung von Möglichkeiten und Grenzen eines guten Lebens. Der gattungsmäßige Ausspruch ist entsprechend ein Maximum an Welthaltigkeit bei einem Maximum an Schönheit und Glück zu konkretisieren. Zur Realisierung dieser Doppelanstrengung gab es drei Möglichkeiten: erstens eine elementare Variante, die Darstellung von Lebenssituationen auf anthropologisch unhistorische Weise, zweitens die Verlagerung in eine zwar konkrete aber weit entfernte arkadische Gegend und drittens eine dynamisch-prozessuale Vorstellung, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend dialektisch gedacht wurde. Die spätidealistischen Ästhetiken bauten eine Dynamik und Dialektik vom Erhabenen zum welthaltig Komischen Zug um Zug und variantenreich aus. Der Versuch, ein Maximum an Welthaltigkeit zu erreichen, erfordert das Einlassen in die Extreme des Kontingenten, des Historischen, des Lokalen, des Hässlichen und Widersprüchlichen, das dann aber in einem dialektisch gedachten Verwandlungsprozess entweder bis zum Tragisch-Schönen (so in Solgers Ästhetik)73 oder bis zum komisch grundierten Schönen (so bei Weiße, Vischer, Rosenkranz) geläutert werden sollte.74 Dieser Gedanke eines sich anreichernden Prozesses vom Einfach-Schönen zum Erhabenen, zum Hässlichen und danach zu einem alles umfassenden Komisch-Schönen erklärt den Bedeutungszuwachs des Komischen in den Ästhe69 70 71 72 73 74
MÖRIKE, 2008 [1846], S. 56. SCHNEIDER, 1978, S. 38. MÖRIKE, 2008 [1846], S. 56. EBD. Vgl. OESTERLE, 2010. Vgl. OESTERLE, 1977, S. 249-270.
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tiken der Spätromantik und des Vormärz in seiner Mittlerfunktion zwischen dem kruden Hässlichen und einer erfahrungsgesättigten Harmonie und Schönheit. Und doch hat diese bestechende Idee einer prozessualen Verdichtung etwas klappernd Akademisches behalten. Es sei denn, man geht wie Eduard Mörike in seiner Idylle vom Bodensee vor: Man vermeidet dialektische Prozeduren und arbeitet stattdessen in raffinierten Verschachtelungen und variantenreichen Spiegelungen mit dem Effekt einer Komplexitätssteigerung durch Realitätskonstruktion im Komischen und einer Vision guten Lebens im Idyllisch-Schönen bei gleichzeitiger Reflexion der medialen Möglichkeiten und Grenzen der involvierten Gattungen.
Literatur Primärliteratur AUERBACH, BERTOLD, Schrift und Volk. Grundzüge der volkstümlichen Literatur angeschlossen an eine Charakteristik J. P. Hebelʼs, Leipzig 1846. ENGEL, JOHANN JACOB, Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten, Berlin, Stettin 21804. GOETHE, WOLFGANG VON, Hermann und Dorothea, in: Werke, hg. von ERICH TRUNZ, Bd. 2, Hamburg 1965, S. 437-514. HEYSE, PAUL, Eduard Mörike, in: Literatur-Blatt des Deutschen Kunstblattes (12.01.1854), S. 3-5. MENDELSSOHN, MOSES, Briefe die neueste Literatur betreffend, T. 5, 86. Brief, Berlin 1760. MÖRIKE, EDUARD, Briefe 1842-1845, in: Werke und Briefe. Historischkritische Gesamtausgabe, Bd. 14, hg. von ALBRECHT BERGOLD/BERNHARD ZELLER, Stuttgart 1994, S. 11-288. DERS., Die Idylle vom Bodensee oder Fischer Martin [1846], in: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 7, hg. von ROSEMARIE NICOLAI, Stuttgart 2008, S. 11-58. SCHLEGEL, FRIEDRICH, Ueber das Idyll, und die bukolischen Dichter der Alten [1798], in: Sämtliche Werke. 2. Original-Ausgabe, Bd. 4, Wien 1846, S. 48-52. VISCHER, FRIEDRICH THEODOR, Ein malerischer Stoff [1847], in: DERS., Altes und Neues, Stuttgart 1881, S. 152-174.
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Idylle und Schwank
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„Alle Erwählung ist schwer zu fassen“ 1 Die komische Realisierung des Wunders in Thomas Manns Der Erwählte PHILIPP GILLER Gregorius in dem steine, so war in der (verlorenen) Handschrift B der Text des Gregorius Hartmanns von Aue überschrieben2 und Thomas Mann hat eigenen Aussagen zufolge den Text seiner Vorlage, welche, wie auch Mann wusste, ihrerseits auf dem altfranzösischen Text La vie du Pape Saint Grégoire beruht, als „Gregorius vom Steine, oder einfach Gregorius, oder Die Geschichte vom guten Sünder“ kennen gelernt.3 Seine dichterische Bearbeitung des Stoffes in dem „verspielte[n] Stil-Roman“4 Der Erwählte, die er als „Amplifizieren, Realisieren und Genaumachen des mythisch Entfernten“5 beschreibt, setzt sich auf parodistische Weise, häufig mit satirischer Tendenz und auf überwiegend humorvolle Weise, mit der Vorlage auseinander.
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MANN, 1974, S. 199. Straßburg ehm. Johanniter-Bibliothek, Cod. A 100. aus dem 14. Jh. Siehe dazu den kritischen Apparat der ATB-Textausgabe des Gregorius zu den Überschriften und die Beschreibung der Handschrift im Vorwort derselben. HARTMANN, 2004, S. VIIf. u. 1. MANN, 1953, S. 260. EBD. EBD., S. 261. Den Terminus des Amplifizierens bei Mann hat Karl Stackmann 1959 in die Nähe der mittelalterlichen Kunst der amplificatio gerückt, jedoch mit dem Unterschied, dass die „amplificatio der älteren Zeit […] niemals auf ein Genaumachen gerichtet“ gewesen sei. STACKMANN, 1959, S. 64.
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Gegenstand der folgenden Überlegungen ist diese Bearbeitung der mittelalterlichen Legende durch Thomas Mann vor dem Hintergrund der theoretischen Überlegungen von Bernhard Spies zum ästhetischen Potenzial der Parodie: Die Parodie gibt ein Missfallen an einem Text kund, und das in einer Form, die auf einverständiges Goutieren des neuen Textes hinausläuft. Dieser inszeniert seine – sprachliche, daher auch inhaltliche – Überlegenheit über die nachgeahmte und durch die Form der Nachahmung zur Entgleisung gebrachte Vorlage. So fungiert die der Parodie immanente Kritik als Vorstufe einer erneuten ästhetischen Vereinnahmung.6
1. Parodi e und Hum or: Funktionen des Komischen im Erwählten Beispiele für eine im Sinne des obigen Zitats parodistische Nachahmung des Gregorius durch Manns „Mittelalter-Parodie“7 finden sich schnell: So lehnt die Erzählerfigur genannt „Clemens der Ire, ordinis divi Benedicti“8, die der Text am Pult Notkers zu Sankt Gallen sitzend vorstellt,9 beispielsweise die Versform der Vorlage für die Nachdichtung entschieden ab. Begründet wird dies in einer Kostprobe von jenem, wie Clemens es formuliert, „Gehüpf auf drei, vier jambischen Füßen, wobei es obendrein alle Augenblicke zu allerlei daktylischem und anapästigem Gestolper“ komme, sowie von jenem „bißchen spaßige Assonanz der Endwörter“10, die ihm, gemessen an „wohlgefügte[r] Prosa mit ihren so viel feineren und geheimeren rhythmischen Verpflichtungen“11, so gar nicht ansprechend erscheint: 6 7
SPIES, 2013, S. 446. STACKMANN, 1959; wo es im Folgenden um die Parodie geht, wird der Begriff im Sinne der Definition von ROTERMUND, 1963, S. 9, verstanden. WYSLING, 1967, S. 259, spricht von einem „gezielte[n] Verfehlen des Tons“ als „Hauptreiz“ in der Bearbeitung seiner Vorlage durch Thomas Mann. 8 MANN, 1974, S. 10. 9 Nach Sandra Schwarz generiert bereits der damit evozierte Schein historischer Verortbarkeit der Erzählerfigur um 1100 vor dem Hintergrund von deren Kenntnis der deutlich später verfassten Texte Chretiens und Hartmanns einen „humoristische[n] Effekt, der Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit und vor allem an der Ernsthaftigkeit des Erzählens“ aufkommen lasse. SCHWARZ, 2007, S. 204f. 10 MANN, 1974, S. 15. 11 EBD.
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Komische Realisierung des Wunders in Thomas Manns Der Erwählte Es war ein Fürst, nommé Grimald, Der Tannewetzel macht’ ihn kalt. Der ließ zurück zween Kinder klar, Ahî, war das ein Sünderpaar!12
Die Verse verweisen deutlich auf charakteristische Merkmale mittelalterlicher Texte bzw. deren Editionen und halten so die Bezugnahme auf die mittelalterliche Legende stets präsent: Neben dem Paarreimvers13 fällt die Verwendung von klar im mittelhochdeutschen Sinne von ‚schön‘ im dritten Vers auf sowie das einer Vorliebe mittelhochdeutscher Epik für französische Vokabeln Rechnung tragende „nommé“ und die Interjektion „Ahî“ im letzten Vers, die sich dem Leser bereits in ihrer Typographie als Bezugnahme auf die Editionen mittelalterlicher Dichtung zu erkennen gibt. Indem Manns Verse jedoch das Pathos des Nachrufs auf den Verstorbenen, beispielsweise durch die Verwendung des umgangssprachlichen ‚Kaltmachens‘, gründlich misslingen lassen, beruft die parodistische Umformung des Textmusters der Vorlage dieses zum Zeugen gegen sich selbst: Eine ernsthafte Mitteilung lässt sich in dieser Form nicht machen. Mann beansprucht jedoch für seine Bearbeitung des Stoffes, dass sie vom „aufrichtige[n] Interesse an der Idee, dem Phänomen der Gnade, um das, nicht seit gestern, [s]eine Gedanken kreis[t]en“14 geleitet sei, dass sie mit „reinem Ernst“15 ihren „religiösen Kern, ihr Christentum“16 bewahre. Ihm geht es dementsprechend im Kern nicht um die satirische Destruktion der Erzählung vom guten Sünder, sondern letztlich darum, die Legende des in größter Sünde gnadenvoll Erwählten erneut zu vereinnahmen. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, das Zusammenspiel von satirisch-parodistischer Bearbei-
12 EBD., S. 15. 13 Schon Karl Stackmann urteilt zu dieser Passage, dass der Spott Manns „die Schwächen des anspruchslosen und nur in bescheidenem Umfang modulationsfähigen Maßes mit einiger Sicherheit“ treffe. STACKMANN, 1959, S. 67. 14 So Mann in einem Brief an Bruno Boesch. Zürich, 15.09.1952. Die Briefe Manns sind hier und im Folgenden zitiert nach: Dichter über ihre Dichtungen, 1981 (abgekürzt mit der Sigle Br. W. III), hier S. 426 [Herv. i. O.] sowie nach der Ausgabe: MANN, 1965 (abgekürzt mit der Sigle Br). 15 Mann in einem Brief an Werner Weber. Pacific Palisades, 06.04.1951, Br. W. III, S. 384. Br. III, S. 201. 16 EBD.
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tung der Vorlage und Humor17, mit dem Manns Erzählung durchzogen ist, als zentralen Aspekt der Mitteilungsstrategie des Erwählten im Rahmen dieser Vereinnahmung zu erweisen. Denn wenngleich dieser das Erzählen der Vorlage auf bisweilen satirische Weise parodiert, ist es Mann letztlich doch um eine Verbindlichkeit seiner, in weiten Teilen recht getreu der Vorlage erzählten18, „Spätform der Legende“19 zu tun. Als Beispiel für den humoristischen Grundton von Manns Erzählung lässt sich etwa die Schilderung des jugendlichen Protagonisten und seines Ziehbruders Flann beim Spiel heranziehen: Nie hätte Flann beim Ballstoß mit Fuß und Kopf auf Grigorß’ Seite gespielt; immer war er auf der anderen, und so lobten es sich auch alle, denn jede Schar wollte einen der Brüder zum Spielführer haben, weil sie wußten, daß sie durch seine Gutheit besser wurden, als sie waren, im Stürmen, Laufen, Backschießen und dem Halten des Tors, – zu einem Körper schienen dann die Elf beiderseits zu verschmelzen und gaben einander das Leder ab mit Uhrwerks Genauigkeit, so daß es ebensooft zwischen den einen Pfählen hindurchging wie zwischen den anderen.20
Die alltägliche Gegebenheit ballspielender Kinder wird in der archaisierenden Sprachgestalt zu einer Einheitserfahrung von geradezu religiöser Qualität stilisiert, was ein, nach Wolfgang Preisendanz für den Humor typisches, „Spannungsverhältnis zwischen Darbietung und Sachverhalt bewirkt und in Erscheinung treten läßt“21. Wenngleich so geartete Komik, anders als die satirisch ge17 Der Bezeichnung unterliegt die Bestimmung des Humors nach Jean Pauls Vorschule der Ästhetik § 32. JEAN PAUL, 1975, S. 125. Humor im Sinne dieser Definition hat Käte Hamburger als charakteristisches Merkmal eines Personalstils für Thomas Mann am Beispiel des Joseph-Romans zu erweisen versucht. Vgl. HAMBURGER, 1965, bes. S. 14f. sowie 51f. Die von Preisendanz geäußerte Kritik, Hamburger vertrete eine von der Auffassung Jean Pauls maßgeblich abweichende Auffassung von Humor (vgl. PREISENDANZ, 1985, S. 282) bezieht sich auf Ausführungen Hamburgers zum Humorbegriff bei Jean Paul in HAMBURGER, 1976, S. 87; sie kann und soll hier nicht eigens diskutiert werden. 18 Mann schreibt in einem Brief an Walter A. Berendsohn, er habe sich an Hartmanns Epos „im Großen-Ganzen nahe gehalten“. Pacific Palisades, 02.04.1951, Br. W. III, S. 382. 19 Mann in einem Brief an Werner Weber. Pacific Palisades, 06.04.1951, Br. W. III, S. 384. Br. III, S. 201. 20 MANN, 1974, S. 93 [Herv. i. O.]. 21 PREISENDANZ, 1985, S. 13.
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prägte Komik im ersten Textbeispiel, nicht der Kritik an der Vorlage oder ihrem Erzählen dient, geht ihre Funktion nicht in der unverbindlichen Unterhaltung von Manns Publikum auf. Vielmehr steht zu vermuten, dass Mann sich die totalisierende Eigenschaft22 des Humors zunutze macht, im Lachen über den augenfällig gemachten Widerspruch, das „Erhabene und das unendlich Kleine“23 ineinanderspielen zu lassen, ohne dabei den Geltungsanspruch des einen oder anderen zu leugnen bzw. zu destruieren.24
2. Die Komik und das Wunderbare – di e Komik des Wunderbaren? Im Folgenden geht es darum zu zeigen, dass dieses über weite Strecken des Textes inszenierte „Spannungsverhältnis zwischen der Beschaffenheit des Erzählten und der Art des Erzählens […] in Korrespondenz tritt mit jener Spannung zwischen Poesie einerseits, Verbindlichkeit der vorgegebenen Wirklichkeit andererseits“.25 Wie das im Einzelnen zu verstehen ist und welchen Effekt dies hat, gilt es im Verlauf der anschließenden Überlegungen zu diskutieren, in deren Zentrum die erzählerische Behandlung des Wunders im Erwählten steht, da diese sich zum einen als gleichermaßen zentral für den Stoff wie problematisch für Thomas Manns Bearbeitung desselben darstellt und zum anderen parodistisch-satirisches und humoreskes Schreiben dort eng miteinander verflochten sind: So sollte Gregorius die siebzehn Jahre seiner Buße auf dem nackten Felsen überlebt haben, nicht nur ohne jeden Schutz seines Menschenleibes gegen die Unbilden der Witterung, sondern auch ohne andere Nahrung, als „das Wasser, das aus dem Felsen sickerte“. Das war unmöglich und das handgreiflich Un22 Zu dieser Eigenschaft des Humors siehe: JEAN PAUL, 1975, §§ 32, 33, S. 125-132. 23 VISCHER, 1967, S. 176. 24 Dies die Bestimmung der totalisierenden Wirkung des Humors bei Vischer, vgl. EBD. 25 PREISENDANZ, 1985, S. 11. Während Preisendanz diese Korrespondenz als bestimmendes Merkmal des ,poetischen Realismus‘ ansieht, soll die Frage nach dem Problem des Realismus bei Thomas Mann im Rahmen der hier ausgeführten Überlegungen nicht eigens reflektiert und kein Beitrag zur bekanntermaßen problematischen Verortung Manns in diesem Rahmen (vgl. KRISTIANSEN, 2001) geleistet werden.
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Philipp Giller mögliche konnte ich bei meiner Realisierung der Geschichte nicht brauchen. Ich mußte es mit einer Art von Schein-Möglichkeit umkleiden […].26
Jene Stelle in Hartmanns Gregorius, auf die Mann verweist, liest sich wie folgt: Der arme Grêgôrius, […] er enhete deheinen scherm mê vür rîfen noch vür snê, vür wint noch vür regen niuwan den gotes segen.27
Deutlich wird hier darauf hingewiesen, dass „gotes segen“ den Büßenden vor Frost, Schnee, Wind und Regen beschirmt, und bezüglich der Nahrung weiß Hartmanns Erzähler wenig später vom „trôstgeist von Kriste“28 zu berichten, der dem Büßer „daz leben vriste, / daz er von hunger genas“.29 Die Passage schließt mit einem rhetorischen Kunstgriff des Erzählers, der in Vorgriff auf den antizipierten Zweifel des Publikums an der Wahrheit des Erzählten die handgreifliche Unmöglichkeit des Erzählten zum Ausweis dieser Wahrheit umdeutet: daz dunket manigen niht wâr: des gelouben velsche ich. wan gote ist niht unmügelich ze tuonne swaz er wil, im ist deheines wunders ze vil.30
26 MANN, 1953, S. 261f. Vgl. auch den Brief Manns an Oscar Schmitt-Halin, Pacific Palisades 07.04.1951, Br. W III, S. 385. 27 HARTMANN, 2004, V. 3101, 3107-3110. „Der arme Gregorius, […] er hatte nicht mehr Schutz – weder vor Reif noch vor Schnee, weder vor Wind noch vor Regen – als den Gottessegen.“ (Übersetzung von mir, P. G.). 28 EBD., V. 3119. 29 EBD., V. 3120f. 30 EBD., V. 3132-3135. „Das scheint so manchem nicht wahr zu sein; dessen Glauben erweise ich als falsch. Denn Gott ist nicht unmöglich zu tun, was immer er will, ihm ist kein Wunder zu groß.“ (Übersetzung von mir, P. G.).
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Die augenfällige Unwahrscheinlichkeit des Erzählten leistet der Annahme Vorschub, dass das Publikum Zweifel am Erzählten hegt („daz dunket manigen niht wâr“), und dies nutzt Hartmanns Text dazu, durch seine Erzählerfigur die Deutung des Geschehens als Wunder Gottes vorzunehmen. Aus der Annahme heraus, es handle sich um ein (göttlich gewirktes) Wunder, also um ein Ereignis, „das von den Zeugen als außergewöhnliches, der Alltagserfahrung zuwiderlaufendes, Ehrfurcht und Erstaunen hervorrufendes Ereignis wahrgenommen und als religiös bedeutsam interpretiert wird“,31 und aus den in dieser Deutung eröffneten religiösen Implikationen heraus, nötigt der Erzähler sein christliches Publikum dazu, die handgreifliche Unmöglichkeit des Erzählten geradezu als Ausweis von dessen Wahrheit zu akzeptieren, sofern dem artikulierten Gedankengang folgend Unglaube gegenüber der Erzählung zum Ausweis wortwörtlichen Unglaubens, Zweifel am Erzählten zu religiösem Zweifel (i. S. der desperatio) werden muss,32 „denn Gott ist nicht unmöglich, zu tun, was immer er will, ihm ist kein Wunder zu viel/zu groß“.33 Wer also an dem erzählten Wunder zweifelt, der zweifelt am wunderbaren Gnadenhandeln Gottes. In ihrer Rhetorik stellen die Verse damit das Erzählte einerseits als höchst unwahrscheinliches Geschehen aus und beschaffen sich andererseits gerade darin, indem der Erzähler das Erzählte als göttliches Wunder klassifiziert, dessen Wahrheit in der Omnipotenz Gottes begründet liegt, im Rezipienten einen gläubigen Zeugen sowohl der Wahrheit des (innerhalb der erzählten Welt unbeobachtet stattfindenden) Geschehens als auch für dessen religiös bedeutsamen Charakter i. S. eines (göttlichen) Zeichens. Gerade diese Rhetorik Hartmanns fordert die Kritik Manns heraus, was sich bereits darin zeigt, dass Mann die Reihenfolge des Erzählten invertiert und seine Erzählerfigur bei der Schilderung des Wunders auf dem Stein dort beginnen lässt, wo diese in Hartmanns Text endet, nämlich mit dem erwarteten Unglauben des Publikums: Kristlicher Leser! Höre und glaube mir! Großes und Eigentümliches habe ich dir zu berichten, Dinge, die zu erzählen Mut erfordert. Wenn ich aber den Mut finde, sie auszusagen, so solltest du dich schämen, nicht so viel Mut aufzubrin31 So die Definition des Wunders nach der Theologischen Realenzyklopädie, KLIE, 2004, S. 378. 32 In diesen Bereich rückt der Zweifel, insofern er das Kriterium einer „Geringschätzung der Gnade angesichts der übergroßen Sünde“ erfüllt. So das Verständnis der desperatio nach OHLY, 1995, S. 179. 33 HARTMANN, 2004, Verse 3133-3135 in Übersetzung.
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Philipp Giller gen, sie zu glauben. Nicht voreilig will ich dich einen Zweifler schelten; vielmehr baue ich auf deinen Glauben, genau so weit, wie ich auf meine Fähigkeit baue, das mir Überlieferte glaubwürdig mitzuteilen. Auf diese Fähigkeit aber baue ich sehr fest und also auch auf deinen Glauben.34
Im vorangestellten Appell an den „[k]ristliche[n] Leser“35 fordert Clemens den Leser aber nicht etwa formelhaft abstrakt auf zu hören und zu glauben, sondern er fordert ihn ganz konkret auf, ihm zu glauben. Dass das formelhafte ‚höre und glaube‘ hier um das Personalpronomen erweitert ist und damit gerade mit dem Rekurs auf ‚Glaubenswahrheiten‘ in der Rhetorik von Hartmanns Erzählen bricht,36 gibt bereits die Tendenz der folgenden Parodie auf Hartmanns Argument an: Die Verlagerung der Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsanspruch des Erzählten aus dem Bereich einer religiösen Dogmatik heraus in den Bereich (persönlicher) erzählerischer Kompetenz. Auf dieser Ebene kann Clemens dann auch, noch bevor er ein Wort über das eigentümliche Geschehen verloren hat, in angedeuteter Empörung zu verstehen geben, eine mangelnde Bereitschaft, das Erzählte zu glauben, als persönliche Beleidigung aufzufassen – schämen müsse man sich, wenn man seinen Mut, die ihm überlieferten Dinge zu erzählen, nicht mit der Bereitschaft quittiere, das Erzählte zu glauben –, und in einer polemischen Spitze gegen Hartmanns Erzählerfigur ankündigen, den Leser, anders als er es damit für den Erzähler des Gregorius unterstellt, nicht voreilig einen Zweifler (und zwar im umfassenden Sinne des Wortes) schelten zu wollen. Zweifel an der Erzählung ist demnach bei Mann nicht mehr Sünde wider den hl. Geist in Form der desperatio37, sondern höchstens (lässliche) Sünde wider den Erzähler. Manns Parodie des Arguments erreicht bereits im Vorfeld der Wundererzählung eine Zerstörung des religiösen Pathos, welches bei Hartmann die höhere Wahrheit des Erzählten zugleich mit seiner Glaubwürdigkeit verbürgt. Demgegenüber forciert Manns Text die an die Qualität des Erzählens geknüpf34 MANN, 1974, S. 189. 35 EBD. 36 Dass Manns Erzählerfigur fortwährend „heimlich […] an der Wahrheit, an den Wahrheiten des Glaubens“ rüttele, stellt auch Ruprecht Wimmer fest (WIMMER, 2012, S. 110). An späterer Stelle verwendet Mann die Formel ‚höre und glaube‘, wenngleich in humoristischer Brechung, in Bezug auf eine Vision, deren Geltungsanspruch sich ebenso auf ihre Poetizität, nicht aber auf ein göttliches Wirken stützt (siehe unten). 37 Zum Status dieser Sünden auch im Rahmen des Gregorius Hartmanns von Aue vgl. OHLY, 1995, S. 177-180.
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te Glaubwürdigkeit des im Folgenden zu erzählenden Wunders und den daran geknüpften Glauben des Rezipienten und lässt beides in der ausdrücklich erzählerisch zu generierenden Wahrscheinlichkeit der Erzählung gründen. Im Bauen auf seine erzählerische Überlegenheit kann Clemens sich dann seiner selbst so sicher wie des Glaubens seines Publikums sein. Damit entspricht die Ebene, auf der das Erzählte hier verhandelt wird, dem, was Armin Schulz mit dem Begriff des „narrativen Agons“ versehen und als typische Geste mittelalterlichen Erzählens und Wiedererzählens identifiziert hat,38 insofern Thomas Mann durch Clemens seine erzählerische Überlegenheit über das Erzählen und die Erzählerfigur Hartmanns demonstriert. Dass dieser Ausstellung von erzählerischer Überlegenheit jene Figur des Schlusses von einer sprachlichen auf eine inhaltliche Überlegenheit eignet, wie ihn die eingangs zitierte Überlegung zum ästhetischen Potenzial der Parodie festhält, zeigt sich in diesem Rahmen auch darin, dass der Inhalt des Erzählten im Kern gleich bleibt: Auch Clemensʼ „wahrhaftige Mitteilung“39 ist, dass Gregorius auf der Kegelplatte dieses wilden Steines im See […] mutterseelenallein und bar aller Gnade […] volle siebzehn Jahre verbrachte ohne eine andere Bequemlichkeit als das Himmelsdach über sich, ohne Schutz weder vor Reif noch vor Schnee, weder vor Regen noch vor Wind, noch vor Sonnenbrand, bekleidet nur – aber wie lange hielt das denn vor! – mit seinem härenen Hemd, bei nackten Armen und Beinen.40
Wie das gehen soll, das will – in den Worten Thomas Manns – erfunden sein!41 Es fällt unmittelbar auf, dass, neben der Hinzufügung des Sonnenbrandes zur Liste der zu erleidenden Unbilden, hier im Gegensatz zu Hartmanns Version nicht von einem schirmenden Segen Gottes oder einem „trôstgeist von Kriste“ die Rede ist; die bei Hartmann ungebrochene göttliche Präsenz wird in Manns Text zu göttlicher Absenz, bevor Clemens erneut die Rechtfertigung
38 Vgl. dazu SCHULZ, 2012, S. 124-127. 39 MANN, 1974, S. 189. ‚Wahrhaftigkeit‘ lässt sich hier wohl nach Adelung wörtlich i. S. einer „Fertigkeit, seine Reden der Sache selbst und seiner innern Gemüthsfassung gemäß einzurichten“ ADELUNG, 1801, Sp. 1346, verstehen. 40 MANN, 1974, S. 189. 41 Vgl. auch WYSLING, 1967, S. 261. Ebenso der Brief Manns an S. Singer, Pacific Palisades, 08.03.1948, Br. W. III, S. 352; Br. III, S. 27.
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seines Vorgängers bei Hartmann aufgreift und erneut gegen dessen Ausführungen zur Glaub-Würdigkeit des Erzählten polemisiert: Ihr glaubt es nicht? Ich werde euch dessen versichern, und zwar nicht, indem ich einfach zu dem Trumpf meine Zuflucht nehme, daß vor Gott kein Ding unmöglich und Ihm kein Wunder zuviel ist. Das wäre zwar durchschlagend, aber zu wohlfeil. Äußerlich müßte euer Zweifel davor verstummen, aber heimlich könnte er fortnagen. Das darf nicht sein, und darum will ich mich nicht auf Gottes Allmacht berufen. Ohne Predigt, vernunftgemäß und geruhig […] will ich den Fragen Rede stehen […].42
Rede steht Manns Erzähler tatsächlich ausführlich: von Hunger und Durst des Büßers, von einer kleinen Mulde in der sich „weißlich trübes Naß“43, eine „Erdmilch“44 sammelt, welche, von zuckrig-lehmigem Geschmack, „etwas würzig nach Fenchel, dazu metallisch nach Eisen“,45 dem Büßer als Nahrung dient und mit der die Mutter Erde sich den Namen der großen Mutter und magna parens erworben habe, aus der jedwedes Lebendige geboren worden sei. So auch der Mensch, der nicht zufällig homo und humanus heiße, zum Zeichen nämlich, dass er aus dem Muttergrunde des humus ans Licht getreten sei. Alles aber, was gebäre, habe auch die notwendige Nahrung für seine Kinder.46 Der bekanntermaßen von Thomas Mann aus Karl Kerényis Aufsatz Urmensch und Mysterium47 übernommene, im Rahmen seiner „Technik der Montage“48 dekonstruierte und bruchstückweise in die eigene Erzählung eingebaute Mythos von der Erdenmutter ermöglicht es Mann, Gregorius hier im Literalsinn am metaphorischen Busen der Natur zu säugen. Über diese Form der Ernährung dämmert dem Büßer schließlich die Ahnung, dass „Gott seine Buße nicht nur annähme, sondern […] vielmehr es mit ihm, wenn er seine Eltern und
42 MANN, 1974, S. 189f. 43 EBD., S. 190. 44 Mann in einem Brief an Oscar Schmitt-Halin vom 07.04.1951, Pacific Palisades, Br. W. III, S. 385. 45 MANN, 1974, S. 191. 46 EBD., S. 191f. 47 KERÉNYI, 1948, vgl. dazu WYSLING, 1967, S. 263, sowie den Brief Thomas Manns an K. Kerényi vom 04.01.1950, Pasific Palisades, Br. W. III, S. 365; Br. III, S. 126. 48 WYSLING, 1967.
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sich selbst durch härteste Reue entsühnt haben würde, noch irgendwie gnadenvoll vorhabe“.49 Warum jedoch die vorzeitliche Erdenmilch auf eine dem Erzählen so gelegene Weise und an so günstig gewähltem Ort erneut zu Tage tritt, das weiß Manns Erzähler nicht so recht zu begründen und lässt es dahingestellt, „ob hier ein gnädiger Zufall waltete und die Mutterquelle auch vorher die ganze Zeit gearbeitet hatte, oder ob die Gnade so weit ging, daß Gott sie eigens für den Sünder Gregorius wieder angeregt hatte“.50 Die Erzählweise erhält einerseits in der Schilderung sensorischer Qualitäten wie des Geschmacks der Erdenmilch ebenso wie in der Schilderung der Probleme, die der Verdauungsapparat des armen Sünders anfänglich mit der ungewohnten Nahrung hat, in der Wirklichkeitsförmigkeit und der daraus generierten Wahrscheinlichkeit den Anspruch des auch hier unzureichend Begründeten, sein Geglaubt-werden-Wollen bzw. -Können, stets aufrecht.51 Andererseits hält die Verwendung des Mythos darin, dass sie in einem eklatanten Widerspruch zu dem von Clemens angekündigten erzählerischen Unterfangen, vernunftgemäß Rechenschaft über ein Wunder abzulegen, steht, die Artifizialität des ästhetischen Entwurfs stets präsent. Es wird darin die Aporie von Clemensʼ Unterfangen geradezu ausgestellt, da das mythische Denken bekanntermaßen eine dem logischen (Kausal-)Denken entgegengenstehende erzählerische Form der Begründung ist.52 Wenngleich also das Erzählen den Gestus der Rationalisierung stets aufrechterhält, ihn bisweilen sogar überzeichnet, indem akribisch bis ins Detail von sensorischen Qualitäten der Erdmilch berichtet wird, unterläuft die Tatsache, dass es sich dem Inhalt nach eben nicht um eine rationale, vernunftmäßige Erklärung, sondern um ein mythisches Herleiten, besonders deutlich in der ausgebreiteten etymologischen Erklärung, handelt, diesen Gestus: Es geht damit nicht um eine rationale Erklärung, sondern um die ihr überlegene Möglichkeit des Erzählens. Allen Bemühungen Clemensʼ zum Trotz, Ernährung und Witterungsresistenz des Büßers zu erklären, ohne 49 MANN, 1974, S. 192f. 50 EBD., S. 192. 51 Dies entspricht im Grunde jenem Verfahren, das Helmut Koopmann in einer Zusammenstellung von Aussagen Manns über seine stilistischen Absichten mit einem Wort des Autors als „Erzwingung von Wirklichkeit“ bezeichnet. KOOPMANN, 1990, S. 74. In diesem Zusammenhang jedoch wäre der Terminus unpassend, insofern es sich hier gerade nicht um einen Zwang, sondern um eine poetisch begründete Möglichkeit, ein Angebot handelt, der dogmatisch begründete Zwang zu glauben ist ja gerade Gegenstand der Satire. 52 Vgl. JOLLES, 2006, S. 97-102, bes. S. 102.
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dabei Zuflucht in den Bereich göttlicher Allmacht zu nehmen, weiß der Erzähler dann zur Begründung des gnädigen Zufalls, der die vorzeitliche Erdenmilch gerade dort (erneut?) zu Tage treten lässt, keine rechte Erklärung anzuführen und muss sich schließlich dennoch in die demonstrativ offengelassene Alternative der als äquivalent dargestellten Konstrukte von gnädigem Zufall und göttlichem Wirken flüchten – Konstrukte, deren Äquivalenz sich mit Harald Haferland gerade im Rahmen der Legende als „narrative Metonymie glücklicher Koinzidenz“53 verstehen lässt. Diese ist nach Haferland ein Charakteristikum der Legende, welche die „Unwahrscheinlichkeit von Zufällen […] geradezu zum Zeichen für Heiligkeit fortentwickelt“54 und diese zur „narrative[n] Konstruktion von Heiligkeit“55 nutzt. Und genau diese Form, die der narrativen Konstruktion von Heiligkeit, ist es, deren virtuose Beherrschung Mann hier ausstellt, wenn er die christliche Wundererzählung bei Hartmann aufnimmt und – in satirisch-parodistischer Destruktion des religiösen Pathos – der Hartmannʼschen Erzählweise die Wundererzählung als Mittel der narrativen, dem ästhetischen Entwurf eigenen poetischen Begründung der Heiligkeit des begnadigten Sünders entgegenstellt. Die einem solchen Erzählen eignende Akausalität wird, gerade auch im bearbeiteten Mythos und im so zum komischen Scheitern gebrachten Unterfangen der Erzählerfigur, vernunftgemäß Rechenschaft abzulegen über ein Wunder, ausgestellt als herbeierzähltes Zeichen56 der Gnade und der daraus resultierenden Heiligkeit. Damit steht auch am Ende (oder vielmehr am Anfang) von Manns Erzählung ein Heiliger; aber dieser erscheint eher durch den ästhetischen Entwurf der Erzählung zum Heiligen berufen als durch Gott.57 Dabei 53 HAFERLAND, 2005, S. 358. Haferland geht es dabei gerade um die aus der Perspektive der Legende stets als Zeichen eines göttlichen (wunderbaren) Wirkens interpretierte Koinzidenz, im Zuge deren das Erzählen „[a]n der denkbar gröbsten Verletzung der Wahrscheinlichkeit […] seine Souveränität“ erweise. EBD. 54 EBD., S. 347. 55 EBD., S. 356 [Herv. von mir, P. G.]. 56 Diesen Zeichencharakter des Wunders halten auch André Jolles und Harald Haferland stets präsent: Jolles, insofern durch das Wunder „die Tätigkeit der Tugend […] bestätigt“ werde (JOLLES, 2006, S. 40), Haferland, insofern der Zufall (auch) göttliches (Wunder-)Zeichen sei, an dem sich die Heiligkeit des Gregorius zeige (Vgl. HAFERLAND, 2005, S. 358). 57 Rainer Warning geht in Hinblick auf die „Erzählerberufung“ gar so weit zu postulieren, „Thomas Mann kennt keinen eigentlichen Erwählten. Wohl aber kennt er einen uneigentlichen Erwählten, und das ist er selbst als Künstler, als Erzähler.“ WARNING, 2011, S. 333. Die Verbindung der ausgestellten erzählerischen Souveränität in Manns Text mit der Idee der Erwählung ist jedoch keineswegs zwingend.
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verhindert der komische Kontrast zwischen der herbeierzählten Heiligkeit und deren systematisch auf seine Erdverbundenheit und Kreatürlichkeit zurückgeführtem Subjekt auf humorvolle Weise jede Auratisierung dieses Heiligen, des „Erzählten“58: Die Schwere der Buße auf dem Stein wird von Mann im Vergleich mit dem Gregorius durch die Hinzufügung des Sonnenbrandes zur Liste der zu ertragenden Unbilden ‚verschärft‘, und ob der ungewohnten Nahrung stößt es dem Büßer bei Mann zunächst wie einem Säugling leicht auf, sodass „etwas von dem Getrunkenen […] ihm aus dem Munde wieder hervor[fließt]“59, bevor er sich in ein „filzig-borstiges, mit Moos bewachsenes Naturding“60, „nicht viel größer als ein Igel“61 entwickelt. Eine ganz ähnlich gelagerte Tendenz der Komik in der Bearbeitungstechnik Manns lässt sich auch für jenen Erzählkomplex nachweisen, der von der Erwählung des igelartigen Wesens auf dem Stein zum Papst berichtet; und dies eben abermals in Verbindung mit einer satirisch-parodistisch gebrochenen Wundererzählung: In „glücklicher Koinzidenz“ nämlich stirbt nicht nur der Papst in Rom, zudem, wie Clemens zu berichten weiß, kann sich die Kurie nicht auf einen Nachfolger einigen, und zwei Parteien stehen sich unversöhnlich im politischen Machtkampf um den vakanten Hirtenstuhl gegenüber. Den herrschenden Machtkampf um das Amt, bei Hartmann in einer rund 20 Verse umfassenden Passage zu Gunsten einer Entscheidung Gottes abgehandelt,62 baut die Erzählung Manns zu einem handfesten (weltlich-)politischen Konflikt63 aus, in dessen Rahmen einer der Anwärter auf das Papstamt ob seiner schlechten körper-
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Vielmehr scheint mir die Bemerkung Warnings auf den Defekt des Heiligen in der Darstellung Manns abzuzielen, die durch den Humor die übliche Auratisierung des Heiligen unterbindet. Das Wortspiel entstammt dem Titel eines Aufsatzes von Benedikt Jeßing der im Erwählten den Roman eines Romans sieht, der ein parodistisches Spiel mit der bürgerlichen Romantradition auktorialen Erzählens treibe. Vgl. JESSING, 1989. MANN, 1974, S. 191. EBD., S. 195. EBD., S. 194f. Vgl. HARTMANN, 2004, V. 3145-3160. Mann baut die Szene zwar massiv aus, indem er aber auch hier dem Verlauf des Geschehens bei Hartmann folgt, hält er den Bezug auf die Vorlage stets präsent. Im Rahmen seiner Bearbeitung dieses auch in der Vorlage geschilderten Vorgangs (HARTMANN, 2004, V. 3145-3154) unterstreicht Mann, dass der Heilige Geist an der Aufstellung keines der Kandidaten „irgendwelchen Anteil“ hatte und dass „Bestechung mit Gold dabei einschlägig und parteiliches Machstreben die Triebfeder von allem war“. MANN, 1974, S. 196.
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lichen Verfassung, während er den Kontrahenten mit Flüchen belegt, vom Schlag getroffen wird, woraufhin der Übriggebliebene auf der Flucht vor den aufgebrachten Anhängern des so unglücklich verstorbenen Konkurrenten in den Tiber springt und dort ertrinkt. Diese überdeutlich satirische Passage begründet die anhaltende Sedesvakanz, als dem Römer Sextus Anicius Probus, schon betagt, über fünfzig, und ebenso reich an Gütern wie an öffentlichen Ehren64, das aus der Seite blutende Lamm Gottes erscheint: „Probe, Probe, höre mich! Großes will ich dir verkünden.“ […] „Du Lamm Gottes“, sagte er, „gewiß, ich höre! Mit ganzer Seele höre ich, aber du blutest, dein Blut färbt dein sanftes Vlies und rinnt in den Klee. Kann ich nicht etwas für dich tun, deine Wunde waschen und sie mit Balsam pflegen? […]“ „Laß das gut sein“, sprach das Lamm. „Es ist sehr notwendig, daß ich blute. Höre du, was ich dir zu verkünden habe! Habetis Papam. Ein Papst ist euch erwählt.“65
Der mit dem Vokativ des Namens Probus generierte (etwas plumpe) Witz macht nicht nur schon a priori jedes Potenzial eines religiösen Ernstes in der Szene zunichte, sondern ermöglicht es einem, ganz offenbar auch angesichts der Erscheinung nicht in religiöser Ehrfurcht erstarrten Probus, gewissermaßen bereits im Vorfeld der so angekündigten Offenbarung,66 tätige compassio anzubieten. Im aufbrechenden Widerspruch zwischen wunderbarem Charakter der Vision und ihrer aus der Perspektive des Probus unterstellten Realpräsenz, erkennbar an dem Angebot, die Wunde des Lammes zu waschen und zu balsamieren, erwächst abermals eine jedes religiöse Pathos zunichtemachende Komik. Überhaupt demonstriert Probus, dem Visionen, wie er sich später eingesteht, „gar nicht in [s]einer Art“67 liegen, im Verlauf der Vision gleichermaßen seine Ergriffenheit wie sein praktisch veranlagtes Naturell. Denn als das Lamm ihm den Namen des Büßers auf dem Stein genannt und ihn ausgesandt hat, diesen zu suchen, gibt Probus dem Lamm Gottes zu bedenken, dass die ‚Kristen-
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EBD., S. 197. MANN, 1974, S. 199. Die Überschrift des Kapitels lautet „Die Offenbarung“. MANN, 1974, S. 201.
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heit‘ weit und groß, er ja aber nur ein Mensch sei.68 Während das Blut vom Fell des Lammes rinnt und jeder Blutstropfen sich im Klee sogleich in eine voll erblühte, duftende Rose verwandelt,69 beschreibt das Lamm daher in deutlich an den Stil mittelalterlicher Wegbeschreibungen erinnernder Weise,70 wo der Erwählte zu finden ist. Noch nachdem sich die Vision verflüchtigt hat, kündet der sinnliche Eindruck des Rosenduftes, der in der Nase des Probus zurückbleibt, von deren Wirklichkeit. Und genau daran zeigt sich ein Hinweis auf die Geltungsstrategie des Textes: „Das Rosenblut“ so deutet die Ehefrau des Probus wenig später, sei „poetisch“,71 aus sich selbst aber bringe dieser trockene Mann keine Poesie hervor, was Beweis des wahrhaft außerhalb seiner Persönlichkeit liegenden Ursprungs der Vision und ihre Bedeutsamkeit sei.72 Die Bedeutsamkeit des Geschehens ist also durch ihre Poetizität verbürgt. Und in ganz ähnlicher Weise werden die Rosen wenig später durch den Prälaten Liberius als Mittel der Überzeugung interpretiert, als Probus ihn einlädt mit ihm die „Poesie dieser […] Erscheinung“ zu bewundern.73 Auch in Manns Erzählen wird die Gregorius zuteilwerdende Heiligkeit „in einer signifikanten Bereitschaft zur Buße“74 manifest. „Eine solche Bereitschaft bewährt sich im Extremfall an der Buße für eine Schuld, die einem gar nicht persönlich zugerechnet werden kann […]“,75 die ihrerseits final vereinnahmt werden muss, da die Heiligkeit „nicht kausale, sondern metonymische ,Folge‘ [-]eines heiligmäßigen Lebens und dadurch paradox zustandekommender Erwählung“76 ist. Manns Text stellt diese finale Vereinnahmung jedoch als Erzählmodell aus und zehrt zu keinem Zeitpunkt von „der Glaubenseinfalt der Legende […] in Hartmanns Geschichte vom guten Sünder“77. Die Heiligkeit in Manns Text weist sich damit stets aus als eine durch das Erzählen hergestellte, dem ästhetischen Entwurf geschuldete Heiligkeit, als Produkt einer „einfachen 68 EBD., S. 200. Hartmanns Suchende müssen sich nach der Offenbarung, die überdies nur in Form einer akustischen Vision und damit weit weniger anschaulich erfolgt, ohne eine solche auf den Weg machen. 69 EBD. 70 EBD. 71 EBD., S. 201. 72 EBD., S.201f. 73 EBD., S. 208. 74 HAFERLAND, 2005, S. 360. 75 EBD. 76 EBD., S. 361. 77 SCHWERTE, 1951, S. 1.
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Form“78. Dennoch liegt man grundfalsch, wenn man „diese genüßliche Parodie auf die ,archaische‘ Legende“79 als „parodistische[-] Destruktion[-] abendländischen Geistes und seines Vermächtnisses“80 begreift. Die durch Mann ins Werk gesetzte erneute Vereinnahmung der mittelalterlichen Legende mehr als 700 Jahre nach Hartmann sieht sich vor die Aufgabe gestellt, das Erzählen von Gnade über die Epochenschwelle zur ‚Moderne‘ zu heben, die sich nach Hans Blumenberg zu einem gewichtigen Teil durch die Umbesetzung eines der Zentralbegriffe beider Texte in Zusammenhang mit dem Wunder konstituiert: demjenigen des Zweifels:81 „Grenzenlos wie früher das Vertraun ist jetzt das Mißtraun, und sittlich erscheint jetzt der Zweifel wie es früher der Glaube war.“82 Es ist diese gewandelte Rolle des Zweifels, die nach Blumenberg signifikant ist für das „Nicht-wahrhaben-wollen“83, in dem sich der spezifische Wahrheitsbezug der Neuzeit manifestiere.84 Die Beglaubigungsstrategien und religiösen Deutungen Hartmanns erscheinen aus einer solchen Perspektive obsolet und werden durch Manns Erzählen und seinen Erzähler satirisch verworfen. Aber auch Clemensʼ Versuch, „vernunftgemäß“85 über das Wunder Rechenschaft abzulegen, wird spätestens angesichts der Einschätzung, dass „alle Erwählung […] schwer zu fassen und der Vernunft nicht zugänglich“86 sei, durch Mann zum Scheitern gebracht. In der mit dieser Äußerung und gleichermaßen mit dem Rückgriff auf den Mythos zur Anschauung gebrachten Zweckwidrigkeit87 der erzählerischen Bemühungen Clemensʼ macht Mann das Scheitern seiner Erzählerfigur zu einem komischen Scheitern. Der Humor kennzeichnet die Komik dieses Scheiterns, insofern hier weder die Geltung der erzählten Begründung noch deren Anspruch, vernünftigerweise geglaubt zu 78 Vgl. JOLLES, 2004, Kapitel „Legende“, S. 1-22. Jolles betont ausdrücklich, dass es sich bei den behandelten Formen, insofern sie Sprachgebilde seien, um „litterarische[-] Formen“ (S. 22) handelt. 79 SCHWERTE, 1951, S. 2. 80 EBD. 81 Die Epochenschwelle geht darin freilich nicht auf, insofern dies nur einer der Faktoren ist, welche nach Blumenberg eine „Legitimität der Neuzeit“ begründen. Vgl. dazu die sehr viel weitschweifigere Behandlung derselben in BLUMENBERG, 1996. 82 NIETZSCHE, 1999, S. 407, siehe auch BLUMENBERG, 1960, S. 35. 83 BLUMENBERG, 1960, S. 35. 84 Siehe EBD. 85 EBD. 86 MANN, 1974, S. 199. 87 Dies ist nach Vischer der Kerngedanke des Komikbegriffs nach Jean Paul, dem das Komische als „sinnlich angeschaute Zweckwidrigkeit“ gelte. Vgl. VISCHER, 1967, S. 161.
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werden, im Rahmen der Komik suspendiert werden, sondern die poetische Begründung in Bezug auf den Gegenstand der Gnade als der vernünftigen überlegene und darin gleichsam vernünftigere Begründung dargestellt wird.88 In der so gestalteten Fokussierung auf die poetische Begründung als poetische Begründung, auf den Charakter ihrer Artifizialität und die erkennbar ausgestellte erzählerische Virtuosität Manns, kann leicht der Eindruck entstehen, dass es beim humoristischen Erzählen tatsächlich nur darum ginge, die fiktive dargestellte Wirklichkeit ausdrücklich als Scheinwirklichkeit zu bekennen, zu demonstrieren, „daß sie ‚gemacht‘ ist (ein ποιεϊν), daß ihr Schöpfer mit ihr spielen, sie aufheben und wiederherstellen kann, daß diese Wirklichkeit sich sozusagen selbst nicht ernst zu nehmen braucht“.89
Die zeitlich wie räumlich im Prinzip unverortbare Wirklichkeit des Erwählten enthält den deutlichen Hinweis darauf, dass es nicht um die dargestellte Wirklichkeit als solche geht, und das Spiel mit der Erwählung des Protagonisten zum Papst, das ebenfalls offenkundig als Produkt der Erzählung und des Erzählens ausgestellt ist, relativiert auch den Anspruch, dieses Geschehen als solches ernst zu nehmen. Dass aber die Idee der Gnade weiterhin ernst genommen werden soll, daran lässt die Erzählung keinen Zweifel: Als zum Zeichen der Erwählung des ankommenden Papstes die Glocken „in babylonischem Durcheinander“ läuten, „Glockenschall, Glockenschwall supra urbem“90 herrscht, liegt gerade keine babylonische Sprachverwirrung vor. In ihrem be88 Die darin und in der igelartigen Erscheinung eines Heiligen umspielte „contradictio in adjecto“, in der ein widersprüchliches Verhältnis von Erhabenem und Kleinem anschaulich werden soll, ist nach Vischer typisches Merkmal des Komischen. VISCHER, 1967, S. 176. Indem er aber dem Lachen über einen so angeschauten Widerspruch einen grundsätzlich gutmütigen Charakter unterstellt, wäre ein komischer Effekt, der den Widerspruch als Ineinander von Erhabenem und Kleinem anschaulich macht und dabei den jeweiligen Geltungsanspruch von beidem nicht annulliert (sofern „das Erhabene schon vorher klein war, aber nicht so, daß es darum nicht erhaben gewesen wäre, sondern erhaben und doch nicht erhaben“ EBD.), eher dem Humor als spezifischer Erscheinungsform des Komischen i. S. des eingangs Dargestellten zuzurechnen. 89 PREISENDANZ, 1985, S. 13. Preisendanz kritisiert diese Auffassung Hamburgers scharf. Das von Preisendanz angeführte Zitat aus K. Hamburgers Die Logik der Dichtung wurde von mir gemäß dem Wortlaut der mir vorliegenden Ausgabe von 1977 angepasst. HAMBURGER, 1977, S. 131. 90 MANN, 1974, S. 9.
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redten Läuten zitieren die Glocken Bibelverse zum Thema der Gnade und „hell“ klingelt es in deren Zitat hinein, „als rühre der Meßbub das Wandlungsglöcklein“91. Die ‚Wandlungsglocken‘ zu Eingang der Erzählung sind als poetologische Stellungnahme Manns zum Wirklichkeitsanspruch des Gnadengedankens zu verstehen. Die Erzählung in all ihrer Virtuosität bleibt zwar Sprachkunstwerk und kann als solches die Realität der Gnade nicht ernstlich erzwingen, wie es auch Clemens unmöglich ist, von der Wirklichkeit des Wunders vernunftgemäß Rechnung abzulegen. Aber die poetische Begründung stellt die Glaubwürdigkeit jenes Wunders der Gnade als ‚Schein-Möglichkeit‘ her und begründet darin die Wirklichkeit der Gnade als poetische. So versucht Manns Erzählung die Bedeutsamkeit des Gnadengedankens der mittelalterlichen Legende mehr als 700 Jahre nach Hartmann erzählerisch neu zu begründen. Manns „Amplifizieren, Realisieren und Genaumachen“92 der Vorlage dient einem jenseits der Berufung auf christliche Dogmen situierten, auf die Qualität des ästhetischen Entwurfs gestützten Glauben an die Wirklichkeit der Gnade. Indem dieses Erzählen stets die Artifizialität des ästhetischen Entwurfs reflektiert, ergibt sich jene contradictio in adjecto, die Wirklichkeit des ästhetisch vermittelten Gnadengedankens nicht trotz, sondern in seiner Poetizität zu behaupten. Die Anspielung auf das Modell der Eucharistie im Eingang der Erzählung entspricht dabei dem durch den Humor unterbreiteten Identifikationsangebot, den im Erzählen zeichenhaft vermittelten ideellen Gehalt im Sinne seiner Realpräsenz ‚wahr‘ zu nehmen.
3. Schluss Jedes Schreiben ist immer auch Lesen. Dem Mittelalter gilt Erzählen als niuwen, als Zitieren, Wiederholen, Rekontextualisieren und darin Neu-Machen von bereits Gesagtem bzw. Erzähltem. Erzählen ist folglich ein Kippmoment, in dem Rezeption zu Produktion wird, in dem Lektüre zum Gegenstand neuerlicher Lektüre werden kann und wird und dennoch eine eigene, vorzügliche Geltung beansprucht.93 Und genau dieses Bewusstsein ist es, dem auch Tho91 EBD. 92 MANN, 1953, S. 260. 93 Dieser Gestus trug den mittelalterlichen Dichtern das Goethe’sche Prädikat ‚parodistischer Übersetzer‘ durch Wilhelm Scherer ein, welches Hans Wysling auch für Thomas Mann geltend macht. Das Prädikat diente Goethe ursprünglich im Westöstlichen Divan als Bezeichnung einer Übersetzung, deren Eigenschaft es ist,
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mas Mann zu Beginn seines Werkes durch Clemens erneut Ausdruck verleihen lässt, wenn dieser sein Unterfangen, eine „Geschichte zu erzählen oder zu erneuen (denn sie [sei] schon erzählt worden, sogar mehrmals, wenn auch unzulänglich)“,94 ankündigt. Dass Clemens auf die Unzulänglichkeit seiner Vorgänger verweist, gibt die parodistische Tendenz der Bearbeitung der Legende durch Mann bekannt. Als satirische Parodie erweist sich dessen Erzählen stets, wenn es die Unzulänglichkeiten eben jener „Glaubenseinfalt“95 bzw. des religiösen Pathos in Hartmanns Erzählen ausstellt und zum Gegenstand der Satire werden lässt. Eine solche Kritik hat zur Entstehungszeit des Erwählten eine historische Dimension: Ein auf Auratisierung beruhender Wahrheitsanspruch des Erzählten könnte in den Augen Manns jenen Messianismus nähren, in den Machtpolitik sich gerne kleide96, auf dessen Basis „die Lüge durch Gewalt zur Wahrheit werden“97 könnte und den der „Totalitarismus der Geschichte abgelernt“98 habe – etwas, das Mann als „Poesie der Gewalt“ als eine „widerwärtige Art der Poesie“99 verurteilt. In seinem humoristischen Grundton arbeitet Der Erwählte jedoch daran, seinem Publikum in der für den Leser des 20. Jahrhunderts aktualisierten „Endform der Legende“,100 in einer des religiösen Pathos der mittelalterlichen Legende auf komische Weise beraubten erbaulichen Erzählung die Gnade als Möglichkeit der Geschichte (wie weit man diesen Begriff auch fassen möchte) zu glauben. Damit führt Manns Erzählung eine Variante jenes ,Kippens‘ der Parodie vor; indem die parodistische Darstellung des Wunders auf die Steige-
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„fremden Sinn sich anzueignen und mit eignem Sinne wieder darzustellen.“ GOETHE, 1994 [1819], S. 280. Wilhelm Scherer versteht dies als typisches Attribut in Bezug auf das Verfahren der mittelalterlichen Dichtung der Volkssprache. Vgl. SCHERER, 1899, S. 147. MANN, 1974, S. 13. Dass Clemens auf die Unzulänglichkeit hinweist und das Erzählen Manns über weite Strecken die Vorlage zum Gegenstand parodistischsatirischer Kritik werden lässt, rechtfertigt im Sinne Goethes wie auch Scherers das Prädikat einer parodistischen Dichtung; da die Definition Rotermunds jedoch benennt, mit welchen Mitteln Parodie an der Vorlage arbeitet, um ggf. einer erneuten Vereinnahmung derselben Vorschub zu leisten, erweist diese sich als literaturwissenschaftliche Definition der Parodie verglichen mit den Bestimmungen Goethes und Scherers leistungsfähiger. SCHWERTE, 1951, S. 1. MANN, 1997, S. 174. EBD., S. 175. EBD. EBD. MANN, 1953, S. 263.
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rung der poetischen Leistung in dessen Darstellung zielt und diese Leistung auch allenthalben vorzeigt, bewirkt sie, dass der ursprünglich kritische Impuls sich in eine neue Tauglichkeit der Wundererzählung wendet und ein Angebot zu deren Affirmation unterbreitet. Denn Manns niuwen der mittelalterlichen Legende beruft in der stets ausgestellten poetischen Leistung die Kunst zum Bürgen für den Gedanken der Gnade als notwendigen, wirklichen, in der Welt wirksamen, glaub-würdigen.101
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Komische Realisierung des Wunders in Thomas Manns Der Erwählte
WIMMER, RUPRECHT, Religion und Theologie in Thomas Manns Erwähltem, in: Der ungläubige Thomas. Zur Religion in Thomas Manns Romanen (Thomas-Mann-Studien 45), hg. von NIKLAUS PETER/THOMAS SPRECHER, Frankfurt/M. 2012, S. 101-117. WYSLING, HANS, Thomas Manns Verhältnis zu den Quellen. Beobachtungen am Erwählten, in: Quellenkritische Studien zum Werk Thomas Manns (Thomas-Mann-Studien 1), hg. von HANS WYSLING/PAUL SCHERRER, Bern, München 1967, S. 258-322.
