EXPOSITUM: Zum Verhältnis von Ausstellung und Wirklichkeit [1. Aufl.] 9783839401743

Ausstellungen kultur- und naturwissenschaftlicher Thematik gehören heute zu den wichtigsten Äußerungen kulturellen Leben

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German Pages 220 [219] Year 2015

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Inhalt
Vorwort
I. Einleitung
II. Vom Zeug zum Alten Objekt
II.1 Zeug
II.2 Der Gegenstand
II.3 Das Alte Objekt
II.4 Die dunkle Vergangenheit des Alten Objektes
III. Zeigen und Sammeln
III.1 Zeigen
III.2 Sammeln
IV. Fundamentalkategorien des Exponates: Echtheit und Interaktivität
IV.1 Echtheit
IV.2 Interaktivität
V. Ausstellen
V.1 Die Ausstellung als Medienverbund
V.2 Das Ausgestellte in seinem Zusammenhang
V.3 Die Bedeutung des Exponates
V.4 Typologie des Ausstellens
VI. Sammeln und Ausstellen in historischer Perspektive
VI.1 Die Anfänge
VI.2 Die Geburt des Museums
VI.3 Musealisierung in der Moderne
VII. Schlussreflexionen
EXPOSITUM – bebilderter Anhang
Literatur
Bildnachweise 217
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EXPOSITUM: Zum Verhältnis von Ausstellung und Wirklichkeit [1. Aufl.]
 9783839401743

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Alexander Klein EXPOSITUM Zum Verhältnis von Ausstellung und Wirklichkeit

2004-02-10 16-42-06 --- Projekt: T174.kum.klein.expositum / Dokument: FAX ID 016744562496596|(S.

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) T00_01 schmutztitel.p 44562496716

Alexander Klein (Dr. phil.) ist Sozialhistoriker und arbeitet als wissenschaftlicher Autor und Ausstellungsmacher in Dresden.

2004-02-10 16-42-07 --- Projekt: T174.kum.klein.expositum / Dokument: FAX ID 016744562496596|(S.

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Alexander Klein

EXPOSITUM Zum Verhältnis von Ausstellung und Wirklichkeit

2004-02-10 16-42-09 --- Projekt: T174.kum.klein.expositum / Dokument: FAX ID 016744562496596|(S.

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) T00_03 innentitel.p 44562496852

This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2004 transcript Verlag, Bielefeld Umschlag und Layout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: more! than words, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-174-4

2004-02-10 16-42-09 --- Projekt: T174.kum.klein.expositum / Dokument: FAX ID 016744562496596|(S.

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) T00_04 impressum.p 44562496916

Inhalt Vorwort

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I.

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Einleitung

II. Vom Zeug zum Alten Objekt II.1 II.2 II.3 II.4

21 22 24 33 43

Zeug Der Gegenstand Das Alte Objekt Die dunkle Vergangenheit des Alten Objektes

III. Zeigen und Sammeln

51 52 62

III.1 Zeigen III.2 Sammeln IV. Fundamentalkategorien des Exponates: Echtheit und Interaktivität

75 76 88

IV.1 Echtheit IV.2 Interaktivität V. Ausstellen V.1 V.2 V.3 V.4

95 97 102 108 120

Die Ausstellung als Medienverbund Das Ausgestellte in seinem Zusammenhang Die Bedeutung des Exponates Typologie des Ausstellens

VI. Sammeln und Ausstellen in historischer Perspektive

125 126 130 140

VI.1 Die Anfänge VI.2 Die Geburt des Museums VI.3 Musealisierung in der Moderne VII. Schlussreflexionen

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EXPOSITUM – bebilderter Anhang

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Literatur Bildnachweise

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2004-02-10 16-42-09 --- Projekt: T174.kum.klein.expositum / Dokument: FAX ID 016744562496596|(S.

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) T174.kum.klein.expositum.inhalt.kurz.p 44562496964

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➔Vorwort



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Vorwort

Viele Menschen haben zum Zustandekommen dieses Buches beigetragen. Ihnen allen danke ich herzlich. Doch ist es mir ein Bedürfnis, einige Personen besonders zu erwähnen. An erster Stelle danke ich meinem Freund und Lehrer Professor Dr. Friedrich A. Uehlein, Freiburg, der mich ermutigt und auf neue Gedanken gebracht, dessen Kritik – für die er sich viel Zeit nahm! – mich aber auch vor Irrwegen und Verstiegenheiten bewahrt hat. Mein besonderer Dank bezieht sich auch auf Herrn Dr. Martin Schärer, Direktor des Alimentariums in Vevey/Schweiz, für den anregenden Gedankenaustausch im Vorfeld dieser Publikation. Auch Frau Verena Zühlke und Frau Ute Krepper, Mitarbeiterinnen der Mediathek des Deutschen Hygiene-Museums, möchte ich danken. Sie haben mehr für dieses Buch getan, als ihnen vermutlich bewusst war. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des transcript Verlages danke ich für die professionelle und angenehme Zusammenarbeit. Besonders groß aber ist die Dankesschuld gegenüber meiner Familie für ihre kein Ende nehmende Geduld.

Alexander Klein

Dresden, im Oktober 2003

2004-02-10 16-42-10 --- Projekt: T174.kum.klein.expositum / Dokument: FAX ID 016744562496596|(S.

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) T01_01 klein.vorwort.conv.imp.p 44562497052

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) vakat008.p 44562497164

➔ Einleitung



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I. Einleitung

Ausstellung und Museum Was ist nicht alles schon ausgestellt worden: Bergkristalle, Saurierskelette, ausgestopfte Tiger, Hörrohre ertaubter Komponisten, Kapitulationsurkunden, antike Gemmen und rheinische Bierhumpen, polynesische Ruderboote, Kavalleriesäbel, Mondgestein, Stillleben, Fettecken, Kronjuwelen, Schrauben, Taschenuhren und Postkarten von Frontsoldaten. In Ausstellungen britischer Provinzialmuseen, die »The People’s Show« heißen, können Privatleute ihre ganz persönlichen Sammlungen zeigen: Kuscheltiere, Badeanzüge und vieles andere.1 Die Wohnung des eigenen Großvaters war schon Thema einer Ausstellung,2 ebenso wie die Kulturtechnik des Ausstellens selbst.3 Sogar das, was einmal im konkret physischen Sinne menschlich war – man denke an ägyptische oder peruanische Mumien, an Moorleichen, an Ötzi und die plastinierten Leichen des Gunther von Hagens – ist schon Gegenstand einer musealen Präsentation gewesen. Weder Sakrales noch Alltägliches, weder allgemein Interessierendes noch Esoterisches, weder Kunst noch Wissenschaft noch Natur sind heute sicher davor, ausgestellt zu werden. Alles, was angefasst werden kann, so könnte man folgern, ist ausstellbar und wird früher oder später auch ausgestellt. Die Summe all dessen, was ausgestellt wird, scheint geradezu ein Abbild des Universums zu sein, ein zerstreuter Katalog des Weltausschnittes, der in der Reichweite menschlichen Erkenntnisund Handlungsvermögens liegt. Informationswissenschaftlich gesprochen, ist Ausstellen eine Form der

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Ein Überblick der Vielfalt des Museums- und Ausstellungswesens findet sich bei Sharon Macdonald: Theorizing museums: an introduction. In: Dies. und Gordon Fyfe: Theorizing Museums. Representing identity and diversity in a changing world. Oxford und Cambridge 1996, S. 1-18.

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1971 konzipierte Harald Szeemann eine Ausstellung über seinen Großvater. Ders.: Großvater – Ein Pionier wie wir. In: Harald Szeemann: Museum der Obsessionen. Berlin 1981, S. 93 ff.

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Das Museum of Jurassic Technology in Los Angeles ist ein nur im Internet existentes Museum mit fiktiven Inhalten und Exponaten, das einerseits den Charakter einer Kunstinstallation hat, andererseits den modernen Museums- und Ausstellungsbetrieb persifliert. Dazu Stefan Römer: Künstlerische Strategien des Fake. Kritik von Original und Fälschung. Köln 2001, S. 251 ff.

2004-03-16 15-38-39 --- Projekt: T174.kum.klein.expositum / Dokument: FAX ID 01d947582251912|(S.

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Kommunikation. Das heißt, Ausstellen setzt eine sendende Instanz – die ausstellende Institution oder Person –, eine zu sendende Botschaft, die in der Ausstellung selbst kodiert ist, und eine empfangende Instanz, den Besucher voraus. Die Kommunikationsform Ausstellen ist sehr viel älter als die uns geläufige Institution Museum. Und heute zählen zu den ausstellenden Institutionen nicht nur Museen, sondern auch Messen, Hallen, Jahrmärkte, Festspielorganisationen und Bibliotheken, so dass jede Rede von einem Ausstellungsmonopol der Museen unhaltbar wäre. Unternehmensfilialen und Kaufhäuser nutzen ihre Schaufenster und Foyers als Ausstellungsfläche. Kneipen und Cafés, aber auch Flughäfen präsentieren unter Erco-Lichtstrahlern stolz ihre Sammlungsstücke. Ganze Kraftwerke und Fabriken werden, ihrer ursprünglichen Funktion entkleidet, als Ausstellungsstücke präsentiert und werden zu ihrem eigenen Museum. Zum Exponat geworden, fand die Völklinger Hütte Aufnahme in die Unesco-Liste des Weltkulturerbes. Auch die Presseoffiziere Krieg führender Länder präsentieren ausländischen Journalisten gerne Ausstellungen. Die dort zu sehenden Beutewaffen und Trümmer, die von Fernsehreportern so gerne als Hintergrundskulisse benutzt werden, sollen den Ruhm der eigenen, und die Verwerflichkeit der feindlichen Truppen sowohl belegen als auch symbolisieren. Unabhängig von dieser neuen Allgegenwart von Ausgestelltem ist die Beziehung der Institution Museum zum Medium Ausstellung immer besonders eng gewesen und ist dies auch heute noch. In der Regel zeigt ein Museum Ausstellungen und definiert sich über das Ausstellen von Gegenständen. Würde es dies nicht tun, so wäre es kein Museum. Die Ausstellung ist, so stellte schon Werner Sombart fest, »die Mutter, oder wenn man will, die Schwester des Museums«.4 Doch es gibt noch einen zweiten Wesenszug des Museums: Es sammelt. Innerhalb eines Museums gibt es Wechselwirkungen zwischen dem Sammlungs- und dem Ausstellungswesen. Ein Museum stellt Gesammeltes aus, integriert andererseits aber auch Ausgestelltes in seine Sammlung. Im Sammeln und Ausstellen manifestiert sich das Verhältnis des Museums zur Wirklichkeit. Die folgende Abhandlung versucht, Licht auf die Bedeutung des Sammelns und des Ausstellens für das zeitgenössische Museum zu werfen. Dabei will sie sich einer Antwort auf die Frage nähern, wie das Medium Ausstellung Wirklichkeit zeigt – voraussetzend, dass sich das Darstellen von

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Werner Sombart: Die Ausstellung. In: Morgen. Wochenschrift für deutsche Kultur. 28. Februar 1908, S. 250.

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➔ Einleitung

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Wirklichkeit, das Ausstellungen charakterisiert, nicht im Konstruieren fiktiver Gebilde erschöpft, sondern Realität erkennbar machen kann.5 Wirklichkeit und Realität »Wirklichkeit« wird im Folgenden nicht als Gegenbegriff zu »Ausstellung« verwendet, sondern als Inbegriff der phänomenalen Welt. Wirklichkeit in diesem Sinne ist eine Funktion der transphänomenalen, das heißt unabhängig vom erfahrenden Subjekt bestehenden Realität.6 Die weiteren Überlegungen dieser Arbeit beruhen auf der Annahme, dass der Wirklichkeit stets eine materielle und subjektunabhängige Fundierungsschicht als Realität zugrunde liegt. Damit Wirklichkeit entstehen kann, muss zu dieser Fundierungsschicht auch deren Erfahrung durch das Subjekt treten. Diese Erfahrung ist stets in kulturell überlieferte Sehgewohnheiten, Denkmuster und Traditionen eingebettet und wird durch diese bestimmt. Mit anderen Worten: Die Realität kann nicht anders als in subjektiver und kultureller Brechung erfahren werden. Erst durch diese Brechung wird das Reale zum Wirklichen. Wirklich im hier verwendeten Sinne ist nicht nur das angetroffene Dinghafte, sondern auch die Welt der Vorstellungen, Wollungen und Urteile. Diese Welt umfasst auch die Bereiche des Fiktionalen und des Illusionären, die zwar gemeinhin dem »Irrealen« zugerechnet werden, aber gleichfalls auf einer realen Fundierungsschicht, nämlich einer neurologisch-energetischen, beruhen. Die Untersuchung des Verhältnisses von Ausstellung und Wirklichkeit wird nicht zuletzt von der Frage bestimmt sein, inwieweit die moderne Zeichentheorie in der Lage ist, die verschiedenen Relationen zwischen Exponat, Sammlungsgut und Wirklichkeit auszuleuchten. Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung ist der Wirklichkeitsbezug, der sich aus dem alltäglichen Umgang mit dem konkreten, materiellen Sein ergibt, denn dieser Umgang ist die Basis auch für Museumshandeln. Es soll versucht werden, die musealen Fundamentalakte des Sammelns und des Ausstellens aus elementaren Wurzeln menschlichen Handelns abzuleiten.

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Dies gegen Ludmilla Jordanova, die der Auffassung ist, Museen könnten nur Fiktionen erschaffen. Dies.: Objects of Knowledge: A Historical perspective on Museums. In: Vergo, New Museology (1989), S. 22-40.

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Vgl. Peter Kruse und Michael Stadler: Wirklichkeit. In: Jörg Sandkühler, Arnim Regenbogen u.a.: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Hamburg 1990, S. 892-903.

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Dabei wird die Frage nach der Bedeutung der Gegenstände vorrangig gegenüber der Frage nach den Interessen und Perspektiven der Besucher behandelt werden. Dieses Zurückgreifen auf Elementares soll wiederum helfen, die unterschiedlichen Formen des Exponates zu verstehen, die in den verschiedenen Zweigen des Museums- und Ausstellungswesens verwendet werden. Dadurch soll ein Beitrag für eine gemeinsame museologische Basis von historischen und naturwissenschaftlichen Ausstellungen geleistet werden – von zwei Bereichen des Museumswesens, die heute eher nebeneinander als miteinander existieren. Eine solche Basis erscheint heute umso eher notwendig, als die Existenzberechtigung der Institution Museum in jüngster Zeit des öfteren in Frage gestellt worden ist, so dass eine Identifikation und Rechtfertigung des museumsspezifischen Tuns angemessen erscheint.7 Das wissenschaftliche Museum als Fokus Übersichtlichkeit setzt Vereinfachungen voraus. Vereinfachend gesagt, lässt sich die Museumslandschaft in die Gebiete der Kunstmuseen, der naturwissenschaftlich-technischen und der – im weitesten Sinne – historischen Museen unterteilen. Im Folgenden werden die oben skizzierten Fragen vor allem mit Blick auf naturwissenschaftlich-technische und historische Museen, kurzum, auf die Institution »wissenschaftliches Museum« und das entsprechende Medium »wissenschaftliche Ausstellung« gestellt – in Abgrenzung von ästhetisch-künstlerischen und kommerziellen Museen beziehungsweise Ausstellungen. Die Gruppen der historischen und der naturwissenschaftlichtechnischen Museen stellen den weitaus größten Anteil der rund 6000 Muse-

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Vgl. Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin 1978; ferner Henri Pierre Jeudy: Die Welt als Museum. Berlin 1987. Die Kritik an der Institution Museum ist mitunter in eine Pauschalkritik am Historismus eingebettet. Vgl. Eckhard Siepmann: Räume gegen die Beschleunigung. Zu einer Poetik des Museums (1995). http:// www.werkbundarchiv-berlin.de/poetik1.html. Ebd.: »Wenn das Wort museal bis heute ein Synonym für friedhofsmäßig geblieben ist, dann steckt darin eine tiefe Wahrheit. Die historistische Darstellung kastriert und mumifiziert die Vergangenheit. Das subversive Element von Kultur, ihr eigentliches Elixier, wird schockgefroren und kehrt, bis zur Unkenntlichkeit verändert, als Glanz des aufgebahrten Kulturfetischs zurück.«

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➔ Einleitung

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en in Deutschland.8 Die Art und Weise des wissenschaftlichen Museums, Wirklichkeit durch Präsentation von Exponaten und Einsatz von Medien darzustellen, ist heute richtungweisend für das Ausstellungswesen insgesamt. Was das Exponat des Kunstmuseums betrifft, das lange Zeit das Leitmuseum war, so hat es eine völlig andere Funktion und Bedeutung. Zur Wirklichkeit steht es in einem grundsätzlich anderen Verhältnis und wird daher nicht im Zentrum dieser Untersuchung stehen.9 Verstaubtes Museum? In den zurückliegenden Jahren haben die deutschen Museen Außergewöhnliches geleistet. Besonders im Bereich der großen Themenausstellungen wurden Maßstäbe an Qualität und Publikumsresonanz gesetzt. Allerdings ist zu Fragen, ob diese Erfolge am Image der Institution Museum viel geändert haben. Zwar gibt es keine neuere demoskopische Untersuchung zur Frage, welchen Ruf das Museum in der deutschen Bevölkerung hat. Es ist jedoch zu vermuten, dass es von großen Teilen der Bevölkerung nach wie vor als eine veraltete, ja verstaubte Einrichtung angesehen wird, die Vergangenes nostalgisch verklärt. Darauf weist schon die Häufigkeit alltagssprachlicher Redewendungen wie »Wir sind doch kein Museum!« oder »Er hat aus seinem Wohnzimmer ein Museum gemacht« hin. Solche Äußerungen sind keineswegs der Reflex eines geringen öffentlichen Interesses. Einen solchen Rückgang gibt es nicht, im Gegenteil: In den letzten beiden Jahrzehnten ist es in Deutschland, Europa und in der ganzen Welt zu Museumsgründungen in so großer Zahl gekommen, dass es nicht übertrieben ist, von einem globalen Museumsboom zu sprechen. Nach wie

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Man kommt auf eine Prozentzahl von weit über 80 %, wenn man den Anteil folgender Gattungen zusammen zählt: Volkskunde- und Heimatmuseen, naturkundliche Museen, naturwissenschaftliche und technische Museen, historische und archäologischen Museen, kulturgeschichtliche Spezialmuseen. Der – nicht eindeutig charakterisierbare – Rest besteht aus Kunstmuseen, Schloss- und Burgmuseen, Sammelmuseen mit komplexen Beständen und Museumskomplexen. Eine entsprechende Aufstellung in: Materialien aus dem Institut für Museumskunde. Statistische Gesamterhebung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2000. Heft 54. Berlin 2001, S. 16.

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Dazu die Ausführungen von Boris Groys: Logik der Sammlung. Am Ende des musealen Zeitalters. Wien 1997, S. 8 f.

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vor vermögen Museen überregionales Aufsehen zu erregen, was nicht zuletzt ihre Präsenz in den Feuilletons der einschlägigen Zeitungen belegt. Im Hinblick auf die deutschen Verhältnisse steigen auch die Besucherzahlen wieder an, nachdem in den 1990er Jahren eine gewisse Stagnation festgestellt worden war. Für das Jahr 2000 sind in ganz Deutschland 99.560.001 Museumsbesuche belegbar, das sind 3,5 % mehr als im Jahr zuvor.10 Im Jahr 2001 kam es zu einem weiteren Anstieg um 3,4 % auf knapp 103 Millionen Besuche.11 Gleichwohl schleppt das Museum noch den Ruf einer Einrichtung mit sich, die nicht nur Vergangenes aufbewahrt, sondern auch Vergangenheit verkörpert und dadurch selbst zu etwas geworden ist, für dessen Aufhebung sie eigentlich gedacht war: nämlich zu einer Art Museumsexponat, in der das Ausstellen, ohne dass dies von den Verantwortlichen beabsichtigt worden wäre, selbstreferenziell geworden ist. Denn nicht wenige Museen zeigen nicht mehr das, was sie eigentlich zeigen sollen, sondern ihre besondere, inzwischen antiquierte Art des Zeigens. Die Vergangenheit, der das Museum verpflichtet zu sein scheint, das ist nach trivialem Verständnis das Überholte und nicht mehr Zeitgemäße, vielleicht sogar das ewig Gestrige. Als innovativ im Freizeit- und Mediensektor gelten die Hypermedien, die Vergnügungs- und Themenparks und allenfalls noch die neue Gattung der Science Centres – deren Zugehörigkeit zur Gattung der Museen allerdings nicht eindeutig ist –, nicht aber die herkömmlichen Museen, die sich über das Sammeln und Ausstellen dreidimensionaler Exponate definieren. Außerhalb der Museumsszene verweist man nur vereinzelt auf die Unverwechselbarkeit des Museumserlebnisses sowie auf das Potenzial des Museums, für gesellschaftliche Prozesse zu sensibilisieren und diese mitzugestalten.12 Innerhalb der Museumsszene gehören Beteuerungen, dass auch die Institution Museum eine Zukunft habe und durchaus über das Potenzial verfüge, sich unter den modernen Medien zu behaupten, zu den beliebtesten Versatzstücken musealer Direktorenrhetorik. Indessen misst der Staat bei seinen Überlegungen zur Reform des Bildungswesens der Institution Muse-

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Materialien Museumskunde 2001, S. 3.

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Materialien aus dem Institut für Museumskunde. Statistische Gesamterhebung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2001. Heft 55. Berlin 2002.

12

Zum Beispiel Peter Sloterdijk: Museum. Schule des Befremdens. FAZ-Magazin vom 17.03.1989. Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel. München/Wien 1989, S. 14 und S. 355.

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➔ Einleitung

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um eine eher untergeordnete Rolle bei. Es ist in diesem Zusammenhang charakteristisch, dass die zukünftige Rolle des Museumswesens bei der Erörterung der PISA-Studie bislang keine große Rolle zu spielen scheint. Nicht zu Unrecht wird schließlich die Frage gestellt, ob Museen bei der Aufgabe, moderne Technologie und Wissenschaften wie Elementarteilchenphysik und Gentechnik einer breiten Öffentlichkeit verständlich zu machen, nicht an die Grenze des von ihnen überhaupt Leistbaren stoßen.13 Ungeachtet der Orientierungsnöte, mit denen sich das Museum konfrontiert sieht, ist Musealisierung – die Denkart, der letztlich das moderne Museum seine Existenz verdankt – zu einer beherrschenden Tendenz der Gegenwart geworden, die heute sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens erfasst hat.14 Alles kann heute Anlass zu öffentlichem Gedenken und auch zu musealem Andenken werden, wie nicht nur die zahlreichen Erinnerungsfeiern und Gedenkveranstaltungen zeigen, sondern auch die vielen Floh- und Trödelmärkte sowie die ungeheuer differenzierte Subkultur der Liebhaber und Sammler. Es kann keine Rede davon sein, dass wir uns am Ende des musealen Zeitalters befinden.15 Musealisierung ist zur wichtigsten Erscheinungsform der aktuellen Geschichtskultur geworden.16 Sie ist eine Folge des

13

In diesem Sinne hat sich Charles Simonyi geäußert, Software-Entwickler und Computerwissenschaftler bei der Firma Microsoft. Ders.: Fliegender Teppich. Die Welt nach der Revolution der Sinne. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.09.2000.

14

Dazu Hermann Lübbe: Die Aufdringlichkeit der Geschichte. Graz/Wien 1989, bes.

15

Ein solches Ende unterstellt Boris Groys schon im Untertitel seiner – in erster

S. 13. Zum Begriff der Musealisierung s.u. S. 33ff. Linie auf Kunstmuseen gemünzten – Abhandlung über das Sammeln. Ders., Logik der Sammlung, Am Ende des musealen Zeitalters. Eine überzeugende Gegenposition, nach der der jüngste Museumsboom im Zusammenhang mit dem allgemeinen Trend zur Musealisierung zu sehen ist, formuliert Heinrich Theodor Grütter: Zur Theorie historischer Museen und Ausstellungen. In: Horst Walter Blanke, Friedrich Jaeger und Thomas Sandkühler: Dimensionen der Historik. Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute. Köln/Weimar/ Wien 1998, S. 179-193, dort S. 179 f. und 184. 16

Der Begriff der Geschichtskultur stammt von Jörn Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken. In: Klaus Füßmann, Heinrich Theodor Grütter und Jörn Rüsen (Hg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln/Weimar/Wien 1994, S. 3-26, dort S. 4.

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enorm verbreiteten Bedürfnisses nach historischer Erinnerung, auf der diese Kultur beruht. Das Museumswesen im Wandel Die Omnipräsenz der Musealisierung verwischt zunehmend die institutionellen Grenzen innerhalb des Bildungs- und des Freizeitwesens. Zoos beispielsweise werden Museen immer ähnlicher; Bibliotheken verfügen häufig auch über Ausstellungsflächen und Buchmuseen. Auf den ausstellerischen Ehrgeiz von Kneipen und Cafés wurde oben schon hingewiesen. Innerhalb des Museumswesens erscheint die Subsumierung der einzelnen Institutionen unter einen vereinheitlichenden Gattungsbegriff »Museum« immer problematischer, denn die Heterogenität der Einrichtungen, die sich Museum nennen, nimmt zu. Zudem gehen heute die früher so klaren Unterschiede zwischen Kunstmuseen, Naturkunde-, Technik- und Völkerkundemuseen häufig an der Realität des Sammelns und Ausstellens vorbei. Sie haben ihren Wert als Orientierungshilfen zu einem großen Teil eingebüßt. Viele Museen – man denke an das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden oder das Museum für Gestaltung in Zürich – spielen bewusst mit den Gattungsgrenzen und halten sich in einem Bereich zwischen den Wissenschaftsdisziplinen oder zwischen den Sparten der Wissenschaft, der Kunst, des Kommerzes und der Unterhaltung auf. Die unscharf gewordenen Konturen des Museums sind vor allem darauf zurückzuführen, dass es mit epochalen Veränderungen in der Medienlandschaft und in den Sektoren Bildung und Freizeit fertig werden muss. Einerseits diffundieren Tendenzen aus diesen Bereichen in das Museumswesen hinein, andererseits entsteht ein starker Druck durch konkurrierende Institutionen und Unternehmen. Dies gilt für das Fernsehen und das Internet, aber auch für neue Formen der Massenunterhaltung, wie sie beispielsweise in Vergnügungs- und Erlebnisparks angeboten werden.17 Die Erwartungen der Freizeit- und Spaßgesellschaft beeinflussen schon längst das konzeptionelle und praktische Geschehen im Museum. Dies belegen nicht zuletzt die infla-

17

Im Jahr 2000 gab es weltweit 342 Themenparks. Davon befinden sich 83 Parks in Europa. Für Europa bedeutet dies eine Steigerung um ein Drittel seit 1990. Besucherzahlen und Einnahmen sind im selben Zeitraum um zwei Drittel gestiegen. Für das Jahr 2010 wird weltweit mit einem Markt von 20 Milliarden $ und Besucherzahlen von 650 Millionen jährlich gerechnet. Vgl. www.econres.com.

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➔ Einleitung

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tionär verwendeten Begriffe »infotainment« und »edutainment«. Einige Museen flüchten sich in einen traditionalistischen Purismus, der sich bewusst auf das klassische Methodenrepertoire des wissenschaftlichen Ausstellens beschränkt. Viele sehen überhaupt keine Notwendigkeit, sich mit den neuen Entwicklungen auseinander zu setzen, andere versuchen gar, die Hervorbringungen der Unterhaltungsindustrie noch zu übertreffen. Die Krise des Museums Die Verunsicherung der Museumslandschaft hat auch strukturelle und ökonomische Gründe. Von Museen wird heute erwartet, kostenbewusster zu planen, neue Einnahmequellen zu erschließen, Techniken des besucherorientierten Marketing zu nutzen und ihren finanziellen Spielraum durch Fundraising und Sponsoring zu vergrößern. Nach wie vor hemmen komplizierte Haushaltsgesetze, lange Verwaltungswege und vernunftwidrige Kameralistik die Schlagkraft der Museen und halten das Interesse an einer Verbesserung der Einnahmesituation – und häufig auch an besucherfreundlicher Programmgestaltung und besserem Service – in Grenzen.18 Eine stärkere Orientierung an den Bedürfnissen des Besuchers – die nun auch als Kunden gesehen werden müssen – erscheint heute unausweichlich. Dies bedeutet nicht nur, dass die individuelle Besucherzufriedenheit erhöht werden muss. Es ist darüber hinaus erforderlich, die Zielgruppenorientierung des Museums soziologisch breiter anzulegen, so dass auch die Einnahmesituation verbessert werden kann – Notwendigkeiten, die sich weder mit L’Art pour l’Art-Denken noch mit dem festen Einplanen bildungspolitischer Subventionswohltaten vertragen. Auch in inhaltlicher und methodischer Hinsicht kann man insgesamt von einer krisenhaften Situation der Institution Museum reden, von einer Situation, die nach Umbruch und Reform verlangt. Obwohl die Museen hier mit neuen Ideen in die Offensive gehen müssten, greifen sie auf inzwischen recht bejahrte Konzepte zurück. Die zahlreichen deutschen Projekte, welche die Gründung von Science Centres nach amerikanischem und britischem Vorbild bezwecken, sind in dieser Hinsicht bezeichnend. Das Konzept des Science Centres ist nicht erst von Frank Oppenheimer 1969 in San Francisco, sondern schon Generationen früher in der Volksbildungsanstalt Urania in Berlin und

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Dazu die Einschätzung von Uwe M. Schneede (Hg.): Museum 2000 – Erlebnispark oder Bildungsstätte. Köln 2000, Einführung S. 7-17, dort S. 8 f.

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im Deutschen Museum in München in nuce entwickelt worden.19 Die Spontaneität und der Mut zum Anarchisch-Unkonventionellen, mit dem in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren das naturwissenschaftlich-technische Museum revitalisiert und das Science Centre auf den Weg gebracht wurde, haben ihre Frische längst verloren. Das Science Centre gehört inzwischen – um ein Reizwort aus den späten 1960er Jahren zu verwenden – zum Establishment und ist zu einer weltweit angewendeten Rezeptur geworden. Generell macht sich im Museumswesen ein Trend zur Nivellierung der Museumsarchitektur und Ausstellungsgestaltung bemerkbar, der keineswegs auf Deutschland beschränkt ist.20 Innovationsreserven Die Seltenheit innovativer Ansätze und experimenteller Projekte im heutigen Museums- und Ausstellungswesen ist nicht nur auf Knappheit der Ressourcen, sondern auch darauf zurückzuführen, dass das Museumsmanagement erst einmal und vor allem der praktisch-handwerklichen Sphäre verhaftet ist. Auf museologischen Fachtagungen und Fortbildungen wird in erster Linie über Themen wie Sponsoring, Optimierung des Besucherservices, Controlling im Museum, Multimedia, digitale Inventarisierung und rentable Museumsshops gesprochen. Für den naturwissenschaftlich-technischen Sektor des Museumswesens gilt dies mehr als für den historischen; man werfe nur einen Blick auf die Tagungsprogramme von ECSITE, der europäischen Organisation naturwissenschaftlicher Museen und Science Centres. Gerade angesichts der materiellen und strukturellen Nöte des Museums ist diese programmatische Ausrichtung sehr gut nachvollziehbar. Allerdings kommt das Nächstliegende des Museumsberufs allzu selten zur Sprache, nämlich die Fragen, was Museen eigentlich tun, wenn sie als Museen handeln, und was sie in Zukunft tun werden. Allenfalls das Sammeln ist des öfteren Gegenstand theoretischer Reflexion gewesen; auffällig selten dagegen das Ausstellen.21

19

S. u. S. 149.

20

Zu diesem Aspekt vgl. Rosmarie Beier: Geschichtskultur in der Zweiten Moderne. Eine Einführung. In: Dies. (Hg.): Geschichtskultur in der Zweiten Moderne. Frankfurt/New York 2000, S. 11-25, dort S. 16.

21

Dies ist auch der zutreffende Eindruck von Gottfried Korff: Speicher und/oder Generator. Zum Verhältnis von Deponieren und Exponieren im Museum. In: Moritz Csáky und Peter Stadel (Hg.): Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Mu-

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➔ Einleitung

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Die Frage nach dem Movens musealen Handelns wird heute von praktischen und technisch-organisatorischen Überlegungen verstellt. Ihre Beantwortbarkeit wird in der Regel vorausgesetzt, konkrete Antworten werden aber nur selten formuliert. Das Wesen des Museums kommt nicht in den Blick, möglicherweise, weil die Furcht besteht, es könne als Zeichen von Schwäche verstanden werden, öffentlich über scheinbar selbstverständliche Dinge zu diskutieren. Vielleicht ist es aber auch mit dem skeptischen Relativismus, der zum Repertoire postmoderner Posen gehört, nicht zu vereinbaren, nach dem »Wesen« zu fragen. Die Absichten der folgenden Untersuchung erschöpfen sich nicht darin, eine Steigerung des Theorieanteils in den Museumswissenschaften anzuregen. Denn eine Freilegung der Wurzel dessen, was eine Ausstellung beziehungsweise ein Museum ausmacht, entzieht sich der Unterscheidung von Theorie und Praxis. Sie eröffnet die Chance, eine elementare Schicht freizulegen, die der Unterscheidung von Theorie und Praxis vorausgeht und sie überhaupt erst ermöglicht. Dies könnte dem Handeln der Museen reflexive Tiefe, und der museologischen Reflexion pragmatische Orientierung verleihen und wäre in der Lage, den Nerv dessen zu treffen, was Museen immer schon getan haben und – wenn denn das ausstellende Museum heutiger Prägung eine Zukunft hat – auch weiterhin tun werden. Daher geht es in den folgenden Seiten auch nicht darum, ein kühn verkürztes Lehrbuch der Museologie oder eine Handreichung für die Kunst des Ausstellens zu präsentieren. Vielmehr will diese Arbeit für Innovationsreserven sensibilisieren, die im Medium »wissenschaftliche Ausstellung« liegen und damit auch der Institution Museum neue Perspektiven für die Zukunft eröffnen können – nicht nur in inhaltlicher, sondern letztlich auch in struktureller und ökonomischer Hinsicht.

seen, Archive. Teil I: Absage an und Wiederherstellung von Vergangenheit. Kompensation von Geschichtsverlust. Wien 2000, S. 41-56, dort S. 45. Das vielversprechende Buch von Martin Schärer: Ausstellen. Theorie und Exempel. München 2003, lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor.

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➔ Vom Zeug zum Alten Objekt



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II. Vom Zeug zum Alten Objekt

Ausstellungen gehören zur Wirklichkeit und stehen nicht außerhalb dieser. Insofern ist das Verhältnis von Ausstellung und Wirklichkeit immer auch ein Selbstverhältnis. Doch gehören Ausstellungen nicht nur zur Wirklichkeit, sondern drücken auch andere Wirklichkeit aus, die sie nicht sind. Dieses Ausdrücken anderer Wirklichkeit wird wiederum zu einem Moment der Wirklichkeit, die Ausstellungen selbst schon sind. Eine Ausstellung kann Wirklichkeit bezeugen oder ihre Illusion erzeugen. Sie kann Wirklichkeit zeigen, erklären, illustrieren, verbergen, verkörpern, repräsentieren, verfälschen oder simulieren.1 Ihr Verhältnis zur Wirklichkeit kann eindeutig und unmittelbar sein, aber auch gebrochen, mittelbar und vielschichtig. Was ausgestellt ist, kann Eigenständigkeit besitzen und damit auch Unabhängigkeit von den Handlungen, Wahrnehmungen, Gedanken und Empfindungen des Ausstellungsrezipienten. Andererseits gibt es Aspekte von Ausgestelltem, die sofort verloren gehen, sobald die individuelle Perspektive des Betrachters wechselt. Auch ist es möglich, dass das Ausgestellte gar nicht erst als Ausgestelltes in den Blick des Besuchers kommt, weil es entweder ignoriert wird, oder in seinen Handlungen völlig aufgeht. Die Frage nach dem Verhältnis von Ausstellung und Wirklichkeit muss bei der Bedeutung des Ausgestellten ansetzen. Diese Bedeutung ergibt sich aus dem, worauf das Ausgestellte zeigt und was sich dabei an ihm zeigt. Die Bedeutung des Ausgestellten ist umso klarer zu fassen, je mehr es sich von der Sphäre des Alltäglichen abhebt. Denn an dem, was im alltäglichen Besorgen völlig aufgeht, zeigt sich nichts, weil es Zeug ist und zu nichts anderem in einer Beziehung des Verweisens steht. Im Folgenden soll das Verhältnis von »Zeug« und »Gegenstand« – den Eckpfeilern der materiellen Kultur – in seiner fundierenden Bedeutung für die Kommunikationsform und Kulturtechnik des Ausstellens erläutert werden.

1

Im Unterschied zur Illusion handelt es sich bei der Simulation um eine absichtsvolle Täuschung, um eine Vorspiegelung von Symptomen ohne den Zustand, der solche Symptome gewöhnlich bewirkt. Dazu Sybille Krämer: Vom Trugbild zum Topos. Über fiktive Realitäten. In: Stefan Iglhaut, Florian Rötzer und Elisabeth Schweeger (Hg.): Illusion und Simulation – Begegnung mit der Realität. Ostfildern 1995, S. 130-137, dort S. 134.

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II.1 Zeug Der Status des Zeugs Seiendes, mit dem man nur umgeht, ohne es auf den Begriff zu bringen, ist zunächst einmal nichts anderes als Zeug. Der Alltag besteht aus Zeug, und alltägliches Handeln vollzieht sich am Zeug. Der Umgang mit Zeug erscheint selbstverständlich; man hinterfragt es nicht. Lediglich auf einer vortheoretischen, pragmatischen Ebene wird Zeug erfasst, indem es eingesetzt, verwendet, behandelt, verändert oder beseitigt wird. Mit was genau wir da umgehen, kommt zunächst nicht in den Sinn. Wir schwimmen sozusagen im Zeug, das aus allen möglichen Richtungen über uns hinweg schwappt. Wir rudern, strampeln und zappeln, kurzum, wir leben inmitten dieses Zeugs und sind oft von ihm benommen.2 Vom Anfang bis zum Ende ist unser Leben so mit Zeug verbunden, dass eine zeuglose Existenz schlechterdings unvorstellbar ist. Denn sie wäre eine leere und bodenlose Existenz. Der Status des Zeugs ist unabhängig davon, ob es sich um anthropogenes oder so genanntes natürliches, das heißt nicht durch Menschen geformtes Material handelt. Entscheidend für den Zeugcharakter ist das völlige Aufgehen des Zeugs in einer Handlung, und nicht seine Form oder sein Ursprung. Ein Stein kann ebenso Zeug sein wie ein Buch oder ein gesprochenes Wort. Es ist nicht möglich, Zeug auf den Begriff zu bringen, solange es Zeug ist. Die Zeugartigkeit des Zeugs ist immer schon entschwunden, wenn Zeug als Zeug erkannt wird. In diesem Sinne ist Zeug, solange es Zeug ist, immer »dummes Zeug«. Eine kognitive Annäherung an das Wesen des Zeugs kann sich daher immer nur auf sein jeweiliges Davor beziehen; sie ist stets ein Rückgriff auf etwas, das entschwunden ist, weil man auf es zurückgreift. Der Versuch, das Zeug selbst als Zeug zu identifizieren, es bei seinem Zeugsein zu ertappen, gleicht einer pathologischen Sektion, die ihrem Wesen nach nur posthum möglich ist: Der Körper, über dessen Inneres man sich ein Bild machen will, ist nicht mehr am Leben. Mehr noch: Der Versuch, Zeug zu begreifen, ist es selbst, der Zeug als Zeug vernichtet. Nicht zuletzt in diesem Sinne lässt sich der Hegelsche Satz verstehen, dass das Wort der Mord an der Sache sei.3

2

Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1979, S. 113: »Das Dasein ist zunächst und zumeist von seiner Welt benommen.«

3

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Rechtsphilosophie. Vorlesung von 1805/

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Zeug zeigt sich nicht Zeug zeigt sich nicht. Vielmehr ist es eingebunden in unser Handeln und geht in diesem auf, so wie die PC-Tastatur in der Schreibarbeit des Büromenschen aufgeht. Mehr noch: Insofern Zeug sich nicht zeigt, ist es für uns auch nicht vorhanden, obwohl wir ständig mit ihm umgehen, auf es reagieren und an ihm unsere Handlungen wirksam werden lassen. Mit anderen Worten: Der Umgang mit Zeug ist durch die strukturelle Unmöglichkeit charakterisiert, seine Natur im Vollzug zu begreifen, denn Begreifen setzt Reflexion, und Reflexion setzt objektivierende Distanz voraus. Zeug ist weder vorhanden noch wird es erkannt, da es zu dicht am agierenden Subjekt liegt. Es geht auf im Besorgen, wobei es verborgen bleibt. Diese Art von Verborgenheit ist dem handelnden Subjekt zunächst nicht problematisch. Es wäre unzutreffend, in der Abwesenheit von Aufmerksamkeit das immer entscheidende Kriterium zu sehen, das den alltäglichen Umgang mit Zeug charakterisierte, so als wäre es nur eine Frage der Konzentration oder des Sich-Zusammen-Reißens, ob man sich aus der Verstrickung mit Zeug zu befreien vermag. Dass Zeug sich nicht zeigt, bedeutet nicht, dass das Besorgen von Zeug blind sei oder fahrlässig geschähe. Dem Zeug entspricht eine besondere Sichtart, nämlich die Umsicht.4 Umsicht aber ist keine Form von Nähe. Im Besorgen bleibt Zeug unerreichbar fern. Konzentration auf ein Zeug ist zwar eine Form des Verfügens über Zeug. Doch führt dieses Verfügen nicht notwendigerweise an das Seiende heran, das diesem Zeug zugrunde liegt. Im Gegenteil: Ein solches Verfügen kann Seiendes verstellen und entstellen. Während sich der Handelnde völlig im Besitz des Behandelten glaubt, zeigt sich ihm dieses gerade nicht.

06. In: Gerhard Göhler (Hg.): Frühe politische Systeme. Frankfurt a.M./Berlin/ Wien 1974, S. 201-335, dort S. 307 f. 4

Heidegger, Sein und Zeit, S. 69: »Der nur theoretisch hinsehende Blick auf Dinge entbehrt des Verstehens von Zuhandenheit. Der gebrauchend-hantierende Umgang ist aber nicht blind, er hat seine eigene Sichtart, die das Hantieren führt und ihm seine spezifische Sicherheit verleiht. Der Umgang mit Zeug unterstellt sich der Verweisungsmannigfaltigkeit des ›Um-zu‹. Die Sicht eines solchen Sichfügens ist die Umsicht.«

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II.2 Der Gegenstand Passierende und erzeugende Vergegenständlichung Es gibt viele Formen des Verhaltens zu Zeug. Es lässt sich benutzen, ausschlachten und für die Herstellung anderen Zeugs verwenden. Ferner lässt es sich verdrängen, beseitigen oder gar vernichten. Diese Formen des Umgangs mit Zeug sind Formen des Verbrauchs. Indessen ist die Überwindung des Zeugcharakters nur durch Handlungsformen möglich, die nicht verbrauchen, sondern »sein lassen«. Handlungsformen, die Seiendes sein lassen, das heißt seine relative Eigenständigkeit anerkennen, vergegenständlichen Zeug. Im Zeug ist notwendigerweise die Möglichkeit angelegt, zum unterschiedenen Etwas, das heißt zum materiellen Gegenstand zu erwachen.5 Die Übergänge zwischen Zeug und Gegenstand sind fließend, wie ein Ausdruck der schwäbischen Mundart zeigt: der Kruscht. Dieses Wort ist unter anderem auf Umzugskisten im süddeutschen Raum häufig zu lesen. Kruscht besagt soviel wie allerlei Zeug – Zeug, das sich quasi von selbst angesammelt hat. Kruscht ist zwar für das Subjekt vorhanden in dem Sinne, dass es Anstoß erregt hat und bewusst wahrgenommen wird, auch wenn es nicht notwendigerweise eine räumliche Einheit darstellt, sondern sich hier und da findet. Aber eine genaue Klassifikation und Benennung wird, weil sie lästig wäre, nicht vorgenommen. Kruscht ist ein Bereich von Zeug, der in seinen Umrissen zwar schon dinghaft geworden ist, aber diffus bleibt, da zwischen den Einzeldingen nicht differenziert wird. Kruscht ist deshalb auch nicht zählbar. Was nun Gegenstände betrifft, so können sie erstens entstehen, wenn Zeug auffällig wird und Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dies ist ein Geschehen, dass ohne subjektiven Anstoß oder gar bewusste Steuerung passiert. Passieren heißt hier soviel wie: Die Vergegenständlichung kommt über den Menschen und zieht an ihm vorbei.6 Sie schickt sich zu, ohne dass man Ort oder Zeit ihres Auftretens vollständig im Griff hätte. Häufig bildet ein nicht

5

Im Folgenden soll von materiellen Gegenständen die Rede sein, also nicht von Ideen und Vorstellungen.

6

Der Pianist Alfred Brendel verwendet den Begriff des Passierens, um die Werke Franz Schuberts gegenüber denen Ludwig van Beethovens zu charakterisieren: »Im Vergleich zu Beethoven, dem Architekten, komponierte Schubert wie ein Schlafwandler … Schuberts Sonaten ereignen sich auf eine rätselhafte Weise; um es österreichisch zu sagen, sie passieren.« S. Alfred Brendel: Nachdenken über Musik. München/Zürich 1979, S. 94 f.

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vorhergesehener Zwischenfall oder ein jäher Unfall den situativen Rahmen für eine Vergegenständlichung dieser Art. Zeug, beispielsweise eine Straßenlaterne, gegen die man rennt, ist auf einmal da. Die zweite Form der Vergegenständlichung überwindet Zeug auf eine andere Weise, indem sie den Gegenstand erzeugt: Ein reflektierendes Subjekt lässt Zeug aus seiner Umwelt hervortreten und bringt es auf den Begriff. Die Eigenständigkeit des so erzeugten Gegenstandes ist von Dauer, und nicht an das Nachwirken bestimmter Situationen gebunden. Ein Türrahmen, der eine Beule verursacht, ist nur so lange Gegenstand, wie die Beule schmerzt. Ein Kunstwerk aber kann auch dann als solches wahrgenommen werden, wenn die Auktion, auf der es erworben wurde, schon vergessen, und der Künstler, der es erschuf, schon längst gestorben ist. Eine solche dauerhafte Vergegenständlichung erfordert allerdings, dass der Gegenstand eine situationsunabhängige Bedeutung erhält. Will man die Gefahr eines Rückfalls in den Zustand des stummen und dummen Zeugs bannen, so muss diese Bedeutung immer wieder aufs neue vollzogen werden, und der Vergegenständlichende muss sie auch für andere nachvollziehbar machen. Ansonsten wird sie irgend wann einmal nicht mehr begriffen. Erzeugte Gegenstände sind Konstrukte. Aber sie sind keine Schöpfungen, denn sie setzen stets eine materielle Fundierung voraus. Von Anfang an kommt bei der Erzeugung von Gegenständen auch die historische, soziale und biografische Prägung, kurzum, die kulturelle Einbettung des vergegenständlichenden Subjektes zum Tragen.7 Dieses verfügt über ein besonderes Vorverständnis des betreffenden Dings, eine Möglichkeit, es zu verstehen, schon bevor es seiner gewahr wird. Ohne dieses Vorverständnis würde das Ding an ihm abprallen. Denn die geistigen Anknüpfungs- und Verankerungsstellen würden fehlen, die es überhaupt erst erlauben, ein Ding in den persönlichen Erfahrungsschatz einzubetten. Nur auf Grund dieses Vorverständnisses kann das Wahrgenommene in ein vorläufiges Ganzes eingefügt wer-

7

Der Museumspädagoge Heimo Liebich verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff des Zeichens. Objekte seien als »Zeichen innerhalb von Kulturreihen, als Vergegenständlichung des Zustands der Kulturen, gegenwärtiger, historischer, naher und ferner, zu werten […]«. Ders.: Konzept für ein Münchner Kinderund Jugendmuseum. In: Kirsten Fast (Hg.): Handbuch museumspädagogischer Ansätze. (Berliner Schriften zur Museumskunde Bd. 9) Opladen 1995, S.145 – 165, dort S. 146. Der Begriff des Zeichens erscheint in diesem Zusammenhang problematisch. S. u. S. 59 f.

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den, so dass es identifiziert, analysiert, klassifiziert und bewertet werden kann. Vergegenständlichungen passieren also, oder sie werden erzeugt. Freilich ist das Passieren nicht so zu verstehen, als sei die involvierte Individuum völlig passiv. Es umgreift auch einen subjektiven Faktor: Der Gegenstand wird zu schon Erfahrenem und Gewusstem in Beziehung gesetzt. Umgekehrt ist das Erzeugen der Gegenstände kein absolutes Schöpfertum. Es setzt voraus, dass das Subjekt selbst bestimmt wird und auf schon Wirksamem aufbauen muss, wenn es vergegenständlicht. So ist auch das Vorverständnis des Gegenstandes schon angelegt, bevor die Vergegenständlichung beginnt. Passieren und Erzeugen sind also nicht als absolute Gegensätze zu verstehen, sondern als Extremwerte auf einer Skala, die den wahrgenommenen Spielraum des akzentuierenden und bewertenden Subjektes angibt. Für die Bedeutung des Gegenstandes heißt dies, dass sie nicht »produziert« wird.8 Die Bedeutung eines Gegenstandes umfasst immer auch einen unverfügbaren Bedeutungsanteil, der sich aus der Biographie des betrachtenden Individuums, aus der Geschichte des Gegenstandes, aber auch aus den nicht steuerbaren, passierenden Fügungen des Lebens ergibt. Den »objektiven« Gegenstand gibt es nicht Die vorangegangenen Reflexionen machen deutlich, dass es den »objektiven« Gegenstand, der unabhängig von subjektiven Einflüssen zustande gekommen wäre und sich als er selbst durchhielte, nicht gibt.9 Denn Gegenstände gehören grundsätzlich der Sphäre der Wirklichkeit, und nicht der Sphäre der Realität an.10 Nicht nur Artefakte, sondern auch Naturafakte sind Konstrukte, auch wenn ihre Materialität und Struktur natürlichen, das heißt nicht menschlichen Ursprungs ist. Jedes Ding, das als Naturafakt erkannt wird, ist aus ande-

8

Dies gegen Annette Lepenies, die, in Anknüpfung an den Begriff des »meaning making«, von »Bedeutungsproduktion« spricht. Dies.: Wissen vermitteln im Museum. (Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden Bd. 1). Köln 2003, S. 68 f. Zudem ist der Begriff in sich widersprüchlich. Der Produzent muss die Bedeutung, die er produzieren will, schon kennen, sonst könnte er sie nicht produzieren. Die Bedeutung wäre also schon vor ihrer Produktion vorhanden.

9

Dazu Ernst E. Boesch: Das Magische und das Schöne. Zur Symbolik von Objekten und Handlungen. Stuttgart 1983, S. 20.

10

Zur Unterscheidung von Wirklichkeit und Realität s. o. S. 11.

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rem natürlichem Zeug ausgewählt, mit einer Bedeutung verknüpft und in den Fundus der Seh- und Denkgewohnheiten integriert worden. Man hat es von anderen Gegenständen abgegrenzt, Ähnlichkeiten erkannt und es schließlich bezeichnet, so dass ein intersubjektiver Austausch über den Gegenstand möglich wird. Alle angetroffenen Objekte, auch die natürlichen Ursprungs, werden durch die Brille kulturell gewordener Sehgewohnheiten und Denkschemata wahrgenommen. In diesem Sinne ist jeder Gegenstand ein Kulturgegenstand. Auch individuelle Präferenzen und Prädispositionen verändern die Dingwahrnehmung und beeinflussen die Gegenstandskonstitution. Wünsche können nicht nur Väter von Gedanken, sondern auch von Gegenständen werden. Die Brechung der Wahrnehmung im Subjekt ist ein Moment der Vergegenständlichung selbst, das allerdings für das Subjekt selbst zunächst nicht durchschaubar ist. Der Gegenstand, dessen Erscheinung durch kulturell bedingte Perzeption bestimmt ist, wirkt auf die Seh- und Interpretationsschemata verändernd zurück, was wiederum Folgen für seine Perzeption hat. Dies ist die tiefere Bedeutung des Märchens von der Prinzessin auf der Erbse. Auch Beispiele aus dem Alltag lassen sich leicht finden: Einem Deutschlehrer kann ein Kommafehler so gravierend erscheinen, dass dieser den ganzen Text überschattet. Einem professionellen Weinverkoster verleidet das winzige, für Laien kaum wahrnehmbare Übergewicht eines Aromastoffs – hier zu viel Johannisbeere, dort zu viel Barrique – den Wein insgesamt; er wird für ihn ungenießbar. Vergegenständlichung geht also mit einer unvermeidlichen perspektivischen Verzerrung einher. Der Gegenstand kann die Attribute wichtig oder unwichtig, richtig oder falsch, nützlich oder nutzlos, interessant oder langweilig, schön oder hässlich, gut oder böse tragen. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass ihm sozusagen eine eigene Biographie zugeschrieben wird, die nicht nur die Geschichte seiner Verwendungen, sondern auch seiner Ver- und Bewertungen umfasst. Der Gegenstand zeichnet sich dann durch eine spezifische Schwere aus, die es ihm erlaubt, eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber dem bewertenden Subjekt zu wahren. Gerade weil das Subjekt den Gegenstand erzeugt hat, ist er nicht mehr nur Material. Er mag instrumentalisiert werden, sperrt sich aber gegen seinen bloßen Verbrauch oder gar seine Vernichtung. Sein-Lassen und Einverleibung des Gegenstandes Die Eigenständigkeit des Gegenstandes sein zu lassen, verlangt mehr, als im Rahmen des umsichtigen Besorgens von Zeug möglich wäre. Gerade der Respekt vor der Ständigkeit des Gegenstandes macht es erforderlich, dem Gegenstand nahe zu kommen und ihn einzuverleiben. Diese Einverleibung be-

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deutet aber nicht die Verdauung und damit Vernichtung eines Stücks Welt, sondern seine Bemächtigung aus inwendigem Verständnis heraus. Diese Inwendigkeit ist nicht nur ein Reflex des besorgenden Ichs, sondern auch des Inneren der vergegenständlichten Sache, das darauf wartet, entdeckt und verstanden zu werden. Sie stellt sich beispielsweise ein, wenn ein Pianist einen Sonatensatz nicht mehr als Abfolge von Tönen, sondern als dramatische Klangrede auffasst und er zum Interpreten wird, der das ursprünglich Intendierte nicht auswendig wiederholt, sondern inwendig »wieder holt«. Sie stellt sich auch ein, wenn ein altägyptisches Diadem nicht nur als ein reizvolles Schmuckstück, sondern als ehemals magischer Gegenstand aufgefasst wird. Wie ist aber nun das Sein-Lassen des Gegenstandes mit dessen Konstruktcharakter zu vereinbaren? Wie kann etwas in Ruhe gelassen werden, was doch von Anfang an verarbeitet worden ist? Nochmals soll hier betont werden: Der Gegenstand ist zwar Konstrukt, er ist es aber nicht nur. Die Realität, die dem Gegenstand zugrunde liegt, besteht unabhängig vom Subjekt und hat Eigenschaften, die in der Perzeption des anschauenden Subjektes zwar verdeckt und verzerrt werden können, aber gleichwohl fort bestehen, wenn der Gegenstand aus dem Wahrnehmungskreis des Subjektes entschwindet. Wahrnehmung und Begreifen setzen, bevor sie Wirklichkeit konstituieren, Realität im Sinne von dinghaft Seiendem voraus, das den Wahrnehmungsapparat und den Verstand affizieren kann. Andererseits bedarf dinghaft Seiendes der Wahrnehmung und des Begreifens, um zum Gegenstand zu werden. Zwischen der Realität des Seienden, die unabhängig vom Subjekt besteht, und der vom Subjekt erzeugten Wirklichkeit des Gegenstandes gibt es Passungen. Das heißt, nicht jede Wirklichkeit wird der Realität gerecht. Es sind die Passungen zwischen Realität und wirklichem Gegenstand, welche die Realität wenn nicht erfahrbar, so doch erkennbar machen und ein Sein-Lassen des Gegenstandes ermöglichen. Das Sein-Lassen des Gegenstandes bedeutet, seine subjektunabhängige Realität zu respektieren. Es hat nichts mit dem Sein-Lassen des Gegenstandes zu tun, wenn man beispielsweise die Patina eines Oldtimers beseitigt und dieser womöglich noch einen modernen Motor erhält, damit er sich besser für Werbeaktionen einsetzen lässt. Und es entspricht einem solchen Sein-Lassen eher, wenn man die rekonstruierten Teile eines griechischen Tempelfrieses in weißem Gips ausführt und dadurch von den Originalteilen abhebt.

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Die Bedeutung der Gegenstände Gegenstände zeigen über die Konkretheit der eigenen Materie hinaus und weisen auf etwas Anderes hin, sei dieses Andere nun ein anderer Gegenstand, ein bestimmter Zweck, eine Idee, ein Adressat, für den der Inhalt des Verweisens bestimmt ist, oder der Urheber des Verweisens selbst, der die Beziehung zwischen dem Gegenstand und dem Anderen gestiftet hat. Insofern ist der Gegenstand immer auch Zeichen.11 Es ist gerade das ostensive Verhältnis zu Anderem, dass neben die bloße Materialität des Seienden eine Bedeutung treten lässt.12 Schon dadurch erweisen sich Gegenstände als bedeutungsvoll, dass sie vor dem Hintergrund anderer Gegenstände, ja ganzer Systeme von Gegenständen wahrgenommen werden, die gleichfalls mit Bedeutungen verknüpft sind. Von diesem unendlich komplexen Hintergrund heben sie sich einerseits ab, verweisen aber andererseits auf ihn zurück. Ein Auto hebt sich von der Gesamtheit der Autos ab, indem es mein Auto ist, mir zur Verfügung steht und auf eine ganze Kaskade von spezifischen Erinnerungen, Erlebnissen und Kenntnissen verweist. Das Auto hebt sich aber auch von Pferd und Ochsenwagen ab sowie von allen Dingen, die unbeweglich sind.

11

Zur Zeichenhaftigkeit der materiellen Gegenstände vgl. Mihaly Csiszentmihalyi und Eugene Rochberg-Halton: Der Sinn der Dinge. Das Selbst und die Symbole des Wohnbereichs. München/Weinheim 1989, S. 38 f.

12

Krzysztof Pomian hat für bedeutsame Gegenstände den Begriff der Semiophore geprägt. Ders.: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1988, S. 50 ff. Dabei sieht er Bedeutung und Nützlichkeit als zwei diametral entgegen gesetzte Pole. Je bedeutungsvoller ein Ding ist, desto weniger nützlich ist es auch – und umgekehrt. Pomians Begriff ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zum einen erscheint es nicht nachvollziehbar, warum Nützlichkeit und Bedeutsamkeit eines Dinges sich grundsätzlich ausschließen sollen. Es gibt viele Dinge, die gerade auf Grund ihrer Nützlichkeit bedeutsam sind – man denke an banale Gegenstände wie etwa eine Uhr oder ein Medikamentenrezept, oder auch an die ebenso bedeutsamen wie nützlichen Institutionen Gericht oder Parlament. Zum anderen ist offensichtlich, dass gerade auch Alltägliches zum Bedeutungsträger werden kann, ohne den Rahmen des Alltags zu verlassen. Pomian schreibt aber ausschließlich Musealien, das heißt Gegenständen, die aus dem alltäglichen Zusammenhang herausgenommen worden sind, Bedeutsamkeit zu. Problematisch ist schließlich, dass der Begriff der Semiophore mit dem Bild des antiken Gefäßes (Amphore) spielt. Dadurch wird unterstellt, man könne die Bedeutung eines Gegenstandes sozusagen »ausschütten« und von ihrem materiellen Träger trennen.

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Auf Grund seiner Merkmale reiht es sich andererseits in die Gattung der Fortbewegungsmittel ein, die Auto genannt wird. Falls das Auto mit einem neuartigen Kotflügel oder Antrieb ausgestattet ist, trägt es vielleicht sogar dazu bei, den Begriff des Autos überhaupt zu verändern. So hat jeder Gegenstand einen besonderen Bedeutungshof, der von Subjekt zu Subjekt differiert. Der Gegenstand bezeichnet aber nicht nur, sondern ist auch selbst Adressat von Bezeichnungen. Seine Bedeutung erschöpft sich also nicht darin, Bedeutendes zu sein, er ist darüber hinaus auch selbst Bedeutetes, Bezeichnetes. Es erweist sich, dass Bedeutung mehr ist als die mathematische Zuordnung eines Bezeichnenden zu einem Bezeichneten. Denn jeder Gegenstand ist potenziell polysemantisch, das heißt: In Abhängigkeit von den subjektiven Prädispositionen des Individuums, vom Kontext der Situation und nicht zuletzt des kulturellen Systems schlummern im Gegenstand schier unendlich viele Bedeutungen – man denke etwa an eine Eiche und die verschiedenen Bedeutungen, die Spaziergänger, Umweltschützer, Förster, Historiker, Deutschtümelnde oder Holzindustrielle in ihr sehen.13 Nicht nur das Phänomen der Bedeutungsvielfalt, sondern auch das des Bedeutungswandels macht es unmöglich, die Bedeutung eines Gegenstandes mit letzter Eindeutigkeit festzustellen. Für einen Germanen hatte eine Eiche eine andere Bedeutung, als sie sie heute für einen Germanisten hat. Die Art der Bedeutung, die Zeug zum Gegenstand macht, hängt davon ab, was der mit Zeug Umgehende in es hinein liest und mit welchen subjektiven Konkretisationen er das Vorgefundene ergänzt und auffüllt.14

13

Zur potenziellen Bedeutungsvielfalt der Musealien siehe auch die Überlegungen von Gottfried Korff: Notizen zur Dingbedeutsamkeit. In: 13 Dinge. Form. Funktion. Bedeutung. Stuttgart 1992, S. 8-17.

14

Der Begriff der Konkretisation ist durch Roman Ingarden in die Philosophie eingeführt worden. Dazu die Zusammenfassung von Hans Dieter Huber: Leerstelle, Unschärfe und Medium. In: Stephan Berg, René Hirner und Bernd Schulz (Hg.): Unschärferelation. Fotografie als Dimension der Malerei. Ostfildern-Rult 2000, S. 84-87. Susan S. Pearce hat auf die Fruchtbarkeit des Ingardenschen Denkens für die Theorie des Ausstellens aufmerksam gemacht. Dies.: Objects as meaning, or narrating the past. In: Dies. (Hg.): Objects of Knowledge. London 1990, S. 125140, dort S. 135.

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Der Gegenstand als Einheit von Ausdruck, Inhalt und Materialität Der Gegenstand kann in dreierlei Hinsicht betrachtet werden: Erstens bezeichnet er und ist Ausdruck beziehungsweise Form eines Inhalts; zweitens ist er selbst der Adressat von Bezeichnung, also Inhalt. Drittens ist der Gegenstand konkrete Materialität, da er nie nur Zeichen, sondern immer auch schon Zeichenträger ist. Er hat eine bestimmte Größe und Schwere, besteht aus Holz, Metall, Kunststoff, ist darüber hinaus durch eine bestimmte Form charakterisiert und zeichnet sich durch ein bestimmtes Verhältnis von Oberflächen- und Tiefenstruktur aus. Das Verhältnis von Bezeichnendem, Bezeichnetem und Materialität macht den Gegenstand aus. Stets verweist dieses Dreiecksverhältnis dabei auf mindestens einen Referenten, das heißt auf einen anderen, bedeuteten Gegenstand.15 Die Unterscheidung von Bezeichnendem und Bezeichnetem oder Bedeutendem und Bedeutetem geht auf die strukturalistische, von Fernand de Saussure begründete Linguistik zurück.16 Nach de Saussure verhalten sich Signifiant (Bedeutendes, Bezeichnendes) und Signifié (Bedeutetes, Bezeichnetes) so zueinander wie zwei Seiten ein und desselben Blattes. Das heißt, sie sind nicht voneinander zu trennen. Das Subjekt kann dieser unterschiedlichen Aspekte des Zeichens gewahr werden, sie aber nicht auseinander reißen. Inwiefern ist nun diese Theorie auch auf materielle Gegenstände übertragbar? Ausdruck und Inhalt sind im Gegenstand ebenso wenig voneinander zu trennen wie in einem Text, sondern bilden eine Einheit. Von einer Dichotomie von Signifiant und Signifié kann allerdings nicht die Rede sein. Dies hieße, die dritte wesentliche Eigenschaft des Gegenstandes zu unterschlagen, seine Materialität oder Dinghaftigkeit. Sowohl die Bedeutungsvielfalt als auch der Bedeutungswandel eines Gegenstandes ließen sich ohne seine Materialität

15

Zur Dreiheit von Material, Form und Bedeutung beziehungsweise Zeichenträger, Bezeichnendes und Bezeichnetes und seiner Relevanz für die Museologie vgl. Ivo Maroevic´ : Die Museumsausstellung als museologische Herausforderung. In: Museum Aktuell 83, August 2002, S. 3521-3526, dort S. 3523. Ders.: Introduction to Museology. The European Approach. München 1998, S. 137 ff.

16

Susan S. Pearce hat versucht, den Saussureschen Strukturalismus auf die Ausstellungstheorie zu übertragen. Sie bleibt dabei eine Erklärung schuldig, wie sich Signifiant und Signifié, beziehungsweise Langue und Parole zum ausgestellten Gegenstand selber verhalten. Auch hier fehlt ein Konzept von Materialität. Dies., objects as meaning, bes. S. 128.

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nicht erklären. Bedeutung und Erinnerung bedürfen der »Handgreiflichkeit des Dinghaften«.17 Materialität im hier verwendeten Sinne umfasst nicht nur den Stoff des Gegenstandes, sondern auch seine Form und Struktur. Materialität ist im klassischen Strukturalismus de Saussures, der für die gesamte Linguistik prägend gewesen ist, nicht vorgesehen18 – ein Umstand, der die Verwendbarkeit dieser Denkschule für die Museologie, die eine Wissenschaft der materiellen Kultur ist, stark einschränkt.19 Gleichwohl bedeutet die auf den Strukturalismus zurückgehende Auffassung des Exponates als »Zeichen« einen Fortschritt gegenüber der unreflektierten Subsumierung historisch aussagekräftiger Exponate unter den Begriff der Quelle, einer Metapher, die ein geradezu naturgesetzliches Überlieferungsgeschehen suggeriert.20 Der Begriff des Zeichens ist sowohl dem Anteil des Zufalls an der historischer Überlieferung angemessener, als auch dem subjektiven Anteil des betrachtenden Subjektes an der Bedeutung des Dinghaften. Nur als Zeug kann Seiendes bedeutungslos sein – nicht im Sinne einer Irrelevanz für menschliches Handeln, aber im Sinne einer Freiheit von Verweisungen für den, der mit Zeug umgeht. Bedeutungslose Gegenstände dagegen gibt es nicht. Freilich diffundieren die Bereiche des Zeughaften und des Gegenständlichen. Jeder Gegenstand kann zu Zeug, und jedes Zeug zum Gegenstand werden, ohne dass sich an der materiellen Struktur etwas ändern müsste. Hat Zeug Gegenständlichkeit angenommen, so ist es auch bedeutsam für den, der vergegenständlicht hat – unabhängig davon, ob es sich nun um Kultur- oder Naturgut handelt. Bedeutsamkeit also ist ein entschei-

17

Hannah Arendt: Vita activa oder: Vom tätigen Leben. München 1981, S. 87 f.