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Ein neuer Realismus – Funktionen der Parodie in Wolfgang Herrndorfs Adoleszenzroman In Plüschgewittern STEFAN BORN 1. Parodi e bei Wolfgang Herrndorf Das literarische Werk Wolfgang Herrndorfs lässt sich grob – aber nicht vollständig – einer literarischen Tendenz zuordnen, die im Feuilleton öfters als ‚Realismus‘ diskutiert wurde und die eng im Zusammenhang mit der sogenannten ‚Rückkehr zum Erzählen‘ im Laufe der neunziger Jahre steht. Matthias Politycki ist einer der wenigen Gegenwartsschriftsteller, die in den neunziger Jahren durch Manifeste oder programmatische Äußerungen versucht haben, dem literarästhetischen Schwenk einen Namen zu geben. Er sprach von „Neue[r] Äußerlichkeit“ und „Relevante[m] Realismus“.1 Wolfgang Herrndorf dagegen hat sich wiederholt energisch dagegen gewehrt, von einer Bewegung oder einer Künstlergruppe vereinnahmt zu werden, und sich gegen Matthias Politycki polemisch geäußert: Der Manifestschriftsteller Matthias Politycki hat anlässlich des Lübecker Literaturtreffens formerly known as Günter Grass kocht Kaffee erneut ein Manifest geschrieben. Diesmal heisst [sic!] es „Dies ist kein Manifest“ und handelt davon, dass sein letztes Manifest [...] auch schon kein Manifest gewesen sei. Das Feuilleton habe einen schweren Fehler begangen, es schlecht zu finden, wie
1
Vgl. POLITYCKI, 2007 [2005] und POLITYCKI, 1998.
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Stefan Born man daraus ersehen könne, dass literarisches Bemühen seitdem verstärkt mit dem Begriff „Relevanter Realismus“ schlechtgefunden würde.2
Trotz dieser Ablehnung der Position Polityckis ist die Bezeichnung ‚Neue Äußerlichkeit‘ als Beschreibung des literarischen Stils Herrndorfs zumindest nicht völlig unzutreffend. Matthias Politycki spielt mit dem Begriff vage auf die Neue Sachlichkeit der Weimarer Republik und auf deren realistische Abwendung vom ‚unsachlichen‘ Expressionismus an sowie auf das teilweise Anknüpfen an eine alte Sachlichkeit: den Realismus und Naturalismus des 19. Jahrhunderts. Mit der ‚Neuen Äußerlichkeit‘ ist nun in ähnlicher Weise eine Abwendung von einer Innerlichkeit gemeint, die etwa 1995 in Deutschland ihre Stellung als vorherrschende literarische Stillage verloren hat. Gleichzeitig fand eine Hinwendung zu realistischen Schreibweisen älterer Traditionen statt; der Realismusbegriff kann in einem typologischen Sinn mit Preisendanz beschrieben werden als Blick für die geschichtliche Vermitteltheit der gesellschaftlichen Phänomene, für den Prozeßcharakter des Sozialen. Zu ihm gehört indessen auch die Akribie des Psychologischen: die „Dialektik der Kulturbewegungen“ (Gottfried Keller) und die psychologisch bzw. soziologisch analysierend beschreibbare Kausalität der menschlichen Erscheinungen, Verhaltensweisen und Beziehungen orientieren die Thematik, bestimmen die Darstellungsprinzipien realistischen Schreibens. Dominanz soziologischer und psychologischer Kausalität, analytische Optik, Kommunikation mit dem Aktuellen, Präzision der Beschreibung und im Gefolge davon die Tendenz des Bloßlegens und Enthüllens, der Impuls zur Desillusionierung und Entmythologisierung, das Bestreben historischer Relativierung sind Merkmale des realistischen Romans, des literarischen Realismus.3
Herrndorfs so verstandene Äußerlichkeit beziehungsweise sein Realismus entspricht allerdings nicht der nach 1989/90 manchmal platt geäußerten Hoffnung, nach dem Wegfall des deutsch-deutschen Systemgegensatzes werde eine konservative und anti-avantgardistische Literatur entstehen.4 Herrndorf gelingt es auch in sehr klassischen Formen des Erzählens wie der Entwicklungsgeschichte – zum Beispiel im Adoleszenzroman –, eine Haltung zu verkörpern, 2 3 4
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HERRNDORF, 2006. PREISENDANZ, 1977, S. 222f. Vgl. ANZ, 2000, S. 10.
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die nicht nur realistisch, sondern ebenso gut ‚romantisch‘ genannt werden kann. Das gilt zumindest dann, wenn man unter ‚Romantik‘ schlicht eine Haltung versteht, „die eine Perspektive der Idealisierung und Vermittlung einnimmt, die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verwischt und sich selbst auf eine dynamische, prinzipiell unabschließbare Beziehung zur Unendlichkeit verpflichtet.“5 Die hartnäckige Beziehung auf „Unendlichkeit“ beziehungsweise die permanente Transzendierung des gleichwohl realistisch dargebotenen bundesrepublikanischen Lebens ist im gesamten Œuvre Herrndorfs ein Thema. Gleichzeitig ist der – so verstanden – ‚romantische Kern‘ seines Werks realistisch ‚gebrochen‘, was eine eigentümliche Komik zur Folge hat. Die komischen Effekte wiederum werden nicht selten durch Verfahren der literarischen Parodie6 produziert.7 Wolfgang Herrndorf hat jedenfalls mehrmals darauf hingewiesen, dass die Parodie als literarische Technik wichtig für ihn ist. Für seinen Roman Sand hat er den Titel „Parodien“ in Erwägung gezogen, jedoch wieder verworfen.8 Auch zu verschiedenen anderen Gelegenheiten hat er deutlich gemacht, dass er sich parodierend auf literarische Vorbilder bezieht: So habe er absichtlich „die zehn größten Klischees des Kriminalromans“ in Sand eingebaut,9 und immer wieder hat er filmische Versatzstücke aufgegriffen, wie zum Beispiel das Elixier in Tschick: […] oder an der Szene mit dem Elixier. Das bin ich jetzt auch schon häufiger gefragt worden: Was das für ein Elixier ist, das der Alte mit der Flinte den beiden da aufdrängt? Aber das weiß ich ja auch nicht. Das war nur, weil mich beim Schreiben jemand auf die „Heldenreise“ aufmerksam machte, ein Schema, nach dem angeblich fast jeder Hollywood-Film funktioniert. Da müssen die Protagonisten unter anderem immer ein solches Elixier finden. Habe ich natürlich gleich eingebaut.10 5 6
KREMER, 2003, S. 326. Unter Parodie wird hier schlicht verstanden, dass verschiedene formale oder inhaltliche Elemente aus einem anderen Text so übernommen werden, dass eine komische Diskrepanz zum Originaltext entsteht und dessen ursprünglicher Sinn unterwandert wird. Vgl. für eine ausführliche Darstellung von Ergebnissen der Parodieforschung SPIES, 2013. 7 In diesem Aufsatz steht die literarische Parodie Herrndorfs im Mittelpunkt, aber Herrndorf hat auch als Maler parodierend beziehungsweise pastichierend gearbeitet. Vgl. dazu den Nachruf Holm Friebes: FRIEBE, 2013. 8 HERRNDORF, 2013, S. 185. 9 EBD., S. 438. 10 HERRNDORF/PASSIG, 2011, S. Z6.
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Herrndorf verweist in diesen Zitaten selbst auf ein Verfahren, in dem weniger ein individuelles literarisches Vorbild parodiert wird als ein bekanntes Muster, ein literarisches Klischee, oder weniger negativ: ein literarischer Topos.
2. Funktionen von Parodi e und Topos bei Herrndorf Topoi beziehungsweise Gemeinplätze sind bekannte Motive oder Muster. Die antike Rhetorik lehrte, wie sie vermittels der Topik im Rahmen der eigenen Textproduktion benutzt werden konnten. Ein solcher Rückgriff auf Topoi war und ist aber niemals eine simple Reproduktion der Topoi; häufig war sie mit einer kalkulierten Abwandlung verbunden. Diese Abwandlung wiederum kann in der Form einer Parodie vorgenommen werden; dem Autor stehen mehrere Techniken der Abwandlung zur Verfügung: Solche stellt ihm die rhetorische Grammatik mit ihren Transformationen (Addition, Subtraktion, Substitution, Permutation) zur Verfügung. Die Transformationen selbst kennen zwei Grade der Intensität: variato und inversio. Die Variation – bekannt aus dem musikalischen tema con variazioni – verändert die Akzidenzien, nicht jedoch den semantischen Kern. […] Anders als die Variation verfolgt die Inversion die semantische Dekonstruktion, und zwar durch die Ironie und ihre Schreibweisen: Parodie und Travestie.11
Plett spricht von einer „Revitalisierung“ von Topoi durch derartige Transformationen,12 und tatsächlich sind selbst herabsetzende Verfahren wie die Travestie oder die Parodie geeignet, eine neue Annäherung an und Aneignung von Topoi vorzubereiten. Auch den Parodien Herrndorfs scheint manchmal weniger an der endgültigen Depotenzierung der aufgegriffenen Muster zu liegen als an deren ‚Weiterführen‘: Herrndorf greift in seinen Erzählungen viele Topoi auf. Dazu gehören die bereits erwähnten Vorgaben der Heldenreise oder auch der Initiationsreise aus der novel of initiation. Dieses Aufgreifen geschieht aber 11 PLETT, 2000, S. 232f. [Herv. i. O.]. 12 EBD., S. 233f.: „Die chronologische Phasenstruktur des Umgangs mit Gemeinplätzen ist stets die gleiche: imitatio – variatio – parodia. Aus der Sicht des Produzenten ist die Parodie häufig das letzte Mittel, um einen Gemeinplatz am Leben zu erhalten.“ [Herv. i. O.].
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nicht immer ‚nur‘ auf Kosten des aufgegriffenen Topos, sondern häufig in einem mindestens zweideutigen Sinn, so dass der Topos letztendlich ‚revitalisiert‘ wird.13 Im Rahmen dieser ‚Zweiseitigkeit‘ der Herrndorf’schen Parodie entsteht auch eine teilweise ‚Revitalisierung‘ von romantischen transzendierenden Perspektiven auf die Welt, die sich nicht in ein simples Realismuskonzept integrieren lassen. An mehreren Beispielen aus Herrndorfs Debütroman In Plüschgewittern soll diese These nun plausibel gemacht werden.
3. In Plüschgewittern In diesem Roman trennt sich der etwa 30jährige Ich-Erzähler zu Beginn der Geschichte auf einer Autobahnraststätte bei Würzburg von seiner Freundin Erika, begibt sich dann auf einen Abstecher zu seinem intellektuell etwas dürftigen Bruder und zu seiner im Sterben liegenden Großmutter in der Nähe von Hamburg und von dort aus nach Berlin. In Berlin trifft er seinen exzentrischen Freund Desmond, der ihn mit Leuten bekannt macht – unter anderem mit der interessanten Ines Neisecke. Herrndorf hat diese Figur folgendermaßen beschrieben: „Ines ist eine Frau von unklarer Herkunft, hoher Moral und bestechender Intelligenz, in die der Held sich verliebt, erfolglos und mit den handelsüblichen Konsequenzen.“14 Ines erwidert die Liebe des Erzählers nicht. An einem heißen Sommertag nimmt sie ihn schließlich mit zu sich aufs Zimmer und schläft mit ihm; jedoch auf eine Weise, die dem Helden klar macht, dass er sich verrannt hat. Er irrt anschließend mit interessanten Zwischenstopps durch das nächtliche Berlin und tritt am nächsten Tag als Tramper die Heimreise an. Dabei trifft er auf seinen alten Jugendfreund Malte Lipschitz. Der Er13 Vgl. zu dieser Funktion der Parodie SPIES, 2013, S. 446: „Die Parodie gibt ein Missfallen an einem Text kund, und das in einer Form, die auf ein einverständiges Goutieren des neuen Textes hinausläuft. Dieser inszeniert seine – sprachliche, daher auch inhaltliche – Überlegenheit über die nachgeahmte und durch die Form der Nachahmung zur Entgleisung gebrachte Vorlage. So fungiert die der Parodie immanente Kritik als Vorstufe einer neuen ästhetischen Vereinnahmung. In diesem Verfahren lässt die Parodie dem Rezipienten alle Freiheit, ihre Negationen weniger ernst zu nehmen als der Parodist oder sie gleich als Zwischenschritt einer neuen Annäherung zu verwenden, der die Parodie dann nur das Terrain bereitet hat. Im zweiten Fall wird die Kritik als Vorbehalt genommen, dem durch die Parodie Rechnung getragen ist, so dass die affirmative Beschäftigung wieder als unschuldig erscheint.“ 14 FLOR/HERRNDORF, [o. J.].
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zähler steigt aus und beendet seine Erzählung im Straßengraben liegend. Der Roman endet mit einem daran anschließenden Passus, der eine psychologische Analyse des Ich-Erzählers durch dessen Bruder Volker enthält. 3.1 Parodie von Adoleszenzerzählungen Herrndorf greift nicht nur Muster der kinematographischen , sondern auch solche der literarischen Heldenreise auf, die insbesondere im Adoleszenzroman amerikanischer Prägung zu finden ist. In den Plüschgewittern jedenfalls durchläuft der Ich-Erzähler eine Reihe von Situationen, die er selbst anscheinend als Bestandteile einer solchen Reise verstanden wissen will. Typischerweise bewältigt der adoleszente Held dabei mehrere Prüfungen, die mit einer finalen Prüfung und der anschließenden Initiation in das Erwachsenenleben enden.15 Der Protagonist der Plüschgewitter greift dieses Bau-Muster auf, erfüllt es aber durch einige Abänderungen, die eine komische Diskrepanz zum Original entstehen lassen und es dadurch als Parodie wirken lassen. Die Erzählung endet nach einer Reihe von Misserfolgen mit einer sehr plötzlichen Konfrontation des Erzählers mit seinem engen Jugendfreund Malte. Dieser scheint jenen aber nicht zu erkennen und versucht, ihn während einer Autobahnfahrt sexuell zu nötigen. Nachdem der Erzähler sich von dem jäh aufgetauchten Malte getrennt hat und aus dessen Transporter geflohen ist, rutscht er eine Autobahnböschung hinab. Er leitet dann das Ende seiner Erzählung mit den Worten ein, er habe „auf einmal wieder: dieses Gefühl, das ich so lange schon nicht mehr hatte, dieses angenehme, warme und sichere Gefühl, dass ich nicht allein bin. Dass alles in Ordnung ist. Dass man mich nicht vergessen hat. This is Ripley, last survivor of the Nostromo, signing off.“16 Der Erzähler macht durch die Anspielung auf den Film Alien deutlich, dass er seit langer Zeit wieder ein Gefühl innerer Ruhe spürt und dass eine Handlung ihren logischen Abschluss gefunden hat. Das plötzliche und sehr zufällige Erscheinen Maltes macht aber einen stark konstruierten Eindruck und hierauf zielt das parodistische Verfahren der Erzählung auch ab; nur das Ideal der Jugendfreundschaft mit Malte soll – so eine Interpretation, die durch diesen Schluss nahegelegt wird – die unbestimmte, romantische Sehnsucht des Helden und seine Helden- oder Initiationsreise quer durch Deutschland motiviert haben. Indem der Erzähler sich von dem Phantom Malte trennt, beendet er seine Adoleszenzreise. Der Adoleszenz15 Vgl. dazu detailliert FREESE, 1971, S. 168-174. 16 HERRNDORF, 2008, S. 173.
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roman wird vom Ich-Erzähler klassisch zu Ende geführt, aber auf eine Weise, die die Formelhaftigkeit der Einlösung thematisiert und kenntlich macht. Das aber lässt die Konstruktion als fragwürdig erscheinen; denn Malte erscheint nach Auskunft des Erzählers als „Wissenschaftler, der zu oft ins Fitness-Studio“ gehe, mit „schütterem Haar“.17 Dadurch wiederum erinnert er an ein filmisches Konstrukt, das vom Regisseur Takashi Miike in seinem Film Ichi the Killer verwendet wurde, um die Genremechanismen von Actionfilmen und Gewaltdarstellungen vorzuführen: Miikes Protagonist Jijii hat das Aussehen eines etwas älteren Wissenschaftlers, trägt stets einen Mantel und wirft diesen in einer der letzten Einstellungen des Films von sich. Dadurch enthüllt er plötzlich den hochmuskulösen Körper eines Bodybuilders. Bei Miike hat er die Funktion eines psychologischen Manipulators, der die Gewaltexzesse der Figur Ichi auslöst, indem er diesen hypnotisiert und durch fingierte KindheitsErlebnisse beeinflusst: „Thanks to Jijiis Manipulation, he [Ichi] becomes a perversion of the hero figure.“18 Jijii ist eine Figur, deren Herkunft und Motivation ungeklärt bleiben; sie hat lediglich geradezu gottartige Macht und ist die Strippenzieherin hinter der gesamten Handlung – einer Handlung, die letztendlich von Takashi Miike gezeigt wird, um die Konstruktion filmischer Genreregeln vorzuführen. Herrndorf gelingt Ähnliches durch die rhetorische Übersteigerung literarischer Sinn- und Konstruktionsvorgaben. Herrndorf greift darüber hinaus häufig Topoi auf, die auf J. D. Salinger zurückzuführen sind. Diesen hat er in seinem Weblog Arbeit und Struktur als wichtigen Einfluss genannt19 und tatsächlich finden sich Motive Salingers – vor allem aus dessen Kurzgeschichtensammlung ine Stories – überall in den Plüschgewittern. Sie dienen bei Herrndorf (nicht immer in ihrem ursprünglichen Kontext) vor allem dazu, einer Stimmung der Verlassenheit Ausdruck zu verleihen sowie einem nachvollziehbaren adoleszenztypischen Misstrauen gegenüber den sozialen Normen und dem Alltag derjenigen Gesellschaft, in die adoleszente Menschen gerade hineinwachsen. Als Beispiel sei ein Motiv aus Salingers berühmter Geschichte Ein herrlicher Tag für Bananenfisch angeführt, dass von Herrndorf aufgegriffen und gleichzeitig parodiert wird: In Salingers short story ist Seymour Glass, ein ehemaliger Soldat, mit der jungen Frau Muriel verheiratet. Er verhält sich in einigen Alltagssituationen nicht so, wie die Eltern Muriels es als ‚normal‘ empfinden, weswegen diese sich nun 17 EBD., S. 167. 18 MES, 2003, S. 235. 19 HERRNDORF, 2013, S. 44.
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um ihre Tochter sorgen. Muriel, die mit Seymour einen Urlaub am Meer verbringt, führt folgendes Telefonat mit ihrer Mutter: „Er fuhr? Muriel, du hattest mir dein Ehrenwo...“ „Mutter“, unterbrach sie die junge Frau, „ich sagte es dir gerade. Er fuhr sehr gut. Unter fünfzig die ganze Strecke, wenn duʼs wissen willst.“ „Wollte er wieder so seltsame Geschichten mit den Bäumen machen?“ „Ich sagte dir, Mutter, daß er sehr gut fuhr. Glaube es bitte! Ich bat ihn, sich immer an den weißen Strich zu halten und so weiter, und er wußte, was ich meinte, und er tatʼs auch. Er versuchte sogar, nicht zu den Bäumen hinzuschauen – das merkte man. Hat Daddy übrigens den Wagen ausbessern lassen?“20
Herrndorfs Ich-Erzähler wiederum erwähnt einmal: Als ich mit meiner großen Liebe, mit Anja Gabler, Auto gefahren bin, also ganz am Anfang, da gab es eine Allee, durch die wir immer mussten. Und ich habe immer auf diese Bäume gestarrt, weil ich dachte: Diesen nehme ich, nein, den nächsten, den übernächsten. Anja hat mich gefragt, was mit mir los sei, ob sie lieber fahren solle. Da hatte ich den Führerschein noch nicht lang, und es ist nicht weiter aufgefallen.21
Während Salingers Geschichte mit dem Selbstmord Seymours endet, bemüht sich der Erzähler Herrndorfs zwar sichtlich darum, das Grundgefühl aus Salingers Geschichten heraufzubeschwören – ein solches des Unbehagens in einer oberflächlichen und verständnislosen Gesellschaft. Es entsteht aber durch den narrativen Eigensinn des Erzählers eine auffällige Diskrepanz zu den Originalstellen, die die Resultate dieses Bemühens zu Parodien macht. Einen Rückschlag in seinen Anstrengungen, eine Liebesbeziehung mit Anja Gabler zu beginnen, stellt der Erzähler folgendermaßen dar: Ich schwankte hinaus auf den Mittelstufenschulhof, warf die Bierflasche in hohem Bogen weg und wartete vergeblich auf ein Aufschlaggeräusch. Ich suchte den Polarstern am Himmel, konnte ihn aber nicht finden, und fiel rückwärts in die Hagebuttensträucher. Unter meinem Rücken spürte ich einen harten, runden 20 SALINGER, 2005, S. 10f. [Herv. i. O.]. 21 HERRNDORF, 2008, S. 117.
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Funktionen der Parodie bei Herrndorf Gegenstand. Ich dachte, das ist ein Tennisball, und wie schön es wäre, wenn ich jetzt ein paar von den Tennisbällen wiederfinden könnte, die wir hier im Laufe der Jahre druntergeschossen hatten, aber es war nun ein Stein.22
Die Bemühungen des Erzählers, narrativen Topoi amourösen Scheiterns zu entsprechen – und sei es nur demjenigen, dass dieses Scheitern besonders verheerend und niederschmetternd zu sein hat – bewirken nicht den gewünschten Effekt. Vielmehr wird steigerungskomischer Slapstick daraus, die Parodie einer Adoleszenzkrise. Zu einer Albernheit gerät die zweite große amouröse Krise des Erzählers, die sich aus seiner Annäherung an Ines Neisecke ergibt. Der Erzähler folgt ihr an einem heißen Nachmittag in ihre Wohnung, um mit ihr zu schlafen. Der Sex mit Ines fällt jedoch deutlich anders aus als erwartet: Während er gefesselt auf dem Fußboden liegt, sitzt Ines auf ihm und liest ihm aus Alexander Solschenizyns Archipel Gulag vor: „Ines liest die Stelle vor, wo die Gefangenen an der Heizung stehen, wie ihnen die Nadeln unter die Augen gebohrt werden und was dann passiert. Ich versuche mich zur Seite zu drehen, aber Ines presst meinen Kopf mit einer Hand auf den Boden.“23 Später sitzt der Erzähler zerknirscht auf dem Balkon und sieht zu, wie an seinem Bademantel „zwischen zwei Weihnachtsmännern der Frotteestoff sich rot färbt“.24 Während Ines ihren Sadismus am Erzähler ausgelebt hat, erlebt dieser eine Art von brutaler erotischer Desillusionierung – beides wirkt jedoch übertrieben. Und erneut wird der Konstruktcharakter der Szene durch eine Takashi Miike-Referenz ausgestellt – diesmal auf dessen Film Audition. Miikes Film schwingt nach einer langen und ruhigen Exposition in den letzten Minuten in eine verheerende Katastrophe um: Ein Geschäftsmann und Witwer hat ein Schauspielerinnen-Casting vorgetäuscht, um eine neue Frau zu finden. Er verliebt sich tatsächlich in eine der Bewerberinnen und beide ziehen scheinbar glücklich zusammen, bevor dieselbe unvermittelt beginnt, ihn zu quälen. Dafür fesselt sie ihn mit Metallschnallen an den Fußboden und sticht ihm zudem in einer Fassung des Films mit Akupunkturnadeln unter die Augäpfel. Während die Katastrophe bei Miike unerklärlich und schrecklich bleibt, erscheint sie bei Herrndorf weder unerklärlich noch als besonders schrecklich, denn der Erzähler hatte zuvor mehrere Andeutungen von Ines aus dem Wind geschlagen, und die Punktur durch Na22 EBD., S. 44. 23 HERRNDORF, 2008, S. 124. 24 EBD., S. 125.
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deln wird bloß ‚literarisch‘ vermittelt. Die Liebeskrise des Erzählers ist also erneut zu einer Parodie geraten. 3.2 Parodie romantischer Fantasie Seit seiner Kindheit wähnt sich der Erzähler in einen größeren, schicksalhaften Plan integriert. Immer wieder sucht er Zahlenkombinationen, die ihm zu Chiffren für historische Ereignisse werden: „01:17 Uhr: Größte Ausdehnung des Römischen Reiches unter Trajan.“25 „06:22 Uhr. Die Hedschra.“26 „14,90 DM. Maximilian I. vertreibt die Ungarn aus Niederösterreich.“27 „1258, Sturz des Abassidenkalifats.“28 (Dabei handelt es sich um die Nummern der Leuchtdioden von Inesʼ Modem, die der Erzähler beobachtet, während er gefesselt auf ihrem Boden liegt.) Wie ein Leitmotiv strukturieren diese Assoziationen die Geschichte, die der Erzähler zum Besten gibt. Nimmt man klassischerweise an, dass Leitmotive Mittel sind, um der „inneren Gesamtheit“ eines Romans „in jedem Augenblick Präsenz zu verleihen“,29 dann handelt es sich bei den Plüschgewittern um die Suche nach einer historischen Bestimmung. Allerdings sind die Plüschgewitter das Produkt eines nicht sehr vertrauenswürdigen IchErzählers, und so erscheinen die Zahlenspiele desselben zunehmend als idiosynkratische Entgleisungen. Sie werden, mit anderen Worten, zu Parodien einer recht romantischen Fantasie. Der Roman arbeitet der Intention des Erzählers entgegen; seine innere Gesamtheit entspricht eher einer Beobachtung des Autors, welcher einmal festgestellt hat, dass die Realität „entgegen anderslautenden Meldungen überhaupt nicht romanhaft organisiert ist“30 und keine Totalität oder strukturierte Gesamtheit ausmacht.31 Den „romantischen Einsamkeitsblick“32 und die „nüchterne Romantik“33, die man bei Herrndorf beobachtet hat, wird also ‚realistisch‘ gebrochen und parodiert. Beispielhaft für eine Fantasie, die hinter ihrem romantischen Vorbild 25 26 27 28 29 30 31
EBD., S. 26. EBD., S. 58. EBD., S. 72. EBD., S. 124. MANN, 1974, S. 603. HERRNDORF u. a., 2007, S. 135. Vgl. für eine Parodie des Leitmotivs auch Herrndorfs Kurzgeschichte Die Blume von Tsing-Tao in der Sammlung Diesseits des Van Allen-Gürtels. 32 SEIBT, 2003, S. 14. 33 LÜDKE, 2007, S. 12f.
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komisch zurückbleibt, kann auch folgender Gedankengang des Erzählers stehen: Kurz vor seiner Abreise von Volker und Marit steht er an der Bushaltestelle und stilisiert die Natur zu einer magischen Gegenwelt zum kleinbürgerlichen Provinzspießertum, das er hinter sich zu lassen meint: Unten lege ich einen Zettel hin, und dann laufe ich in Richtung Bushaltestelle, an dreißig Quadratmeter großen Vorgärten vorbei, in denen Gegensprechanlagen stehen. Der erste Bus fährt noch nicht. Ich setze mich in das Wartehäuschen auf einen der orangen Plastikschalensitze und schaue über die Wiesen und Felder, die rechts neben der Siedlung im Nebel verschwinden. Es kommt nicht oft vor, dass ich Felder sehe, außer beim Auto- oder Zugfahren, und ich bin unangenehm beeindruckt. Ich meine, ich kann auf die Natur gut verzichten. Aber ab und zu beruhigt es mich doch, dass es sie noch gibt, da draußen. Eine seltsame Parallelwelt, von der man nicht viel weiß. Ein paar Felder, absurde Tiere im Nebel – „Wollen Sie jetzt mit oder nicht?“, fragt der Busfahrer durch die offene Tür.34
Die lapidare Nachfrage des Busfahrers offenbart die Ästhetisierungen des Erzählers als sehr eigensinnige Projektionen. Dennoch wird dem Leser weder an dieser noch an irgendeiner anderen Stelle signalisiert, der Erzähler und dessen Bewusstseinsinhalte fungierten bloß noch als Verlachobjekte. Die Parodie Herrndorfs öffnet einen ‚Graubereich‘, in dem es dem Leser ermöglicht wird, mit den komischen Entgleisungen des Erzählers zu sympathisieren. Hinter der komischen simulatio der Topoi des Erzählers verbirgt sich die dissimulatio eines Abhängigkeitsverhältnisses von denselben: Nur deshalb greift Herrndorf die literarischen Muster parodierend auf, weil es ihm auf anderem Wege nicht mehr glaubwürdig gelingen würde, sie zu „revitalisieren“.35 Mit anderen Worten leistet er den Inhalten, die er parodiert, einen großen Dienst: Er hält sie im Gespräch. 3.3 Spießerkritik Der Erzähler macht zuerst bei Volker und dessen Frau Marit Stopp. Die Situation zwischen den dreien ist bis zum Zerreißen gespannt, was auch an den klischeeartigen Zuschreibungen des Erzählers liegt, der von den aufgezählten 34 HERRNDORF, 2008, S. 58. 35 PLETT, 2000, S. 232f.
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‚Insignien‘ der bürgerlichen Spießigkeit der beiden auf ein vollkommen verödetes Leben schließt. Der Erzähler berichtet maliziös von Tischbesteck und einer „violette[n] Kerze“36, „dreißig Quadratmeter großen Vorgärten“, „in denen Gegensprechanlagen stehen“37, und einem „Maschendrahtzaun“38, in den Volker vor kurzem eine „Pforte hatte einbauen lassen“39. Der Eindruck wird abgerundet durch „gesteppte Morgenmäntel, er rosa, sie blau“40 und die bissige Bemerkung, die beiden sähen als Paar „ziemlich attraktiv aus, wie eine Joghurtreklame. Marit hat große Augen, dickes blondes Haar, und sie lächelt. Sie lächelt immer, auch wenn sie nicht lächelt.“41 Volker und Marit kommen in der Darstellung des Erzählers nur als karikierte Typen provinzieller Spießbürgerlichkeit vor, die umgehend mit weiteren klassischen Attributen ausgestattet wird – vor allem einer ausgeprägten Sexualfeindlichkeit. Sein Verhältnis zu Marit ist auch dadurch belastet, dass er mehrere erotische Gedichte Rilkes vortrug. Marit hat daraufhin nämlich nicht anders reagieren können, als die entsprechenden Seiten aus dem Band ihres Lieblingsdichters mit einer Rasierklinge herauszuschneiden. Der Erzähler, der diese Reaktion vorausgesehen hat, hat während seines Vortrages „bei jeder Assonanz Brechgeräusche gemacht wie ein Dreizehnjähriger“.42 Hinter der Aversion des Erzählers steckt jedoch auch eine paranoide Wahnvorstellung: In banalsten Ereignissen erkennt er Anfeindungen oder Missbilligungen seiner Person durch Volker und Marit: „Als ich im Bett liege, kann ich im Flur die Stimmen von Marit und Volker hören. Wahrscheinlich diskutieren sie gerade die Frage, ob es eine gute Idee war, mir für morgen das Auto zu leihen. Man muss Vertrauen haben, sagt Marit bestimmt. Und mein Bruder nickt.“43 Jedoch plagen ihn Zweifel, wie Marit wirklich einzuschätzen ist: […] und ich denke, das kann sie wirklich perfekt: verbergen, dass sie mich hasst. Aber dann denke ich, ob ich mich nicht vielleicht irre. Vielleicht bilde ich mir das alles nur ein? Ich kann so etwas immer ganz schwer beurteilen. Wenn Marit nicht ständig diesen Ausdruck im Gesicht hätte, dieses Leuchten von in-
36 37 38 39 40 41 42 43
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HERRNDORF, 2008, S. 20. EBD., S. 58. EBD., S. 20. EBD., S. 177. EBD., S. 48. EBD., S. 18. EBD., S. 22. EBD., S. 25.
Funktionen der Parodie bei Herrndorf nen, würde ich sie vermutlich auch noch attraktiv finden. Nicht so attraktiv wie mein Bruder sie findet, natürlich, der sich ja an sie quetscht, als gäbʼs kein Morgen mehr. Aber schon irgendwie attraktiv.44
Der aufmerksame Leser muss mit sich selbst ausmachen, bis zu welchem Grad die polemisierende Darstellung des Erzählers Ausdruck der paranoiden Furcht davor ist, Marit eigentlich zu begehren. Doch bereits die simulierten Brechgeräusche während des Rilke-Vortrags lassen Zweifel an der Integrität des Erzählers aufkommen; sein Verhalten erscheint als eine durchaus überzogene Variante jener „Schnoddrigkeit“45 oder auch „Ideologiebildung“46, die bei adoleszenten Menschen im Rahmen der Wunschverteidigung zu beobachten ist. So entsteht erneut die bereits erwähnte ‚Zweiseitigkeit‘ der Herrndorf’schen Parodie. Über den Umweg der Parodie bereitet der Autor „einer neuen Annäherung“47 an diverse Topoi den Boden. Eine Besonderheit stellt in dieser Hinsicht das letzte Kapitel der Plüschgewitter dar. Es besteht nämlich aus einer Reflexion über den Erzähler, die nicht dieser selbst verfasst hat, sondern sein Bruder Volker. Dabei handelt es sich nicht um eine Parodie, aber dennoch um das Zitat eines anderen Textes: Neben Die Leiden des jungen Werthers von Goethe kommt vor allem Lolita von Nabokov in Frage. In Goethes Adoleszenzroman48 meldet sich der fiktive Herausgeber des Buches mit einem Bericht zu Wort, der neben Werthers Briefen notwendig blass erscheint. Die Motive Werthers kann dieser Bericht daher auch nur unzureichend erfassen. Lässt man beiseite, dass auch der Werther ein Adoleszenzroman ist, frappieren die Übereinstimmungen zu Nabokovs Roman jedoch mehr: Am Beginn von Lolita steht ein Gutachten des Psychoanalytikers John Ray zum Ich-Erzähler Humbert. Der erklärte Verächter der Psychoanalyse Nabokov49 lässt John Ray darin peinlich grobschlächtig an den Ereignissen vorbei-räsonnieren: Die Passion Humberts erklärt John Ray kurzerhand zu einem pathologischen Zwang. Volker ist wie John Ray Psychologe, und genau
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EBD., S. 24. LANGE, 2013, S. 151. ERDHEIM, 1984, S. 323-325. Vgl. SPIES, 2013, S. 446. Goethes Werther gilt neben Anton Reiser als einer der frühesten deutschsprachigen Adoleszenzromane, da er auf gattungstypische Weise die Dialektik von juvenilem Aufbruch und historischer Wirklichkeit narrativiert. Vgl. etwa LANGE, 2013, S. 155 oder GANSEL, 2000, S. 368. 49 Vgl. APPEL/NABOKOV, 1967, S. 279.
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wie John Ray verfasst er eine psychoanalytische Reflexion: Volker bewertet die Biographie seines Bruders als Resultat eines irrationalen Verfolgungswahns und „pathologischen“ Fremdheitsgefühls und verfehlt die Ereignisse des Romans daher ebenso wie John Ray. Wie in Lolita gerät die separate psychoanalytische Analyse durch einen Außenstehenden in den Plüschgewittern zu einer Selbstentlarvung. Volker gibt gewissenhaft zu Protokoll: Geträumt: Standardalbtraum Hirsche.50 Wetter: Sonne, 14-17°, leichter Westwind.51
Während Volker seine Albträume als unverdächtige Normalität zu Protokoll gibt, verurteilt er das Verhalten seines Bruders scharf – wie John Ray fungiert er als hemdsärmeliger Agent einer vermeintlich gesunden Durchschnittlichkeit, die sich durch ihre inkompetenten Äußerungen aber gleichzeitig selbst bloßstellt. Wie bei Nabokov kann dieser Einschub als Plädoyer für das Abwegige und ‚Anormale‘ gedeutet werden – ein Plädoyer, das durch die Zweideutigkeit des parodierenden Verfahrens den gesamten Roman begleitet.
4. Weitere Erträge der Parodie Durch die am Beispiel Maltes bereits angesprochene Parodie des Schemas der Helden- oder auch Initiationsreise bleibt die Satire in den Plüschgewittern keine bloß ‚lokale‘, sondern sie bezieht sich auch auf das zugrundeliegende Gattungsschema des Adoleszenzromans. Dieser erzählt einerseits nach verbreiteter Auffassung von den Ereignissen im Zuge adoleszenter Identitätsbildung.52 Andererseits steckt darin notwendigerweise53 auch die Artikulation eines Urteils über die historische Gegenwart des adoleszenten Individuums, weswegen der Adoleszenzroman auch durch die ihm immanente „zeitdiagnostische Qualität“54 oder als „Generationenroman“55 bestimmt wurde. Ob die 50 51 52 53
In HERRNDORF, 2002, S. 211, heißt es noch: „Geträumt: –“ HERRNDORF, 2008, S. 176. [Herv. i. O.]. Vgl. GANSEL, 2004, S. 133. Notwendig schon deswegen, da es schlechthin keine Handlung gibt, die „nicht, in wie geringem Maße auch immer, Billigung oder Mißbilligung im Verhältnis zu einer Werthierarchie hervorriefe“ (RICŒUR 2007, S. 97). 54 WAGNER, 2007, S. 48f. 55 KREUZWIESER, 2005.
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Funktionen der Parodie bei Herrndorf
Gesellschaft für die individuellen Initiativen des adoleszenten Individuums empfänglich ist56 oder nicht – und wie diese Initiativen moralisch zu bewerten sind – wird im Adoleszenzroman Anlass zu einem Urteil über die Gesellschaft. Gegenstand desselben ist die am dargebotenen Adoleszenzverlauf deutlich gewordene historische Tendenz oder auch ‚Potenz‘ derjenigen Gesellschaft, in die das adoleszente Individuum hineinwächst. Auch in Herrndorfs Plüschgewittern wird ein derartiges Urteil sowohl über das initiative Individuum als auch über die ‚empfangende‘ Gesellschaft artikuliert. Das Besondere ist, dass dieses Urteil durch eine Parodie der adoleszenzimmanenten Initiativen zustande kommt: Kaum eine Äußerung des Ich-Erzählers trägt nicht Züge der Parodie oder Travestie eines literarischen oder filmischen Versatzstückes. Diese resultieren aus den stilistischen Anstrengungen des Ich-Erzählers, aus seiner Adoleszenz einen Adoleszenzroman zu schmieden. Diese Anstrengung wiederum erscheint in den Plüschgewittern als das komisch gewordene künstlerische Ringen um eine historische Initiative überhaupt, also als das Ringen um eine ‚Romantik‘, die die stumpf und intransigent gewordene Realität der Gegenwart transzendiert; die Parodie dieser Romantik macht andererseits den ‚Realismus‘ Herrndorfs aus. Das historische Urteil, das die Plüschgewitter artikulieren, ist ebenso zweiseitig wie die parodierte Initiative des adoleszenten Individuums: Während sie ohne die Herabsetzung der übernommenen Versatzstücke nicht auskommt, bleibt sie dennoch nicht bei dieser Herabsetzung stehen. Vielmehr nutzt sie dieselbe als Umweg, auf dem eine Revitalisierung beziehungsweise eine neuerliche Annäherung an die übernommenen Textbausteine zumindest als denkbar erscheint: Herrndorf verpasst im Medium des Adoleszenzromans verschiedenen Topoi der Liebe, der Rebellion und der Schwärmerei, die gealtert sind und dennoch geschätzt werden, sozusagen eine neue Politur, die ihre Zustimmungsfähigkeit erneuert.
56 Vgl. für eine Darstellung der historischen Triebkraft der Adoleszenz und die ihr immanente „Chance der Kulturerneuerung“ ERDHEIM, 1984, S. 299.
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Funktionen der Parodie bei Herrndorf
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Vom genius loci der Stiege Komik und Komödie in Heimito von Doderers Roman Die Strudlhofstiege YVONNE WOLF „Alles ist zugleich trivial und absolut wunderbar, und so muß es denn auch von diesen beiden Seiten erfaßt werden: das ist 1 die eigentliche Kunst des Romans.“
1. Einleitung: Komi k und Komödie Das Gärtchen glühte. Erst gegen Abend gaben die Obstbäume wirksamen Schatten. Alles wurde schließlich erreicht und aufgereiht von grüngoldenen Fingern über dem Rasen. Noch gab es Rosen. Der Abendtisch war im Freien gedeckt und man hatte die Empfindung als werde jetzt überall im Freien zur Nacht gegessen, aus allen Hausgärten tönten Stimmen. Auch zeitlich morgens betrat Paula jetzt gern dieses Becken voll rosiger Stille. Bis hierher ist Stangeler nie vorgedrungen, weder jetzt noch späterhin. Er war’s nicht wert, möchte man sagen, es war ihm nicht vergönnt, er wurde sozusagen nie reif dazu. Aber der Leutnant und spätere Major und noch spätere Amtsrat Melzer ist hier einmal
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DODERER, 1996b, Eintrag von 1953, S. 199.
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gesessen, hat mit Paula und ihrem Manne geplaudert und das strampelnde Kind auf den Knien gehalten.2
Dieser Garten, der zu einem „kleinen Häuschen“ in „Liechtenthal“3 gehört, ist das Zuhause von Paula Schachl, der ‚Dryade‘4 des Alsergrundes, als deren ‚Heiligtum‘ der Erzähler des Romans Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre die titelgebende Wiener Treppenanlage bezeichnet. Für jemanden von außerhalb wie die Hauptfigur Melzer führt der Weg über den ‚Umweg‘ der Stiege5 zu diesem Ort des ungetrübten einfachen Lebensglückes. Er bildet gewissermaßen den ‚Wesenskern‘ des Alsergrundes und damit jener Welt, die sich nur solchen Fremden öffnet, die den Prozess der „Menschwerdung“6 durchlaufen haben (d. h. der Überwindung der charakterlichen Beschränktheiten und der Weiterentwicklung zur ‚Person‘). Deutlich sind die religiösen Anspielungen: Haus und Garten liegen „unweit der alten Pfarrkirche“,7 Paula mit Mann und Kind entsprechen der Heiligen Familie. Zum Kreis Paulas gehört die junge Thea Rokitzer, in deren Vorname der Bezug zum Göttlichen erkennbar wird und der häufig die Antonomasie „Lämmlein“8 beigegeben wird. Das kleine Stückchen Grün wurde offensichtlich als ein irdisches Abbild des Garten Eden konzipiert, ein Paradiesgärtlein, in dem gemäß der Vorstellungen des selbsternannten „Thomisten“ Doderer die „analogia entis“,
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Doderers Strudlhofstiege wird im Folgenden mit der Sigle DS und der Seitenzahl zitiert, hier DS, S. 225. Beide Zitate EBD., S. 215. Vgl. EBD., S. 210 u. ö. Zur Funktion des idyllischen Gartens bereits WEBER, 1963, S. 117; zum Alsergrund knapp EBD., S. 107f.; zur Stiege als für Doderer so wichtigen „Umweg“ und damit „Symbol und Prinzip des Lebens“ EBD., S. 120-123, Zitate EBD., S. 120. In den Tangenten findet sich ein Eintrag vom 20. Juni 1945 (DODERER, 1964, S. 336), in dem Doderer einen kleinen Garten, der analog zum Garten Paula Schachls beschrieben wird, als „ein heil gebliebenes Becken voll Stille“ und als „Nabel der Welt“ (beide Zitate EBD.) bezeichnet. Garten und Stiege stehen in ihrer Bedeutung als Orte erhöhter Wirklichkeit in engem Zusammenhang. Zur besonderen Bedeutung des Alsergrundes für Doderer PFEIFFER, 1983. Siehe zu diesem ganz zentralen Begriff Doderers einführend LÖFFLER, 2001, S. 253-255; zudem WEBER, 1963, S. 32-37, zur Menschwerdung Melzers in der Strudlhofstiege EBD., S. 88-93. DS, S. 215. „Lämmlein“ Thea z. B. DS, S. 852. SOMMER, 1994, S. 158, geht noch weiter, entschlüsselt den Namen ‚Thea Rokitzer‘ als „‚Kitz von Gott‘“ und stellt einen Bezug her zum „Lamm Gottes in der Herde“ (EBD.).
Komik und Komödie in Heimito von Doderers Die Strudlhofstiege
das Aufscheinen des Göttlichen im Diesseits, spürbar wird.9 Hier an diesem Ort wird der Roman nach gelungener Menschwerdung seines Titelhelden ein paar hundert Seiten später mit einem märchenhaften Happy End im Sonnenschein und einer Glücksdefinition schließen. Das klingt zunächst eher ‚trivial‘ oder vielleicht auch ‚wunderbar‘, nicht jedoch komisch; so ist Die Strudlhofstiege zwar ein heller und lichter Roman, ein Roman des Spätsommers10 und des Beziehungsglücks, man würde ihn aber trotz des guten Endes mit seiner ernsthaften Thematik und der vordergründig realistischen Anlage nicht als komischen Roman klassifizieren oder als typisches Beispiel für Komik bei Doderer heranziehen wollen. Doderers hierfür einschlägigere Werke, wie z. B. der Roman Die Merowinger, sind von einem Hang zum Grotesken und einer den Inhalt teilweise überwuchernden manieriert-skurrilen sprachlichen Komik geprägt. Es überwiegt eine aggressive, ironische und mitunter satirisch-karikaturistisch überzeichnende Verlachkomik. Nichtsdestoweniger zeichnet sich auch Die Strudlhofstiege in mehrfacher Hinsicht durch ihre Komik aus. Doderers Erzählwelten sind über solche extremen Beispiele wie Die Merowinger hinaus von zahlreichen lächerlichen Figuren bevölkert. Ihre Lächerlichkeit resultiert hierbei aus ihrer charakterlichen Determinierung und dadurch bedingten Befangenheit in einer ‚zweiten Wirklichkeit‘, die in ihrer Qualität als Pseudowirklichkeit verkannt wird. Nur die wenigsten können sich aus ihrer Deperzeptivität befreien und zur Menschwerdung, zur Selbsterkenntnis und einer Einheit von Selbst und Welt, gelangen. Darüber hinaus ist es auffällig, dass bei Doderer Wirklichkeit nicht ohne Lächerlichkeit und Komik möglich zu sein scheint. So idyllisch das Paradiesgärtlein der Paula Schachl gezeichnet wird, so offensichtlich handelt es sich gleichzeitig auch um eine Parodie, wenn der Garten vom Erzähler am Tag von Melzers und Theas fröhlich-heiterem „Rosenkranzfest“ nicht nur als „süße Gondel“, sondern im gleichen Atemzug auch als „Hochzeits-Kutsche von einem Karussell des Wiener Wurstl-Praters“ bezeichnet wird.11 In der Realität der Romanwirklichkeit ist nur ein irdisch verkleinertes Abbild des Garten Eden möglich. Auch der dort versammelte Personenkreis mag zu einem himmlischen Paradies nicht so recht
9 DODERER, 1996a, S. 167. 10 S. hierzu auch LÖFFLER, 2001, S. 74, der Die Strudlhofstiege als „Roman des Sommers“ bezeichnet, da die „Kraft- und Ereigniszentren des Romans […] insgesamt die Spätsommer der Jahre 1911, 1923 und 1925 [sind]“. 11 Zitate DS, S. 908.
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passen: Der Amtsrat Julius Zihal12 mit den überzogenen Manierismen seines barocken Dekors, früherer Mieter im Schachl-Häuschen und immer noch gern gesehener Gast, frönt als Hauptfigur des komisch-grotesken Romans Die erleuchteten Fenster einem exzessiven Voyeurismus, und die zwar attraktive und charakterlich gutartige Braut Thea Rokitzer ist geradezu von einer sprichwörtlichen ‚heiligen Einfalt‘13 und ohne die Ratschläge ihrer klugen Freundin Paula völlig lebensuntüchtig. Der Erzähler kommentiert Theas Äußerungen als „eines Lämmleins Blöken“ und steigert diese Charakterisierung häufig durch den lautmalerischen und komisch-ironisierenden Zusatz „Bäh bäh!“.14 Eigentlich eher ernsthafte oder sentimentale Situationen und die metaphorische Anspielung auf die Menschwerdungsthematik sowie den christlich-thomistischen Deutungszusammenhang werden auf diese Weise – ein typisches Verfahren für Doderers Sprachkomik in der Strudlhofstiege – durch einen Stilbruch des Erzählers ins Komische gedreht.15 Darüber hinaus reflektiert und begründet der Erzähler die Wahl seines „happy-end“16, wie er seinen Schluss selbst nennt, ausdrücklich. Dabei ironisiert er zum einen das glückliche Ende, indem er es als „Leere“ bezeichnet und als „Stille einer Schießbude, wenn nach dem Treffer das Geklingel und das Gezappel von Figuren und das Ratschen der ausgelösten Musik-Automaten aufgehört hat“17; zum andern wird die erzählte Geschichte von ihm in diesem Zusammenhang als „Roman[-]“ und „Manuskript“ in ihrem Kunstwerkcharakter thematisiert und durch die damit einhergehende Illusionsdurchbrechung entwirklicht.18 Langatmigkeit, unpassende Vergleiche,19 stilistische Umständlichkeiten und das Spiel mit Parenthesen20 färben diese Ausführungen zudem sprachlich humoristisch-komisch ein. Eine deutliche Komik prägt über das 12 EBD., S. 216. 13 S. EBD., S. 364f., hier 365: „Thea Rokitzer war viel mehr als ‚dumm‘ […]. Man könnte jedoch von Thea auch behaupten: sie war viel weniger als dumm. Denn ihr fehlte zur Dummheit […] die Frechheit und Bösartigkeit […]. Man wird demnach sagen: einfältig.“ 14 EBD., S. 385; EBD., S. 736: „Theas St. Valentiner Aktion (Bäh, bäh!)“ u. ö. 15 So z. B. der Heiratsantrag Melzers: „In Minute 3 nach dem ersten Kuß fragte er, ob sie seine Frau werden wolle. Oh, oh! Bäh, Bäh!“ (EBD., S. 856). 16 EBD., S. 908. 17 EBD. 18 EBD., S. 907f. 19 Z. B. „Ölend“ statt ‚Roman‘, „Stille in der Schießbude“ für das Romanende, die Bezeichnung „Gemeinheiten“ (alle Zitate EBD., S. 908) für die metanarrativen Überlegungen des Erzählers zum glücklichen Ende. 20 Z. B. EBD., S. 907: „(m. E. u. a. U.)“; zur Parenthese s. SCHMIDT-DENGLER, 1998.
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Skizzierte hinaus den gesamten Erzählerdiskurs der Strudlhofstiege.21 Ob Paradiesvorstellung, Verlobung, Hochzeit oder involvierte Figuren – der kauzige Erzähler der Strudlhofstiege kann seine Geschichte offensichtlich nur komisch gebrochen vermitteln. Im Folgenden wird zudem ein Blick auf die Inhaltsseite der Strudlhofstiege zeigen, dass sie, obwohl kein dezidiert komischer Roman, im Kern der Komödie nahesteht.22 Ich möchte dazu auf der Basis eines inkongruenztheoretischen Komikverständnisses und orientiert an den Gattungskonventionen der Komödie Die Strudlhofstiege auf ihre diesbezüglichen Elemente hin untersuchen. Besonderes Augenmerk gilt zum einen dem Spiel-im-Spiel-Aspekt mit der für Doderer spezifischen Vorliebe für das den bühnenhaften Moment pointierende Verharren im Tableau;23 zum anderen werde ich mich auf das gute Ende kon21 Eine ganz entscheidende Ursache für den speziellen Reiz von Doderers Werken liegt in ihrer Verbindung von Sprachkomik, Ironie und Metaphorik; vgl. hierzu die Arbeiten von ZIRNBAUER, 2009, besonders S. 120 u. 150, zu Doderers Roman Die erleuchteten Fenster und HELMSTETTER, 1995. 22 Siehe den Verweis Helmstetters auf Doderers Tangenten. Darin „spricht Doderer einmal auch von seinem ‚innere[n] Parlament oder Theater‘ […]“ (HELMSTETTER, 1995, S. 309, Anm. 186). Helmstetter zitiert hier einen Eintrag Doderers vom 26. September 1944, der sich auf die Dämonen bezieht (DODERER, 1964, S. 239), und weist an anderer Stelle (HELMSTETTER, 1995, S. 309) auf Affinitäten der Strudlhofstiege (u. a.) zur Komödie hin. Helmstetter geht dabei soweit, eine Analogie zur menippeischen Satire (EBD., S. 310f.) herzustellen. Ebenso wie bei der Analogie zum Emblem (EBD., S. 238) steht dieser anregenden These letztlich der große Textumfang des Doderer-Romans doch eher entgegen. Schon angesichts des die Zügel so deutlich in der Hand haltenden und den gesamten Erzähldiskurs stark färbenden einzelnen Erzählers ist von einem karnevalistischen, polyphonen Roman im Sinne Bachtins bei der Strudlhofstiege nur bedingt auszugehen. Helmstetter ist daher auch entsprechend vorsichtig und spricht von einer „Karnevalisierung“ hauptsächlich über die Sprache (EBD., S. 311). Bei Doderers Gattungsvorstellungen von Komödie und Tragödie kann von einem konservativ-klassischen Verständnis, orientiert an den Konventionen des 19. Jahrhunderts, ausgegangen werden. Darüber hinaus sind, wie für österreichische Autoren nicht ungewöhnlich, Beeinflussungen durch die Wiener Volksstücktradition und die Operette festzustellen. 23 Das Erzählverfahren einer extremen Verlangsamung des Diskurses und einer damit verbundenen hochgradigen Ästhetisierung und metaphorischen Aufladung kommt in der Strudlhofstiege wie auch den Dämonen zum Einsatz. Es handelt sich um eine für Doderer typische und grundlegende Strategie. Düsing erläutert Doderers Verfahrensweise in dessen Tagebüchern. Die dortigen Aufzeichnungen konzentrierten sich um „Erinnerungsbilder“ (DÜSING, 1982, S. 192), wobei sich Doderer „zunächst nur um ein möglichst getreues Erfassen der Bilder“ (EBD., S. 193) bemühe. In der Strudlhofstiege basiere dann die „Erzählform der Erinnerungstechnik“ auf „einer im Medium spontan reproduzierter Bilder sich vollziehenden Aus-
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zentrieren. Beide Aspekte sind im Allgemeinen in Komödien von besonderer Bedeutung.24 Im Fokus der Betrachtung sollen dabei die zwei wichtigsten sowie vordergründig ernsthaften und negativen Ereignisse der Strudlhofstiege stehen: der Skandal auf der Stiege vom 23. August 1911 und der Straßenbahnunfall Mary K.s am 21. September 1925. Der dabei unvermeidliche Blick auf die Metaphorik wird diese im Verlauf der Untersuchung zum einen als besonderen Quell der Komik und zum anderen gerade in der Inkongruenz, im Bruch der Bilder, auch als Trägerin von Doderers ernstgemeinter Aussageabsicht erweisen. Gegen Ende soll die Kontrastierung der beiden eng zusammengehö-
einandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, die für Doderers Romanfiguren charakteristisch ist.“ (EBD.) Düsing konstatiert: „Die freisteigenden Vorstellungen führen zu einer auf exemplarische Ausschnitte begrenzten, im Detail ungewöhnlich plastischen Wiederkehr vergangener Momente, Situationen und Figuren.“ (EBD.) Vgl. auch zum Zusammenhang von Doderers zentraler Vorstellung einer „Anatomie des Augenblicks“, einem Benjamin nahestehenden Aura-Verständnis und der zum Tableau verdichteten Bildbeschreibung SOLBACH, 2004 (s. bes. S. 361). Siehe zudem Doderers Erläuterungen zur „Anatomie des Augenblicks“ im Essay Roman und Leser (DODERER, 1996c, S. 177f.). Die spezifische Form der Erinnerung und deren Umsetzung als Bildbeschreibung führen in Verbindung mit dem Moment des Inszenatorischen in handlungsreichen Momenten wie z. B. anlässlich des Skandals auf der Strudlhofstiege oder auch beim Unfall Mary K.s zu bühnenhaften lebenden Bildern. 24 Greiner hebt die konstitutive Rolle des ‚Spiels im Spiel‘ in seinen unterschiedlichen Ausprägungen für die für Komödien typische künstlerische Selbstreflexivität mit ihren diversen Strategien der Illusionsstörung hervor. Vgl. GREINER 2006, S. 59. Zu den zwar nicht unumstrittenen, jedoch „traditionsreiche[n] Element[en]“ der Komödie zählt vor allem „das gute Ende, d. h. das der Tragödie entgegengesetzte Komödien-Verfahren, bei der Darstellung von Verfehlung und Mißlingen den damit verbundenen Schmerz nicht zu akzentuieren“ (PROFITLICH/STUCKE, 2000, S. 309). Kennzeichnend für Komödienhandlungen sind Handlungselemente wie die Verwechslung, die Intrige, das Spiel mit Täuschung und Maskerade und das Sich-Finden der Paare am Ende. Dem Charakter oder auch – als Charakterkaleidoskop der Gesellschaft – einem gesellschaftlichen Ausschnitt bzw. allgemeiner dem Psycho-Sozialen zugewendet, dreht sich die Komödienhandlung im Allgemeinen um Privates, nicht dagegen um die große ‚Haupt- und Staatsaktion‘, nicht um den großen Konflikt um eine abstrakte Idee. Untrennbar mit der Komödie verbunden ist zudem das Komische, wobei das „‚Unschädlichkeitspostulat‘“ (SCHWIND, 2001, S. 333) die Grenzscheide zum Grotesken, zur Ironie oder zum Tragischen markiert (vgl. EBD.). Mit Komik und dem dadurch erzeugten Lachen ist eine Distanzierung des Lachenden verbunden. So zitiert Schwind (EBD., S. 333f.) in diesem Zusammenhang Karlheinz Stierle, der darauf hinweist, dass der Lachende „aus dem Kommunikationszusammenhang des Handelns heraus[tritt] und […] zum Betrachter [wird]“ (STIERLE, 1976, S. 372).