18

Das bei de Saussure zentrale »image acoustique«, das Signifiant der gesprochenen Sprache, ist nicht die physikalisch beschreibbare Lautkette, sondern die psychologische Spur, die Vorstellung der Laute. Vgl. Heidrun Pelz: Linguistik für Anfänger. Hamburg 1979, S. 42.

19

Dies gilt auch für die Semiotik. Ich teile in dieser Hinsicht die Auffassung von Zbyne˘k Stránsky´: The language of exhibtions. In: Sofka 1991, S. 129-133, dort S. 130. Miroslav Tudjman hat die Kategorie der Materialität in die Semiotik des Exponates eingeführt. Ders.: Struktura kulturne informacije (Structure of Cultural Information). Zagreb 1983.

20

Zur Ablösung des Quellenbegriffs durch den Zeichenbegriff in der Theorie des Exponates vgl. Walter Hochreiter: Vom Musentempel zum Lernort. Zur Sozialgeschichte deutscher Museen 1800-1914. Darmstadt 1994, S. 208 ff.

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dender Unterschied von Zeug und Nicht-Zeug. Der Gegenstand ist durch Zuweisung einer Bedeutung gewissermaßen mit einem dynamischen Überschuss aufgeladen worden, der über seine bloße Materialität hinaus schießt. Dieses Aufladen mit Bedeutung kann, wie schon erwähnt, entweder passieren, oder erzeugt werden. Zeug kann also in zwei Varianten überwunden werden: als Gegenstand, der über den Menschen kommt, und als Gegenstand, über den der Mensch kommt. In beiden Fällen führt Vergegenständlichung nicht zum Zeug hin, sondern im Gegenteil von ihm weg. Denn das Resultat der Vergegenständlichung des Zeugs ist dessen Überwindung. Insofern ist Vergegenständlichung der Fähigkeit des sagenhaften Königs Midas nicht unähnlich, der alles Dinghafte in Gold verwandeln konnte, indem er es anfasste: Sie hebt Zeug auf eine andere Stufe, vernichtet es aber als Zeug und schlägt damit die Tür zum naiv-unreflektierten, vorthematischen Besorgen des Seienden zu. Dieser Konflikt zwischen naivem Besorgen des Zeugs einerseits, und seiner Vergegenständlichung andererseits bestimmt auch den Umgang mit Exponaten. II.3 Das Alte Objekt Musealisierung Jean Baudrillard hat den Begriff des »Alten Objektes« geprägt.21 Darunter sind Gegenstände zu verstehen, die durch Eminentwerden ihrer Geschichtlichkeit oder Naturgeschichtlichkeit bedeutsam sind. Der Begriff des Alten Objektes deckt sich nicht mit dem des Altertums, der heute selbst altertümlich erscheint. Denn auch Naturafakte, die nach herkömmlichem Sprachgebrauch keine Altertümer sind, können zu Alten Objekten werden. Musealisierung ist der Prozess, der zum Alten Objekt führt.22 Sie ist eine besondere Variante der Vergegenständlichung, welche die Fähigkeit eines dinghaft Seienden aufdeckt, Zeugnis über eine passierte Bewandtnisganzheit abzulegen. Die Entdeckung dieser Zeugnisfähigkeit ändert die Wertigkeit des Seienden und setzt an Stelle des Funktionswertes einen Erinnerungswert. Bei kleineren, handlichen Gegenständen geht dies in der Regel mit einer Ortsveränderung einher. So wird der alte Kochtopf, der jahrzehntelang zum ge-

21

Jean Baudrillard: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. Frankfurt a.M. 1991, S. 95 ff.

22

Zum Begriff der Musealisierung vgl. die Zusammenfassung von Eva Sturm: Konservierte Welt. Museum und Musealisierung. Berlin 1991, vor allem S. 11 ff.

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brauchten Küchengerät gehörte und in dieser Verwendung nicht weiter aufgefallen ist, eines Tages, der zahlreichen, mit ihm verknüpften Erinnerungen wegen, auf den Wandschrank an einen gut sichtbaren Platz gestellt und fortan nicht mehr für seinen ursprünglichen Zweck verwendet.23 Musealisierung kann überall stattfinden, nicht nur im Museum, und sie kann jedes dinghaft Seiende erfassen. Sie ist keine antimodernistische Handlung, die typisch für rückwärtsgewandte Denkmuster und Mentalitäten wäre. Auch würde es zu kurz greifen, in ihr ein Phänomen der Moderne zu sehen.24 Vielmehr ist Musealisierung eine anthropologisch universale Form der Vergegenständlichung, die aus einem Gebrauchten ein dauerhaft Gezeigtes macht und dieses Gezeigte als Spur und Rest einstiger Personen und Welten auffassen lässt. Die Anfänge der Musealisierung – und damit auch die ersten Alten Objekte – sind in der Ur- und Frühgeschichte zu suchen. Schon früh wird es Orte des Andenkens und Denkmäler gegeben haben, welche die Erinnerungsfunktion von Riten und Bräuchen ergänzten. Das 28. Kapitel der Genesis berichtet, dass Jakob, nachdem er von der Himmelsleiter geträumt hatte, dem Stein, der während des Schlafs seinen Kopf gestützt hatte, einen besonderen Erinnerungswert zuwies. Er richtete ihn auf »zu einem Steinmal und goss Öl oben darauf«.25 Jagd- und Kriegstrophäen sind frühe Formen des Alten Objektes. Auch aufgehobene, gewissermaßen musealisierte Teile eines Verstorbenen zählen

23

Das Beispiel stammt von Martin R. Schärer: Objekt-Geschichten – Histoire des

24

Nach Hermann Lübbe ist Musealisierung ein Phänomen der Moderne, erklärbar

Objets. Vevey 1995, S. 14. aus dem Versuch, »änderungstempobedingten Vertrautheitsschwund« zu kompensieren. Ders.: Zeit-Verhältnisse. Über die veränderte Gegenwart von Zukunft und Vergangenheit. In: Wolfgang Zacharias (Hg.): Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung. Essen 1990, S.40-49. Ursprünglich geht die Kompensationstheorie auf Joachim Ritter zurück. Vgl. ders.: Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft. In: Ders.: Subjektivität. 6 Aufsätze. Frankfurt a.M. 1974, S. 105-140. 25

Lutherbibel, Stuttgart 1985, S. 32. Zur Interpretation des Jakobschen Steins als Denkmal vgl. Detlef Hoffmann: Authentische Erinnerungsorte oder: Von der Sehnsucht nach Echtheit und Erlebnis. In: Hans-Rudolf Meier und Marion Wohlleben: Bauten und Orte als Träger von Erinnerung. Die Erinnerungsdebatte und die Denkmalpflege. Zürich 2000, S. 31-45, dort S. 41.

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zu dieser Art von Gegenständen.26 Die Bedeutung dieser Gegenstände erschöpfte sich allerdings nicht im Erinnerungswert, denn sie hatten stets auch eine magische Funktion. So war bei vielen Ureinwohnern Südamerikas und des Pazifikraumes der Glaube verbreitet, mit dem physischen Überbleibsel eines Menschen gehe dessen Kraft auf die Überlebenden über.27 Erst für die griechisch-römische Antike sind die ersten Formen eines säkularen, weder magisch noch religiös motivierten Aufhebens von Gegenständen zum Zwecke der kollektiven und persönlichen Erinnerung nachweisbar.28 Zwar ist Musealisierung nicht nur ein historisches, sondern auch ein universal menschliches Phänomen. Gleichwohl ist es richtig, dass ein Grundzug der Moderne, die Industrialisierung in Verbindung mit der Rationalisierung der Lebenswelt, zu einer ständig an Tempo gewinnenden Bedrohung, Umwandlung und Vernichtung vertrauter Strukturen geführt und damit der Musealisierung in besonderem Maße Vorschub geleistet hat. Im Kontext der industrialisierten Gesellschaft und globalisierter Wirtschaftsprozesse ist Musealisierung zu einem antagonistischen Reflex geworden, um Vertrautes zu retten und zu bewahren.29 Musealisierung ist also wesentlich mehr als eine Erscheinung der Freizeitgesellschaft. In den letzten 150 Jahren ist sie zu einer kulturellen Grundtendenz der Epoche geworden. Musealisierung setzt die Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Endlichkeit voraus. Sie ist ein Sich-Stemmen gegen den endgültigen Abschied von der Welt und gegen den Tod. Auch in dieser Hinsicht ist Musealisierung eine kulturelle Anstrengung, die nicht an eine bestimmte Epoche oder Region gebunden ist, sondern einem allgemein menschlichen Bedürfnis

26

Pierre Fédida: Die Reliquie und die Trauerarbeit. In: H.J. Pontalis (Hg.): Objekte

27

Vgl. das Kapitel »Magische Objekte« in der Studie von Werner Muensterberger:

des Fetischismus. Frankfurt 1972, S. 371 ff. Sammeln. Eine unbändige Leidenschaft. Psychologische Perspektiven. Berlin 1995, S. 89 ff. 28

S. u. S. 127 ff.

29

»Weil das technisch gemachte Neue immer schneller kommt, wird das, was für die Menschen vorfindlich ist und war, also ihre Traditionswelt, immer schneller ausrangiert. Mit dem Innovationstempo steigt auch die Veraltungsgeschwindigkeit.« Aus: Odo Marquard: Wegwerfgesellschaft und Bewahrungskultur. In: Andreas Groth (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo: die Welt der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1400 bis 1800. Opladen 1994, S. 909-918, dort S. 914.

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entspricht.30 Der unerträgliche Gedanke, dass eine vertraute Person, ein vertrauter Zustand oder ein vertrauter Gegenstand entschwunden sind und nicht mehr zurückkehren, wird dadurch gelindert, dass wenigstens eine Spur, die das Entschwundene bis zu einem gewissen Grade ersetzt, in der Nachwelt verbleibt. Daher ist Musealisierung ohne eine Unterscheidung von Vorwelt, Mitwelt und Nachwelt, das heißt ohne ein zumindest rudimentäres Verständnis von Geschichtlichkeit, überhaupt nicht möglich. Musealisierung entspringt dem Bedürfnis, Andenken zu schaffen: Dinge werden dem Verschleiß entzogen, aufgehoben und vor Veränderung geschützt, damit sie die Erinnerung an bestimmte Ereignisse oder Zustände, mit denen sie verknüpft waren, wach halten oder herauf beschwören können. Reliquien, Fetische und Trophäen sind solche Andenken. Es kann sich dabei um Naturafakte handeln, beispielsweise um bunte Steine, getrocknete Blumen oder den Schädel des Urgroßonkels. Oder das Andenken wird durch ein Artefakt verkörpert, beispielsweise einen Angelhaken, eine Pfeilspitze oder einen abgelaufenen Pass, allesamt Gegenstände, die außer Gebrauch gestellt worden sind. Jedes materielle Seiende hat ein Musealisierungspotenzial und kann zum Alten Objekt werden. Allerdings gibt es verschiedene Abstufungen der Musealisierungsintensität. Aus der Perspektive des Gegenstandes entfalten sich diese Abstufungen zwischen den Polen »alltägliches Zeug« und »erlesene Musealie«. Je enger verflochten der Gegenstand mit seiner ursprünglichen Bewandtnisganzheit ist, desto weniger musealisiert ist er auch. Aus der Perspektive des besorgenden Subjektes dagegen bestimmt sich der Ort des potenziell musealisierbaren Gegenstandes zwischen Museum und Alltagswelt.31 Gehört der Ge-

30

Zu diesem Gesichtspunkt Gottfried Fliedl: Objekte des Übergangs – Das Museum als soziales Gedächtnis. In: Thomas Dominik Meier und Hans Rudolf Reust: Medium Museum. Kommunikation und Vermittlung in Museen für Kunst und Geschichte. Bern/Stuttgart/Wien 2000, S. 33-48, dort S. 37 ff.

31

W. Zacharias spricht in diesem Zusammenhang von einem »Musealisierungsfeld«, das zum einen vom Musealisierungskontinuum der menschlichen Interessen (Kulturpolitik, Bildungsbedürfnisse etc.), zum anderen von der Bandbreite der Gegenständlichkeit zwischen Alltags- und Gebrauchsding einerseits, und Einzel- und Spitzending andererseits bestimmt wird. Vgl. Ders.: Zur Einführung. Zeitphänomen Musealisierung. In: Ders. (Hg.):Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung. Essen 1990, S. 7-30, dort S. 22 f.

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genstand vollständig zur Alltagswelt, so ist er nicht musealisiert. Andererseits: Je stärker seine Zugehörigkeit zum Museum ist, desto ferner steht er dem Alltag. Für beide Perspektiven gilt, dass folgende Parameter den Grad der Musealisierung bestimmen: das Alter des Gegenstandes, die Einstufung seiner perspektivischen Verwertbarkeit, seines materiellen Wertes und schließlich seines Potenzials, Andenken zu sein. Musealisierung und Zeit Musealisierte Gegenstände stehen für ein bestimmtes Verhältnis zur, aber auch einen bestimmten Umgang mit der Zeit. Die Umwandlung eines Zeugs oder Gegenstandes in ein Altes Objekt negiert, entfernt Zeit. Indem der Betrachter sich der passierten Bewandtnisganzheit des vorliegenden Gegenstandes annähert und ihre Ferne überwindet, verleiht er dem Gegenstand eine neue Bedeutung. Das Alte Objekt steht zwar nun nicht mehr in Gebrauch, wird aber doch als Fenster zum Fernen gezeigt und geschätzt. Die Linearität der Zeit wird durch eine Dialektik von nah und fern in gewissem Sinne aufgebrochen,32 denn: Einerseits stehen Alte Objekte in der Zeit – nämlich in der Zeit des Betrachters und in ihrer eigenen, physischen Zeit, die sich aus ihrer Materialität ergibt –, andererseits ist das, was sie bezeugen und worüber sie Aufschluss geben, eben längst passiert. Auf Grund dieses inneren Widerspruchs bildet das Alte Objekt eine Brücke zwischen dem Einst und dem Jetzt. Dies impliziert, dass Zeichen und Gezeigtes im ausgestellten Alten Objekt nicht klar voneinander getrennt sind. Die Zeigestruktur des Alten Objektes ist metonymisch: Es ist selbst Teil von dem, worauf es verweist. Dies rückt es in eine Position zwischen Kunstwerk und historischer Quelle: Es ist zu sehr uneindeutiges Fragment, um Gegenstand rein wissenschaftlicher Betrachtung zu sein, und zu sehr Träger lesbarer Spuren, um ein Kunstwerk zu sein. Das Alte Objekt kann das Einst mit dem Jetzt verbinden, weil es durch die Zeiten hindurch als ein und derselbe Gegenstand identifizierbar geblieben ist. Gerade weil die Identität des Gegenstandes stabil bleibt, kann er auch auf Wandel und Kontinuitätsbrüche verweisen. Ob der Gegenstand durch die Zeiten hindurch als selbig erkannt werden kann, hängt allerdings von der Gegenstandskonzeption des Betrachters ab. Es gibt Kirchen, die man als uralt betrachtet, obwohl die Steine, aus denen sie gebaut wurden, inzwischen

32

Dazu Gottfried Korff und Martin Roth (Hg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik. Paris 1990, Einleitung S. 17.

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ausgetauscht worden sind und nur noch die Form dem ursprünglichen architektonischen Konzept zu entsprechen scheint. Bei alten, immer wieder instand gesetzten Segelschiffen aus Holz verhält sich dies ähnlich. Bei anderen Gebäuden sind die Form und das Material zwar stabil geblieben, aber die Funktion hat sich grundlegend verändert, beispielsweise bei einem Teil des Amun-Tempels in Luxor, der nach seiner altägyptischen Verwendung als Haus des Staatsgottes und als Wirtschaftszentrum zur christlichen Kirche wurde und anschließend, bis auf den heutigen Tag, als Moschee gedient hat. Es ist aber auch möglich, dass sich die äußere Form und Funktion des Gegenstandes stark verändert haben, ohne dass seine Identität verloren gegangen wäre. So hat das Theater des Marcellus, das man heute in Rom besichtigen kann, nur noch wenig mit den gleichnamigen Theater des antiken Roms gemeinsam – allenfalls steht es noch am selben Platz und besteht zum Teil noch aus den alten Steinen. Aber es herrscht ein Konsens darüber, dass es nach wie vor das Theater des Marcellus ist. Letztlich ist die Identität des Gegenstandes durch die Zeiten hindurch ein Moment der Konstruktion des Gegenstandes selbst. Sie setzt lediglich eine minimale Kontinuität der materiellen Gegenstandsdimension voraus, die sich an der stofflichen Beschaffenheit, aber auch an der äußeren Form erweisen kann. In der Gegenwart des Betrachters sind Musealien nutzlos im Sinne von nicht verwertbar. Als nutzlose Dinge sind sie zwar nicht in physischer, aber doch in lebensweltlicher Hinsicht aus der Zeit geworfen worden. Der Betrachter empfindet die Musealien als unbewegt von den Dingen des Alltags, daher als in sich ruhend und zeitlos. Gerade aus diesem Grund können sie »ihre« alte Zeit in die neue Zeit des Betrachters inserieren und ihm die Zeitlichkeit der Zeit selbst vor Augen führen: Sie machen deutlich, dass die Zeit kein Durchhüpfen von Punkten auf einem Zeitpfeil, sondern ein ständiges Wiederholen von Gewesenem ist. Dieses Wiederholen ist kein Repetieren, sondern eine Art Rekreation. Diese Rekreation ist die Zukunft des vergangenen Zeugs oder Gegenstands in neuer Gegenwart und eine ständige Vorwegnahme von weiterer Dauer. Alte Objekte strukturieren Zeit weder synchron noch diachron, sondern anachron. Sie importieren eine gewesene Zeit in eine gegenwärtige Zeit, in die sie, die gewesene Zeit, streng genommen gar nicht gehört. Die für diese Struktur charakteristische Zeitverschachtelung ist nicht physikalischer, sondern kultureller Art und kann daher nicht als das simple Vorwärts oder Rückwärts eines Zeitpfeils beschrieben werden. Der Zeitpfeil der Musealisierung zeigt nach rückwärts, beschreibt eine Kurve und kehrt sozusagen zur Gegenwart des Betrachters zurück. Denn stets ist dieser es, von dem aus die Bewegung des Pfeils einen Sinn als »vorwärts« oder »rückwärts« ergibt. Stets ist

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es auch der Horizont seines Vorwissens, seiner Interessen und seiner Erwartungen, innerhalb dessen sich die Geschwindigkeit und der Weg des Musealisierungspfeils bestimmt. Daraus ergibt sich, dass Musealisierung des Gegenstandes nicht einfach nur durch Anpeilung eines vergangenen Punktes auf der Zeitachse entsteht. An einem Gegenstand wie dem vergoldeten Thron Tutanchamuns, der zur Ausstattung des 1922 gefundenen Pharaonengrabes gehört, wird dies deutlich: Der heutige Betrachter des Throns richtet seinen geistigen Blick nach rückwärts, in eine Zeit lange vor seiner Lebenszeit, als der Pharao bestattet wurde. Der Thron aber, mit seinen Fayence-Verzierungen auf der Rückenlehne, welche die Scheibe des Sonnengottes Aton, den König und seine ihn salbende Gemahlin zeigt, verweist auch in die Vorvergangenheit, gibt sozusagen dem Zeitpfeil einen zusätzlichen Impuls zurück. Denn die Verzierungen der Rückenlehne weisen alle Stilmerkmale der Amarna-Epoche auf, des kurzen monotheistischen Zwischenspiels in der Geschichte Altägyptens. Als Tutanchamun starb, war aber die Rückkehr Ägyptens zum Polytheismus, dem Amunkult und der traditionellen, hieratischen Formensprache der Kunst schon längst im Gange. Der Thron war mit seinen Darstellungen also schon ein Anachronismus, als das Grab verschlossen wurde, ein unerwünschtes Überbleibsel aus der Zeit, als Tutanchamun sich noch Tutanchaton genannt hatte. Für den wissenden, nachgeborenen Betrachter lenkt der Thron den Zeitpfeil aber auch nach vorne, in die Zeit der Restauration und der völligen Vernichtung von Zeugnissen der Amarna-Periode, die erst unter Tutanchamuns Nachfolger ihre Vollendung erreichen sollte.33 Der Thron bezeugt also einen Kipppunkt der ägyptischen Geschichte – zwischen einer Epoche und dem Versuch, sie völlig aus dem kulturellen Gedächtnis zu streichen. Musealisierung als Verfügbarmachung des Unverfügbaren Das imaginäre Überwinden von Zeiträumen, das durch Musealisierung ermöglicht wird, lässt die Grenzen des alltäglichen Besorgens hinter sich, aber auch die des unmittelbaren Wahrnehmungsumfeldes. Diesen Punkt hebt Chrisztof Pomian hervor. Er nennt Gegenstände, die keinen alltäglich-praktischen, sondern einen kulturellen Zweck haben, Semiophoren. Die wesentliche Eigenschaft der Semiophoren besteht für Pomian darin, dass sie »Unsichtbares« repräsentieren, also Seiendes, das nicht wahrgenommen und

33

Eine gute Abbildung des Throns findet sich in Kurt Lange und Max Hirmer: Ägypten. Architektur, Plastik, Malerei in drei Jahrtausenden. München 1985, S. 194 f.

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nicht gespürt werden kann.34 Die sichtbare Welt zerfällt für Pomian in nützliche Dinge, und Gegenstände, die zwar nicht nützlich, aber gleichwohl wertvoll sind, da sie auf Unsichtbares verweisen und so den Handlungsspielraum des Menschen über den Kreis seiner sinnlich unmittelbar erfahrenen Umgebung hinaus erweitern. Pomian hält den Bezug auf Unsichtbares auch für das entscheidende Merkmal der gesammelten, museal relevanten Gegenstände, die für ihn eine Untergruppe der Semiophoren darstellen. Dass Musealien Unsichtbares repräsentieren, ist unbestreitbar, denn das Innerweltliche, auf das Musealien verweisen, ist als Gewesenes ja den Sinnen nicht mehr zugänglich. Indessen ist eine solche Charakterisierung unpräzise. Sie böte, wenn sie allein zur Identifizierung von Musealien herangezogen würde, keine Möglichkeit zu deren eindeutiger Unterscheidung von anderen Gegenständen. Die Fähigkeit, Unsichtbares zu repräsentieren, zeichnet sehr vieles aus, was ist – nicht nur kulturell bedeutsame Gegenstände, sondern auch solche, die in alltäglichem Gebrauch stehen. Diese Charakterisierung trifft keinen Wesenszug der Musealie, weder des Artefakts noch des Naturafakts. Auch ein Verkehrsschild, das die Gefahr von Steinschlag anzeigt, oder ein ausschlagender Geigerzähler verweisen auf Unsichtbares. Sie tun dies jedoch auf andere Weise als beispielsweise der Thron Tutanchamuns. Das Verkehrsschild und der Geigerzähler sind Zeug, das anzeigt. Ihre Bedeutung ist operativ: Sie erschließt sich in einem Handlungsganzen, dessen dynamischer Teil sie sind. Sie sind konstruiert und produziert worden, um ein den menschlichen Sinnen zunächst unzugängliches, unsichtbares Faktum, beispielsweise das Risiko eines Unfalls oder der radioaktiven Strahlung, in den Bereich der Wahrnehmbarkeit zu transponieren. Anders sähe es aus, wenn man den Geigerzähler musealisierte. Seine semiotische Verweiskraft würde sich ändern: Vom Werkzeug könnte er einerseits zum Beleg für eine bestimmte Technologie, andererseits zum Symbol für Endzeit und Risikogesellschaft werden. Dergestalt zum Alten Objekt geworden, hätte der Geigerzähler aber auch eine geschichtliche Dimension gewonnen, die mehr wäre als das bloße Einnehmen eines Punktes auf der Zeitachse: Er wäre in sich selbst zeitlich, geschichtlich geworden und würde das anzeigen, was er nicht mehr ist. Dies ist ein zentraler Punkt in Heideggers »Sein und Zeit: »Im Museum aufbewahrte »Altertümer«, Hausgerät zum Beispiel, gehören einer vergangenen Zeit an und sind gleichwohl noch in der ›Gegenwart‹

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Pomian, Ursprung des Museums, S. 49 ff.

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vorhanden. Inwiefern ist dieses Zeug geschichtlich, wo es doch noch nicht vergangen ist? Etwa nur deshalb, weil es Gegenstand historischen Interesses, der Altertumspflege und Landeskunde wurde? Ein historischer Gegenstand aber kann dergleichen Zeug doch nur sein, wenn er an ihm selbst irgendwie geschichtlich ist.«35 Das Entscheidende am Unsichtbaren, auf das Alte Objekte verweisen, ist nicht, dass es nicht gesehen werden kann, sondern dass es für uns nicht verfügbar ist. Dieses Unsichtbare kann aus verschiedenen Gründen unverfügbar sein: weil man es sich nicht leisten kann, weil es als dem Jenseits zugehörig interpretiert wird oder von den Sinnen des Menschen nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann; weil es der Vergangenheit angehört, weil es – grundsätzlich oder in dieser Art – nie vorhanden war oder weil es seinem Wesen nach nicht konkret genug ist, um gesehen werden zu können. Edelsteine repräsentieren Reichtum und Ewigkeit, Heiligenfiguren und Reliquien das Jenseits und das europäische Mittelalter, der Versuchstisch Otto Hahns die Entdeckung der Radioaktivität. An exponierter Stelle wachsen die Gegenstände über sich selbst hinaus: Sie können die Wahrheit versunkener oder noch gegenwärtiger Lebenswelten, das Jenseits, das räumlich weit Entfernte, das historisch Vergangene, aber auch die Gültigkeit von Naturgesetzen verkörpern. Museale Bedeutungsträger führen uns das vor Augen, was wir nie und nimmer haben können. Sie verweisen auf eine Fundamentalbestimmung unserer Existenz, nämlich auf unsere Endlichkeit. Den Gegenständen Reverenz erweisen Diese Memento-Mori-Funktion der Alten Objekte geht aber auch mit einer Entschädigungsleistung einher. Musealien vermögen die Menschen für eine besondere Art von Ohnmacht zu entschädigen, die angesichts der Unfähigkeit zutage tritt, sich bestimmter Dinge zu bemächtigen. In dieser Hinsicht sind sie Surrogat für das nicht Verfügbare, das sich in Exponaten wenigstens als Spur oder Ahnung konkretisiert. In diesem Sinne ist die Betrachtung eines Alten Objektes auch ein symbolischer Machtzuwachs für den Betrachter im Sinne einer Inbesitznahme, die freilich unvollständig bleiben muss. In anderer Hinsicht aber bietet die Musealie die Chance, den Gegenstand sein zu lassen, indem man nichts mehr von ihm will, als seine Bedeutungen zu erkunden. Derjenige, der diese Chance wahrnimmt, erweist dem Gegenstand seine

35

Heidegger, Sein und Zeit, S. 380.

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Reverenz und respektiert seine Eingeständigkeit, anstatt sich seiner zu bemächtigen. Alte Objekte weisen eine strukturelle Ambivalenz auf: Einerseits verweisen sie auf ihre ursprüngliche, unverfügbare Bewandtnisganzheit, andererseits werden sie in der Nachwelt neu funktionalisiert: als Zeitzeugnis, als Symbol und als Objekt ästhetischer Anschauung, als Trophäe oder als prestigeträchtige Kostbarkeit. Diese Janusköpfigkeit lässt sie rätselhaft wirken, ein Eindruck, der sich auch dann nicht verliert, wenn eine wissenschaftlich überzeugende Rekonstruktion und Klärung der ursprünglichen Bewandtnisganzheit des Objektes vorzuliegen scheint. Das Alte Objekt bleibt immer Spur und Fragment, und daher bleibt es auch immer ein Rätsel. Eine völlig enträtselte Musealie würde eine vollständige Rekonstruktion ihrer ursprünglichen Welt voraussetzen. Dies wäre ein uneinholbarer Anspruch. Wenn er sich einlösen ließe, so würde das Alte Objekt seinen Sinn verlieren. Doch Alte Objekte sind nicht nur Vehikel, die das Einst in das Jetzt tragen. Sie haben das Vermögen, persönliche Erinnerungen zu wecken. Darüber hinaus sind sie auch Projektionsflächen für die Erwartungen und Gefühle der Betrachter und für einen Regressionswunsch, der darauf abzielt, zu einer Zeit »vor« jeder Zeit zurückzukehren.36 Diese Zeit ist eine mythische Zeit, in der sich die Dinge noch nicht im Alltag abnutzen, ihr alltäglicher Gebrauch nicht zu ihrem Aufgehen in Routineverrichtungen führt und sich noch keine Gegensätze zwischen Zeichen und Bezeichnetem, Bild und Abbild, Kopie und Original gebildet haben – weil das Echte und Eigentliche, das Gemeinte und das Verweisende im Gegenstand selbst zur Deckung gelangen. Dieser Regressionswunsch liegt letztlich allen Tendenzen der Musealisierung zugrunde. In seiner trivialen Variante, der Nostalgie, tritt die Sehnsucht nach der ursprünglichen Vor-Zeit am deutlichsten zutage. Dies ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass dem Phänomen der Musealisierung die Sehnsucht nach der Urzeit um ihrer selbst willen zugrunde läge. Hinter der Musealisierung steht vielmehr der Wunsch, die eigene Individualität in der Welt zu verorten. Bezug nehmend auf den Referenzpunkt eines von ihm selbst geschaffenen Ursprungs will der Erzeuger und Betrachter des Alten Objektes zu einer Art persönlicher Genealogie gelangen – jenseits seiner familiären und biologischen Wurzeln.

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Baudrillard, System der Dinge, S. 98 f.

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II.4 Die dunkle Vergangenheit des Alten Objektes Das Alte Objekt und der Abfall Im Zuge seiner Biographie und Geschichte hinterlässt der Mensch, in der Regel ohne dass es ihm bewusst wird, einen wahren Kometenschweif von verbrauchtem Zeug. Für diese Hinterlassenschaft von Lebensläufen gibt es Begriffe wie Trödel, Schrott, Abfall oder – bezogen auf ganze Gesellschaften – Zivilisationsmüll. Zeug, das nicht mehr gebraucht wird, entschwindet zuerst aus dem Kreis des alltäglich Besorgten, dann aus dem des biographisch und gesellschaftlich Relevanten. Schließlich – sofern es sich nicht plötzlich, wie im Fall des radioaktiven Mülls, als gefährlich erweist und neue Beachtung findet – entgleitet es dem Ereignishorizont der Zivilisation und dabei auch mehr und mehr deren Erinnerung. Zeug wird im übertragenen oder tatsächlichen Sinne des Wortes verschüttet. Diesem Prozess kann man eine gewisse Notwendigkeit nicht absprechen, denn jede Generation muss dafür Sorge tragen, dass sie nicht an der Hinterlassenschaft ihrer Vorfahren erstickt. Die nicht mehr benötigten Trümmer mikro- und makrohistorischer Prozesse erregen allenfalls noch als Wegzuräumendes, beiseite zu Schiebendes Aufmerksamkeit. Sie entschwinden aus dem Kreis der Umsicht und verwirbeln zu einem diffusen Kielwasser menschlicher Affären, das anfangs zwar noch kräftig leuchten mag, bald aber verdämmert. Als Abfall gerät Zeug in den blinden Fleck menschlichen Tuns und ins Abseits menschlicher Interessen. Die Bandbreite des Abfalls reicht vom Inhalt eines Papierkorbs bis zum Satellit, der das Sonnensystem verlassen hat und aufhört, Funksignale zu versenden. Doch kann das Erzeugen und die Beseitigung von Abfall die Chance einer Reanimation und Renaissance des Weggeworfenen in sich bergen. Insofern ist es zutreffend, Abfall als »umgedrehtes Archiv« zu bezeichnen.37 Wird Abfall wieder entdeckt und freigelegt, so ist es möglich, ihn in einen neuen Bezugsrahmen zu setzen, der einen gemeinsamen, stabilen Horizont zwischen Betrachter und Zeitzeugnis stiftet. Ausstellungen und Sammlungen sind solche Rahmen. Dieser Schritt allerdings setzt ein neues Interesse an der ursprünglichen Bewandtnisganzheit des Gegenstandes voraus. Dieser erregt nicht mehr Anstoß, weil er nicht mehr verwendet werden kann, sondern macht neugierig. Historiker und Museumsleute wühlen von Berufs wegen in Abfall, nur

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Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 411.

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dass sie diesen Abfall Quellen nennen. Quellen sind Überreste, die Aufschluss geben über versunkene Welten, deren Baustoff sie einst waren. Jeder Abfall kann zur Quelle werden. Wenn Verschüttung nicht gleich bedeutend mit Vernichtung ist, kann Abfall wieder in den Horizont der Zivilisation eintreten und über seine ursprüngliche Bedeutsamkeit befragt werden. Dazu bedarf es der Entdeckung des Abfalls. Ein moderner Archäologe beispielsweise kann eine Sandale in einer altrömischen Latrine finden, die ein Legionär vor 2000 Jahren weggeworfen hatte. Diese Sandale, die einst als unbrauchbar eingeschätzt und entsorgt, das heißt aus dem Kreis des alltäglichen Besorgens heraus genommen worden war, ist mit seiner archäologischen Freilegung wieder in den Interessenkreis der Menschheit eingetreten. Allerdings unterscheidet sich das neu Vergegenständlichte von dem Zeug, das vor seiner Verschüttung besorgt wurde. Die ursprüngliche Funktion, die von den Ausgräbern erschlossen werden kann, ist nur noch beschreibbar, aber nicht mehr vollziehbar. Allenfalls können die materiellen Träger dieser Funktion – Sohlen, Nägel, Schnürsenkel – noch als Anhaltspunkte und Prüfsteine ihres einstigen Funktionierens verwendet werden, das zwar nicht mehr vollzogen, aber immerhin doch nachvollzogen werden kann. Musealisierung bedeutet, dass die ursprüngliche Bewandtnisganzheit geistig rekonstruiert wird – wobei eine solche Rekonstruktion immer nur als Annäherung möglich ist. Diese Art der Rekonstruktion ist eine Wiederholung, ähnlich wie ein lebendiges Tier im ausgestopften Tier wiederholt, aber nicht wieder hergestellt wird. Der Nachvollzug ist nicht mehr im passierten Leben möglich, das Ding in seinem ursprünglichen Weltzusammenhang gibt es nicht mehr. »Ceci n’est pas une sandale« ist man geneigt, in Abwandlung eines Bildtitels des surrealistischen Malers René Magritte zu sagen.38 Die Entdeckung und Bewertung von Abfall oder altmodisch Gewordenem ist nicht der einzige Weg, der von besorgtem und gemachtem Zeug zum Alten Objekt führt.39 Ein anderer Weg ist der des spektakulären, öffentlichkeits-

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Das bekannte Bild von Magritte heißt »Ceci n’est pas une pipe«. Durch diesen Titel wird klar, dass das Bild keine Pfeife, sondern die Abbildung einer Pfeife zeigt.

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Die nicht ganz richtige, weil zu viele Ausnahmen zulassende Theorie, dass der Zustand des Abfalls die Voraussetzung der Musealie sei, ist in der Literatur häufig vorzufinden. In die Welt gesetzt hat diese Theorie Michael Thompson. Ders: Theorie des Abfalls. Stuttgart 1982. Ferner Krzysztof Pomian: Museum und kulturelles Erbe. In: Gottfried Korff und Martin Roth (Hg.): Das historische Museum. Labor,

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wirksamen Aktes. Ein Beispiel: Der Habsburger Kaiser Joseph II., eine der Symbolfiguren des Aufgeklärten Absolutismus des 18. Jahrhunderts, stellte sich persönlich hinter einen Pflug und bearbeitete damit einen Acker, um seine Bodenständigkeit und Bauernfreundlichkeit zu demonstrieren. Der Pflug wurde unmittelbar nach diesem Ereignis im Haus der Böhmischen Stände in ein Denkmal umgewandelt – ohne jemals Abfall gewesen zu sein.40 Auch geraubte Gegenstände, die in der europäischen Museumsgeschichte häufig den Grundstock für Museumsgründungen gebildet haben, sind niemals durch das Stadium des Abfalls gegangen, sondern als Trophäen sofort zu Musealien geworden. Auch naturgeschichtliche Zeugnisse sind nicht Abfall gewesen, denn Abfall kann nur werden, was irgend wann einmal der Zivilisation angehört hat. Indessen haben Artefakte wenn nicht das Stadium des Abfalls, so doch zumindest das Stadium der Entbehrlichkeit durchlaufen, ehe sie als museal interessant eingestuft werden – auch wenn die oben beschriebenen Ausnahmen möglich sind. Das außer Betrieb und Gebrauch Stehende oder durch Dysfunktionalität Anstoß Erregende erscheint in sich abgeschlossen genug und erlaubt eine Distanz, die groß genug ist, um es zum Gegenstand der Erinnerung und Erkundung des Gewesenen werden zu lassen. Erst als ein solcher Gegenstand kann es aus der Kategorie des Vergänglichen in die Kategorie des Dauerhaften, Historischen übertreten. Erst das radikale Zerschneiden von Traditionslinien, wie es sich am deutlichsten in der Erzeugung von Abfall zeigt, kann das Bedürfnis wecken, Tradition zu rekonstruieren: »Wenn Geschichte nicht mehr in Kontinuität seiner eigenen Identität steht, der historische Sinn sich nicht mehr aus der Lebensgeschichte erklärt und Vergangenheit zu verschwinden droht, erhält man sie künstlich oder stellt sie wieder her.«41

Schaubühne, Identitätsfabrik. Frankfurt am Main/New York 1990 S. 41-65, bes. S. 43. Ferner Michael Fehr: Müllhalde oder Museum: Endstationen in der Industriegesellschaft. In: Michael Fehr und Stefan Grohé (Hg.): Geschichte – Bild – Museum. Zur Darstellung von Geschichte im Museum. Köln 1989, S. 182-196, bes. S. 182 f. Schließlich Anja Wohlfromm: Museum als Medium. Neue Medien in Museen. Überlegungen zu Strategien kultureller Repräsentation und ihre Beeinflussung durch digitale Medien. Köln S. 2002, S. 26. 40

Sturm, konservierte Welt, S. 28.

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A.a.O., S. 27.

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Mit anderen Worten: Was wir weiter besorgen, brauchen wir auch nicht zu musealisieren, denn wir glauben es ja zu kennen beziehungsweise stellen die Frage überhaupt nicht, ob wir es kennen. Katastrophen und schleichende Übergänge Die Manifestationen menschlichen Lebens entschwinden auf eine besonders radikale Weise aus dem Horizont menschlichen Besorgens, wenn sich eine Katastrophe ereignet, das jähe Aus-dem-Leben-Gerissen-Werden einer menschlichen Gemeinschaft inmitten ihrer materiellen Kultur. Bekannte Beispiele für solche Katastrophen sind das Verschwinden Pompejis unter der Asche des Vesuvs im Jahre 79 n.Chr., aber auch der Untergang der Titanic im Jahre 1911. Wenn solchermaßen Verschüttetes oder Versenktes ausgegraben beziehungsweise gehoben wird, so ist das öffentliche Interesse besonders groß, gerade weil die geborgenen Artefakte nicht als wertlos ausgemustert, sondern aus dem Kreis des alltäglichen Besorgens gerissen worden sind, ihre Welt also nicht verdämmerte, sondern mit einem Mal ausgelöscht wurde. Der katastrophische Untergang – sofern er nicht nur vernichtet, sondern auch konserviert – ermöglicht die Rekonstruktion eines Augenblicks im Leben, da er die Artefakte in ihrer alltäglichen Platzierung und Konstellation belässt. Andererseits kann sich der Übertritt in die Vergessenheit und Unerkanntheit auch als schleichender Übergang vollziehen. Dieser Weg lässt sich in idealtypische Schritte unterteilen: Zuerst wird Zeug aus seinem Verwendungsumfeld gelöst, weil es nichts mehr taugt. Das Werkzeug ist nicht mehr in der Werkstatt, das Götterbild nicht mehr im Tempel, die Münze nicht mehr im Portemonnaie. Das Interesse an ihnen lässt nach, da sie nicht mehr verwendet werden. Auch ihre Bedeutung verblasst. In einem zweiten Schritt ist das überlieferte Ding unverständlich und rätselhaft geworden, so dass es Anstoß erregt: Das Werkzeug ist technisch überholt oder wird nicht mehr verstanden, das Götterbild wird nur noch als großer Stein gesehen, der Wert der Münze liegt im Dunkeln. Schließlich geraten die Dinge in Vergessenheit. Werden sie wieder entdeckt, so können sie eine neue Bedeutung als Andenken annehmen. Dieser schleichende Übergang kann auch bedeuten, dass das langsam in Vergessenheit geratene Zeug nacheinander verschiedene Funktionen erfüllt. Ein Auto, das nicht mehr fährt, kann noch als Ersatzteillager, als Werbeträger und auch als Spielplatz für Kinder dienen. Zeug wird als altmodisch empfunden, wenn es zu konkurrierenden Dingen in einem Rückständigkeitskontrast steht. Es fällt dadurch auf und tritt aus dem Status des Zeugs heraus. An altmodischen Gegenständen ist stets eine Art Zeitverschiebung wahrnehmbar, ein Hineinragen von Weltbestandteilen in die Gegenwart, die entweder als fehl am Platze abgelehnt, oder aber

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als Felsen in der Brandung des Wandels wertgeschätzt werden. Unmittelbar ist die Prozessualität der Geschichte nur am altmodisch Eingeschätzten zu spüren. An ihm sind die Reibungen selbst wahrzunehmen, die durch den historischen Prozess verursacht werden. Das Alte Objekt dagegen scheint als Rest und Spur der Geschichte starr zu sein. Dies stimmt zwar nicht, denn auch die Einschätzungen des Alten Objektes ändern sich mit den Änderungen des Horizontes derer, die es aufbewahren und betrachten. Doch verläuft die geschichtliche Bewegung an ihm in der Regel träge. Vom Betrachter ist diese Bewegung nur wahrzunehmen, wenn er die historische Bewegtheit seines eigenen Standpunktes begreift. Die Grenzen zwischen Altmodischem und Modischem sind fließend. Doch was beide letztlich doch unterscheidet, das sind die Zeitspuren, die sich ins altmodisch Gewordene eingegraben haben. Ein Paradebeispiel für einen solchen Gegenstand ist der deutsche Eisenbahnwaggon, der zuerst Hermann Göring, später Konrad Adenauer als Reisewagen diente und mit dem noch Willy Brandt 1970 nach Erfurt zum ersten Staatsbesuch eines Bundeskanzlers in die DDR fuhr. Heute ist der Wagen im Haus der Geschichte in Bonn ausgestellt. Das altmodisch und unpraktisch Gewordene erscheint letztlich zum Alten Objekt erstarrt. Alte Objekte repräsentieren aber nicht nur etwas, das sie nicht mehr sind, sondern sie stehen auch für sich selbst. Die Ruine ist nicht zuletzt auch Ruine. Der Reiz der Ruine liegt nicht in der Chance ihrer Komplettrestaurierung, sondern gerade darin, ein Überrest besonderer Art, sozusagen verklärter Abfall zu sein. Der Bewunderer der Ruine will gar nicht, dass sie sich in einen Tempel verwandelt, oder will es nur in der Einbildungskraft. Die verlorene Welt, die originäre Bewandtnisganzheit des Baus interessiert ihn nur in der Brechung durch die Ruine – mag diese auch nur ein kärglicher Überrest sein. Jede Verfügbarmachung dieser entschwundenen Welt, etwa durch den Versuch eine hypernaturalistischen Rekonstruktion im Maßstab 1 : 1, wäre nicht nur ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, sondern würde auch den ästhetischen Reiz der Betrachtung zunichte machen, der gerade aus der Abwesenheit der ersten Welt des Betrachteten resultiert. Man braucht nicht Ästhet oder Romantiker zu sein, um das Defekte, vielleicht sogar das Heruntergekommene höher zu schätzen als das Intakte, das der Norm Entsprechende oder das Funktionierende. In der Gewichtung eines jeden Betrachters kann Verfallenes, Kaputtes, Angejahrtes, mit anderen Worten: kann der Rest wichtiger werden als das Ganze, von dem der Rest ein Rest ist. Denn nur der Rest, und nicht das scheinbar Vollständige, ermöglicht die Befriedigung des Komplettierens im Geiste. So ist der kaputte Blechkreisel aus der Kindheit mehr als ein Verweis auf weit zurückliegende Jahre. Er ist

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eben dieser alte Blechkreisel, von dem man sich – auch wenn er lange Jahre zerbeult und unbeachtet auf dem Speicher gelegen hatte – nie hat trennen können und dem man ansieht, wie alt er geworden ist – was wiederum darauf verweist, wie alt man selbst geworden ist. Sein sentimentalisches Potenzial, seine Fähigkeit, ein Gefühl der Rührung zu erzeugen, beruht gerade auf seinen Verschleißspuren und seiner Patina. Denn aus dieser lässt sich die teils traurige, teils beruhigende Gewissheit ablesen, dass die versunkene Welt, deren Überrest der Kreisel ist, zwar im Kopf evozierbar, aber nicht wieder herstellbar ist. Verschleißspuren und Patina offenbaren die Endlichkeit sowohl des Betrachteten als auch des Betrachters und eröffnen die Chance eines Wehmutsgefühls, aus dem sich Schmerz, aber auch Lust ziehen lässt. Dieses Gefühle können sich in peinlich berührender Nostalgie äußern, aber auch in sublimer Trauer darüber, dass die verlorene Zeit verloren bleibt. Die Wehmut angesichts der verlorenen Zeit kann durch das Bewusstsein gedämpft werden, dass wenigstens der Überrest, den man gerade vor sich hat, dem Zahn der Zeit entkommen ist. Sie kann sich aber auch mit einem Überlegenheitsgefühl verbinden, wenn nämlich der Betrachter des Alten Objektes sich wie ein alles überblickender Adler fühlt, der über den Zeitläuften wie über einer Landschaft schwebt. Von der Auferstehung des Abfalls Als Zwischenergebnis lässt sich Folgendes festhalten: Alte Objekte sind gerade deshalb geschichtlich, weil sie der Vergangenheit entrissen worden sind. Objekte dieser Art sind in sich selbst zeitlich und weisen in sich selbst die Struktur der Geschichtlichkeit auf: Über ihre materielle Beschaffenheit hinaus repräsentieren sie eine Bewandtnisganzheit, die nicht mehr da, sondern passiert ist. Sie repräsentieren einen versunkenen, nicht mehr dem Leben des Betrachters zugehörigen Zusammenhang von Zeug, Gegenständen und Verwendungen, der nur noch gedacht und erinnert, aber nicht mehr gelebt werden kann. Häufig, aber keineswegs immer über die Zwischenstation des Abfalls wird Zeug zum musealen Gegenstand mit rekonstruierter Bedeutung. Als Altes Objekt, das vom Finder beziehungsweise Betrachter als Hinterlassenschaft einer verstorbenen Welt erkannt wird, tritt der Gegenstand in eine neue Welt ein, die zwar chronologisch eine Nachwelt, logisch aber – im Sinne einer Ermöglichung des Alten Objektes – eine Vorwelt ist. In dieser neuen Welt kann das Alte Objekt als Chiffre seiner ersten, ursprünglichen Welt gelesen werden. In seiner neuen Welt ist es als ehemals Innerweltliches seiner ersten Welt gegenwärtig und rettet diese als Rest, auch wenn es aus der Fassung seiner ursprünglichen Bewandtnisganzheit gefallen ist.

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Die Aufeinanderfolge von Herstellung, Gebrauch, Verbrauch, Ausmusterung, Abfall, Entdeckung und Musealisierung entspricht einem gedanklichen Muster, das sich auch in der christlichen Heilsgeschichte findet, nämlich als Abfolge von Geburt, Leben, Sterben, Tod, Auferstehung und Verklärung. Dies ist nicht die einzige Nähe des musealisierten Gegenstandes zur Sphäre der Religion. Die innere Struktur des Alten Objektes kann als ein säkularisierter Reflex der religiösen Vorstellung aufgefasst werden, dass das Göttliche in der irdischen Sphäre – beispielsweise als Leib des Herrn – unmittelbar anwesend sein könne. Denn das Alte Objekt setzt an die Stelle eines Als Ob, wie es kommunikative, auf Zeichensystemen beruhende Handlungen bestimmt, die eigene Tatsächlichkeit und Echtheit. Kraft seiner Echtheit bedeutet das Alte Objekt nicht nur das, worauf es verweist, sondern ist es auch. Es zeigt sich selbst und auf sich selbst, und dieses Zeigen ist selbst ein Moment von dem, was es ist. Mit anderen Worten: Im Rahmen des ausstellenden Zeigens offenbart sich am Alten Objekt das Originale und Authentische, ein Punkt, der uns noch weiter beschäftigen wird. Dementsprechend hallt in jeder musealen Ausstellung auch die Konzeption des Allerheiligsten nach, eines Raumes, in dem das Göttliche tatsächlich, und nicht nur symbolisch anwesend ist.42

42

In diesem Zusammenhang spricht Hans Robert Jauß von der »sekundären Sakralisierung der Authentizität«. Ders.: Spur und Aura (Bemerkungen zu Walter Benjamins »Passagen-Werk«). In: H. Pfeiffer, H.R. Jauß und F. Gaillard: Art social und art industrial. Funktionen der Kunst im Zeitalter des Industrialismus. München 1987, S. 19-47, dort S. 24 f.

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➔ Zeigen und Sammeln



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III. Zeigen und Sammeln

Durch intersubjektiven Austausch kann ein Konsens zustande kommen, der die Bedeutung eines Gegenstandes zu einer überindividuell verständlichen Größe werden lässt.1 Der erste Schritt zu einem solchen Konsens erfolgt, wenn der Gegenstand gezeigt wird. Zeigen gehört zum Urbestand des kommunikativen Repertoires der Menschheit. Es ist das verweisende Mitteilen des Informationswertes, der einem Gegenstand anhaftet, sei es, dass der Gegenstand etwas belegt – zum Beispiel als Trophäe –, sei es, dass er eine Handlung vorbereitet – beispielsweise als Plan –, sei es schließlich, dass der gezeigte Gegenstand selbst erkannt und begriffen werden soll, wie etwa der Sternenhimmel, den man zeigend erläutert. Zeigen ist stets ein sinnlicher und ein kognitiver Akt. Er bedarf der Materialität des gezeigten Gegenstandes, um die Sinne derjenigen zu affizieren, denen gezeigt wird. Er setzt aber auch die Medialität des Gegenstandes voraus, denn man zeigt, um eine Botschaft zu vermitteln. Jeder Vorgang des Zeigens ist einerseits kulturell bedingt, da er Sprache – und damit auch Konsens – voraussetzt, andererseits ist er selbst eine kulturelle Handlung, die Bedeutung feststellt und an intersubjektiv gültige Zeichensysteme bindet. Dabei trägt Zeigen auch zur Konstituierung des Gegenstandes selbst bei, insofern dieser zum sozial wahrgenommenen Gegenstand wird. Erst ein sozial wahrgenommener Gegenstand kann besprochen und beschrieben werden. Erst der sozial wahrgenommene Gegenstand hat Bedeutung als Bestandteil der Kultur. Und Kultur »ist deshalb öffentlich, weil Bedeutung etwas Öffentliches ist.«2 Dagegen ist Sammeln nicht notwendigerweise eine kommunikative Handlung. Die kommunikativen Aspekte des Sammelns sind, sofern vorhanden, eher Beiwerk, das nicht zu seinem Kern gehört. Gleichwohl sind Sammeln und Zeigen miteinander verzahnt, besonders innerhalb des Museumsbetriebs: Was man gesammelt hat, soll sich als Teil der Sammlung zeigen – zumindest für den Sammler. Und was man zeigen oder gar ausstellen will, muss vorab gesammelt worden sein und stellt selbst, wenn es ausgestellt wird,

1

Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Ernst E. Boesch zu den Begriffen Konnotation und Denotation. Ders., Das Magische und das Schöne, S. 46 ff.

2

Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M. 1997, S. 18.

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immer auch eine Sammlung dar. Das museale Sammeln hat, wie zu zeigen sein wird, dieselbe Wurzel wie das museale Zeigen. Beide versetzen Gegenstände. Das heißt, sie lösen Gegenstände aus ihrem ursprünglichen Weltzusammenhang, schaffen für sie einen neuen Rahmen und verändern dadurch ihre Bedeutung. Als Ausstellung oder Sammlung Alter Objekte umschließt dieser neue Rahmen drei Wirklichkeitsebenen, die miteinander korrespondieren: die Ebene der thematisierten Wirklichkeit, die Ebene der Materialität der Objekte und die Ebene des Betrachters. Nicht unähnlich ist die Versetzung, die ein Reisender durch seine Reise erfährt, so dass die Fremde und sein Zuhause miteinander korrespondieren und durch die Kontinuität seiner Person verbunden bleiben. III.1 Zeigen Handlungsbegleitendes und permanentes Zeigen Ein Zeigender will stets einem oder mehreren etwas zeigen, sich über die Bedeutung des Gezeigten austauschen und verständigen. Doch benutzt der Zeigende den Gegenstand nicht, solange er zeigt. Der gezeigte Gegenstand oder die gezeigte Tätigkeit wird vorübergehend aus dem Getriebe zweckhaften Handelns genommen. Wenn eine Tätigkeit gezeigt werden soll, und kein Gegenstand – beispielsweise die Zubereitung einer Suppe –, so geht es dem Zeigenden darum, die angemessene Durchführung der Tätigkeit zu demonstrieren, und vorerst nicht um deren Ergebnis. Der Akt des Zeigens verlangt nach Distanz zum Gezeigten; er setzt die Unterscheidbarkeit von Zeigendem und Gezeigtem voraus. Kein Instrumentalisierungshandeln, das Subjekt und Gegenstand umgreifen würde, darf diesen Unterschied verwischen. Dies gilt selbst dann, wenn der Zeigende auf sich selbst zeigt. In diesem Fall wird das gezeigte Selbst zu einer objektivierten Fiktion, so dass wenigstens der Schein seiner Unterscheidbarkeit vom zeigenden Selbst entsteht. Dass der zu zeigende Gegenstand nicht benutzt wird, trifft sogar für Gegenstände zu, die für das Zeigen hergestellt worden sind und deren Zweck sich im Zeigen erfüllt, beispielsweise für eine Straßenkarte. Denn während man die Straßenkarte benutzt und mit ihrer Hilfe einen Weg zeigt, wird sie selbst gerade nicht gezeigt. Man hat zur Karte nicht die Distanz, die für ihr Zeigen wesentlich wäre, sondern bettet sie in Handlung ein. Umgekehrt verwendet man die Straßenkarte nicht als Straßenkarte, wenn man sie selbst zeigt. Man kann zwar zeigen, wie man sie liest. Streng genommen tut man in diesem Zeigen aber nur so, als ob sie gebraucht werde, und stellt die Dienlichkeit der Karte nur nach. Es gehört zur Besonderheit des Zeigens, dass es mit der Zeigehandlung

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➔ Zeigen und Sammeln

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des Zeigenden nicht notwendigerweise verbunden bleiben muss. Das Zeigen selbst lässt sich von der Handlung des Zeigens ablösen. Mit Hilfe von kulturellen Techniken und Konventionen lässt sich jede Zeigehandlung zum Erstarren bringen, so dass diejenigen, für die gezeigt wird, allein mit dem Gezeigten sind und gleichwohl erfassen, was der Urheber des Zeigens gemeint hat. Die Handlung des Zeigens hallt dann sozusagen nach; der Zusammenhang des Gezeigten übernimmt die Aufgabe des Zeigenden mit. Es gibt also ein permanentes Zeigen, das eines zeigenden Individuums nicht mehr bedarf. Dieses permanente Zeigen unterscheidet sich vom handlungsbegleitenden Zeigen, das an die Aktion eines Zeigenden gebunden bleibt. Denn der Zeigende lässt das Gezeigte, nachdem er es aus der Welt hat hervor treten lassen, wieder in diese zurück fallen. Permanent Gezeigtes dagegen ist auf Dauer an einen bestimmten Zeigeplatz gebunden. Dieser Platz ist entweder mobil – so ist beim Tragen von Schmuck oder modischer Kleindung ein bestimmter Körper der Zeigeplatz –, oder aber stationär, wie im Fall einer Inschrift oder einer ständigen Ausstellung. Die Fixierung des Gegenstandes Das permanent Gezeigte tritt viel stärker aus der Welt hervor als das handlungsbegleitend Gezeigte. Man stelle sich eine Kraftmaschinen-Ausstellung in einem technischen Museum vor. Das Innenleben eines Vier-Zylinder-Ottomotors kann nicht gezeigt werden, während er tatsächlich arbeitet. Um an ihm selbst zu zeigen, was in seinem Inneren vorgeht, muss man ihn völlig aus dem Verkehr ziehen und lahm legen. Er kann dann aufgeschnitten werden, so dass das Ineinandergreifen von Pleuelstangen, Zylindern, Ventilen und Nokkenwelle für den Betrachter, der das außer Betrieb gesetzte Gefüge mittels einer Handkurbel bewegen mag, geistig nachvollziehbar wird. Doch beim ausprobierenden Nachvollziehen des technischen Prinzips ist das gemeinte Gezeigte, das Arbeiten des Motors, gar nicht anwesend; seine Anwesenheit wird nur vorgetäuscht. Gezeigt im Sinne des Zeigens eines tatsächlich Anwesenden wird nur etwas, was dem gemeinten Gezeigten ähnlich ist. Beim permanenten Zeigen kann also der Gegenstand so radikal aus seiner Welt herausgelöst werden, dass er für sie zerstört wird, auch wenn er als ihre Spur und ihr Rest erkennbar bleibt. Er wird bei Bedarf ausgeweidet und in einen neuen, eigens für die Zeigeintention bestimmten Rahmen gesetzt. Sofern das permanente Zeigen die Eingebundenheit in die erste Welt des Gezeigten simuliert oder rekonstruiert, wohnt ihm immer auch ein Moment der Täuschung, des Unechten inne. Ganze Wissenschaften, beispielsweise die Anatomie, beruhen auf dieser Art von Täuschung, die allerdings nicht verhehlt, dass sie Täuschung ist – und daher auch nicht betrügt. Mit anderen Worten:

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Das permanente Zeigen ist mit einer Fixierung des Gegenstandes verbunden. Diese Fixierung lässt sich insofern auch als Vernichtung des Gegenstandes interpretieren, als sie die Entfernung aus seiner ursprünglichen Bewandtnisganzheit unumkehrbar macht. Die Erstarrung des Zeigevorgangs im permanenten Zeigen setzt einen kulturell festgelegten Konsens über die Auslegung des Gezeigten voraus, so dass die Verständlichkeit des Zeigezusammenhangs und seine Kontinuität überhaupt gewährleistet werden können. Ein solcher Konsens hat beispielsweise die Verkehrsregeln hervorgebracht und erhält ihre Gültigkeit aufrecht. Letztlich setzen alle Gegenstände, die ohne einen Zeigenden zeigen, einen solchen Konsens voraus. Entsprechende Beispiele aus der Welt der Zeichen sind Legion: Inschriften und Bücher, Wegweiser, Totempfähle, Altäre, Triumphbögen, aber auch Werbung und Propaganda. Nicht zuletzt sind auch die Exponate einer Museumsausstellung auf einen solchen Konsens angewiesen. Das Medium Ausstellung fußt auf dem Konsens des permanenten Zeigens. Handlungsbegleitendes Zeigen mag zwar eine große Rolle spielen, beispielsweise in Form von Führungen durch eigens dafür eingestelltes Personal, hat aber nicht solch eine fundamentale Bedeutung für das Ausstellungswesen. Der permanent gezeigte Gegenstand erfüllt seine Funktion innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen und unter bestimmten Voraussetzungen – sei es, dass ein Vorfahrtsschild vom Inhaber eines Führerscheins erkannt werden kann, sei es, dass ein Buchstabe als Bestandteil eines Alphabets auf einen sprachlichen Laut verweist, sei es, dass einem Exponat innerhalb eines Ausstellungsbereichs eine bestimmte Aussage zugewiesen wird. Der Zustand des permanenten Gezeigtwerdens ist niemals ein Bedeutungsvakuum, und der gezeigte Gegenstand steht niemals für sich allein. Er steht zu anderem Gezeigten – oder zu nicht Gezeigtem, das ihn umgibt – in Verhältnissen, die ihn selbst bestimmen, auf Bedeutung fußen und Bedeutung neu schaffen. Das, was gezeigt wird, zeigt, das heißt verweist selbst, indem es (be)deutet. In dieser Hinsicht sind die beiden Bedeutungen des Zeigens, das Sich-Zeigen und das Zeigen-auf-Anderes, miteinander verknüpft. Gezeigtwerden als Bedeutungsraum Metaphorisch gesprochen, entspricht der Zustand des permanenten Gezeigtwerdens einem Raum, der nicht erst durch das Gezeigte hervorgebracht wird, sondern schon vor ihm da ist und es aufnimmt. Allerdings handelt es sich dabei nicht um einen physikalischen, sondern um einen Bedeutungsraum, der weit über die Begrenzungen des jeweils wahrnehmbaren, dreidi-

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mensionalen Raums hinausreichen kann. Das heißt: Das Zeigen eines Gegenstandes setzt immer schon ein Netz von Bedeutungen und sprachlichen Referenzen voraus, in das der konkrete Zeigevorgang eingesponnen wird. Der Urgegenstand, der als erster in den Bedeutungsraum eingetaucht wäre, ist undenkbar, denn er hätte immer, um überhaupt in diesen Zustand eintreten zu können, auf schon vorhandene Bedeutungsgefüge stoßen und sich in diese einfügen müssen. Wurde im vorangegangenen Kapitel Geschichtlichkeit als die spezifische Zeitlichkeit des Alten Objektes identifiziert, so erweist sich nun der Zustand des Gezeigtwerdens als seine spezifische (Bedeutungs-)Räumlichkeit. Auf Grund dieser Räumlichkeit entfaltet das gezeigte Alte Objekt seine Wirkung als zeigendes Zeugnis, wobei es gewissermaßen in einem permanenten Zustand der Zweckfreiheit schwebt. Ohne diesen Zustand könnte es nichts bezeugen. Das Netz von Verweisungen, in dem sich der Gegenstand befindet, wird durch Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Gegenständen untereinander, zwischen dem ganzen Netz und den Einzelgegenständen und umgekehrt bestimmt. Es ist ständig in Bewegung. Neue Gegenstände können in den Bedeutungsraum eintreten, spannen ihn neu auf und verändern das bedeutungsräumliche Gefüge seiner Einzelelemente. Nicht nur das Netz, sondern auch die Bedeutungsparameter der aufeinander verweisenden Gegenstände selbst verändern sich ständig, so dass diese unter immer neuen Vorzeichen aufeinander einwirken und ihre Bedeutung wechselseitig modifizieren. Die auf der Kommode permanent gezeigte, nicht mehr benutzte Suppenterrine kann mit einer unauslotbaren Vielfalt anderer gegenständlicher Welten korrespondieren: mit den konkreten Gegenständen in ihrem räumlichen Hier und Jetzt – beispielsweise dem benachbarten Küchenschrank –, mit der Großmutter, der die Suppenterrine gehört hat, mit dem erinnerten Bild der Großmutter, aber auch mit den Suppen, die nur Sonntags in ihr zubereitet wurden, mit der aktuellen Welternährung, der Porzellanherstellung, der bürgerlichen Küche usw. Die Suppenterrine tritt in ein riesiges Netz möglicher Bedeutungen ein, gestaltet dieses Netz aber auch mit. So kann sie, beispielsweise wenn sie ein extravagantes Design aufweist, die allgemein verbreitete Vorstellung einer Suppenterrine modifizieren. Äußerung, Meldung, Zeichen, Symbol Bedeutung, so haben wir gesehen, ist der entscheidende Unterschied von Zeug und Gegenstand. Zeug hat für den, der mit ihm umgeht, keine Bedeutung und zeigt sich für ihn nicht. Zeigen setzt Bedeutung voraus. Die Bedeutung eines Gegenstandes, der permanent gezeigt wird, offenbart sich entwe-

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der als Äußerung, als Meldung, als Zeichen oder als Symbol. All diese Formen, in denen sich Bedeutung zeigt und deutbar wird, sind auch für das Medium Ausstellung relevant und können dort bewusst eingesetzt werden. Äußerungen zeigen an. Dabei ist die Beziehung zwischen Äußernd-Anzeigendem und dem, was angezeigt wird, in der Struktur des sich äußernden Seienden selbst angelegt. So zeigen Kumulus-Wolken die hohe Wahrscheinlichkeit eines Gewitters, das Erröten eines Gesichtes die Verschämtheit einer Person an. Eine solche Art des Zeigens drückt ein Selbstverhältnis aus: Eine Sache verweist dergestalt auf sich selbst, dass sich ihr Inneres, das ansonsten verborgen geblieben wäre, gewissermaßen nach außen kehrt. Diese Art des Zeigens, das Sich-Äußern, ist nicht von einem Zeigenden intendiert und auch nicht notwendigerweise an einen Adressaten gerichtet.3 Außerdem ist das Sich-Äußern nicht ein von außen an die Sache herangetragener Prozess, der eine Sache zum Vorschein brächte, ansonsten aber nur in einer akzidentiellen Beziehung zu ihr stünde. Vielmehr gehört dieses Verweisen, das mit einem Zutagetreten von Wesentlichem gleichbedeutend ist, der Sache selbst an. Ohne diese der Sache selbst inhärente Möglichkeit des Verweises wäre die Sache nicht die, die sie ist. So zeigt sich ein Gesicht gerade dadurch, dass es errötet, als Gesicht. Es handelt sich beim Sich-Äußern also nicht um eine Handlung, sondern um einen Prozess, der quasi von selbst passiert, da er in der Natur der Sache liegt. Wenn der Gegenstand sich als er selbst zeigt, so wird nicht »jemandem etwas gezeigt«, sondern es passiert ein »Sich Zeigen« im Sinne eines Hervortretens von essenziellen Eigenschaften. Vielen Exponaten wird in Ausstellungen nicht genug Raum geschaffen, so dass sie sich nicht selbst zeigen können. Man denke auch an die skandalös engen Raubtierkäfige in einigen Zoos. Das Tier wird in solchen Käfigen zu einem Schatten seiner selbst. Niemals kann es sich als es selbst zeigen. Ein Ding dagegen, das etwas meldet, ist vom Gemeldeten wesenhaft verschieden. Die Zeigeleistung des meldenden Dinges hängt nur indirekt, auf eine gebrochene Art und Weise, mit der gemeldeten Sache selbst zusammen und ist nicht aus ihr ableitbar, denn: Die gemeldete Sache liegt entweder außerhalb der Reichweite des menschlichen Sinnesapparates – wie beim Gei-

3

George Mounin unterscheidet »indice« von »signal«. Das indice ist ein Indikator, der Informationen über etwas nicht Sichtbares trägt. Das Signal dagegen ist ein künstlich erzeugtes Indice. Ders.: Semiotic Praxis: Studies in Pertinence and in the Means of Expression and Communication. New York 1985.