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Komik und Komödie in Heimito von Doderers Die Strudlhofstiege
rigen Romane Strudlhofstiege und Dämonen25 nicht nur die Affinität der Strudlhofstiege mit der Komödie nochmals unterstreichen; sie soll darüber hinaus die Komplementarität beider Texte als heller und dunkler Seite eines sich gegenseitig vervollständigenden Wien-Kosmos verdeutlichen, bei denen trotz voneinander abweichender Akzentuierung über analoge Strategien der relativierenden und distanzierenden Inkongruenz jene Brüche entstehen, die für Doderer zu „‚[…] Rauheiten [führen], woran unser Denken haften kann‘“26, und die verhindern, dass die Romane ins Trivial-Sentimentale oder Pathetische kippen. Den Erzähltexten Doderers sollen bei diesem Ansatz allerdings nicht etwa Dramenstrukturen oder gar eine Annäherung von Prosa und Drama unterstellt werden – Doderers Romane mit ihren eigenwilligen und den narrativen Prozess akzentuierenden Erzählern sind ganz deutlich als diegetisch zu charakterisieren und nicht etwa als Werke, die die Mimesis und damit die szenische Präsentation bevorzugen. Die Gattungsbezeichnungen ‚Komödie‘ und ‚Tragödie‘ mit ihren „Wirkungskategorie[n]“27 ‚komisch‘ und ‚tragisch‘ werden hier vergleichend als grundlegende literarische Modelle herangezogen, die bei aller Problematik einer präzisen und scharf umrissenen Definition in ihren zentralen inhaltlichen und formalen Spezifika, als Schemata gewissermaßen, zum kulturellen Fundus westlich-europäischer Literatur zählen und damit über die engen Gattungsgrenzen hinaus auch die Handlungsmuster, das Figurenarsenal oder die ästhetischen Strategien von Erzähltexten prägen können. Angesichts der Heterogenität der Komödienlandschaft kann es sich allerdings nur um eine heuristische und annäherungsweise Analogiebildung handeln, gleichsam eine metaphorische Betrachtungsweise, die durch die Übertragung dabei helfen soll, das in Doderers Romanen hergestellte Wirklichkeitsverhältnis wie auch den diesbezüglichen Unterschied der beiden Romane zu erhellen.
2. „Bühne des Lebens“ – Spiel-im-Spiel-Elemente „Denique comoedia finita erit.“28 Mit diesen Worten schließt Rittmeister von Eulenfeld, ein starker Trinker mit diversen, vor allem sprachlichen Ticks, d. h. 25 26 27 28
Die Dämonen werden mit der Sigle DD und der Seitenzahl zitiert. So die Figur Buschmann mit Bezug auf die Sprache (DS, S. 195). DÜSING, 2003, S. 666. DS, S. 840.
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eine per se bereits komische Figur, sein Gespräch mit den Zwillingen Editha und Mimi Pastré über deren törichtes Intrigenspiel um eine Tabakschmuggelei. Die Aufdeckung des Zwillingsrätsels geschieht daraufhin in Form eines effektvollen Überraschungsauftritts, gewissermaßen wie die Vorführung eines Zaubertricks, und bringt damit zur rein inhaltlichen Komödienhaftigkeit dieses Handlungsteils ein ebenfalls gattungstypisches Spiel-im-Spiel-Moment in die Geschichte. Inhaltlich wie andeutungsweise auch ästhetisch handelt es sich somit um einen zentralen Ereignisstrang, der sich als komödienhaft klassifizieren lässt. Die Auflösung der Zwillingskomödie wirkt jedoch nicht als einziges Ereignis wie inszeniert und damit als Geschehen, das im Kleinen die Metapher vom Roman als theatrum mundi versinnbildlicht.29 Man kann in diesem Zusammenhang ganz im Gegenteil von einem für Doderer wichtigen ästhetischen Verfahren sprechen, das mehrfach an bedeutsamen Stellen zum Einsatz kommt. Sogar wörtlich vom Erzähler in seiner Theatralität als „Szene“30 hervorgehoben wird der Skandal vom 23. August 1911, jene zentrale Auseinandersetzung, die sich auf der Strudlhofstiege abspielt und, „obwohl selbst höchst trivialer Natur, ein Kraftzentrum des Romanfortgangs darstellt“.31 Hier gerinnt eine an sich abgeschmackte Begebenheit zu einem bedeutungsträchtigen lebenden Bild. Der öffentliche Skandal auf der Strudlhofstiege wird aus der Erinnerung der Titelfigur Melzer berichtet.32 Die Handlung ist schnell erzählt: Nachdem Ingrid, die Tochter des Oberbaurats Schmeller, und Stephan von Semski durch den Verrat Editha Pastrés vom alten Schmeller bei ihrem Stelldichein im elterlichen Hause überrascht worden sind, vereinbaren die beiden Liebenden mit Hilfe von Freunden ein Treffen auf der Stiege. Der Baurat, der davon erfährt, verfolgt seine Tochter in einem Autotaxi. Auf der Treppenanlage kommt es schließlich zu einem öffentlichen Eklat, als der zornige Vater das Paar auseinanderreißt, und zwar vor den Augen Asta Stangelers und Melzers, mit denen Ingrid verabredet war, und den zufällig dazu kommenden Figuren Paula Schachl, René Stangeler und Pista Grauermann. Das Geschehen auf der Stiege beginnt sehr dynamisch und ist kontrastiv angelegt durch aufeinander zulaufende und dann wieder auseinanderstrebende Bewegungslinien von oben und unten, die, durch die Bauweise der Stiege vor29 Vgl. HELMSTETTER, 1995, S. 237. Nach Helmstetter ist die Stiege ein „Symbol im Sinne der Topik. Sie zitiert die Topoi Theatrum mundi und Genius loci“ (EBD.). 30 DS, S. 293. 31 LÖFFLER, 2001, S. 72. 32 DS, S. 290-295.
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gegeben, besonders bühnengerecht und effektvoll, nämlich diagonal verlaufen. Semski und Ingrid befinden sich auf halber Höhe der Stiege, als sie vom alten Baurat Schmeller überrascht werden. Dieser kommt von oben von der Strudlhofgasse her, ruft seine Tochter an und wartet darauf, dass Ingrid seinem Ruf Folge leistet.33 Asta Stangeler und Melzer, aus dessen Perspektive das Geschehen geschildert wird, folgen Schmeller besorgt und eilen ebenfalls von oben auf die Stiege zu. Von unten kommend, stehen auf der niedrigsten Rampe: Pista Grauermann, René Stangeler und Paula Schachl. Schmeller eilt nun die Stufen hinab, Melzer von oben und Grauermann von unten bewegen sich wiederum rasch auf ihn zu, um ihn zu beschwichtigen. Das ist jedoch nicht mehr nötig, denn die Tochter kommt dem Vater einige Schritte nach oben entgegen. Letzterer zieht sie mit sich fort und reißt damit das Paar endgültig auseinander. Semski entfernt sich nach unten in Richtung Liechtensteinstraße, der Rest bleibt noch kurze Zeit betreten zurück und verläuft sich schließlich. Das Personal dieser Episode wie auch seine Konstellation ist gleichermaßen typisiert wie typisch für eine Komödie. Alle drei beteiligten Personen dieses kleinen Familiendramas sind zudem nach Doderers Verständnis lächerliche Figuren, da keine in diesem Moment die Eindimensionalität und Beschränktheit der eigenen Reaktionen erkennt. Die Figuren sind sich nicht im Klaren darüber, dass sie sich selbst gewissermaßen zum Typus reduzieren und damit zur komisch-lächerlichen Figur überzeichnen: der cholerische Vater, der unglückliche und leidenschaftliche Liebhaber, dazwischen die schwache weinerliche Tochter. Die Höhepunkte dieser geradezu choreographiert wirkenden Szene werden zudem effektvoll in einer Abfolge von tableauartigen Momentaufnahmen jeweils kurz eingefroren und durch René Stangeler als Theaterstück ästhetisiert wahrgenommen, genossen und interpretiert, so dass er während des Zusammenstoßes „wie in Begeisterung die Arme ausgebreitet hielt“.34 Auf die Frage seiner Schwester Asta nach dem Grund seiner Anwesenheit antwortet René „mit den unverständlichen Worten […]: ‚Ich habe hier etwas schon lange Geahntes gefunden, es ist großartig‘.“35 Was sich hinter diesem lange Geahnten verbirgt, ergibt sich aus dem Romanzusammenhang. Bereits bei seiner Ent-
33 EBD., S. 291. 34 EBD., S. 292. 35 EBD., S. 293.
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deckung der Stiege wird sie von Stangeler als „Bühne[-] des Lebens“36 gesehen, auf der er sich einen entsprechend theatralen Auftritt wünscht, […] auf welche[r] er eine Rolle nach seinem Geschmacke zu spielen sich sehnte, und während er die Treppen und Rampen hinabsah, erlebte er schnell und zuinnerst schon einen Auftritt, der sich hier vollziehen könnte, einen entscheidenden natürlich, ein Herab- und Heraufsteigen und Begegnen in der Mitte, durchaus opernhaft. Kurz: eine jener Szenen, die man nur von der Bühne in Erinnerung hat, die es aber im Leben – wirklich gibt, wenn auch selten […].37
Dieser Wunsch erfüllt sich mit dem Skandal auf der Stiege. Durch diesen selbstreflexiven Hinweis, der im Verhalten und in der Sichtweise Stangelers liegt, wird nun aber der Leser selbst in jene Rezeptionshaltung gebracht, die für Komik und Komödie konstitutiv ist: René „tritt“ bei dem Skandal „aus dem Kommunikationszusammenhang des Handelns heraus und wird zum Betrachter“.38 Damit einher geht die „elementare Leistung des Erfassens, die das Wahrgenommene aus seinem Handlungskontext isoliert und so erst zum ästhetischen Objekt macht“.39 Durch Renés Verhalten und seine Interpretation des Geschehens als Szene bzw. der Stiege als Bühne wird auch für den Leser diese Episode zur Szene eines Schauspiels, als ‚Spiel-im-Spiel‘, isoliert und ästhetisiert, das angesichts seines unbedeutenden Inhalts und der beteiligten Figuren allerdings – und das wird von Stangeler nicht wahrgenommen – der Gattung Komödie zuzuordnen ist. Nachdem Semski nach unten die Stiege verlassen hat und auch Schmeller mit seiner Tochter nach oben verschwunden ist – nachdem also die Hauptfiguren buchstäblich abgetreten sind –, zerfällt der Eindruck einer dramatischen Szene: „Im ganzen befand sich der hier noch vorhandene Rest der Szene in der Verfassung einer Wasserlache, in welche man einen Stein geworfen hat: mit Pluntsch und Plantsch und durcheinander kreuzenden Wellchen.“40 Entsprechend unzufrieden reagiert René: „René Stangeler schien dieser Zustand wenig zu befriedigen: sein Gesicht zog sich um die Nasenwur36 37 38 39
EBD., S. 129. EBD. STIERLE, 1976, S. 372. EBD. Ohne Bezug zur Komödie weist auch Helmstetter im Zusammenhang mit seiner Deutung der Stiege als Theater-Topos auf die auf ihre Weise verzerrte und verengte, ästhetisierende Rezeptionshaltung René Stangelers hin (HELMSTETTER, 1995, S. 219). 40 DS, S. 293.
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zel etwas zusammen, wie ein Knoten.“41 Das Stück ist zu Ende, die Statisten und Zuschauer verlaufen sich. An diesem, dem ersehnten Schauspiel so unangemessenen Auseinanderfallen lässt sich ablesen – was jedoch René Stangeler nicht bemerkt und was ihn dadurch wiederum ironisiert –, dass es sich nicht etwa um ein pathetisches und rundes Gesamtkunstwerk ‚Oper‘, sondern lediglich um dessen komische Brechung, um eine lächerliche Schmierenkomödie oder bestenfalls eine ‚Operette‘ handelt. Stangeler ist demnach nicht ein überlegen verlachender Beobachter des Komischen, sondern ein Betrachter, der das Spiel-im-Spiel in seiner Qualität verkennt und dadurch für den Leser selbst zum Verlachten wird. Die Stiege als Bühne des Lebens zeigt ironischerweise das Leben als banale Komödie und nicht etwa als großes Schauspiel oder gar als Tragödie, als die die Beteiligten selbst es jedoch wahrnehmen oder deuten möchten. Damit aber entpuppt sich Stangelers Wahrnehmung als durch seine Erwartungshaltung vorgeprägt und im Sinne Doderers als deperzeptiv. Es handelt sich um eine Pseudowirklichkeit. Stangeler ist somit in diesem Moment gerade nicht besonders hellsichtig, sondern buchstäblich durch sein VorUrteil befangen und beschränkt. Besondere Bedeutung gewinnt diese – wenn auch hier ironisierte – Aufladung der Stiege dadurch, dass René Stangeler im Werk Doderers stets als eine seiner wichtigsten Alter-Ego-Figuren fungiert. Die Bühnenmetapher wird zudem im Roman nach der ersten Entdeckung durch den jungen Stangeler leitmotivisch vom Erzähler mit der Stiege verknüpft und gewinnt dadurch eine über den Figurenhorizont hinausschreitende zentrale Bedeutung. Die Stiege wird als „Nabel der Geschehnisse“42 bezeichnet. Sie ist das geheimnisvolle, auratische Zentrum, die Nabe im Lebensrad der beteiligten Menschen. Sie verbindet die banale und moderne Alltagsrealität mit tiefer liegenden und in die Vergangenheit reichenden Schichten, mit dem Alsergrund und seinen Orten ‚erster Wirklichkeit‘ wie dem idyllischen Garten der positiven Figur Paula Schachl, die René unmittelbar nach der ersten Entdeckung der Stiege just an jenem Haus mit dem blauen Einhorn kennenlernt, in dem in den Dämonen die Kaps (Frau Kapsreiter), gewissermaßen das Orakel des Alsergrunds, ihr geheimnisvolles Traumbuch verfasst.43 Bezeichnenderweise ist Paula Schachl bei jenem entscheidenden Skandal auf der Stiege ebenfalls anwesend. Die Dryas 41 EBD. 42 EBD., S. 789. 43 Vgl. EBD., S. 129f.; zudem DD, S. 891-906, „Nachtbuch der Kaps I“ (EBD., S. 956958) und „Nachtbuch der Kaps II“ (EBD., S. 1202-1205) zu Frau Kapsreiter und ihrem Traumbuch.
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und der genius loci44 lassen durch die komische Brechung und die Ironisierung hindurch die tieferen Lebensgeheimnisse hindurchschimmern – gemäß der Anforderung Doderers an den Roman: „Alles ist zugleich trivial und absolut wunderbar, und so muß es denn auch von diesen beiden Seiten erfaßt werden: das ist die eigentliche Kunst des Romans.“45 Dass das menschliche Drama um Ingrid Schmeller und Stephan Semski zur lächerlichen Posse werden muss, gründet demnach in Doderers Grundüberzeugung von der Art und Weise einer gelungenen Romankonzeption wie auch der problematischen conditio humana des modernen Menschen, die die Figurenzeichnung bedingt. Doderer erläutert letztere in seinen Tangenten, wobei er sich ganz bewusst gegen den grob gehauenen epischen wie auch tragischen Helden ausspricht und gleichzeitig deutlich macht, dass er die Skandal-Szene auf der Stiege mit Blick auf das Bühnenhafte als „Pseudo-Dramatik“ gestaltete.46 Seine Figuren charakterisiert er in der Tagebucheintragung als „logisch bissl schwach, psycho-logisch bissl psychoanalytisch“, als verletzliche „Differentialbrüche[-]“ im Gegensatz zum „tragischen Helden“, dem „sogar der eigene Untergang zur im Ohre rauschenden und orgelnden Musik wurde“.47 Angesichts des launischen Duktus der Ausführungen kann hier „Pseudo-Dramatik“ durchaus durch ‚Komödienhaftigkeit‘ ersetzt werden. Gleichzeitig muss einmal mehr die Stiege als Symbol für das Romanganze48 und damit als Spiegelung und Reflexion des vom Autor intendierten Kommunikationsverhältnisses zwischen Leser und Text gedeutet werden. Im Lektüreprozess soll der Leser nicht nur die Befangenheit der Figu44 Der genius loci kann bei Doderer als Personifikation der spezifischen Aura eines Ortes verstanden werden. Vgl. z. B. das Ende der atmosphärisch dichten Beschreibung eines abendlichen Gangs der Titelfigur Melzer über die Stiege (DS, S. 355). In den Tangenten betont Doderer in einem „Entwurf für den Verlag“ die Bedeutung der Stiege und verwendet hierbei ebenfalls den Ausdruck genius loci (DODERER, 1964, Eintrag vom 28. Januar 1948, S. 592). In der gleichen Notiz wird die Stiege als „terrassenförmige[-] Bühne dramatischen Lebens“ (EBD., S. 593) bezeichnet. Ausführlich zu den alten städtischen Bezirken Wiens in einem Eintrag in den Tangenten vom 16. Oktober 1950 (EBD., S. 819-821). An diesen Orten Wiens, die ein nicht entfremdetes Leben der dortigen Menschen, ein Einssein mit der Wirklichkeit ermöglichen, herrscht für Doderer eine „Raumtiefe, mit der man verschwistert lebte“, und diese bezeichnet er „durchaus als genius loci, als unsichtbarer Lar“ (EBD., S. 820). 45 DODERER, 1996b, Eintrag von 1953, S. 199. 46 DODERER, 1964, 21. März 1947, S. 551-553, Zitat S. 552. 47 Alle Zitate EBD., S. 553. 48 So wie das Bauwerk im Roman als Bühne für das Spiel-im-Spiel fungiert, so versinnbildlicht der Roman das Lebensspiel. S. auch Anm. 29.
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ren und die Komödienhaftigkeit der erzählten Geschichte erkennen, sondern er geht darüber hinaus: Doderer schreibt über das, „was ihn [den Leser] umgibt und beschwert und ihm die Sicht verstellt: sein Autor soll es gewichtslos und durchsichtig machen“49. Der Leser soll demnach über den (Um-)Weg der Deutung der Strudlhofstiege (im doppelten Sinn der Treppenanlage und des Romans) und die selbstreflexive und ironische Brechung des Erzählten die Komödienhaftigkeit seines eigenen Daseins und seine eigene Apperzeptionsverweigerung erkennen: von Stangeler zum Erzähler werden.
3. Wendung zum Glück statt Katastrophe – Mary K.s Unf all Entsprechend der großen Skandalszene um eine an sich banale Geschichte und schwache Figuren lassen sich weitere Inkongruenzen finden, die für die Komödienhaftigkeit der Gesamtanlage des Romans sprechen. Eigentlich will bereits die Auswahl der Stiege, eines im Vergleich zu anderen Sehenswürdigkeiten Wiens unbedeutenden und erst 1910, d. h. ein Jahr vor dem Skandal, fertiggestellten, damals ganz modernen und neuen Bauwerks, als geheimnisvolles Zentrum, das die „Tiefe der Jahre“ zum Ausdruck bringen soll, nicht so recht passen.50 Einen komischen Gegensatz birgt des Weiteren die elegante Stiege als Bühne für das platte Schmierentheater um den bornierten alten Schmeller und seine alberne Tochter. Bis auf vereinzelte Erinnerungen Melzers werden zudem ausgerechnet die eigentlich wichtigen und großen historischen Ereignisse, nämlich der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie, ausgespart. Stattdessen konzentriert sich der Roman trotz seiner tausend Seiten auf an sich unbedeutende kleine Ereignisse und Begegnungen im privaten Raum und kulminiert schließlich auch noch ganz konventionell im Happy End.51 Letztlich birgt sogar die Auswahl der titelgebenden Figur selbst ein 49 DODERER, 1996c, S. 178. 50 Stangeler erläutert Melzer die Geschichte der Stiege DS, S. 490-494. 51 Helmstetter wendet sich gegen das Gleichsetzen von Happy End und Trivialität und verweist demgegenüber auf die durchaus zutreffende Konventionalität des schlechten Endes (HELMSTETTER, 1995, S. 330). Er deutet das glückliche Ende als Bruch mit „eine[r] Konvention des realistisch-naturalistischen Romans“ und damit als „ironische[n] Rekurs auf die tabuisierte Konvention“, um „noch einmal mit der Differenzierung von Roman-Text und Lebens-Roman“ zu spielen (alle Zitate EBD.). Bereits bei Weber findet sich der Hinweis auf die Ambivalenz des Schlus-
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komisches Moment: Derjenige, an dem das Exempel der Menschwerdung im Sinne Doderers statuiert wird, ist ein zwar sympathischer, aber belangloser mittelmäßiger Durchschnittscharakter mit entsprechend eingeschränkten intellektuellen Fähigkeiten und einem wenig aufsehenerregenden Lebensweg, der letztlich an typisch modernen Selbstfindungsproblemen leidet – „logisch bissl schwach, psycho-logisch bissl psychoanalytisch“52 eben. Wenn solche Figuren, wie Doderer in der erwähnten Tangenten-Notiz ausführt, auch „nie in die Gefahr“ kommen, durch eine andere Figur „überrannt zu werden“53, so können sie doch durch einen Schicksalsschlag buchstäblich überfahren werden oder sich selbst in eine für sie ausweglose Situation manövrieren. Solche nicht-komischen Szenen scheinen der These von der Komödienhaftigkeit der Strudlhofstiege entgegenzustehen, zumal eine davon von zentraler Bedeutung für den Roman ist: Die Strudlhofstiege steuert trotz aller Breite bereits vom ersten Satz an auf den schrecklichen Straßenbahnunfall Mary K.s vom 21. September 1925, als eigentlichem Handlungshöhepunkt gegen Ende des Romans, zu. Ausgangspunkt für den Unfall ist, dass Mary K., um mit Doderer zu sprechen, in einer ‚zweiten Wirklichkeit‘ befangen ist. Damit ist eine reduzierte Apperzeptivität verbunden, die zu kleinen Fehlhandlungen führt. Die Seife entgleitet ihr im Bade, sie stolpert über einen Läufer beim vormittäglichen Verlassen des Hauses, ihre Termine in der Stadt kann sie nicht wie geplant erledigen; nichts passt gewissermaßen – salopp formuliert: ein ‚verkorkster‘ Tag.54 Entsprechend blind läuft sie aus mangelnder Aufmerksamkeit in die Straßenbahn hinein.55 Von irgendeiner Art von tragischem Konflikt oder besonderer Bedeutsamkeit kann also nicht die Rede sein – eine Affinität zur Gattung Tragödie kann verneint werden. Der Anlass für die Katastrophe ist zudem ein völlig nichtiger: Mary K. möchte ihre Freundin Lea Fraunholzer davon abhalten, in Budapest Etelka Stangeler aufzusuchen, die ein Verhältnis mit Leas Ehemann unterhält.56 Was beide nicht wissen, ist, dass Etelka gerade Selbst-
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ses, da „Doderer hier im Handlungsabschluß allzugängigen Romankonventionen folgt und doch zugleich nicht folgen möchte“ (WEBER, 1978, S. 28). Nicht zuletzt dieser Widerspruch führe zu einer „Reserviertheit“ (EBD.) Doderers und einer Rücknahme der Glücksvorstellung. DODERER, 1964, 21. März 1947, S. 553. EBD. Vgl. DS, S. 771f., 785 u. 825-832. Vgl. EBD., S. 831 u. 843. Vgl. EBD., S. 773-780.
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mord begangen hat – der ganze Aufwand, den Mary betreibt, ihre Eile an diesem Tag sind somit überflüssig.57 Mit dieser Inkongruenz von Nichtigkeit und Katastrophe birgt diese Ereignisfolge zwar kein komisches, doch durchaus ein groteskes Moment. Die Art der Verletzung, die Verstümmelung des zuvor klassisch schönen Körpers Mary K.s, ist im Sinne Bachtins ebenfalls als grotesk zu klassifizieren. Man könnte hier allenfalls von tragischer Ironie sprechen, doch diese wird durch den weiteren Verlauf, durch die Konsequenzen des Unfalls, aufgehoben. Der Verkehrsunfall führt Melzer und Thea Rokitzer als Paar zusammen und bildet damit die Grundlage für das Happy End. Mary K. stirbt zudem nicht an ihrer Wunde, sie wird auch später nicht daran zu Grunde gehen, sondern in den Dämonen durch die Überwindung des Traumas ihre Menschwerdung erleben. Der Erzähler bringt diese konstruktiven und nicht etwa destruktiven Folgen des Unfalls zwar aus der Perspektive Melzers, jedoch mit Gewissheit zum Ausdruck und fasst sie in das Bild eines Neuanfangs, d. h., wie bereits Gerald Sommer feststellte, in das einer Geburt:58 Dies hier war nicht der Tod: Melzer kannte ihn. Was um dieses zarte Haupt stand war vielmehr eines kommenden Lebens ganze Schwere. Und während er sie betrachtete, wußte er doch mit einer Sicherheit ohne jeden Zweifel, daß sie darüber würde siegen. Es war nicht irgendeine. Es war Mary. Unaufhörlich läuteten die Kirchenglocken […]. Es mochte von Liechtenthal her sein, von der Kirche zu den Vierzehn Nothelfern. Als Drittes aber und nicht durch ein einzelnes Sinnesorgan, sondern durch alle zugleich, innere und äußere, sichtbare und unsichtbare, alarmierte Zellen, offene Pforten des Leibes und der Seele – denn welche knackenden Riegel waren da nicht gesprungen unter solchem Stoß und welche Wände konnten jetzt noch ganz bleiben: Thea saß neben ihm, zu dieser Stunde, jetzt und heute.59 57 Vgl. EBD., S. 906. 58 SOMMER, 1994, S. 151-157. Die folgenden Ausführungen zur Bildsprache der Unfallszene orientieren sich an dessen detaillierter Untersuchung zu diesem Thema. Sommer deutet den Unfall „als Theaterszene“, „als Abschluß von Melzers Menschwerdung“, „als Ernstfarben-Szene“, „als Geburtsszene“ und „als [r]eligiöse Szene“ (vgl. die entsprechenden Unterkapitel 3.7.1-3.7.5.). Jeder dieser Bildkomplexe führt zu einer positiven Perspektive. In keinem Fall bleibt es für die drei beteiligten Akteure bei der reinen Katastrophe. 59 DS, S. 847f. In diesem Sinne auch SOMMER, 1994, S. 109: „Der Gang in die Katastrophe ist gleichzeitig ein Weg zurück in die Lebensgemäßheit.“ S. zudem EBD., S. 115, zur Konzentration der „wichtigsten Metaphern des Lebens“ bei der Gestaltung des Unfalls.
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Die Katastrophe des Unfalls bedeutet für Mary wie für Melzer das Ende ihrer apperzeptiven Beschränktheit60 und für Melzer die Vollendung seiner Menschwerdung.61 Auffällig ist zudem neben der Metaphorik, die auf die für Doderer zentrale Apperzeptions- und Menschwerdungsthematik verweist,62 die religiöse Symbolik, die durch das Geläut der Vierzehn-Nothelfer-Kirche, aber auch etwa die Namen der beteiligten Frauen – Mary und Thea – dieser Szene eine zusätzliche Bedeutungsdimension verleiht und die Tendenz zur bitteren Groteske mit einer positiven Sinngebung überlagert. Die bewusstlose Mary K. liegt beim Kirchengeläut im Schoß Melzers, neben ihnen sitzt das „Lämmlein“ Thea Rokitzer.63 Gerald Sommer deutet diese Komposition der Figuren als „inversive[-] Pietà“.64 Diese metaphorische Ebene verstärkt die Bedeutung von Erlösung, Neubeginn und wahrem Leben; das Ereignis an sich wird zudem zwar nicht en détail als bühnenhafte Szene inszeniert, birgt jedoch erneut innerdiegetisch die Qualität eines Schauspiels. So zieht der Unfall einen großen Kreis von „Zuschauern“ an, die der junge Polizist Karl Zeitler mit dem Hinweis, dass es „‚[…] nichts mehr zu sehen […]‘“65 gebe, bittet weiterzugehen. Der Erzähler spricht in diesem Zusammenhang von der „Schaugier“66 der Menschen. Der Unfall ist ein grausiges Schauspiel, das Gaffer anlockt und schließlich auch medial verarbeitet wird – in den Dämonen ist von einem Zeitungsbericht über den Unfall die Rede.67 Weiterhin impliziert bereits die Möglichkeit, die Szene als Pietà zu interpretieren, das erneute Einfrieren der ursprünglich dynamischen Szene in der Statik eines lebenden Bildes, eines vordergründig sentimental anmutenden Tableaus. Doderer gestaltet den Unfall der Mary K. als ein nicht-tragisches Geschehen von abermals bühnenwirksamer Ästhetik, dessen groteskes Potential nicht dominant wird und das zudem versöhnlich endet und das Happy End des Romans bedingt. Bei diesem buchstäb60 Siehe EBD., S. 118, 120f. 61 So EBD., S. 125f. 62 Insbesondere durch die Farbgebung: Rot und Weiß stehen für „Blut und Erotik, auch die Farben Österreichs, vor allem aber ist ‚rot‘ die Ernstfarbe Melzers“ (LÖFFLER, 2001, S. 245, Anm. 7). In der Strudlhofstiege dominiert die ‚private‘ Bedeutungsdimension dieser Farben, in den Dämonen die ‚politische‘ mit dem Verweis auf den Brand des Justizpalastes. 63 Vgl. DS, S. 846f. 64 SOMMER, 1994, S. 159. 65 Zitate DS, S. 845. 66 EBD., S. 846. 67 Vgl. DD, S. 635f. Emma Drobil findet einen Artikel im Lokalteil einer Wiener Tageszeitung vom 22. September 1925.
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lichen ‚Ernstfall‘ im Leben der Mary K. tritt somit die Katastrophe rasch in den Hintergrund, Schmerz und Leid werden ästhetisiert und komödiengemäß nicht dominant. Die zentrale Bedeutung gerade dieser eigentlich grauenvollen Szene des blutigen Beinverlusts widerspricht demnach nicht der These von der Affinität der Strudlhofstiege zur Komödie. Selbst auf eine – wenn auch leise – Komik und Ironie verzichtet Doderer hier nicht: Durch die in der Verkehrung des Pietà-Bildes liegende sublime Ironisierung wird einem Abrutschen ins Kitschig-Sentimentale entgegengearbeitet. Der Verweis auf das Lamm Gottes geschieht zudem ausgerechnet über die eigentlich dumme und dralle Thea Rokitzer, deren nicht zuletzt erotische Attraktivität auf Melzer für ein „Lämmlein“ nicht so recht passen möchte – eher Schaf als Lamm, möchte man meinen.68 68 Ein Unfall ist eigentlich per se ein untragisches Ereignis, da er jeder Dialektik und der aktiven Entscheidung und Herbeiführung entbehrt, sinnlos und zufällig über eine Person hereinbricht. Beim Gifttod Etelka Stangelers sieht dies dagegen anders aus. Ihr Sterben müsste den Rahmen einer Komödie eigentlich sprengen. Etelkas psychische Not wie auch ihr langsamer Todeskampf und der Schmerz der Angehörigen werden jedoch durch die distanzschaffende diskursive Gestaltung als innerdiegetische Erzählung der Figur Stangeler aus der Retrospektive abgedämpft. Es entsteht der Eindruck einer für die betroffene Person Etelka zwar fatalen Situation, die aber als Nebenhandlung eingebettet in das größere Ganze nur eine düstere Momentaufnahme ohne Folgen für den Rest bleibt. Zudem war die Situation Etelkas eigentlich nicht ausweglos, sondern die Konsequenz, wie Doderer selbst erläutert, eines „Sensationsbedürfnis[ses]“ aus „tiefste[r] und zentralste[r] Lebensschwäche“ (DODERER, 1964, S. 561f.). Bei Etelka handelt es sich um so etwas wie das negative Gegenstück zu Melzer oder auch zu Mary K., eine gescheiterte Menschwerdung. Etelka hatte jedoch zumindest noch die Kraft zu der Entscheidung, ihrem Abgleiten in ihre ‚zweite Wirklichkeit‘ ein Ende zu setzen, wenn sie schon nicht in der Lage war, zur ‚ersten Wirklichkeit‘ durchzudringen. Ihr Selbstmord ist daher so etwas wie ein letzter, im Sinne Doderers durchaus positiv zu verstehender ‚Exzess‘ (vgl. DODERER, 1996b, S. 74f.). Auf diese Weise kann vielleicht auch René Stangelers Darstellung gegenüber Melzer gedeutet werden: „‚[…] Die Tote sah würdig aus. Sie hatte, wenn auch nicht überwunden, doch alles hinter sich gebracht. Davon sprach ihr Antlitz jetzt. […] Sie hatte die Tat gesetzt. Wir hatten uns abzufinden […]‘“ (DS, S. 802). So verstanden jedoch ist dieser Tod Etelkas kein tragischer – auch hier wird am Ende der Schmerz nicht hervorgehoben. Passend zur Maßlosigkeit Etelkas wird das Ende ihrer Beziehung zu ihrem Geliebten Robby Fraunholzer mit einem karnevalesk entgleisenden Tanzabend in einer Dorfschenke besiegelt (29. August 1925, DS, S. 533-544). Der Schmerz während einer grotesken, lächerlichen und peinlichen Veranstaltung ermöglicht Fraunholzer die Trennung von Etelka und die Rückkehr in die Geborgenheit seines Ehehafens. Die Nebenhandlung um die gefährdete Ehe von Lea und Robby Fraunholzer mündet demnach in die Versöhnung. In der Dorfgasthof-Szene mischen sich
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4. Resüm ee: Von der Strudlhofstiege zu den Dämonen – Glück vs. „Melancole y“, Komik vs. Groteske Abschließend mag ein knapper vergleichender Ausblick auf Die Dämonen, die einige Jahre nach der Strudlhofstiege spielen, das bislang Erarbeitete noch etwas deutlicher herausmodellieren. Beide Wien-Romane sind trotz der zeitlichen Nähe ihrer Entstehung, teilweise deckungsgleichem Figurenensemble und topographischen Überschneidungen unterschiedlich akzentuiert. In der Strudlhofstiege konzentriert sich das Geschehen bei einem durchweg komisierenden und ironisierenden Erzähler auf das Alltägliche und Private. Wichtige Handlungselemente wie die Zwillingsintrige oder auch der Skandal auf der Stiege verlaufen harmlos und komödienhaft, selbst individuell katastrophale Ereignisse werden harmonisierend ins Erzählganze eingebettet und heben das gute Ende bei aller ironischen Relativierung nicht auf. In den Dämonen – die die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus und dem Erstarken des Nationalsozialismus bergen – werden die einzelnen Figuren mit ihren Lebenswegen stärker mit der Historie verwoben. Ausgerechnet die Stiege und der idyllische Garten der Paula Schachl kommen in diesem Roman nicht mehr vor. Der Schutzgeist und seine Nymphe haben das Heiligtum verlassen. Die Dämonen kreisen demgegenüber um krisenhafte sozialpsychologische Entwicklungen und ein historisch-politisches Ereignis: den Wiener Justizpalastbrand vom 15. Juli 1927, der als „Cannae der österreichischen Freiheit“69 interpretiert wird. Das Wien dieses Romans hat sich in eine bedrohliche Pseudowirklichkeit verwandelt. Auch Die Dämonen sind nicht etwa frei von Komik und Ironie; der düstere inhaltliche Kern überschattet aber die persönlichen Lebensläufe, mögen sie auch gegen Ende des Romans teilweise eine positive Entwicklung genommen haben und in gleich mehreren Paarbildungen kulminieren. So blickt der alte, verwitwete Geyrenhoff der Dämonen bei Abschluss seiner Ausführungen voller „Wehmut“ und „‚schöne[r] Melancoley‘“ auf sein
in mehrfacher Weise Komik und Ernst, Inszenierung und Illusionsdurchbrechung. Die deutliche Präsenz des vermittelnden Erzählers rückt das Geschehen in die Distanz und verweist gleichzeitig auf die artifizielle Qualität des Erzählten als geschriebener Text („Wir können nicht mehr in römischer Quadrata schreiben. Gut schaun wir aus.“; DS, S. 543). 69 DD, S. 1328.
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zu diesem Zeitpunkt schon vergangenes Glück zurück.70 Das allerletzte Bild des Romans ist vom Abschied geprägt und entlässt den Leser mit einem unheilverkündenden Ausblick in die Dunkelheit: Die reiche Erbin Charlotte von Schlaggenberg, eine charakterlich ambivalente Figur mit einem, so zumindest der Ich-Erzähler, „Herz von Stein“,71 und ihr frischangetrauter Mann Géza Orkay verschwinden mit dem Zug im Finstern, und der Erzähler hat das Gefühl, dass er niemanden aus dem Kreis, der hier noch am Bahnsteig zum letzten Gruß steht, je wiedersehen würde. Zu dieser düsteren Szenerie des Bahnsteigs als Scheidepunkt mit Geleisen in die Finsternis bildet das eingangs angesprochene Schlussbild der Strudlhofstiege einen deutlichen Kontrast. Statt eines Abschieds betont ein Fest der Vereinigung und der Liebe in der Strudlhofstiege das Positive. In diesem Roman gehört zudem die letzte Seite der Rede der komischen Figur Zihal und nicht etwa der melancholischen Retrospektive. Zihals Festvortrag über das Glück, der auf Raimunds „Lied des Tischlers“ aus dem Verschwender und Johann Strauß‘ Fledermaus Bezug nimmt, unterstützt den schon skizzierten Effekt einer komischen Brechung und Ironisierung.72 Durch den Verweis auf Raimunds bekannte Verse73 wirkt das Ende der Strudlhofstiege in mehrfacher Hinsicht als spiegelbildliche Verkehrung, als Kontrastierung, zum Schluss der Dämonen: Es geht jeweils um Glück, um Abschied und um Geld. Der Blick auf das Leben ist trotz des Wissens um seine Vergänglichkeit dabei in der Strudlhofstiege ein humorvoller und optimistisch gestimmter. In diesem Roman wird dem Lebensglück, wenn auch nur in maßvoller Beschränkung, noch eine Möglichkeit eingeräumt74 – in den Dämonen dagegen ist die Welt für solch ein ‚heiles‘ Ende bereits zu ‚krank‘.75 70 Beide Zitate EBD., S. 1339. 71 EBD., S. 1344. 72 Vgl. DS, S. 909. Dass es sich hierbei nicht um eine naive Affirmierung des Operettenmodells handelt, sondern um ein ironisches Zitat, das sich gerade gegen das Vergessen wendet, ist offensichtlich. S. hierzu HELMSTETTER, 1995, S. 328f. 73 „Das Glück ist doch nicht in der Welt / Mit Reichtum bloß im Bund. / Seh ich so viel zufriednen Sinn, / Da flieht mich alles Weh. / Da leg ich nicht den Hobel hin, / Sag nicht der Kunst Adje!“ (RAIMUND, 1974, III/6, S. 435f.). 74 Die Glücksdefinition Zihals lehnt sich an Schopenhauer an (vgl. WEBER, 1978, S. 27). Doderer unterscheidet nach Weber zwischen zwei Formen des Glückes (s. EBD., S. 25-27): dem von Zihal geäußerten Glück der einfachen Leute des SchachlKreises und dem „Glück vor dem Hintergrund von Unglück“ (EBD., S. 26) schwieriger und komplizierter Persönlichkeiten wie z. B. Stangeler und Schlaggenberg. Ersteres sei zwar weniger intensiv, dafür jedoch erlernbar und dauerhafter als das „hochintensive und damit zugleich flüchtige, unregierbare, punktuelle Glücklich-
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Doderer erzielt diese divergierende Akzentuierung allerdings – wenn man von der ungewöhnlichen Mehrstimmigkeit der Erzählinstanzen in den Dämonen einmal absieht – mit den gleichen narrativen Strategien: In beiden Texten werden entscheidende Ereignisse gern aus einer Beobachterposition heraus oder auch aus der Retrospektive distanziert geschildert und kommentiert, bedeutsame Momente im Tableau eingefroren und metaphorisch aufgeladen. Dominiert in der Strudlhofstiege jedoch ein ironisch gefärbter Humor, so kippt die Komik in den Dämonen weitaus stärker ins Groteske.76 Der Melancholiker kann angesichts seines Einblicks in die geschilderten Geschehnisse anscheinend nur noch über das Groteske lachen und sich wehmütig an das vergangene Glück erinnern, der versöhnliche Humor ist ihm am Ende nicht mehr möglich. Doderer war bei aller Konservativität ein moderner Autor; etwaige Ansätze zum Heldenepos oder zur Tragödie verwandeln sich bei ihm in den Dämonen zur tödlichen Farce: Eine Figur wie der als politischer Agitator zu Tode kommende Imre Gyurkicz war Zeit seines Lebens ein verlogener Hochstapler und wird eher zufällig, aus der Situation heraus, zum authentischen Aufrührer.77 Der Mörder Meisgeier wiederum, der, ohne politische Zielsetzungen aus Boshaftigkeit und in einer absurden Aktion aus der Wiener Kanalisation heraus versucht, wahllos mit einer Fußangel Menschen zu Fall zu bringen, ist zwar metaphorisch verstanden eine teuflische Figur, jedoch dennoch nicht etwa ein sein“ der zweiten Form (EBD., S. 25). Sei die letztgenannte Form des Glückes mitunter gefährlich, so erstere banal. Doderer lasse auf diesen Widerspruch seine Erzähler in den Dämonen wie der Strudlhofstiege mit einer Mischung aus Sehnsucht und Herablassung reagieren, d. h. aus komiktheoretischer Perspektive gesprochen mit Verlachen und Ironie. 75 Vgl. DD, S. 1343: Kajetan von Schlaggenberg und Georg von Geyrenhoff machen sich auf den Weg zum Bahnhof, um Quapp zu verabschieden, als „[d]ie ersten kranken Erdensterne begannen unten im tintigen See der Stadt zu blinzeln.“ 76 Besonders deutlich groteske Elemente sind Schlaggenbergs Projekt der „Dicken Damen“ (vgl. DD, S. 851-861), die sexuellen Vorlieben Jan Herzkas oder auch das Manuskript Ruodliebs von der Vläntsch (vgl. EBD., S. 757-806). 77 Der ungarische Pressezeichner Imre Gyurkicz findet in der Strudlhofstiege als letzter Geliebter Etelka Stangelers Erwähnung und ist in den Dämonen eine Weile mit einer der weiblichen Hauptfiguren, Charlotte von Schlaggenberg, liiert. Ursprünglich in den Dämonen eine von Scheinhaftigkeit geprägte Existenz, d. h. die Verkörperung eines Lebens in einer Pseudowirklichkeit, gelingt ihm zumindest in den Augen Geyrenhoffs im Moment seines Todes eine Verwandlung (DD, S. 12461249). Darauf, dass Geyrenhoff ein im Hinblick auf seine Apperzeptivität zweifelhafter Beobachter und Erzähler ist, sei hier nur verwiesen (s. dazu beispielsweise LUEHRS, 2001, S. 182-186), an der Erzählstrategie selbst ändert dieser Umstand an dieser Stelle nichts.
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‚großer‘ Verbrecher, sondern ein grotesk überzeichneter und wahnsinniger Krimineller. Die Menschwerdungsprozesse der Figuren finden in den beiden Romanen in zwei antinomischen Welten statt: hier Paradiesgärtlein, dort die Unterwelt der städtischen Kanalisation, im einen Roman eine Nymphe und Anspielungen auf die Mutter Gottes, im anderen eine orakelnde Frau Kaps mit ihrem geheimnisvollen Nachtbuch und ein diabolischer Mörder mit Fußangel. Doch bricht sich in den Dämonen das Groteske seine Bahn, so bleibt auch die Komödie in der Strudlhofstiege nicht beim ‚trivialen‘ und ‚wunderbaren‘ Happy End stehen; Doderer reflektiert und ironisiert seine Verfahrensweisen mit der ihm eigenen Komik und relativiert demnach beides – das idyllische Glück der Strudlhofstiege wie auch das bedrohliche historische Dunkel der Dämonen. Komisch sind beide Texte, jedoch angesichts der Heraufkunft eines dämonischen Zeitalters gilt am Ende: comoedia finita est.
Literatur Primärliteratur DODERER, HEIMITO VON, Tangenten. Tagebuch eines Schriftstellers 19401950, München 1964. DERS., Die Dämonen. Nach der Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff, München 1995. DERS., Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre, München 1995. DERS., Grundlagen und Funktion des Romans, in: DERS., Die Wiederkehr der Drachen. Aufsätze/Traktate/Reden. Vorwort von WOLFGANG H. FLEISCHER, hg. von WENDELIN SCHMIDT-DENGLER, 2., durchges. Aufl., München 1996a, S. 149-175. DERS., Repertorium. Ein Begreifbuch von höheren und niederen LebensSachen (Beck’sche Reihe 1158), hg. von DIETRICH WEBER, München 2 1996b. DERS., Roman und Leser, in: DERS., Die Wiederkehr der Drachen. Aufsätze/ Traktate/Reden. Vorwort von WOLFGANG H. FLEISCHER, hg. von WENDELIN SCHMIDT-DENGLER, 2., durchges. Aufl., München 1996c, S. 176-179. RAIMUND, FERDINAND, Der Verschwender. Original-Zaubermärchen in drei Aufzügen, in: DERS., Sämtliche Werke. Historisch-kritische Säkularausga-
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be in sechs Bänden, hg. von FRITZ BRUKNER/EDUARD CASTLE, Wien [1924-1934], 2. Bd.: Ferdinand Raimunds Dramatische Dichtungen, 2. T., hg. von MARGARETHE CASTLE/EDUARD CASTLE, Reprint, Nendeln/Liechtenstein 1974, S. 335-460.
Sekundärliteratur DÜSING, WOLFGANG, Erinnerung und Identität, Untersuchungen zu einem Erzählproblem bei Musil, Döblin und Doderer (Literaturgeschichte und Literaturkritik 3), München 1982. DERS., Tragisch, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3: P-Z, hg. von JAN-DIRK MÜLLER u. a, Berlin, New York 2003, S. 666-669. GREINER, BERNHARD, Die Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretationen (Uni-Taschenbücher 1665), 2., aktual. u. erg. Aufl., Tübingen, Basel 2006. HELMSTETTER, RUDOLF, Ornament der Grammatik in der Eskalation der Zitate. Die Strudlhofstiege, Doderers moderne Poetik des Romans und die Rezeptionsgeschichte (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, N. F., Reihe A 9), München 1995. LÖFFLER, HENNER, Doderer-ABC. Ein Lexikon für Heimitisten, München 2001. LUEHRS, KAI, Das Werden der Vergangenheit. Erläuterungen und Interpretationen zur Erinnerung als Erzählproblem bei Robert Musil, Heimito von Doderer und Hans Henny Jahnn, Diss. FU Berlin, 1999. Online-Ressource, 2001, http://www.diss.fu-berlin.de/diss/receive/FUDISS_thesis_000000000 464 (Zugriff 05.05.2014). PFEIFFER, ENGELBERT, Heimito von Doderers Alsergrund-Erlebnis. Biographischer Abriß, Topographie, Interpretation, Wien 1983. PROFITLICH, ULRICH/STUCKE, FRANK, Komödie, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von HARALD FRICKE u. a., Bd. 2: H-O, Berlin, New York 2000, S. 309-313. SCHMIDT-DENGLER, WENDELIN, Antrieb und Verzögerung. Zur Funktion der Parenthese in Doderers Epik. Anmerkungen zur Strudlhofstiege und zu den Dämonen, in: „Excentrische Einsätze“. Studien und Essays zum Werk Heimito von Doderers, hg. von KAI LUEHRS, Berlin u. a. 1998, S. 136-147.
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Komik und Komödie in Heimito von Doderers Die Strudlhofstiege
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Das komische Kurzgedicht MAREN JÄGER Lustiger Dichter Das Gedicht verdichtet, sagt man. Doch was machen, wenn es labert? Wenn es, Sinn und Form verlassend fremdworts durch die Zeilen zabert? Wenn es jeglichem Verstehen grollgleich sich und muff entzitzelt und durch immerblaue Schlödheit vorderrücks zum Trübfall bitzelt? Wenn es – aber halt! Der Kluge hat schon nach der ersten Strophe aufgehört zu lesen, ergo ist, wer jetzt noch liest, der Doofe. (Und der pflegt ja bei Gedichten eh auf Sonn und Firm zu zichten.) Robert Gernhardt1
In seinen Zehn Thesen zum komischen Gedicht schreibt Robert Gernhardt: „Das komische Gedicht ist der Königsweg zum Lachen. […] [D]abei haben 1
GERNHARDT, 2013, S. 382 [Herv. i. O.]. Für die Erlaubnis, einzelne Gedichte Gernhardts in Gänze zu zitieren, bin ich dem S. Fischer Verlag (und der freundlichen Vermittlung von Petra Gropp) zu Dank verpflichtet – zumal dies (selbst unter Hinweis auf den wissenschaftlichen und nicht-kommerziellen Kontext dieses Beitrags) angesichts der Erfahrungen mit anderen Verlagen bedauerlicherweise nicht die Regel darstellt.
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sich kurze Mitteilungsformen als besonders effektive Transportmittel erwiesen: Fabel, Anekdote, Witz. Sie alle übertrifft das Gedicht.“ Denn „[r]ascher und umstandsloser als jeder Witz“, so fährt Gernhardt fort, vermag es der Zweizeiler, einen nach Auflösung drängenden befremdlichen Sachverhalt aufzubauen, ja aufzustauen: „Die schärfsten Kritiker der Elche“ – Wieso Kritiker? Weshalb Elche? – „waren früher selber welche“ – Ach so! Deshalb! […] „In der Kürze liegt die Würze“, weiß der Volksmund […]: Nicht alle Vierbeiner kommen so rasch zum Punkt wie obengenannte Elche.2
Die von Gernhardt proklamierten Thesen präsentieren sich als Kompilation aus Komiktheorie, Autorenpoetik und (Gattungs-)Tradition, ebenso kurz wie brillant vorgetragen von einem poeta doctus.3 Gernhardt stellt hier – wie in großen Teilen seines Werks – seine Belesenheit, sein profundes literarhistorisches und gattungstheoretisches Wissen unter Beweis und setzt meist ähnlich profunde Kenntnisse seitens der Leserschaft voraus, damit diese seine poetologischen Späße angemessen zu goutieren vermag.4 Das macht ihn zu einem Lieblingsautor der Germanistik, besonders der literaturwissenschaftlichen Propädeutik (kaum eine Einführung in Metrik und Versgeschichte, die nicht auf Gedichte Gernhardts zurückgreift), die Rezeption seines Werkes jedoch seit seinen Anfängen in den 60er Jahren immer schwieriger, da die Texte immer gelehrter, theoretischer, programmatischer werden, während der bildungsbürgerliche 2 3
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GERNHARDT, 2010b, S. 505f. Entsprechend würdigt Lutz Hagestedt Gernhardts Werk mit den Worten: „Unter der Hand, geradezu beiläufig, entsteht hier eine umfassende Komiktheorie, eine Schule des Blicks, ein Leitfaden, ein Kriterienkatalog, kurz: eine Einführung in alle Belange des Komischen. […] Lustvolle Theorie, kritische Poesie, analytische Kunst und künstlerische Analyse – wo fände man das sonst so übergangslos?“ (HAGESTEDT, 1997, S. 57), und Heinrich Detering verweist auf all „die Genres, in deren handwerklicher Beherrschung er so brilliert wie in ihrem parodistischen Zersingen: Gedankenlyrik, Balladen, Sonette, Terzinen […], Sinnsprüche, Naturpoesie, Liebeslieder […], Trink-, Kriegs-, Revolutionsdichtung, Schüttelreime, Rätsel […] – und wir reden hier nur von der Lyrik!“ (DETERING, 1997, S. 27). Kosler bemerkt hierzu: „Nur derjenige versteht ihn richtig, der ihm auf die Schliche kommt, der erkennt, daß hier Rilke, Brecht, Goethe und da der O- beziehungsweise Oh-Ton des Zeitgeists verarbeitet wird […]“ (KOSLER, 1997, S. 11), und in Heinrich Deterings an Arno Schmidts Radio-Essays angelehntem Dialog Ein Gespräch im Hause Schmidt über die Poesie des abwesenden Herrn Gernhardt lässt der Verfasser gar einen der Dialogpartner feststellen: „Also 1 Dichter für Studienrätinnen und -räte!“ (DETERING, 1997, S. 28).
Das komische Kurzgedicht
Kontext – sei es die Kenntnis der Gedichte Mörikes oder der Sonettform – zunehmend verlischt.5 Dennoch ist Robert Gernhardt mitsamt seinen Zehn Thesen und einigen Exempla aus seinem theoretischen und lyrischen Werk ein ausgezeichneter Kompass – oder besser noch: Cicerone – für eine (zwangsläufig selektive und ausschnitthafte6) tour de force durch die Geschichte des komischen Kurzgedichts, wenngleich seine Thesen punktuell der Explikation und/oder Vertiefung, der Entfaltung, der Differenzierung oder Korrektur bedürfen. Die oben zitierte neunte These, griffig formuliert und mit einem Exempel des Neuen Frankfurter Schulkameraden F. W. Bernstein illustriert, hat es durchaus in sich, insofern sie dreierlei verschränkt: (1) Kürze bzw. Schnelligkeit, (2) Komik und (3) Lyrik/das Gedicht. (1) und (2) sowie (1) und (3) lassen sich einigermaßen problemlos miteinander verbinden und diese Verbindungen – in einem ersten Teil des Beitrags – in zwei Schritten abrissartig skizzieren, mag jeweils auch eine höchst komplexe Genese hinter der so augenfälligen Paarung von Kürze und Komik bzw. Kürze und Lyrik stehen, die hier freilich nur angerissen werden kann und von der Gernhardt gewissermaßen bloß die Quintessenz präsentiert. Die Verquickung aller drei Parameter indes, insbesondere diejenige von Lyrik und Komik – um die es hier im Wesentlichen gehen soll – ist keineswegs selbstverständlich und bedarf (in einem ungleich größeren dritten Schritt) einer differenzierteren Betrachtung. 5
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Tatsächlich ist Robert Gernhardt einer der wenigen Vertreter des komischen Gedichts nach 1945. Ob das daran liegen mag, dass historische Katastrophen der deutschsprachigen Lyrik nachhaltig den Spaß verdorben haben oder ob der metrisch nicht regulierte und ungereimte (daher prosanahe) freie Vers, der sich als Ausdrucksform der Gegenwartslyrik weitgehend als ‚Standard‘ etabliert hat, schlicht nicht komikaffin ist, sei dahingestellt; fest steht jedoch (darin ist Lino Wirag nachdrücklich zuzustimmen), dass die „zeitgenössische ernste, manchmal ,hermetisch‘ geschimpfte Lyrik […] unter akuter Humorabwesenheit [leidet], was sich an Symptomen wie Ironieverlust und der fehlenden Fähigkeit äußert, über den Tellerrand des subjektiven Sprechens hinauszuschauen.“ (WIRAG, o. J., S. 10) Vereinzelte Ausnahmen bestätigen die Regel. Eine glänzende und umfassende (wenngleich – wie der Verfasser zugibt – längst nicht erschöpfende) Studie hat Hans-Georg Kemper vorgelegt (KEMPER, 2009), in der er die unterschiedlichsten Spielarten des komischen Kurzgedichts kartographiert und zugleich historisch und systematisch einordnet, auch solche, die hier aus Gründen den Ökonomie keine Berücksichtigung finden können, wie unfreiwillig komische Gedichte oder die Unsinnspoesie. Dies gelingt ihm überdies auf eine so anschauliche und elementare Weise, dass sich Kempers Buch durchaus als Einführung in die Gattung(sgeschichte der) Lyrik im Allgemeinen eignet – durchgespielt am Paradigma des komischen Gedichts.
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Die Verknüpfung von Kürze und Lyrik leuchtet – selbst dem Nicht-Germanisten – unmittelbar ein, ist die Kürze doch ein (wenngleich nicht unumstrittenes) Merkmal der Lyrik, die sich – als eine der drei Großgattungen bzw. ‚Naturformen‘ im emphatischen Sinne – in einem komplexen Prozess recht eigentlich erst um 1800 unter dem Gattungskriterium der Kürze konstituiert.7 Indem Gernhardt vom (obendrein gereimten) „Zweizeiler“ ausgeht, hat er freilich eine besondere Ausprägung der Gattung im Sinn, eine Spezies des Epigramms, die vielmehr ein versifizierter ‚Witz‘ – und damit zwangläufig pointiert ist. Auch die Engführung von Kürze und/oder Schnelligkeit und Komik mutet wie eine Binsenweisheit an und hat ebenfalls eine lange und wirkmächtige Tradition, betonen doch fast alle einschlägigen Komik- und Humortheorien (mehr oder minder beiläufig) den Aspekt der Schnelligkeit, Augenblickhaftigkeit, welche die Intensität der komischen Wirkung begünstig oder gerade erst ermöglicht. So heißt es in Kants berühmter – und ebenfalls von Robert Gernhardt in den Zehn Thesen zitierter8 – Definition aus der Kritik der Urteilskraft (1790), § 54: „Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts.“9 Wenige Zeilen später ergänzt Kant, daß […] der Spaß immer etwas in sich enthalten muß, welches auf einen Augenblick täuschen kann; daher, wenn der Schein in Nichts verschwindet, das Gemüt wieder zurücksieht, um es mit ihm noch einmal zu versuchen, und so durch schnell hintereinander folgende Anspannung und Abspannung hin- und zurückgeschnellt und in Schwankung gesetzt wird.10
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Die Kürze lyrischer Gedichte als gattungstheoretische Vorgabe hat eine lange Tradition, die bis zu Horaz’ Ars Poetica (V. 83-85), seinem Lob der Lyrik Pindars (Carm. IV,2) und Quintilians Katalog der Principes lyricorum zurückreicht (De Institutione Oratoriae X,1), die maßgeblichen antiken Muster in den Oden Pindars und des Horaz findet und über humanistische Pindar- und Horazkommentare (Badius Ascensius, Lonicerus u. a.) Einzug in die frühneuzeitliche Gattungspoetik (Minturno, Scaliger, Viperano, später Vossius u. a.) hält, bis um 1800 zunächst die Ode, dann das Lied zum Paradigma lyrischer Dichtkunst avanciert, die sich freilich von ihren antiken Wurzeln mehr und mehr ablöst. Vgl. hierzu KRUMMACHER, 2013a. 8 Vgl. GERNHARDT, 2010, S. 506. 9 KANT, 1957, S. 273 [Satz i. O. gesperrt gedruckt; Kursivierung von mir, M. J.]. 10 EBD., S. 274f.