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gerzähler – oder aber außerhalb des unmittelbaren Wahrnehmungskreises des betreffenden Individuums – wie beim Telefon. Meldungen erfordern daher eine Technik der sinnlichen Übersetzung. Erst eine solche Meldetechnik macht Strukturen und Veränderungen der Welt, die sich der Wahrnehmbarkeit entziehen, überhaupt erfahrbar. Denn sie transponiert diese Veränderungen in den Bereich des Wahrnehmbaren. Diese Transpositionsleistung bedarf eines Codes, der möglichst eindeutig und mit skalierter Notwendigkeit physikalischen oder chemischen Veränderungen zugeordnet ist. So zeigt das Zifferblatt eines Tachometers die Geschwindigkeit eines Autos, die Digitalanzeige eines Gaschromatographen die Konzentration eines chemischen Elementes an. Sobald das meldende Ding »wahrnimmt«, gibt es automatisch weiter, was es registriert. Sofern es funktioniert, kann es nicht anders, als zu melden. In diesem Sinne kann aber auch ein Meldung machender, seines persönlichen Willens beraubter Soldat zu einem – zwar entpersönlichten, aber funktionierenden – Ding werden, zu einem Meldegänger eben. Vor allem in naturwissenschaftlich-technischen Ausstellungen, wo das eigentlich Thematisierte, beispielsweise ein Naturgesetz, unsichtbar bleibt, werden solche meldenden Dinge eingesetzt. Ist es sprachliche Konvention, die den zeigenden Gegenstand mit dem Gezeigten verknüpft und Bedeutung herstellt, so handelt es sich um ein Zeichen.4 Zwei Hauptkategorien von Zeichen lassen sich unterscheiden. Es gibt Zeichen, die auf Anderes verweisen, so wie ein Denkmal oder ein Grabstein auf eine verstorbene Person verweisen. Ferner gibt es Zeichen, die auf etwas Anderes verweisen, dem sie selbst angehören. So verweist ein Gehenkter auf das Gefüge von Herrschaft, Recht und Macht, das ihn selbst integriert hat. Ein sprachliches Zeichen verweist immer auch auf sich selbst, da es stets auch ein Beispiel für ein sprachliches Zeichen ist. Die Zeichenwerdung ist ein kultureller, ein sprachlicher Akt, der keiner naturgesetzlichen Notwendigkeit gehorcht. Von der primären Dienlichkeit des singulären Zeugs beziehungsweise von den Umständen, in denen man es vorfindet, wird abstrahiert, so dass sich seine Verweiskraft verallgemeinern lässt. Darüber hinaus kann diese Dienlichkeit in eine andere Richtung gelenkt werden, die vom ursprünglichen Verwendungszusammenhang weit wegführt.

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Der Begriff des Zeichens wird hier im engeren Sinne, als sprachliche Verknüpfung, verwendet. Im weiteren Sinne ist jeder Gegenstand, da er auf anderes verweist, auch Zeichen beziehungsweise Zeichenträger.

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So wird ein Hammer vom Schmiedewerkzeug zum Zeichen der Arbeiterklasse, ein Stein, den man auf ein Grab legt, zum Zeichen, dass eine Person des Verstorbenen gedacht hat. Durch den Wandel zum Zeichen wird das Zeug beziehungsweise der nicht zeichenhafte Gegenstand verzeichnet: Einerseits wird seine Bedeutung sprachlich festgeschrieben und festgehalten. Andererseits geht diese Festschreibung und Festhaltung notwendigerweise mit einer Verfälschung und Verstellung seiner ursprünglichen Dienlichkeit einher. Zeichen bezwecken Eindeutigkeit und Unmissverständlichkeit. Sie sind arbiträr – unabhängig davon, ob es sich nun um Rauchzeichen, Morsezeichen, das Heben der Startfahne beim Formel-I-Rennen, um die taktgebende Gestik eines Dirigenten, um das akustische Logo eines Radiosenders oder ein Pop-Up-Fenster im Internet handelt. Der Pfeil eines Vorfahrtsschilds kann beispielsweise auf eine Regel oder eine bevorstehende Schwierigkeit im Straßenverkehr verweisen. Er bezieht sich nicht auf etwas, das ihm ähnlich ist und verweist auch nicht auf sich selbst. Auch ist der Pfeil nicht als Aufforderung aufzufassen, in die Richtung des Pfeils zu blicken. Das Erblicken des Verkehrszeichens bewirkt, dass die bezeichnete Regel ins Bewusstsein gerufen und zur Verkehrssituation des Augenblicks in Beziehung gesetzt wird. Das Zeichen kann auf diese Weise helfen, Wahrnehmung und Handeln umsichtig-vorausschauend zu modifizieren und auf bislang nicht Fassbares gefasst zu sein. Symbole sind besonders komplexe Zeichen, die sich durch die Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit ihrer Bezeichnungen und Bedeutungen auszeichnen. Im symbolischen Gegenstand oder der symbolischen Handlung sieht der Betrachter unterschiedliche Bedeutungsebenen und Zusammenhänge mit.5 Die Bedeutungen des Symbols sind teils durch Tradition, soziale Konvention und ideologische Sichtweisen, teils durch zweckrationale Strategien umsichtiger Lebensführung oder durch Eigennutz bestimmt. Das bekannte Werbeplakat der Firma Benetton, das drei menschliche Herzen auf einem Operationstisch zeigt, verweist einerseits auf das konkrete physische Organ, das den Blutkreislauf in Gang hält, symbolisiert darüber hinaus aber auch die Liebe, das Leben und die Sterblichkeit. Schließlich vermitteln diese drei sich sehr ähnelnden Herzen eine antirassistische Botschaft, denn das erste Herz entstammt einem schwarzen Afrikaner, das zweite einem jüdischen Weißen,

5

Dazu Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Frankfurt am Main 1993, S. 199 f.

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das Dritte einem Asiaten. »Die Hautfarbe ist nicht wesentlich, im Innersten sind wir alle aus dem gleichen Stoff!«, so könnte die implizite Botschaft des Plakates lauten. Diese Botschaft ist aber nicht der Endzweck des Plakates, sondern wird unterschwellig dafür verwendet, den Produkten einer italienischen Textilfirma ein positives Image zu verleihen. Die philanthropische Botschaft des Plakates wird somit für eine Aufwertung des Firmenimages instrumentalisiert, so dass ein uraltes Symbol auch eine kommerzielle Konnotation erhält. Letztlich wird dadurch der Kauf eines Pullovers zur guten Tat stilisiert. Das Alte Objekt als Spurenkomplex Ist nun das Alte Objekt ein Zeichen beziehungsweise ein Symbol? Verweist, zeigt es auf die Welt genau so, wie dies beispielsweise ein Verkehrszeichen tut? Alte Objekte heben sich nicht zuletzt dadurch von Zeichen im herkömmlichen Sinne ab, dass sie nicht arbiträr sind. Da sie selbst Teil von dem sind, auf das sie zeigen, beruht ihre Verweiskraft nicht nur auf Konvention, sondern auch auf ihrer Biographie. Im Gegensatz zu Zeichen im herkömmlichen Sinne ist die Bedeutung eines Alten Objektes niemals eindeutig, da es stets viele Referenten hat.6 Einer von diesen Referenten ist es selbst; ein anderer ist die Bewandtnisganzheit, der es entstammt. Indessen ist das Ganze, auf welches das Alte Objekt zurück verweist, vergangen. Gleichwohl ist die einstige Bewandtnisganzheit auch im Hier und Jetzt noch als Spur an ihm. Das Alte Objekt hat an dieser Ganzheit zwar keinen lebendigen Anteil mehr, steht aber in seiner Nachfolge. Im Alten Objekt überschneidet sich das Signifiant mit dem Signifié, aber auch mit dem Referenten. Insofern bedeutet das Alte Objekt das, worauf es deutet – aber auch wesentlich mehr. Präsenz und Präsentation überschneiden sich in ihm, so dass sie untrennbar, gleichwohl aber unterscheidbar sind. Das Alte Objekt steht für eine passierte Bewandtnisganzheit, auch wenn es mit dieser zerbröselten Ganzheit nicht mehr verhaftet ist. Es gehört nur noch mittelbar, über eine zwar rekonstruierte, aber nicht mehr greifbare Ganzheit, zu seiner ursprünglichen Welt. Es ist weniger als diese Ganzheit,

6

Ogdens und Richards »semiotisches Dreieck« sieht neben Signifiant und Signifié auch noch einen Referenten, das heißt den bezeichneten, konkreten Gegenstand vor. Vgl. Charles Ogden und Ivor Richards: The meaning of meaning. London 1969.

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weil es nur deren Rest ist. Es ist aber auch mehr als ein Rest, weil es in einer neuen Welt steht. Die rekonstruierte Ganzheit macht den immateriellen Wert des Alten Objektes aus, der sich nicht aus seiner stofflichen Beschaffenheit, sondern aus dem Reichtum seiner wieder entdeckten Verweisungen ergibt. Auf Grund dieses Wertes repräsentiert das Alte Objekt nicht nur die aktuelle Welt des Betrachters, sondern auch seinen eigenen Ursprung. Die Differenz zwischen der einstigen Weltverhaftung, deren Rekonstruktion das Alte Objekt ermöglicht und initiiert, und seiner gegenwärtigen Bedeutung ist die im eigentlichen Sinne historische Differenz. Anders das Verkehrszeichen: Seine Bedeutung ist ein Aspekt seiner gegenwärtigen Weltverhaftung. Es stellt sich also heraus, dass das Alte Objekt dem Verkehrsschild ganz fern steht, obgleich beide in formallogischer Hinsicht zeigen, das heißt verweisen. Dies sollte bedacht werden, wenn Alte Objekte Zeichen genannt werden. Wenn Alte Objekte Zeichen sind, dann sind sie Zeichen ganz besonderer Art, weil das von ihnen bezeichnete Ganze letztlich nur als geistige Rekonstruktion besteht und ihr Bezeichnen nicht nur ein Verweisen, sondern ein »Stehen für« ist, das heißt eine Verkörperung. Diese Verkörperung freilich muss notwendigerweise unvollständig, ruinenhaft bleiben. Aus all dem ergibt sich, dass die Begriff der Spur das Wesen des Alten Objektes letztlich besser trifft als der des Zeichens. Dem Begriff der Spur kommen in diesem Zusammenhang zwei verschiedene, sich ergänzende Bedeutungen zu: Zum einen steht er für das materiell Überlieferte, den Überrest des Geschehenen. Zum anderen steht er für das Legen und Lesen einer Fährte zur einstigen Bewandtnisganzheit des Gegenstandes. Die Identifikation des Alten Objektes als Überrest sowie als Fährte zur einstigen Bewandtnisganzheit setzen ein Vorverständnis des Gegenstandes voraus. Aus diesem Vorverständnis erwächst das Interesse an ihm. Durch seine Prüfung und Analyse kann das Vorverständnis zu Verständnis werden. Die Auslegung eines Alten Objektes weist somit eine zirkuläre Struktur auf: Als Spur im Sinne des Überrestes ist das Alte Objekt die Voraussetzung des Auslegens. Das Auslegen selbst stiftet den Ursprung des Alten Objektes. Diese Stiftung ist nicht mit einer Schöpfung des Alten Objektes gleich bedeutend, denn die Spur als Überrest ist überliefert, und nicht erschaffen worden. Aber sie ist die Initiation der Geschichtlichkeit des Gegenstandes durch das Denken. Jede historische Spur repräsentiert ein Ganzes, von dem sie einst ein Teil war. Dieses Ganze muss vom Spurenleser vorausgesetzt werden, damit der Gegenstand zur Spur wird. Ein Findling genannter Riesenstein beispielsweise bezeugt Bewegungen von Eismassen, die Jahrzehntausende zurück liegen.

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Die Kenntnis der Eiszeit muss der Interpretation des Steins als Findling voraus gehen, sonst könnten nicht einige seiner materiellen Eigenschaften als Verweise auf die Eiszeit gedeutet werden. Auch ein Zustand, ein Ereignis oder ein historischer Prozess – eine Revolution beispielsweise oder der mühsame Tagesablauf eines Bauern – können ein solches Ganzes darstellen, auf das der jeweilige Gegenstand verweist. Die Grenzen dieses Ganzen, das den Gegenstand überhaupt erst zum Spurenträger macht, werden vom Spurenleser bestimmt. Es liegt an ihm, festzusetzen, ob er eine alte Tonscherbe, auf der »Themistokles« zu lesen ist, mit dem Scherbengericht dieses attischen Politikers und dessen Biographie, mit der Politik Athens im fünften vorchristlichen Jahrhundert, mit der antiken Keramikherstellung, mit dem Rechtsverständnis der antiken Welt oder mit überflüssigem Abfall in Verbindung bringt. Museal relevant wird einstige Welt dann, wenn man das, was man von ihr sichtet, als übrig geblieben einstuft. Die seit Menschengedenken akkumulierte Welt der Überlieferungen, Ruinen und Andenken besteht aus Spuren, die den Leser historischer Fährten zur ursprünglichen Hinter-Welt des Akkumulierten führen. Nun ist die Rede vom Alten Objekt als Spur eine Vereinfachung, denn es hat viele Spuren an sich. Und welche Bedeutung die Spuren haben, hängt unter anderem auch von der Person ab, die sie liest. Also ist die Bedeutung des Alten Objektes partiell perspektivisch. Außerdem unterliegt diese Bedeutung einem starken zeitlichen Wandel. Man denke nur daran, welche neuen Bedeutungsnuancen das Brandenburger Tor nach der deutschen Wiedervereinigung, oder in jüngster Zeit die Frauenkirche in Dresden hinzu gewonnen hat. Alte Träger von Spuren ist das Alte Objekt ebenso Symbol wie Zeichen. Denn es steht auch für Gegenstände, Prozesse und Zustände, die nur mittelbar oder nur aufgrund einer Verallgemeinerung mit ihm verbunden sind. So verweisen die Pyramiden von Gizeh nicht nur auf den Totenkult der vierten Herrscherdynastie Ägyptens und auf die einstige symbolische Bedeutung dieser Monumentalgräber als Himmelsaufstieg und Brücke zum Jenseits.7 Sie symbolisieren darüber hinaus die gesamte altägyptische Kultur. Mehr noch: Sie stehen für das Land Ägypten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Viele sehen in ihnen sogar ein Symbol der Unvergänglichkeit. Aus dem Vorangegangenen ergibt sich die ungeheure Bedeutungsvielfalt des Alten Objektes und die Unmöglichkeit, seine Verweiskraft auf einen ein-

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Zur altägyptischen Symbolik der Pyramiden vgl. Jan Assmann: Ägypten. Eine Sinngeschichte. Frankfurt a.M. 1999, S. 72 ff.

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heitlichen Nenner zu bringen. Ernst E. Boesch hat diese Vielfalt am Beispiel einer afrikanischen Maske geschildert. Die Plastizität dieser Schilderung rechtfertigt ein längeres Zitat: »Die hölzerne Maske repräsentiert – materiell – das Holz mit seinen Qualitäten, den Baum und den Wald; die Natur mit ihrem Reichtum und ihrer Kargheit, mit ihrer Güte und ihrer Bedrohlichkeit. Die Maske repräsentiert auch – sozial – den Menschen, der sie geschaffen hat, den, der sie trägt, und den, der sich vor ihr fürchtet – vielleicht sogar noch den, der sie kauft und mit Lämpchen hinter den Augenhöhlen irgendwo aufhängt. Natürlich repräsentiert die Maske auch ihren denotativen Inhalt: die Götter und Geister oder sonstige Mächte, die sich in ihr verkörpern […] der Schnitzer denkt an das Holz und seine weichen und harten Stellen, an Termiten, die es verderben können, an seinen Sohn, der ihm bei der Arbeit zuschaut oder hilft, an den Nachbarn, der ihm die Maske abkaufen will; dieser aber denkt vorwiegend an die Feier, bei der er sie zu tragen gedenkt […] Und so verschiebt sich, von einem zum anderen, der Konnotationskreis, in den die Maske eingebettet ist, und nur für einen vielleicht, den Ethnologen nämlich, repräsentiert sie – mehr oder weniger annähernd – die Gesamtheit der Bezüge. Und erst eines Nachts, wie der Ethnologe träumt, die Maske verwandle sich langsam in das grinsende Gesicht eines lang vergessenen Lehrers, bemerkt er, dass sie auch für ihn, über die Bezüge ihres Herkommens hinaus, noch anderes bedeutete.«8

III.2 Sammeln Fundamentalbestimmungen des Sammelns Aus heutiger Sicht besteht ein Gegensatz zwischen musealem Sammeln und dem permanenten Zeigen der Ausstellung. Denn in der Regel entzieht das Sammeln die Gegenstände dem Blick und spart sie für die Zwecke des Sammlers beziehungsweise der sammelnden Institution auf. Zum Wesen des musealen Sammelns scheint heute also das Verbergen, und nicht das Zeigen zu gehören. Gesammelt wird für den einzelnen Liebhaber, den Forscher, den Sammlungsleiter eines Museums (der nicht selten wie Fafnir vor seiner Schatzhöhle sitzt), für einen exklusiven Kreis von Kennern oder aber – Hybris

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Boesch, das Magische und das Schöne, S. 56.

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ist im Sammlermilieu keine Seltenheit – für die Ewigkeit. Dagegen sucht das museale Zeigen, das heißt das Ausstellen von Gesammeltem, ganz im Gegenteil den öffentlichen, und nicht den individuell-privaten Blick. Bezogen auf die heutige Situation setzt das museale Zeigen die Gegenstände dem Blick aus, statt sie für ihn aufzusparen: Ausstellen (re)präsentiert, Sammeln privatisiert. Vor einer Fokussierung auf das Museumssammeln sind an dieser Stelle einige allgemeine Ausführungen zum Sammeln erhellend. Sammeln ist entweder ein Geschehen, oder eine Handlung. Ist es ein Geschehen, so läuft es von selbst ab, das heißt ohne menschlichen Initiator oder Lenker. So sammelt sich beispielsweise Wasser in einer Pfütze. Ist Sammeln aber eine Handlung, so beruht es auf einem gezielten Anhäufen, einem peripetalen Versammeln von Gegenständen.9 Diese werden aus einem Zustand der räumlichen Zerstreuung in einen Zustand der räumlichen Konzentration überführt. Gesammelt werden kann nur eine Vielheit von Gegenständen. Ein Sammeln, das auf den Besitz eines einzelnen Gegenstandes abzielen würde, wäre ein Widerspruch in sich. Eine weitere Voraussetzung für das Sammeln ist die Gleichzeitigkeit der Gegenstände, die man sammelt. Das Gesammelte besteht nebeneinander in Raum und Zeit. Die älteste Form des Sammelns ist das akkumulierende Sammeln aus ökonomischen Gründen, das beispielsweise Pilz- und Lumpensammler seit jeher umgetrieben hat. Von dieser Art des Sammelns ist das Sammeln aus ästhetischen oder musealen Gründen zu unterscheiden. Während das akkumulierende Sammeln das Eingesammelte nur als Zwischenstation auf dem Weg zum Verkauf oder Verzehr auffasst, bezweckt das ästhetische und museale Sammeln die dauerhafte Anwesenheit des Gesammelten und dessen dauerhafte Verfügbarkeit für den Blick des Sammlers. Die entsprechende Konstellation von Gegenständen ist grundsätzlich stabil. Die Gegenstände werden aufgehoben und bleiben tendenziell zusammen, weil ihr Wert sich nicht zuletzt aus der Einbettung in den Gesamtzusammenhang des Gesammelten ergibt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die meisten Sammler langfristig den Wert ihres gesammelten Besitzes erhöhen wollen und deshalb weniger wertvolle Gegenstände gegen andere mit höherem Wert eintauschen.

9

Dazu Thomas Schlozs Dissertation: Die Geste des Sammelns. Eine Fundamentalspekulation – Umgriff, Anthropologie, Etymographie, Entlass. Stuttgart 2000. Ferner die wesentlich differenziertere Arbeit von Manfred Sommer: Sammeln. Ein philosophischer Versuch. Frankfurt a.M. 1999.

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Die Abweichung als Wesen des Gesammelten Die Tätigkeit des Sammelns bringt niemals Zeug oder »Kruscht« zusammen, das keinen inneren Zusammenhang hätte. Vielmehr werden Gegenstände gesammelt, die man als ähnlich erkannt hat, beziehungsweise, die etwas gemeinsam zu haben scheinen. Ähnlichkeit kann sich in diesem Zusammenhang auf ganz verschiedene Merkmalsgattungen beziehen: Es kann sich um eine Ähnlichkeit der äußeren Form, der Struktur, des Materials oder der Funktion handeln, um einen gemeinsamen Besitzer der Gegenstände, um einen gemeinsamen Herkunftsort, um eine gemeinsame Geschichte oder um eine Ähnlichkeit, die sich in der Gemeinsamkeit der sprachlichen Benennung erschöpft. Indes: Während das Interesse des aus ökonomischen Motiven Sammelnden gerade auf die Ähnlichkeit des Gesammelten gerichtet ist, achtet der ästhetisch oder museal Sammelnde auf die Abweichungen der gesammelten Stücke von der Norm, die ihr Typus vorgibt. Ästhetisches und museales Sammeln setzen Nichttrivialität im Sinne der Außergewöhnlichkeit, im Idealfall sogar der Einzigartigkeit des Gesammelten voraus. Nach konventionellem Sammlerethos und Kuratorendenken muss der begehrte Gegenstand wenn möglich ein Unikat, mindestens aber eine Rarität sein. Die Münze mit dem Prägefehler ist wertvoller als das Exemplar ohne Makel. Während der Pilzsammler nur darauf achtet, dass das Eingesammelte dem Begriff »Pfifferling« entspricht, legt der Sammler von Münzen, Briefmarken und Ähnlichem auf die Einzigartigkeit der Sammlungsstücke Wert und vermeidet Doubletten. Der eine will das Typische, der andere die Variante. Der Sammler sieht den Erwerb von Objekten nicht als lohnend an, die oft reproduziert werden, in großer Stückzahl vorhanden sind und daher jederzeit ausgetauscht werden können. Es ist ihm wichtig, nicht nur Gegenstände um sich versammelt, sondern sie auch dem Alltag entzogen zu haben. Dies macht die Sammlung zu einer Sphäre, die nicht nur außeralltäglich ist, sondern sich dem Alltag in gewisser Hinsicht, und zwar in Bezug auf die Verfügbarkeit von Rarem, überlegen zeigt. Darüber hinaus müssen die gesammelten Gegenstände original und authentisch sein. Ohne Echtheit, Einzigartigkeit und historische Aussagekraft wäre das Gesammelte nicht nur unnütz, sondern auch wertlos. Das Unechte und Austauschbare widerspricht dem Rollenverständnis und dem Ehrenkodex des Sammlers. Der Sammelnde bringt nicht nur zusammen, was er als ähnlich erkannt hat, sondern er wählt auch das Ähnliche aus dem Unähnlichen aus. Auf diese Weise setzt er eine Differenz von Innerhalb und Außerhalb, von Welt und Sammlung. Freilich bleiben Welt und Sammlung aufeinander bezogen, denn letztere rechtfertigt sich dadurch, dass sie einen Extrakt der Welt darstellt,

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➔ Zeigen und Sammeln

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die den Sammelnden umgibt.10 Dabei ist das Sammeln stets auch ein gewalttätiger Akt, der die Gegenstände aus ihrem vorgefundenen Zusammenhang reißt. Sie werden »ihrer Welt entzogen«, wie es Heidegger von den Ägineten in der Münchner Sammlung gesagt hat.11 Diesen rabiaten Zug haben Sammeln und Ausstellen im Sinne des permanenten Zeigens gemeinsam. Beide versetzen Dinge und Gegenstände. Das heißt, sie entziehen sie ihrer Welt und stellen sie in einen neuen Rahmen.12 Es zeigt sich also, dass Versetzung die gemeinsame Wurzel von Ausstellen und Sammeln ist. Sammeln als Vorratsbildung Jede Art von Sammeln ist durch den Zweck der Vorratsbildung charakterisiert, sonst könnte sich keine Gleichzeitigkeit des Gesammelten einstellen. Der Sammler legt einen Vorrat an und versagt sich die triebverzehrende Endhandlung, das heißt die Verwendung oder den Verzehr des Angehäuften. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit das Sammeln eine spezifisch menschliche Tätigkeit ist. Zwar sind Hunde, so sagt man, nicht in der Lage, einen Wurstvorrat anzulegen. Andererseits lässt sich das Anlegen von Vorräten auch bei Eichhörnchen beobachten. Allerdings würde es sich skurril anhören, das Eichhörnchen als Sammler zu bezeichnen, auch wenn man umgangssprachlich sagt, dass es Haselnüsse sammele. Das Sammeln ist hier nur ein Ansammeln, das weder auf einen Plan zur effizienten Vorratshaltung, noch auf das Bedürfnis des Eichhörnchens, über Nüsse zu reflektieren, noch auf seinen musealen Ehrgeiz zurückzuführen ist. Angesammelte Gegenstände sind sich zwar in der Eigenschaft ähnlich, die das Interesse des Sammelnden an ihnen begründet hat. Doch andererseits sind sie grundsätzlich aus-

10

Mit Blick auf diesen Zusammenhang lohnen sich die in wissenschaftssatirischer Form verfassten Reflexionen von Andreas Urs Sommer, Dagmar Winter und Miguel Skirl: Die Hortung. Eine Philosophie des Sammelns. Düsseldorf 2000, bes. S. 22 f.

11

Heidegger fährt fort: »Auch wenn wir uns bemühen, solche Versetzungen der Werke aufzuheben oder zu vermeiden, indem wir z.B. den Tempel in Paestum an seinem Ort und den Bamberger Dom an seinem Platz aufsuchen, die Welt der vorhandenen Werke ist zerfallen.« Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes. Stuttgart 1960, S. 39.

12

Auf den Aspekt der Ausstellung als Rahmen hat als erster Siegfried Giedion aufmerksam gemacht. Ders.: Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition. Ravensburg 1965, S. 175-203.

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tauschbar. Das Eichhörnchen will keine besonders geformte Nuss, sondern einfach nur eine Nuss. Menschen sind zu vorsorgendem Ansammeln, das nicht notwendigerweise bewusste Planung voraussetzt, sondern instinktgeleitet sein kann, ebenso wie Tiere in der Lage. Es ist Sammeln in seiner ältesten Form, das seine begriffliche Kontur durch den Gegensatz zu Jagd, Zucht und zum Ackerbau erhält. Spezifisch menschlich dagegen, weil immer kulturell bestimmt, ist das planvolle Sammeln von Nutzlosem, kurzum: das Anlegen einer Sammlung. Es mag wohl angehen, von einer Lumpensammlung im Sinne einer zeitlich genau eingrenzbaren Sammelaktion zu sprechen, oder von einem Lumpensammler, der zum Zwecke der Daseinsfristung Stoffabfälle aufliest, die er später verkauft. Doch von einer Sammlung von Lumpen zu reden hat einen merkwürdigen Klang, der gleich an ein Lumpenmuseum denken lässt. Denn eine Sammlung besteht aus Gegenständen, die deshalb aus dem alltäglichen Leben herausgenommen worden sind, weil sie in ihrer Ansammlung etwas Außeralltägliches ergeben. Von einer Sammlung Bierflaschen zu reden, ist nur dann sinnvoll, wenn ihr Eigentümer sie weder auszutrinken noch zu verkaufen gedenkt. Ansonsten handelt es sich nur um einen Vorrat, und noch nicht um eine Sammlung. Nicht nur ist Nützlichkeit ein unerhebliches Kriterium für den Wert einer Sammlung. Es ist im Gegenteil ein wesentliches Merkmal von Sammlungen, dass sie aus unnützen Gegenständen, nämlich Kunstwerken oder Alten Objekten bestehen, die ihrer ursprünglichen Bewandtnisganzheit entzogen worden sind. Daher läuft jede Sammlung auch Gefahr, von radikalen Pragmatikern und Utilitaristen für überflüssig gehalten zu werden. Indessen ist eine Sammlung zwar unnütz, aber nicht bedeutungslos, da sie ja aus Gegenständen, und nicht aus Zeug besteht. Sie bedeutet dem Sammler etwas. Das Eintreten des Gegenstandes in die Sammlung setzt voraus, dass die Wurzeln, die ihn in seiner ersten Welt hielten, ausgerissen worden sind. Gerade dies ist aber Voraussetzung für seine Bedeutung als Sammlungsstück. Sammlung und Sammler Die Sammlung ist es also, die dem Sammeln musealen Charakter verleiht. Es lohnt sich hier ein Blick auf den Begriff des Aufhebens, in dem die Bedeutungen Aufgreifen, Bewahren und Umwerten enthalten sind. In einem dreifachen Sinne ist das Bilden einer Sammlung mit Aufheben gleich bedeutend: Auf einer elementaren Ebene bedeutet es Aufgreifen, das heißt die Einbeziehung eines Objektes in das unmittelbare Wahrnehmungsfeld. Zweitens ist das Bilden einer Sammlung ein Bewahren. Das heißt, die Kontinuität des Gegenstandes soll im Hinblick auf seine Form, seine Materialität und seine Ver-

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ständlichkeit gesichert werden. Drittens wird in der Sammlung die Bedeutung des aufgefundenen Gegenstandes umgewertet, da sich das Gesammelte nun im Umfeld des Mitgesammelten, und nicht mehr im Umfeld seiner ursprünglichen Bewandtnisganzheit bestimmt. Die Bedeutung wird in dem Sinne aufgehoben, dass sie sich auf einem anderen Niveau entfaltet. Es ist möglich, dass sich die Bedeutung des Gesammelten nur dem Sammler erschließt. Häufig ist persönliche Liebhaberei, meistens aber eine mehr oder weniger sublimierte Form der Besessenheit und der Gier für das museale Sammeln verantwortlich. Mit wissenschaftlichen Motiven ist dies keineswegs unvereinbar. Ohne dazu genötigt zu sein, entwirft der Sammler eine Ordnung, die er den von ihm versammelten Gegenständen überstülpt. Mit dieser Ordnung simuliert er absolute, vielleicht sogar göttliche Freiheit. Unter diesem Blickwinkel hat Sammeln eine narzisstische Komponente, die gelegentlich sogar in Größenwahn umschlägt. Viele Sammler ziehen Lust aus dem Ausleben von Allmachtsfantasien. Bei der Leidenschaft für extrem große (Dampfmaschinen) und extrem kleine Gegenstände (Modelleisenbahnen) ist es besonders offensichtlich, dass der Wunsch nach spielerischer Beherrschung der Welt zu den Triebfedern des Sammelns gehört. Das Erwerben großer Sammlungsgüter ist als Potenzbeweis interpretierbar; das kleine Sammlungsgut dagegen erzeugt die berauschende Illusion des vogelperspektivischen, Allwissenheit verschaffenden Überblicks. Diesem narzisstischen Motiv entspricht auch der expansive und aggressive Grundcharakter des musealen Sammelns. Denn es ist es stets der fehlende, noch nicht besessene Gegenstand, der das Sammeln ausrichtet und vorantreibt. Diese Rolle des fehlenden Glieds in der Kette der Besitztümer kann grundsätzlich von jedem unverfügbaren Gegenstand eingenommen werden, der ins Sammlungsgebiet fällt, auch vom vermeintlich letzten, den der Sammler noch nicht hat. Denn diesem geht es nicht um das Erreichen eines endgültigen Sammlungsziels, sondern um den Prozess des Sammelns selbst: um das Vexierspiel von Sehnsucht nach Vollständigkeit, vermeintlicher Erfüllung, heimlich erhoffter Enttäuschung und erneutem Versuch, das Begehrte zu erlangen und über es zu verfügen. Im Grunde genommen sammelt der Sammler sich selbst. Die Sammlung wird ihm sozusagen zu einem zweiten Körper, mit dem er sich identifiziert. Er kann sich in diesem Körper vollkommen verlieren und wieder finden. Er sieht, wie sich in der Sammlung seine geheimsten Wünsche aufbauen und deren Erfüllung in den Bereich des Möglichen zu rücken scheint. Was ihm gehört, gibt der Sammler ungern weg, weil man, wie Baudrillard zutreffend ange-

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merkt hat, ja auch nicht so ohne weiteres seinen Phallus herborgen will.13 Die Ordnung, die er dem Sammlungsgut verliehen hat, tritt an die Stelle der Alltagszeit. Gerade darin zeigt sich einer der geheimsten Wünsche des Sammlers: Die Zeit soll ausgeschaltet und die Unumkehrbarkeit der Geschichte überwunden werden, was auch eine symbolische Überwindung des eigenen Todes ermöglicht.14 Unzählige Personen gehen einer Sammelleidenschaft nach – in den USA wahrscheinlich jeder Dritte.15 Dabei ist wohl das entscheidende Motiv die Enttrivialisierung des persönlichen Alltags durch das Sammeln. Dies führt in der Regel zu einer signifikanten Hebung des Selbstgefühls. Für die Psychologie des Sammelns ist es entscheidend, dass der Wert des Gesammelten über den profanen Alltagsnutzen weit hinausreicht. Es zeichnet sich durch einen nutzlosen, wenngleich wertvollen Überschuss aus, der das Sammeln letztlich jeder ökonomischen Logik entzieht. Dieser Überschuss ist es auch, der die Person des Sammlers mit einem Nimbus des Luxuriösen und Rätselhaften – nicht selten auch des Kauzig-Skurrilen oder gar Pathologischen – umgibt. In seinen verschiedenen Schattierungen lässt sich dieser Nimbus grundsätzlich von jedem Sammler erwerben – unabhängig von seinem sozialen Status. Der Nimbus des Sammelns umgibt nicht nur Personen, sondern ist heute auf viele sammelnde Institutionen, darunter vor allem Museen, übergegangen. Die Bedeutung einer musealen Sammlung für den Sammler liegt in ihrem Wert. Dieser Wert lässt sich allerdings nur in den seltensten Fällen und nur durch erhebliche Vereinfachungen – beispielsweise als geschätzter Versicherungswert – in einem gesellschaftlich akzeptierten Tauschwert ausdrücken. Der besondere Wert einer Sammlung ist nicht quantifizierbar, er beruht ganz wesentlich auf subjektiver Wertschätzung. Dies ist der eigentliche Grund, warum viele Museumsexponate unschätzbar sind. Manchmal wird der besondere Wert des Gesammelten in der Außergewöhnlichkeit und Exotik der zusammengetragenen Sachen gesehen. Manchmal ist es gerade das außergewöhnlich Normale, der Norm Entsprechende, das den Gegenstand würdig erscheinen lässt, in eine Sammlung aufgenommen zu werden. Andere Gegenstände haben in der Biographie des Sammlers eine Rolle gespielt. So

13

Baudrillard, System der Dinge, S. 122 f.

14

A.a.O., S. 126.

15

Susan S. Pearce: Collecting as medium and message. In: Eilean Hooper-Greenhill: Museum, Media, Message. New York 1995, S. 15-23, dort S. 22.

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manche Briefmarke oder Münze schließlich erscheint durch nichts anderes wertvoll als durch ihre Zugehörigkeit zu einer Serie. Formen des musealen Sammelns Drei idealtypische Formen des musealen Sammelns sollen im Folgenden voneinander unterschieden werden: das erinnernde, das fetischistische und das systematische Sammeln.16 Diese Unterscheidung soll der Orientierung dienen. In der Wirklichkeit treten nur Mischformen auf. Das erinnernde Sammeln akkumuliert autobiographisch relevante Zeugnisse. Diese haben einen sentimentalischen Wert aufgrund ihrer Fähigkeit, Erinnerungen und Gedanken an verlorene Zeiten zu evozieren. Das sich erinnernde Individuum erschafft sich seine Sammlung, die im Extremfall zu einer materialisierten Autobiographie werden kann. Diese Autobiographie kann er mit Hilfe der verschiedenen Sammlungsstücke vergegenwärtigen und nacherleben. Die Möglichkeit dieses Nacherlebens ist vom Speicher, den die Sammlung bildet, jederzeit abrufbar. Das erinnernde Sammeln ist eine Form von Lebenssimulation. Im Fokus des fetischistischen Sammelns dagegen stehen die Gegenstände selbst und nicht die Erinnerungen, die sie heraufbeschwören. Die Gegenstände beherrschen den Sammler auf Grund der Leidenschaft, die sie in ihm entfacht haben und die diesen dazu getrieben hat, sie in möglichst großer Zahl zu erwerben und zu besitzen. Das irrationale Moment und die Besessenheit, die dieser Art des Sammelns eigen sind, verleihen ihr den Reiz des Exzentrisch-Dämonischen und entrücken sie der Sphäre irdisch-praktischer Notwendigkeiten. Nicht selten wächst den gesammelten Gegenständen die Rolle von lebendigen Wesen zu. Der Sammler umgibt sich mit ihnen wie mit den Frauen eines Harems, in dem er wie ein Sultan agieren kann. Vielleicht liebt er einen Gegenstand besonders und lässt einen anderen in Ungnade fallen und trennt sich womöglich sogar von ihm. Nur Eunuchen, von denen angenommen werden kann, dass sie seine Leidenschaft nicht teilen, dürfen außer ihm den Harem betreten. Systematisches Sammeln schließlich legt Wirklichkeit in einer bestimm-

16

Dazu grundlegend Susan M. Pearce: On Collecting. An Investigation into Collecting in the European Tradition. London/New York 1999. Pearce unterscheidet »souvenir, fetishistic and systematic modes of collecting«. Ebd. S. 32 f.

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ten Art und Weise aus – im buchstäblichen und im übertragenen Sinne. Es kann als entdeckendes oder als bewahrendes Sammeln manifest werden.17 Was das entdeckende Sammeln betrifft, so werden Gegenstände auf Grund ihrer Auffälligkeit und Neuartigkeit behalten und aufbewahrt. Erst in der Frühen Neuzeit, als der Blick auf die Natur an wissenschaftlicher Schärfe gewann, hat sich diese Form des Sammelns voll entfaltet. Entdeckendes Sammeln wird vom Zweck geleitet, zu einer Gesamtschau der Gegenstände zu gelangen, um deren Zusammenspiel auf den Grund gehen und gewissermaßen einen Blick hinter die Kulissen der Natur erhaschen zu können. Klassischer Vertreter dieser Art des Sammelns war Goethe, für den das Sammeln von Mineralien und Pflanzen nicht nur eine Form der Naturerkundung, sondern auch der Persönlichkeitserkundung und -bildung darstellte, der, wie O. Marquard dies in einem anderen Zusammenhang genannt hat, »Selbstentdeckung durch die Entdeckung des Fremden«.18 Im geordneten Nebeneinander eines gegliederten Gebildes bildet das Gesammelte sozusagen eine Momentaufnahme der Schöpfung. Für Goethe spiegelte sich in Anschauungen dieser Art seine eigene Subjektivität, die sich selbst die Werkzeuge zu ihrer Weiterentwicklung und Steigerung schuf. Viele Sammlungen, die mit einem systematischen Anspruch angelegt worden sind, reihen ihre Objekte in schier unendliche, aus Einzelexponaten gebildete Fluchten evolutionärer Reihungen, morphologischer Ähnlichkeiten oder funktionaler Entsprechungen ein. Die einzelnen Objekte scheinen dabei in ihrem Sammlungskontext unterzugehen, vermitteln dabei aber, indem sie auf das verweisen, was ihnen vorausgeht, folgt, ähnlich sieht, Ähnliches bezweckt oder genauso funktioniert, eine Vorstellung von der schier unauslotbaren Komplexität und Vernetztheit des Kosmos. Manche zoologische oder mineralogische Sammlung wird auf diese Weise für den Betrachter wertvoll und gewinnbringend, indem sie als Auszug und Abbild der Welt eine Vorstellung von deren Unendlichkeit vermittelt. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich eine andere Form des Sammelns, die zu einer der tragenden Säulen des modernen Museums werden sollte: das bewahrende Sammeln. Die gelehrte Welt wurde immer empfänglicher für die historische Dimension des Gegenstandes. Dieser wurde zur Quelle, von dem

17

Zu diesen Aspekten des Sammelns vgl. Volker Ilgen und Dirk Schindelbeck: Jagd auf den Sarotti-Mohr. Von der Leidenschaft des Sammelns. Frankfurt a.M. 1997, S. 12 f.

18

Marquard, Wegwerfgesellschaft, S. 913.

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man die Vergangenheit ablesen wollte. Als unmittelbarer Zweck des bewahrenden, konservierenden Sammelns kristallisierte sich heraus, die Gegenstände vor jeder Veränderung zu schützen und sie dadurch gewissermaßen aus dem Strom der Zeit herauszunehmen. Dies konnte nur dann annäherungsweise gelingen, wenn die Verbindungen des Gegenstands zur Welt rigoros gekappt wurden. Nur wenn der Gegenstand nicht mehr von dieser Welt war, zeigten sich an ihm ehemalige Welten. Damit dies auf Dauer so blieb, sterilisierte man den Gegenstand sozusagen, um ihn von den zahllosen Keimen der Veränderung zu säubern und vor ihnen zu schützen. Dies war die Geburtsstunde der modernen Museumsdepots und -magazine. Die Orte des Sammelns Drei idealtypische Orte lassen sich beschreiben, die auf uralte Schemata zurückgehen und bis auf den heutigen Tag die Fluchtpunkte für das museale Sammeln bilden: den Hort, den Tempel und das Kabinett. Diese Orte bilden in ihrer komplementären Verbindung das, was man eine moderne Sammlung nennen könnte. Hort, Tempel und Kabinett stehen nicht nur für Etappen auf dem Weg zur modernen Sammlung, sondern auch für aktualisierbare Möglichkeiten, Alte Objekte in einen materiellen Kontext einzubinden. Durch den Wandel der kulturellen Rahmenbedingungen äußern sich diese Möglichkeiten immer wieder in neuen Varianten und können neue Kombinationen bilden. Jeder dieser Sammlungsorte hebt sich auf eine charakteristische Weise von der Wirklichkeit ab, aus der er sein Sammlungsgut bezieht und auf die dieses als Fetisch, als Beleg oder als Symbol zurückverweist. Darüber hinaus zeichnet sich jeder Ort durch ein besonderes Verhältnis des Sammlers beziehungsweise der sammelnden Instanz zum Sammlungsgut aus. Der Hort ist der Ort des magisch motivierten Sammelns. Er entsteht durch Ansammlung von Gegenständen, die nicht nur einen hohen materiellen Wert haben – wie etwa Gold, Silber und Edelsteine –, sondern auch eine besondere Verbindung zum Jenseits herstellen können. Der Besitz dieser Gegenstände verleiht Macht. Vor allem im Nordeuropa der Bronzezeit war es üblich, solche Horte – entweder separiert oder als Grabausstattung – zu vergraben oder aber im Wasser zu versenken, so wie dies der Legende nach Hagen von Tronje mit dem Nibelungenhort tat.19 Im Konzept des Hortes schwingt aber auch die Grundidee des Opfers mit. Das Wertvolle erfährt dadurch einen Zuwachs an Heiligkeit, dass der Eigentümer endgültig darauf verzichtet und er sich

19

Pearce, On Collecting, S. 58 ff.

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freiwillig einem Verlustschmerz aussetzt. Im Hort stirbt das Wertvolle für den Eigentümer und wird bestattet, was einerseits einen Verzicht auf Macht bedeutet, andererseits aber, weil der Tod des Gegenstandes ein Opfer ist, überirdische Kräfte gnädig zu stimmen vermag. Ferner zeichnet sich der Hort durch sein besonderes Verhältnis zur Zeit aus. Ein Hort wird bewusst verschüttet und damit dem ökonomischen Kreislauf der Dinge entzogen. Dadurch sind die Gegenstände, die den Hort bilden, auch dem Verschleiß entzogen und treten in eine Art irdische Ewigkeit ein, die freilich auch mit einem Zustand absoluter Verborgenheit verbunden ist. Formen des Hortes gibt es noch heute. Dies zeigt sich unter anderem an Vorgängen, die realsatirisch wirken. Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, als der kalte Krieg noch im Gange war, wurde in einem stillgelegten Bergwerksstollen in Oberried im Schwarzwald, 688 m unter Granit, das »kulturelle Erbe der Nation« atombombensicher untergebracht. Es handelte sich dabei um 250 Millionen Einzelbildaufnahmen von Manuskripten, Urkunden, Aktenstücken und Kunstwerken, die in sechzehnfach verschraubten Edelstahlcontainern eingeschlossen wurden. Auf diese Weise sollte einer wie auch immer vorzustellenden »Nachwelt« ein möglichst umfassender Einblick in das ermöglicht werden, was die Initiatoren dieser Aktion für deutsche Kultur hielten.20 Anders als der Hort ist der Tempel eine zugängliche Kultstätte – auch wenn er ein Allerheiligstes enthält, das nicht für jedermann einsehbar ist. Der Tempel stiftet Identität, weil sich eine Gemeinschaft von Gläubigen dort treffen und ihres gemeinsamen Glaubens versichern kann. Jeder Tempel birgt eine Sammlung heiliger Gegenstände, die entweder von auserwählten Privilegienträgern, oder von sämtlichen Gläubigen angeschaut werden dürfen. Spätestens die alten Griechen begannen damit, gesammelte Gegenstände in Tempelbezirken auf Dauer zu zeigen. Das Gesammelte wurde präsentiert, damit die passierte Wirklichkeit, die es bezeugte – beispielsweise ein siegreicher Feldzug oder ein Sieg bei einem olympischen Wettbewerb – jedem vor Augen trat und als Erinnerung wirksam blieb.21 Ein frommes Publikum konnte das Präsentierte bewundern und anbeten. In einem Tempel wird Gesam-

20

Ernst Schulin: Absage und Wiederherstellung von Vergangenheit. In: Moritz Csáky und Peter Stachel (Hg.): Speicher des Gedächtnisses: Bibliotheken, Museen, Archive. Teil 1: Absage an und Wiederherstellung von Vergangenheit. Kompensation von Geschichtsverlust. Wien 2000, S. 23-41, dort S. 34.

21

Pomian, Ursprung des Museums, S. 26 ff.

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meltes zum sozialen Engramm und zum Souvenir, zum identitätsstiftenden Verweis auf Gewesenes, das auch für die Zukunft verbindlich ist. Man braucht nur in den Louvre oder das Deutsche Museum zu gehen, um zu begreifen, dass dieser Typus von Sammlungsort noch lebendige Gegenwart ist. Kabinette schließlich sind Orte, in denen private Sammlungen angehäuft und räumlich strukturiert werden. Der Sammler gibt nicht nur den Anstoß für den Aufbau der Sammlung, sondern betreut auch sein Sammlungsgut permanent. Dabei changiert sein Verhalten zwischen zwei Polen. Einerseits kann der Sammler kühl-systematisch, andererseits aber auch leidenschaftlich und habgierig handeln. Die Gegenstände können nach bestimmten Prinzipien geordnet werden, damit sie die Zusammenhänge der Welt, der sie entstammen, belegen und erklären. Der Eigentümer des Kabinetts empfindet Genugtuung darüber, dass das, was ihm gehört, keinem anderen gehört – sei es, dass dieser andere ein konkurrierender Privatmann der Sammlerszene, sei es, dass es sich um einen wissenschaftlichen Antipoden handelt. Er setzt alles daran, seine Sammlung zu mehren. Dabei lässt er die konkurrierenden Sammler zwar wissen, dass er sie mehrt, hat aber kein echtes Interesse daran, dass sie tatsächlich am Genuss seiner Schätze teilhaben. Die reichhaltigen Bestände zeitgenössischer Numismatiker und Käfersammler, die nicht selten in den Besitz von Museen übergehen, sind Beispiele solcher Orte. Die moderne Sammlung lässt sich als eine Verbindung aus Tempel, Hort und Kabinett auffassen. Vom Hort hat sie den Anspruch auf Zeitlosigkeit und die Tendenz zum Objektfetischismus, vom Tempel die Funktion der identitätsstiftenden Erinnerungsevokation, vom Kabinett schließlich die Strukturierung des Sammlungsgutes, aber auch die expansiv-aggressive Grundeinstellung des Sammelnden, der niemals ein Gefühl der Saturiertheit empfinden wird.

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IV. Fundamentalkategorien des Exponates: Echtheit und Interaktivität

In wissenschaftlichen Ausstellungen gibt es zwei Arten von Exponaten: solche, die der Wirklichkeit außerhalb der Ausstellung entstammen, und solche, die eigens zu dem Zweck angefertigt worden sind, in der Ausstellung Wirklichkeit auszulegen. Die Ausstellungsrelevanz beider Arten von Exponaten beruht auf Grundkategorien, die das Verhältnis des Exponates zur Wirklichkeit außerhalb und innerhalb der Ausstellung und auch zur Wirklichkeit des Besuchers bestimmen. Die Kategorie der Echtheit bezieht sich auf das Verhältnis des Exponates zur unverfügbaren Wirklichkeit, der es entstammt und/oder auf die es verweist. Ein Altes Objekt ist echt im Hinblick auf den ursprünglichen Verwendungszusammenhang, dem es zugeschrieben wird; ein wissenschaftliches Experiment zeigt entweder einen echten oder einen simulierten, »getürkten« natürlichen Effekt. In beiden Fällen bedeutet Echtheit, dass sich am Exponat tatsächlich das zeigt, was es zu zeigen scheint. Von der Kategorie der Echtheit unterscheidet sich die der Richtigkeit. Diese bezieht sich nicht auf das Exponat selbst, sondern auf die Aussage, die von ihm vermittelt wird. Richtigkeit ist vor allem für die Exponatform »didaktisches Modell« im naturwissenschaftlich-technischen Museum entscheidend. Im Hinblick auf die Wirklichkeit, die es auslegt oder demonstriert, ist das Modell richtig oder unrichtig. Das heißt, das Modell ist auf Grund richtiger oder falscher Annahmen über diese Wirklichkeit entstanden und verkörpert diese Annahmen. Ein Diorama mit dem Modell eines Wasserrades der Frühindustrialisierung stellt technische Funktion, Bedienung und Verwendung eines Artefaktes in einer bestimmten geographischen, historischen und kulturellen Situation korrekt oder fehlerhaft dar. Das Modell des Wasserrades verweist auf einen als überliefert anerkannten Typus von Wasserrad, ohne dabei Spur oder Rest eines solchen Wasserrades zu sein. Um auf diese Art zu verweisen, muss das Modell gleichwohl in der Tradition des Wasserradbaus stehen. Dies aber bedeutet, dass nicht nur die Kontinuität des Materiellen, sondern auch die Kontinuität der Konzeption eine zeigende Annäherung an das Gewesene ermöglichen kann. Die Kategorie der Interaktivität schließlich bestimmt Ausmaß und Qualität der Wechselwirkungen zwischen Besucher und Exponat und erlaubt Aussagen über die Nähe des Exponates zum Besucher. Damit ist keine physikalische oder geistige Nähe gemeint, sondern das Aufgehen des Exponates in Handlungsabläufe. Interaktive Elemente dynamisieren die Wirklichkeitsstrukturen einer Ausstellung, indem sie den Besucher vom Beobachter zum Betei-

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ligten machen, der das Ausgestellte verändert. Der Besucher wird zu einem Teil der ausgestellten Wirklichkeit und gestaltet diese mit. Es ist das historische Verdienst der interaktiven Ausstellungselemente, dass sie neben das Erlebnis des Echten das echte Erlebnis gestellt haben. Nicht mehr nur das Wahrnehmen von Echtem, sondern auch das echte Hervorbringen des zu Zeigenden gehört heute zu den Geboten des gehalt- und effektvollen Ausstellens. IV.1 Echtheit Echtheit und Einzigartigkeit An zentraler Stelle seines berühmten Aufsatzes über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit setzt sich Walter Benjamin mit dem Begriff der Echtheit auseinander. Echtheit, das ist für Benjamin die Eigenschaft des Exponates, die sein »einmaliges Dasein« ausmacht, sein »Hier und Jetzt«. Auf der Echtheit des Exponates beruhe seine Aura,1 worunter er im weitesten Sinne die Fähigkeit des Exponates versteht, Fernes nah und Fremdes vertraut erscheinen zu lassen. Diese Aura, so Benjamin, werde durch die modernen Reproduktionstechniken, wie sie etwa in der Fotografie verwendet werden, vernichtet. So sehr der Begriff der Aura auch seine Nützlichkeit für die Analyse des Exponates erwiesen hat, so wenig hilft »Einmaligkeit« bei der Klärung des Echtheitsbegriffs weiter. Denn einmalig ist jeder Gegenstand. Um nicht einmalig zu sein, müsste ein Gegenstand mit einem anderen identisch sein. Jeder Gegenstand ist aber nur mit sich selbst identisch. Daraus folgt, dass jeder Computer, jeder Bleistift, jede Fliege, jede Barbie-Puppe und jedes geklonte Schaf auf Grund seiner Differenz zu allen anderen Gegenständen einmalig und in diesem Sinne auch echt ist. Er steht singulär im Raum-Zeit-Kontinuum und bildet für sich selbst den Referenzpunkt seiner Echtheit. Insofern ein Gegenstand er selbst ist, ist er echt. Die Trennschärfe eines solchen Echtheitsbegriffs – und damit seine Tauglichkeit für den wissenschaftlichen Museumsund Ausstellungsbetrieb – ist gleich null. Indes: Wenn der Begriff der Einmaligkeit nichts über den Ausstellungsund Sammlungswert des Exponates aussagt, so kann es der Begriff der Ein-

1

Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Produzierbarkeit. In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a.M. 1996, S. 7-44, dort S. 11 ff.

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zigartigkeit umso eher tun. Einzigartigkeit wird umgangssprachlich oft mit Einmaligkeit gleichgesetzt. Zu Unrecht: Die Einzigartigkeit eines Exponates sagt nichts über seine Singularität aus, dafür aber viel über seine Ersetzbarkeit und über seinen Wert. Einzigartig bedeutet einzig in seiner Art, das heißt, es gibt nichts Vergleichbares. Einzigartiges ist unersetzlich. Dabei ist der Wert, der das Unersetzliche ausmacht, nicht notwendigerweise materieller Natur. Das Erworbene, Gefundene oder Geborgene kann auch auf Grund seines ideellen oder affektiven Wertes für den Sammler einzigartig und unersetzlich sein. Schließlich kann Einzigartigkeit auch ein Merkmal sein, das sich sozusagen zwischen den Exponaten entfaltet, wenn das an und für sich triviale Ding mit anderen Dingen eine Serie oder ein Ensemble bildet – etwa in Form eines Briefmarkenalbums. Exponate, die einzigartig sind, werden Unikate genannt. Der Gegenbegriff zum Unikat ist das Serienstück. Ob ein Exponat ein Unikat ist, das hängt davon ab, wie man es klassifiziert und wie man die Merkmale der »Art« festlegt, in der das Ding einzig ist. Nichts ist einzigartig, wenn der Begriff, unter den man das Ding subsumiert, allgemein genug ist. Alles aber ist einzigartig, wenn man den Begriff des Gegenstandes eng genug fasst. So kann man beispielsweise Münzen danach spezifizieren, in welchem Jahr sie geprägt wurden und ob ihre Form besondere Unregelmäßigkeiten aufweist. Wenn die Spezifikation fein facettiert genug ist, wird jede Münze einzigartig. Die Eigenschaft der Einzigartigkeit kann nicht einfach von den Dingen abgelesen werden wie beispielsweise die genuine Eigenschaft der Farbe oder des Volumens. Es bedarf dafür eines Lesenden, der die Eigenschaften des Gegenstandes feststellt, vergleicht, beurteilt und bewertet. Erst der Betrachter des Gegenstandes bestimmt die Merkmalskonstellation, aus der sich die Einzigartigkeit des Gegenstandes ergibt. Nicht alle Museumsunikate waren einzigartig, als sie noch ihrer ursprünglichen Bewandtnisganzheit angehörten. So wurden im antiken Rom bestimmte Lampen schon in Serie hergestellt und im ganzen Imperium Romanum verkauft. Sie sind heute wertvoll, weil sie als ehemalig Austauschbares heute unaustauschbar sind. Auf eine einzigartige Weise repräsentieren sie das, was einst alltäglich war. Exponate, die keine Unikate sind, lassen sich ersetzen. Gleichwohl können auch serielle Exponate einen hohen Ausstellungswert haben. Der Gläserne Mensch des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden beispielsweise war niemals ein Unikat, sondern stets ein Serienmodell und von Anfang an als solches angelegt. Seit 1928, als der erste Gläserne Mann entstand, sind rund 150 Gläserne Männer und Frauen gebaut worden. Die Feststellung, dass der Gläserne Mensch echt sei, ist nicht viel interessanter als die Aussage, dass es

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sich bei einer bestimmten Cola-Flasche um ein echtes Stück handele. Die Besonderheiten der Einzelexemplare – zum Beispiel die Auswirkungen unterschiedlicher Schönheitsideale auf die Proportionierung der Figur – werden nur im sequenziellen Kontext der ganzen Serie fassbar. Entscheidend für die Attraktivität des Exponates »Gläserner Mensch« sind die Ideen, die hinter den Einzelexponaten stehen: zum einen die Idee der Durchschaubarkeit des Menschen durch die Lebenswissenschaften (die zur Idee der Machbarkeit und Lenkbarkeit des Menschen überleitet), zum anderen die Idee der unendlichen Kopierbarkeit dieser Transparenz. Der Gläserne Mensch war und ist gleichzeitig Symbol und Vehikel dieser Ideen – unabhängig davon, welche der 150 Figuren nun gezeigt wird. Authentizität und Originalität Es gibt zwei miteinander verwandte, aber doch unterscheidbare Aussagearten über die Echtheit eines Alten Objektes. Das Potenzial eines Gegenstandes, Ehemaliges, Entferntes, Jenseitiges oder Naturgesetzliches zu bezeugen, wird Authentizität genannt. Der Begriff der Authentizität bezieht sich auf das Verhältnis des Gegenstandes zu seinem primären Entstehungs- und Verwendungskontext. Authentizität verlangt nach einer Autorität, die den entsprechenden Gegenstand für authentisch erklärt – sei es, dass es sich um einen Wissenschaftler, eine religiöse Instanz oder um einen Hüter mündlicher Überlieferung handelt.2 Diese beglaubigende Autorität geht gewissermaßen auf den authentisierten Gegenstand über. Der Begriff der Originalität dagegen bezieht sich auf die Identität eines Gegenstandes mit der Vorstellung, die von diesem Gegenstand besteht. Das Original ist echt, weil es identisch mit dem Gegenstand ist, dessen Vorstellung oder Bild wir im Kopf haben. Das Authentische dagegen ist insoweit echt, als es richtig und stimmig ist. Das Surrogat, das Plagiat, die Fälschung oder die Kopie sind Gegenbegriffe zum Original; der Gegenbegriff zum Authentischen ist das historisch Unstimmige. Man spricht von einer authentischen Textilmaschinenhalle der Frühindustrialisierung oder vom authentischen Wortlaut einer Rede Bismarcks, wenn es sich

2

Helmut Lethen hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Begriff des Authentischen aus dem Diskurs der Macht stammt. Ein authentisches Siegel beglaubigt seit jeher die Echtheit einer Kopie. Helmut Lethen: Versionen des Authentischen: Sechs Gemeinplätze. In: Hartmut Böhme und Klaus R. Scherpe (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek bei Hamburg 1996, S. 205-231.

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dabei um Gegenstände handelt, deren Struktur in sich stimmig und unverfälscht ist. Es tut der Authentizität keinen Abbruch, wenn die Maschinenhalle nachgebaut worden ist und die Rede Bismarcks von einem Schauspieler gesprochen wird; ein authentisches Objekt ist nicht notwendigerweise ein Altes Objekt. Wenn man dagegen vom Original der Deutschen Reichskrone spricht, das heute in der Wiener Hofburg zu sehen ist, dann setzt man voraus, dass es sich genau um die Kaiserkrone handelt, die den deutschen Kaisern, vermutlich von spätottonischer Zeit an,3 auf die Häupter gesetzt wurde und deren Vorstellung man aus der Lektüre von Geschichtsbüchern gewonnen hat. Allerdings stellt sich die Frage, welcher Teil der Krone nun der originale ist, denn ihre verschiedenen Teile wurden zu unterschiedlichen Zeiten angefertigt. Insofern sind die Einzelteile zwar authentisch, aber nicht original im Sinne der Zugehörigkeit zu einer von Anfang an kompletten Einheit. Das Parthenon in Nashville ist nicht das originale Parthenon, denn es bezeugt nicht die Zeit des Perikles, sondern den unbefangenen Umgang amerikanischer Architekten und Stadtplaner mit der Formensprache der europäischen Architekturgeschichte. Man kann sich aber auf den Standpunkt stellen, dass der Bau in Nashville authentischer ist als die marmorweißen Überreste des Parthenons in Athen, denn durch seine üppige Bemalung vermittelt er ein genaueres Bild des Zustands, in dem sich der griechische Tempel vor 2500 Jahren befand.4 Echtheit im Sinne von Originalität wird erst dann möglich, wenn ein tradierbares Bild des entdeckten Alten Objektes schon vorausgesetzt werden kann. Der Begriff der Originalität kann sich nicht auf Neuentdeckungen erstrecken, weil diese keine Vorstellungen eines Gegenstandes weiterführen, sondern eine solche erst begründen. In diesem Sinne sind Originale gerade nicht originell: Sie begründen nichts Neues, sondern entsprechen einer Vorstellung, die man schon zu kennen glaubt, beispielsweise der Vorstellung der deutschen Kapitulationsurkunde vom 8. Mai 1945. Man betrachtet Originale als Belege der Tatsächlichkeit; sie werden in diesem Sinne, als Garant festen Bodens unter den Füßen und als gewissermaßen magische Abwehr von An-

3

Zur Geschichte der Reichskrone vgl. Bernhard Graf: Ansätze der Kunstbetrachtung am Beispiel der Deutschen Reichskrone. In: Hildegard Vieregg, Marie-Louise Schmeer-Sturm, Jutta Thinesse-Demel und Kurt Ulbricht: Museumspädagogik in neuer Sicht. Erwachsenenbildung im Museum. Hohengehren 1994 Bd. I, S. 166184.

4

Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation. München 1995, S. 244.

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zweiflungen des Faktenwissens instrumentalisiert, auf das man sich sicher glaubt verlassen zu können. Authentizität dagegen wird nicht auf Grund der Spannung zwischen Gegenstand und Vorstellung, sondern zwischen einem betrachtenden Heute und einem betrachteten Damals zugeschrieben. Im Umgang mit dem Alltäglichen mag Stimmigkeit und Unverfälschtheit im Sinne von Authentizität da sein, aber man wird des Authentischen nicht gewahr. Der kognitive Akt, der zur Identifikation des Authentischen führt, setzt einen Bruch zwischen dem Vergangenen und der Gegenwart voraus, der aber auch gleich bedeutend mit einem endgültigen Verlust des Authentischen ist. Das Authentische muss zuerst der Vergangenheit angehören und damit gerade seine Authentizität verlieren, ehe es zum authentisch empfundenen Gegenstand werden kann: »Authentizität ist immer schon und für immer verloren, aber im Bruch zum Danach scheint sie auf als das in sich bruchlose Davor.«5 Mit anderen Worten: Eine authentische Sache wird ohne Distanz und unmittelbar erlebt. »Es gibt keine Trennung zwischen rezipierendem Subjekt und dem reinen, echten Ereignis, keine Analyse ist notwendig, um sich konstruierend oder rekonstruierend an ein Geschehen oder ein Kunstwerk heranzuarbeiten.«6 Um es bewusst paradox ausdrücken: Gezeigtem, das authentisch ist, wohnt immer auch ein Moment des Unechten inne, weil es gezeigt wird. In gewissem Sinne verliert jeder Gegenstand ständig an Authentizität, da er in der Geschichte steht und seine Bewandtnisganzheit ständig im Flusse ist. Aber er bleibt ein Original, sofern er tatsächlich der bleibt, den wir meinen und dessen Identität wir bestimmt haben. Nicht nur für die Bewertung historischer oder kunstgeschichtlicher Exponate ist die Kategorie der Echtheit unentbehrlich. Sowohl Zeitzeugenschaft, als auch Naturzeugenschaft kann wahr oder unwahr, das betreffende Exponat entsprechend echt oder unecht sein. Bei einem Gesteinsbrocken, von dem jemand vorgibt, er sei vom Mars, der in Wirklichkeit aber aus Arizona stammt, ist dies offensichtlich. Es erweist sich dabei, dass Authentizität Originalität voraussetzt und umgekehrt. Erst wenn ich die authentische Geschichte des Marsbrockens kenne und in seine Bewandtnisganzheit integriert habe, kann ich ihm Originalität zuschreiben. Und erst wenn ich den originalen

5

Wolfgang Pauser: »Guten Morgen, du Schöne«. Die Presse, 7./8.September, 1991.

6

Hoffmann, authentische Erinnerungsorte, S. 33.

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Marsbrocken untersuche, kann ich die authentische Geschichte rekonstruieren. Kraft seiner Originalität und Authentizität ist das echte Exponat im Sinne Benjamins auratisch. Es verbindet das Einst mit dem Jetzt, die Ferne und die Nähe.7 Nehmen wir als Beispiel eine ausgestellte römische Münze. Diese Münze ist nicht mehr in ihren originären Weltzusammenhang eingebettet und daher kein Zahlungsmittel mehr. Sie ist ein Stück Metall in einer Vitrine aus Sicherheitsglas – ein besonderes Stück Metall allerdings, an dem sich erkennen lässt, dass es einmal Geld gewesen ist. Ist das Exponat als echt eingestuft worden, so bringt es scheinbar etwas zurück, das längst vergangen ist. Es bezeugt die Wahrheit vergangener Lebenswelten und lässt paradoxerweise das Ferne, das längst Versunkene nah erscheinen, auch wenn dieses natürlich fern bleibt. Die Ferne erscheint nah, »so fern sie sein mag«, wie eine berühmte Formulierung Benjamins lautet.8 Dadurch wird das echte Exponat zum Surrogat des Unverfügbaren. Es wird sozusagen zur semitransparenten Folie, durch das Geschichte hindurchschimmert und verfügbar erscheint. Bezogen auf den originären Weltzusammenhang des Gegenstands ist diese Nähe eine Illusion; bezogen auf das Exponat als anwesender Spur ist sie real. Geschickt präsentiert, vermag diese Spur die Fantasie des Betrachters anzufachen: Wie viel war die Münze wert, wer mag sie in der Hand gehalten haben, was alles wurde damit gekauft? Die Kunst des Kurators besteht darin, das auszustellende Exponat im Hinblick auf seine Aussagekraft und Wirkung als Original zu prüfen und es anschließend so in einen Sammlungs- und Ausstellungskontext einzubetten, dass es Authentizität entfaltet. Metaphorisch ausgedrückt, kommt es darauf an, das musealisierte Ding zum Sprechen zu bringen: Die Uhr Friedrichs II. von Preußen ist in anderer Hinsicht aufschlussreich und authentisch als eine moderne Cäsium-Atomuhr; das Hörrohr Beethovens bezeugt andere Geschehnisse und hat eine andere Aura als die Originalurkunde der Konstantinischen Schenkung, die als authentische Fälschung des Mittelalters nur vorgibt, eine Original aus der Zeit Konstantins des Großen zu sein. Auch Objekte wie die von Konrad Kujau gefälschten Hitler-Tagebücher können authentisches Zeugnis über die Zeit ihrer Entstehung ablegen. Sie sagen zwar sehr

7

Korff/Roth, historisches Museum, S. 17. Dazu auch die Überlegungen von Waidacher, Handbuch der Allgemeinen Museologie, S. 170.