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Das komische Kurzgedicht
Die gleichsam psycho-physiologische Erklärung des Lachens als eine rasche und heftige, durch eine im Augenblick verdichtete Täuschung hervorgerufene Gemütsbewegung kann als Zuspitzung und Fortschreibung frühneuzeitlicher Komiktheorien gesehen werden, besteht ihr gemeinsamer Nenner doch gerade in der Plötzlichkeit des zum Lachen reizenden Affekts. Bereits über ein Jahrhundert zuvor, im Jahr 1658, hatte Thomas Hobbes in seiner Schrift Über den Menschen ausgeführt: Allgemein ist das Lachen das plötzliche Gefühl der eigenen Überlegenheit angesichts fremder Fehler. Hierbei ist die Plötzlichkeit wohl erforderlich; denn man lacht über dieselben Dinge oder Scherze nicht wiederholt. Zur Entstehung des Lachens ist also dreierlei erforderlich: daß überhaupt ein Fehler empfunden wird, dieser ein fremder ist und die Empfindung plötzlich eintritt.11
Steht bei Hobbes dabei noch die Selbstaffirmation eines Ich gegenüber einem als lächerlich empfundenen fehlerhaften Anderen im Mittelpunkt, so rückt nach 1800 der Lachende zugunsten des Lächerlichen – also des Komik auslösenden Moments bzw. der komischen Konstellation – in den Hintergrund. Jean Paul, der 1804 in seiner Vorschule der Ästhetik das Lächerliche als das unendlich Kleine – im Gegensatz zum Erhabenen (dem unendlich Großen) – als eine „unendliche Ungereimtheit“, als einen „sinnlich angeschauete[n] unendliche[n] Unverstand“12 (§ 26) bestimmte, erklärt die Plötzlichkeit und Flüchtigkeit der sinnlichen Anschauung zur conditio sine qua non des komischen Affekts: Da man aber fragen muß: warum unterlegen wir nicht jedem anerkannten Irrtum und Unverstand jene Folie, die ihn zum Komischen erhellt? so ist die Antwort: bloß die Allmacht und Schnelle der sinnlichen Anschauung zwingt und reißt uns in dieses Irr-Spiel hinein. Wenn z. B. in Hogarths reisenden Komödianten das Trocknen der Strümpfe an Wolken lachen macht: so dringt uns die sinnliche Plötzlichkeit des Widerspruchs zwischen Mittel und Zweck den flüchtigen Glauben auf, daß ein Mensch wahre Regenwolken zu Trockenseilen gebrauche.13
11 HOBBES, 1966, S. 33. 12 JEAN PAUL, 1973, S. 114. 13 EBD., S. 111.
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Die Plötzlichkeit, mit der sie das sinnlich anschauende Subjekt gleichsam überrumpelt, ist also essentiell für die Täuschung, die es in das ‚unverständige‘ Spiel hineinreißt. Ein ebenso schnelles wie kurzes Beispiel (das freilich in der Schriftfassung gegenüber dem energischen Vortrag des Autors erheblich an Wucht verliert) ist Ernst Jandls spruch mit kurzem o.14 Dem „Irr-Spiel“, welches das Publikum durch seine Schnelligkeit zur Teilhabe zwingt, hier: dem rasanten Aufbau von Rezeptionserwartungen, die durch die gewichtige Gattungsbezeichnung ‚Spruch‘ induziert und durch die (mit Jean Paul) ‚sinnliche Anschauung‘ der Inszenierung Jandls performativ gestützt werden, folgt deren ebenso rasante Destruktion. Nicht selten wird die Kürze selbst oder die Nichteinhaltung des brevitasGebots durch Dichterkollegen zum Thema humoristischer Kurzgedichte – bzw. der Umstand, dass selbst kurze Gedichte bei mangelnder poetischer Qualität geschwätzig (oder schlicht, im Wortsinn, überflüssig) erscheinen mögen, etwa bei Ignaz Franz Castelli: Die kürzeste Länge Ein Distichon ist sein ganzer Gesang, Und dieses noch ist um zwei Verse zu lang.15
Die Kollegenschelte im Epigramm blickt auf eine lange Tradition zurück; frühe Exempla finden sich in der Anthologia Graeca, spätere in den Xenien – oder in den Spottgedichten der Romantiker, etwa dem folgenden aus der spitzen Feder August Wilhelm Schlegels:
14 JANDL, 1997, S. 35. Auf eine Wiedergabe des aus vier Buchstaben bestehenden Gedichts muss hier leider verzichtet werden, da die Verlagsgruppe Random House (nach Rücksprache und ungeachtet des Hinweises auf den wissenschaftlichen Charakter der Publikation) eine Abdruckgebühr erhebt, die in keinerlei Relation zum übrigen ökonomischen Zusammenhang akademischer Forschungstätigkeit steht. Dies ist freilich kein singulärer Fall und höchst bedauerlich – auch insofern, als sich die Fachgermanistik nicht selten mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, die Gegenwartslyrik zu ‚vernachlässigen‘. 15 CASTELLI, 1969, S. 202.
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Das komische Kurzgedicht Gesicherte Unsterblichkeit So lang es Schwaben gibt in Schwaben Wird Schiller stets Bewundrer haben.16
Während Komik in der epigrammatisch pointierten humoristisch-satirischen Invektive durchaus ihren angestammten Platz haben mag, gilt dies noch lange nicht für alle Exempla der (Groß-)Gattung der lyrica carminum, ist doch das Komische gattungshistorisch vor allem mit dem Drama bzw. der Komödie verknüpft; das Wort ‚komisch‘ geht auf griech. κωµικός (kōmikós) ,zum Lustspiel gehörig‘, ,scherzhaft‘ zurück. Einen weiteren Ort hat es traditionell in satirischen Formen, die – geht man von der Trias als den ‚Naturformen der Dichtung‘ aus – eher in der Epik anzusiedeln sind, nämlich in Satire, Groteske und Witz, der ja dank Jeans Pauls Bestimmung, „Kürze ist der Körper und die Seele des Witzes“, als paradigmatische humoristische prosaische Kurzform par excellence gilt.17 In der Geschichte der Lyrik – ein noch vor der Konstituierung der Gattung als einer der drei ‚Naturformen‘ seit jeher durch ein hohes Traditions- und Formbewusstsein geprägtes Feld – hat das Komische nun gerade nicht seinen angestammten Ort, im Gegenteil: Die Lyrik scheint diejenige der drei Naturformen zu sein, die wie keine andere auf Ernsthaftigkeit abonniert ist, geht es ihr doch viel mehr um das Erhabene denn um das Lächerliche, um eine Erhebung der Seele denn um eine Erschütterung des Zwerchfells; als Inbegriff des Dichterischen schlechthin gilt die Lyrik – maßgeblich geprägt durch die Rezeption Ps. Longins und die hieraus abgeleiteten Vorstellungen vom Erhabenen und dem dichterischen Enthusiasmus18 – seit dem 18. Jahrhundert für mindestens zwei Jahrhunderte als Zeugnis begeisterter Einbildungskraft sowie tiefster (und ernsthaftester) Empfindung. So heißt es in der wirkungsmächtigen, von Gottsched, Johann Adolf Schlegel und Ramler übersetzten Schrift Les Beaux Arts réduits à un même Principe von Charles Batteux über die Ode: „la 16 SCHLEGEL, 2011, S. 419. 17 JEAN PAUL, 1973, S. 176. Tatsächlich handelt es sich bei Jean Pauls Diktum um ein Zitat aus Shakespeares Hamlet, wo der Protagonist erklärt: „Therefore, since brevity is the soul of wit / And tediousness the limbs and outward flourishes, / I will be brief“ (SHAKESPEARE, 2011, S. 304 [II.2, V. 1184-1186]). Und hier wie dort ist nicht der Witz als komische Kurzgattung, sondern primär das Vermögen des Geistes (i. S. v. ‚Esprit‘) gemeint; bei Jean Paul bezeichnet „Witz“ den „anschauliche[n] Verstand oder sinnliche[n] Scharfsinn“ (JEAN PAUL, 1973, S. 122). 18 Vgl. KRUMMACHER, 2013b, S. 199.
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Poësie lyrique est toute consacrée aux sentimens“ („Die lyrische Poesie ist ganz den Empfindungen geweiht“).19 Ob Ode oder Lied, die ersten paradigmatischen Exempla der Gattungsentwicklung scheinen dem Komischen keinen Raum zu bieten; „im Reiche der Lyrik schwingt“, so Hans-Georg Kemper, „der Ernst als Souverän sein unduldsames Zepter“.20 Und in „Drama und Epik gibt es seit der Antike ein hoch respektiertes, vielseitiges und vitales komisches Genre, in der Lyrik dagegen gilt das Komische – von wenigen Ausnahmen abgesehen – als oberflächliche und minderwertige Verseschmiederei, die im ‚Tempel der wahren Dichtkunst‘ nichts zu suchen hat“.21 So weit die Theorie. Die poetische Praxis indes stellt sich gänzlich anders dar: Es scheint kaum eine (ex post betrachtet: lyrische) Form zu geben, die nicht bereits in einem frühen Stadium ihrer Entstehung, Adaption und Verbreitung zu Travestien, Parodien, kurz: zu komischer Form(er)füllung eingeladen hätte. Wann immer der Ton zu hoch wird, die Formensprache der Lyrik sich zu weit vom Boden der Realität und der alltäglichen Wirklichkeit ins Reich der erhabenen Empfindung erhebt, so ließe sich mutmaßen, sind der Komik, der Parodie und Travestie Tür und Tor geöffnet, der erhabene Gegenstand weicht dem Banalen, das Ideal der Realität, der hohe Ton dem niederen. Selbst – oder vielmehr: gerade? – das barocke Epitaph, als eine von vielen Gattungen im weit gefächerten frühneuzeitlichen Gattungsspektrum, deren Anlass und Gegenstand der Tod ist, hat unzählige Dichter zu komischen Varianten auf das Thema animiert, so z. B. Martin Opitz zu seinen Vnderschiedliche[n] Grabschrifften, etwa derjenigen Eines Kochs WIe wird die Welt doch vberal verkehret, Hie hat ein Koch im grabe seine ruh, Der mancherley von Speissen richtet zu, Jetzt haben jhn die Würme roh verzehret.22
Das „verkehret[e]“ Epitaph zeigt, dass die humoristische Variante einer Gattung nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit ihrer Ridikülisierung oder gar mit 19 20 21 22
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BATTEUX, 1989, S. 224 (Übersetzung von mir, M. J.). KEMPER, 2009, S. 8. EBD., S. IX. OPITZ, 1969, S. 9.
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einem Abgesang sein musste – die unernsten barocken Epitaphien entstanden zeitgleich mit tiefernsten Exemplaren. Neben dem ‚hohen‘ Gegenstand des Epitaphs mag es gerade seine Kürze gewesen sein, die zu Parodien herausgefordert hat – und diese war (wie diejenige des Epigramms) ursprünglich eine formatgebundene, denn: Wer in Stein zu schreiben beabsichtigt, wird jeden Buchstaben mehrfach überdenken. Noch im 18. Jahrhundert war das Epitaph nicht nur eine populäre Form der Gebrauchslyrik, sondern zugleich Ort der poetologischen (Kürze-)Reflexion, ob bei Alexander Pope23 oder seinem deutschen Übersetzer Friedrich von Hagedorn: An einen Verfasser weitläuftiger Grabschriften, aus dem Pope Der Gräber Überschrift ist sehr dein Werk gewesen; Doch jedesmal zu lang, und dieß ist nicht erlaubt: Die eine Hälfte, Freund, wird nimmermehr geglaubt, Die andre nimmermehr gelesen.24
Prominenter noch als das Epitaph hat sich eine andere frühneuzeitliche Form als Vehikel versifizierter Komik etabliert: Das Sonett war und bleibt eine der lyrischen Kurzformen par excellence, das die jahrhundertelange scharfe (und zu einem großen Teil humoristische) Formkritik überdauert hat, die Anstoß an Schematismus und Regelstrenge nahm. Gerade seine Kürze sowie die geschmähte Strenge haben sich in einem halben Jahrtausend gleichsam als die (Über-)Lebensversicherung des Sonetts erwiesen. Johannes R. Bechers Das Trunkene Sonett von 1937, ein Enkomion auf den Sozialismus, das „Stimme sein [will] auch eurer Zeit“, schließt mit den Versen: „Sagt, oder lebt ich viele Leben lang / Der Kürze wegen und dank meiner Strenge?!“25 23 Auch Alexander Pope, dessen Essay on Criticism die programmatischen Verse entstammen: „Words are like Leaves; and where they most abound, / Much Fruit of Sense beneath is rarely found“ (POPE, 1967, V. 109f.), zeigt sich der brevitasVorgabe verhaftet; das Original des von Hagedorn übertragenen Epigramms aus dem Jahr 1736 lautet: Epigram. On One Who Made Long Epitaphs (POPE, 1963, S. 822): „Friend, for your epitaphs I’m grieved, / Where still so much is said; / One half will never be believed, / The other never read.“ 24 HAGEDORN, 1969, S. 106. Der Umstand, dass heute das Verfassen komischer Todesanzeigen oder Grabinschriften in die Hände von Amateurdichtern gelangt ist, belegt ein fortwährendes Bedürfnis, den Tod in kurzer Form zu verlachen, wie der Erfolg einschlägiger Anthologien zeigt, vgl. etwa SPRANG/NÖLLKE, 2009; DIES., 2010; DIES., 2013; HANSING, 2010; BENKEL/MEITZLER, 2014. 25 BECHER, 1934, S. 47.
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Seit Martin Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey (1624) hat das Sonett in vier Jahrhunderten Phasen der Blüte wie der heftigsten Kritik (etwa durch die Aufklärer) durchlaufen und weitgehend unbeschadet überstanden; der Reiz, den es als gleichsam paradigmatisches Exempel einer stark reglementierten Form auf Poeten von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart ausübt, scheint annähernd ungebrochen. Von Gottsched über Mencke, Johann Heinrich Voß und Heinrich Heine („Die Sonettenwut grassiert so in Deutschland, daß man eine Sonettensteuer einrichten sollte.“26) bis zur Konkreten Poesie reicht die Traditionslinie der Sonettkritik, die das Fortleben der Form wie ein Zerrspiegel begleitet, ihr jedoch nichts anhaben konnte. Aus allen Angriffen scheint die Gattung letztlich bloß gestärkt hervorgegangen zu sein. Und in der Tat haben die „Sonettgegner ihren Sonettärger gern in Sonettform niedergelegt […], was naturgemäß die Sonettmenge regelmäßig hat wieder anschwellen lassen.“27 Dabei wird auffallend häufig ein Verfahren gewählt, das die eigene Fabrikation ausstellt und diese zugleich in ihrer Mechanik entlarvt, wie bei Johann Burkhard Mencke in Kein Sonnet: Bey meiner Treu es wird mir angst gemacht: Ich soll geschwind ein rein Sonnetgen sagen, Und meine Kunst in vierzehn Zeilen wagen, Bevor ich mich auff rechten Stoff bedacht; Was reimt sich nun auff agen und auff acht? Doch eh ich kan mein Reim-Register fragen, Und in dem Sinn das ABC durchjagen, So wird bereits der halbe Theil belacht. Kan ich nun noch sechs Verse darzu tragen, So darff ich mich mit keinen Grillen plagen: Wolan da sind schon wieder drey vollbracht; Und weil noch viel in meinem vollen Kragen, So darff ich nicht am letzten Reim verzagen, Bey meiner Treu das Werck ist schon gemacht.28
Auch in der Konkreten Poesie finden sich einige prominente Vertreter des Sonetts, man denke an Gerhard Rühms sonett, dessen semantische Dimension 26 HEINE, 1972, S. 375. 27 GERNHARDT, 2010a, S. 415. 28 MENCKE, 2013.
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sich in der ostentativ redundanten Benennung der formalen Einheiten der Gedichtform erschöpft, mithin als bewusste Tautologie von Form und ‚Inhalt‘ erscheint: erste strophe erste zeile erste strophe zweite zeile erste strophe dritte zeile erste strophe vierte zeile zweite strophe erste zeile zweite strophe zweite zeile zweite strophe dritte zeile zweite Strophe vierte zeile dritte strophe erste zeile dritte strophe zweite zeile dritte strophe dritte zeile vierte strophe erste zeile vierte strophe zweite zeile vierte strophe dritte zeile29
Gerade die beharrlich aufgespießte Starrheit, Regelhaftigkeit, Artifizialität der Form hat sich als Zielscheibe für eine Komik als produktiv erwiesen, die – in parodistischen Anverwandlungen des Musters – auf den hohen Wiedererkennungswert der Form setzt und den begrenzten Rahmen nutzt, um die bloße Regelerfüllung, den mechanisierten Herstellungsprozess auszustellen, den es doch eigentlich zu verbergen gilt (Mencke), die Form auszuhöhlen und mit redundantem Sprachmaterial (Rühm) oder einer monologisch-deftigen Gattungskritik zu füllen, wie im berühmten Beispiel von Robert Gernhardt: Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs Sonette find ich sowas von beschissen, so eng, rigide, irgendwie nicht gut;
29 RÜHM, 2005a, S. 112. Für die freundliche Abdruckgenehmigung dieses und eines weiteren Gedichts (waun s, s. u.) danke ich dem Autor.
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Maren Jäger es macht mich ehrlich richtig krank zu wissen, daß wer Sonette schreibt. Daß wer den Mut hat, heute noch so’n dumpfen Scheiß zu bauen; allein der Fakt, daß so ein Typ das tut, kann mir in echt den ganzen Tag versauen. Ich hab da eine Sperre. Und die Wut darüber, daß so’n abgefuckter Kacker mich mittels seiner Wichserein blockiert, schafft in mir Aggressionen auf den Macker. Ich tick nicht, was das Arschloch motiviert. Ich tick es echt nicht. Und wills echt nicht wissen: Ich find Sonette unheimlich beschissen.30
Auch Robert Gernhardts wortgewaltige Invektive (die ein bemerkenswertes Beispiel für einen performativen Widerspruch darstellt) hat der Gattung nicht den Todesstoß versetzen können, im Gegenteil. Das Sonett erfreut sich noch immer größter Beliebtheit, wie die neuerliche Reanimierung der Gattung bei älteren wie jüngeren und jüngsten GegenwartslyrikerInnen (wie Ror Wolf, Durs Grünbein, Franz Josef Czernin oder Ann Cotten) eindrucksvoll beweist. Damit scheint sich das Sonett als bester Beleg für die vierte von Robert Gernhardts Thesen zu qualifizieren; diese lautet: „Das komische Gedicht braucht die Regel.“31 Tatsächlich ließe sich die Frage aufwerfen, ob nicht Komik prinzipiell die Regel braucht – welche Gestalt sie auch immer annehmen mag, sei es in bewusster Normverweigerung oder in der (beinahe zwanghaften) Übererfüllung (und ggf. wie bei Rühm: Sinnentleerung) einer vorgegebenen Norm. Demgemäß lautet die einschlägige Definition im Reallexikon: „Als komisch gilt dasjenige, was der Erwartung widerspricht oder von der Norm abweicht.“32 Man darf vermuten, dass es gerade diese zwei traditionellen Bestimmungsmomente sind – seine Verpflichtung auf das Erhabene und die Regelstrenge der Form –, die das Gedicht zusätzlich zur genrekonstitutiven Kürze zu einem idealen Vehikel der Komik machen. Die Geschichte der Komiktheorie weiß: Wo das Erhabene gesucht wird, ist das Lächerliche nicht weit. Und: wo Regeln 30 GERNHARDT, 2013, S. 109. 31 GERNHARDT, 2010b, S. 503. 32 KABLITZ, 2007, S. 289.
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aufgeboten werden, reizt deren Verletzung – oder deren (oft nicht minder subversive) mechanische Übererfüllung. Gernhardt zufolge lebt Komik (nicht nur im Gedicht) von vorgegebenen Ordnungssystemen, ganz gleich, ob die außer Kraft gesetzt oder lachhaft penibel befolgt werden. Daher kann das komische Gedicht nur profitieren, wenn es von allen Regeln der Kunst tradierter Suggestionstechniken wie Reim und Metrum durchtränkt ist und wenn sein Dichter von allen bereits erprobten Drehs zur Herstellung komischer Wirkung weiß.33
Tatsächlich erweist sich das komische Gedicht hinsichtlich seiner Formensprache oft als bemerkenswert restaurativ, wenn nicht gar als anachronistisch. Nicht selten kommen hier bereits erprobte oder auch seit Jahrhunderten als nicht mehr zeitgemäß verworfene „Drehs“ zur Anwendung – Reime oder Metren, Versarten und Strophenformen vergangener Jahrhunderte; der (komische) Zweck heiligt, so scheint es, die Mittel. Selbst entlegene liedhafte Formen werden als komisches Format wiederentdeckt und -belebt wie das vierzeilige alpenländische Gstanzl oder Schnadahüpfel: Als Beispiel könnten die großartigen „schnodahibbfö“ eines Friedrich Achleitner gelten, die dem verstorbenen Kollegen der Wiener Gruppe gewidmet sind („fian h. c. artmann“) – mithin einem der prominentesten Autoren, die die Mundartdichtung salon-, oder besser noch: avantgardefähig gemacht haben.34 In Kombination mit der lautlichen Umschrift der Mundart, die bereits in der Schriftform eigenwillig-humoristisch wirkt und oft erst in lauter Lektüre ihre Bedeutung enthüllt, dem ländlichen Dreivierteltakt und ihrer (auch bereits jahrhundertealter) Affinität zu – meist derber – Komik schöpft Achleitner das humoristische Potential der liedhaften Kurzgattungen aus, indem er alpenländische Requisiten (wie den Trachtenhut) aufnimmt, sie mit banalen, skatologischen oder derb-sexuellen Alltagszusammenhängen oder den technischen Errungenschaften des 21. Jahrhunderts (Cyberspace) in komische Kollision bringt.
33 GERNHARDT, 2010b, S. 503f. 34 ACHLEITNER, 2011, S. 123-136. Angesichts des vom Verlag (nach Rücksprache) erhobenen Abdruckhonorars muss auch in diesem Fall auf die exemplarische Wiedergabe eines der vierzeiligen Gedichte verzichtet werden, deren Lektüre (sowie diejenige der „gstanzln“ im selben Band, S. 137-144) dessen ungeachtet nachdrücklich empfohlen wird.
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Das komische Gedicht ist – um es pauschal zu sagen bzw. verglichen mit dem gros der ‚ernsten‘ jeweils zeitgenössischen Lyrik – i. d. R. metrisch überreguliert, mag es nun aus der Feder großer Dichter stammen oder in der Freizeit von Hobbypoeten zusammengedrechselt worden sein, beim komischen Gedicht scheint die Grenze zwischen U- und E-Literatur ohnehin seit jeher nicht so scharf gesteckt. „Lyrik ist“, so wiederum Kemper, „in der GattungsTrias die form-bewußteste, deshalb erwächst die lyrische Komik auch vor allem aus der raffinierten Umbildung der lyrischen Formmerkmale“,35 nämlich „Reim, Vers, Musikalität und Kürze […]. Gerade ihre Popularität macht sie zu besonders ergiebigen Anknüpfungspunkten für komische Effekte.“36 Jedes poetische Werkzeug eignet sich gleichermaßen zum Ge- und Missbrauch: „Was er ererbt von seinen poetischen Vätern hat, sollte der Verfasser komischer Gedichte aus zweierlei Gründen erwerben: Um es zu besitzen und um es bei Bedarf getrost zu belachen.“37 Ob Gedicht- oder Strophenform, Versart oder Metrum – es gibt kaum eine Regulierung lyrischen Sprechens, die nicht den Spott ihrer Vertreter auf sich gezogen hätte; aber keine von all jenen so gern, häufig und wirkungsvoll wie der Endreim – etwa in Gernhardts Bekenntnis: Ich leide an Versagensangst, besonders, wenn ich dichte. Die Angst, die machte mir bereits manch schönen Reim zuschanden.38
Wie das Gedicht im Ganzen vermag der Reim eine gespannte Erwartung aufzubauen, die dann jedoch – mit nur einem Wort, ja zwei Silben – in nichts aufgelöst wird: Der Leser glaubt sich im Besitz des Zauberworts, die Entzauberung folgt auf dem Fuße. Aber auch mittels des Begriffs der Inkongruenz, der „bis heute eine fundierende Rolle in den Komik-, Witz- und Pointentheorien“39 spielt und dem zufolge ein Sachverhalt oder Text dann inkongruent ist, wenn er von dem aufgrund von common sense und lebensweltlicher Erfahrung Erwartbaren sowie von dem abweicht, „was in der formalen und semantischen Disposition eines Textes als Erwartungshaltung evoziert wurde“, lassen 35 36 37 38 39
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KEMPER, 2009, S. IX. EBD., S. 25. GERNHARDT, 2010b, S. 504. GERNHARDT, 2013, S. 55. KEMPER, 2009, S. 4.
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sich die Wirkungen des Konventionsverstoßes erhellend beschreiben:40 Der Bruch mit den Regeln des Reims wird – im Rahmen der textimmanenten Logik – als psychologische Folge der ‚Versagensangst‘ angekündigt und in der Schlusspointe (als Ver-Sagen) vorgeführt. Tatsächlich mag es als Anachronismus anmuten, dass Gernhardt auf den mentalen Mechanismus setzen kann, der den Rezipienten dazu zwingt, ‚zunichte‘ zu ergänzen – und dies zu einem Zeitpunkt, da der Reim schon längst von der Agenda avancierter Lyrik verschwunden ist (wenngleich er der landläufigen Meinung nach noch immer das Hauptkonstituens des Gedichtes, die ‚Regel schlechthin‘ sein mag). So schrieb bereits Arno Holz an der Wende zum 20. Jahrhundert: „Der erste, der – vor Jahrhunderten! – auf Sonne Wonne reimte, auf Herz Schmerz und auf Brust Lust, war ein Genie; der Tausendste, vorausgesetzt, daß ihn die Folge nicht bereits genierte, ist ein Kretin.“41 Robert Gernhardt jedoch repliziert darauf: „Falsch, ganz falsch: Der erste, der Herz auf Schmerz reimte, war ein braver Mann; der Einmillionste aber, dem es gelingt, die beiden Begriffe einleuchtend, einschmeichelnd oder nur eingängig zu paaren, ist ein Genie, zumindest aber ein hochachtbarer Artist.“42 Robert Gernhardts Plädoyer für die ‚Artistik‘ des wiederbelebten Reims mag Teil einer Selbstrechtfertigungsstrategie sein, auch wenn sie gar nicht vonnöten wäre, da ja im 21. Jahrhundert auch in durchaus ernstzunehmender und ernster Lyrik wieder hemmungslos gereimt werden darf und wird. Das Beispiel zeigt (und tritt dabei in eine Reihe mit den Sonetten Menckes oder Rühms), dass der gleichsam mechanischen Normerfüllung, also einer sinnentleerten Exekution von Regeln, nicht selten mehr subversives Potential und/oder Lächerliches innewohnt als der Normverletzung bzw. dem Bruch mit überkommenen Normen. Vor lauter Regelkonformismus – so scheinen diese Gedichte zu implizieren – finden in ihnen Kreativität, Genie, selbst ‚Sinn‘ keinen Platz. Überträgt man Henri Bergsons Konzept der Körperkomik, der zufolge „Haltungen, Gebärden und Bewegungen des menschlichen Körpers genau in dem Maße komisch [sind], wie uns dieser Körper an einen gewöhnli40 EBD. 41 HOLZ, 1963, S. 69. 42 GERNHARDT, 1990, S. 27. Sein Mitherausgeber der Anthologie Hell und Schnell, Klaus Cäsar Zehrer, pflichtet ihm bei: „Jeder Komikproduzent ist also Nachahmer und Neuerer zugleich: Er kommt nicht umhin, das geistige Erbe seiner Vorgänger fortzuführen (ober er mit ihm vertraut ist oder nicht), und er muß eine noch nicht allzu ausgeleierte Masche finden, die Tradition den aktuellen Maßstäben und Bedürfnissen anzupassen.“ ZEHRER, 2013, S. 506.
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chen Mechanismus erinnert“,43 im Sinne einer Textkomik etwa auf Gernhardts Anno 24, so speist sich Komik aus Formgebärden, die allein die Mechanik des Textes, seine Herstellung, seine Starrheit ausstellen. Freilich kann bereits 1924 von einem „Reimzwang“, wie er in Gernhardts ‚Gedicht‘ „[ü]ber Deutschland lastet“, keine Rede mehr sein: 1924. Über Deutschland lastet der Reimzwang. Reimzwingherrn sorgen dafür, daß er unerbittlich eingehalten wird. Da treffen sich auf einer der belebten Straßen der Kölner Innenstadt Harry und Ulla… Sie: Sag mal Schatz, wie kommt die Rose eigentlich an deine Hose? Er: Hör mal Liebling, sei so nett, sag nicht Hose zum Jackett! Sie: Also gut, wie kommt der Anker eigentlich an deinen Janker? Er: Dieser Anker ist ʼne Rose! Sie: Und was sucht sie auf der Hose? Er: Diese Hose ist ein Janker! Sie: Und was soll dann dieser Anker? Er: Eine Rose ist kein Anker! Sie: Eine Hose ist kein Janker! Er: Gottseidank, das klärt die Lage – Sie: Bleibt nur eine letzte Frage – Er: Eine Frage – bitte ja? Sie: Du – was haben wir denn da? Er: Schatz, du siehst doch, eine Rose! Sie: Und wie kommt die an die – Er: Halt! Das mach ich nicht länger mit! Sie: Ich auch nicht! Beide ziehen mit den Worten „Nieder mit dem Reimzwang“ durch die belebten Straßen der Kölner Innenstadt. Begeistert schließen sich die Volksmassen ihnen an. Vereinzelte Rufe, wie „Der Reim muß bleim“, erstickt man im Keim. Die Reimzwingherrn flieh’n, und man läßt sie zieh’n. Der Siegeszug der Prosa beginnt, und wer das nicht glaubt, der spinnt.44
43 BERGSON, 1988, S. 28. 44 GERNHARDT, 2013, S. 53f.
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Anno 24 wohnte nun im ausgehenden 20. Jahrhundert sicherlich kein poetologisch subversives Potential mehr inne, denn wo – mit Kemper – „inzwischen […] ‚alles geht‘, wo man sich über alles lustig machen kann, da werden auch der komischen Lyrik die Hörner stumpf“.45 Tatsächlich scheint sich Gernhardt hier in eine längst gewonnene Schlacht zu stürzen oder die Literaturgeschichte mit der Lizenz poetischer Freiheit umzudichten – die komische Wirkung des Dialogs (und der rahmenden narratio) indes steht außer Frage.46 Zwar ist Kemper durchaus zuzustimmen, wenn er feststellt: „Was – ja ob überhaupt etwas – komisch ist, entscheidet nicht der Text, sondern der Rezipient. Deshalb ist Komik in ihren Erscheinungs- und Deutungsformen ein eminent kulturhistorisches Phänomen.“47 Mit Gernhardt ist sich Kemper (und nicht nur er) darin einig, dass das komische Gedicht „zeitverfallen“ ist:48 „Wenn Lachanlässe in Vergessenheit geraten, wenn zeitbedingte religiöse, gesellschaftliche und politische Grenzziehungen und Tabus nicht mehr als bedrückend und verpflichtend empfunden werden, dann kann deren punktuelle Aufhebung kein befreites Gelächter zur Folge haben.“49 Dennoch scheint vielen komischen Gedichten etwas Überzeitliches innezuwohnen, das sie am Leben erhält und auch spätere Generation noch zum Lachen zu bringen vermag. Scheinbar widersprüchlich, aber doch nur folgerichtig heißt es bei Gernhardt in der nachfolgenden These: „Das komische Gedicht ist haltbar“, denn: Seit Gellert und Lessing haben deutschsprachige Dichter nicht aufgehört, aus der Tatsache der gebrechlichen Einrichtung der Welt kein Drama zu machen, 45 KEMPER, 2009, S. 13. 46 Unter einem ähnlich gearteten „Reimzwang“ steht der legendären Fredl-Fesl-Hit Ritter Hadubrand (der erste Song auf der LP Fredl Fesl, CBS 1976), in dem die Stammvokale der Reimworte (wenn der Sänger auch seine liebe Not damit zu haben scheint und mehrere Anläufe benötigt) erbarmungslos einander angeglichen werden: „der Ritter war ein finstʼrer Mann, den niemand richtig leiden kann Mägdelein sei nicht dump, laß ihn laufen diesen Lump Mägdelein sei doch schlau, laß ihn laufen diese Sau... (des reimt sich wenigstens...) Der Ritter hat in einer Nacht ihr ganz’ Vermögen durchgebracht […], er ging fort, er ging fort, obwohl er Treue ihr geschwort er ging fort, er ging fört, obwohl er Treue ihr geschwört... […] in den Floß, in den Floß, sich das arme Mädchen schmoß in den Floß, in den Fluß, sich das arme Mädchen schmuß. […]“ 47 KEMPER, 2009, S. 2. 48 GERNHARDT, 2010b, S. 505. 49 EBD.
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Maren Jäger sondern handfeste komische Gedichte, und die Leserschaft hat es den Verfassern dadurch gedankt, daß es deren profane Pointen weit häufiger im Munde führt und von Generation zu Generation weiterträgt, als die pontifikalen Worte der Dichter-Priester. Wir zitieren Heinrich Heine und nicht Ernst Moritz Arndt, Wilhelm Busch und nicht Emanuel Geibel, Christian Morgenstern und nicht Stefan George, Erich Kästner und nicht Theodor Däubler.50
Die oben zitierten Formen der Regelverletzung oder -übererfüllung sind es jedoch, die der Zeitverfallenheit des komischen Gedichts (und besonders der Satire), ja von Komik im Allgemeinen weitgehend enthoben scheinen. Es sei Kognitionspsychologen überlassen zu messen, ob alternierenden Metren prinzipiell eine zum Lachen reizende Qualität innewohnt oder ob der Knittelvers per se humoraffin ist – aber dass etwa dem Reim als lautlicher Koinzidenz, die zwei höchst unterschiedliche Dinge zueinander in Beziehung zu setzen vermag, eine besondere Artifizialität (und damit eine Affinität zum Lächerlichen) innewohnt, die mit der Ungewöhnlichkeit des Gleichklangs noch ansteigt, steht außer Frage. „Der Reim hat es an sich, dass er meistens irgendwie verheerende Folgen für die Zeile davor hat“, bringt es Otto Waalkes in einem ZEIT-Interview auf den Punkt.51 Und besagte „verheerende Folgen“ werden von der komischen Lyrik regelrecht (oder -widrig) gesucht. Schnadahüpfl und Gstanzl, Limerick oder Clerihew, Leberreim und Klapphornvers, ob geschüttelt, kreuzoder paargereimt – nahezu keine Formschablone des komischen Kurzgedichts kommt ohne den Endreim aus. Mag Komik auch ein zeitgebundenes Phänomen sein, mögen die belachten Gegenstände und Personen wie auch die verletzten Tabus späteren Generation nicht mehr bekannt oder nachvollziehbar sein, nicht nur ihre überzeitlich gültige Auseinandersetzung mit der gebrechlichen Einrichtung der Welt, sondern vor allem die poetologisch-formale oder auch sprachlich-stilistische Dimension ist es, die m. E. ihrer Vergänglichkeit Einhalt zu gebieten und die Zeiten zu überdauern vermag. Selbst wenn manche normative frühneuzeitliche Poetik heute annähernd in Vergessenheit geraten ist, so vermag das Spiel mit ihren Regeln (oder denjenigen der metrischen Regulation, des rhetorischen aptum oder der Sprache allgemein) doch immer noch komische Funken zu schlagen. Der zweite, nicht weniger wirkungsvolle Angriffspunkt für Komik im Gedicht ist – neben seiner starken Regelhaftigkeit – die durch Jahrhunderte der 50 EBD. 51 WAALKES, 2014.
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Gattungstheorie tradierte, freilich je nach Säkulum unterschiedlich motivierte und nuancierte Verpflichtung auf die große Empfindung, das Pathetische, den hohen Ton, das Erhabene. Aber es muss, so ist in der Vorschule der Ästhetik zu lesen, dem Erhabenen als dem „unendlich Großen, das die Bewunderung erweckt, […] ein ebenso Kleines entgegenstehen, das die entgegengesetzte Empfindung erregt“.52 Und „der Erbfeind des Erhabenen ist“ so Jean Paul, „das Lächerliche“ als „das unendliche Kleine“.53 Der Humor „erniedrigt das Große, aber […] um ihm das Kleine, und erhöhet das Kleine, […] um ihm das Große an die Seite zu setzen und so beide zu vernichten, weil vor der Unendlichkeit alles gleich ist und nichts“.54 Das Pendant zum ‚Großen vs. Kleinen‘ findet sich im ‚Hohen vs. Niederen‘. Alexander Pope hat den Begriff des ‚Bathos‘ in die philosophischpoetologische Debatte eingeführt, der sich sowohl als Ergänzung der Komiktheorie Jeans Pauls als auch zur konkreten stilistisch-strukturellen Applikation auf ein Verfahrensmuster komischer Kurzgedichte trefflich eignet. Das griechische βάθος bezeichnet das Niedere, Tiefe, in lautlicher Ähnlichkeit mit πάθος/Pathos – und als Inversion von ὕψοῦς bzw. Ps. Longins einflussreicher Abhandlung Περὶ ὕψους/Über das Erhabene. Seinen Mock-Essay Περὶ βάθους oder The Art of Sinking in Poetry, verfasst unter dem Pseudonym ‚Martinus Scriblerus‘ (das Gruppenpseudonym eines Clubs, dem auch Jonathan Swift und John Gay angehörten), eröffnet Pope mit der Klage, dass das Erhabene hinlänglich verhandelt und seine poetische Erzeugung zur Genüge eruiert und angeleitet worden sei – wohingegen eine korrespondierende Poetik des Niederen, eine rhetorische Bathos-Lehre noch immer ein schmerzliches Desiderat darstelle: „Nevertheless, too true it is, that while a plain and direct road is paved to their ὕψους, or sublime, no track has been yet chalked out to arrive at our βάθους, or profund.“55 Die Dringlichkeit und Relevanz dieses Unterfangens malt Pope in bilderreichen Antithesen aus: „We come now to prove, that there is an Art of Sinking in poetry. Is there not an architecture of vaults and cellars, as well as of lofty domes and pyramids? Is there not as much skill and labour in making of dykes, as in raising of mounts? Is there not an art of diving as well as of flying? […]“56
52 53 54 55 56
JEAN PAUL, 1973, S. 109. EBD., S. 105. EBD., S. 125. POPE, 1993, S. 196 [Herv. i. O.]. EBD., S. 199f. [Herv. i. O.].
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Die Kunst des Bathos wird, und hier ist Martinus Scriblerus einer Meinung mit seinem alter ego Alexander Pope, im guten Horazischen Sinne als Zusammenspiel von natura/ingenium und ars verstanden – und letztere aus der Rhetorik hergeleitet: If we search the authors of antiquity, we shall find as few to have been distinguished in the true profund, as in the true sublime. […] I grant, that to excel in the bathos a genius is requisite; yet the rules of art must be allowed so far useful, as to add weight, or, as I may say, hang on lead, to facilitate and enforce our descent, to guide us to the most advantageous declivities, and habituate our imagination to a depth of sinking. A true genius, when he finds anything lofty or shining in them, will have the skill to bring it down, take off the gloss, or quite discharge the colour, by some ingenious circumstance or periphrase, some addition or diminution, or by some of those figures, the use of which we shall shew in our next chapter.57
In einem scheinbaren Enkomion auf die Niederungen des Parnassus („lowlands of parnassus“) nimmt Pope die hochtrabenden und verblümten, absurden und unverständlichen Schreibweisen zeitgenössischer Dichter aufs Korn, allesamt Verstöße gegen das von Pope aufs Höchste geschätzte rhetorische Stilideal der perspicuitas. In den von Pope dargelegten Verfahren bzw. rhetorischen Mitteln des ornatus, die zur Perfektion in der Art of Sinking essentiell sind, spielt die Antiklimax („and figures where the second line drops quite short of the first, than which nothing creates greater surprise“58) als Prototyp der ‚verkleinernden („diminishing“) Figuren‘ eine besondere Rolle, insofern als sie einen plötzlichen Perspektivwechsel induzieren und den Leser überraschend mit der niederen oder lächerlichen Kehrseite des Erhabenen konfrontieren: [W]hen the gentle reader is in expectation of some great image, he either finds it surprisingly imperfect, or is presented with something low, or quite ridiculous: a surprise resembling that of a curious person in a cabinet of antique statues, who beholds on the pedestal the names of Homer, or Cato; but looking up
57 EBD., S. 212. 58 EBD., S. 219.
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Das komische Kurzgedicht finds Homer without a head and nothing to be seen of Cato but his privy member.59
Gerade diese Überlegungen aus Popes großangelegtem Fake haben Einzug in die Encyclopædia Britannica (und als Stilfigur in literaturwissenschaftliche Sachwörterbücher vornehmlich anglistischer Provenienz) gehalten. Dort liest man unter dem Eintrag „bathos“: (from Greek bathys, „deep“), unsuccessful, and therefore ludicrous, attempt to portray pathos in art, i.e., to evoke pity, sympathy, or sorrow. The term was first used in this sense by Alexander Pope in his treatise Peri Bathous; or, The Art of Sinking in Poetry (1728). Bathos may result from an inappropriately dignified treatment of the commonplace, the use of elevated language and imagery to describe trivial subject matter, or from such an exaggeration of pathos (emotion provoked by genuine suffering) as to become overly sentimental or ridiculous.60
Bathos präsentiert sich also ein eklatanter Verstoß gegen die rhetorische Tugend (virtus dicendi) des aptum, der Angemessenheit im Sinne einer Entsprechung von Gegenstand (materia) und Stil(lage) (genus dicendi), die noch die neuzeitliche Ausdifferenzierung des Gattungsspektrums maßgeblich beeinflusst hat. Hohe bzw. erhabene Gehalte bedürfen demzufolge des hohen Tons (genus grande), während niedere im genus humile oder medium abgehandelt werden können. Als besonders wirkungsvoll erweist sich Pope zufolge das Bathos, wenn es zu einem plötzlichen Umschlag des Tons kommt, der überraschend den Blick auf den niederen oder lächerlichen Gegenstand und zugleich (gleichsam ex post) die Unangemessenheit des pathetischen Einstiegs freigibt: Matthias Claudius: Fritze Nun mag ich auch nicht länger leben, Verhaßt ist mir des Tages Licht; Denn sie hat Franze Kuchen gegeben, Mir aber nicht.61
59 EBD., S. 220. 60 Encyclopædia Britannica, 2005, S. 958. 61 CLAUDIUS, 2011, S. 172.
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Bereits Lessing nutzte in seinen ‚Sinngedichten‘ die vierzeilige epigrammatische Form für eine Invektive, die wie ein Enkomion anhebt, um dann unvermittelt ins genus humile abzustürzen: Die Ewigkeit gewisser Gedichte Verse, wie sie Bassus schreibt, Werden unvergänglich bleiben: – Weil dergleichen Zeug zu schreiben, Stets ein Stümper übrig bleibt.62
Was zunächst wie ein Lob auf die Unvergänglichkeit der Dichtkunst klingt, entpuppt sich als Klage über die Unverwüstlichkeit schlechter Poesie. Durch das Bathos als Kunstgriff, die augenblickhafte Konfrontation des hohen Tons mit niederer Materie oder durch den abrupten Bruch in der Stillage und die damit einhergehende plötzliche Perspektivverschiebung wird das Gesamtgefüge des Gedichts instabil, da die Pointe eine Neubewertung des Beginns erzwingt. In diesem Sinne ließe sich auch das Bathos – mit Iser – als ein komikträchtiges „Kipp-Phänomen“ lesen.63 Das komische Kurzgedicht – sei es der Vierzeiler wie bei Claudius, das Epigramm oder das Distichon – bietet somit allein schon formal aufgrund seiner Pointierung und Zweiteiligkeit einen idealen Boden für die Mechanik des Umschlagens. Vor allem aber erhält die lyrische Dichtung durch ihre gattungshistorische Verpflichtung auf die erhabenen materiae und den hohen Ton, den Enthusiasmus des Dichters oder – seit Klopstock – auf die äußerste Bewegung der Seele eine Fallhöhe, die sie für das Niedere und Lächerliche, mithin für das Reale im Gegensatz zur Idealität der Poesie, in besonderem Maße angreifbar macht.64 62 LESSING, 2011, S. 422. 63 Iser führt hierzu aus: „Geht man davon aus, daß die im Komischen zusammengeschlossenen Positionen sich wechselseitig negieren, zumindest aber in Frage stellen, so bewirkt dieses Verhältnis ein wechselseitiges Zusammenbrechen dieser Positionen. Jede Position läßt die andere kippen. […] Die Negation scheint anzuzeigen, daß die negierte Position in ihr Gegenteil kippt – weshalb wir vom Entlarvungseffekt des Komischen sprechen; doch gleichzeitig verliert die negierende Position in solchen Augenblicken ihren Gegenhalt und beginnt ihrerseits zu kippen.“ (ISER, 1976, S. 399). 64 Diese Fallhöhe bekommen auch diejenigen lyrischen Erzeugnisse (und ihre Leser) zu spüren, die als unfreiwillige Komik zu klassifizieren sind – und nicht eingehend berücksichtigt werden konnten. Doch auch in Gedichten von so prominenten Ver-
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Tatsächlich sind – wie Kemper zu Recht konstatiert –, „alle Gedichttypen, die sich um 1800 entfalten“ (von der Ode bis zum Volkslied) „ernster Natur, während Komik, so scheint es, ihr ‚Wesen‘ zerstört“.65 Dies gilt in noch stärkerem Maße für die erlebnishafte Natur- und Liebesdichtung der Romantiker. Wenn es nun aber ein ‚Pfundskerl‘ unter den Dichtern gerade darauf abgesehen hat, das ‚Wesen‘ romantischer Poesie aufzuspießen, das Ideale mit dem Realen zur Kollision zu bringen, dann kommt ein Gedicht wie Heines Das Fräulein stand am Meere dabei heraus, in dem die romantische Kontemplation der Natur („Es rührte sie so sehre / Der Sonnenuntergang“) mit Bathos und Lakonie zu Fall gebracht wird („Hier vorne geht sie unter / Und kehrt von hinten zurück“66). In Friedrich Theodor Vischers Habilitationsschrift Über das Erhabene und Komische. Ein Beitrag zu der Philosophie des Schönen (1837) heißt es – in Fortschreibung der Erwägungen Jean Pauls: „Wie wir durch einen plötzlichen Ruck, als fielen wir von einer Höhe herunter, öfters aus dem Schlafe auffahren, so plumpt das Erhabene plötzlich zu Boden. Auch subjektiv erzeugt sich der komische Einfall immer in einem blitzartigen Auftauchen. Jeder Witz muß schnell sein.“67 Schnell wechseln das Erhabene und das Komische im Auge des Betrachters die Plätze; ‚Plötzlichkeit‘ oder die im Augenblick verdichtete Täuschung, ‚Schnelle‘, „blitzartige[s] Auftauchen“ – als Funktionselemente der Komik und Bedingung ihrer Wirkung auf das Subjekt sind sie (wie wir oben bereits gesehen haben) feste Topoi der Komiktheorie seit fünf Jahrhunderten. Kürze und Schnelligkeit fungieren mithin gleichsam als Katalysatoren, die es erst ermöglichen, den Niveauunterschied zwischen Erhabenem und Niederem, zwischen Ideal und Realität, zu überwinden – und dies gilt in besonderem Maße für komische Lyrik.68 Gerhard Rühms folgendes Dialektgedicht mutet
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treterinnen wie Friederike Kemper gerät letztlich das Ideale (die poetische Ambition) in eklatanten Konflikt mit dem Realen (der tatsächlichen poetischen Inkompetenz), so dass das Bathos zwar unintendiert, die komische Wirkung jedoch nicht selten umso größer ist. KEMPER, 2009, S. 9. HEINE, 2013, S. 18. VISCHER, 2013, S. 55. Es ist anzunehmen, dass die Kürze komischer Gedichte nicht allein Katalysator ist, sondern zugleich auch eine Legitimationsgebärde, die – auch wenn sie sie bereits zu überwunden haben scheint – noch immer der alten Verpflichtung der Lyrik auf das Große bzw. Erhabene (und der damit einhergehenden unverwüstlichen Publikumserwartung) Tribut zollt, wie etwa in Helge Schneiders ‚kleinem Gedicht‘ Der
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geradezu wie eine Exemplifikation des Pope’schen Bathos an und vermag in nur wenigen Silben mit aller Donau-, Wien- und Walzerseligkeit, die der zweite Vers „aun da schenan blaun donau“ als Erwartungshaltung aufbaut, radikal und in nur wenigen deftig-pointierten Silben aufzuräumen: waun s aun da schenan blaun donau schdinggd daun hod da johann schdrauss im soag an schas lossn69
Schon Christian Morgenstern sah in seinen Galgenliedern Exempla für einen Humor, dessen „Vorzug gerade in einer gewissen Art von Geistigkeit, von Helligkeit und Schnelligkeit besteht“.70 Und nicht ohne Grund überschreiben Gernhardt und Zehrer ihre große Anthologie komischer deutschsprachiger Gedichte mit dem Titel Hell und Schnell71 – und Gernhardt versucht in seinen (auch der Anthologie als Vorwort beigegebenen) Zehn Thesen nun gerade den Beweis zu führen, dass „die naturgemäß durch Helligkeit und Schnelligkeit wirkende Komik […] in Kurzformen“ besser aufgehoben sei als „in langen und breiten Zusammenhängen“, etwa den Lustspielen Shakespeares oder Cervantes’ Don Quichote. Gernhardt versucht mit aller (rhetorischen und Geistes-) Kraft, „das finstere Bild vom humorlosen, ja zum Humor unfähigen Deutschen“72 zu entkräften, indem er (These 10) kategorisch erklärt: „Das komische Gedicht markiert einen deutschen Sonderweg zur Hochkomik.“73 „Komik entsteht immer nur aus dem Ernst“,74 sagt Loriot 2008 in einem Zeit-Interview. Sei es durch ihre Hypostasierung als „Blüte der menschlichen Sprache“,75 ihre Verpflichtung auf das Erhabene und den hohen Ton oder
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Rabe (aus dem Album Es gibt Reis, Baby), das von Schneider selbst entschuldigend mit den Worten kommentiert wird: „Zwar nicht Rilke, aber dafür kurz.“ RÜHM, 2005b, S. 705. MORGENSTERN, 2000, S. 301 [Herv. i. O.]. GERNHARDT/ZEHRER (Hg.), 2013. GERNHARDT 2010b, S. 507. EBD. [Herv. i. O.]. LORIOT, 2008. HERDER, 1990, S. 124 [Herv. i. O.].
Das komische Kurzgedicht
durch ihre starke formale Regulierung – an Ernst hat es der deutschsprachigen Lyrik nie gemangelt.
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Satura: Figur und Idee bei Martianus Capella – und wie Notker sie vielleicht dachte 1 UTA STÖRMER-CAYSA Martianus Capella gehört zur Pflichtlektüre der Satireforscher.2 Auch wer Notkers Übersetzerwerk vom Anfang des 11. Jahrhunderts verstehen will, braucht Martianus.3 Seit dem Colloquium, auf dem die meisten hier versammelten Beiträge entworfen wurden, versuche ich immer wieder darüber nachzudenken und zu verstehen, warum Notker, der nur die ersten beiden Bücher übersetzt hat, den ersten Teil des narrativen Rahmens und damit den ersten Auftritt der Satura mitbearbeitet und übersetzt (und nicht streicht). Notker widmet der Rahmenerzählung zwei Kapitel, die zusammen bei Martianus dem Abschnitt I,2 entsprechen.4 Die vermutlich von Notker stammenden Überschrift5 der Hymne an Hymenaios: „SATIRA I HOORE HIMEEI HOS PRĘCIIT 1
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Diesen Versuch, auf seine Gegenstände hinzudenken, unternehme ich in Dankbarkeit für meinen verehrten Kollegen und lieben Freund Bernhard Spies, für den dieses intellektuelle Entgegenkommen, bei ihm eher Entgegeneilen, eine selbstverständliche Geisteshaltung ist, wie ich in bereichernden Jahren Tür an Tür erfahren durfte. Vgl. KINDERMANN, 1972, S. 100f. Vgl. GLAUCH, 2000, Bd. 1, bes. S. 15-25. Nc 5,8 bis Nc 6,21 entsprechend MaC I,2, ed. WILLIS 2,5-2,16. Diese Stellenangabe und alle folgenden beziehen sich auf die angegebenen Ausgaben. Bei Notker geben die Zahlen Seite und Zeile an. Bei Martianus bezieht sich die erste Zahlengruppe mit der römischen Ziffer auf Buch und Abschnitt, deren Zählung in allen modernen Ausgaben gleich ist, die zweite auf Seite und Zeile in der Ausgabe von Willis. Vgl. GLAUCH, 2000, Bd. 1, S. 117.
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UERSUS“6 schreibt die metrische Passage der Satura zu, was dem Verständnis des Remigius von Auxerre in dessen Martian-Kommentar folgt, aber zugleich eine Veränderung gegenüber Martianus darstellt.7 Dort erklingt der Hymnus als Gesang des Dichters, ohne Zuschreibung an eine andere Autorinstanz als ihn. Deshalb muss auch erwogen werden, dass Notker möglicherweise damit Stellung zur Gattung und zur Figur der Satura nimmt, die bei ihm ja nur sehr kurz vorkommt. Dann aber müsste diese kleine Eigenmächtigkeit mit einem Gesamtbild über den Begriff der Satura zu tun haben, den Notker aus dem ganzen Martianus schöpfte, so dass ihm die Figur auch in der Reduktion wichtig war. In diesem Gesamtbild kann das Prosimetrum, eine reihenbildende Mischung von Vers und Prosa, kaum das Leitkriterium für Satura gewesen sein; Notker versucht ja gar nicht erst, die prosimetrische Form nachzubilden, und er erklärt sie auch nicht.8 Das Bild, das Notker vom Text des Martianus und damit auch von der allegorischen Figur der Satura und ihrer Bedeutung haben konnte, wird durch Kommentare beeinflusst sein, nachgewiesen ist das nicht nur für Remigius von Auxerre, sondern auch für Johannes Scotus.9 Die erste Instanz war für ihn aber, wie für jeden Übersetzer, weil er sich Wort für Wort mit der Vorlage auseinandersetzen wollte und musste, Martianus. Also muss man mit enger Textlektüre und bei Martianus beginnen.
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Nc 3,5f. Remigius schreibt zum ersten Vers, es werde hier implizit behauptet, eine mit Martianus befreundete Satyra habe dieses Preislied auf Hymenaios gesungen. Remigius ed. LUTZ, S. 67: „TU QUEM PSALLETEM THALAMIS Introducitur hoc loco quaedam Satyra Martiani amica hos versus in honorem Hymenei cecinisse […].“ Damit versteht er den Wortlaut des zweiten Abschnitts bei Martianus, nach dem der Dichter die Verse dieses Lied in mehreren Anläufen singt („Dum crebrius istos Hymenaei versiculos […] cano“ MaC I,2, ed. WILLIS 2,5f.), so, dass die Dichterfigur etwas nachsingt und nicht etwa etwas in Anläufen erfindet – das lässt Martianus aber offen. Das ist umso erstaunlicher, als Notker ja auch ein zweites berühmtes spätantikes prosimetrisches Werk übersetzt hat, die Consolatio philosophiae des Boethius. Immerhin tritt darin aber keine allegorische Figur der Satura auf. Über die Aussparung der Form hat sich auch Sonja Glauch verwundert: „Es fällt auf, dass die beiden Prosimetren des Boethius und Martianus, die mit ihrer großen Bandbreite an verschiedenen Metren reichen Stoff für die Verslehre geboten hätten, in dieser Hinsicht überhaupt nicht ausgewertet werden. Die auftretenden Versformen wurden nicht einmal namentlich identifiziert […]“. GLAUCH, 2000, Bd. 1, S. 31f. Vgl. BACKES, 1982, S. 17-24, GLAUCH, 2000, Bd. 1, S. 87-98.
Satura: Figur und Idee bei Martianus Capella
Martianus Capella erzählt die allegorische Geschichte von Merkur, dem betriebsamen Gott des Handels, der aber auch die Redner besonders schützt: Merkur sucht eine Frau, wählt (da Sophia unerreichbar, Mantike, die Wahrsagerei, vergeben und Psyche in den Falschen verliebt ist) Philologia und lässt sie, nachdem sie das Weltliche von sich getan, eine Reise über den Himmel unternommen und dabei viel über den Weltlauf gelernt hat, vor den Göttern bestätigen und vergöttlichen. Merkur teilt seiner Frau die freien Künste, die ihm gedient haben, als Dienerinnen zu. Das gibt diesen Gelegenheit zu ausführlichen Reden darüber, was sie können und wissen. Davor endet, mit dem zweiten Buch, der eigentliche Bereich der mythologisch-allegorischen Handlung; mit dem dritten Buch setzen die Darstellungen der freien Künste ein, und jeweils von einer zur anderen und am Ende der Dichtung wird die Rahmenhandlung mit wenigen Sätzen kurz wieder aufgenommen. Im dritten Buch beginnt die Grammatik. Die letzte Rednerin ist im neunten die Harmonie, die mit einem Preislied an Jupiter, also in Versen, beginnt und am Schluss in Prosa über den Versbau spricht, so dass ihre Rede Makrokosmos (Sphärenharmonie) und Mikrokosmos (menschliche Rede und die Erinnerung daran) zusammenbiegt. Der darauf folgende Abschluss der allegorischen Handlung ist nur zwei Sätze lang. Eingebettet ist die Werbungs- und Hochzeitshandlung in einen Rahmen, in dem der gleichnamige Sohn Martianus seinen Vater, der gerade ein Preislied auf Hymenaios singt und sich darin wiederholt, drängt, sein Tun zu erklären. Daraufhin gibt der Vater die Geschichte von der Hochzeit des Merkur und der Philologie wieder, die ihm die Satura nächtens erzählt habe (I,2). Im neunten Buch wird in einer metrischen Passage ganz am Ende (IX,997-1000) der Rahmen der Erzählung durch die Handlung zwischen Vater und Sohn geschlossen. Nun ist am Ende die erzählte Geschichte, ein grammatisches Femininum, entweder selbst wie ein altes Weib oder so, wie sie alte Weiber erzählen (anilis). Sie wird von Satura aufgeführt, die, wenn anilis indirekt auf sie zielt, als alt vorgestellt wird. Satura spricht bis zum vorletzten Satz aber nicht mit der Erzähler-Figur, sondern für sie und über den Erzähler, den sie wie im achten Buch Felix Capella nennt (IX, 999). Satura kommt gleichwohl in der Binnenerzählung vor, und zwar an Stellen, in denen ein Dialog zwischen Erzählerfigur und Satura das Geschehen in der erzählten Welt gleichsam ästhetisch kommentiert.10 Das passt nicht ganz zu 10 Zu den Stellen, an denen Erzählerfigur und Satura miteinander auftauchen (III,221; VI,576ff.; VIII,808ff.), vgl. GREBE, 2006, S. 89f., und DÖPP, 2013, S. 439-446.
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einem wörtlichen Verständnis der Figurenrede des Erzählers am Anfang, in der er dem Sohn sagt, er wolle (ich zitiere die Übersetzung von Zekl) „eine Geschichte erzählen, die sich Satura ausgedacht und zu winterlicher Zeit der Arbeit in der Nacht den mit mir müde werdenden Lampen mitgeteilt hat“;11 bei Martianus: „fabellam […], quam Satura comminiscens hiemali pervigilio marcescentes mecum lucernas edocuit, […], explicabo“.12 Die Satura, wie sich der Leser deren Identität auch später vorstellen mag, erzählt ihre mythologischallegorische Geschichte also entweder, wenn man wie Zekl den Bezug lucernas mecum marcescentes ansetzt, nur für die Lampen oder, und wenn man anders bezöge (lucernas mecum edocuit) für die Lampen und den Erzähler.13 Es gibt zwei Möglichkeiten, sich das vorzustellen: Eine weibliche allegorische Figur belehrt – sitzend, stehend, das wird nicht gesagt – die Lampen und vielleicht den Erzähler. Sie behandelt den Lebenden also entweder wie nicht vorhanden oder wie totes Material, wie Pergament zum Beispiel. Das heißt: Sie traut den Lampen mindestens ebenso viel Verständnis zu wie dem lebenden Zuhörer, je nach grammatischem Verständnis des Satzes sogar nur ihnen – ihm also in jedem Fall wenig. Immer geht in diesem Vorstellungsbild die Animierung der Lampen mit der Ausblendung oder Verdinglichung des Lebenden einher. Das ist die erste Möglichkeit. Die zweite Sichtweise schafft ein Gegenüber von belehrender Satura einerseits, Belehrten, also den Lampen und dem möglicherweise von der Lehrerin ignorierten, aber doch anwesenden Menschen, andererseits. Diese frontale Belehrung müsste nicht zwangsläufig so stattfinden, wie man sie sich mit einer allegorischen Frauenfigur vorstellen könnte, sondern sie wäre auch mit einem Vorstellungsbild zu verbinden, das vertikal gedacht ist, von unten nach oben, indem nämlich die Satura als Buch oder als körperlose Stimme anwesend ist, die einen geschriebenen Text metonymisch vertritt: Satura, die Stimme der Tradition des Mischens verschiedener Stile und Formen, spräche aus dem Buch und für das Buch, so dass Lampen und Mensch, die sich darüberbeugen, es sehen und unter Umständen hören könnten: edocuit schreibt Martianus,
11 ZEKL, S. 46. 12 MaC I,2, ed. WILLIS 2,15f. 13 Sonja Glauch versteht Martianus an dieser Stelle anders und liest die Form comminiscens als ‚anfahrend, tadelnd‘, wie Notker sie verstand: GLAUCH, 2000, Bd. 2, S. 312f.
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ganz ohne mediale Festlegung, wobei das Präfix die vertikale Vorstellung eher begünstigt.14 Auf jeden Fall ist die Allegorie der Satura im ersten Buch eine schwache Personifikation, eine, deren menschlich und personal vorzustellende Eigenschaften nicht konsequent ausphantasiert sind, möglicherweise ist die Satura hier nur als die Stimme des Buches oder der Bücher zu denken. In den beiden längeren Auftritten der Satura im zweiten Teil des Werkes (im sechsten und im achten Buch) wird ein Zusammenhang von Erzählerfigur und Satura vorgeführt, der die Satura deutlich von den anderen allegorischen Figuren im Text unterscheidet. Die übrigen Allegorien sind nämlich in der erzählten Welt einfach Figuren, wie man Figuren kennt: Sie sind anwesend oder abwesend, aber nur eines von beiden. Dass der Text sie gleichzeitig auch für mindestens eine Bedeutungsebene beansprucht, wie es sich für Allegorien gehört, ändert daran nichts. Bei der Satura geht es nicht so übersichtlich zu.15 Das sechste Buch beginnt mit einem Hymnus an Pallas Athene, die als Göttin der in der folgenden Handlung hervortretenden quadrivialen Künste angerufen wird. Der zweite Abschnitt (in Prosa) beschreibt aus der Sicht des Erzählers einen ihm rätselhaften Vorgang: Schöne Frauen, der Text sagt noch nicht, wie viele, tragen ein grünes Objekt vor die Götterversammlung. Das Erzähler-Ich gesteht, nicht zu wissen, was es sieht. Das ist von der Fokalisierung her auffällig, denn wenn der Erzähler eine Geschichte wiedergibt, die er selbst gehört hat, dann wäre zu erwarten, dass er das eine über seine Figuren weiß, das andere nicht, aber immer von einem festen Wissensstand aus – die Unveränderlichkeit des Wissens über die sich entwickelnde Geschichte gehört zu einer Quellenfiktion, wenn man konsequent eine einmal gehörte Erzählung wiedererzählen wollte. Das ist aber offenbar nicht der Fall: Die Dichterfigur beschreibt, was sie nicht weiß, und artikuliert ihr Nichtwissen. Satura, deren Erzählung der Leser und Hörer bisher in der Vergangenheit und einmalig glaubte, tritt nun, diesmal ganz eindeutig eine allegorische Figur, neben den Erzähler und belehrt ihn, dass es sich um die Philosophie handle, die schon einmal vorkam, als die Götter ihren Beschluss zur Möglichkeit der Apotheose ausgezeichneter Sterblicher publik machen lassen wollen (I,96), und um ihre Schwester Paidaia – also soll man die nicht quantifizierten Schönen, die der
14 Für den Hinweis, dass die Wortbildung die vertikale Sicht stützt, danke ich Katharina Zierlein. 15 Ähnliche Beobachtungen finden sich bei DÖPP, 2013, S. 443f. Ich greife seine Überlegungen dankbar auf.
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Erzähler nicht zu kennen vorgab, im Nachhinein als zwei Frauen verstehen, und der grüne Gegenstand, der Abacus, zählt schon zu den Gerätschaften der danach auftretenden Geometrie und wird später erklärt. Der Auftritt der Satura im sechsten Buch beginnt so: hic, ut lepidula est, et quae totam fabellam ab inchoamentorum motu limineque susceperit, Satura iocabunda, „ni fallor“, inquit, „Felix meus, plurimum affatimque olivi […] perdidisti […]“.16
Zekl übersetzt: Hier (mischte sich) Satura (ein), wie sie denn aufgelegt zu Scherzen ist – und da sie doch dies ganze Geschichtchen (hier) von dem Entschluß zum Anfangen und von der Schwelle aus hat unternommen –, und sprach voll witzigem Spotte: Mein lieber Felix (Martianus Capella), wenn ich nicht täusche mich, so hast du sehr, ja übermäßig viel an Öl […] vergeudet […].17
Nachdem sie dem Erzähler damit vergeudete Arbeit vorgeworfen hat, wenn er nun nicht einmal die Philosophie und die Erziehung erkenne, und nachdem er kurz geantwortet hat, verschwindet Satura für zwei Bücher wieder. Keine andere Figur der erzählten Welt spricht mit ihr, es ist ungewiss, ob sie in der erzählten Welt überhaupt sichtbar und hörbar ist.18 Für den Ablauf der Vorgänge in der Götter- und Hochzeitshandlung, als deren Beobachter sich der Erzähler imaginiert, ist sie völlig entbehrlich. Wer oder was ist Satura hier? Die Bildlogik lehrt, dass Satura stets mit dem Erzähler und nie allein auftritt.19 Sie steht als Allegorie durch ihren Namen für eine Texttradition, die der Erzählerfigur auch in der erzählten Welt zeitlich vorausliegt. In der Handlung war sie durch die Rahmengeschichte zugleich als Quelle beansprucht worden. 16 MaC VI,576, ed. WILLIS 202,24-203,3. 17 ZEKL, S. 204f. 18 DÖPP, 2013, S. 444 spricht sich dafür aus, dies anzunehmen, und führt MaC VIII,806 und VIII,810 als diejenigen Stellen an, die die Anwesenheit der allegorischen Satura (und des Erzählers, wie man schließen muss) bei den Ereignissen in der erzählten Welt voraussetzen. Das sehe ich nicht als zwingend an; ohnehin besteht ja wie bei einer Jenseitsreise ein ontologischer Unterschied zwischen dem Erzähler, der durch die erzählte Welt führt, und den Figuren der erzählten Welt selbst. 19 Bei Annette Volfing lese ich die treffende Bemerkung, dass Martians Satura Ähnlichkeit mit Wolframs Aventiure-Figur im Parzival habe. VOLFING, 2008, S. 335.
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Nun agieren im Vordergrund der Handlung ja auch wissensverkörpernde Allegorien. Sie sind aber in der erzählten Welt einander sichtbar und miteinander verbunden; das zeichnet ihre Allgemeinheit aus, ihre Zugehörigkeit zum Weltbau, in den sie über Himmelsreise und Götterversammlung gestellt werden. Die Allegorie der Satura ist zugleich vor dem Subjekt und auf das Subjekt hin zu denken, und das bedeutet: Sie bezeichnet eher diejenige Traditionslinie, die der einzelne für sich sieht und schafft. Die Tradition liegt vor ihm, aber nur, wenn er sie organisiert; sie ist in gewissem Maße vorgeformt – zum Beispiel kann man wissen, dass die Satura iocabunda ist. Diese denkt sich, sagt der Erzähler, eine Geschichte aus, die er dann schlechter erzählt, als sie es selbst könnte. Aber da niemand außer ihm sie sieht und hört, legt die Bildlogik nahe zu ergänzen: Sie könnte ohne ihn gar nicht erzählen. Diese Wissensform Satura scheint also, wenn man MaC VI,576 zugrundelegt, grundsätzlich anders verfasst zu sein als die Kenntnisse der Künste, die sich in der allegorischen Handlung vorstellen: vorab von vielen gespeist wie diese, aber im Unterschied zu diesen hernach nur für einen zugänglich, der noch dazu fehlgehen kann. Die anderen Künste zeigen sich selbst, die Satura – als eine Dichtweise – braucht einen, in dessen Worten sie sich zeigen kann. Wiederum anders stellt sich das Verhältnis von Erzähler und Satura im achten Buch dar, wo sich eine Kontroverse zwischen Satura und dem Erzähler über das im Angesicht der Götter Gehörige entspinnt, als der Erzähler eine Beobachtung des betrunkenen Silen (MaC VIII,804) in Verse münden lässt (MaC VIII,805). Wie im sechsten Buch spricht Satura nur mit dem Erzähler und scheint nur für ihn anwesend zu sein. In dem Satz, der die wörtliche Rede einleitet, mit der Satura den Erzähler tadelt, wird zunächst ein Verhältnis der Schülerschaft unterstellt, denn sie wird eingeführt als „Satura illa, quae meos semper curae habuit informare sensus“20. Zekl schreibt: „die schon bekannte Satura, die sich’s immer angelegen sein ließ, meinen Empfindungen die Form zu geben“.21 Die sensus könnte man sicher auch anders übersetzen, aber dass informare mit literarischer Form zu tun hat, ist im Kontext sicher (und in der sehr genauen Übersetzung Zekls dankenswerterweise auch noch zu erkennen). Satura lehrt also, und das ist im Bild durchaus als personales Verhältnis verstanden, literarische Formgebung. In diesem Sinne tadelt sie auch. Was sie bemängelt, ist ein Verstoß gegen das Angemessene. Die Sprecherrollen in der folgenden Prosapassage MaC VIII,807 bis MaC VIII,808 sind in der Mitte 20 MaC VIII,806, ed. WILLIS 305,4f. 21 ZEKL, S. 272.
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nicht ganz klar. Die Anrede der Satura an den Erzähler, die ihn Felix und Capella oder wen auch immer nennt, sichert dem ersten Vorwurf ihre Sprecherschaft: „ne tu“ ait, „Felix, vel Capella vel quisquis es, non minus sensus quam nominis pecudalis, huius incongrui risus adiectione desipere vel dementire coepisti […]“.22
In der Übersetzung von Zekl: Felix oder Capella, oder wie man dich immer nennen mag, wo doch dein Sinn genauso tierisch wie dein Name ist – hast du, indem du dieses durch und durch unpassende Gelächter hier hereinbringst, denn nun begonnen, ganz und gar den Verstand zu verlieren und verrückt zu spielen?23
Nachdem sie diesen Vorwurf in fortgesetzter Anrede des Erzählers vorgebracht hat, wird der Dialog in zwei anredefreien Sätzen weitergeführt, die die Edition von Willis zur Rede der Satura schlägt, während ich sie aus inhaltlichen Gründen für einen Rechtfertigungsversuch des Erzählers halte; wenn ich die Interpunktion bei Zekl recht verstehe, ist er auch dieser Meinung. Es geht um die ersten Sätze von MaC VIII,807: at quo etiam tempore Cupido vel Satyrus petulantis ausus procacitate dissiliunt? nempe cum virgo siderea pulchriorque dotalium in istam venerabilem curiam ac deorum ventura conspectus.24
Bei Zekl heißen sie: Jedoch zu welchem Zeitpunkt lassen Cupido und der Satyr von der Mutwilligkeit ihres unverschämten Unternehmens ganz plötzlich ab? Doch wohl, als eine Sternenjungfrau, schöner als die anderen Geschenke, in ihrem Kommen zu der ehrwürdigen Versammlung der Götter zum Anblicke wird.25
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MaC VIII,806, ed. WILLIS 305,5-7. ZEKL, S. 272. MaC VIII,807, ed. WILLIS 305,9-12. ZEKL, S. 272f.
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Diesen Vorschlag kann kaum die Satura einbringen. Ein Bauplan mit Rückkehr zur Reihenfolge der Künste, in der sich nun die Astronomie präsentiert, liegt ja dem Verfahren des Erzählers schon beim Beginn der Silen-Ausschmückung zugrunde: Der Erzähler verteidigt sich also gegen den Vorwurf des Unpassenden mit der Absicht, einen effektvollen Gegensatz für Astronomias Auftritt zu nutzen. Zur Antwort fällt Satura überraschend in Verse, in denen sie die Astronomia bereits ankündigt. Auch als sie den Erzähler wieder, immer noch missbilligend, anredet, behält sie die Verse zunächst bei. Dabei tut sie, was den Begriff der Satura außerhalb dieser Dichtung im Kern ausmacht: Sie kombiniert Stile und Textmuster, um durch die Spannung zwischen Dargestelltem und Darstellungsart gewohnte Wahrnehmungsmuster ausdrücklich in Frage zu stellen. Der Erzähler lacht, wie er soll, bevor er die Satura daran erinnert, dass sie ja üblicherweise diejenige sei, die spotte, und dass auch Dichter immer wieder ihr Ziel gewesen seien. Spott, auch über Dichter, das ist aber, was sie gerade getan hat, denn der Erzähler hatte einen narrativen Gegensatz zwischen Hoch und Niedrig konstruiert, die Satura fand ihn wenig gelungen und lieferte einen praktischen Gegenvorschlag, bei dem die groteske Zusammenstellung nun nicht auf der stofflichen Ebene der erzählten Welt, sondern auf der Ebene der sprachlichen Mittel liegt. Mit dem Erzähler ist ja selbst ein Dichter am Werk, er wurde von der Instanz, die ihn den Spott gelehrt hat, gerade seinerseits in seinem Tun verspottet und hat das nur halb verstanden, stellt es aber wiederum dar. Das ist ein Kreis von mehrfacher Selbstreflexivität, für den die hübsche Bemerkung von Sabine Grebe, die beiden Figuren stritten sich wie ein Ehepaar,26 gleichzeitig wunderbar trifft (weil sie ein komisches Arrangement bezeichnet, was sicher intendiert ist) und zu kurz greift (weil die Schichtung der Selbstreflexivität nicht erfasst werden kann). Der Autor saturischer Texte, muss man aus der Stelle folgern, ist sich selbst ernst, aber sein Werk wird vor dem Hintergrund der Gattungen mit komischer Vermischung von Sprache und Stil alsbald wieder zum Gegenstand möglicher Verkehrungen und Vermischungen, was er durch die Vertrautheit mit der Tradition selbstverständlich weiß, wodurch er sich selbst wiederum tendenziell unernst wird.
26 GREBE, 2006, S. 89. Grebe sieht (EBD., S. 89f.) auch, dass in dem Streit selbst etwas enthalten ist, was mit dem Begriff von Satura zu tun hat; sie denkt dann aber vermutlich eher von der modernen Satireauffassung her und erkennt im ironischen Sprechen des Erzählers dasjenige, das auf diesen Begriffsinhalt verweist. Mit dem Satz „Allerdings sollte der ganze Disput nicht allzu ernst genommen werden“ (EBD., S. 90) geht sie aber wieder hinter ihre eigene Einsicht zurück.
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Da der Erzähler sich MaC VIII,809 gegen die Satura mit sehr grundsätzlichen Argumenten verteidigt, gilt seine erklärte Darstellungsabsicht, mit Scherz den Ernst der Belehrung zu durchbrechen und so die Ermüdung der Hörer oder Leser zu vermeiden, nicht nur in der erzählten Welt für das darin allmählich verfertigte Werk, sondern in der Konsequenz auch für das fertige Kompendium:27 „ergone figmenta dimoveam, et nihil leporis iocique permixti taedium auscultantium recreabit?“28 Zekl übersetzt: „Soll ich denn alle Einfälle ausschalten und soll denn keine Beimischung von Schönheit und Witz dem Überdruß der Hörer Frischung bringen?“29 Für das Verständnis von Satura und Scherzhaftem bedeutet diese Stelle so, wie sie in die fiktive Handlung eingebunden ist: Das, was der Erzähler tut und was er von Satura gelernt hat, was aber ihrem strengeren Urteil (ich übersetze mir das: der Gattungstradition) nicht mehr entspräche, ist ein Gestaltungsverfahren der Anreicherung mit Scherzhaftem, das sich auch von der engeren Gattungstradition lösen kann (wie es denn auch der allegorischen Figur in der Fiktion als fremd und kritikwürdig gegenübertritt). Dieses erweiterte Scherzhafte ist im Inventar reicher als das, was Satura selbst zuließe, es gehorcht weniger strengen ästhetischen Regeln und ist funktional bestimmt, weil es nicht auf Ganzheit eines Textes zielt, sondern gewissermaßen vom Minderheitenstatus aus erfunden wurde, als Abwechslung und Rahmung von Didaktischem, wie es bei Martianus die Reden der gelehrten Allegorien der freien Künste sind. Rahmung von Didaktischem? Obgleich die Satura die ganze Geschichte erfunden haben soll? Das scheint ein Widerspruch zur Rahmenhandlung, in der die Satura den Lampen die Geschichte erzählt; der Erzähler war ja eher als Protokollant denn als erster Adressat dazuzudenken. Wie kann die Satura die Urheberin der gesamten Geschichte sein, wenn sie ihrerseits mit Einzelheiten darin nicht einverstanden ist? Man könnte sich damit beruhigen, das sei dem Martianus nicht wichtig gewesen, oder damit, Satura habe bestimmungsgemäß Satire erfunden, genauer gesagt: menippeische Satire. Diese darf belehrend sein.30 Auch andere Gestaltungsmittel gehören in deren Inventar,31 nicht nur
27 Das hat Siegmar Döpp in einem früheren Aufsatz herausgearbeitet: DÖPP, 2009, bes. S. 220. 28 MaC VIII,809, ed. WILLIS 307,1-2. 29 ZEKL, S. 274. 30 Die unterschiedlichen Gesichtspunkte des Traditionsbezugs und der Gattungszuweisung, besonders auch hinsichtlich der kompilatorischen Aufgaben, referiert
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das Prosimetrum, sondern auch die Himmelsreise als Motiv und die drastische Komik der Episode, in der Philologia ihr weltliches Wissen ausspeien soll und beschriebene Bücher aus ihr herausgeschleudert werden,32 um sogleich von eifrigen Neugierigen, Allegorien von Künsten und von Wissenszweigen, aufgenommen zu werden (MaC II,133-138). Das ist aber eine Schaltstelle der Interpretation; wenn man sich angesichts dieses scheinbaren Widerspruchs zwischen Streitgespräch im achten Buch und erstem Teil der rahmenden Vorgeschichte in Buch I dafür entscheidet, dass Satura die menippeische Satire verkörpern müsse, weil sie den Widerspruch am ehesten zu erklären erlaubt, dann sind die Weichen für das Weiterlesen in Buch IX gestellt. Man kann das tun, aber man muss es nicht. Es könnte nämlich auch so weitergehen: Der Sprecher im ersten Teil des Rahmens war die ältere Martianus-Figur (der Vater). Dieser Martianus behauptete, die Satura habe die kleine Geschichte gelehrt (das war anfangs diskutiert worden). Im Schlussgedicht IX,997 aber kommen beide zu Wort, der Vater und die Satura. Die ersten Verse spricht der Vater, und er überreicht dem Sohn Martianus die Geschichte, die Satura den Lampen vorspielte, während sie nicht vorher erwähnten Pelasgern die Artes beizubringen versucht. Von diesen Pelasgern wird etwas gesagt, was man nur erraten kann, weil der Text an dieser Stelle verderbt ist. Habes anilem, Martiane, fabulam, miscillo lusit quam lucernis flamine Satura, Pelasgos dum docere nititur artes †cagris vix amicas Atticis.33
Wörtlich heißt das – allerdings wegen der offen bleibenden alternativen grammatischen Bezüge nur vielleicht –: „Behalte nun, Martian, die Altweibergeschichte, welche die Satura mit daruntergemischtem Flöteblasen/mit ge-
ausgewogen Sabine Grebe in der Einleitung ihres Buches (vgl. GREBE, 1999, S. 22-28). 31 Vgl. dazu ausführlich und eher bejahend PABST, 1994, S. 97-133; mit ausdrücklicher Diskussion von Für und Wider SHANZER, 1986, S. 29-30. 32 Zur literarischen Nachwirkung und zur Forschung vgl. den Kommentar von LENAZ, 2011, S. 298f. 33 MaC IX,997, ed. WILLIS 384,19-385,1.
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mischtem Geist34 den Lampen vorgespielt hat, während sie sich bemüht, die Pelasger ???cagris Atticis???35 kaum befreundete Künste zu lehren.“36 Der Ablativ flamine wird auch auf das Sprechen bezogen.37 In der folgenden Redepartie setzt die Erzählerfigur die Urheberschaft der Satura an der gesamten Dichtung voraus, bewertet sie aber wenig respektvoll. Sie rede viel, mische hohe Gelehrsamkeit mit Gemeinplätzen, habe den dummen Einfall gehabt, die freien Künste rundum vortragen zu lassen. Dass auch die Einteilung in neun Bücher von ihr stamme, sagt er gleich zu Anfang. Ob die nun folgende Redeeinleitung zum Auftritt von Satura (ab „haec ipsa“)38 als neutrale Erzählerrede oder als Figurenrede der Erzählerfigur verstanden werden soll, ist schwer zu sagen, könnte aber eine Rolle spielen (darauf komme ich später zurück). Unmissverständlich meldet sich jedenfalls mitten im nächsten Vers eine Stimme zu Wort, die die der Satura sein muss, denn sie spricht in einer leider wiederum durch Cruces entstellten Rede von Felix Capella in der dritten Person als einem beschwerten Mann, der sie gebeten habe aufzutreten. Sie spricht, hätte sich aber einen besseren Auftritt gewünscht: „multa chlamyde […] doctis approbanda cultibus“39 hätte sie auftreten wollen und können, also „in großer Robe und durch Bildung und Kultur wohlgefällig“40). Daran ist sie aber offenbar gehindert, denn der Dichter hat sie zu einem anderen – diesem – Auftritt genötigt. Ihr letzter Satz ist eine metaphorische Frage: ab hoc creatum Pegaseum gurgitem decente quando possem haurire poculo?
34 Remigius von Auxerre, der für Notker so wichtig war, dass seine Martianusübersetzung mit seinem Namen beginnt (Nc 2,3: „Remigius lêret únsich“), glossiert flamine an dieser Stelle mit spiritu: „FLAMIE spiritu, quia per te proferor“. Remigius ed. LUTZ, S. 369. 35 ZEKL hat in seiner Übersetzung (S. 329 zu MaC IX,997) eine Konjektur zugrundegelegt, die von Morelli stammt (ed. WILLIS, S. 385) und das verderbte cagris durch cathedris ersetzt. Dann ergibt sich, dass die Satura (Zekl liest mit einer alten Konjektur von Scaliger miscilla, vgl. WILLIS zur Stelle S. 384, also die gemischte Satura, ZEKL, S. 329) Künste lehrt, die kaum an den attischen Lehrkanzeln vertraut sind. Diesem Verständnis der Stelle folgt auch Döpp, 2009, S. 211. 36 Arbeitsübersetzung U. StC. 37 Beide Übersetzungen finden sich bei GERTH, 2013, S. 121 („mit gemischtem Liede [d. h. in Prosa und Vers]“) und S. 139 „mit vermischter Inspiration“. 38 MaC IX,999, ed. WILLIS 385,7. 39 EBD. 385,8f. 40 Übersetzung U. StC.
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Satura: Figur und Idee bei Martianus Capella (Den Brunnen für den Pegasus, den jener geschaffen hat, wann hätte ich den mit würdigem Gefäß schöpfen können?) 41
Die Frage macht nur Sinn, wenn Satura sagen will, dass sie es – aus dem Brunnen für den Pegasus in würdigem Gefäß zu schöpfen – nicht vermochte. Wenn es im Umkreis von Dichtungsmetaphern ein würdiges Gefäß gibt, liegt es nahe, einen Verweis auf Form und Struktur des Werkes darin zu sehen. Satura hätte in dem Bild ein angemessenes Gefäß besessen. Auf der anderen Seite hatte nach ihrer Darstellung die Erzählerfigur einen Brunnen des Pegasus geschaffen, er war also für wiederholte Besuche des wunderbaren Dichterpferdes bereit. Man müsste das in etwa so verstehen, dass Satura die Regeln und die richtigen Formen besitzt, der einzelne, höchst subjektive Dichter aber in ihrer Sicht das tiefe Reservoir an Einfällen und Fabulierfreude, aus dem sie schöpfen muss, damit etwas wird. Satura ist jedoch mit ihren Formvorstellungen offenbar nicht zum Zuge gekommen, sie hatte keinen rechten Zugang zu diesem Schöpfungsvorrat. Wie in dem kleinen Dialog in Buch VIII ist die Gattung zur Schöpfung des Neuen auf den ungeregelten einzelnen angewiesen,42 und in dem Wechsel, wie man ein Sprechen übereinander, aber nicht miteinander in der volkssprachlichen Lyrik nennen würde, im neunten Buch sind am Ende beide miteinander unzufrieden: die Gattung mit dem einzelnen Werk und seinem Autor, aber auch der Autor für das einzelne Werk mit der Gattung. Eine Einzelheit wäre noch zu bedenken und war vorhin übergangen worden: Sagt Satura das in Anwesenheit des Vaters und seines Sohnes, dem die Dichtung übergeben werden soll?43 Oder spricht sie nur im Bewusstsein des Vaters, als Rede in der Rede, wodurch die ganze Satura-Figur endgültig eine Funktion der Dichterfigur werden würde? Die Redeeinleitung heißt haec ipsa namque rupta conscientia turgensque felle ac bili.44
41 MaC IX,1000, ed. WILLIS 386,1f. Übersetzung U.StC. 42 DÖPP, 2009, S. 212, übersetzt wie ZEKL IX,1000, S. 330 poculo decente mit „mit einem sauberen [Zekl: mit saubrem] Becher“. Man müsste dann die Metapher etwa so ausphantasieren und semantisieren: Wenn Satura den reinen Becher hat, sie mit dem reinen Becher aber nicht schöpfen kann, dann deshalb, weil das Wasser aus der Quelle ihn verunreinigte. Alles Trübe an der Dichtung ginge dann auf den fiktiven Martianus zurück. 43 DÖPP 2009, S. 211f. geht davon aus, dass Satura von Vater und Sohn gehört wird. 44 MaC IX,999, ed. WILLIS 385,7f.
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Uta Störmer-Caysa (Diese nun, in innerer Zerrissenheit und aufwallend von Bitternis und Galle, [sprach]: 45)
Das ermöglicht beide Verständnisse: die gegenständliche Anwesenheit der Satura in der Gesprächssituation zwischen Vater und Sohn, aber auch, dass die Klage der Satura darüber, dass sie so hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben muss, nur im Kopf des Vaters stattfindet. Ohne dass die Entscheidung besonderes Gewicht beanspruchen könnte, neige ich zu der inneren Auffassung, und zwar wegen der Gesprächssituationen in den Binnenepisoden mit Satura, in denen es keine weitere Ansicht aus Figurenperspektive auf die Allegorie Satura gibt, kein hörendes Ohr für ihre Rede als das des erfundenen Dichters. Und mit dieser Annahme geht alles auf, die Rede des Autors wie die der Satura: Dass der Dichter sein Werk in 9 Bücher gegliedert hat und dass er darin die Künste der Reihe nach hat auftreten lassen, schiebt er auf die Erfordernisse der Dichtungstradition: Gliederung muss sein, und allegorische Einkleidung macht die Belehrung literaturfähig. Hier befindet man sich im allgemeinen Bereich des Lehrgedichts und der didaktischen Literatur. Die Dichterfigur lastet Satura aber auch an, dass sie Götter mit Musen, Bekanntes und Hochgelehrtes zusammenbringt – das aber ist nun die Gewohnheit der Vermischung, die dem Begriff der Sature zugrundeliegt und die sich in der menippeischen Form besonders gefestigt hatte. So ist in der Rede des Dichters ein Bild auf Satura enthalten, das sehr allgemein literarische mit sehr speziell menippeischen Zügen verquickt. Umgekehrt beschwert sich die Satura, dass sie nicht die Bildung zeigen könne, wie es in ihren Möglichkeiten läge, wenn sie unabhängig wäre, sondern dass sie sich der Dichterfigur anbequemt habe, ohne aber zugleich einen rechten Zugang zu seinen dichterischen Quellen zu erlangen. In ihrem erfundenen Selbstbild ist sie die Verkörperung des gebildeten Umgangs mit Dichtung und Lehre, aber sie braucht den Zugang dazu. Sie selbst sagt über sich nichts von Scherzen; auch dass sie zu einer Gliederung und zu allegorischer Handlung gezwungen worden sei, behauptet sie nicht. Die Standpunkte sind also nicht gegensätzlich, sondern sie ergänzen einander. Auch darin, dass dem fertigen Werk etwas Nachsichtheischendes anhafte, sind sich beide einig. Ihr einziger 45 Übersetzung U. StC. amque, das verstärkende oder hinweisende Wort, ist wiederum eine Konjektur von Morelli; die meisten Handschriften überliefern nauque, einige nauci. Vgl. die Edition von WILLIS zur Stelle, S. 385. Remigius von Auxerre hat nauci gelesen, aber offenbar als Adjektiv behandelt, denn er glossiert: „AUCI vili“. Remigius ed. LUTZ, S. 368.
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Dissens besteht darin, woher dieses Unvollkommene stammt und wer dafür verantwortlich ist. Die Dichterfigur schiebt es auf Einteilung, Allegorie und Vermischung, was bedeutet: In einem Rahmen, der von solchen Traditionen des Lehrens und des Vermischens vorgegeben ist, kann man nicht würdiger werden. Die Satura aber lastet das Abgeschmackte, das sie nur im Auftrag hergestellt habe, im Bild des unwürdigen oder unreinen Gefäßes dem einzelnen Dichter an. Sie sagt damit, dass die systemischen Möglichkeiten für Reinheit und Schönheit immer bestünden, wenn man ihr folge, jedoch habe der Dichter mit dem Seinigen nichts Gutes hinzugefügt. Das sind die Kehrseiten dessen, was er ihr vorwirft. Es wird, wie sich ergibt, in den Satura-Stellen des ersten, sechsten, achten und neunten Buches ein Satura-Bild erzeugt, das viel weiter ist als die allegorische Entsprechung zur menippeischen Satire, das eher gedacht ist als eine Gesamtheit der den uptiae Mercurii et Philologiae zugrundeliegenden literarischen Traditionen von wissensvermittelnder Literatur mit dichterischem Anspruch, worin die menippeische Satire als die nächstverwandte, historisch benachbarte inbegriffen ist. Diese Tradition wird konsequent, in allen Stationen, an denen Satura auftritt, in ihrer Abhängigkeit vom Dichter dargestellt; die Tradition ist im Dichter und für ihn, oder sie ist nicht.46 Am Schluss kehre ich zu Notker zurück, der dieses oben entwickelte Bild von der Satura-Figur aus Martianus haben konnte, um eine Vermutung zu formulieren, die sich nunmehr aufdrängt, die ich mir aber nur noch als neue Frage zurechtlegen, nicht mehr prüfen kann. Notker fügt, wie oben vorgeführt, eine Kapitelüberschrift ein, mit der er (wie Remigius in seinem Kommentar) das Preislied auf Hymenaios der Satura in den Mund legt. Und er übersetzt diejenigen Teile des Werkes, auf die die engere Tradition der menippeischen Satire am ehesten passt. 47 Das scheint mir darauf hinzuweisen, dass er die SaturaFigur nicht wie Martianus weit, sondern (angeregt durch Remigius) eng auffasst und, anders als Martianus, stärker menippeisch. Bei ihm sollen wohl allegorische Figur und im Text fassbare Gattungsnachfolge in einem einfache46 Dann kann ein Verständnis, nach dem der Schluss der Dichtung unzuverlässige Erzählinstanzen und unzuverlässige Erzählsituationen zeige, wie es der Tradition der menippeischen Satire entspreche (so argumentiert GERTH, 2013, S. 143), zwar richtig sein in der Abbildung des poetologischen und selbstreflexiven Charakters der Rahmenhandlung und der inserierten Satura-Stellen, aber es greift doch auch in gewisser Weise zu kurz, insofern es auf die Gleichsetzung der Satura mit Satire – in der der menippeischen Tradition – hinausläuft. 47 Vgl. CRISTANTE, 2011, S. XLVIII-LII und die vorn zitierte Literatur zum Thema.
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ren, nachvollziehbar spiegelnden Verhältnis stehen – das mehrfach reflexive, problematische Verhältnis von Satura-Figur und Text bei Martianus mag ihm für seine didaktischen Zwecke zu unübersichtlich gewesen sein.
Literatur Primärliteratur MaC = Martianus Capella, ed. JAMES WILLIS, Leipzig 1983. Nc = Notker der Deutsche. Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii, hg. von JAMES C. KING, Tübingen 1979. Remigius ed. LUTZ = Remigius Autissiodori Commentum in Martianum Capellam, ed. CORA ELIZABETH LUTZ, Leiden 1962. ZEKL = Martianus Capella, Die Hochzeit der Philologia mit Merkur. Übers., mit einer Einl., Inhaltsübers. u. Anm. versehen von HANS GÜNTER ZEKL, Würzburg 2005.
Sekundärliteratur BACKES, HERBERT, Die Hochzeit Merkurs und der Philologie. Studien zu Notkers Martian-Übersetzung, Sigmaringen 1982. CRISTANTE, LUCIO, Introduzione, in: Martiani Capellae De nuptiis Philologiae et Mercurii. Libri I-II, hg. von LUCIO CRISTANTE, ins Ital. übers. von LUCIANO LENAZ, Hildesheim 2011, S. XVVII-XCIV. DÖPP, SIEGMAR, Metalepsen als signifikante Elemente spätlateinischer Literatur, in: Über die Grenze. Metalepse in Text- und Bildmedien des Altertums, hg. von UTE E. EISEN/PETER VON MÖLLENDORF, Berlin, Boston 2013, S. 431-465. DERS., Narrative Metalepsen und andere Illusionsdurchbrechungen. Das spätantike Beispiel Martianus Capella, in: Millennium. Jahrbuch zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. 6 (2009), S. 203-220. GERTH, MATTHIAS, Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert nach Chr.: Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris, Berlin, Boston 2013. GLAUCH, SONJA, Die Martianus-Capella-Bearbeitung Notkers des Deutschen. Bde. 1 u. 2, Tübingen 2000.
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Satura: Figur und Idee bei Martianus Capella
GREBE, SABINE, Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii. Darstellung der Sieben Freien Künste und ihrer Beziehung zueinander, Stuttgart, Leipzig 1999. DIES., Traditionelles und Unkonventionelles in den Geschlechterrollen bei Martianus Capella, in: Frauen und Geschlechter. Bilder, Rollen, Realitäten in den Texten antiker Autoren zwischen Antike und Mittelalter, hg. von CHRISTOPH ULF/ROBERT ROLLINGER, Wien u. a. 2006, S. 81-106. KINDERMANN, UDO, Satyra. Die Theorie der Satire im Mittellateinischen. Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte, Erlangen 1972. LENAZ, LUCIANO, überarb. von LUCIO CRISTANTE, Commento. Libri II, in: Martiani Capellae De nuptiis Philologiae et Mercurii. Libri I-II, hg. von LUCIO CRISTANTE, ins Ital. übers. von LUCIANO LENAZ, Hildesheim 2011, S. 247-356. PABST, BERNHARD, Prosimetron. Tradition und Wandel einer Literaturform zwischen Spätantike und Mittelalter, Köln, Weimar 1994. SHANZER, DANUTA, A Philosophical and Literary Commentary on Martianus Capella’s De nuptiis Philologiae et Mercurii, Book I, Berkeley u. a. 1986. VOLFING, ANNETTE, Der sin was âne sinne. Zum Verhältnis von Rationalität und Allegorie in philosophischen und mystischen Texten, in: Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur. Blaubeurener Kolloquium 2006 (Wolfram-Studien 20), hg. von KLAUS RIDDER in Verb. mit WOLFGANG HAUBRICHS/ECKART CONRAD LUTZ, Berlin 2008, S. 329-350.
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IV. Komische Verfremdung und kritische Perspektivierung der Wirklichkeit
Komik der Realität im Drama Zetdam von Alfred Gong NATALIA SHCHYHLEVSKA 1. At omare Bedrohung im Werk Alfred Gongs Alfred Gong ist kein vergessener Autor, denn er war nie wirklich bekannt. Zwar war er in den 60er und 70er Jahren mit Gedichten und Kurzprosa in den wichtigsten Periodika und Anthologien in Deutschland und Österreich vertreten, was für einen in New York lebenden Exilanten keine Selbstverständlichkeit ist. Dass er heute dem breiteren Lesepublikum bekannt sein dürfte, ist jedoch nicht anzunehmen. Der scheue Dichter deutsch-jüdischer Herkunft wurde 1920 in Czernowitz geboren und war Schulfreund Paul Celans. Als Holocaustüberlebender war Alfred Gong auch in den USA, wo er seit 1951 lebte, latentem Antisemitismus ausgesetzt. Dies bestärkte seinen selbstgerechten Charakter, mit seiner direkten und oft kompromisslosen Art verbaute er sich selbst viele Veröffentlichungsmöglichkeiten.1 Seine Dramen – Alfred Gong war der einzige unter den Bukowiner Autoren, der auch Theaterstücke geschrieben hatte – blieben zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht.2 Dabei hinterließ er sechs dramatische Werke, deren Entstehungsdaten veranschaulichen, dass Texte fürs Theater ein fester und kontinuierlicher Bestandteil seines literarischen Werkes waren:
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Ein Beispiel dafür ist der Konflikt Alfred Gongs mit Peter Stadelmayer, Programmdirektor des Goethe House in New York. Vgl. dazu und zur Biografie des Dichters insgesamt SHCHYHLEVSKA, 2009. Erst 2007 sind Die Stunde Omega und Um den Essigkrug für den Leser zugänglich geworden: SUCH, 2007.
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Natalia Shchyhlevska
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acht würgt Europa. Tragödie in 5 ächten (1944) Der letzte Diktator. Tragödie (1944/5) Die Stunde Omega (1955) Zetdam (1958) Um den Essigkrug (1959) Klischee aus Übersee (1961)3
Zetdam entstand 1958. Im Frühling 1960 änderte Alfred Gong, beeinflusst durch die Lektüre des italienischen Dramatikers Luigi Pirandello, den Schluss und schrieb einen dritten Akt. 1964 bewarb sich Gong mit Zetdam um den Gerhart-Hauptmann-Preis, konnte sich jedoch gegen Heinar Kipphardts Schauspiel In der Sache J. Robert Oppenheimer nicht durchsetzen. Beide Stücke sind thematisch verwandt und widmen sich der atomaren Bedrohung. Theaterstücke zu diesem Thema entsprachen dem Zeitgeist und lagen Ende der 50er bzw. Anfang der 60er Jahre in größerer Zahl vor, darunter Carl Zuckmayers Das kalte Licht (1955), Bertolt Brechts Leben des Galilei (1954/56), Günther Weisenborns Göttinger Kantate (1958) und Familie von ewada (1958/59), Hans José Rehfischs Jenseits der Angst (1959), Heinrich Heyms Asche im Wind (1963) und Friedrich Dürrenmatts Die Physiker (1961). Zetdam ist bei weitem nicht das erste Werk Alfred Gongs, in dem er sich mit der atomaren Bedrohung auseinandersetzt. Hauptsächlich in Gedichten – Dies geschah, Bericht vom Weltraum, Die fliegende Arche, Zusammenbruch, Waldgang u. a. –, für die eine Endzeitstimmung charakteristisch ist, bannt Gong die atomare Bedrohung in Bilder der Zerstörung und des Untergangs. Die Sensibilität Alfred Gongs – wie auch anderer Autoren – für dieses Thema ist auf die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 zurückzuführen. In den 50er Jahren machte sich in der Öffentlichkeit die Angst vor einem neuen Krieg, der ein Atomkrieg sein könnte, breit. Indizien dafür waren die Atomtests in Kasachstan und die Entwicklung der Wasserstoffbombe (1949-1955). Mit akribischer Genauigkeit verfolgte Gong die Berichterstattungen zu diesen Themen und studierte das Leben von Robert Oppenheimer und Albert Einstein. Als Pazifist war er gegen die Entwicklung der Atomwaffen und warnte in seinen Werken vor den Gefahren, die 3
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Neben diesen sind im Nachlass des Autors in einer handschriftlichen Notiz zwei weitere Dramen genannt – Kriegsmärchen (1944) und Die Butterbrotlegende (1945/46) –, die vermutlich noch in Bukarest geschrieben wurden. Ein weiteres Drama – Weekend auf dem Mond (1948) – entstand in Wien. Diese drei Dramen sind nicht erhalten.
Komik der Realität im Drama Zetdam von Alfred Gong
von diesen Waffen ausgehen. Dieses Anliegen artikuliert Gong nicht nur in seiner Lyrik, sondern auch im Hörspiel Die Stunde Omega, in dem der Autor die Bedrohung durch den technischen Fortschritt und die Verantwortung des Menschen in der modernen Welt thematisiert. Mit Zetdam knüpfte Gong zwar thematisch an sein drei Jahre zuvor geschriebenes Hörspiel an, jedoch unterscheidet sich das „Satyrspiel“ sowohl von Die Stunde Omega als auch von den meisten Theaterstücken der deutschen Literatur zur atomaren Bedrohung in mehreren Hinsichten: In Zetdam fehlt jede Spur des dokumentarischen Theaters, das für die Stücke Kipphardts, Weisenborns oder Zuckmayers typisch ist. Nicht die historische Wirklichkeit, nicht Protokollauszüge und nicht das dramaturgische Mittel der Gerichtsverhandlung verwendet Gong, sondern er verlagert die Handlung seines Zetdam in den Bereich des Privaten, des familiären Streits, wodurch das Thema der atomaren Bedrohung marginalisiert vorkommt. Nicht Ernsthaftigkeit kennzeichnet Zetdam, sondern das Komödienhafte, das sich erst auf den zweiten Blick als bittere Satire und Parodie offenbart. Dabei setzt der Autor dialektale Ausdrücke und heiteren Jugendjargon als Stilmittel ein. Nicht aufgeklärte Wissenschaftler, die sich ihrer moralischen Verantwortung bewusst werden, stellt Gong ins Zentrum der Handlung, sondern er führt die Figur eines stummen, hilflosen, ja lächerlichen Gottes ein. Zunächst soll aufgezeigt werden, wie Komik bereits im Bühnenbild, in den Figuren und der Informationsvergabe an die Figuren angelegt ist. Im nächsten Schritt wird herausgearbeitet, wie Gong, um Komik zu erzeugen, die Bibel parodiert. Der vierte Abschnitt geht dann ausführlich auf die sprachlichen Mittel ein, die Gong zur Erzeugung seiner Komik dienen. Im letzten Teil wird schließlich ausgeführt, wie anstatt der erwarteten, durch Komik hervorgerufenen Entlastung das Komische am Ende des Dramas aufgehoben wird, und der Dichter dem Leser/Zuschauer das Leben von einem Dutzend Menschen überantwortet und ihn dadurch zum Komplizen macht. Spätestens hier werden die Parallelen zwischen Gongs Zetdam und der ‚nichtkomischen‘ Satire Swifts A Modest Proposal offensichtlich.
2. Komik des Bühnenbildes und der Fi guren Im ersten der drei Akte wird die zerrüttete Paarbeziehung zwischen Zetdam und seiner alkoholkranken Frau Zophia, die in ihrer Jugend von der großen Bühne träumte, zur Schau gestellt. Den Dialogen zwischen Zetdam und seinem
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Diener Bubi kann der Leser bereits im ersten Akt entnehmen, dass Zetdam sich in eine Abhängigkeit von Bubi begibt und dieser bald die Oberhand gewinnen wird. Der zweite Akt hat zwei Höhepunkte, die mit der Einführung zweier neuer Figuren entstehen. Zum einen handelt es sich um Gott, der als Ebenbild Zetdams in der Sauerstoffhöhle erscheint und ohne selbst ein Wort zu sprechen Zetdam zu komischen, ja tragikomischen Monologen bewegt. Zum anderen ist es der Abenteurer Zyx, der auf der Suche nach Edelmetallen von seinem „Zeiger“, eine Art Geigerzähler, in die Sauerstoffhöhle geführt wurde. Zilli, die Enkelin von Zetdam, fängt eine Affäre mit Zyx an und benutzt ihn, um ihren Großvater außer Gefecht zu setzen. Am Ende des zweiten Aktes klaut Bubi den Diamantenschatz und lässt Zetdam und die anderen Insassen der Sauerstoffhöhle im Stich. Im dritten Akt realisieren die Todgeweihten in der Höhle den Ernst ihrer Situation und bekriegen sich gegenseitig im Kampf um Gulasch-Konserven. Bubi offenbart sich als Dichter und Experimentator, der versucht, „zum Kern der menschlichen Existenz“ vorzudringen, und herausfinden will: „Sind die Menschen letzten Endes Engel oder Ratten?“.4 Dass das zweite der Fall zu sein scheint, bestätigt in erster Linie Bubis arrogantes Benehmen. Mit auffälliger Ausführlichkeit beschreibt Gong, wie das Bühnenbild gestaltet werden sollte: Die Schutzhöhle, in der sich die Handlung abspielt, ist ein im Fels ausgeschachteter Raum, der seinen Bewohnern das Überleben im kommenden Kernwaffenkrieg ermöglichen sollte. Im Sinne ihres Besitzers ist dieser Bunker praktisch und traditionsbewusst eingerichtet: Links, auf einer Erhöhung, zu der einige mit rotem Läufer bedeckte Stufen führen, ragt ein imposantes Himmelbett mit Baldachin, königsblauen Vorhängen und vergoldeten Troddeln. Rechts ist ein nüchternes Feldbett zu sehen. In der Mitte des Raumes steht ein runder Tisch mit eingelegtem Schachbrett, auf dem etwa zwei Dutzend Arzneifläschchen und Pillenschachteln aufgestellt sind. Um den Tisch zwei Stühle in Purpur und Gold, entsprechend der märchen- oder operettenhaften Vorstellung, die das Volk von Königsthronen hat. Dass die Thronbeine zu einer Schaukelvorrichtung umgebaut wurden, spricht für den praktisch-bürgerlichen Sinn ihres Besitzers. Neben dem linken Stuhl steht ein sehr sachlich aussehendes Schaltpult mit Knöpfen und Tasten. Extrem links, in
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GONG, 1958, S. 3 [Manuskript]. Alfred Gongs Nachlass befindet sich im Archives & Rare Books Department of the University of Cincinnati Libraries. Im Folgenden wird aus diesem Manuskript unter der Sigle ZM zitiert.
Komik der Realität im Drama Zetdam von Alfred Gong die Felswand eingebaut, befindet sich die Türe zum Lift[,] der dem Auf und Ab zwischen Höhle und Erdoberfläche dient. Einige Schritte vom Aufzug ist eine Wandschranktüre sichtbar, hinter der man Speisevorräte vermuten darf. Ganz rechts in der Felswand befindet sich der Eingang zum Waschraum. Knapp daran ist der Sauerstoffapparat eingebaut, eine ventilationsähnliche Anlage, die das Atmen in dieser hermetischen Höhle fördern soll. In der Mitte der gewölbten Wand prangt ein mannshoher Bildfunkschirm. Um ihn herum sind Zeichen direkt an die Wand gemalt, die als „die Höhlenkunst unserer Zeit“ für potentielle Zukunftsgenerationen beabsichtigt sind, wie z. B.: die Umrisse eines Autos und einer Rakete, eines Fisches und eines vierblätterigen Kleeblattes, ferner die Zeichen für Pfund-Sterling, Dollar, Deutsche Mark und diverse Franken, wie auch das aus drei bunten Reifen bestehende Symbol des Atoms. Darunter sind auch die Konturen eines Menschen nicht zu verkennen, obwohl der aus einer weißen und einer schwarzen Hälfte besteht. Selbstverständlich darf die Formel E = mc2 in dieser Komposition nicht fehlen. Über dem Bildschirm leuchtet das Zifferblatt einer großen Uhr, wie man sie gewöhnlich auf Bahnhöfen findet – doch bleiben ihre Zeiger während des ganzen Stückes konsequent auf fünf Minuten vor zwölf.5
Die Beschreibung, wie „praktisch und traditionsbewusst“ die Schutzhöhle eingerichtet ist, – „mit rotem Läufer bedeckte Stufen“, „ein imposantes Himmelbett mit Baldachin, königsblauen Vorhängen und vergoldeten Troddeln“, „zwei Stühle in Purpur und Gold, entsprechend der märchen- oder operettenhaften Vorstellung, die das Volk von Königsthronen hat“, – offenbart die Marginalisierung der atomaren Bedrohung. Dass es sich dabei nicht einmal um die Verharmlosung dieses Themas handelt, sondern dass sich Zetdam der Gefahr, die vom Besitz der Kernwaffen ausgeht, schier nicht bewusst werden kann, wird dem Leser/Zuschauer erst später deutlich, und auch nur ihm, denn die Figuren, insbesondere Zetdam, werden im Verlauf des Dramas kaum Einsicht in ihre Lage gewinnen. Die märchenhaft-kitschige Einrichtung kontrastiert mit dem „sehr sachlich aussehende[n] Schaltpult mit Knöpfen und Tasten“ sowie dem „Sauerstoffapparat“ und „Bildfunkschirm“. Untergebracht in einem gemeinsamen Raum, sehen diese Möbelstücke und Gegenstände komisch und surreal aus. Diese Wirkung wird durch die „Höhlenkunst unserer Zeit“ gesteigert, die als Parodie auf die Parietalkunst gelesen werden kann. „Die Menschen haben damals aufgrund ihres Glaubens in Höhlen gemalt und graviert. […] Die Bil5
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der sollten als Mittler zwischen der hiesigen und der jenseitigen Welt dienen.“6 In Zetdam demonstrieren die Höhlenbilder dagegen die Macht und Herrschaft des Menschen und verewigen seine Götzen: verschiedene Währungen, Auto, Rakete und das Atomzeichen. Die Umrisse „eines Fisches und eines vierblättrigen Kleeblattes“ rekurrieren zwar auf den Glauben bzw. Aberglauben, jedoch sind diese Elemente von neuen Götzen gänzlich verdrängt und scheinen nur deshalb erwähnt zu werden, um den thematischen Kontext zu stiften, vor dessen Hintergrund einerseits die religiöse Symbolik selbst lächerlich gemacht und in Frage gestellt wird, andererseits der moderne Glauben als nur noch degenerierter erscheint. Als Anspielung auf Ying und Yang, Begriffe der chinesischen Philosophie, die entgegengesetzte, aber aufeinander bezogene Kräfte symbolisieren, kann die Darstellung eines Menschen gedeutet werden, der „aus einer weißen und einer schwarzen Hälfte besteht“. Einsteins Formel für die Äquivalenz von Masse und Energie steht für den Höhepunkt der menschlichen Erkenntnis, die allerdings durch die Entwicklung der Kernwaffen die Selbstvernichtung der Menschheit ermöglicht. Alfred Gong verwendet die allgemein bekannten Symbole, jedoch transformiert er diese oder setzt sie so in Kontexte ein, dass sie in ein Missverhältnis zu ihrer ursprünglichen Bedeutung geraten. Hinter ihrer Lächerlichkeit verbirgt sich der bittere Ernst der Anspielungen: So kann „ein runder Tisch mit eingelegtem Schachbrett“ als Andeutung auf den Erdball, der zum Spielball der Atomwaffen besitzenden Staaten degradiert wurde, interpretiert werden. Die „zwei Dutzend Arzneifläschchen und Pillenschachteln“ verraten den mit Sarkasmus gewürzten schwarzen Humor des Autors: Welche Mittel würden vor atomarer Verseuchung schützen? Solche von Gong mit Vorliebe verwendeten Verfahren der Verkehrung finden ihren Höhepunkt in der Konzeption der Figur Gottes: Er wird als Ebenbild Zetdams entworfen – und das schließt alle negativen Eigenschaften des skrupellosen, bürgerlichen Spießers mit ein. Als ob Arroganz, Verdorbenheit und Verkommenheit Zetdams Gott nicht genug disqualifizieren würden, beraubt Gong ihn zudem der Sprache und konzipiert eine stumme, hilflose und demütige Gott-Figur, deren Lächerlichkeit in Zetdams Monologen vorgeführt wird. Lächerlich wirken auch andere Figuren – allen voran Zetdam selbst –, da sie sich trotz des bevorstehenden Atomkrieges in der Banalität des Familienstreites verlieren. Dass ihre Lage aussichtslos ist und die Zeit ihnen davonläuft, verdeutlicht die Uhr, deren „Zeiger während des ganzen Stückes konsequent auf fünf Minuten vor zwölf“ stehen bleiben. Dieses disparate Verhältnis zwi6
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schen Zeit und Raum kann als Anspielung auf irreparable Schäden der dargestellten Wirklichkeit gedeutet werden. Bereits mit dem Bühnenbild artikuliert Alfred Gong die ausweglose Situation seiner Figuren, die sich ihrer kritischen Lage weder bewusst werden können, noch fähig sind, ihre eigenen egoistischen Wünsche zugunsten der gemeinsamen Rettung aufzugeben. Jede einzelne Figur trachtet nach Macht und Herrschaft und hat keine Skrupel, das nächste Familienmitglied dafür aufzuopfern. Gewissen und Moral wurden durch Egoismus und Machtgier verdrängt. Dass die Macht verblendet und der Mensch zu einem unberechenbaren, sich selbst und Millionen seinesgleichen gefährdenden Amokläufer wird, zeigt Gong nicht im dokumentarisch-entlarvenden oder ernsthaft-belehrenden Ton, sondern karnevalesk und komödienhaft, als ob er sich in der Tradition des mittelalterlichen Narren wähnte. Diesen Eindruck verstärken die sprechenden Namen seiner Figuren. „Zetdam“ hat den durch Alliteration akzentuierten Nebentitel „Patriarch-PatrizierPatriot“ und ist der letzte Mensch in der alphabetischen Reihenfolge nach Adam. Er macht sich zum Auftrag, den Kernwaffenkrieg zusammen mit seinen Nächsten zu überleben. „Wo sich der Kreis schließt, da fängt er wieder an. Aus Zetdam wird Adam. Bubi soll die Chronik der Neuen Menschheit aufschreiben.“7 Zetdams Frau hieß in den ersten Fassungen Zeva, analog zu Zetdam eine Anspielung auf die letzte Eva. Der Name Zophia in der letzten Fassung ist an Sophia angelehnt und eine Parodie auf die Personifikation der Weisheit. Gleichzeitig schwingt im Namen Zophia das Wort ‚Zoff‘ mit, wodurch bereits am Anfang des Stückes der Familienstreit angekündigt wird. Der Diener von Zetdam heißt Bubi, was eine liebevolle oder herablassende Bezeichnung für einen Jungen sein könnte. Seine acht Kinder werden Buboiden genannt, so dass durch die griechische Endung -eides (‚ähnlich‘) ihr Familienverhältnis hervorgehoben wird. Der Name des Ingenieurs, Omega, wird mit dem biblischen Alpha und Omega assoziiert und deutet ebenfalls das bevorstehende Ende, den Untergang, an. Den Abenteurer tauft Gong auf Zyx – die drei letzten Buchstaben des Alphabets. Die Komik, ja Selbstironie des Stückes unterstreicht auch seine Bezeichnung als „Satyrspiel“. In der Antike beendete das Satyrspiel den Aufführungszyklus dreier Tragödien und zeichnete sich durch seine Heiterkeit aus. Und in der Tat kennzeichnet Komik nicht nur die Gestaltung des Bühnenbildes und die Konzeption der Figuren, sie sind vielmehr das zentrale Moment der gesamten Handlung.