8

Benjamin, das Kunstwerk, S. 15.

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wenig über das Dritte Reich selbst aus, sind aber sehr sprechende Exponate im Hinblick auf die Medienlandschaft der Bundesrepublik Deutschland in den frühen achtziger Jahren. Sie zeigen, wie mit der Geschichte des Dritten Reiches in dieser Zeit umgegangen wurde. In diesem Zusammenhang sind sie gar keine Fälschungen, sondern Originale, die unbestreitbar echt sind. Nur insofern sie vorgeben, etwas zu sein, was sie gar nicht sind – nämlich Hitlers Tagebücher – sind sie unecht. Jede Fälschung und auch jede Kopie ist echt, wenn man sie an ihrer Funktion als Fälschung und Kopie misst. Doch sind sie eben nicht mit dem »gemeinten« Original identisch, auf das der Kopist ausdrücklich und für den Leser erkennbar, der Fälscher in täuschender Absicht Bezug nimmt. Die Kopierbarkeit des Echten Wie wichtig sind nun Originalität, Authentizität, Echtheit und Einzigartigkeit für den heutigen Umgang mit Vergangenem? 1999 wurde dazu in Weimar ein interessantes und provozierendes Experiment durchgeführt, das überaus geschickt als »Event« vermarktet wurde: Goethes Gartenhaus wurde kopiert und zusätzlich zum Original des Hauses den Besuchern zugänglich gemacht.9 Der Kern dieser Aktion bestand also darin, dem Original seine Einzigartigkeit zu rauben – und das anhand eines Exponates, das auf den wohl berühmtesten Repräsentanten eines Originalitätskultes verweist, zu dem auch der Glaubenssatz von der Inkommensurabilität, der Nichtkopierbarkeit des schöpferischen Individuums gehört. Das Experiment warf eine ganze Kaskade von Fragen auf: Wurde nun mit der Kopie der Form des Originals auch seine Echtheit kopiert? Ist die echte Echtheit wertvoller, echter als die kopierte Echtheit? Solche Irritationen werden verständlich, wenn der Ursprung des heute üblichen Echtheitsbegriffs bedacht wird. Der Begriff der Echtheit, sofern er für Originalität und Authentizität steht, bildete sich in vorindustrieller Zeit, als die Herstellung »täuschend echter« Kopien einen sehr großen Aufwand erforderte10 und nur in der Kunst – beispielsweise als Technik des trompe

9

Lorenz Engell: Von Goethes Gartenhaus zu Mc Goethe. In: Die klassische Kopie. Goethes zweites Gartenhaus im Park an der Ilm, Weimar vom 12.03.1999, Vernissage Nr. 5/1999, S. 14-21.

10

Peter Weibel: Digitale Doubles. In: Stefan Iglhaut, Florian Rötzer und Elisabeth Schweeger: Illusion und Simulation. Begegnung mit der Realität. Ostfildern 1995, S. 192-207, dort S. 194.

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l’oeuil-Effektes, aber auch als Fälschung – praktiziert wurde. In der Regel waren das Echte und das Falsche eindeutig voneinander zu unterscheiden. Angesichts der Fortschritte der digitalen Medien, der Kopiertechnik, aber auch der Gentechnik, bei denen die Fragen nach Original, Kopie und Fälschung schon aus technischen Gründen sehr erschwert, manchmal auch sinnlos sind, ist dieser Begriff der Echtheit brüchig geworden. Auch wenn im Fall des Goetheschen Gartenhauses nur die äußere Oberfläche, hinter der sich moderne Holzfaserplatten verbargen, kopiert wurde: Mit Blick sowohl auf den ästhetischen, als auch auf den wissenschaftlichen Wert ist es vorstellbar, Kopien eines Tages so genau anzufertigen, dass sie nicht mehr von ihrem Original unterschieden werden können. Es ist heute nicht mehr utopisch, anzunehmen, dass die äußeren Merkmale einer mittelalterlichen Urkunde – die Beschaffenheit des Pergaments, die Zusammensetzung der Tinte, des Siegels usw. – eines Tages mit ebenso hinreichender Präzision kopiert werden können wie die Merkmale des Inhalts. Auch wäre es denkbar, Michelangelos Pietà so zu kopieren, dass selbst Spezialisten nicht mehr in der Lage wären, die Kopie vom Original zu unterscheiden. Höchst irritierend für Verfechter des traditionellen Originalitätskultes muss es sein, dass in St. Petersburg gerade die Kopie des legendären Bernsteinzimmers fertig gestellt worden ist. Da in diesem Fall das Original verschollen ist, tritt die Kopie an die Stelle des Originals. Doch niemand weiß, ob die Ausführung der Kopie die des Originals getroffen hat. Was passiert aber, wenn das Original des Zimmers aufgefunden wird? Ist dann die Kopie möglicherweise das primäre Original, weil sie ein grandioses Stück Archäologie des Kunsthandwerks verkörpert, und wird dann das wieder gefundene Original zu einer Art antizipierter Kopie? Das Echte als Zeuge Schwindel erregende Perspektiven, wird man sagen. Aus der Sicht des durchschnittlichen Ausstellungsbesuchers hat eine Kopie eine schwächere Wirkung als ein Original. Man will nicht, dass die Mona Lisa in absolut ununterscheidbaren und »täuschend echten« Kopien in jedem Stadtmuseum und jedem Vorstandszimmer hängt; nicht nur für Bildungsbürger wäre dies ein Albtraum. Warum will man es nicht? In einem elementaren Anthropomorphismus weist der Betrachter dem originalen Gegenstand die Funktion eines Zeugen zu, so als könne er aussagen: Ich war der Marmor, der von Michelangelos Händen behauen wurde, ich war das Hörrohr, das Beethovens Schwerhörigkeit linderte, wir waren die Magdeburger Halbkugeln, an denen Otto von Guerickes Pferde zerrten und die das Geheimnis des Vakuums preisgaben. Ich war die Schiffsglocke der Titanic, die in jener Nacht des Jahres 1911 zu spät geläutet wurde, ich war das Blatt Papier, auf dem Dönitz’ Unterschrift

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die Kapitulation der Wehrmacht besiegelte. Die beredte Zeitzeugenschaft der Gegenstände ist nach wie vor das wichtigste Kapital des historischen Museums. Steht man schon keinem Zeitzeugen aus Fleisch und Blut gegenüber, so will man doch wenigstens Zeitzeugnisse haben, und nicht deren Kopien. Die Tendenz, den dabei gewesenen Gegenstand zu mystifizieren und dem Original quasi die Fähigkeit zu erzählen zuzuschreiben, ist offensichtlich. Gleichwohl ist der populäre Wunsch nach »echter« Zeitzeugenschaft ein gesunder Wunsch. Völlig zu Recht setzt er voraus, dass Gegenstände, die in keiner Kontinuität zu dem stehen, was sie bezeugen sollen, unglaubwürdig sind. Nur wer sie als Einheit mit ihren ursprünglichen Zusammenhängen denkt, setzt ihr Potenzial frei, Zeugnis des Vergangenen abzulegen. Die Situation, die den historischen Gegenstand initiiert, beispielsweise der Versuch Otto von Guerickes oder der Untergang der Titanic, lässt sich nicht vom Gegenstand ablösen, ebensowenig wie die Situation sich ohne seine Gegenstände denken lässt. Dass die jeweilige Situation der Vergangenheit angehört, heißt nicht, dass sie nichts mehr ist. Als Spur ist sie im Alten Objekt gegenwärtig und mehr als nichts. Das Echte als Urheber Doch beruhen Wirkung und Funktion des Echten nicht nur auf dieser Sehnsucht nach Zeitzeugenschaft der Materie, sondern auch auf seinen Urheberqualitäten. Denn das echte Stück geht der Kopie und der Fälschung zeitlich und kausal voraus. Es ist nicht abgeleitet, sondern alle Kopien und Fälschungen leiten sich von ihm ab. Es ist eine Art unbewegter Beweger des ästhetischen Empfindens und der historischen Reflexion. Dies hat nicht zuletzt eine ethische Dimension. Ohne den Urmeter in Paris wären Messungen in Metern wahrscheinlich auch durchführbar, aber weniger glaubwürdig. Ein Maß lässt sich leichter anlegen und wird auch leichter akzeptiert, wenn man sich – ausgesprochen oder unausgesprochen – auf ein Urmaß bezieht. Indem das Original festlegt, was vor ihm gewesen ist und nach ihm kommen wird, was ihm ähnelt und von ihm verschieden ist, eicht es die Wirklichkeit und strukturiert damit auch die Welt außerhalb des Museums. Es legt Identitäten und Ableitungsverhältnisse fest, ordnet die Beziehungen zwischen den Dingen und richtet Zeit aus. Dies ist der Grund, warum ein Plagiat niemals den Wert des Originals haben wird: Nur Originale sind Bezugspunkte abgeleiteter Gegenstände wie der Vervielfältigung, der Fälschung oder der Annäherung. Mag ein Komponist noch so kongenial im Stile Mozarts komponieren – sofern er aus seiner tatsächlichen Urheberschaft keinen Hehl macht, wird er sich vergeblich um Aufnahme ins Köchelverzeichnis bemühen. Denn ohne den historischen Mozart hätte er nicht so wie Mozart schreiben können.

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Daraus ergibt sich, dass die Echtheit eines Gegenstands mehr bedeutet als Originalität und Authentizität. Echtheit bedeutet auch soviel wie Verlässlichkeit gebend durch Unabgeleitetheit. Sie garantiert die Verwendbarkeit von Maßstäben und erweist sich dadurch als eine profane Variante des Heiligen. In gewissem Sinne sind echte Musealien heilige Gegenstände inmitten einer säkularisierten Welt. Dementsprechend sind Vitrinen Monstranzen der Moderne und der Museumsbesuch hat viel von einer kultischen Handlung. Originale sind quasi heilig, weil in ihnen der Gegensatz von Gegenstand und Vorstellung, von Bild und Vor-Bild aufgehoben erscheint. Aus diesem Grunde wird der Raub von Alten Objekten – wie beispielsweise im irakischen Nationalmuseum Bagdad im Frühjahr 2003 – mit Recht als Frevel empfunden. Fehlen solche Gegenstände, so nimmt auch der Glaube an die Verlässlichkeit des Wissens und damit auch an die Erkennbarkeit der Welt Schaden, und dies ist – bei aller gebotenen Skepsis gegenüber absoluten Gewissheiten – keine gute Perspektive. Echtheit im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit Die Hochschätzung des Authentischen und des Originals, die nach wie vor in den Museen am greifbarsten ist, stellt eine Art von modernem Platonismus dar. Dieser hebt die Originale in den Rang von ewigen, unteilbaren und einzigartigen Ideen, an denen jeder teilhaben kann, indem er sie betrachtet. Es ist anzunehmen, dass sich das Verlangen nach dem Echten und Ursprünglichen, der diesem musealen Platonismus zugrunde liegt, in Zukunft noch verstärken wird. Schon 1993 hat der »Spiegel« einen allgemeinen »Drang zur Authentizität« diagnostiziert.11 Wir leben in einer Gesellschaft, »auf der das Siegel des Nichtauthentischen liegt«,12 das heißt, in einer Zeit der Schneekanonen, der Solarien und der Erdbeeren im Januar. Im Alltag lässt sich das Echte, das heißt das Unverfälschte und Unkopierte, aber auch das aus traditionellen Zusammenhängen Erwachsende – also die Erdbeeren im Frühsommer – mitunter kaum noch ausmachen. Insbesondere die Hypermedien verwischen die Grenzlinien, die zwischen der echten Vorlage einerseits, und Fäl-

11

»Der Spiegel« vom 27. Dezember 1993, S. 168 f.

12

Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie. Frankfurt a.M. 1967, S. 391, ferner – auf das Thema Authentizität im Museum bezogen – Gottfried Korff: Zur Eigenart der Museumsdinge (1992). In: Martina Eberspächer, Gudrun Marlene König und Bernhard Tschofen: Museumsdinge. Deponieren – Exponieren. Köln/ Weimar/Wien 2002, S. 140-145, dort S. 141.

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schung und Kopie andererseits verlaufen. Und virtuelle Realitäten sind hinsichtlich ihrer Echtheit zutiefst aporetisch. Sie sind real, obwohl sie unecht sind. Oder sind sie echt, obwohl sie irreal sind? Die Verunsicherung, die aus diesen Fragen resultiert, wird mehr und mehr als störend und letztlich unproduktiv empfunden. Sie wird die Sehnsucht nach dem Echten, ferner nach einem Ort anfachen, wo man sich in der – freilich illusionären – Sicherheit wiegen lassen kann, dass A tatsächlich A ist und einem nichts vorgespielt wird. Das A eines Ausstellungsexponates ist zwar niemals ganz, sondern immer nur zum Teil das A des Objektes in seinem ursprünglichen Lebenszusammenhang. Insofern ist es zutreffend, Exponate als »Abbilder von Originalen« zu sehen, »die so (oder überhaupt) gar nicht existierten.«13 Doch bleibt die Unterscheidung von Echtem und Fälschung, von Authentizität und Fiktion unerlässlich, wenn denn Erkenntnis der Welt und ein sinnvolles Handeln in ihr möglich bleiben soll. Ansonsten wären beispielsweise Gerichtsverhandlungen gar nicht möglich, noch wäre es vertretbar, zwischen Geschichtswissenschaft und propagandistischer Verfälschung des Vergangenen zu unterscheiden. Wenn man eine solipsistische Weltsicht ablehnt, nach der es keinen Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realität, sondern nichts als konstruierte Wirklichkeit gäbe,14 dann müssen Echtheit – und auch Wahrheit! – Leitvorstellungen wissenschaftlichen und auch alltäglichen Handelns bleiben. Auf Grund seiner quasi religiösen Implikationen ist die Faszination des Originalen und Authentischen ungebrochen – auch und vielleicht gerade im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit. Die Möglichkeit, Originales und Authentisches zu kopieren, hat dessen Bedeutung sogar noch erhöht, weil es nun als Kopiervorlage unerlässlich geworden ist. Allerdings konzentriert sich das Interesse am Echten nun nicht mehr auf das, was es sagt, sondern auf

13

Wolfgang Ernst: Geschichte, Theorie, Museum. In: Gottfried Fliedl, Roswitha Muttenthaler und Herbert Posch (Hg.): Erzählen, Erinnern, Veranschaulichen. Theoretisches zur Museums- und Ausstellungskommunikation. Klosterneuburg 1992, S. 7-40, dort S. 30.

14

Eine Übernahme radikalkonstruktivistischer Positionen findet sich bei Michael Fehr: Das Museum als Ort der Beobachtung Zweiter Ordnung. In: Rosmarie Beier (Hg.): Geschichtskultur in der Zweiten Moderne. Frankfurt a.M. 2000, S. 149-165, dort S. 163 f. Ob Fehr die Auffassung des Science-Fiction-Films MATRIX teilt, in dessen Handlung Wirklichkeit auf eine mentale Interpretation elektrischer Signale reduziert wird, wird offen gelassen.

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das, was es ist.15 Das aus wissenschaftlicher Sicht Wertvollste des echten Stücks, seine authentische Aussagekraft, ist weitgehend kopierbar und nur selten an das Original gebunden. Es ist das bloße Vorhandensein des Gegenstandes, das noch heute auratisch wirkt. Das Publikum ist mit den Subtilitäten der Systemtheorie nicht vertraut und stellt in der Regel die Frage nicht, ob Echtheit vielleicht eine traditionalistische Chimäre sei und deshalb dekonstruiert werden müsse. Dies hat beispielsweise der phänomenale, weltweite Erfolg der Ausstellung »KörperWelten« gezeigt, in der plastinierte Leichen zur Schau gestellt werden, aber auch die Besucherzahlen der Titanic-Ausstellung 1998, in der unter anderem die originale Schiffsglocke des in 4000 m Tiefe liegenden Wracks zu sehen war. In solchen Ausstellungen triumphiert heute das Auratische. Benjamins Einschätzung, dass die Aura im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit zugrunde gehen würde, hat sich als unzutreffend erwiesen. Man kann einwenden, dass die Titanic-Ausstellung nur eine flankierende Maßnahme zur Vermarktung des gleichnamigen Films gewesen sei. Doch beruht der Erfolg auch des Films »Titanic« ganz entscheidend auf der Nähe zum Original. Es ist bekannt, dass James Cameron, der Regisseur, höchstpersönlich mit einem UBoot das originale Wrack der Titanic besucht und gefilmt hat. Die dabei gemachten Aufnahmen wurden, wenn man der Filmwerbung glauben schenken darf, als authentische Komponente in die Handlung des Spielfilms inseriert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Begriff der Echtheit immer weniger an der materiellen Struktur des Gegenstandes festgemacht werden kann. Es ist anzunehmen, dass sich früher oder später von jeder materiellen Struktur eine Kopie herstellen lässt, die täuschend echt aussieht. Dies wird aber nicht notwendigerweise das Ende der Echtheit bedeuten, vorausgesetzt, Echtheit wird von einem materiebezogenen zu einem mehr situationsbezogenen Begriff. Das heißt, Echtheit sollte sich mehr als bisher auf den historischen Zusammenhang beziehen, dessen tatsächliches Geschehen der jeweilige Gegenstand verbürgt. Entscheidend an der Echtheit wäre dann, dass das Exponat wirklich dabei gewesen ist, und nicht, dass es bestimmte äußere, früher oder später kopierbare Merkmale aufweist. Von der Perspektive des Ausstellungsbesuchers gesehen würde Echtheit dann endgültig von einem ablesbaren Merkmal zu einer Hypothese werden, die nur durch eine lückenlose Überlieferungsgeschichte nachprüfbar wäre. Da jedoch eine solche in Ausstellungen nur bedingt vermittelbar ist, würde die Echtheit von Exponaten

15

Dazu John Berger: Ways of Seeing. London 1972, S. 21.

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mehr als bisher zu einer Sache des Vertrauens, das die Besucher in die Wissenschaftler beziehungsweise das Museum investieren müssten. Das heißt: Da das Patina der Exponate lügen kann, muss man sich mehr als bisher darauf verlassen können, dass das, was man unter der Vitrinenhaube oder auf dem Podest sieht, tatsächlich das Original ist, das es zu sein vorgibt. Ohne ein solches Vertrauen und eine entsprechende Glaubwürdigkeit der Wissenschaft beziehungsweise des Museums wird auch in der zukünftigen Welt Orientierung unmöglich sein. IV.2 Interaktivität Die Echtheit des interaktiven Exponates Auch interaktive Exponate können unecht sein, wenn nämlich die Wirkung eines Naturgesetzes oder die Tendenz einer technischen Vorrichtung nur »getürkt« werden, anstatt sie tatsächlich zu zeigen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Besucher per Knopfdruck ein Windrad zum Drehen bringt: Er glaubt, er habe einen Luftstrom erzeugt, der auf das Windrad einwirkt; in Wirklichkeit aber dreht ein Elektromotor das Rad, der für den Besucher nicht sichtbar ist. Nicht untypisch wäre es in solch einem Fall, wenn ein elektromagnetischer Effekt noch eine Windfahne aufrichtete, so dass weniger scharfe Beobachter in den falschen Glauben versetzt würden, das bestrickend ehrliche Museum entfessele sogar für seine kleinen Modelle echte Naturgewalten. Inwieweit sind solche interaktiven Versuche nun original oder authentisch? Nur wenn die Historizität eines Versuchsaufbaus selbst – beispielsweise im Fall des Versuchstischs von Otto Hahn – im Zentrum des kuratorischen Interesses steht, geht es um die »originalen« Qualitäten des Exponates selber. Bei interaktiven Versuchen geht es aber nicht in erster Linie um ihre Apparatur, sondern um das, was sich an der Apparatur zeigen soll. Dementsprechend ist das gesamte technische Zubehör des Versuchs ohne Bedeutungsverlust austauschbar. Mehr noch: Die Versuche sind ihrem Wesen nach multiple Exponate. Sie sind beliebig oft wiederholbar und auf jeder technisch geeigneten Apparatur durchführbar, so dass nichts weniger auf diese Versuche zutreffen kann als der Benjaminsche Begriff des »einmaligen Daseins«. Interaktive Versuchsapparaturen sind Zeug, das in der Handlung des Besuchers aufgeht. Als solches Zeug können sie weder original noch authentisch sein, denn: Die Zuschreibung beider Eigenschaften setzt die Rekonstruktion einer ursprünglichen Bewandtnisganzheit und damit zeitliche Distanz voraus. Eine solche Distanz zu einem Ding entsteht aber nicht, solange man mit ihm umgeht, um etwas anderes als das Ding selbst zu zeigen. Die Echtheit, die beim

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interaktiven Versuch eine Rolle spielt, ist also die Echtheit des an ihm deutlich werdenden Effektes, und nicht die Echtheit des Versuchsaufbaus. Zum Begriff der Interaktivität »Interaktion« und »Interaktivität« gehören heute zu den Schlüsselwörtern in der Museumsszene.16 Insbesondere Mitarbeiter naturwissenschaftlich-technischer Museen trauen sich kaum noch, einen Fachvortrag zu halten oder eine Veranstaltung für Museumsleute zu moderieren, ohne diesen Begriff möglichst häufig in ihre Rede einfließen zu lassen. Allerdings besteht über die Bedeutung dieses Begriffs kein Konsens. Klar ist nur, dass sein Siegeszug mit dem Aufkommen eines angeblich neuen Museumstyps zusammenhängt. Dieser Museumstyp wurde 1969 von Frank Oppenheimer durch die Gründung des Exploratoriums in San Francisco ins Leben gerufen, des ersten Science Centres. Zweifellos war dies ein innovativer Schritt, auch wenn die ScienceCentre-Bewegung sehr frühe Vorläufer in der Berliner Volksbildungsstätte Urania und dem Deutschen Museum in München hatte.17 »Interaktiv« im Museum bedeutet zum einen so viel wie »Aktivität provozierend«. Ein Objekt kann nicht aktiv werden, sondern nur die Aktivität des Menschen wecken, der dem Objekt gegenüber steht. Zum anderen bedeutet das Präfix »inter« in diesem Fall, dass die Aktivität des handelnden Menschen über die Veränderung des Objektes auf ihn zurückschlägt, so dass eine Wechselwirkung zwischen Handelndem und Behandeltem entsteht. Infolgedessen ist der Handelnde nach der Aktion nicht mehr derselbe wie vorher, sondern er hat etwas gelernt. Zusätzlich zu dieser entscheidenden Merkmal der Wechselwirkung zwischen Besucher und Exponat hat das Konzept der Interaktivität folgende praktische und pädagogische Implikationen: • Interaktive Ausstellungselemente verlangen vom Besucher den Einsatz seines Körpers, vor allem seiner Hände (»hands-on«-Elemente). Das Expo-

16

Zu den praktischen Implikationen dieser Begriffe vgl. James M. Bradburne: In-

17

Zur Geschichte der Urania vgl. Otto Lührs: Vom Schauen und Anfassen. Techni-

teraction in the museum. Observing Supporting Learning. Amsterdam 2000. sche Museen und ihr Wandel. In: Kultur & Technik 3/1992, S. 49-53 Zur Geschichte der Science Centre-Bewegung vgl. Hilde Hein: Naturwissenschaft, Kunst und Wahrnehmung. Der neue Museumstyp aus San Francisco. Stuttgart 1993, bes. S. 45 ff.

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nat soll physisch erfahren, möglichst auch angefasst werden. Dies wird in einem Gegensatz gesehen zum angeblich passiven Anschauen eines »konventionell« präsentierten Objektes. Interaktive Ausstellungselemente verändern sich durch den Zugriff des Besuchers. Dieser in der Regel manuelle Zugriff – zum Beispiel das Umlegen eines Hebels – bewirkt eine Veränderung des Zustandes, in dem sich das Element vor der Aktion befunden hat. Diese Veränderung soll unerwartet sein. Die Veränderung des Exponates führt zu einer Lernerfahrung des Besuchers, das heißt zur Befestigung oder Erweiterung individuellen Wissens. Dies kann durch Benennung eines dem Besucher unbekannten Phänomens geschehen – etwa in der Art, dass ihm vermittelt wird: Dieses Phänomen wird Elektrizität genannt. Oder aber, es wird ein Schluss nahegelegt, der das Zustandekommen nicht nur des beobachteten, sondern gleicher oder ähnlicher Phänomene erklärt, beispielsweise, wenn der Besucher erfährt, dass das Brennen einer Lampe auf die elektrische Leitfähigkeit eines Metalls zurückzuführen ist. Im letzteren Fall handelt es sich um die induktive Methode des Experimentierens in ihrer museumstauglichen Form. Ein interaktives Exponat lässt mehrere Resultate zu. Die Art, wie der Besucher das Exponat bedient, hat konkrete Auswirkungen auf den Ablauf des Versuches. Dies impliziert auch die Möglichkeit, dass der Besucher etwas falsch machen kann, ferner, dass er mehrere Anläufe nehmen kann, um das gewünschte Resultat zu erzielen. Die Veränderung des Exponates ist nahezu beliebig oft wiederholbar. Nach jeder Veränderung muss sich der ursprüngliche Zustand des interaktiven Elementes wieder einstellen.

Im Gegensatz zu Alten Objekten sind interaktive Exponate nicht Teil von dem, was durch sie deutlich wird. Der intendierte Effekt – man denke an einen Versuchsaufbau zur Demonstration der Pendelgesetze – zeigt sich an ihnen, nicht in ihnen. Daher sind sie auch – im Unterschied zu Alten Objekten, aber auch zu Modellen – keine Zeichen. Sie sind keine Zeichen, denn sie sind Zeug. Die interaktiven Exponate melden etwas oder etwas äußert sich an ihnen. Das heißt, ein vom Besucher induzierter Prozess läuft an ihnen ab, der durch vorgegebene Gesetze, Tendenzen oder Zusammenhänge bedingt ist. Da sie Prozesse zeigen, trifft die Definition der Ausstellung als »erstarrter Zeige-

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handlung«18 nur eingeschränkt auf sie zu. Sie sind aber doch insofern starr, als sie immer denselben Prozess zeigen. Zur Geschichte des Begriffs Frank Oppenheimer, der Gründer des Exploratoriums, nannte museumstaugliche Experimente, die Naturphänomene sichtbar werden lassen, »Phänobjekte«. Ein Naturgesetz wird an ihnen zum Phänomen. Ist das Phänobjekt interaktiv, was in der Regel, aber nicht immer der Fall ist, so scheint der Besucher für kurze Zeit über ein Stück Natur verfügen zu können. Er bestimmt, wann der betreffende Effekt auftritt, und er bestimmt, wie lange er andauert. Ende der 1960er Jahre, in der Zeit der Gründung des Exploratoriums also, wurde das aus dem Englischen entlehnte Wort Interaktion zum ersten Mal verstärkt im Deutschen verwendet. Dies geschah vor allem in den Sozialwissenschaften.19 Wann genau der Begriff in die deutsche Museumsszene Eingang gefunden hat, ist schwer zu sagen. Es war wohl Anfang der siebziger Jahre, als das Schlagwort von der »Bildungsreform« auch im Museumswesen Fuß fasste und viel von »Bildung für alle« und einem Abbau der »Schwellenangst« die Rede war, die man gegenüber dem Museum wahrzunehmen glaubte.20 Vertretern dieser Richtung galt das Museum in erster Linie als Lernort, dessen Funktion die Vermittlung von möglichst viel Information an möglichst viele Besucher war. Im Deutschen Museum in München war dies die große Zeit der Druckknopfexperimente, die beispielsweise in den damals realisierten Abteilungen für technische Chemie und Chemie in großer Anzahl eingesetzt wurden. Im Hinblick auf die Einbeziehung des Besuchers stellten diese Ausstellungen gegenüber klassischen Abteilungen des Deutschen Museums wie der Physik, die um 1960 aufgebaut worden war, eher einen Rück-

18

Darauf weisen die Belege in der Sprachkartei der Redaktion des Duden hin. Im Englischen bedeutete Interaktion ursprünglich soviel wie Wechselwirkung. Der erste Beleg für eine Verwendung des Begriffs »interaktiv« im Deutschen stammt aus einer Ausgabe der Fachzeitschrift »Elektronik« aus dem Jahr 1971 und bezog sich auf Prozessoren. Ich danke der Redaktion des Duden für diese Hinweise.

19

Schärer, 700 Jahre, S. 54.

20

Vgl. Detlef Hoffmann: Drei Jahrzehnte Museumsentwicklung in der Bundesrepublik – Trends, Strukturen, Perspektiven. In: Alfons W. Biermann (Hg.): Vom Elfenbeinturm zur Fußgängerzone. Drei Jahrzehnte deutsche Museumsentwicklung. Versuch einer Bilanz und Standortbestimmung. Opladen 1996, S. 13-23, dort S. 14 ff.

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schritt dar. Druckknopfexperimente erlaubten es zwar, viele Experimente nacheinander in Gang zu setzen und ihren Ablauf zu beobachten, gestatteten aber keine Eingriffe in das Experiment selbst. Die Folge war, dass insbesondere die jugendlichen Besucher des Museums häufig ziellos, wenn nicht sogar rabaukenhaft auf die betreffenden – übrigens roten – Knöpfe draufhauten, die aus gutem Grund groß und robust waren. Das Verstehen des Experimentes war keine Voraussetzung für seine erfolgreiche Beendigung, es lief von selbst ab. Von Interaktivität im Sinne einer Wechselwirkung zwischen Besucher und Exponat konnte keine Rede sein. In den 1980er Jahren wurden museumspädagogische Konzepte, die auf eine möglichst große Quantität des zu vermittelnden Wissens gesetzt hatten, mehr und mehr in Frage gestellt. In dieser Zeit begann man zunehmend auf die Eigeninitiative des Besuchers zu setzen und griff dabei gerne auf die Terminologie der sich emanzipatorisch und liberal gebenden Sozialwissenschaften zurück. »Interaktiv« wurde zum Kampfbegriff einer sich avantgardistisch gebenden Kuratorengeneration gegen die traditionelle Methodik, die das hierarchische Gefälle zwischen wissendem Kurator und unwissendem Besucher gleichermaßen vorauszusetzen und zu bekräftigen schien. Diese neue Haltung ging mit großer Aufgeschlossenheit gegenüber audivisuellen Medien und multimedialen Systemen einher. Die Kehrseite dieser Entwicklung bestand in der antikommunikativen Konsequenz dieser Art von Interaktivität. Kommunikation, dies war die implizite Zielsetzung, sollte automatisiert werden. Die Funktion des erwidernden und auf die eigene Rede und Handlung reagierenden Gegenübers wurde in das Exponat gelegt. Erst allmählich werden heute Automatisierung und Kommunikation als Gegensätze erkannt. Durch Korridore für kommunikatives Verhalten – beispielsweise breite Screens von Multimedia-Elementen, welche die Teilnahme von mehreren Besuchern zulassen – versuchen die Ausstellungsmacher diesem Gegensatz die Schärfe zu nehmen. Interaktivität heute Heute sind interaktive Exponate in naturwissenschaftlichen Ausstellungen selbstverständlich geworden. Dagegen steht der Einzug solcher Elemente in Ausstellungen kunst- oder kulturhistorischer Ausrichtung insgesamt noch bevor. Es ist seltsam, dass sich die besondere Art der Objekterfahrung, auf die der Begriff der Interaktivität verweist, ausgerechnet in der Institution Museum entfalten konnte. Denn eigentlich ist das moderne Museum, wie es sich seit dem späten 19. Jahrhundert entwickelte, kein Ort des Mitmachens und des Anfassens gewesen. Ganz im Gegenteil: Die Dinge und Gegenstände, die in den Museen aufbewahrt und ausgestellt wurden, sollten dem Gebrauch

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➔ Fundamentalkategorien des Exponates

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und damit dem Verschleiß entzogen werden; sie verfielen damit in eine gewisse Starrheit. Die Distanz zwischen Betrachter und Exponat wurde betont, wobei Nutzlosigkeit für den Lebensalltag die Voraussetzung des Ausstellungswertes war. Komplementär zur Tendenz, das Exponat zu verewigen, schien auf der Seite des Betrachters eine Haltung des Staunens und Abstandhaltens gegenüber dem Wertvollen, Raren und Geheimnisvollen angebracht. Es ist das große Verdienst der modernen Wissenschaftsmuseen, dass sie das Nützliche mit dem Bedeutsamen versöhnt und die so genannten Meisterwerke vom Podest geholt haben. Ein Pendelversuch ist in einem solchen Museum nicht um seiner selbst willen ausgestellt oder wegen seines Charakters als Zeitzeugnis – es sei denn, es handelt sich um einen historisch bedeutsamen Versuchsaufbau, mit dem Wissenschaftsgeschichte geschrieben wurde. Entscheidend am Versuch ist, dass er die Auswirkung eines Naturgesetzes zeigen, dessen Gültigkeit belegen und von jedermann nachvollzogen werden kann. Der Versuchsaufbau ist im Hinblick auf das pädagogische Ziel, das Naturgesetz verständlich zu machen, überaus nützlich. Außerdem verweist dieser nützliche Versuch auf etwas sehr Bedeutsames, ein Naturgesetz. Diese Leistung des Verweisens erschöpft sich nicht darin, nützlich zu sein. Denn was die Welt erklärt, ist nicht nur nützlich; es trägt zu ihr bei, indem es sie transparent macht. Allerdings ist für diese historisch bedeutsame Leistung der naturwissenschaftlich-technischen Museen auch ein hoher Preis gezahlt worden. Denn in den Ausstellungen dieser Museen und der Science Centres sind die Gegenstände am Verschwinden. Das Zeug und der Kruscht, sei es in mechanischer oder elektronischer Form, sind auf dem Vormarsch. Zeug aber, so haben wir gesehen, zeigt sich nicht. Man hat die Gegenstände aus den Vitrinen und von den Podesten geholt und sie dem Besucher in die Hand gedrückt. In dieser Hand erweisen sie sich aber als bloße Hilfsmittel ohne auratische Wirkung. Sie lenken den Geist zwar auf das Phänomen weiter, das gezeigt werden soll, halten ihn in der Regel aber nicht beim Gegenstand fest. Flüchtigkeit und Ruhelosigkeit stellen daher Wesensmerkmale vieler Science Centres dar, Symptome für die Unfähigkeit, sich dem gegenständlichen Sein denkend zu nähern. Im Übrigen bleibt zu fragen, ob die starke Betonung des Manuellen in interaktiven Ausstellungen – an sich eine erfrischende Ergänzung des traditionellerweise visuell orientierten Mediums Ausstellung – nicht den Blick für das interaktive Potenzial der konventionellen Medien verstellt. Denn auch die Annäherung beispielsweise an eine alte, stillgelegte Dampfmaschine kann zur interaktiven Erfahrung werden. Man betrachtet die Maschine von ferne,

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auf Grund des Gesamteindrucks nähert man sich ihr und nimmt ein Detail ins Visier, woraufhin man erneut die gesamte Maschine in den Blick nimmt, vielleicht um sie herum läuft und – falls dies nicht verboten ist – sie berührt. Im Grunde genommen sind alle Exponate interaktiv, die den Besucher zur Annäherung einladen und ihn so beeinflussen, dass die beim Annähern gemachten Erfahrungen auf die geistige Erschließung des Exponates zurück wirken.