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3. Das Parodi eren der Bibel als Komikverfahren Neben dem bereits angesprochenen Verfahren der Verkehrung erzeugt Alfred Gong Komik durch das Karikieren der Bibel. In seiner satirisch intendierten Parodie ahmt er einerseits biblische Inhalte und andererseits Sprache und Stil der Bibel verfremdend nach. Dies sei im Folgenden an einigen Textbeispielen aufgezeigt. Ursprünglich hieß das Drama Die Sauerstoffhöhle und war also nach dem Ort der Handlung, einem Schutzbunker, benannt. Die Konzeption des Ortes – eine Schutzhöhle – ist an eine biblische Erzählung angelehnt und karikiert diese: Wie die Arche Noahs seine Familie und alle Tierarten vor der Flut rettet, so soll die Schutzhöhle in Zetdam „das Überleben im kommenden Kernwaffenkrieg“ ermöglichen: In dieser Krypta. Wo die Zeit aufgehoben ist. Wo wir nicht altern. Wo wir auserkürt sind, Zweitausendjähriges zu vertreten. Die andern, sie werden alle tot sein, wenn wir wieder ans Sonnenlicht steigen. Uns wird die Erde ganz gehören. Von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang. Gerecht und schön werden wir sie neu gestalten. Im Sinne der Zetdams.8
Der Schutzbunker ist als Parodie auf die Arche Noahs (Gen 6, 13-18) zu deuten. Anders als Noah in der Bibel will Zetdam nämlich überleben, um selbst Gott zu sein, und nicht, um im Auftrag Gottes zu wirken wie Noah. Dies wird besonders anhand folgender Textstellen deutlich: Da sprach Gott zu Noach: Komm heraus aus der Arche, du, deine Frau, deine Söhne und die Frauen deiner Söhne! […] Da kam Noach heraus, er, seine Söhne, seine Frau und die Frauen seiner Söhne. Auch alle Tiere kamen, nach Gattungen geordnet, aus der Arche, die Kriechtiere, die Vögel, alles, was sich auf der Erde regt. Dann baute Noach dem Herrn einen Altar, nahm von allen reinen Tieren und von allen reinen Vögeln und brachte auf dem Altar Brandopfer dar. (Gen 8, 15-20) Und Zetdam stieg aus seiner Höhle und schaute sich um; und er schaute nach Nord und Nadir, nach Süd und Zenit; und er sah die vernichteten Städte und darin seine Feinde vernichtet; und er lachte und er weinte; und er sah die Sonne
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Komik der Realität im Drama Zetdam von Alfred Gong und den Mond wie gestern und vorgestern, unangetastet; und er zählte die Sterne, und sie waren alle da, vollzählig. Und Zetdam fuhr über und um diese Erde, verbrannt und finnig, und sammelte und zählte die Überlebenden. So kamen ihm in Glarus zwölf entgegen und knieten vor Zetdam und fielen auf ihr Gesicht und erhoben ihr Geschrei […].9
Während Noah im Auftrag Gottes agiert und sich seinem Befehl beugt, führt sich Zetdam als Herrscher über die Erde auf, wodurch Gong nicht nur die biblische Erzählung verkehrt, sondern das von Gott beklagte böse Trachten des Menschen illustriert: „denn das Trachten des Menschen ist böse von Jugend an“ (Gen 8,21). Diese Diagnose trifft auf Zetdam insbesondere an der Stelle zu, an der er seine Fragen an den schweigenden Gott richtet: Soll ich diese kleine Arche mit allerlei Getier füllen? – – Teil mir, bitte, Deinen Wunsch mit. – – Warum schweigst Du? – – Befiehl mir doch! Oder ist es so, dass einer Deinen Befehl selber erraten muss? – – (während Gott vor dem Feldbett hält) Meinen Sohn hast Du zu Dir genommen. Willst Du ein Opfer mehr? – – Nimm meine Frau, wenn es sein muss … Für dich ist mir nichts zu teuer! – – (während Gott das Schaltpult anstarrt) Oder hast Du es auf die Tochter meines Sohnes abgesehen? – – Wenn Du sie von mir nimmst, durch wen werden wir dann die Erde wieder bevölkern? Wir müssen doch alles im Voraus einkalkulieren, nicht wahr? – – Sprich doch endlich! Offenbar mir Deinen Befehl. – – Alles kannst Du haben! – – Genügt Dir etwa meine Buße allein? – – Soll ich diese Höhle verlassen und in die Wüste ziehen? – – Soll ich meinen Sklaven freilassen – – Soll ich dem Präsidenten die Anleihe gewähren? – –10
Auch an dieser Stelle greift Gong zur Verkehrung, um Komik zu erzeugen: Die Frage „Soll ich diese kleine Arche mit allerlei Getier füllen?“ korrespondiert mit Gen 6,20: „Von allen Arten der Vögel, von allen Arten des Viehs, von allen Arten der Kriechtiere auf dem Erdboden sollen je zwei zu dir kommen, damit sie am Leben bleiben.“ Allerdings werden in Zetdam die Rollen vertauscht: Während in der Bibel Gott Noah Hinweise gibt, was er für seine Rettung unternehmen soll, ergreift Zetdam selbst die Initiative und redet auf den schweigenden Gott ein. Ehrfürchtig, ja demütig, versucht Zetdam Gottes 9 EBD., S. 33. 10 EBD., S. 35.
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Willen zu erkennen. Dabei parodieren seine Fragen den Gestus der Gottesrede und greifen Inhalte des biblischen Prätextes auf. Die Unangemessenheit von Zetdams Haltung, und somit die Komik der Situation, offenbart sich angesichts der Machtlosigkeit Gottes: Er hat die Macht über die Menschen verloren, worauf seine Stummheit hindeutet, und kann nur zusehen, wie närrisch sein selbsternannter Nachfolger ist. Unterstützt wird die Komik, wie im letzten Satz des Zitats, durch die Ausfüllung des pathetisch-existenziellen Gestus mit Gegenleistungen aus politisch-ökonomischem Kalkül. Die Komik dieser Szene wird außerdem durch Blasphemie gesteigert: Noch wenige Augenblicke zuvor sagt Zetdam, als ihm von Bubi Gott gemeldet wird: „Gott? Unsinn. Ein Schwindler. Oder ein Verrückter … Wäre er wirklich Gott, so brauchte er nicht vor der Türe zu warten. Mühelos könnte er hier erscheinen, ohne Anmeldung und ohne Aufzug. Logisch? Jag ihn fort!“11 Nachdem im ersten Akt die zerrüttete Beziehung zwischen Zetdam und Zophia vorgeführt wurde, ist sein Angebot, seine Frau Gott als Opfer zu bringen, gefolgt von der Beteuerung „Für dich ist mir nichts zu teuer!“12 nur lächerlich und blasphemisch. Zetdams Bereitschaft, seine Familienmitglieder zu opfern, kann darüber hinaus als karikierte Anspielung auf Abraham gedeutet werden. Die Überlagerung der Züge mehrerer biblischer Figuren in Zetdam – Adam, Abraham, Noah und auch Hiob – bringt ein Durcheinander zustande, das mit dem disparaten Verhältnis zwischen Raum und Zeit im Drama korrespondiert und auf eine aus den Fugen geratene Ordnung hindeutet. Anders als die Sintflut, die eine göttlich veranlasste Flutkatastrophe für die Sündhaftigkeit der Menschen war, werden in Gongs Drama die Kernwaffen als das von Menschen erzeugte Mittel der absoluten Herrschaft dargestellt, das nicht nur die ursprüngliche Weltordnung aus dem Gleichgewicht bringt, sondern auch die Selbstvernichtung der Menschheit herbeiführt. Die oben zitierten Passagen aus Zetdam imitieren sprachlich und stilistisch die biblische Vorlage. Auch wenn die Bibel aufgrund ihrer Entstehungs- und Übersetzungsgeschichte ein heterogenes Werk ist und es nicht unproblematisch ist, vom biblischen Stil zu sprechen, können einige stilistische Mittel als typisch biblisch gedeutet werden. Hierzu gehören insbesondere Wiederaufnahmen, Parallelismen und Figuren der Häufung, auf die auch Alfred Gong mit Vorliebe zurückgriff. Die unzähligen Aufzählungen werden bei Gong mit „und“ verbunden – „[…] und er lachte und er weinte; und er sah die Sonne und 11 EBD., S. 34. 12 EBD., S. 35.
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den Mond wie gestern und vorgestern […]“.13 Diese kreisförmigen, spiralartigen Aufzählungen dienen Gong als Mittel der Amplifikation, was zur gesteigerten Wirkung des Gesagten beiträgt und ihm archaisch-mythische, märchenhafte, ja magische Perspektive verleiht. Darüber hinaus vermögen sie einen imaginären Film vor dem inneren Auge des Lesers abzuspulen und bringen das Geschilderte in seiner ganzen Plastizität und Intensität näher. Die Parodie ist also auch der Ausgangspunkt für eine affirmative Inanspruchnahme des Bibelstils bei Gong. Gong zitiert nicht direkt aus der Bibel, sondern bedient sich einer Methode des „imitierenden Zitierens“,14 indem er die Sprache und den Duktus der Heiligen Schrift nachahmend parodiert. Der Rückgriff auf sprachlich variierende Paraphrasen, Reduktionen und Transformationen ist dabei unvermeidlich. Diese Vorgehensweise erinnert an das antike Prinzip der literarischen Nachahmung (imitatio), das kein mechanisches Wiederholen verlangte, sondern eine selbständige, produktive Auseinandersetzung mit den maßgeblichen Mustern und Vorbildern.15 Als Ideal galt, „die Vorlagen weiterzuentwickeln und zu überbieten, übliche Stoffe und Worte zu etwas Neuem zu gestalten, jedoch so, daß Altes und Neues übereinklingen, Fremdes und Eigenes in einer Synthesis verschmelzen.“16
4. Sprachkomik und ihre Verfahren Der Sprache seiner Figuren schrieb Gong eine besondere Bedeutung zu, wie aus einem Brief an seinen langjährigen Freund Bodo Scheurig hervorgeht: „Natürlich soll die Sprache idiomatisch und salopp gehalten werden. Zeva verfällt oft ins Wienerische; Zilli soll nach Möglichkeit die Sprache der heutigen Jugend vertreten, d. h. soviel ‚halbstarke‘ Ausdrücke als möglich. […] Bubi und Zetdam sollten sogar schönes Deutsch sprechen.“17 Bubi spricht nicht nur „schönes Deutsch“, sondern wird neben seiner Hauptfunktion als Zetdams Diener gleich zu Beginn des Dramas als Dichter eingeführt. Bemüht um Reime
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EBD., S. 18. METSCHIES, 1966, S. 23. Vgl. BARNERT, 2007, S. 26. EBD., S. 27. Alfred Gong an Bodo Scheurig. Brief vom 22.09.1958, AGP.
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muss er – programmatisch für das gesamte Stück – feststellen, dass die Sprache angesichts der Wahrheit versagt: Blaupause – Brause … Hiroschima … Wo finde ich einen Reim auf Hiroschima? … Klima! … Lächerlich. Nichts reimt sich auf Hiroschima. Wozu reimen? Reime sind Artefakte, Fesseln, Lüge. Mir aber geht es nur um die Wahrheit. Wahrheit reimt sich nicht oder ganz selten. Die Wahrheit gibt sich ungeschliffen. Eine Kladde, karg und provisorisch. Das zeitgenössische Gedicht gleiche einem zerbrochenen Spiegel, der in seinen Scherben die Fragmente unseres zerschlagenen Zeitbildes einfängt. Das Gedicht als unvollendetes PuzzleSpiel, als eine Rechnung, die nicht aufgeht … Also weg mit den Reimen, Bubi.18
Der Vergleich des zeitgenössischen Gedichts – und somit der Sprache – mit einem zerbrochenen Spiegel korrespondiert mit dem bereits angesprochenen disparaten Verhältnis zwischen Zeit und Raum sowie der durch die Erfindung der Atomwaffen aus den Fugen geratenen Weltordnung. Die oben zitierten Gedanken über Reime und Wahrheit formuliert Bubi, während er ein Gedicht niederschreibt: Auf die Frage des Ingenieurs Omega („Haben Sie was gesagt“) antwortet Bubi: „Nein. Habe nur mein neustes Gedicht notiert. Eine Zukunftsvision, betitelt ‚Perspektive‘.“19 Alfred Gong verweist hier auf sein gleichnamiges Gedicht, das 1958 erstveröffentlicht wurde und „die Fragmente unseres zerschlagenen Zeitbildes einfängt“20. 4.1 Intertextualität, Verfremdung und Hybridisierung Wie sich Brüche und Deformationen in der Sprache niederschlagen, wie Gong verschiedenste Inhalte auf eine überraschende und verschlüsselte Art und Weise in die Sprache hineinschmuggelt und verschränkt, soll im Folgenden anhand eines Textauszuges aufgezeigt werden. Im ersten Akt erläutert Bubi für Zilli und Omega die Zeichen an der Wand:
18 ZM, S. 3. 19 EBD., S. 4. 20 SHCHYHLEVSKA, 2009, S. 93.
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Komik der Realität im Drama Zetdam von Alfred Gong Bubi:
[…] Was waren das für Menschen? Halb weiß, halb schwarz? Die schwarze Hälfte krampft sich um den Dolch, die weiße aber hebt gen Himmel zart die Rose… (zu Omega und Zilli): Wißt ihr Bescheid? Omega: Ich hab’s. Es ist der Doktor Faust. Zilli: Kalter Kaffee. Jeder blinde Kentaur würde ihn gleich erkennen. Don Juan ist es. Bubi: Faust auf Hühnerauge. Weder Don Juan de la Mancha noch der Faust mit dem eisernen Handschuh. Zilli: Ich weiß es! Mackie Messer, der sich ein Röslein organisiert hat. Bubi: Setz dich und schreibe einhundert Male ab: „Diese Yang und Yin[g]Gestalt ist der Mensch unseres Zeitraumes. Er heißt Kainabel“. Zilli: Natürlich! Daß ich ihn nicht gleich erkannt habe, den Mischling. Bubi: Jawohl, Kainabel, Phänotyp dieses Vierteljahrhunderts. Zilli: Er ist ein Faß! Bubi (weist auf die Zeichnung des Fisches) Und seitlich, hier, gewahren Sie den Ichthyos, das Zeichen seines Glaubens, der ihn labte und ihn quälte. Zilli: Ichthyos? Mußt du immer parlewu-en, du welscher Aal? […] Bubi: Nicht zu vergessen seine ernsten Hobbies, habe ich hier die Konturen aufgezeichnet des alten Rolls Royce und der Rakete dernier cri – denn er hatte alles, nur nicht Zeit, mein Zeitgenosse, der gejagte Jäger. Zilli: Welch eine Wahntasie!21
Das erste Charakteristikum dieser Passage ist eine dichte, verschränkte Intertextualität. Sie präsentiert sich in Form eines Ratespiels, in dem Zilli und Omega mit ihrer literarischen (Halb-)Bildung aufwarten. Die assoziativen Übergänge zwischen den literarischen Reminiszenzen tragen ihrerseits zur Komik bei. Mit Doktor Faust und Don Juan verweist Gong auf zwei zentrale Gestalten der europäischen Dichtung. Während Don Juan als Archetypus des Frauenhelden gilt und verwendet wird, um den Lebensgenuss anzuprangern, symbolisiert die Faust-Figur einen forschenden Menschen, der die Grenzen überwindet, aber ins Verderben stürzt. Im nächsten Schritt – „Weder Don Juan de la Mancha noch der Faust mit dem eisernen Handschuh“ – verfremdet Gong beide Gestalten und erweitert ihre Deutungsmöglichkeit. „Don Juan de la Mancha“ rekurriert auf Cervantesʼ Don Quijote, „der Faust mit dem eisernen Handschuh“ auf 21 ZM, S. 9.
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Goethes Götz von Berlichingen. In der collageartigen Zusammenstellung entsteht eine Kette von Anspielungen, die nicht nur verfremdend wirken, sondern einerseits eine Trivialisierung bewirken (z. B. „Faust aufs Hühnerauge“) und andererseits eine Nonsensproduktion in Gang setzen. Zillis Interpretation für Menschen „halb weiß, halb schwarz“ – „Mackie Masser, der sich ein Röslein organisiert hat“ – illustriert Gongs Verfahren der Hybridisierung: Brechts Die Moritat von Mackie Messer aus der Dreigroschenoper wird verschränkt mit Goethes Heideröslein. Schließlich bringt Hybridisierung jenen „Mischling“ hervor, der als „Kainabel“ bezeichnet wird. Die Söhne von Adam und Eva, der Mörder und das Opfer werden eins und symbolisieren die widersprüchliche Natur des Menschen: „Kainabel, Phänotyp dieses Jahrhunderts.“ Gleichzeitig kippt das Sprachspiel aber in eine sehr ernst gemeinte Aussage über den Menschen; in der Verfremdung soll eine Wahrheit über den Zustand der Menschheit kenntlich werden: Wie ein roter Faden zieht sich das Widersprüchliche durch das ganze Drama: Es beginnt mit der Symbolik von Dolch und Rose und Yang und Ying. Aber auch in der Sprache schlägt es sich nieder, beispielsweise in den Formulierungen: Glauben, „der ihn labte und ihn quälte“, „Boxer und Akademiker“, „Jazzfan und Hausfrau“, „Höhepunkt und Untergang“22 etc. Die Zusammenführung der Gegensätze und Hybridisierung generieren neue Bedeutungen und Mehrdeutigkeiten. Dies gelingt Gong auch im Wort „Kainabel“, dessen Buchstaben – anders kombiniert – auf die Bestialität des Menschen, den Kannibalismus, anspielen. Diese Buchstabenkombinatorik korrespondiert mit dem Akronym Ichthys, das als Symbol der Christen gilt. Um den Effekt der Verfremdung zu erzeugen, verwendete Gong neben Redewendungen (Kalter Kaffee, Faust aufs Hühnerauge) auch Fremdwörter („parlewu-en“, „Ichthyos“, „dernier cri“). Alliterationen und figurae etymologicae – „[…] denn er hatte alles, nur nicht Zeit, mein Zeitgenosse, der gejagte Jäger“ – inspirieren Gong zu Neologismen: „Welch eine Wahntasie!“, „Zellenstadt“, „Zöbersville“, „Zickengrad“, „Zoresalem“.23 Mit Neologismen karikiert Gong Wörter, an die seine Neuschöpfungen angelehnt sind. Um Komik mit sprachlichen Mitteln zu erzeugen, greift er auch auf die Zweideutigkeit der Wörter zurück: „Bubi: Das Gras hat schon immer einen wohltuenden Einfluss auf Fräulein Zilli gehabt. / Zetdam: Gras? Gibt es noch Gras? Welche Jahres-
22 EBD., S. 58. 23 EBD., S. 70.
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zeit haben wir denn?“24 An einer anderen Stelle leitet der Autor durch Alliterationen zu neuen Inhalten über: Zyx:
(klopft Zetdam jovial auf die Schulter) Väterchen, wir sitzen auf Pechblende! Zetdam: Pech? … Zyx: Ja, Uranpecherz. Uran! Zilli: Hurra! Urra! Uran! (Zyx scheint erst jetzt Zilli zu bemerken. Er pfeift kennerhaft und nähert sich ihr) Zyx: Schnulles Brötchen. Zwei Schätze auf einem [sic!] Schlag.25
In die Sprache des Dramas sind außerdem unzählige Begriffe aus Gauner- und Umgangssprache („die Pinke“, „ein sauberer Zahn“, „abmurksen“ etc.) sowie Redewendungen eingeflochten. Manchmal wandelt Gong Redewendungen ab – „Darben und darben lassen“ – und verleiht so jeder Figur eine sprachliche Prägung. 4.2 Klangbilder als Sprachverzerrung Klangmalerei gehört zum unbestrittenen Lieblingsstilmittel des Autors. So verwendet er oft klangähnliche, aber bedeutungsverschiedene Wörter: „man muß sie ausrotten, um die Jugend zu retten.“26 Wie Lautbilder zur Erzeugung der Komik dienen, wird am folgenden Textbeispiel deutlich: Zetdam: Zophia: Zetdam: Zophia: Zetdam:
Und wie macht die Katze? Miau. Richtig. Wie bellt der Hund? Hau-hau-hau-hau. Das ist nur begrenzt richtig. In Russland wird zum Beispiel „Wachwach“ gebellt, in China aber „Wang-wang“ und so weiter. Wie aber spricht die Kuh? Zophia: Muuu – – Zetdam: Sehr gut. Nun lass uns das Pferd hören.
24 EBD., S. 31. 25 EBD., S. 44. 26 EBD., S. 46.
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Natalia Shchyhlevska Zophia: Zetdam: Zophia: Zetdam:
Meee – – Falsch, ganz falsch. So trompetet ein Kamel. Bist selber eins. Weißt du kein schöneres Spiel? „Spiel!“ Was wir hier beide üben, ist für kommende Geschlechter von ungeheurer Bedeutung. Stell dir, bitte, vor, wir stiegen eines Tages wieder an die Sonne – und siehe, alles Faune ist total vernichtet. Sowas könnte doch eingetreten sein, nicht wahr? […] Wie macht das Pferd? Zophia: Hau – wau – meee – muuu … Zetdam: Du bist eine Spielverderberin. Verkalkt und versoffen. Eine Sadistin ohne Tradition, ohne Verantwortung, ohne Gewissen, ohne Zukunft!27
Auch an einer anderen Stelle werden Laut- und Klangbilder eingesetzt und erzeugen nicht nur Komik, sondern offenbaren mit ihrer an Kinder- und Abzählreime angelehnten Struktur eine Sprache, die „einem zerbrochenen Spiegel“ gleicht, „der in seinen Scherben die Fragmente unseres zerschlagenen Zeitbildes einfängt“28: Zetdam: Zetdam – – Ixdam – – Wedam – – Vaudam … Zophia: Hast Ypsilondam ausgelassen. Zetdam: Nicht unterbrechen! Wenn ich, ohne stecken zu bleiben, Adam erreichen kann, sind wir erlöst. (Eine leere Büchse fliegt aus dem Himmelbett) Zetdam: Zetdam – – Wedam – – Quedam – – Zophia: Hast Potzdam ausgelassen. Zyx: Amsterdam … Zilli: Eidam. Zophia: (singt zur Melodie des Donauwellenwalzers) Gin-Gin-Gin-Gin, RumGrog-Grog-Grog, Schnaps-Schnaps-Schnaps-Schnaps, Sekt-BockBock-Bock … […] Zilli: Zehn zottige Zwiebel-Zwerge züchten zur Zeit zwanzig zahme Zucker-Zicklein. Zyx: Reemtsma – Camels – Viriginia – Gelbe Sorte – Juno – Navy – Ravensklau – – 27 EBD., S. 29. 28 EBD., S. 3.
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Komik der Realität im Drama Zetdam von Alfred Gong Zetdam: Üdam, Ödam, Äudam … Zophia: Der Leu heißt Leu, weil er läuft. Der Tiger heißt Tiger, denn er läuft noch hef – tiger … Zilli: Dreizehn, zwölf, elf, zehn, neun, nacht, nieben … (Allgemeines Verstummen. Bis dem Publikum die Stille unerträglich wird.)29
Das Aufkommen des Sinnhaften in einem sinnentleerten Kontext erzeugt Komik. Der komische Effekt entsteht aus der Überraschung heraus, dem absurden Stammeln einer Reihe von erfundenen Wörtern ein sinnhaftes, wirklich existentes Wort (z. B. „Amsterdam“) zu entnehmen. Zudem wird die Möglichkeit, neue Namen nach einem alphabetischen Muster zu generieren, genutzt, um ungewohnte, völlig sinnfreie Lautbilder hervorzubringen, die darüber hinaus kaum ohne Grimassen zu schneiden artikuliert werden können. Diese Wirkung wird dadurch gesteigert, dass alle vier Figuren parallel, aneinander vorbei stammeln, was ein mehrstimmiges Durcheinander zur Folge hat. Indem der Autor jeder Figur ein anderes, sie jeweils kennzeichnendes thematisches Plappern in den Mund legt, gelingt ihm darüber hinaus ihre Überzeichnung. Außerdem scheint er ihnen auch Narrenfreiheit zuzugestehen, was neben der falschen Etymologie der Wörter in Zophias letzter Replik für einen weiteren Lacheffekt sorgt. Dies alles veranschaulicht eine Sprach- und Sinnkrise, die dann im Verstummen endet. 4.3 Dialekt, Kunstsprache und Übersetzung als Komikverfahren Das Verstummen überwindet Gong, indem er mit der Sprache experimentiert und sie verfremdet, beispielsweise wenn er Wiener Dialekt nachahmt und in Zophias Sprache Klangreime, Wortwiederholungen und Alliterationen einbaut: Zophia: „No amal, no amal, no amal sing nur, sing, Nachtigall“ (1) – – Und das du mir a saubres Madl bleibst, wanns nach Wean kommst. Dös is ane schlechte Stadt – – Wir Weaner Wäscheweiber wollen weiße Wäsche waschen, wenn wir wüßten wo warmes Wasser wäre – – „Ha, seht, es blinkt, es winkt, es klingt!“ (2) – – Zeigen Sie mir doch Ihre Beine, Fräulein, damit ich sehen kann, ob Sie wirklich Talent zum Singen haben – – Aber ich hab niemals nicht
29 EBD., S. 61f.
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Natalia Shchyhlevska an Alkohol gtrunken. Der Herr Pfarrer hat immer gsagt – – „Trinke Liebchen, trinke schnell, trinken macht die Augen hell“ (3) I wo, i kann doch nicht zu Ihna nett sein, wo i Sie kane fünf Minuten lang kenne – – Was, a Busserl wollns haben? – – Aber Herr Leutnant – aber Herr – aber – aaa – – „Stockfinster war die Nacht“ (4) O meina Seel – – „Purpurrote Rosen bring ich dir zum Gruß“ (4) – –30
Ein weiteres Verfahren der Sprachverfremdung, das zur Komikerzeugung eingesetzt wird, ist die Erfindung von Kunstsprachen und ihre Übersetzung, ‚Verdeutschung‘: Bubis Stimme: […] So kamen ihm in Glarus zwölf entgegen und knieten vor Zetdam und fielen auf ihr Gesicht und erhoben ihr Geschrei: „Luag, was us üs gworde isch, o Zötdami! Mi hänt üseri Tota verschore und wüsset nöd, was mit üs salber azfange. Gib üs öppis ztua, o Zötdami!“ Zetdam: Verdeutsch dies für das gebildete Publikum. Bubis Stimme: Das bedeutet: „Schau, was aus uns geworden ist, o Zetdam! Wir haben unsere Toten verscharrt und wissen nicht, was mit uns selber anzufangen. Gib uns denn Arbeit, o Zetdam!“ – – […] Und weiter zog Zetdam und kam nach Australien; und siehe, da krochen zu seinen Füßen zwölf mal zwölf Buschmänner aus ihren Büschen hervor und sie winselten: „Barebomchitögazodrigatitotisululudschingagawegagaga“. Zetdam: Übersetz dies für das ungebildete Publikum. Bubis Stimme: Das will heißen: „Unsere Trommeln sind zerbrochen und unser Wild ist verreckt. Wir leben nur von Gras allein, und dieses ist, wehe uns, mit Gamma-Stahlen kontaminiert; und wir können vor lauter Blähungen, wehe uns, nicht schlafen. Organisier uns, o Zetdam, und schick uns aus deinen Speichern die bewußten Fleischbüchsen, auf dass wir essen, und satt werden und schlafen können und uns vermehren.“ – –31
30 EBD., S. 25 (die Ziffern in Klammern verweisen auf Lieder, die Gong im Text zitiert). 31 EBD., S. 33.
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Komik der Realität im Drama Zetdam von Alfred Gong
5. Auflösung der Komik als Entlarvung der Realität Am Ende des Dramas sitzen Zetdam mit seiner Frau und Enkelin sowie der Abenteurer Zyx in der Sauerstoffhöhle fest: Bubi blockiert die Tür des Aufzuges, so dass den Insassen ein sicherer Tod bevorsteht. Als ob dies Bubis Grausamkeit nicht genug veranschaulichen und seine Frage „Sind die Menschen letzten Endes Engel oder Ratten?“ beantworten würde, schickt er in diese Gruft noch seine Frau und acht Kinder. Der frühere Sympathie-Träger wird zum Mörder, der seine Tat durch den Dienst an der Kunst rechtfertigt. Alle: Bubi: Alle: Bubi:
Mas-sen-mörder, Mas-sen-mörder, Mas-sen-mör-der! Ich ein Mörder? Sehe ich wie ein Mörder aus? Ge-no-cid! (sie erstarren und bleiben so bis zum letzten Vorhang) (zum Publikum) Nennen Sie das, was hier geschieht: Mord? Ich nenne es den Sieg des Geistes über den Ungeist der Materie. Mord? Meinetwegen! Wie sollte sich sonst der Geist gegen Millionäre, Ingenieure und verrückte Frauenzimmer wehren und bewähren? Etwa mit Sonaten und Sonette[n]. Dass ich nicht lache! Mit ihren eigenen Mitteln muss man sie vernichten. Mit Unverfrorenheit, Heuchelei, Rücksichtslosigkeit. Und vor allem mit ihrer Technik. Dann und nur dann könnte die Kunst den ihr gebührenden Sieg erlangen. Denn, wißt, der Künstler lebt nicht von Inspiration allein. Er braucht Freiheit, Muße und Sicherheit. (Zieht das Diamantensäckchen aus der Tasche, streichelt es.) Jawohl, Sicherheit. Nun möchte ich mich von Ihnen verabschieden. Ich nehme an, Sie bleiben noch eine Weile hier und warten auf die rettende Hand. Ich bin optimistisch: ich sehe keine Rettung. Sind Sie enttäuscht? Haben Sie etwa ein Happy-End erwartet? Fühlen Sie sich um Ihr Eintrittsgeld betrogen? Dann dürfen Sie ruhig zischen, pfeifen, trampeln, faule Eier und Prothesen gegen diesen Bildschirm werfen. Auch dürfen Sie aus den Seitenlogen Leitern und Seile in die Höhle hinunterlassen, um zu retten, was nicht mehr zu retten ist. – – Meine Herrschaften, ich muß jetzt fort und überlasse Ihnen die endgültige Verurteilung oder die Begnadigung der Zetdams. Bei mir hat das Publikum das letzte Wort. Abgehend, erlaube ich mir, Ihnen meine zukünftigen Werke aufs Wärmste zu empfehlen …32
32 EBD., S. 68.
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Natalia Shchyhlevska
Inwiefern Gong sich für dieses Ende von Pirandellos Stück Sechs Personen suchen einen Autor inspirieren ließ, kann nur spekuliert werden. Indem eine Figur das Publikum auffordert, über das Ende des Stückes zu entscheiden, werden zwei Wirklichkeiten – die des Stückes und die der Realität – verschränkt. Dadurch wird nicht nur die Möglichkeit der Masse, in das Geschehen einzugreifen, vorgeführt, sondern in erster Linie die Distanz des Publikums zum Dargestellten aufgehoben. Das Publikum soll nicht mehr als passiver Zuschauer, sondern als Entscheidungen fällender Akteur aufgefasst werden. Das Dargestellte drängt sich auf und wird als Realität entlarvt, vor der man sich nicht mal ins Theater flüchten kann. Diese Realität wird als närrische vorgeführt und im Namen jener Normen abgewertet, gegen die sie verstößt. Obwohl die Komödie Vorstellungen von Menschlichkeit, aber auch von Sinnhaftigkeit (s. Sprachspiele) desavouiert, zeigt sie sich über deren Fehlen bzw. Scheitern empört. Die durch die Komik hergestellte Distanz wird also im Ganzen wieder dementiert, am deutlichsten vielleicht vom moralisch mahnenden Gestus des Endes: Dieses formuliert zwar die Ausweglosigkeit des Zustandes, ist aber zugleich als Appell an die Rezipienten konzipiert.
Literatur Primärliteratur Die Bibel. Einheitsübersetzung, Stuttgart 2014. GONG, ALFRED, Zetdam. Ein Satyspiel [1958], aus dem Nachlass: Alfred Gong Papers in the Archives & Rare Books Department of the University of Concinnati Libraries (AGP).
Sekundärliteratur BARNERT, ARNO, Mit dem fremden Wort. Poetisches Zitieren bei Paul Celan, Frankfurt/M. u. a. 2007. CLOTTES, JEAN, Kunst im Morgenlicht der Menschheit, in: Moderne Archäologie (Spektrum der Wissenschaft Spezial 12,2), hg. von REINHARD BREUER u. a., Heidelberg 2003, S. 6-9. METSCHIES, MICHAEL, Zitat und Zitierkunst in Montaignes Essais, Genf 1966.
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Komik der Realität im Drama Zetdam von Alfred Gong
SHCHYHLEVSKA, NATALIA, Alfred Gong. Leben und Werk (New GermanAmerican Studies 32), Bern 2009. SUCH, BÄRBEL, Die Sunde Omega / Um den Essigkrug. Zwei dramatische Werke aus dem Nachlass Alfred Gongs (New German-American Studies 27), Bern 2007.
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Kommissar Schneider quermittelt wieder Vom realistischen Kriminalroman zum postrealistischen Anti-Kriminalroman bei Helge Schneider JUDITH WAGNER „In einer Welt des saturierten Einerlei ist der Autor Helge Schneider regelrecht verpflichtet, einer Meinung zu sein mit allem.“1
Im Wissenschaftsbetrieb und in der Kulturkritik herrscht auch in Zeiten der Pop-Kultur noch weithin die Unterscheidung zwischen Hoch- und Trivialliteratur – die ist allerdings mittlerweile nicht mehr zwangsläufig ein Werturteil, sondern meist eines des Geschmacks. Dass man sich heutzutage trotzdem in einer wissenschaftlichen Untersuchung mit scheinbar oder tatsächlich trivialer Literatur wie der Helge Schneiders befassen kann, soll der vorliegende Aufsatz beweisen.2 Dieser Beitrag unternimmt den Versuch, die Ver- und Entschränkung von Komik und Realismus im postrealistischen Anti-Kriminalroman Helge Schneiders und deren Funktion nachzuzeichnen. Er steht zudem im Kontext der Untersuchung von Bedingungen, Möglichkeiten und Umsetzungen von gegenkultureller Literatur und Kunst in den zahlreichen Comedyformaten der medialisierten Kulturindustrie. Im Zentrum wird Helge Schneiders Distanz
1 2
SCHNEIDER, 2006d, S. 347. WAGNER, 2012. Grundlage der hier vorgetragenen Überlegungen ist die Magisterarbeit der Verfasserin.
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Judith Wagner
zum Humor und seinen Vertretern in der Spaßgesellschaft stehen.3 Treffend formuliert hat dieses Verhältnis Frank Apunkt Schneider in seinem Text Helge Schneider für Kinder. Ihm zufolge ist der Humor in seinen verschiedenen Formen, zu denen als meistrezipierte die zeitgenössische Fernsehcomedy gehöre, von den gesellschaftlichen Bedingungen, die ihn umgeben, nicht ablösbar. Noch der sinnfreieste Humor bleibe letztlich auf das bezogen, was er aufzulösen scheine, nämlich „‚Sinn‘ als Effekt gesellschaftlicher Produktion“. Als „Unsinn“ gebe der Humor vor, sich von Sinn und Diskurs abzuwenden, wäh-
3
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BRUMMACK, 1979, S. 85f., erläutert am Beispiel Jean Pauls die Differenz zwischen Satire und Humor: „Vorweg seien zwei Ansätze genannt, das Verhältnis von weltverlachendem Humor und sozialkritischer Satire bei Jean Paul zu bestimmen, […]. Entweder gesteht man zu, daß Jean Pauls Dichtung und Humorbegriff, weil sie Idee und schlechte Wirklich als unvermittelbar gegensätzlich wissen und die Spannung Ich – Welt absolut setzen, über ‚progressive‘ Satire hinausgehen, versteht aber diese Tatsache als historische Situation: der Zustand des Reichs, die Schwäche des Bürgertums ließen die aus den westlichen, sozio-ökonomisch entwickelteren Ländern stammenden Ideen in Deutschland als unrealisierbar erscheinen; deshalb sieht Jean Paul konkrete historische Gegensätze als ewige, metaphysisch oder anthropologisch begründete und verlegt die Versöhnung in eine jenseitige zweite Welt nach dem Tode. So wird einerseits die Kritik einzelner Mißstände, weil sie immer nur Beispiele für die Unzulänglichkeit des Endlichen sein können, abgeschwächt und in Poesie aufgelöst. andererseits eben diese Poesie, insofern sie ein Sehnsuchtsbild der zweiten Welt in der hiesigen ist, aus dem Nachhinein als ‚die verborgene, sich selbst noch unklare und mystifizierte Kritik‘ deutbar, […]. Oder – zweitens – man gesteht nur zu, daß Jean Pauls Romane Weltverächter darstellen, sieht sie aber so weit relativiert, daß nur ihre progressive Satire, nicht ihr Pessimismus und ihr grundsätzliches Ungenügen an der Welt Gültigkeit hätten.“ Brummack differenziert also Humor und Satire anhand der Distanzierung vom bzw. Affirmation des kritisierten Gegenstandes durch den Autor: Die Satire schafft ein Distanzverhältnis zu ihrem Gegenstand, weil sie ihr Verständnis der Differenz zwischen der Idee besserer Verhältnisse und tatsächlicher Verhältnisse mitteilen will. Eine Versöhnung nimmt die Satire nicht vor, sie kritisiert, geht aber in der Sublimierung in Poesie auf, statt wirksam zu werden. Brummack behauptet dabei, dass die Satire jedoch auch ein affirmatives Potenzial berge, da ihr Eskapismus gleichsam eine Duldung der gegebenen Umstände bedeute. – Der „weltverlachende Humor“ nimmt dieselbe Distanzierung von ihrem Gegenstand vor, wie die Satire: Die Kritik an dem Gegenstand wird durch das komische Verfahren des Humors jedoch relativiert, indem die lächerlich machende Kritik sich lediglich auf den konkreten, dargestellten Gegenstand bezieht, nicht jedoch grundsätzlich auf die Ursachen, die zur Existenz des kritisierten Umstandes führen. Durch diese Relativierung versöhnt der Humor mit dem Dargestellten, er erhält damit einen affirmativen Charakter.
Helge Schneiders postrealistischer Anti-Kriminalroman
rend er eine Legitimation herstelle, im Witz gesellschaftliche Vorurteile wie Rassismus und Sexismus zu reproduzieren.4 Vieles, was Schneider treibt, wird zwar vom Publikum so aufgefasst, wie Frank Apunkt Schneider es für die Funktionsweise gängiger Comedyformate beschreibt. Der „unfreie[-] Autor, unfreie[-] Lektor und unfreie[-] Künstler“5 F. A. Schneider hat jedoch zugleich ein Bild parat, das die eigentliche Herkunft Helge Schneiders aus dem Jazz bemüht, um die vom Humor weit entfernte Komik Helge Schneiders begreifbar zu machen: Ähnlich wie der Interpretationsbegriff des Jazz den Jazzklassiker nicht zerstört, annektiert oder kolonialisiert, indem dieser interpretiert wird, sondern aus seinem kryotechnischen Klassikerelend erlöst, ist Schneiders Humor kaum je zerstörerisch oder annektierend. Obwohl er ja allein pointentechnisch so ziemlich jedem Phänomen der deutschen Fernsehlandschaft haushoch überlegen ist, benutzt er diese Überlegenheit in Fernsehshows nicht dazu, sein Gegenüber plattzumachen und zum Ablachen freizugeben, wie dies Stefan Raab programmatisch tun muss. Eher eröffnet Schneider gewissermaßen Jam-Sessions, die natürlich nicht funktionieren können, da ihre Umgebungen Umgebungen der Macht sind, aber gerade dieses Nicht-Funktionieren erzeugt jenen dekonstruktivistischen Grundsound, der, außer, dass er wirklich funky ist, auch einiges darüber erzählt, was an den Umgebungen, in denen er so grandios und bombastisch scheitert, nicht stimmt.6
Der vorliegende Beitrag konzentriert sich als literaturwissenschaftliche Untersuchung auf das sicher am wenigsten beachtete Feld im Werk Helge Schneiders, um die Funktionsweisen von gegenkulturell intendierter Komik zu erkunden. Schneider bedient sich in mittlerweile sechs Anti-Kriminalromanen bei einer ausdifferenzierten Tradition der Kriminalliteratur, die er mittels komischer Verfahren dekonstruiert. Ein Blick auf die Entwicklung der Gattung zeigt, dass sie im Laufe des 20. Jahrhunderts eine Tendenz vom literarischen Rätsel zum literarischen Realismus entwickelt, die ermöglichte, kritische Reflexionen auf die Gegenwart in das populäre Genre zu integrieren. Egal, welcher Akzent bei der Bearbeitung des Grundschemas gesetzt werden sollte, fast immer war es die realistische Umformung der Themen und Schreibweisen, die 4 5 6
SCHNEIDER, 2002, S. 41-43. Frank Apunkt Schneider, o. J. SCHNEIDER, 2002, S. 47.
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Judith Wagner
es den Kriminalschriftstellern ermöglichte, aus der einstigen schauerlichen Rätsellektüre eine schauerliche Gesellschaftslektüre zu machen. Damit wurde der erkenntnistheoretische Kern des Kriminalromans zugleich beschädigt: Das uneingeschränkt positivistische Weltbild der detective novel gibt es im realistischen Kriminalroman nicht mehr. Ob hardboiled school, Agentenroman, Thriller oder Schweden-Krimi – all diese Gattungsvarianten entwickeln einen Krimiplot; selten aber ist ihr Thema das Verbrechen als literarisches Rätsel.7 Bausteine und Strukturelemente der klassischen Krimiliteratur werden im realistischen Kriminalroman dazu benutzt, tiefere Einsichten zu politischen, gesellschaftlichen oder psychologischen Ursachen und Auswirkungen des Rechtsbruchs zu thematisieren. Der Fokus verschiebt sich, insofern der Ermittler in diesen Texten nur mehr eine schon aus den Fugen geratene Welt vor dem Untergang zu bewahren versucht. Alle Modifikationen sind im Grunde dieser Veränderung der ideellen Grundlage der frühen Kriminalliteratur geschuldet, weil das Vertrauen in ein Weltbild, das wohl auch zu dieser Zeit eher Wunschvorstellung als Ist-Zustand war, verschwunden ist.8 7
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Auch das gibt es in der realistischen Kriminalliteratur noch, so z. B. bei SJÖWALL/ WALHÖÖ, 1989. Das Mordopfer wird in der von innen verriegelten Wohnung gefunden, eine Waffe ist aber nicht da. Dieses locked-in-Rätsel findet sich bereits in einer der frühesten Kriminalgeschichten, in E. A. Poes The Murders in the Rue Morgue. Sjöwall/Walhöö geht es aber nicht mehr primär um den unterhaltenden oder Spannungsaspekt der Kriminalliteratur, sondern um die Äußerung einer sozialen Kritik. Sie machen den literarischen Traditionsbezug daher in ihrem Text explizit, indem der ermittelnde Kommissar Beck diesen Fall zugeteilt bekommt, weil man glaubt, er dürfe nicht mit der durch gesellschaftliche Missstände verursachten, harten Brutalität der übrigen Fälle konfrontiert werden, nachdem er im Dienst angeschossen wurde. Während die Entschlüsselung des locked-in-Rätsels bei Poe noch die geistige Genialität des Ermittlers unter Beweis stellte und damit den Primat der ratio, wird es von Sjöwall/Walhöö eingesetzt, um die Ohnmacht menschlicher Fehlbarkeit gegenüber gesellschaftlicher Verrohung auszudrücken. SCHNEIDER, 2006b, S. 55, arbeitet selbst mit einer Variante des locked-in-Rätsels. Er verwendet den Topos allerdings zur Dekonstruktion des Ideals des genialen Ermittlers, indem er es blödelnd verfremdet: „Da, Beethoven! Der Zombie grinst ihn an. Atemlos herrscht der Kommissar ihn an: ‚Geh weg! Du Leiche!‘ Er will ihn wegstoßen, da wächst aus dem Kopf der Bestie ein zweiter Kopf, und zwar der von Kommissar Schneider! Japsend zeigt der Kommissar auf sich selbst und versucht, zu begreifen, was passiert ist. Es ist Surrealismus. Doch der Kommissar macht jetzt das einzig Richtige, er wird absurd. Er verwandelt sich in ein geometrisches Dreieck, aus dem Raum macht er einen Kreis, dessen Schnittpunkte sich mit dem Dreieck treffen, nun ist er frei.“ BREMER, 1999, S. 11, charakterisiert als sinngehaltliches Kontinuum des modernen Kriminalromans dessen Bestreben, mittels der beiden „Schlüsselbegriffe der
Helge Schneiders postrealistischer Anti-Kriminalroman
Nach der Zäsur des Zweiten Weltkrieges potenziert sich in der deutschsprachigen Literatur das Misstrauen des realistischen Kriminalromans in der Dekonstruktion des literarischen Modells. Friedrich Dürrenmatt schreibt ein Requiem auf den Kriminalroman, in dem der Gattung ihre Hinfälligkeit attestiert wird, wenn der Polizeichef dem Ich-Erzähler, der auch selbst Kriminalschriftsteller ist, vorwirft, die Texte vermittelten ein falsches Bild der Wirklichkeit(serfassung): „[…] in euren Romanen spielt der Zufall keine Rolle […]; die Wahrheit wird seit jeher von euch Schriftstellern den dramaturgischen Regeln zum Fraße hingeworfen.“9 Der Protagonist Kommissär Matthäi scheitert und zerbricht an der Suche nach einem Mädchenmörder, den zuletzt der Zufall in Form eines Autounfalles richtet. In menschlicher Hand oder menschlichem Ermessen liegt die Gerechtigkeit im Anti-Kriminalroman also nicht mehr. Die unterhaltsame Sorglosigkeit der detective novel weicht den Zweifeln des realistischen Kriminalromans und schließlich dem Pessimismus des Anti-Kriminalromans – und das schlägt sich in realistischen Schreibweisen erzählerisch nieder. Dass das Deutungsmodell positivistischer wie realistischer Kriminalliteratur mit den historischen, gesellschaftlichen und politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts seine Glaubwürdigkeit verlor, weiß auch Helge Schneider, wenn er den Anti-Kriminalroman Aprikose, Banane, Erdbeer mit der „Anmerkung des Autors“ abschließt: „Dieser Fall wurde nicht gelöst. Sowas kann auch passieren. Es gibt ja soviel Ungelöstes auf der Welt, auch wenn die meis-
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menschlichen Utopie“, der Wahrheit und der Gerechtigkeit, „Ordnung in die Welt zu bringen“. Das Misstrauen der modernen Literatur gegenüber einer positivistischen Weltdeutung habe sich in einer wachsenden Beliebtheit des literarischen Detektivs geäußert. Zwar zeige bereits sie Zweifel an der Lesbarkeit der Welt, lasse ihre Helden aber letztlich im Triumph logischer Entschlüsselung den Sieg der ratio davontragen. In Abgrenzung davon ist die Diagnose Bremers zur postmodernen Entwicklung der Gattung eine fruchtbare, mit der auch die Texte Helge Schneiders untersucht werden: „Genau dieser Aspekt des Kriminalromans [alle zweideutigen Zeichen endgültig und logisch zu entschlüsseln] ist es, der eine Reihe von Autoren veranlaßt hat, Kriminalromane zu schreiben, in denen die Welt ‚unlesbar‘ bleibt. Der Kriminalroman wurde in seiner historischen Entwicklung immer mehr zu einer Musterstruktur der postmodernen Literatur. Modern und anti-modern zugleich, aufklärerisch und konservativ, verspielt und trivial, wird diese Gattung bewusst eingesetzt in der Literatur, die der Moderne zutiefst verpflichtet ist und die sie gleichzeitig in Frage stellt.“ (EBD., S. 51). DÜRRENMATT, 1980, S. 18. Die beiden Vorgängertexte Dürrenmatts, Der Richter und sein Henker und Der Verdacht, sind ebenfalls dekonstruktivistisch angelegte Anti-Kriminalromane.
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Judith Wagner
ten Kriminalschriftsteller es nicht wahrhaben wollen.“10 Gesellschafts- und kulturkritisches Potential wird also spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einer Gattung freigesetzt, die sich als Teil der von Horkheimer und Adorno in den 1940er Jahren identifizierten Kulturindustrie versteht und auch so verstanden wird. Vielleicht, weil es nicht möglich ist, sich der Kommerzialisierung zu entziehen, vielleicht aber auch, weil sich die Formen der Kulturkritik den medialen und distributiven Bedingungen der Kulturindustrie immer wieder neu anpassen, um nicht verstummen zu müssen.11 10 SCHNEIDER, 2004, S. 121. Das Spiel mit der Identität von Erzähler, Protagonist, Autor und Kunstfigur hat bei Schneider System: Er stellt seine Kriminalromane als autobiographische Schriften dar und lügt dabei derart offensichtlich, dass dies nicht ernstgenommen werden kann. SCHNEIDER, 2002, S. 47, sieht in dieser ständigen Identitätsdrift Schneiders erfolgreichen Versuch, das System des gesellschaftlichen Konkurrenzdruckes des Spätkapitalismus zu durchkreuzen. Im vorliegenden Aufsatz kommt es daher zu unvermeidlichen Überschneidungen in der Benennung dieser Kategorien. 11 HORKHEIMER/ADORNO, 1987, S. 156, „Was widersteht, darf überleben nur, indem es sich eingliedert. Einmal in seiner Differenz von der Kulturindustrie registriert, gehört es schon dazu wie der Bodenreformer zum Kapitalismus. Realitätsgerechte Empörung wird zur Wertmarke dessen, der dem Betrieb eine neue Idee zuzuführen hat. Die Öffentlichkeit der gegenwärtigen Gesellschaft läßt es zu keiner vernehmbaren Anklage kommen, an deren Ton die Hellhörigen nicht schon die Prominenz witterten, in deren Zeichen der Empörte sich mit ihnen aussöhnt.“ Horkheimer/ Adorno sehen in den Produkten der Kulturindustrie Surrogate, die Emanzipation bekämpfen. – Eine positivere Argumentation gegenüber der Kulturindustrie ließe sich, wie als Konsequenz der Aufsplitterung der 1968er-Bewegung geschehen, z. B. aus Walter Benjamins Betrachtungen zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit entwickeln. Siehe dazu SALZINGER, 1982. Eine zeitgenössische Kulturgeschichte der 1960er, SIEGFRIED, 2006, S. 52, charakterisiert die Kulturindustrie geradezu als Mittel der Emanzipation größerer Bevölkerungsteile: „Für die Bewältigung dieser historisch beispiellosen Situation [des gesellschaftlichen Wandels der 1960er Jahre in der BRD] konnte auf Erfahrungswerte der älteren Generationen oder auf Orientierungshilfen der traditionellen sozialmoralischen Milieus kaum zurückgegriffen werden, zumal der sozialstrukturelle und kulturelle Wandel die Bindekraft von Klasse, Religion, Region und Familie lockerte. Damit stiegen die Anforderungen an den Einzelnen, sich selbstständiger in der Gesellschaft zu orientieren. Die Möglichkeit, sich selbst zu entscheiden, verbesserte sich durch eine Ausdehnung der individuellen Erfahrungs- und Reflexionshorizonte, die die Medialisierung, insbesondere der Aufstieg des Fernsehens, die Automobilisierung und der Ausbau des Bildungssystems mit sich brachten.“ Nicht zuletzt die kluge und wichtige Untersuchung von KONERSMANN, 2008, S. 7f., wendet den negativen Blickwinkel der Kritischen Theorie auf die Kulturindustrie ins Positive und sieht in einer Zahl ihrer Produkte kulturkritische Positionierungen, die die „durchaus beträchtlichen Anforderungen einer spielerischen, ei-
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Helge Schneiders postrealistischer Anti-Kriminalroman
Was bleibt aber vom desillusionierenden Potential des realistischen Kriminalromans, von der pessimistischen Weltdeutung des Anti-Kriminalromans übrig, wenn einer wie Helge Schneider, berühmt für schlechte Anzüge und Witze, Klamauk daraus macht? Ist das nur der kommerzhungrige Rückgriff auf ein populäres Genre, dessen Strukturen so geläufig sind, dass sie sich möglichst platt parodieren lassen? Die Lektüre der Anti-Kriminalromane Helge Schneiders widerlegt diese Annahme; zu treffsicher dekonstruiert er die entscheidenden formellen, strukturellen und gnoseologischen Formen des Krimis, als dass noch behauptet werden könnte, er durchschaue sie nicht. Im Gegenteil nutzt Schneider die Komik als Mittel zur ästhetischen Distanzierung vom Sinnhorizont des klassischen wie des realistischen Kriminalromans, vielleicht auch des Anti-Kriminalromans. Das Problem, in dem von ihm produzierten Quatsch noch eine wörtlich und ernst gemeinte inhaltliche Aussage zu fassen, besteht wohl eher in der Radikalität des komischen Verfahrens, das er einsetzt. Die fallabschließende „Anmerkung des Verfassers zum aktuellen Fall ‚Strumpfhose‘“ produziert nur einen sehr kurzen Erkenntniseffekt, den sie im selben Gedankengang auch schon wieder auflöst: Solch ein Fall wie der nun endlich abgeschlossene birgt indifferente Momente. Manchmal verzweifelt man förmlich an seiner Kapazität, geschweige denn man kann mit einem Erfolg in aller Schnelle aufwarten. Der Fall ‚Strumpfhose‘ zeigt aber auch die Schwächen der Gesellschaft. Zum Beispiel die eigene Schwäche zu gutmütig zu ermitteln. Man muss immer dem Verdächtigen auf der Spur bleiben, sollte aber nicht vorschnell verurteilen. Ein Kind, das einen Apfel stiehlt, das ist eine eindeutige Straftat, da muss die Todesstrafe natürlich einen Wiederholungstäter davon abhalten, auch so etwas zu tun. Jetzt fragen Sie sich: Todesstrafe bei Apfelraub? Das ist ja unmenschlich! Und genau diese Einstellung ist falsch. Ein Apfel ist auch ein Mensch wie du und ich. Wenn er vom Baum abgepflückt wird, erlischt sein Leben. Der Täter muss mit der härtesten Strafe konfrontiert werden, die es zur Zeit gibt. Ich hoffe, daß aber bald härtere Strafen kommen, zum Beispiel ‚Hey margarena!‘ (am besten ist, ich lege es mal auf). ner informellen und zutiefst demokratischen Urteils- und Kritikkultur“ stellen. – Wie das gesellschafts- und kulturkritische Vermögen kulturindustrieller – inklusive kriminalistischer bzw. anti-kriminalistischer – Literatur auch von den zitierten Autoren bewertet wird, so ist vielen Werken, die innerhalb der Kulturindustrie entstehen, der Versuch zu einer intendiert kulturkritischen Äußerung doch nicht abzusprechen.
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Judith Wagner Helge Schneider wird unterstützt von der ‚Aktion Todesstrafe für Nasebohren‘. In einer Welt des saturierten Einerlei ist der Autor Helge Schneider regelrecht verpflichtet, einer Meinung zu sein mit allem.12
Es entsteht der Eindruck, Schneider wolle dem Leser Scheiße als Gold verkaufen – die sich auch ohne weiteres als banalste Unterhaltung rezipieren lässt und sicherlich von einem Teil des Publikums in dieser Funktion dankend angenommen wird. Helge Schneiders komische Strategie kann aber auch so gelesen werden, dass sich Einsichten eröffnen, die es durchaus nahelegen, ihn als kultur- und gesellschaftskritischen Geist aufzufassen: Seine Figur Kommissar Schneider ermittelt nicht, sie quermittelt. Schneiders Komik durchkreuzt und verwirrt auf Schritt und Tritt die heimeligen Gewissheiten, in die sich der Krimileser und Weltbürger von heute nur zu gerne begibt, wenn er einen spannungsgeladenen Schmöker zur Hand nimmt. Dieter Wellershoffs Blödel-Theorie als Formel zur Entschlüsselung der Komik Helge Schneiders heranziehend, wird es möglich, dessen Texte, Filme, Musik- und Hörstücke, Kostümierungen und Performances als eine entlarvende Inszenierung unserer Gesellschaft, ihrer Werte und Urteile zu durchschauen: Was Schneider betreibt, ist eine „infantilistische Revolte“; so nennt Wellershof in seinem Beitrag zum Poetik und Hermeneutik-Band von 1976 eine kommunikative Form des Widerstands gegen das kollektive Einverständnis einer Gruppe, die sich im gemeinsamen Gelächter ihrer selbst immer wieder versichert. In der Blödelei als „Abwehrtaktik drückt man seine Unlust am gemeinsamen Gelächter darin aus, daß man bewußt dumme, stumpfe, banale Witze erzählt und mit heimlicher Genugtuung genießt, daß die anderen immer noch darauf anspringen“.13 Schneiders Anti-Kriminalromane verharren nicht in der Revolte gegen den zuversichtlichen Unterhaltungswillen der detective story, gegen die desillusionierte Weltsicht des realistischen Kriminalromans oder die pessimistische des 12 SCHNEIDER, 2006d, S. 346f. 13 WELLERSHOFF, 1976, S. 338. Es soll erwähnt sein, dass Wellershoff selbst, der seinen Text noch unter dem Eindruck der Studentenbewegung geschrieben hat und in den späten 60er und frühen 70er Jahren als Publizist eine kritische Stellung gegenüber der Kulturrevolution einnahm, ausdrücklich kein positives Blödel-Verständnis vertritt. Obwohl ich über die Intention und Wirksamkeit blödelnder Komik anderer Meinung bin als Wellershoff und deren Potentiale durchaus positiv beurteile, greife ich auf seine Analysen zurück. Nicht nur, weil sie bis heute beinahe die einzigen zu literarischer Blödelei geblieben sind, sondern weil sie analytisch genau und scharfsinnig sind.
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Anti-Kriminalromans. Im exzessiven Zelebrieren des Unsinns liegt gleichsam auch Sinn, und zwar nicht nur der negativ reproduzierte seiner Voraussetzungen. Indem Schneider mit komischen Verfahren eine Distanz zu seinem Gegenstand schafft, produziert er zugleich Raum für sein phantasievolles, vulgäres, absurdes und surreales Füllen des Deutungsvakuums, das der realistische Kriminalroman und der Anti-Kriminalroman mit Zuversicht oder Pessimismus stopfen. Die vereindeutigenden Weltdeutungen, die alle Varianten von Kriminalliteratur auf ihre je eigene Weise produzieren, werden bei Schneider durch das sich nie festlegende oder ernst zu nehmende Blödeln in ein Sinnmultiversum zerlegt, das die geistige Beweglichkeit gegenüber einem eigentlich schon so berechenbaren Genre und seinem Horizont wieder ermöglicht. Dass der Quatsch, der dabei herauskommt, kein Lösungsangebot ist, ist klar. Schneider durchkreuzt die rationalen wie sozial und kulturell normierten Wertsetzungen unseres Literaturverständnisses, aber derart, dass wir uns an dem Punkt, an dem wir lachen, fragen, wie sich einer derart lächerlich machen kann. Der Knackpunkt liegt immer dort, wo Schneider durchscheinen lässt, dass er Kunst eigentlich beherrscht, dass er sie aber nicht beherrschen will.14 Das Blödeln als komische Strategie stellt die Verweigerung in den Mittelpunkt: Nur weil Schneider die Künste beherrscht und Regeln kennt, kann er sich überhaupt derart daneben benehmen und immer knapp, aber lautstark am Ziel vorbei schlittern. Eine nähere Betrachtung einiger der Texte Schneiders soll die vorgeschlagene These plausibilisieren. Sein erster Anti-Kriminalroman Zieh dich aus du alte Hippe erschien 1994. An der Diskrepanz, die zwischen der Erwartung an einen Kriminalroman und dem lächerlichen Titel liegt, ist das Grundprinzip der Blödelei bereits erkennbar. Dieter Wellershoff definiert die Absicht des Blödelnden und sein Tun als von einer als stark normiert empfunden Gesellschaft sozusagen erzwungene soziale Intervention gegenüber deren Zwängen: Der Stilbruch, der abwegige Einfall, die grimassierende Übertreibung sind Schlupflöcher aus der Konvention, die sich mit jeder neu einspielenden Verkehrsform neu bildet, was dann jedesmal der Punkt ist, wo man im strengen Sinne aufhört individuell zu sprechen, wo das Schema einen sprechen lässt. Genau an diesem Punkt muß der Blödelnde aussteigen und das Schema durch etwas Unpassendes und Lächerliches verletzen. Er spielt nicht mehr mit, doch gerade dadurch macht er sein Spiel, übersteigt das Schema, allerdings nach unten, 14 SEIDEL, 1999, S. 283.
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Judith Wagner in Richtung der Farce, und anstelle der erfüllten Erwartung genießt er seine Freiheit, gleichgültig dagegen, daß sie aus der Perspektive der etablierten Erwartung bloß alberne Unterbietung und destruktive Willkür ist.15
Schon im Klappentext benennt Schneider seine unehrenhafte Absicht, das Genre durch den Blödsinn, für den er zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines ersten Textes mit Katzeklo bereits Berühmtheit erlangt hat, zu veralbern: „Kommissar Schneider, ein Mann im Kampf gegen das Böse, auf den die Polizei bis heute so wenig verzichten kann wie der Leser, denn er ist sehr gut.“16 Er hat seine Absicht in einem Interview auch einmal ausdrücklich formuliert: Das Buch habe die Versuche anderer Autoren auf die Schippe genommen, etwas besonders Spannendes herzustellen, was aber nie gelinge, weil es immer spießig und platt sei.17 In diesem Text hält Helge Schneider sich noch ziemlich dicht und erkennbar an den Rahmen der kriminalistischen Erzählung. Es gibt einen Krimiplot, der durch verschiedenste blödelnde Elemente dekonstruiert wird: Kommissar Schneider jagt den Mörder mit der Chappi-Dose, dem er schon ganz zu Anfang gegenübersteht, wobei er aber konsequent an jedem Indiz vorbeiermittelt: ‚Hey, Herr Bürgermeister! Gehen Sie nicht zu der Mordstelle. Nachher machen Sie sich verdächtig!‘ Der Bürgermeister dreht sich gehetzt um. ‚Ich wollte nur gucken, ob meine Brille noch da li…‘, er hält erregt inne und wird rot. 18 ‚Bitte?‘ Der Kommissar hat schlecht verstanden.
Schneider erzählt einen Kriminalfall, der mit Strukturelementen verschiedenster realistischer Gattungsvarianten spielt: Kommissar Schneider als Staatsbeamter fühlt sich für die Sicherheit seiner Mitmenschen verantwortlich; deshalb macht er seinen Job, auch wenn dieser ihn fertigmacht. Wie in der hardboiled school wird der Kommissar selbst zum Gewalttäter; nach dem handgreiflichen Verhör eines Zeugen macht er seinem Frust Luft und nutzt seine Autorität zur Fahrkartenkontrolle im Bus, wo er einen Schwarzfahrer brutal zur Rechen-
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WELLERSHOFF, 1976, S. 343. SCHNEIDER, 2006a, Klappentext. THISSEN, 2012. SCHNEIDER, 2006b, S. 24.
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schaft zieht und dafür von seinen Wachtmeistern Applaus erntet. Die eigentliche Intention der frühen amerikanischen Autoren, die Spirale von Gewalt und Gegengewalt zu illustrieren, sprengt Schneider in seinen Darstellungen eines blutrünstigen Kommissars. Der agiert in den meisten Fällen gewalttätig, statt zu reagieren – allerdings sind jene Szenen derart abwegig überzeichnet, dass die Gewaltdarstellung zur Blödelei wird und damit keine benennbare Kritik formuliert. In der Blödelei verselbstständigt sich das irre Gedankenspiel um seiner selbst willen und schafft so einen Platz für Irritation und anschließende Neu-Beurteilung künstlerischer wie ideeller Maßstäbe – und macht das gegenkulturelle Potential blödelnder Literatur evident. Durchsetzt mit parodierten und verblödelten Episoden der unterschiedlichen Gattungsvarianten quermittelt Kommissar Schneider und kreist den Bürgermeister und dessen Schwester als Mittäterin immer enger ein, ohne jedoch darauf zu kommen, dass er den Täter schon vor sich hat. Selbst das Phantombild bringt ihn nicht auf die richtige Fährte. Dem Autor aber dient es zur Ausspielung einer weiteren Absurdität, die das Schema der Kriminalliteratur überdehnt: Nachdem er dem Zeichner aufgetragen hat, das Phantombild mit Dauerwelle zu malen, scheint er einen kurzen Geistesblitz zu haben, lässt dann aber doch den Bürgermeister verhaften, der ihm schon lange ein Dorn im Auge ist. Der Kommissar weiß zwar, dass der den letzten Mord nicht begangen haben kann, doch er kann ihn trotzdem „aufs Schafott bringen. Allein wegen seines unappetitlichen Äußeren, er hat Warzen auf den Handrücken. Das reicht schon aus.“19 Die Willkür und Unantastbarkeit des Machtapparates wirkt durch das Argument des Kommissars lächerlich; dennoch, seine Existenz bleibt greifbar. Eine Art deus ex machina führt Kommissar Schneider schließlich zum Mörderduo. Wie hätte es anders sein können? „Der Kommissar hat damit gerechnet. Es wundert ihn überhaupt nicht. […] ‚Innere Eingebung.‘“20 Dass Schneider keinen ernst gemeinten Kriminalfall konstruieren will, wird nicht erst hier klar. Der Ausgangspunkt der Erzählung ist zwar wiederhergestellt – nur hat das mit der geordneten, zumindest berechenbaren Welt des Kriminalromans nichts zu tun. Dessen Voraussetzung einer rational erfassbaren und prinzipiell beherrschbaren Welt gibt es in Schneiders Anti-Kriminalroman nicht. Der Autor verlacht in der Blödelei oberflächlich betrachtet die Gattung und ihre Vorstellungen, eigentlich aber die so eitle wie absurde menschliche Existenz als solche. Was sich herausschält, ist dennoch nicht die absolute Des19 EBD., S. 87. 20 EBD., S. 109.
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illusionierung Dürrenmatts. In der Blödelei werden zwar ebenfalls tradierte Sinngebungsmuster zerstört. Helge Schneider füllt dieses Vakuum aber mit einem Sinnpluralismus an, der kaum je übersetzbar, immer aber irritierend ist und dadurch auf das eigene Reflexionspotenzial sowie die Phantasie stimulierend wirken kann. Die beiden folgenden Romane Das scharlachrote Kampfhuhn (1995) und Der Mörder mit Strumpfhose (1996) verfahren ähnlich: Ein albernes Verbrechen wird von einem unfähigen Kommissar durch Zufall oder eine höhere Macht aufgeklärt und alles bleibt so verquer, wie es schon zu Anfang war. Auch hier spinnt Schneider unwahrscheinliche Erzählfäden, die er gleichsam so verwickelt, dass der Leser einen Handlungsvorgang kaum noch erkennen kann. Das muss er streng genommen aber auch nicht, denn um einen Fall geht es nicht wirklich. Es geht um das freie Ausagieren der Lust am Blödsinn, der als komisches Verfahren den Horizont des Kriminalromans restlos auflöst: Zuerst wird durch die abgründige Fäkalkomik eine parodistische Distanz zur Gattungsvorlage geschaffen. Dabei bleibt es aber nicht, weil Schneiders zersetzender Einfallsreichtum nicht primär die parodistische Kritik am literarischen Genre anpeilt. Assoziationsketten werden aufgemacht und abgebrochen, nichts hat hier Bestand, alles scheint aber möglich. Konventionen können vor Schneiders blödelnden Improvisations- und Dekonstruktionseinfällen nicht mehr ernst genommen werden. Dass der Autor dabei niemals in Vergessenheit geraten lässt, wie belesen er ist, unterstreicht noch einmal die Absicht der Blödelei: Vorzuführen, dass Schulbuch- und Kanonwissen ebenso wie das Bestehen auf einer Universalweltdeutung – also Konventionen der gesellschaftlichen Verständigung und Verhaltensregelung – albern und ablehnenswert sind. Die drei folgenden Romane arbeiten ebenfalls mit den Mitteln des Blödelns, sie verfolgen allerdings eine parallele Strategie der Dekonstruktion, indem der Krimiplot bis zum völligen Verschwinden abgebaut wird. Stattdessen beherrscht das Gegenteil eines kriminalistischen Charakteristikums die Erzählungen: Gähnende Langeweile macht sich breit. Im Scheich mit der Hundehaarallergie (2001) ist der traditionelle Krimiplot nicht mehr vorhanden, denn das Mordopfer ist ein Hund. Diesen ohnehin kruden Einfall nutzt Schneider zu blödelnden Abschweifungen, die nur dazu da sind, die Strukturen des Kriminalromanschemas zugunsten einer individuellen Entgrenzung zu dekonstruieren:
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Helge Schneiders postrealistischer Anti-Kriminalroman Zwei Meter tief hatten sie das Loch gegraben, nun sollte der Leichnam da hinein. Doch bevor er nicht ganz tot war oder sich zumindest tot stellte, sollte der Pastor glauben, er hätte es mit Amateuren zu tun. Weiße Lilien steckten in einer überdimensionalen Vase aus Bakelit. Der Tierarzt verabreichte dem Bernhardiner einen Trank, es handelte sich um Schnepfenwasser, ausgepreßte Schnepfen. Ja, so sind die Italiener, Vögel bedeuten ihnen nichts. Der Bernhardiner wedelte mit dem Schwanz. Plötzlich ging die Tür auf, und jemand ermordete den armen Hund. Die kleine Trauergesellschaft war ein Arrangement der Firma: ‚Gute Beerdigungen mit Stimmung und Sekt‘. Aber warum gerade der Hund? Und wie wollte jemand vorher wissen, wer stirbt? Und wer war der Fremde, der mordend ins Zimmer stürmte? Der einzige, der nichts wußte, war der Pastor, er tat nur seinen Job. In der Schweiz ist es so. Also sprach er den dafür vorgesehenen Psalm für tote Hunde. Obwohl Jesus ja nicht viel für Tiere überhatte, brachte dieser Pastor es jedoch fertig, in der Bibel ein paar Zeilen extra für Bernhardiner dazuzuschreiben, weil diese Hunde ja im Gebirge bei Lawinen Menschen retten, und die sind ja nach dem Gesicht von Gott dem Herrn gesägt. Als der Hund hinabgelassen war und die Leute den Friedhof verlassen hatten, widmete sich der Pastor seinen Tagesgeschäften – Haare schneiden und Nägel lackieren lassen, beim Studio gegenüber der Kirche. Er bezahlte das Studio mit den Kollekten, die arme Omas ihm in den Klingelbeutel gegeben hatten beim letzten Gottesdienst. Von demselben Geld unterhielt er noch eine Yacht im Pazifik und einen Edelpuff in Moskau. Aber das nur nebenbei.21
Dient die Rückschau im Kriminalroman dazu, Opferperspektive oder Tätermotivation darzustellen, ist die deplatzierte, ideenreiche und zugleich völlig abwegig zwischen verschiedensten Einfällen springende Erzählung Schneiders zu deutlich als Gedankenspinnerei markiert, als dass sich eine ernsthafte Kritik anschließen ließe.22 Was bewirkt wird, ist, dass das Schema Kriminalliteratur nicht mehr wahrgenommen wird. Stattdessen genießen der Blödelnde und sein Kompagnon, der Leser, den „bewußten intellektuellen Niveauverlust und die 21 SCHNEIDER, 2006e, S. 372. 22 Die Episode macht deutlich, dass die Blödelei keine gezielte Kritik ausspricht – zwar ruft Schneider institutionskritische Vorbehalte gegenüber der Kirche und rassistische Vorurteile auf, wie man sie zum Beispiel aus den James Bond-Erzählungen Ian Flemings kennt, in denen sie dazu dienen, ein ideologisch motiviertes Feindbild aufzubauen und den eigenen Helden moralisch höher zu stellen. Die blödelnde Überzeichnung bewirkt allerdings keine Distanzierung von Italienern, Schweizern oder Pastoren.
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kindische Freude an der Analität“, die nicht unbedingt Inhalte vermitteln wollen, sondern „Wegmarken jener Entfernung von der Vernunft [sind], in der die Befreiung von allen Zwängen gesucht wird“.23 Kommissar Schneider weiß nicht einmal, weshalb er sich im Orient befindet: Jetzt stand der Kommissar so da und wußte wirklich nicht, was er eigentlich im Nahen Osten sollte, er war aus reinem Instinkt hierhin geflogen. Er wollte einen ihm bislang unbekannten Fall lösen. Ja, vielleicht war noch gar nicht einmal etwas passiert, was ihn auf den Plan hatte rufen können?24
Ein Krimi ohne Verbrechen ist ein Anti-Kriminalroman. Dass Schneider das Genre nicht mittels traditionell-ernster literarischer Verfahren dekonstruieren will, zeigt der Ausgang des Romans: Nach Liebesabenteuern, Gewaltexzessen und Niederlagen, die immer blödelnd daherkommen, befreundet sich Kommissar Schneider am Ende mit „‚Scheich Harun Ben Eisenmangel Ibn Kartoffelkeller Halef Ramses der 204.‘, angeblich ein direkter Nachfahre von Tut anch Schmauch“ und kuriert dessen Hundehaarallergie – alles wieder deutungsoffen.25 Der letzte Anti-Kriminalroman, den Helge Schneider 2011 veröffentlichte, Satan Loco, hat mit der Gattung des Kriminalromans eigentlich nur noch den Paratext und die Ermittlerfigur gemein – ein Kriminalfall existiert nicht. Der abgehalfterte, wenn auch schon bei seinem ersten Auftritt in Zieh dich aus du alte Hippe als Anti-Held konzipierte Kommissar Schneider fliegt nach Mallorca, wohin sich seine minderjährige und übergewichtige Tochter abgesetzt hat, um dort bei einem zwielichtigen Hobbyfotografen eine Modelkarriere anzufangen. Kommissar Schneider reist ihr als besorgter Vater, nicht in kriminalistischer Mission, nach. Auf den Protagonisten Satan Loco, der kein Verbrecher, sondern ein Outlaw ist, der mit seinem Motorrad und dem Puma Légumes in der Sierra Nevada haust und dem eigentlichen Ort des Verbrechens, der Gesellschaft nämlich, zu entgehen versucht, trifft er nur ein einziges Mal. Obwohl es bei dem Zusammentreffen eine Leiche gibt, identifiziert Kommissar Schneider Satan Loco in diesem Moment als das, was er ist:
23 WELLERSHOFF, 1976, S. 341. 24 SCHNEIDER, 2006e, S. 373. 25 EBD., S. 428.
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Helge Schneiders postrealistischer Anti-Kriminalroman […] es handelte sich hier um einen ehrlichen Mann, der mit seinem kleinen Hund die Ruhe dieses wunderschönen Campingplatzes ausnutzte und über Wochenende hier ein paar selige Stunden verbrachte, und zwar ohne Zelt oder Campingwagen, denn dafür hatte er kein Geld oder keine Zeit, sich so etwas zuzulegen.26
In diesem Roman ist Gesellschaftskritik manchmal wörtlich formuliert, fast könnte man meinen, man habe einen ernstgemeinten Text vor sich – aber Schneider lässt in der Lösung dieses Nicht-Falles keinen Zweifel bestehen: Der Blödsinn siegt.27 Während Kommissar Schneider unverrichteter Dinge – es gibt ja keinen wirklichen Fall – aus dienstlichen Gründen in die Heimat fliegt („Ladendiebstahl in Gelsenkirchen-Buer. Wahrscheinlich ein minderjähriger Täter oder sehr, sehr klein“), löst sich für Satan Loco alles in Wohlgefallen auf.28 Was man von seinem Findelhündchen Pici nicht sagen kann: Satan Loco […] wird sich von nun an, wenn es geht, überhaupt nicht mehr in der Öffentlichkeit bewegen: Der kleine Hund landet am Spieß, und das elektronische Keyboard ist sein neuer Lebensinhalt, zumindest beruflich. Man kann Satan Loco an vielen Kaufhausecken der Welt sitzen sehen, wie er dem Plastikkeyboard seine Seele einhaucht, indem er daneben auf dem Fußboden sitzt und eine dunkle Zigarette raucht. Der Puma wartet mit dem Essen zu Hause auf ihn.29
Was ist damit anzufangen? Helge Schneider dekonstruiert die Gewissheiten, die der klassische realistische Kriminalroman aufbaut, ebenso wie die ihrer selbst gewissen Ungewissheiten, die der Anti-Kriminalroman aufzeigt. Was herauskommt, ist kein Verweis auf die Beschränktheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und auch kein moralischer Fingerzeig. Die Besonderheit der Schneiderʼschen Blödelei ist, dass sie Bekanntes zeigt, um im genau getimten Moment alle Gewissheiten aufzulösen. Assoziationen werden aufgerufen, die ein vorgefertigtes Meinungs- und Regelbild evozieren, mit dem Helge Schnei26 SCHNEIDER, 2011, S. 122. 27 Das kündigt auch der Paratext, EBD., Klappentext, unmissverständlich an: „Im apokalyptischen Taumel zwischen Mystik, Gesellschaftskritik und Campingplatz steuert dieser Kriminalroman unaufhaltsam auf ein furios-überraschendes Finale zu, auf einen gnadenlos blutrünstigen Showdown …“. 28 EBD., S. 132. 29 EBD., S. 138.
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der verfährt, als sei es Spiel und unendlich variabel. So kann er durch das „Stolpern der Banalität“, die Blödelei, auch seinen Leser für einen kurzen Moment von starren Denkvorgaben befreien und ihm mit der Irritation des Gewussten ein Stück eigene Phantasie zurückgeben.30 Insofern sind Schneiders Anti-Kriminalromane nicht als reine Parodien zu betrachten, obwohl sie zu einem guten Stück und ziemlich gelungen eine komisch-herabsetzende Distanzierung von ihrem literarischen Gegenentwurf leisten. Durch die blödelnde Verfremdung der literarischen Vorlage sind die Romane als Kontrafakturen zu lesen, die ein gesellschaftlich normiertes Weltbild in Frage stellen. Dass die Blödelei als performativer Akt bei Helge Schneider weiter geht, als sich das an seinen Anti-Kriminalromanen darstellen lässt, offenbart die filmische Inszenierung des Unsinnskommissars: Helge Schneider spielt in Jagd auf 1ihil Baxter (1999) selbst den Kommissar 00 Schneider. Der aufgedrängte Vergleich mit dem heldenhaften Gentleman-Ermittler James Bond löst sich schnell in die Assoziation mit dem bekannten Türmarker 00 – also der Toilette – auf; und diese Assoziation bestätigt sich dann auch in der Ermittlerfigur und ihren Methoden.31 Die Staffage Kommissar Schneiders mit beigem Trenchcoat, Schiebermütze und nie brennender Pfeife ist grotesker Holmes-Verschnitt, das immer an der Lösung vorbeiermittelnde „Kombiniere, kombiniere …“ gemahnt an Nick Knatterton.32 Auch fehlt im Film der Watson nicht – Helge Schneider hat dazu den Parkplatzwächter des Filmsets von Texas ausgesucht. Helmut Körschgen, ein Ruhrpott-Original und bevorzugter Laiendarsteller Schneiders, scheint sich kaum je bewusst zu sein, dass er gerade Filmdarsteller ist und kontrastiert damit die inszeniert blödelnde Komik Schneiders. Das wirkt zuerst wie Realsatire. Der liebevolle Blick auf Körschgen, dessen Rolle besonders in der Fensterszene trotz der komischen Wirkung keine Inszenierung mehr, sondern Realität zu sein scheint, offenbart aber die eigentliche Funktion der Rolle: An dieser Besetzung kann man die eigensinnige Verschränkung von Realismus und Komik in der Blödelei und im speziellen Verständnis des Werks Helge Schneiders beobachten – das Normale sollte das Maß der Dinge sein.33 Und wenn man übertreiben muss, um den Primat des Kleinen herauszustellen, dann gelingt das Schneider sehr komisch. 30 SCHUMACHER, 1998, S. 995-998. 31 SCHNEIDER, 2011 [1999]. Diese Unterschreitung des durch die Vorlage gesetzten Niveaus ist eben das komische Verfahren der Blödelei. 32 Vorbild für diesen Satz dürfte die „Nick Knatterton-Formel“ sein, der habituelle Ausspruch des parodistischen Comic-Detektivs im Nachkriegsdeutschland. 33 Schneider, o. J. [Das Ruhrgebiet].
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Angesichts solcher Szenen und der polarisierenden Wirkung der Schneiderʼschen Blödelei stellt sich die Frage, ob aus ihr überhaupt eine Erkenntnis zu ziehen, vielleicht sogar kritisches Potenzial zu gewinnen ist. Den vorhergehenden Betrachtungen zufolge ist das möglich. Mit Wellershoff kann das kritische Potenzial der Blödelei am Beispiel der Dadaisten – mit denen Helge Schneider in seinem Sprachgebrauch wie seinen Performances häufiger Übereinstimmungen zeigt – benannt werden. Dort sei die Korrumpierung des herrschenden Realitätsprinzips immer wieder neu durchgespielt worden: Als Anti-Kunst, die die Kunst um des Lebens willen zerstören wollte, als Aufstand gegen Moral, Gewohnheit, Geschmack, Logik, Vernunft – in der Absicht Spontaneität, Sensibilität und Kreativität zu befreien –, als methodische Verrücktheit, Trick, Spiel, oppositionelle Lebensform, künstlicher Rausch.34
1998 wendet Eckhard Schumacher die Kategorie der Blödelei auf Schneider an; hintergründiger Humor und komischer Inhalt seien nicht der Grund, auf dem dessen Komik aufbaue. Der liege „in der so naiven wie abgründigen Blödelei, in der Haltlosigkeit der Improvisation, der sich Schneider systematisch aussetzt“ und die eine verblüffende Dynamik freisetze. Schumacher sieht im Verstolpern der Banalität, im Vergeigen eindeutiger Situationen das eigentliche Können Schneiders, das die gemütliche popkulturelle Ununterscheidbar-
34 WELLERSHOFF, 1976, S. 352. Subkulturen der Jugend machten sich Wellershoff zufolge das subversive Potenzial regressiver und anarchischer Verhaltensweisen zunutze; Wellershoff nennt die Beat-Generation, Gammler, Hippies, Provos, ZenAnhänger und Rauschgiftsüchtige, und hier kann eine biographische Parallele zu Helge Schneider gezogen werden, dessen frühe Sozialisations- und Schaffenszeit von diesen sozialen Orten geprägt war: SIEGFRIED, 2006, S. 648; S. 698, nennt in seiner Kulturgeschichte neben Größen wie Floh de Cologne, Ton Steine Scherben, Checkpoint Charlie und Franz K. die Duisburger Band Bröselmaschine als bedeutende Formation des „politische[n] Underground, der die Form einer musikmachenden Kommune annahm […]“. Im Nachklang der 1968er-Bewegung habe Bröselmaschine versucht, „[…] das Publikum durch politische Texte in deutscher Sprache für gesellschaftliche Probleme zu sensibilisieren und zu aktivieren“. Der Kopf der Gruppe, Peter Bursch, war u. a. Herausgeber der Duisburger Underground-Zeitschrift Der Metzger und verdiente seinen Lebensunterhalt in einem bekannten Headshop. Mitglied dieser Band war in den 70er Jahren der junge Helge Schneider. Mittlerweile spielt er wieder in der Bröselmaschine.
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keit auflöse. Geschaffen werde dagegen eine „Form der Unentscheidbarkeit, die Differenzen gleichermaßen produziert wie voraussetzt“.35 Zwischen vereindeutigender Comedy und der Blödelei Schneiders besteht ein ideologischer Unterschied. Es stellt sich die Frage, wie Schneider als Künstler der Gegenkultur, der auf Medienpräsenz angewiesen ist, in einem Umfeld agieren kann, in dem Missverständnisse programmiert sind. Es scheint, als halte er noch immer an einer Strategie der Verweigerung fest, nur dass er mittlerweile, um sich jeder Berechenbarkeit zu entziehen, das BlödeSein verweigert, statt sich blöd zu stellen. Komik meint in der popkulturellen Kulturindustrie meist nur noch Fernsehcomedyformate, die den Geschmack und den inhaltlichen wie ästhetischen Horizont des Zuschauers lenken wollen; dabei hat man es mit Humor zu tun, einer gemütlich einträchtigen Komik, die für einen limitierten Moment das geregelte Überschreiten von Geschmacksgrenzen und den Verstoß gegen? politisch-gesellschaftliche Urteile erlaubt, um dann in einer resignativen Haltung die affirmative und systemstabilisierende Funktion humoristischer Darstellung an ein Publikum weiterzugeben, dessen Nachfrage das Angebot zu bestimmen glaubt. Helge Schneider bewegt sich in diesem Comedykosmos und er ist komisch. Selten aber humorvoll. Was er voranbringt, ist das Ende des Versöhnungslachens, weil der kaum je greifbare Inhalt seiner Rede und Grimasse einer ständigen Umsinns- und Unsinnskur unterzogen wird, aus der am Ende keiner mehr schlau wird. Das weiß auch der Autor der Kommissar Schneider-Romane: „Es geht kein Weg dran vorbei, auch hier viel zwischen den Zeilen zu lesen, sonst kapiert man die Handlung nicht.“36 Genau hier liegt das gegenkulturelle Potenzial der Schneiderʼschen Komik. Inspirierend irritieren lassen kann man sich von den Quermittlungen Kommissar 00 Schneiders übrigens in seinem neuesten Film Im Wendekreis der Eidechse.37
35 SCHUMACHER, 1998, S. 998. Schumacher spricht von Schneiders Herstellung von „Unentscheidbarkeit“ zwischen einem „Kult des Banalen“ und einem „gehobene[n], kritisch abgesicherte[n] Humor“ und dessen eigener Zugehörigkeit zu beiden Klassifikationen. Dies stellt die Kategorien selbst infrage. 36 SCHNEIDER, 2006b, S. 111. 37 SCHNEIDER, 2014 [2013].
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Literatur Primärliteratur DÜRRENMATT, FRIEDRICH, Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman. Aufenthalt in einer kleinen Stadt. Fragment (Friedrich Dürrenmatt. Werkausgabe in dreißig Bänden 22), Zürich 1980. SCHNEIDER, HELGE, Aprikose, Banane, Erdbeer. Kommissar Schneider und die Satanskralle von Singapur, Köln 32004. DERS., Arschfahl klebte der Mond am Fenster. Die Kommissar Schneider Romane 1-4, Köln 52006a. DERS., Zieh dich aus du alte Hippe, in: DERS., Arschfahl klebte der Mond am Fenster. Die Kommissar Schneider Romane 1-4, Köln 52006b, S. 9-111. DERS., Das Scharlachrote Kampfhuhn, in: DERS., Arschfahl klebte der Mond am Fenster. Die Kommissar Schneider Romane 1-4, Köln 52006c, S. 113226. DERS., Der Mörder mit der Strumpfhose, in: DERS., Arschfahl klebte der Mond am Fenster. Die Kommissar Schneider Romane 1-4, Köln 52006d, S. 229349. DERS., Der Scheich mit der Hundehaarallergie, in: DERS., Arschfahl klebte der Mond am Fenster. Die Kommissar Schneider Romane 1-4, Köln 52006e, S. 351-501. DERS., Satan Loco, Köln 2011. DERS., 00 Schneider. Im Wendekreis der Eidechse [2013], DVD, Senator Film 2014. DERS., 00 Schneider. Jagd auf Nihil Baxter [1999], DVD, Universum Film GmbH 2011. DERS., Das Ruhrgebiet alias Helmut Körschgen, abrufbar unter: http:// www.youtube.com/watch?v=dsv5BKGCXKw (Zugriff: 19.02.2014). DERS., Texas. Doc Snyder hält die Welt in Atem [2005], DVD, Universum Film GmbH 2011. SJÖWALL, PER/WALHÖÖ, MAJ, Verschlossen und verriegelt, dt. von HANSJOACHIM MAASS (rororo thriller), Hamburg 1989.
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Die revolutionierte Ständeklausel Komödie, Tragödie und soziale Realität in Büchners Dramen ARIANE MARTIN Eine Szene im letzten Akt von Büchners Drama Danton’s Tod, die auf dem Platz vor der Conciergerie spielt, beginnt damit, dass der Schließer die Fuhrleute, welche die zum Tode verurteilten Gefangenen abholen wollen, um sie auf dem Karren zu ihrer Hinrichtung auf den Revolutionsplatz zu fahren, fragt: „Wer hat Euch herfahren geheißen“, woraufhin er als Antwort aber nicht etwa die erwartete Legitimation für den Gefangenentransport erhält, sondern der erste Fuhrmann ihm erklärt: „Ich heiße nicht herfahren, das ist ein kurioser Namen.“1 Das ist komisch. Der Fuhrmann hat den eigentlichen Kontext der Frage ignoriert und sie stattdessen kontextunabhängig wörtlich genommen, als Frage danach, wer ihm seinen Namen gegeben habe, wie die Antwort verrät. Weitere Wortwitze folgen, Witze, welche den Hunger zur Sprache bringen und damit die soziale Frage.2 „Die sociale Revolution ist noch nicht fertig“,3 diese Auffassung hat „Büchner ‚seinem‘ Robespierre in den Mund gelegt“,4 eine Auffassung, die seine eigene war. Ihm galt „das Verhältniß zwischen Armen und Reichen“ als „das einzige revolutionäre Element in der Welt, der Hunger allein kann die Freiheitsgöttin […] werden.“5 Dies schrieb er im Herbst 1835 an Gutzkow, dem er im Frühjahr sein Revolutionsdrama mit der Bitte ge1 2 3 4 5
BÜCHNER, 2012, S. 142. Vgl. MARTIN, 2013a, S. 22. BÜCHNER, 2012, S. 87. MORAWE, 2013, S. 36. BÜCHNER, 2012, S. 361.
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schickt hatte, es für den Druck zu empfehlen. Büchner hat in Danton’s Tod den Hunger des Volkes als soziale Realität greifbar gemacht, indem er das Volk selbst hat sprechen lassen, Repräsentanten des Volkes wie die Fuhrleute, die selbstbewusst in witzig pointierter Rede an ihrer desolaten sozialen Situation keinen Zweifel lassen. Komik und Realismus stehen insofern in seinem ersten Drama in unmittelbarer Verbindung miteinander. Diese Verbindung ist durch Shakespeare inspiriert, auf den Büchner sich am 21. Februar 1835 in jenem Brief an Gutzkow berufen hat, dem das Manuskript von Danton’s Tod beigelegt war, oder auch im Brief an die Eltern vom 28. Juli 1835, in dem er sein erstes Drama kommentierte.6 Er hat die Mischung von Tragik und Komik in Shakespeares Dramen als Vorbild genommen und in eigener Kontur in Danton’s Tod umgesetzt.7 Sein erstes Drama hatte damit „Leben“, seinem Lenz zufolge „das einzige Kriterium in Kunstsachen“, das „nur selten“ realisiert sei, aber „in Shakespeare finden wir es“,8 wie Büchner den Protagonisten seines Prosafragments sagen lässt. Was unter Leben bei Shakespeare nach Lenz zu verstehen ist, das hat Büchner bei dem Autor des Sturm und Drang lesen können.9 J. M. R. Lenz hat 1774 in seinen Anmerkungen übers Theater nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears über das königliche Personal des englischen Dramatikers geschrieben: „Seine Könige und Königinnen schämen sich so wenig als der niedrigste Pöbel, warmes Blut im schlagenden Herzen zu fühlen, oder kützelnder Galle in schalkhaften Scherzen Luft zu machen, denn sie sind Menschen, auch unterm Reifrock“.10 Die Herrscherfiguren in Shakespeares Königsdramen sind Menschen wie das einfache Volk, womit die Ständeklausel nivelliert ist, sie haben Gefühle und Sexualität, sie sind außerdem zu Scherzen aufgelegt, womit auf die Mischung von Tragik und Komik angespielt ist. Büchner war bereits in der Schulzeit von Shakespeare begeistert.11 Er hat 1835 mit einem Drama in Shakespeares Tradition debütiert und sich als Dramatiker verstanden. „Ich gehe meinen Weg für mich und bleibe auf dem Felde 6 7 8
Vgl. BÜCHNER, 2012, S. 358, 319. Vgl. MARTIN, 2013b, S. 85-98. BÜCHNER, 2012, S. 164. Vgl. zu Büchners kunsttheoretischen Aussagen im Kunstgespräch des Lenz ausführlich SCHWANN, 1997. Der Prosatext stellt sich im Rekurs auf Debatten im 18. Jahrhundert insgesamt als Kritik am Idealismus dar. Vgl. COSTAZZA, 2012. 9 Büchner hat die 1828 von Ludwig Tieck herausgegebene Ausgabe Gesammelte Schriften, von J. M. R. Lenz benutzt. 10 LENZ, 2001, S. 56. Vgl. LENZ, 1828, S. 229. 11 Vgl. MAYER, 1988/89 [1991].
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des Drama’s […]; ich zeichne meine Charaktere, wie ich sie der Natur und der Geschichte angemessen halte“,12 schrieb er den Eltern am 1. Januar 1836, nahm sich also vor, nach dem Revolutionsdrama weiterhin Dramen zu schreiben, die an Shakespeare orientiert sein sollten, wie die ähnliche Formulierung in seinem Brief an Gutzkow vom 21. Februar 1835 nahelegt, in dem er zum Manuskript von Danton’s Tod geschrieben hat, dass er „alle Ursache habe, der Geschichte gegenüber roth zu werden; doch tröste ich mich mit dem Gedanken, daß, Shakespeare ausgenommen, alle Dichter vor ihr und der Natur wie Schulknaben dastehen.“13 Die Natur, das Leben, die soziale Realität, sollte in den noch zu schreibenden Dramen zwar wieder eine Rolle spielen, die Geschichte aber nicht, denn das im Sommer 1836 begonnene Lustspiel Leonce und Lena und das wenig später konzipierte Trauerspiel Woyzeck sind in der Gegenwart angesiedelt. Seine Komödie und seine Tragödie betreffen gleichwohl Geschichte, nämlich Dramengeschichte. Sie stellen als Parallelprojekte eine Auseinandersetzung mit der herkömmlichen Komödien- und Tragödientradition dar, die durch Büchners Sinn für die soziale Realität politisch motiviert war und an der Ständeklausel ansetzte, was näher auszuführen sein wird. Es wird zu zeigen sein, dass er mit seinen beiden parallel entstandenen letzten Dramen praktisch umgesetzt eine Gattungsreflexion betrieben hat, welche die Tradition auf den Kopf stellt, umkehrt, revolutioniert. Bevor Büchners Revolutionierung der Ständeklausel gegenständlich und in ihren dramengeschichtlichen Konsequenzen zu erörtern ist, gilt es zu resümieren, wie Shakespeares tragikomische Mischung rezipiert wurde, um dann einen Blick auf Büchners Poetik zu werfen, die er außer in Briefen unter Hinweis auf die Kategorien des Hässlichen und des Schönen auch in literarischen Texten formuliert hat, im Drama Danton’s Tod und im Prosafragment Lenz. Es ist zu vergegenwärtigen, dass die Mischung von Tragik und Komik die traditionelle Grenze zwischen Tragödie und Komödie als Untergattungen des Dramas unterminiert und damit auch die tradierten Regeln, zu denen die Ständeklausel zählt. Schließlich gilt es diese Ständeregel zu betrachten, jenes Standeskriterium, welches den herkömmlich gefassten Unterschied zwischen Komödie und Tragödie am sozialen Stand des Dramenpersonals festmacht, um zu zeigen, wie Büchner die dramatische Sozialklausel und damit das Drama mit seinem Doppelprojekt Leonce und Lena und Woyzeck ästhetisch und politisch im Wortsinn revolutionierte. 12 BÜCHNER, 2012, S. 327. 13 EBD., S. 358.
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Die tragikomische Mischung, die in der literarischen Tradition als realistisch (im Sinne von wirklichkeitsnah) gegen den als künstlich (im Sinne von wirklichkeitsfremd) geprägten Klassizismus steht, wurde als ein Verstoß gegen die Regeln des Dramas wahrgenommen. Dieser Verstoß wurde einerseits missbilligt, so von Fürsprechern einer idealistischen Ästhetik wie Christian Hermann Weiße, der 1830 in seinem System der Ästhetik als Wissenschaft von der Idee der Schönheit davor warnte, Shakespeare in der tragikomischen Mischung zu folgen. „Man hat sich zu hüten, daß man nicht diese Ineinsbildung des Komischen und des Tragischen in dem gewöhnlich so genannten Schauspiel oder Drama für eine völlige Indifferenzirung beider Elemente nehme“, da sich daran „der Verfall der ächten dramatischen Kunst geknüpft hat.“14 Der Verstoß ist andererseits begrüßt worden, so in den 1770er Jahren von Autoren des Sturm und Drang, allen voran Lenz, der in einer Selbstrezension am 11. Juli 1775 in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen gefordert hat, es „müssen unsere deutschen Komödienschreiber komisch und tragisch zugleich schreiben“15 (,Komödie‘ meint hier ‚Theaterstück‘). Das hat Lenz in Der Hofmeister und Die Soldaten (und Büchner in Danton’s Tod) getan, zwei Dramen, deren Titel in Büchners Lenz genannt sind, jenem Prosatext, den der Autor nach dem Revolutionsdrama und der Flucht nach Frankreich 1835 im Exil zu schreiben beginnt; er bricht das Erzählprojekt ab, um 1836/37 den dramatischen Projekten Leonce und Lena (dort kommt ein Hofmeister vor) und Woyzeck (dort ist der Protagonist ein Soldat) den Vorzug zu geben. Lenz, dem Shakespeare-Übersetzer, Dramatiker, Dramentheoretiker und Wortführer des Sturm und Drang, hat Büchner im Kunstgespräch seines Prosafragments seine eigene programmatisch antiklassizistische und antiidealistische Poetik in den Mund gelegt, ein realistisches Kunstprogramm. „Ich verlange in allem Leben“, sagt sein Lenz, „wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist“, dass Kunst „Leben habe, stehe über diesen Beiden, und sey das einzige Kriterium in Kunstsachen.“16 Diese Bemerkung korrespondiert mit derjenigen Camilles im ersten Akt von Danton’s Tod, der ebenfalls in von Goethe übersetzten Worten Diderots17 davon gesprochen hat, eine Gestalt möge „schön oder häßlich seyn, sie hat einmal das Recht zu seyn wie sie ist“.18 14 WEISSE, 1830, S. 346 [Herv. i. O.]. Danton’s Tod ist in Büchners Handschrift mit der Gattungsbezeichnung „Ein Drama“ ausgewiesen. Vgl. BÜCHNER, 2012, S. 61. 15 LENZ, 1992, S. 703. 16 BÜCHNER, 2012, S. 164. 17 Vgl. MARTIN, 2013c, S. 217-220. 18 BÜCHNER, 2012, S. 68.
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Das Hässliche und das Schöne sind in ihrer realen Präsenz als gleichwertig gedacht. Diese Auffassung unterscheidet sich von der Annahme, es werde „das Häßliche durch das Komische überwunden“, wie sie „in der Ästhetik der HegelSchule“19 vertreten wurde, 1830 in Christian Hermann Weißes System der Ästhetik als Wissenschaft von der Idee der Schönheit und in dessen Nachfolge 1853 in der Ästhetik des Häßlichen von Karl Rosenkranz (der Büchner schätzte20), zumal in dem Plädoyer für die Gleichwertigkeit des Hässlichen und Schönen bei Büchner der Aspekt des Komischen keine Rolle spielt. Das Hässliche als eine neben dem Schönen gleichberechtigte ästhetische Kategorie war durch Victor Hugo in der aktuellen Debatte. Er hatte 1827 in seiner berühmten Préface de Cromwell die Vermischung der Gattungsgrenzen zwischen Tragödie und Komödie gefordert und dass das Schöne sich mit dem Hässlichen zu verbinden habe, weshalb angenommen worden ist, der Hugo-Übersetzer Georg Büchner sei von diesem Manifest geprägt gewesen.21 Das ist angesichts der Kritik Büchners an dem französischen Kultautor aber zweifelhaft. Büchner, der „die Schwächen Victor Hugos mit seinem Auge musterte“,22 wie Gutzkow sich erinnerte, hatte ihm während der Übersetzungsarbeit geschrieben, er wisse kaum, wie er sich durch Hugos Dramen „durchnagen“23 solle. Außerdem ist bei Büchner die Gleichwertigkeit des Hässlichen und Schönen konstatiert, während Hugo zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung dafür plädierte, das Hässliche über das Schöne zu stellen. Eine zeitgenössische Karikatur zeigt ihn als ‚Vorreiter‘ der französischen Romantik mit einem Transparent mit der Aufschrift „le laid c’est le beau“ (‚das Hässliche ist das Schöne‘).24 Die antiklassizistische Stoßrichtung teilte Büchner gleichwohl mit Hugo. Das zeigt das realistische Kunstprogramm im Lenz, das in seinen antiidealistischen Invektiven Büchners „Poetik der Immanenz“25 zu erkennen gibt. Das zeigt mehr noch die dezidiert dramentheoretische Äußerung Camilles im Kunstgespräch des zweiten Akts von Danton’s Tod. Während im Lenz eine „Poetik des Schmerzes […] als Sprengsatz gegen eine idealistische Ästhetik“26 19 20 21 22 23 24 25 26
KLICHE, 1990, S. 407. Vgl. MARTIN, 2014, S. 310. Vgl. HÜBNER-BOPP, 1990, S. 138-146. BÜCHNER, 2012, S. 768. EBD., S. 360. Vgl. die Abbildung: GRIMM, 2006, S. 273; MARTIN, 2007, S. 231. MARTIN, 2013b, S. 99. BORGARDS, 2007, S. 449.
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formuliert ist, zugleich eine Poetik, welche „die Kunst durch die Kunst“27 kritisiert, so zielt sie im Kunstgespräch von Danton’s Tod speziell auf das Drama. Camilles Rede bietet eine dramentheoretische Reflexion in einem Drama, womit hier ebenfalls eine Kritik an der Kunst durch die Kunst gegeben ist, eine Kritik des klassizistischen Regeldramas durch ein formal gegenläufiges Drama, das an Shakespeare orientiert ist. Waren „idealistische Gestalten“ im Lenz als leblose „Holzpuppen“28 charakterisiert und hatte Lenz in den Anmerkungen übers Theater über die „Marionettenpuppe“ des traditionellen Dichters gespottet, „die er herumhüpfen und mit dem Kopf nicken läßt“,29 so klagt Camille über die verdinglichten „hölzernen Copien“ von Menschen, die „verzettelt in Theatern“ präsent seien, um eine solche als Marionette und Ding bezeichnete unlebendige Figur in ihrer durchsichtigen Mache und auf der Bühne zu imaginieren: Schnizt Einer eine Marionette, wo man den Strick hereinhängen sieht, an dem sie gezerrt wird und deren Gelenke bey jedem Schritt in fünffüßigen Jamben krachen, welch ein Character, welche Consequenz! Nimmt Einer ein Gefühlchen, eine Sentenz, einen Begriff und zieht ihm Rock und Hosen an, macht ihm Hände und Füße, färbt ihm das Gesicht und läßt das Ding sich 3 Acte hindurch herumquälen, bis es sich zulezt verheirathet oder sich todtschießt − ein Ideal!30
Camille wendet sich gegen das Regeldrama mit seinen drei Akten (vereinfacht statt fünf), zugleich im Hinweis auf den Blankvers eine Wendung gegen das Drama der Weimarer Klassik. Darüber hinaus bezieht er sich auf die beiden klassischen Unterformen des Regeldramas, auf Komödie und Tragödie. Verheiraten und Totschießen − das zielt in Anspielung auf den Dramenausgang als eines der Unterscheidungskriterien von Komödie, die versöhnlich ausgeht, und Tragödie, die tödlich endet, auf jene Unterformen. Ganz ähnlich auf den jeweils typischen Handlungsausgang anspielend hat Büchner mitgeteilt, dass er eine Tragödie und eine Komödie schreibe. Er sei „gerade daran, sich einige Menschen auf dem Papier todtschlagen oder verheirathen zu lassen“,31 hat er den Eltern am 2. September 1836 über sein Dramenprojekt Woyzeck (dort wird ‚totgeschlagen‘) und sein Lustspiel Leonce und Lena (dort wird ‚geheiratet‘) 27 28 29 30 31
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OESTERLE, 1995, S. 58. BÜCHNER, 2012, S. 164. LENZ, 2001, S. 40. Vgl. LENZ, 1828, S. 220. BÜCHNER, 2012, S. 100. EBD., S. 333.
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geschrieben. Die Bemerkung bezieht sich zweifellos auf die genannten Dramenprojekte. Sie „lassen sich über den angesprochenen Ausgang identifizieren.“32 Mit seiner Bemerkung hat Büchner seine beiden letzten Dramen Leonce und Lena und Woyzeck zugleich aber auch in jene jeweils für das Komische und das Tragische zuständigen Untergattungen eingeteilt, gegen deren idealistisch intendierte regelgerechte Ausrichtung Camille sich so verächtlich ausspricht. Denn Camille hat wie der Verfasser von Danton’s Tod die durch Shakespeare inspirierte Vermischung von Komik und Tragik im Sinn, welche die traditionelle Grenze zwischen Komödie und Tragödie verwischt und damit die tradierten Regeln unterminiert, zu denen die Ständeklausel zählt. Es gilt ein Wort zu diesem Begriff zu sagen, obwohl er allseits bekannt ist und „oft genannt“ wird, er als dramentheoretischer Fachbegriff aber erst im 20. Jahrhundert belegt ist und zu konstatieren bleibt, es sei die Ständeklausel „nicht eigentlich Gegenstand einer mit diesem Terminus verbundenen Forschung geworden“.33 Was also bezeichnet dieser Begriff? Die Ständeklausel ist in literaturwissenschaftlichen Nachschlagewerken bekanntlich definiert als „die in einseitiger Deutung der ‚Poetik‘ des Aristoteles […] erhobene Forderung, nach der in der Tragödie die Hauptpersonen […] nur von hohem, in der Komödie dagegen nur von niederem Stand sein dürfen.“34 Mit ihr ist also verbindlich der soziale Stand der handelnden Figuren markiert, der Tragödie und Komödie unterscheide. „Die Verteilung von ‚hohen‘ und ‚niederen‘ Personen ist ein Kriterium für die Differenzierung von Tragödie und Komödie.“35 Könige, Herrscher, Adlige, Götter handeln der Ständeklausel zufolge tragisch, das Volk komisch. Sie zielt dramentheoretisch auf eine soziale Hierarchisierung von Tragik und Komik, wobei allein schon der Aspekt der gesellschaftlichen Stellung der dramatis personae in den außerdramatischen Bereich greift, einen Bezug zum jeweiligen gesellschaftlichen Leben herstellt, zur Sozialstruktur in der Wirklichkeit. Insofern ist es bemerkenswert, dass der Ständeklausel in der einschlägigen Forschung zum Drama besondere Bedeutung beigemessen wird. „Die dramengeschichtlich bedeutsamste Unterscheidung ist die nach dem Stand der Personen.“36 Historisch gesehen ist man sich darüber einig, dass die Ständeklausel nach ihrer Hochzeit im Barock im 18. Jahrhundert durch den Einfluss Shakespeares und des Sturm und Drang obsolet geworden ist, mit der 32 33 34 35 36
FORTMANN, 2013, S. 64. RÖSCH, 2007, S. 495. DELBRÜCK/HONOLD, 2007, S. 730. RÖSCH, 2007, S. 495 [Herv. i. O.]. ASMUTH, 1997, S. 24.
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neuen Gattung des bürgerlichen Trauerspiels habe sie sich eigentlich erledigt, auch wenn sie weiter propagiert und umgesetzt wurde. Wie sind die beiden letzten Dramen Büchners hier einzuordnen? Wilhelm Schulz hat in seinem Nachruf auf Büchner im Schweizerischen Republikaner vom 28. Februar 1837 erstmals Büchners Komödie erwähnt, „ein im Manuskript vorliegendes Lustspiel, Leonce und Lena, voll Geist, Witz und kecker Laune.“37 Leonce und Lena ist mit dem gattungsbezeichnenden Untertitel „Ein Lustspiel“38 überliefert und insofern recht sicher vom Autor selbst als eine Komödie ausgewiesen, von deren Eigenart noch näher zu sprechen sein wird. Deutlich ist jedenfalls, dass diese Komödie personell „in gewolltem Bruch mit der Ständeklausel“39 operiert, wie Patrick Fortmann festgestellt hat. Und Woyzeck? Wilhelm Schulz hat dieses von Büchner gleichzeitig mit Leonce und Lena verfasste und in verschiedenen Entwürfen handschriftlich überlieferte Stück nur unspezifisch erwähnt. „Außerdem findet sich unter seinen hinterlassenen Schriften ein beinahe vollendetes Drama“,40 womit Woyzeck gemeint ist. Nicht von ungefähr aber hat Ludwig Büchner 1850 den von ihm nicht edierten Woyzeck in der Einleitung zu den 3achgelassenen Schriften seines Bruders als bürgerliches Trauerspiel bezeichnet. „In dem Nachlasse fand sich außer Leonce und Lena und einem ziemlich weit gediehenen Fragment eines bürgerlichen Trauerspiels ohne Titel, Nichts von dramatischen Sachen vor.“41 Ludwig Büchners Gattungszuordnung deutet an, dass er die Ständeklausel im Personal des Woyzeck als unterlaufen erkannte, er daher das Stück derjenigen Gattung zuordnete, die seinerzeit dafür stand, dem bürgerlichen Trauerspiel, das durch „Entfallen der Ständeklausel“42 charakterisiert ist. Gattungsgeschichtlich ist der „Versuch, das Standeskriterium ganz aufzugeben“, in der Tat durch das „bürgerliche Trauerspiel“ markiert, jene Dramenform, mit der „das Bürgertum“ im 18. Jahrhundert versuchte, „an dem makabren Adelsprivileg des tragischen Unglücks teilzuhaben.“43 Der Protagonist des Woyzeck aber ist kein Bürger, er gehört nicht dem dritten Stand an, sondern dem vierten. „Nach Büchners Woyzeck hielt der vierte Stand respektive das Proletariat endgültig Einzug in das Personal des ernsten Dramas, womit die 37 38 39 40 41 42 43
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MARTIN, 2014, S. 105. BÜCHNER, 2012, S. 183. So im Erstdruck von 1838 und im Zweitdruck von 1850. FORTMANN, 2013, S. 69. MARTIN, 2014, S. 105. L. BÜCHNER, 1850, S. 39. EIBL, 2007, S. 285 [Herv. i. O.]. ASMUTH, 1997, S. 29f.
Die revolutionierte Ständeklausel
letzte noch faktisch verbliebene Ständeklausel beseitigt wurde.“44 Woyzeck gilt als „die vermutlich erste proletarische Tragödie (zumindest die erste Tragödie mit einer proletarischen Hauptfigur)“.45 Ob der einfache Soldat Woyzeck ein Proletarier ist, wie vielfach gesagt wurde, sei dahingestellt, eine verelendete Figur, ein „Knecht“, dessen Geschichte ein „System der Ausbeutung, Unterdrückung und Entfremdung“46 illustriert, ist er in jedem Fall. Daher wird das Dramenfragment heute gerne der Gattung des sozialen Dramas zugeordnet.47 Tanja van Hoorn hat diese Gattungszuordnung prägnant definitiv gemacht. „Unter Nichtbeachtung der Ständeklausel wird in offener Form und loser Szenenfolge nicht das tragische Schicksal einer hohen Standesperson, sondern der unaufhaltsame Untergang eines von vorneherein chancenlosen ‚underdog‘ nachgezeichnet: Die Tragödie Woyzeck ist ein soziales Drama.“48 Dagegen hat Franziska Schößler, die Woyzeck zunächst als eine „Variante des bürgerlichen Trauerspiels“49 aufgefasst hat, dabei allerdings einräumte, dass in Büchners Drama „nicht mehr die Grenze zum Adel“ etabliert sei, „sondern die Grenze zur pauperisierten Unterschicht“,50 die Gattungszuweisung im Büchner-Handbuch präzisiert, indem sie darauf hinwies, dass Büchner „als ‚Diskursbegründer‘ des sozialen Dramas gelten“ könne und Woyzeck „die Schnittstelle zwischen dem im 18. Jahrhundert entstehenden bürgerlichen Trauerspiel […] und dem sozialen Drama“ markiere, „zwei Gattungen, die die durch gesellschaftliche Entwicklungen benachteiligten, von politischen oder wirtschaftlichen Ressourcen ausgeschlossenen Bevölkerungsschichten ‚tragikfähig‘ machen.“51 Woyzeck changiere in der Gattung also zwischen bürgerlichem Trauerspiel und sozialem Drama. „Vergleicht man das Stück mit der Tradition des bürgerlichen Trauerspiels, so fällt auf, dass das grobe Handlungsgerüst dieser speziellen Dramenform in rudimentärer Form erkennbar ist“,52 räumten unlängst auch Michael Hofmann und Julian Kanning ein, die aber das soziale Drama in ihrer Gattungszuweisung favorisieren: „Büchners Woyzeck ist soziales Drama. Es ist das erste deutsche Drama, das einen Unter-
44 45 46 47 48 49 50 51 52
NICKEL, 2013, S. 18. EKE, 2005, S. 97. GLÜCK, 1990, S. 182f. Vgl. ELM, 2004, S. 109-138. VAN HOORN, 2009, S. 270. SCHÖSSLER, 2003, S. 64. EBD., S. 65f. SCHÖSSLER, 2009, S. 118. HOFMANN/KANNING, 2013, S. 161.
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privilegierten, einen Pauper, einen Menschen, der am unteren Rand der Gesellschaft steht, zu seinem Protagonisten macht.“53 Wie sinnvoll sind solche Gattungsetikettierungen? Die skizzierten Unternehmungen der neueren Forschung, Woyzeck mit einem treffenden Gattungsetikett zu versehen und damit dramengeschichtlich einzuordnen, lassen erkennen, dass ihnen eine Vorstellung zugrunde liegt, die Gattungsgeschichte als fließend fortschreitende Entwicklung begreift. Mit dem bürgerlichen Trauerspiel war die veraltete Ständeklausel obsolet geworden, womit diese Gattung für Woyzeck in Betracht komme. Da Woyzeck aber nicht durch den Ständekonflikt zwischen Adel und Bürgertum geprägt ist, sondern die Hauptfigur einer Unterschicht entstammt, die nicht mehr bürgerlich genannt werden kann, sei eher das soziale Drama als Gattung in Betracht zu ziehen, das dann in den naturalistischen Milieudramen des späten 19. Jahrhunderts seine charakteristische Ausprägung erfährt. Insofern wird der Verfasser des Woyzeck literarhistorisch gerne als Vorläufer des Naturalismus eingeordnet. Gerade Büchners Dramenfragment kann aber recht unterschiedlich gelesen werden, wie Roland Borgards angemerkt hat, nämlich als klassische Tragödie, insofern die Handlung zwingend auf die Schlusskatastrophe zulaufe; als soziale Tragödie, insofern die Katastrophe aus gesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen heraus begründet werde; als soziales Drama, insofern hier eine ganz neue soziale Schicht zum zentralen Personal erhoben werde; als groteske Komödie, insofern das Stück voller überdreht komischer Details stecke.54
Elemente des Komischen sind im Woyzeck vorhanden, das Stück ist aber insgesamt durch Elemente des Tragischen geprägt, es ist eine Tragödie, ein Trauerspiel, so wie Leonce und Lena eine Komödie ist. Es empfiehlt sich angesichts der unterschiedlichen Lesarten des Woyzeck, von verallgemeinernden nachträglichen Gattungsetikettierungen Abstand zu nehmen. Unabhängig von teleologisch grundierten dramengeschichtlichen Vorstellungen, nach der Überwindung der Ständeklausel im bürgerlichen Trauerspiel sei Woyzeck als soziales Drama prominent im Prozess der Moderne anzusiedeln, bleibt festzuhalten, dass Büchners Dramenfragment nun tatsächlich nicht das Schicksal einer hohen Standesperson darstellt, wie es die Ständeklausel vorgibt, gleichwohl aber 53 EBD., S. 160. 54 BORGARDS, 2009, S. 47.
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eine Tragödie ist, ein „Trauerspiel-Fragment“,55 wie Karl Emil Franzos die Szenen charakterisierte, die er seit 1875 unter dem Titel Wozzeck bekannt gemacht hat. Ebenso wenig wie im Woyzeck entspricht das Personal von Leonce und Lena den Vorgaben der Ständeklausel, die für die Komödie sozial niedrig gestellte Figuren verlangt, das Stück gleichwohl als Lustspiel ausgewiesen ist. Es empfiehlt sich, im Fall dieser beiden letzten Dramen Büchners anstatt von einem Modell der Evolution, einer dramengeschichtlichen Entwicklung, vom Modell einer Revolution, eines Umsturzes lange etablierter Ordnung, auszugehen. Wie radikal Büchner im Denken und Dichten war, zeigen gerade diese beiden Stücke, wenn man sie zusammen nimmt, da sie weitgehend parallel entstanden sind. Der Autor hat sie jedenfalls zusammen gedacht und gleichzeitig an ihnen geschrieben. „Ich habe meine zwei Dramen noch nicht aus den Händen gegeben, ich bin noch mit Manchem unzufrieden und will nicht, daß es mir geht, wie das erste Mal“,56 hat er im September 1836, an Danton’s Tod erinnernd, über Woyzeck und Leonce und Lena den Eltern geschrieben, außerdem diese beiden Dramen mit dem Hinweis, er sei „gerade daran, sich einige Menschen auf dem Papier todtschlagen oder verheirathen zu lassen“,57 als Tragödie und Komödie ausgewiesen. Er hat mit diesen beiden Stücken die ältere Dramenkonvention mit der Ständeklausel, die vorgegeben hat, der niedere Stand dürfe nur in der Komödie, der hohe Stand der Herrscher dürfe dagegen nur in der Tragödie das Personal abgegeben, subversiv einfach auf den Kopf gestellt, er hat sie umgedreht. Im Woyzeck geht es um die Tragödie eines Paares aus der untersten gesellschaftlichen Schicht, Leonce und Lena dagegen ist ein Lustspiel um einen Prinzen und eine Prinzessin, um zwei Königskinder. Die Ärmsten der Armen sind Hauptfiguren einer Tragödie, ein Thronfolger und die für ihn vorgesehene standesgemäße Heiratskandidatin die Hauptfiguren einer Komödie. Damit hat Büchner die Ständeklausel im Wortsinn revolutioniert. Genau genommen hat er sie dadurch unter umgekehrten Vorzeichen restituiert, also keineswegs überwunden oder nur reformiert. Vielmehr hat er sie durch Umkehr aktualisiert, indem er sie angesichts der sozialen Verhältnisse seiner Zeit gewissermaßen vom Kopf auf die Füße stellte. Dabei hat er sich in
55 FRANZOS, 1875, S. 2. Auch Ludwig Büchner hat Woyzeck 1850 als „Trauerspielfragment“ bzw. „Trauerspiel-Fragment“ bezeichnet. L. BÜCHNER, 1850, S. 40, 47. 56 BÜCHNER, 2012, S. 333 [Herv. i. O.]. 57 EBD.
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der Sache mit Aristoteles auseinandergesetzt, dessen Poetik die von Büchner kritisierte klassizistische Dramentheorie einseitig gedeutet hatte, indem sie das Kriterium des hohen Standes für die Tragödie und des niederen Standes für die Komödie als verbindlich etablierte. Die Gegenüberstellung von Tragödie und Komödie war bei Aristoteles aber „moralisch gemeint.“58 Die Charaktere seien „notwendigerweise entweder gut oder schlecht“,59 heißt es zu Beginn des 2. Kapitels der Poetik, welches mit dem Hinweis schließt, aufgrund dieses „Unterschiedes weicht auch die Tragödie von der Komödie ab: die Komödie sucht schlechtere, die Tragödie bessere Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen.“60 Diese zunächst einmal moralische Unterscheidung von ‚gut‘ (oder ‚edel‘) und ‚schlecht‘ (oder ‚gemein‘) „schließt […] ständische Assoziationen nicht ganz aus“61 und wurde in der Rezeption ja auch mit der „Koppelung zwischen moralischem Rang und sozialer Stellung“62 als Ständeklausel verbindlich gemacht. Die Ausführungen im 2. Kapitel der Poetik des Aristoteles sind auch insofern mit Blick auf Büchners Poetik aufschlussreich, als sie die moralische Differenz von ‚gut‘ und ‚schlecht‘ unter Hinweis auf die ästhetische Differenz von ‚schön‘ und ‚hässlich‘ herleiten. Ein Künstler habe „schönere Menschen abgebildet“, ein anderer „häßlichere“63 – diese Unterscheidung von ‚schön‘ und ‚hässlich‘ ist in Büchners oben skizzierter Poetik ausdrücklich, zugleich als irrelevant behauptet und damit implizit ein Plädoyer für die Vermischung von Tragik und Komik. Die moralische Komponente in der ursprünglichen Unterscheidung von Tragödie und Komödie bei Aristoteles hat Büchner gleichwohl aufgegriffen und politisch gewendet, indem seine Komödie Leonce und Lena den Müßiggang mitsamt der Langeweile des in Luxus schwelgenden Prinzen komisch problematisiert und seine Tragödie Woyzeck das Gegenteil von Müßiggang und Langeweile, „die materielle Armut Woyzecks, die ihn zum fortgesetzten Arbeiten zwingt“,64 als zerstörerisch und somit tragisch herausstellt. „Alles Arbeit unter der Sonn, sogar Schweiß im Schlaf. Wir arme Leut!“65 Eigenwillig umgesetzt hat Büchner auch Bemerkungen im 9. Kapitel der Poetik des 58 59 60 61 62 63 64 65
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ASMUTH, 1997, S. 27. ARISTOTELES, 1994, S. 7. EBD., S. 9. ASMUTH, 1997, S. 27. RÖSCH, 2007, S. 494. ARISTOTELES, 1994, S. 9. NEUMEYER, 2009, S. 108. BÜCHNER, 2012, S. 259f.
Die revolutionierte Ständeklausel
Aristoteles, das Personal der Komödie sei erfunden, während die Tragödie „Personen“ darstelle, „die wirklich gelebt haben“,66 indem sein Prinz aus dem Königreich Popo und seine Prinzessin aus dem Königreich Pipi im Lustspiel einen eindeutig artifiziellen Charakter haben und sein Tragödienprojekt ja bekanntlich den historischen Fall des Johann Christian Woyzeck aufnimmt, Büchners Woyzeck aber eben gerade keine exponierte Figur ist, keine Herrscherfigur, wie sie die konventionelle Gattungstradition mit der Ständeklausel gefordert hat. Büchners Auseinandersetzung mit der Gattungsgeschichte von Komödie und Tragödie liegt jedenfalls auf der Hand. So wie er in einem Brief im Rekurs auf die epische Kleinform der Anekdote als eine der genres mineurs subversiv Gegengeschichtsschreibung betrieben hat, um Adelswillkür als verbrecherisch bloßzustellen (den Mord des Herzogs von Braunschweig an einem Bühnenarbeiter),67 so hat er mit seinen beiden letzten Dramen Leonce und Lena und Woyzeck die Gattungsgeschichte der dramatischen Großformen Komödie und Tragödie subversiv gewendet, um hier wie dort seine sozialrevolutionäre Haltung literarisch zum Ausdruck zu bringen. Er hat Gegengattungsgeschichte betrieben, indem er die Ständeklausel revolutionierte, ästhetisch und politisch. Die von ihm praktizierte Verkehrung von oben und unten ist per se ein komisches Prinzip, das politisch intendiert in der Umkehr der sozialen Hierarchie des Personals in Tragödie und Komödie einen Umsturz der realen gesellschaftlichen Verhältnisse literarisch antizipiert, wobei ästhetisch Büchners Komödie mit ihren zahlreichen intertextuellen Bezügen und ihrer regelgerechten Struktur betont artifiziell angelegt ist, seine Tragödie mit den authentischen Versatzstücken mündlicher, alltagsweltlicher Kultur dagegen betont realistisch. Seine beiden Dramen sind so als Komödie und Tragödie in Umkehr der Ständeklausel aufeinander bezogen karnevalistisch im Sinne Bachtins eine dramatisch realisierte „umgestülpte Welt“68 in der sozialen Hierarchie des Dramenpersonals, sie haben zusammen die „Struktur der Karnevalsgestalt“, in der antithetische Elemente sich „vereinigen: […] Oben und Unten, […] Tragik und
66 ARISTOTELES, 1994, S. 31. 67 Vgl. MARTIN, 2012b. 68 BACHTIN, 1990, S. 48. Es geht Bachtin um das gesellschaftskritische Potential des literarischen mundus inversus, worauf hier ebenso wenig eingegangen werden kann, wie auf den uralten Topos ‚verkehrte Welt‘ oder auf das Prinzip der Umkehrung im Repertoire der Rhetorik.
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Komik, […] die Gegensätze begegnen sich, blicken sich an, spiegeln einander, kennen und verstehen einander.“69 Ein Beispiel für die miteinander korrespondierenden Gegensätze sei aus den Dramen herausgegriffen. Die dem Prinzen an die Seite gestellte plebejische Figur des Valerio in Leonce und Lena, der gegen Ende des Stücks mit automatenhaft schnarrendem Ton die ganze Szenerie als eine Kunstwelt von Automaten vorstellt, sei nichts „als ein schlechtes Wortspiel“, das „die fünf Vokale […] miteinander erzeugt“70 hätten und ist damit als künstliches Erzeugnis einer Schriftkultur komisch stilisiert, während der plebejische Protagonist des Woyzeck ganz und gar außerhalb von Schriftsprachlichkeit dezidiert tragisch gezeichnet ist. Eine weitere Korrespondenz sowie poetologische Selbstreflexion über Kunst und Künstlichkeit, Realität und Realismus, gibt auch der zentrale Paratext zu Leonce und Lena zu erkennen, im Zusammenhang mit dem Lustspielwettbewerb, für den Büchner seine Komödie schrieb, wohl ursprünglich die zur nachfolgenden Identifizierung des Autors gewählte „Devise“, die „Büchner später zur ‚Vorrede‘ erhob“.71 Die Vorrede von Leonce und Lena, ein Wortspiel mit den beiden italienischen Wörtern ‚fama‘ (= Ruhm) und ‚fame‘ (= Hunger) nach einem von Büchner in der Revue des Deux Mondes aufgefundenen Dialog zwischen dem Tragödiendichter Vittorio Alfieri und dem Komödienautor Carlo Gozzi aus dem 18. Jahrhundert, setzt die karnevalistisch getönte Korrespondenz von Komödie und Tragödie szenisch in ein Bild, das zugleich eine dramentheoretische Miniatur und eine pointierte kleine Gattungsgeschichte darstellt: „Alfieri: ‚e la fama?‘ / Gozzi: ‚e la fame?‘“72 Der Tragödiendichter fragt nach dem Ruhm, einem immateriellen Wert, der Komödiendichter nach dem Hunger, einem materiellen Bedürfnis. Die Vorrede „setzt damit der von Alfieri vertretenen Gattung […] die von Gozzi repräsentierte bodenständigere Gattung der Komödie entgegen, die nach dem Hunger fragt, die sich somit der unabweisbaren materiellen Bedürfnisse der Menschen annimmt.“73 Diese als „Kontrast“74 von Frage und Gegenfrage gestaltete geistreiche Referenz auf die traditionelle Ausrichtung von Tragödie und Komödie in 69 70 71 72 73 74
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EBD., S. 85. BÜCHNER, 2012, S. 200. HAUSCHILD, 1985, S. 345. BÜCHNER, 2012, S. 185. SCHULZ, 2007, S. 71. FORTMANN, 2013, S. 68. Vgl. zu Büchners Kontrastästhetik MARTIN, 2013b, S. 9598.
Die revolutionierte Ständeklausel
einem Wortspiel dokumentiert die forcierte dramentheoretische und dramengeschichtliche Reflexion Büchners, der die zur Debatte stehende Dramentradition als Dramatiker auch in diesem Fall praktisch auf den Kopf gestellt, umgedreht, revolutioniert hat. Ein Preis als Ergebnis des Lustspielwettbewerbs, für den Büchner Leonce und Lena geschrieben hat, hätte für ihn als Verfasser eines Lustspiels Ruhm bedeutet (und er brauchte Geld), während es ihm in seiner Tragödie Woyzeck um den Hunger ging. Es ging ihm um eine adäquate Darstellung der skandalösen sozialen Verhältnisse, die er in Umsetzung seiner poetologischen Programmatik, man „senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder“,75 die er seinem Lenz in den Mund gelegt hat, im Woyzeck realisierte, indem dort die soziale Misere ganz aus der Sicht der armen Leute greifbar ist. Die Tragödie ist Ausdruck seiner sozialrevolutionären, seiner auf das Volk orientierten, seiner entschieden republikanischen Haltung. Büchner war im Sinn des französischen Republikanismus der frühen 1830er Jahre, für den gilt, dass „die Republik nicht nur eine politische Form“ ist, sondern sie „einen sozialen Inhalt und ein gesellschaftliches Programm“ bedeutete, „ein überzeugter Republikaner.“76 Insofern greifen seine politische und seine ästhetische Konsequenz ineinander, was keinen seiner Texte ausnimmt. Seine Tragödie ist zugleich dialektisch auf seine Komödie bezogen, das zeigt die Woyzeck und Leonce und Lena gleichermaßen betreffende Umkehr der Ständeklausel. Büchners Lustspiel ist daher lediglich Mimikry und Mimese einer romantischen Komödie, der seinerzeit aktuellsten Ausprägung der Lustspielgattung, denn das komische Philosophieren des absolutistischen Herrschers über das Königreich Popo gleich bei seinem ersten Auftritt setzt durch ihn selbst literarisch Büchners Wunsch um, „die abgelebte moderne Gesellschaft“ möge „aussterben, das ist das einzig Neue, was sie noch erleben kann.“77 Das Philosophieren König Peters zeigt: „Der Absolutismus hebt sich im Rekurs auf die Kategorien des Absoluten in verschiedenen philosophischen Systemen selbst auf. Er ist somit erledigt.“78 Den Gedanken, die Komödie sei diejenige Form, die überholte Verhältnisse adäquat zu fassen vermag, hat einige Jahre später Karl Marx in seinem Aufsatz Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie
75 76 77 78
BÜCHNER, 2012, S. 164. MORAWE, 2012, S. 40f., 29. BÜCHNER, 2012, S. 365. MARTIN, 2012a, S. 197.
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ebenfalls formuliert, als er schrieb: „Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ist ihre Komödie.“79 Vielleicht ist im Umkehrschluss die erste Phase einer kommenden Gesellschaft ihre Tragödie, hat Büchner doch in demselben Zusammenhang, in dem er das Absterben der modernen spätabsolutistischen Gesellschaft beschwor, deren komischen Abgesang Leonce und Lena bietet, davon gesprochen, man müsse „in socialen Dingen von einem absoluten Rechtsgrundsatz ausgehen, die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen und die abgelebte moderne Gesellschaft zum Teufel gehen lassen.“80 Die Stelle vom ‚neuen geistigen Leben im Volk‘ ist in der Forschung überzeugend auf den Woyzeck bezogen worden, jene Tragödie der armen Leute. „The play is a strenuous attempt at realization of the project of a ‚new cultural life in the Volk‘“,81 hat Michael Perraudin das Dramenfragment interpretiert. Die Stelle zielt auf die im Woyzeck präsente Volkskultur, auf die Kultur der einfachen Leute, die jenseits der Hochkultur poetisch und realistisch zugleich in ihrer eigenen Sprache sprechen. „Wir arme Leut!“82, klagt Woyzeck, „Ach wir armen Leute“83 seine Geliebte, die er umbringen wird, ein sozial deklassiertes Paar aus den ärmsten Verhältnissen, die Büchner in Revolutionierung der Ständeklausel auf der Folie eines königlichen Paares aus einer Tragödie Shakespeares gestaltet hat, Woyzeck und Marie auf der Folie von Othello und Desdemona.84 Woyzeck ist zwar wie Othello eifersüchtig, er wird aber infolge seiner sozialen Verelendung zum Mörder. Das ist tragisch. Komisch sind in Büchners Tragödie dagegen die „Vertreter der Oberschicht“,85 das „Unterdrückergespann“86 Hauptmann und Doktor, die als Capitano und Dottore typenhaft in Anlehnung an die Commedia dell’arte gezeichnet sind.87 Nur sie machen Witze wie die Fuhrleute in Danton’s Tod, Wortwitze, die aber nicht mehr den Hunger oder sonst eine soziale Realität zum Thema haben, sondern bloßer Nonsens einfältiger Hohlköpfe sind. Hält der Doktor dem Hauptmann einen Hut hin und fragt: „Was ist das Herr Hauptmann? Das ist Hohlkopf!“ Kontert der Hauptmann, indem er
79 80 81 82 83 84 85 86 87
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MARX, 1844, S. 75 [Herv. i. O.]. BÜCHNER, 2012, S. 365 [Herv. i. O.]. PERRAUDIN, 1991, S. 643. BÜCHNER, 2012, S. 260. EBD., S. 244. Vgl. EBD., S. 611f., 615, 631f., 645f. JANCKE, 1975, S. 280. KNAPP, 1975, S. 192. Vgl. BORGARDS, 2009, S. 53.
Die revolutionierte Ständeklausel
eine Falte macht: „Was ist das Herr Doctor, das ist Einfalt.“88 Angefügt war in der früheren Fassung etwas überdeterminiert: „Hähähä! Aber nichts für ungut.“89
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Zwischen Gleichnishaftigkeit und Realismus Elemente kafkaesker Komik in Siegfried Lenzʼ Kurzroman Landesbühne CZESŁAW KAROLAK Der im Herbst 2009 erschienene Kurzroman Landesbühne von Siegfried Lenz wurde von der Literaturkritik unter anderem als ein Text charakterisiert, der mit realistischen Mitteln etwas ‚Unerhörtes‘ darzustellen versucht. Der Verweis auf das Potenzial realistischer Ästhetik, das von den Rezensenten hervorgehoben wurde – etwa durch Hinweise auf die Prosa von Gottfried Keller1 – sollte die Angemessenheit dieser Charakterisierung belegen. Das novellistisch konstruierte, auslösende sowie das rahmenartig abschließende Handlungsmoment des Textes bilden zwei kausal zusammenhängende Ereignisse, die mit einem zeitweise erfolgreichen Fluchtversuch einer Gruppe von Gefängnisinsassen aus der niedersächsischen Stadt Isenbüttel und seinem die ursprüngliche Inhaftierungssituation wiederherstellenden Finale verbunden sind. Dabei ist eine mögliche kausalitätsbedingte Mimesis von als ‚real denkbaren‘ Ereignissen und Situationen ein konstitutives Element der Handlungskonstruktion des gesamten Textes. Der durchaus ‚reale‘ Situationszusammenhang, den in der Romanhandlung ein Gastauftritt eines Theaterensembles namens „Landesbühne“ initiiert, wird von einer Gruppe von Insassen genutzt, um während der Vorstellungspause eines Stückes (es hat den, wie sich bald auch zeigt, aufschlussreichen Titel „Das Labyrinth“) mit dem gekaperten Bus der „Landesbühne“ aus dem Gefängnis zu fliehen. 1
http://www.dieterwunderlich.de/Lenz-landesbuehne.htm, 21.07.2014.
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Die Darstellung einzelner Begebenheiten, die die Handlungskonstruktion des Romans beinhaltet, folgt dem Prinzip eines psychologisch artikulierten Realismus, was sich unter anderem dadurch manifestiert, dass kausal nachvollziehbare Zusammenhänge von Handlungen und deren Folgen bzw. den Reaktionen auf sie als denkbar und erfahrbar in einer kongruenten Relation zur Wissensstruktur des Lesers erscheinen können. In diesem Sinne bilden die Wendepunkte der Handlungskonstruktion für den Leser einen kausal bedingten Zusammenhang, der vom auktorialen Erzähler durch zielorientierte Vermittlung der Erzählsituation initiiert wird, wobei die Abfolge der Ereignisse keine zeitliche Verortung aufweist. Der Aspekt des Zeitverlaufs ist im Text ausgeblendet, was auf eine beabsichtigte Modellhaftigkeit bzw. Gleichnishaftigkeit der Realitätsdarstellung schließen lässt, die allerdings auch utopische Züge trägt. Die für den Handlungsablauf entscheidenden Wendepunkte lassen sich auf vier im Text thematisierte Momente zurückführen:
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Psychische Annäherung zwischen zwei mental, charakter- und bildungsmäßig verschiedenen Gefängnisinsassen – dem Erzähler, einem Akademiker und ‚Sturm-und-Drang-Spezialisten‘ und seinem Zellengenossen, einem vor der Inhaftierung als Polizist getarnten „Künstler der Bußgelderhebung“2, dessen ‚Karriere‘ bei der Konfrontation mit einer ‚echten‘ Polizeistreife zu Ende ging; Realisierung eines vom Zellengenossen des Erzählers konzipierten Fluchtplans (in den der Erzähler allerdings nicht eingeweiht wird); ‚Untertauchen‘ der Ausbrecher in der Öffentlichkeit einer benachbarten Kleinstadt und ihr unbehelligtes Mitwirken am ‚kulturellen Leben‘ der Stadt; Rückführung der Ausbrecher ins Gefängnis.
Konzentriert man sich auf die äußere Abfolge einzelner Ereignisse, scheint eine gewisse Verwandtschaft des Lenzʼschen Textes zu einem mit kafkaesken Elementen durchsetzten Schelmenstück naheliegend (um nur ein Bespiel zu nennen: der Leiter der Haftanstalt erscheint unter den Zuschauern einer Theatervorstellung, die von den geflohenen Insassen inszeniert wird). Im Zusammenhang mit der problematischen Glaubwürdigkeit der im Roman thematisierten Ereigniskonstellation stellte Jochen Jung in einer Bespre2
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LENZ, 2009, S. 13. Alle weiteren Zitate werden nach dieser Ausgabe im Folgenden mit der Sigle LB nachgewiesen.
Gleichnishaftigkeit und Realismus in Lenzʼ Landesbühne
chung des Romans die Frage, wie weit man „mit realistischen Mitteln dem Unerhörten auf der Spur bleiben“ kann,3 zumal die Frage der ‚Glaubwürdigkeit‘ in diesem Fall als irrelevant, zugleich aber auch als offen betrachtet werden muss. Das Umschlagen der schelmenstückartigen Atmosphäre der ersten Romankapitel in eine Art Bekenntnis zum Existenzialismus markiert das Spannungsfeld zwischen unterschwellig-humorvollen, utopischen Elementen der Romanhandlung, die Quelle einer bizarren Komik im Text sind, und einem intentionalen Potenzial des Textes, das als gesellschaftskritisch angesehen werden kann. In diesem Spannungsfeld rangieren spielartig Widrigkeiten und Gegensätze des realen Alltags der handelnden Personen zu deren Bestrebungen und Wünschen. Vergleichbar mit der Logik der dramatischen Konflikte, die für die Handlungsstruktur einer Komödie charakteristisch ist und im Gegeneinander von subjektwidriger Realität und dem Geltungsanspruch des Subjekts besteht,4 können in Bezug auf den Roman Elemente des Komischen aufgezeigt werden, denen utopische Denkstrukturen innewohnen und die zugleich als Maßstab für die kritische Wahrnehmung der real bestehenden Verhältnisse angewandt werden. Wenn das Komische, wie Peter L. Berger bemerkt, sich als eine Form des Spielerischen beschreiben lässt5 und das Erlebnis des Komischen in der menschlichen Neigung zum Spiel wurzelt, dann weist die Komik, von der Tom Kindt als einer „Komik des Dargebotenen“ spricht, wie auch die Art ihrer sprachlichen Realisierung und Vermittlung (Kindt: „Komik der Darbietung“6) differente Erscheinungsform auf. Sie sollen im Folgenden näher charakterisiert und exemplifiziert werden. Auf den Lenz-Text angewandt, ist beispielsweise die Gegenüberstellung der realen Situation der Gefängnisinsassen im Zusammenhang mit den von ihnen begangenen Straftaten und dem Strafmaß besonders auffällig, wenn auch diese Angelegenheit im Roman eher marginal thematisiert wird. In diesem Bereich scheint zunächst einmal ein Prinzip zu gelten, nach dem man in der Jakob-Wassermannʼschen Weise „einen Meter Strafe für einen Millimeter Schuld“7 bekommt. Die Komik des Dargebotenen basiert hier einerseits auf einem vermuteten Missverhältnis zwischen der subjektiven Bewertung des Ausmaßes der Schuld und der von einem ‚pluralistischen‘ und zugleich anonymen ‚Sie‘ verhängten Strafe. Dass dieses Missverhältnis kaum 3 4 5 6 7
JUNG, 2009. SPIES, 1997, S. 8. BERGER, 1998, S. 16. KINDT, 2011, S. 146ff. WASSERMANN, 2012 [1928], S. 566.
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‚hinterfragt‘ wird, sondern als ein im erzählten Situationszusammenhang des Textes ‚vorgefundener‘ Zustand (allerdings mit weitreichenden Konsequenzen!) erscheint, weist in die Richtung eines Komiktypus, der von Kindt als „Gegebenheitskomik“ bezeichnet und der Kategorie der Komik des Dargebotenen zugeordnet wird.8 Andererseits wird damit ein Referenzbereich eröffnet, der sich auf die Art und Weise der (sprachlichen) Thematisierung der Strafdelikte bezieht (der Gebrauch von Euphemismen, Mittel der Ironie); diese sind dementsprechend der Komik der Darbietung zuzuordnen (wohlgemerkt, der Anfang des folgenden Zitats könnte von Kafka stammen): „Sie [das Gericht] sind ungerecht“, sagte er [der Zellengenosse des Erzählers]; zu dir und zu den meisten hier […].Glaube mir, ein verständnisvoller Richter hätte fast alle freigesprochen […]. Auch dich, Professor. Da ich schwieg, tischte er mir meine Geschichte auf, erinnerte mich an meinen Haftgrund, kenntnisreich, mitfühlend. Ihm war bekannt, daß ich einmal eine Professur hatte […], und er hatte auch erfahren, daß ich etliche meiner Studentinnen durchs Examen gebracht hatte mit höchstem Lob. Leider war nicht unentdeckt geblieben, daß diese hervorragenden Examenskandidatinnen vorher bei mir genächtigt hatten – eine neidische Kommilitonin hatte das öffentlich gemacht.9
Die Mittel der Komik des Dargebotenen sind hier vor allem mit Hoffnungen und Erwartungen des Erzählers auf ein menschliches Maß bei der Tätigkeit rechtsprechender Instanzen verbunden. Der autoironische Hinweis auf die von ihm angeblich gespielte Rolle des Dorfrichters Adam im Zerbrochenen Krug10 stellt in diesem Zusammenhang ein weiteres derartiges Mittel dar. Ihre Einbettung in Textpassagen, die der Situationskomik zuzuordnen sind, exemplifiziert ebenfalls diese Erscheinungsform: Die Ankunft der als ‚LandesbühnenEnsemble‘ getarnten Ausbrecher aus dem Gefängnis Isenbüttel in der Stadt Grünau wird vom Bürgermeister als ‚großes Ereignis‘ begrüßt; die gestreiften Gefangenen-Uniformen der ‚Schauspieler‘ werden ohne den geringsten Verdacht als ‚normal‘ akzeptiert:
8 KINDT, 2011, S. 153. 9 LB, S. 11f. [Herv. von mir, C. K.]. 10 EBD., S. 23.
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Gleichnishaftigkeit und Realismus in Lenzʼ Landesbühne [Der Bürgermeister] wollte […] wissen, womit wir die Einheimischen erfreuen wollten, unsere Isenbüttler Uniform musternd, sagte er: „Kostümiert für die Bühne sind Sie ja schon“ […].11
Dem Referenzbereich der Komik des Dargebotenen wären auch andere ‚ungewöhnliche‘ Handlungsepisoden zuzuordnen: Der ehrgeizige Bürgermeister von Grünau fasst den Plan, mit Hilfe der angeblichen Mitglieder der ‚Landesbühne‘ einen Chor, ein Heimatmuseum und sogar eine Volkshochschule zu gründen. Die Situationen, die daraus entstehen, werden als völlig „normal“ dargestellt; nicht die geringste Spur des Erstaunens lässt sich bei den beteiligten Romanfiguren beobachten. Auch hier kann auf die Präsenz von zwei voneinander perfekt abgetrennten ‚Daseinssphären‘ wie bei Kafka verwiesen werden, die als Quellen kafkaesker Komik funktionieren.12 Anfängliche Befürchtungen der Ausbrecher, dass durch öffentliches Auftreten für die Gefangenen das Risiko entsteht, gefasst zu werden, werden mit dem Argument ausgeräumt, „das sicherste Versteck ist die Öffentlichkeit“13. Bei der Konstruktion von Situationszusammenhängen, bei denen die Komik des Dargebotenen im Vordergrund steht, scheint das Moment der Irreführung eine wesentliche Rolle zu spielen (dieses Moment war eigentlich auch im Fall des ‚Unbehelligt-Bleibens‘ in der Öffentlichkeit relevant). In diese Richtung weisen auch diejenigen Elemente des Romans, in denen ein eher spielerischer Umgang mit Fakten bzw. die Bereitschaft des Erzählers, es mit der ‚Wahrheit‘ nicht so genau zu nehmen, thematisiert wird: Im vorletzten Kapitel (betitelt „Ratsuche“) bittet der Gefängnisleiter (in einem ‚privaten Gespräch‘) den Erzähler, den er als „Mann des Wortes“14 bezeichnet, seine Memoiren zu schreiben. Ihm wiederum hat es ein Verlagslektor angeboten mit der Begründung, dass sich hierbei eine „Schicksalsfülle […] anböte“, die „viele erzählenswerte Erlebnisse und Erfahrungen“15 beinhaltet. Eventuelle Bedenken des Gefängnisleiters bezüglich der dokumentarischen Genauigkeit und Zuverläs-
11 EBD., S. 33. 12 Michel Dentan weist in einem vergleichbaren Zusammenhang darauf hin, dass Kafkas Figuren „keinerlei Erstaunen gegenüber der Situation [zeigen], die ihnen aufgezwungen wird; sie sind mit dieser Naivität ausgestattet, die dem Humoristen erlaubt, mit dem Gegensatz zwischen zwei Bezugswelten zu spielen“. DENTAN, 2012, S. 192f. 13 LB, S. 45. 14 EBD., S. 111. 15 EBD., S. 112.
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sigkeit der Memoiren werden vom Erzähler mit dem Hinweis relativiert, dass „in fast allen […] Memoiren ein Element der Erfindung nachweisbar sei“ und manchmal „die Wahrheit nur erfunden werden“16 kann. Zu den kafkaesken Reminiszenzen wäre außer dem ‚toleranten‘ und zu privaten Kontakten mit den Gefangenen bereiten Direktor der Haftanstalt auch noch ein Gefangener zu zählen, der im Text als „Maler“17 bezeichnet wird. Seine Bilder, heißt es, hängen in Florenz, in Baden-Baden und sogar in Montevideo; allerdings ist dabei „die halbe Welt […] auf ihn reingefallen“18: „unter allen Fälschern soll er der beste gewesen sein“19. Der „Maler“ porträtiert manchmal den einen oder anderen Gefangenen, der Direktor erlaubt diese Tätigkeit; er sagt beim Betrachten eines Portraits: „Gut, sehr gut, kann man auch für Fahndungszwecke gebrauchen, gegebenenfalls.“20 An der Gestalt des „Malers“ wird im Roman die (hier offenbar utopische) Idee einer (wenn auch selektiv funktionierenden) menschenwürdigen Gestaltung des Strafvollzugs verdeutlicht: Er [Hannes] hatte mit meiner Überraschung gerechnet, als er aus dem Schrank eine halbe Flasche Rotwein hervorholte und sie auf den Tisch setzte. Ehe ich noch eine Frage stellte, sagte er: „Der Maler, Clemens, er kann sich hier viel leisten, dies ist eine Gabe von ihm.“ „Der Maler?“ „Man erlaubt ihm einiges; mitunter, zu bestimmten Anlässen, läßt er sich sogar sein Lieblingsgericht bringen, zu seinem Geburtstag zum Beispiel!“ „Und der Direktor hat es erlaubt?“ „Dieser Chef hat es; es wird erzählt, daß er viel von einem neuen Strafvollzug hält, und daß die Landesbühne nach Isenbüttel kommt, ist allein ihm zu verdanken.“21
Von einem „neuen Strafvollzug “ ist zwar in der zitierten Szene die Rede, aber das ‚Neue‘ ist nur rein äußerer Natur, und bestimmte Formen individueller Freiheit im Bereich des Alltags betreffen nicht alle Insassen. Im Gegensatz zu den eher äußeren und selektiven Formen ‚menschlicher‘ Gestaltung des Strafvollzugs wird die Rolle der zwischenmenschlichen Solidarität hervorgehoben; auch in dieser Sphäre werden Unstimmigkeiten zwischen dem subjektiven 16 17 18 19 20 21
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EBD., S. 113. EBD. EBD., S. 113f. EBD., S. 114. EBD. EBD., S. 74.
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Geltungsanspruch der Erwartungen einzelner Individuen und den ‚Gegebenheiten der Realität‘ deutlich. Neben den Handlungselementen, die das Komische als Gegenstand bzw. als Bestandteil der dargestellten Situationen in den Vordergrund stellen, sind im Text Inkongruenzen als Mittel der Komik nachweisbar, die zunächst sprachlicher Natur sind, verfremdende Effekte – v. a. wenn bekannte, ‚standardmäßige‘ Konstruktionen in einem Spannungsverhältnis zu ihrem Kontext stehen – erzeugen und deshalb in einer anderen Bedeutung erscheinen bzw. eine Umdeutung erforderlich machen. Es handelt sich hierbei um einen Täuschungsmechanismus, der mit der Aktivierung standardmäßiger Wissensschemata bzw. sog. Scripts22 beginnt und, wenn eine Text-Kontext-Inkongruenz festgestellt wird, im Endergebnis eine andere, neue Bedeutungsqualität hervorbringt. Auf einige Beispiele dieser Art kann im Folgenden verwiesen werden: Während einer der Feierlichkeiten anlässlich des sog. „Nelkenfest[es]“23 der Stadt Grünau soll der von den Ausbrechern ad hoc gegründete „Chor“ etwas „Melodiöses“24 vortragen. Gewählt wird ein Song mit dem Titel „Gesang hinter Gittern“25 – was ein besonderes Beispiel für die Text-Kontext Inkongruenz darstellt, die zugleich zur Quelle des Komischen wird: Damit ist zunächst einmal ein Hinweis auf die im evangelischen Kirchenjahr dem 4. Sonntag nach Ostern zugeordnete Kantate nach Psalm 98,1 (Paulus und Silas im Gefängnis – Gesang hinter Gittern) gemeint.26 Aber das Überwinden des Zustands des Gefangen-Seins durch den Glauben, das im Psalmentext eine Schlüsselbedeutung hat, erhält bei Lenz eine eher deklarative, psychologische Dimension, in der lediglich die räumliche Entfernung vom Gefängnis relevant ist („Wir waren fern von Isenbüttel, hatten Isenbüttel überwunden“27). Der von Lenz eher absichtlich ausgeblendete Hinweis auf die Kategorie des (religiösen) Glaubens (der den Gesang und das Gebet im Psalmentext begleitet) ist ein deutliches Indiz dafür, dass auf Grund der Titelformulierung des Gesangs ein religiöser Assoziationsweg zwar als denkbar erscheint, im Romantext jedoch
22 Steffen-Peter Ballstaedt zieht dem Begriff des Schemas den des Scripts vor, weil sich das Schema auf ein „starres Wissen“ bezieht, während das Script an Prozesse und Handlungen mitdenken lässt. BALLSTAEDT, 1988, S. 100f. 23 EBD., S. 32. 24 EBD., S. 33. 25 EBD. 26 Siehe z. B: http://www.evangelische-liturgie.de/EL_Wochen/4.Jahrgang%28IV% 29/06-05-14-Kant%28IV%29.html, 21.07.2014. 27 EBD., S. 31.
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nicht beschritten wird; von einem Täuschungsmechanismus kann hier also durchaus die Rede sein. Noch deutlicher und vor einem existenzialistischen bzw. religionskritischen Hintergrund erscheint diese Text-Kontext-Inkongruenz in Bezug auf eine andere Episode: Der ‚Gefangenenchor‘ entscheidet sich, während eines Festes das Lied Wem Gott will rechte Gunst erweisen vorzutragen. Es heißt in diesem Zusammenhang, dass das Lied in der Interpretation des Chors „nicht hoffnungsvoll oder tröstend, sondern fordernd und erwartungsvoll“28 dargeboten wurde. Es kommt aber noch eine Bedeutungskomponente hinzu, der ebenfalls eine Inkongruenz innewohnt; ihr liegt im Text ein Bild zugrunde: Während der Darbietung des Liedes wurde von den Sängern ein Foto gemacht, das vermutlich an der Textstelle „Gott“ geschossen wurde: „Ihr Chor sang vermutlich gerade Wem Gott will rechte Gunst erweisen, und da sie [die Sänger] bei dem Wort ,Gott‘ das Blitzlicht traf, bildeten ihre Münder ein ebenmäßiges, dunkles Loch.“29 Diese gleichnishafte Konstruktion kann dahingehend gedeutet werden, dass der ‚Rechte-Gunst-Erweisende‘ in seinem Wesen, für das der klangliche, vokalische Mittelpunkt des Namens steht, sich als Substanzlosigkeit erweist, die das „dunkle[-] Loch“ symbolisiert. Es ist der Hiatus zwischen dem, was die Sprache ‚verspricht‘ (d. h. was die gewohnten Denkschemata an Hoffnungen nahezulegen scheinen), und dem, was in der Romanhandlung ein unvermeidbares Ende des ‚Erwartungsvollen‘ im metaphorischen „dunkle[n] Loch“ bedeutet: Die in diesem Fall besonders sichtbare Inkongruenz zwischen (‚standardmäßiger‘) Konstruktion gewohnter Erwartungen und einer Bereitschaft für Erlebnisse der ‚weiten Welt‘ einerseits und der faktischen Lage der Handlungspersonen andererseits ist ein prägnantes Element einer doppelbödigen Darbietungskomik im Text, das hier um eine religionskritische bzw. existenzialistische Perspektive erweitert wird. In diesem Zusammenhang kann auf ein vergleichbares Phänomen verwiesen werden: Es ist die „zentrale Antinomie religiösen Glaubens“30, deren Konsequenz Bernhard Spies – in Bezug auf die religionskritische Lyrik Bertolt Brechts – als Distanzgewinnung zu der grundlegenden christlichen Annahme von der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen deutet.31
28 29 30 31
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EBD., S. 34. EBD., S. 67. SPIES, 2007, S. 146. Vgl. EBD., S. 146-151.
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Ein vergleichbares Beispiel für die im Text präsenten Elemente von Darbietungskomik stellen erneut Konstruktionen von Text-Kontext-Inkongruenzen dar: Zwei Mal „erklingt“ im Roman das Rudi-Schuricke-Lied Auf Wiedersehn, bleib nicht so lange fort (bei Lenz: „nicht zu lange“).32 Im Kontext des Liedes wird die ‚standardmäßige‘ Script-Konstruktion innerhalb des semantischen Feldes von Freundschaft, Liebe und Sehnsucht in ein Script umgedeutet, in dem das ‚Verlangen‘ der Haftanstalt und ihres Direktors (!) nach einem Wiedersehen dem Leser nahegelegt wird, wobei natürlich die Insassen das im Liedtext zwar ausgesparte, aber mit Sicherheit denkbare Objekt des Verlangens sind. Eine andere, psychologisch motivierte Unstimmigkeit bezieht sich auf das im Lenz-Roman einem Schriftsteller namens Henry Watermann zugeschriebene Theaterstück „Das Labyrinth“: Zwei pensionierte Lehrerinnen schicken einen Polizisten (zunächst wohl nur zu Testzwecken) in ein Labyrinth; sie stellen fest, dass der Polizist nicht im Stande ist, sich aus dem Labyrinth zu befreien, deshalb beschließen sie, den Irrgarten Menschen zur Verfügung zu stellen, die in Schwierigkeiten geraten sind und sich auf eine unauffällige Art und Weise von bestimmten Menschen trennen wollen. Vor der Aufführung des Stückes spricht der Gefängnisdirektor (selber ein Theaterliebhaber) einen Kommentar, in dem er den Erzähler (der im Roman – gerade in diesem Kontext – nicht zufällig als Sturm-und-Drang-Spezialist gilt) zitiert: „[A]ls er sagte: ‚Auf der Bühne steht auch deine Sache auf dem Spiel, wird durch Anschauung deutlich gemacht und verhandelt‘, mußte ich daran denken, daß ich selbst diesen Satz geschrieben hatte, in meinem Standardwerk über den Sturm und Drang.“33 Die Text-Kontext-Inkongruenz, die beim Verschwinden des Polizisten im Labyrinth deutlich wird, bezieht sich auf ein ‚befristetes Verschwinden‘ eines Problems: Man kann zwar „auf rätselhafte Weise abhanden kommen“34, aber das „Wieder-Sehen“ bedeutet aus der Sicht der Ausbrecher, dass das Problem, das in ihrer Sprache als „[r]aus aus dem Käfig“35 bezeichnet wird, auch in seiner psychologischen Dimension nicht überwunden worden ist (im Gegenteil: in einem Fall bedeuten Depression und Selbstmord ein ‚Ende‘ des Problems).
32 33 34 35
LB, S. 15 u. 55. EBD., S. 20 [Herv. von mir, C. K.]. EBD., S. 23. EBD., S. 30.
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Die Erscheinungsformen der Komik – der Gegenstand und die Art und Weise seiner Darbietung – werden im Roman in der Inszenierung des Stückes Warten auf Godot präsentiert; die Aufführung wird nach der Rückführung der Ausbrecher nach Isenbüttel dem ‚Gefangenenpublikum‘ präsentiert. Der Gefängnisdirektor kündigt die Vorstellung mit den Worten an: „Ihnen steht ein großer Theaterabend bevor“36; dabei werden Inkongruenzen deutlich, die innerhalb der beiden Erscheinungsformen bestehen und die Deutung des Stückes betreffen, die dem Direktor in ironischer Absicht in den Mund gelegt wird: „‚Was Sie erleben werden, ist ein Stück der Menschenliebe‘, und er [der Direktor] hob hervor, daß es hier um Herzenswärme in den Niederungen des Lebens geht.“37 Bei dem Publikum (repräsentiert durch Hannes, den Zellengenossen des Erzählers) wird die Inkongruenz zwischen der ‚Rezeptionsvorgabe‘ des Direktors und der unmittelbaren (emotional gefärbten) Reaktion auf das Stück deutlich: „Hannes brummte, er schüttelte den Kopf, er bedauerte, daß er nicht auf seiner Pritsche geblieben war. ‚Daß ich nicht lache, Professor‘, flüsterte er, ‚Herzenswärme und dazu noch Menschenliebe‘ […].“38 Die Tragweite dieser Inkongruenz umfasst den für das Publikum erfahrbaren Hiatus zwischen einer subjektiven Wahrhaftigkeit der Emotionen, die den Rezeptionsvorgang des Stückes begleiten, und der mit einem Objektivitätsanspruch gewerteten Wahrhaftigkeit der eigenen realen Erfahrungen, die die Zuschauer an das rezipierte Stück herantragen. Diese Diskrepanz hat dann auch zur Folge, dass im Bereich der subjektiven Wahrhaftigkeit der im Roman thematisierten Rezeptionsphänomene des Beckett-Stücks die Subjekt-Objekt-Rollen für die Zuschauer nicht mehr unterscheidbar werden. An der Reaktion eines Vertreters des Publikums wird dieses Phänomen erkennbar: „‚Du wirst es nicht glauben, Professor, ich dachte, ich spiel da mit, ich fühlte mich mittendrin. Der Mann, der das geschrieben hat, wußte alles über mich, und wußte, was warten heißt, warten ohne Hoffnung.‘“39 Nach dem Motto „die Traurigen müssen zusammenbleiben“40 werden Menschlichkeit und „Herzenswärme“ trotz der Widrigkeiten, die die Erfahrungen der Handlungspersonen unvermeidbar begleiten, zum möglichen Ziel des existenzialistisch geprägten Wartens. Der Abschied von der ‚Landesbühne‘ nach der Godot-Aufführung,41 die Platzierung der 36 37 38 39 40 41
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EBD., S. 93. EBD. EBD. EBD., S. 95f. EBD., S. 97. Vgl. EBD., S. 98ff.
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Bühnenbild-Requisiten in der Gefängniszelle des Erzählers und seines Mitgefangenen und der unerwartete Besuch der Studentinnen (auch der ‚Denunziantin‘) verdeutlichen den Hiatus zwischen der hoffnungslosen, existenzialistisch geprägten ‚Innenwelt‘ des Gegangen-Seins und der Außenwelt, die nur durch verspätete, symbolische Gesten bereit ist, an den Dilemmata der betroffenen Personen teilzuhaben. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Elemente der Komik im Roman von Lenz an ein gesellschaftskritisches Potenzial gekoppelt sind, das vermittels ihrer gegenstands- und darstellungsbezogenen Erscheinungsformen in metaphorisch-gleichnishafter Absicht über den thematisierten Ausschnitt der sozialen Struktur hinaus und in intentionaler Inkongruenz zu den ‚Gegebenheiten der Realität‘ die subjektiven Geltungsansprüche der Individuen offenlegt.
Literatur Primärliteratur LENZ, SIEGFRIED, Landesbühne, Hamburg 2009.
Sekundärliteratur BALLSTAEDT, STEFFEN-PETER, Das Verstehen von Witzen. Wie zündet die Pointe?, in: Wie verstehen wir Fremdes? Aspekte zur Klärung von Verstehensprozessen, hg. von PETRA MATUSCHE, München 1988, S. 96-109. BERGER, PETER L., Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung, aus dem Amerik. von JOACHIM KALKA, Berlin 1998. DENTAN, MICHEL, Der Humor im Werk Franz Kafkas, übers. von HANS H. HIEBEL, Wien, Berlin 2012. JUNG, JOCHEN, Total entspannt. Mit seiner grundsympathischen Novelle Landesbühne hat sich Siegfried Lenz einen Spaß erlaubt, in: Zeit Online http://www.zeit.de/2009/40/L-B-Lenz (Zugriff: 21.07.2014). KINDT, TOM, Literatur und Komik. Zur Theorie literarischer Komik und zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 1), Berlin 2011.
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SPIES, BERNHARD, Die Komödie in der deutschsprachigen Literatur des Exils. Ein Beitrag zur Geschichte und Theorie des komischen Dramas im 20. Jahrhundert, Würzburg 1997. DERS., „Aber wie kann das nicht sein, das so betrügen kann?“ Die Auseinandersetzung des Lyrikers Bertolt Brecht mit Sprache und Denkweise des religiösen Glaubens, in: Religionskritik in Literatur und Philosophie nach der Aufklärung (Massenphänomene 2), hg. von CARSTEN JAKOBI/ BERNHARD SPIES/ANDREA JÄGER, Halle/S. 2007, S. 143-173. WASSERMANN, JAKOB, Der Fall Maurizius [1928], Bremen 2012.
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A UTO RINNEN
UND
A UTO REN
Stefan Born, Zweites Staatsexamen 2013, Promotion 2014 mit einer Arbeit zum Thema Allgemeinliterarische Adoleszenzromane. Untersuchungen zu Herrndorf, Regener, Strunk, Kehlmann und anderen. Seit 2014 Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Fachdidaktik Deutsch an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Literarische Adoleszenzdarstellungen, literarischer Realismus, historisches Erzählen. [email protected] Ulrich Breuer, Promotion 1994 mit einer Arbeit über das Thema Melancholie und Reise. Studien zur Archäologie des Individuellen im deutschen Roman des 16.-18. Jahrhunderts. Habilitation 2000 mit der Arbeit Bekenntnisse. Diskurs – Gattung – Werk. 1996-2000 Gastprofessor für Deutsche Literatur an der Universität Helsinki. 2000-2003 Professor für Deutsche Literatur und Kultur an der Universität Jyväskylä. 2003-2006 Professor für Germanische Philologie an der Universität Helsinki. Seit 2006 Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Herausgeber der Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Mitherausgeber der Historisch-Kritischen Brentano-Ausgabe sowie Mitherausgeber des literaturwissenschaftlichen Jahrbuchs Athenäum. Forschungsschwerpunkte: Klassik, Romantik, Ästhetische Theorien, Melancholieforschung, Autobiographisches Schreiben. [email protected] Wolfgang Düsing, Promotion 1967, Universität Köln; Habilitation 1975, Universität Mainz. Prof. für Neuere deutsche Literatur an den Universitäten Heidelberg (Vertretung), Trier und Mainz (1975-2004). Mehrfach Gastpro481
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fessor in den USA. Veröffentlichungen: Schillers Idee des Erhabenen, 1967 (Diss.); Schillers Briefe „Über die ästhetische Erziehung“,1981; Erinnerung und Identität. Zu einem Erzählproblem bei Musil, Döblin und Doderer, 1982 (Habil.-schrift); Experimente mit dem Kriminalroman (Hg.), 1993; Traditionen der Lyrik. Festschrift für H.-H. Krummacher (Hg.) 1997; Aspekte des Geschichtsdramas. Von Aischylos bis Volker Braun (Hg.) 1998; Tendenzen im Geschichtsdrama und Geschichtsroman des 20. Jahrhunderts (Mhg.) 2004. Aufsätze in letzter Zeit vor allem zu den Themen Klassik, Klassik-Rezeption und zur österreichischen Literatur. [email protected] Philipp Giller, Studium der Politikwissenschaft und der Germanistik, Magisterabschluss 2010 mit einer Arbeit über den Zusammenhang von Erzählen und Erkenntnis im Parzival Wolframs von Eschenbach. Seitdem wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung für Ältere Deutsche Literaturwissenschaft am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Poetik volkssprachlicher Epik des Mittelalters, Sprachdenken in volkssprachlichen Texten des Mittelalters. [email protected] Rainer Goldt, Promotion 1994, Habilitation 2005. Seit 1986 Tätigkeit am Institut für Slavistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, derzeit als apl. Professor für Slavische Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Russistik. Monographien zu Velimir Chlebnikov und Evgenij Zamjatin, Aufsätze zur russischen Literatur und Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts, zur Übersetzungstheorie sowie zu deutsch-russischen Kulturbeziehungen. Seit 2004 Koordinator der Internationalen Forschungsgruppe zur russischen Philosophie, seit 2005 zusammen mit Frank Göbler Herausgeber der Reihe „Arbeiten und Texte zur Slavistik“, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft. [email protected] Serena Grazzini, Promotion 1998 in Halle an der Saale und 2004 in Pisa. Buchveröffentlichungen: Der strukturalistische Zirkel. Theorien über Mythos und Märchen bei Propp, Lévi-Strauss, Meletinskij (1999), Il progetto culturale Heimatkunst. Programma, movimento, produzione letteraria (2010). Derzeit ‚ricercatrice universitaria‘ für Deutsche Literatur am Dipartimento di Filologia,
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Autorinnen und Autoren
Letteratura e Linguistica der Universität Pisa. Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie (Strukturalismus, Kulturwissenschaften, Komiktheorie), konservative Literatur der Jahrhundertwende (Heimatkunstliteratur), literarische Komik (u. a. Büchner, literarisches Kabarett, Kafka, Canetti). [email protected] Dagmar von Hoff, Promotion 1988 an der Universität Hamburg mit einer Arbeit über das Thema Dramen des Weiblichen. Deutsche Dramatikerinnen um 1800, 1989. Habilitation an der Humboldt-Universität zu Berlin 2002 mit einer Monographie über Familiengeheimnisse. Inzest in Literatur und Film der Gegenwart, 2003. Seit 2005 Universitätsprofessorin für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit dem Schwerpunkt Germanistische Medienwissenschaft und Ästhetik der textorientierten Medien. Herausgeberin der Schriftenreihe LiteraturFilm – Beiträge zur Medienästhetik im Peter Lang Verlag. www.von-hoff.germanistik.uni-mainz.de [email protected] Maren Jäger, Promotion 2006 mit einer Arbeit über Die Joyce-Rezeption in der deutschsprachigen Erzählliteratur nach 1945. Von 2002-2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin für Literatur des 18.-21. Jahrhunderts und Medienkulturwissenschaft am Institut für Germanistik der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: brevitas und kurze Formen, Rhetorik und Poetik, Avantgarde und ‚klassische Moderne‘, Lyriktheorie, Lyrik des 21. Jahrhunderts. [email protected] Carsten Jakobi, Promotion 2003 mit einer Arbeit über das Thema Der kleine Sieg über den Antisemitismus. Darstellung und Deutung der nationalsozialistischen Judenverfolgung im deutschsprachigen Zeitstück des Exils 1933-1945. Seit 1998 Tätigkeit am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, derzeit als Akademischer Oberrat für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. Mitherausgeber der literaturwissenschaftlichen Zeitschrift literatur für leser. Forschungsschwerpunkte: Exilliteratur, Literatur der Aufklärung,
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Witz und Wirklichkeit
Formen und Theorien literarischer Komik, Interdependenzen des literarischen und wissenschaftlichen Diskurses. [email protected] Czesław Karolak, Promotion 1977 mit einer Arbeit zum Thema Das metaliterarische Selbstverständnis westdeutscher Autoren; Habilitationsarbeit (1986) Poetik des Vorurteils. Untersuchungen zum Fremdstereotyp im westdeutschen Roman der fünfziger Jahre. Seit 2000 Professor am Institut Germanische Philologie (Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Literatur) der Universität Poznań. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Gegenwartsliteratur, Literatur und neue Medien, Literaturdidaktik aus interkultureller Perspektive; Herausgeber der Editionsreihe Posener Beiträge zur Germanistik und des Jahrbuchs Studia Germanica Posnaniensia. [email protected] Caroline Mannweiler, Promotion 2011 mit einer Arbeit zum Thema L’éthique beckettienne et sa réalisation dans la forme. Seit 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Beckett, Diderot, Literatur und Ethik, Kanonforschung. [email protected] Ariane Martin, Professorin für Neuere deutsche Literaturgeschichte am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (www.martin. germanistik.uni-mainz.de). [email protected] Beatrix Müller-Kampel, Promotion 1985 über Theater und Schauspiel in der Erzählprosa Theodor Fontanes, 1993 Habilitation über Don Juan in der deutschen Literatur bis 1918. Lehrt und forscht am Institut für Germanistik der Universität Graz, Arbeitsbereich Neuere deutschsprachige Literatur. Begründerin und Mitherausgeberin von LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie (seit 2008): http://lithes.uni-graz.at/lithes.html Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Theatersoziologie, Geschichte des Theaters und hier insbesondere des Puppentheaters, des Komischen und der Komödie vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. [email protected]
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Autorinnen und Autoren
Günter Oesterle, Promotion 1972 mit einer Arbeit zur Prosa Heinrich Heines. Seit 1974 Professor für neuere deutsche Literatur an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Nach der Emeritierung 2006 Senior Fellow am FRIAS in Freiburg, am Kulturwissenschaftlichen Schwerpunkt in Mainz, am IFK in Wien sowie Gastprofessuren an der Columbia University in New York und an der Weihang Universität in Peking. Forschungsschwerpunkte zu ‚Die nicht mehr schönen Künste‘ (Arabeske, Groteske, Karikatur, Capriccio, Komisches, Häßliches), zur Intermedialität, zur Gedächtnistheorie und Erinnerungskultur sowie Arbeiten im Bereich des Klassizismus, der Romantik und des Vormärz. [email protected] -atalia Shchyhlevska, Promotion 2003 in Mainz über deutschsprachige Literatur aus der Bukowina. 2006-2007 Stipendiatin des Leo Baeck Fellowship Programms der Studienstiftung des deutschen Volkes, Postdoc-Projekt zu Alfred Gong. 2011 Preis der JGU Mainz für begabte Nachwuchswissenschaftlerinnen. 2012-2013 Alfried Krupp Junior Fellow am Wissenschaftskolleg Greifswald. Seit Oktober 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: europäisch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte, Exil- und Emigrantenliteratur, Inter- und Transkulturalität, Kulturtransfer und Kulturtheorie. [email protected] Andreas Solbach, Promotion 1990 mit einer Arbeit über das Thema Gesellschaftsethik und Romantheorie. Studien zu Grimmelshausen, Weise und Beer. Habilitation an der Freien Universität Berlin 1994 mit einer Monographie über Johann Beer. Rhetorisches Erzählen zwischen Satire und Utopie. Professuren in Dortmund und Toronto, seit 2000 im Bereich Neuere Deutsche Literatur an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Weitere Monographien zur Narratologie (1994) und zu Hermann Hesse (2012). Forschungsschwerpunkte: Literatur der Frühen Neuzeit, transgenerische Narratologie, österreichische Literatur und Literatur der Nachkriegszeit. [email protected] Uta Störmer-Caysa, Promotion 1985 mit der Edition eines spätmittelalterlichen Fürstenspiegels, Habilitation 1996, Druckfassung 1998 als Gewissen und Buch. Über den Weg eines Begriffes in die deutsche Literatur des Mittelalters.
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Witz und Wirklichkeit
Publikationen über Mystik, Romane, Heldenepen. Seit 2002 Professorin für deutsche Literatur älterer Epochen am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität. Auf dem Weg zu einem Frühmittelalterschwerpunkt. [email protected] Judith Wagner, Magistra Artium 2013 mit einer Arbeit mit dem Titel „Das ganze Geld mit Quatsch verdient“? Helge Schneiders Kriminalromane und ihre Verortung in der Gegenwartsliteratur. Seit 2013 Promovendin am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. [email protected] Christine Waldschmidt, Promotion 2010 mit einer Arbeit zum Thema ,Dunkles zu sagen‘: Deutschsprachige hermetische Lyrik im 20. Jahrhundert. Seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Lyrik des 20. Jahrhunderts, Sprachkritik, Erzählen in theoretischen Kontexten. [email protected] Yvonne Wolf, Promotion 2002 mit einer Dissertation zum Thema Frank Thiess und der Hationalsozialismus. Ein konservativer Revolutionär als Dissident. Seit 2000 Tätigkeit am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Bereich Neuere Deutsche Literatur, seit 2012 Akademische Oberrätin. Forschungsschwerpunkte: Literatur des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts, österreichische Literatur, Narratologie. [email protected]
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Mainzer Historische Kulturwissenschaften Verónica Ada Abrego Erinnerung und Intersektionalität Frauen als Opfer der argentinischen Staatsrepression (1975-1983) Oktober 2015, ca. 500 Seiten, kart., ca. 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3087-9
Alina Bothe, Dominik Schuh (Hg.) Geschlecht in der Geschichte Integriert oder separiert? Gender als historische Forschungskategorie 2014, 268 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2567-7
Jutta Ernst, Florian Freitag (Hg.) Transkulturelle Dynamiken Aktanten – Prozesse – Theorien 2014, 376 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2563-9
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Mainzer Historische Kulturwissenschaften Ute Frietsch, Jörg Rogge (Hg.) Über die Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens Ein Handwörterbuch 2013, 520 Seiten, Hardcover, 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2248-5
Karen Joisten (Hg.) Räume des Wissens Grundpositionen in der Geschichte der Philosophie 2010, 236 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1442-8
Jan Kusber, Mechthild Dreyer, Jörg Rogge, Andreas Hütig (Hg.) Historische Kulturwissenschaften Positionen, Praktiken und Perspektiven 2010, 386 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1441-1
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