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➔ Ausstellen



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V. Ausstellen

Ausstellen ist eine besonders komplexe Variante des permanenten Zeigens, die Wirklichkeit sowohl präsentiert, als auch repräsentiert und interpretiert. Sie stellt das zu Zeigende in einen allgemein zugänglichen Bedeutungsraum, der sich durch eine bestimmte Thematik, eine bestimmte Lokalität und eine bestimmte Dauer auszeichnet. Das, was ausgestellt werden soll, muss sich auch zeigen können – indem es sich entweder selbst, oder mittelbar an etwas anderem zeigt. M. Fehr hat drei Prinzipien aufgedeckt, die das Verhältnis des ausstellenden Museums zur Wirklichkeit bestimmen: das synekdochische, das syllogistische und das induktive Prinzip.1 Das synekdochische Prinzip ist das Prinzip des pars pro toto. Es besagt, dass eine Ausstellung stets nur einen Teil der Wirklichkeit darstellen kann, auf die sie verweist. Ferner impliziert es, dass es immer ein Minimum an Differenz zwischen einer Ausstellung und der Wirklichkeit geben wird, die in der Ausstellung thematisiert worden ist. Das synekdochische Prinzip ist keine Besonderheit des ausstellenden Museums. Jede Art von Wirklichkeitsdarstellung, auch die der Künste und der Wissenschaften, ist daran gebunden. Allerdings wird das synekdochische Prinzip im Medium Ausstellung in einer besonderen Weise umgesetzt. Die partielle Darstellung der Wirklichkeit kann über das Originale und Authentische zur partiellen Verkörperung werden. Die thematisierte Wirklichkeit wird nicht nur dargestellt. Sie ist im authentischen beziehungsweise originalen Exponat selbst anwesend, auch wenn ihr Umfang und ihre Dichte verringert worden sind. Folgt eine Sammlung oder Ausstellung dem syllogistischen Prinzip, so verweist es auf die Wirklichkeit, die durch das Museum selbst gebildet wird. So nimmt der Besucher die Exponate des Grünen Gewölbes in Dresden primär als Teile der im 18. Jahrhundert entstandenen Sammlung wahr. Ist dagegen das induktive Prinzip maßgeblich, so zeigt das Ausgestellte auf die Wirklichkeit außerhalb des Museums. So deuten die präparierten Schmetterlinge eines naturkundlichen Museums auf die Fauna einer bestimmten Landschaft. Indessen bleibt zu ergänzen, dass sich das syllogistische und das induktive Prinzip nicht ausschließen; sie überlagern sich sogar in der Regel. So werden präparierte Schmetterlinge häufig auch als Bestandteile einer Museumssammlung wahrgenommen, und die Prunkgegenstände des Grünen Gewöl-

1

Fehr, Aufklärung oder Verklärung, S. 110 ff.

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bes können auch als Zeugnisse höfischen Zeremoniells in der frühneuzeitlichen Gesellschaft gedeutet werden. Ausstellungen zeigen Exponate, das heißt Gegenstände, die, indem sie sich selbst zeigen, auf unverfügbare Wirklichkeit verweisen: Alte Objekte, Modelle, Experimente, Fotos, Grafiken, Bilder, Filme und seit einigen Jahren auch Hypermedien. Die Exponierung als Ausgestelltes verdoppelt die Struktur des Zeigens, die im Exponat selber angelegt ist. Diese Verdoppelung beziehungsweise Verschachtelung ist gleich bedeutend mit einem Zeigen des Zeigens. In diesem Zusammenhang ist die Museumsausstellung eine »erstarrte Zeigehandlung« genannt worden.2 Daran ist zutreffend, dass es sich bei ihr um einen Ort handelt, wo nicht nur die Gegenstände, sondern auch das Zeigen dieser Gegenstände selber in das Feld der Besucheraufmerksamkeit rükken. Allerdings ist eine Ausstellung niemals völlig starr – es sei denn, sie selbst wird weder verändert noch besucht. Denn die Bedeutungen, die an ihr haften und von ihr vermittelt werden, verschieben sich ständig. Sie verschieben sich, weil die Wirklichkeit um die Ausstellung herum, aber auch die Besucher, die dieser Wirklichkeit angehören und sie rezipieren, sich ständig ändern. Der spezifische Reiz eines Ausstellungsbesuchs liegt darin, dass der Besucher den Radius seiner Existenz über seine gegenwärtige Lebenswelt hinaus erweitern kann. Das Unverfügbare, dem er sich dabei annähert, bleibt ihm zwar letztlich unzugänglich, wird aber durch seine Repräsentationen versinnlicht, so dass es sich indirekt zeigt. Was das Alte Objekt betrifft, so kann die Vergangenheit, auf die es verweist, über den Museumsbesuch zu einem Teil der Vergangenheit des Besuchers werden.3 Paradoxerweise erweist sich dabei die Vergangenheit des ausgestellten Alten Objektes gar nicht als vergangen, sondern als gewesend.4 Das heißt, die einstige Bewandtnis-

2

Zu diesem Begriff vgl. Martin R. Schärer: 700 Jahre auf dem Tisch. Oder: Die 7 ausgestellten Ausstellungen. Vevey 1992. S. 54.

3

Zu diesem Gesichtspunkt P. Sloterdijk: »Das ist der Sinn der historischen Museumskultur: Sie sollte die gesamte Vergangenheit wie eine Äußerung des werdenden Selbst darbieten. Das Fremde kann demnach nichts mehr andres sein als ein Eigenes, das zuerst incognito auftrat, dann aber schnell durchschaut und einverleibt wurde.« Ders., Schule des Befremdens, S. 62.

4

Zum Begriff der Gewesenheit s. Heidegger, Sein und Zeit, S. 385.

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➔ Ausstellen

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ganzheit trägt zum Hier und Jetzt des Ausgestellten bei, da sie über das Alte Objekt zum Bestand der Gegenwart gehört. Durch andere Exponatformen, insbesondere durch das Modell und das interaktive Experiment, können naturgesetzlich bedingte Zusammenhänge und Tendenzen sowie die Funktionsweisen komplexer Artefakte in die kognitive Reichweite des Betrachters beziehungsweise des agierenden Besuchers gelangen. Aber auch hier ist die bezeichnete Wirklichkeit nicht verfügbar. Besten Falls blitzt sie auf – wie in den Starkstromvorführungen des Deutschen Museums in München –, um sich dann rasch wieder zu verflüchtigen. V.1 Die Ausstellung als Medienverbund Information versus Daten Die wissenschaftliche Ausstellung ist ein Medienverbund.5 Natürlich ist sie auch und vor allem ein Ort, wo Exponate aufgestellt sind. Aber Exponate sind nichts anderes als Medien, und eine Ausstellung umfasst auch andere Medien als nur Exponate. Ein Exponat erweist sich dadurch als Medium, dass es »Information überträgt«. Dies trifft auch auf solche Exponate zu, die auf den ersten Blick nichts Mediales an sich zu haben scheinen, beispielsweise auf Alte Objekte.6 Die Information, die Exponate »übertragen«, bezieht sich auf die ursprüngliche Bewandtnisganzheit des Gegenstandes, auf seine Materialität, schließlich aber auch auf die interpretatorische Absicht des Ausstel-

5

Zum Begriff des Medienverbundes mit Blick auf das Museums- und Ausstellungswesen vgl. Jürgen Hüther: Das Museum als Medienverbund. In: Hildegard Vieregg, Marie-Louise Schmeer-Sturm, Jutta Thinesse-Demel und Kurt Ulbricht: Museumspädagogik in neuer Sicht. Erwachsenenbildung im Museum. Hohengehren 1994, Bd. I, S. 60-71.

6

Mit Blick auf dreidimensionale Exponate hat Duncan F. Cameron 1972 einen Ausspruch Marshall MacLuhans modifiziert: »[…] the medium is the message, the message is the object, the object is the medium.« Inzwischen hat die Verbreitung der interaktiven Ausstellungselemente und Hypermedien die Perspektive modifiziert. Die dreidimensionalen, historisch bezeugenden Objekte, die Cameron als »nouns« der Kuratorensprache bezeichnet, bilden nicht mehr das uneingeschränkt zentrale Medium der Ausstellung. Ders.: Problems in the language of museum interpretation. In: The museum in the service of man: Today and tomorrow. The papers from the Ninth General Conference of ICOM. Oxford 1972, S. 8999, dort S. 99.

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lungsmachers. Sie erlaubt nicht nur Aufschluss über einen Bereich der Wirklichkeit, sondern stets auch über dessen Deutung. Daher sind Exponate beides: »medium« und »message«. Die Medialität des Exponates beruht auf seiner Materialität.7 Denn ein Gegenstand kann nichts aussagen, wenn er nicht auch etwas ist, woran es ausgesagt werden kann. Aber wie »übertragen« Exponate Information? Wie gelangt die Information vom Exponat zum Betrachter? Es erscheinen an dieser Stelle einige Erläuterungen zum Begriff der Information angebracht. Information ist nichts, was im Exponat schon vorläge, so dass es möglich wäre, sie wie eine Flüssigkeit abzuschöpfen. Es ist auch keine Pipeline denkbar, durch die Informationen vom betrachteten Gegenstand zum Betrachter flössen. Vielmehr entsteht Information im wahrnehmenden und erkennenden Subjekt.8 Dies allerdings setzt voraus, dass der Sinnesapparat und der Verstand des Subjektes gefüttert worden sind. Dieses Futter besteht zunächst aus nichts anderem als aus Daten, die erst durch den Erkenntnisapparat des Subjektes identifiziert, geordnet und begriffen werden können. Vieles alltägliche Zeug, das unserer technischen Zivilisation entstammt und unseren Alltag bestimmt – man denke an Lichtschalter, Windschutzscheiben, digitale Uhren – erweist sich bei näherer Betrachtung als nicht weniger schwer zu

7

Zur Medialität und Materialität des Exponates vgl. Gottfried Korff: Die Eigenart der Museumsdinge. Zur Materialität und Medialität des Museums. In: Kirsten Fast (Hg.): Handbuch der museumspädagogischen Ansätze. Opladen 1993, S. 17-28, dort S. 22.

8

Dazu die zutreffenden Äußerungen Heinz von Foersters: »Im Rahmen dieser Vorstellung [d.h. der Vorstellung, dass Kommunikation auf einem Austausch von Information beruhe, d. Verf.] wird Information als ein Gut aufgefasst, als eine Substanz, die durch Röhren übermittelt werden kann […] In jedem Lehrbuch der Kommunikationstheorie finden Sie wunderschöne Darstellungen, die auf diesem Bild beruhen: zwei kleine Kästchen (der Sender und der Empfänger), durch eine Linie verknüpft (den Kommunikationskanal). Das ist aber ganz falsch. Eine Bücherei speichert Bücher, Mikrofiches, Dokumente, Filme, Diapositive und Kataloge, sie kann aber keine Information speichern. Sie können eine Bücherei von unten nach oben kehren – es wird keine Information herausfallen. Es gibt nur eine Art, auf die wir von einer Bücherei Informationen bekommen können, nämlich diese Bücher zu lesen, die Mikrofiches, Dokumente, Diapositive usw. anzuschauen.« Vgl. ders.: Epistemologie der Kommunikation. In: Ders.: Wissen und Gewissen. Frankfurt a.M. 1993, S. 269-281, dort S. 270.

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➔ Ausstellen

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entschlüsseln wie etwa eine Tontafel mit assyrischer Keilschrift. Diese Dinge mögen datenreich sein, sind aber informationsarm. Erst durch das Einverleiben und Begreifen von Daten kann Information entstehen, und erst Information hat Bedeutung. Die Frage ist also nicht, wie reich ein Exponat an Informationen ist, sondern wie viele Daten, die am Exponat haften, wahrnehmbar sind und ob sie durch den Betrachter entschlüsselt und in Information umgesetzt werden können. Das Exponat und seine Erläuterung Alle Ausstellungsmedien übertragen zunächst nur Daten, nicht Information. Neben der Wahrnehmbarkeit und Entzifferbarkeit der Daten gibt es eine weitere Forderung informationsorientierten Ausstellens: Die spezifische Transferleistung eines Ausstellungsmediums sollte sich nicht darin erschöpfen, die Leistung eines anderen Mediums zu verdoppeln. Die Medien einer Ausstellung müssen aufeinander abgestimmt sein und sollten immer auch ein neues und überraschendes Licht auf die benachbarten Medien werfen. Dies war schon Walter Benjamin bewusst, der sich über das Verhältnis von Schrift und Exponat entsprechend äußerte: »Was zu sehen ist, darf nie dasselbe […] sein als was die Beschriftung sagt, sondern es muss etwas Neues, einen Trick der Evidenz mit sich führen, den man mit Worten grundsätzlich nicht erzielen kann.«9 Exponate sind zeigende, verweisende Medien. Sie zeigen, indem sie kraft ihrer Materialität die Sinne affizieren und den Verstand in Bewegung setzen. Die von Exponaten induzierte Information ist allerdings vielschichtig, mehrdeutig und weniger präzise als die eines geschriebenen Textes. Dies gilt vor allem für Alte Objekte. Zeigende Medien müssen daher von erläuternden Medien flankiert werden. Das zeigende und sich zeigende Exponat lässt sich nicht aus sich selbst heraus verstehen. Es bedarf eines Kommentars, der den Blick des Besuchers auf entscheidende Aspekte des Exponates lenkt, Schlussfolgerungen nahe legt, Hintergrundswissen liefert und zum Verständnis des Ausgestellten führt. Die Erläuterung des Ausgestellten ist entweder als Erklären, oder als Anleiten möglich. Das heißt, es kann erläutert werden, woraus ein Gegenstand besteht, wie er zustande gekommen ist und wie er funktioniert. Oder aber es wird erläutert, wie er verwendet wurde und wie

9

Walter Benjamin: Jahrmarkt des Essens. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Frankfurt a.M. 1980, 11. Bd., S. 527-532. Ders.: Bekränzter Eingang. In: ebd. S. 557-561.

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auch der Besucher ihn verwenden kann.10 In einer Ausstellung bedürfen zeigende und erläuternde Medien einander. Exponate ohne Erläuterungen sind stumm, Erläuterungen ohne Exponate sind leer.11 Dabei muss Erläuterung nicht notwendigerweise durch schriftlichen oder mündlichen Text erfolgen. Sie ist auch durch Kontext, das heißt durch Einbindung des Exponates in eine besondere Konstellation von Mit-Exponaten möglich. Ein Exponat kann durch ein Ensemble, in dem es platziert wird, in einem besonderen Licht erscheinen und einen besonderen inhaltlichen Akzent erhalten. Die Aussage dieses Ensembles und des in ihm eingebundenen Exponates erschließt sich dem Besucher, wenn er das Bild wieder erkennt, das durch das Ensemble vermittelt wird. Der inszenierte Supermarkt in der Ausstellung Basic Needs des Themenparks der EXPO2000 stellte auch ohne Text, durch Sequenz und Kontrast seiner Einzelkomponenten, eine visuelle These auf, die auch ohne textliche Erläuterung für einen Besucher verständlich sein konnte: Die Aufdringlichkeit des Warenangebotes in den Ländern der sogenannten Dritten Welt ist eine Ursache für soziale und mentale Verwahrlosung. Einen Sonderfall bilden die sogenannten Hypermedien, in denen Zeigen und Erläutern in der Regel zusammenfallen. Der Umstand, dass beispielsweise Multimedias sich am besten selbst erklären und grundsätzlich keines anderen Mediums bedürfen, ist ein entscheidender Grund für die hohe Flexibilität dieser neuen Exponatgattung.12

10

Dazu Peter van Mensch: The characteristics of exhibitions. In: Museum aktuell

11

Diese Ansicht wird nicht von allen Kuratoren und Autoren geteilt, die sich mit der

92 (2003), S. 3980-3985, dort S. 3983. Theorie des Ausstellens beschäftigen. Vgl. beispielsweise Nelson Goodman: »Sehen lernt man nicht dadurch, dass man gesagt oder gezeigt bekommt, wie man betrachten soll, sondern durch das Betrachten. Wenn der Betrachter den Versuch unternimmt und das Werk gut genug ist, wirkt es ohne Hilfe.« Goodman stellt dies als verbreiteten Standpunkt in der Museumswelt dar und lässt offen, inwieweit er ihn teilt. Ders.: Das Ende des Museums? In: Ders.: Vom Denken und anderen Dingen. Frankfurt a.M. 1987, S. 248-265, dort S. 259. 12

Zum Einsatz von Hypermedien in Museumsausstellungen vgl. die sehr differenzierten Überlegungen von Wohlfromm, Museum als Medium, S. 78 ff.

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➔ Ausstellen

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Werkzeugobjekte und andere Rahmenbedingungen Eine Ausstellung besteht aber nicht nur aus Exponaten und deren Erläuterungen. Ausstellen setzt »Werkzeugobjekte«13 voraus, das heißt Dinge, die sich selbst in den Dienst von Exponaten stellen und deren Positionierung im Raum ermöglichen: Vitrinen, Podeste, Hauben, Halterungen und vieles Andere mehr. Ferner wird eine Ausstellung auch von physikalischen Faktoren wie Licht, Wärme, Geräuschen, Feuchtigkeit und Gerüchen bestimmt. Im ersten Saal der Kraftmaschinen-Abteilung des Deutschen Museums in München riecht man Maschinenöl und hört Bäche auf die Schaufeln der Wasserräder stürzen. Diese Ausstellung ist nicht nur ein Ensemble aus alten Maschinen, Modellen und Dioramen und ihren Erläuterungen, sondern eine bewusst gestaltete Landschaft aus Licht, Geräuschen und Gerüchen. Auch die Architektur des Ausstellungsraumes, das heißt seine sichtbare Begrenzung, tragen zum Medienverbund einer Ausstellung bei. Der kreative Spielraum eines Ausstellungsautors liegt nicht zuletzt in der Möglichkeit, die Grenzen zwischen den verschiedenen Kategorien von Ausstellungselementen und Medien bewusst zu durchbrechen. So kann eine Vitrine, an sich ein Werkzeugobjekt, die Funktion eines Exponates erfüllen, wenn sie selbst zum Träger einer symbolischen Bedeutung wird und dadurch mehr oder weniger die gleiche Gewichtung erhält wie das Exponat, für dessen Schutz oder Präsentation sie ursprünglich gedacht war. So können die Vitrinen einer Ausstellung über das hohe Mittelalter die Form von gotischen Fenstern annehmen. Wird die »Verpackung« beziehungsweise die technische Ausrüstung einer Ausstellung zur Kulisse, die über Funktionalität und Ästhetik hinaus einen inhaltlichen Anspruch hat, so wird sie zum Bestandteil einer Inszenierung.14 In diesem Sinne hat »inszeniert« auch die Bedeutung von

13

Zum Begriff des Werkzeugobjektes vgl. Severin Heinisch: Objekt und Struktur – Über die Ausstellung als einen Ort der Sprache. In: Jörn Rüsen, Wolfgang Ernst und Heinrich Theodor Grütter (Hg.): Geschichte sehen. Beiträge zur Ästhetik historischer Museen. Pfaffenweiler 1988, S. 82-87, dort S. 83. Ferner Anna Schober: Montierte Geschichten. Programmatisch inszenierte historische Ausstellungen. Wien 1994 (Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Institutes für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften Bd. 24), S. 12.

14

Im Laufe dieser Abhandlung werden dem Begriff »Inszenieren« zwei unterschiedliche Bedeutungen zugewiesen. Inszenieren kann die Erzeugung von Bildern bedeuten, oder aber die Anlegung von Handlungsstrukturen in einer Ausstellung, die den Besucher sozusagen zum Bestandteil einer Geschichte werden

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unecht, kulissenhaft, gestellt. Ein inszeniertes Bergwerk ist eben kein echtes Bergwerk. V.2 Das Ausgestellte in seinem Zusammenhang Die Ausstellung als Chronotop Die Ausstellung zeitigt eine besondere, ausstellungsimmanente Zeit und ebenso einen besonderen, ausstellungsimmanenten Raum. Zeit und Raum der Ausstellung bilden einen besonderen Zeit-Raum, ein Chronotop.15 Dieses Chronotop ist eine »bewusst organisierte Merkwelt«,16 ein Ort, in dem sich gedachte Struktur in Raum und Zeit entfaltet und Bedeutung nicht nur sinnlich wahrnehmbar, sondern auch begehbar wird. Mit Blick auf die besonderen Eigenschaften dieses Zeit-Raums bedeutet Ausstellung dasselbe wie Auslegung. Der Besucher muss sich diese Auslegung durch Bewegung im Raum erschließen.17 Er liest die Ausstellung nicht nur mit den Augen, sondern mit der Bewegung seiner ganzen Person und mit all seinen Sinnen, mit Körper und Geist, Leib und Seele. Er ist dabei »Flaneur, Akteur, produktiver Rezipient«.18 Indem er die Ausstellung auf diese Weise liest, wirkt er an deren Auslegung aber auch mit. Denn die Ausstellung ist beides: Auslegung für ihn und durch ihn. Im Hinblick auf die Zeitlichkeit des Ausgestellten hat das permanente Zeigen Möglichkeiten, die dem handlungsbegleitenden Zeigen verschlossen sind. Beim handlungsbegleitenden Zeigen kann der Zeigende den Gegen-

lassen. Zum Begriff der Inszenierung vgl. Schober, Montierte Geschichten, S. 9 ff., ferner Ulrich Paatsch: Konzept Inszenierung. Inszenierte Ausstellungen – ein neuer Zugang für Bildung im Museum? Ein Leitfaden. Heidelberg 1990, bes. S. 8 f. 15

Michail Bachtin hat den Begriff des Chronotops der Einsteinschen Physik entnommen und auf die Literaturwissenschaft angewendet. Er versteht unter Chronotop zum einen die Einheit von Zeit und Raum, zum anderen die spezifische Zeitlichkeit narrativer Strukturen. Zum Begriff des Chronotops vgl. John Bender und David E. Wellbery: Chronotypes. The Construction of Time. Stanford 1991, S. 3.

16

Korff, Speicher und/oder Generator, S. 51.

17

Dieser Aspekt wird von Sabine Offe betont. Dies.: Ausstellungen, Einstellungen, Entstellungen. Jüdische Museen in Deutschland und Österreich. Berlin/Wien 2000, S. 296 ff.

18

Gottfried Korff: Staging Science. In: Museumskunde 2/2003, S. 67-72, dort S. 70.

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➔ Ausstellen

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stand aus seiner Bewandtnisganzheit heraus nehmen, so wie einen Fisch aus dem Aquarium. Das Zeigen des Gegenstandes kann dabei nur für Augenblikke aufrecht erhalten werden. Anders beim permanenten Zeigen in der Ausstellung: Anstatt sozusagen Treibgut aus dem Strom der Zeit zu fischen, kann das zeigende Museum quasi den gesamten Zeitstrom anhalten und ihn durch eine ausstellungsinterne Zeit ersetzen. Die zeitlichen und räumlichen Verhältnisse in der Ausstellung kontrastieren mit der Alltagszeit und dem Alltagsraum. Zeit und Raum können in Ausstellungen absichtsvoll beschleunigt und komprimiert, beziehungsweise verlangsamt und gedehnt werden. Insofern werden die in der Besucherforschung häufig verwendeten Begriffe der »durchschnittlichen Verweildauer« und des »Zeitbudgets« der spezifischen Erlebnisqualität des Ausstellungsbesuches nicht gerecht. Bekanntlich können in einer guten und kurzweiligen Ausstellung drei Stunden eine sehr kurze Zeit sein, in einer schlechten und langweiligen dagegen können fünf Minuten eine halbe Ewigkeit dauern. Ähnliches gilt auch für den Raum: Physikalisch Kleines kann in einer Ausstellung riesig wirken; winzige Exponate können quasi ganze Hallen füllen. Umgekehrt kann ein Gegenstand mit großen Ausmaßen winzig erscheinen, weil er bedeutungslos und gar nicht recht da ist. Ausstellungen sind Räume, in denen die Naturgesetze ihre Gültigkeit mit den Strukturen des Bedeutungsraumes teilen müssen. Bei diesem Bedeutungsraum handelt es sich eben nicht nur um eine topographische, sondern auch um eine gedachte Struktur, in der sich physikalische und semiotische Bezüge überlagern und verbinden. Die Verwendung von Hypermedien eröffnet zusätzliche Perspektiven für die Bedeutung des Ausgestellten. Hypermedien können den Bedeutungsraum nahezu beliebig und über die physikalischen Begrenzungen des Ausstellungsraums hinaus erweitern.19 Dies gilt sowohl für den Einsatz von Computern in Ausstellungen, als auch für Repräsentationen von Ausstellungen im World Wide Web. Hinsichtlich der zeitlichen Dimension des Ausstellungserlebnisses tritt für den Besucher eine Besonderheit zutage: Die Erlebnisse eines Museumsbesuchs liegen zwar nicht außerhalb jeder Zeit, denn sie haben eine Abfolge. Die Bestimmung der Abfolge aber ist letztlich Sache des wählenden, entscheidenden Besuchers. Anders als ein Buch ist eine Ausstellung kein lineares, sondern ein räumliches Informationsfeld, kurzum, ein Netz möglicher

19

Dazu grundsätzlich Annette Hünnekens: Expanded Museum. Kulturelle Erinnerung und virtuelle Realitäten. Bielefeld 2002.

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Informationswege, das sich nicht auf eine einzige, zwingend notwendige Sequenz von Ausstellungsstationen reduzieren lässt. Die Struktur dieses Netzes wird von jedem wahrnehmenden und urteilenden Besucher auf eine besondere, einzigartige Weise konkretisiert. Der Besucher, der sich einen Weg durch das Bedeutungsnetz des Ausgestellten bahnt, lockert die Verbindungen zu seiner persönlichen Welt, aus der er in die Ausstellung gekommen ist. Zumindest für die Zeit des Ausstellungsbesuchs löst er sich mehr oder weniger aus den Zwängen seines gewohnten Lebens und lässt seine profanen Interessen ruhen – ausgenommen vielleicht das Interesse, sich zu amüsieren oder zu bilden. Für kurze Zeit wird seine persönliche Welt zur Erinnerung, die hinter ihm liegt, und die Ausstellung wird zum gelebten Leben. Die Qualität und Intensität des Besuchserlebnisses hängt unter anderem davon ab, inwieweit der Besucher selbst in das Bedeutungsnetz des Ausgestellten einbezogen wird und Einfluss auf es nimmt. Exponatensembles Die Stellung eines Exponates in der Ausstellung ist wesentlich davon abhängig, in welcher Art andere Exponate und Medien der Ausstellung auf es verweisen. Denn das Exponat ist nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch Ziel von Verweisung; es ist selbst auch Signifié. Auf Grund seiner Eingebundenheit in Ensembles kann das einzelne Exponat in eine räumlich-inhaltliche Beziehung zu morphologisch oder funktional ähnlichen, oder historisch-genetisch verwandten Exponaten treten. Die Kleidungsstücke einer historisch bedeutsamen Person können zu einem Ensemble zusammengefügt werden, aber auch die evolutionäre Abfolge von Pferdeskeletten, die Bestandteile einer Nähmaschine, Kotflügel verschiedener Automobile, die alle 1918 hergestellt wurden, die Gesichter von Personen verschiedener Nationalität, die alle Macdonald heißen. Darüber hinaus können Exponate zusammengefügt werden, die nur in einer lockeren, assoziativen Verbindung zueinander stehen. Diesen Weg haben beispielsweise Marie-Louise von Plessen und Daniel Spoerri mit ihrem Musée Sentimental anlässlich der Preußenausstellung 1981 beschritten.20 Fügen sich Exponate zu einem neuen Bild zusammen, das mehr ist als die Summe seiner Teile, so handelt es sich um eine Inszenierung. Die Inszenierung ist die wohl wichtigste Form, ein Exponat in eine Ausstellung einzubinden. Szenographie als Kunst des Inszenierens bezweckt, »dreidimensionale

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Schober, Montierte Geschichten, S. 92.

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Räume […] so einzurichten, dass Inhalte verstärkt, durch gestalterische Mittel deutlicher und prägnanter in ihrer Wirkung und damit in der intendierten Aussage werden.«21 Zu einer Inszenierung arrangiert, vermitteln Exponate neue Bedeutungen, die dem Einzelexponat allein nicht entnommen werden können. Dadurch vermögen sie es, das Exponat, wie eine häufig von Museumspädagogen und Gestaltern gebrauchte Formulierung lautet, zum Sprechen und Erzählen zu bringen. Inszenierungen stellen also immer auch Interpretationen dar.22 »Das Korrelat zum Gebrauch fiktionaler Elemente in der narrativ-literarischen Darstellung der Vergangenheit bietet in Ausstellungen und Museen die Inszenierung.«23 Das Einzelexponat trägt zum Ensemble bei, erscheint aber wiederum in einem neuen Licht, weil es nicht mehr nur ein Ganzes, sondern auch ein Teil ist, das durch seinen Zusammenhang erläutert wird. Das »Erzählen des Exponates« ist eine Metapher für genau diesen hermeneutischen Zirkel. Stephen Bann hat vor 25 Jahren zwei Museumstypen voneinander unterschieden, denen ein jeweils unterschiedlicher Inszenierungsstil entspricht: ein »metonymischer« und ein »synekdochischer« Stil.24 Der metonymische Stil schafft Inszenierungen, die sich aus Splittern einstiger Lebenswelten zusammensetzen und diese Splitter neu arrangieren. Ihre entscheidende Funktion besteht darin, Zusammenhänge zu verdeutlichen und die Wirklichkeit in ihren verschiedenen Schichtungen und Verstrebungen verständlich zu machen. Bann führt als Beispiel das von Alexandre Lenoir geschaffene Musée des Petits-Augustins von 1816 an. Lenoir schuf »Jahrhunderträume«, wo er

21

Martin Roth: Scenographie. Zur Entstehung von neuen Bildwelten im Themenpark der EXPO2000. In: Museumskunde 66 (I), S. 25-32, dort S. 25.

22

Stephan Müller-Dohm und Klaus Neumann-Braun: Kulturinszenierungen – Einleitende Betrachtungen über die Medien kultureller Sinnvermittlung. In: Dies. (Hg.): Kulturinszenierungen. Frankfurt a.M. 1995, S. 9-23.

23

Korff/Roth, das historische Museum, S. 21. Dazu auch Marie-Louise von Plessen: Duell der Sinne und der Dinge. Das Autorenmuseum. In: Gottfried Korff und Martin Roth: Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik. Frankfurt a.M./New York/Paris 1990, S. 179-186. Benjamin hat die Bedeutung von Bildern für das Ausstellungswesen hervorgehoben. Er gibt Gesamtbildern den Vorrang vor Einzelobjekten. Dazu Gottfried Korff: Das Popularisierungsdilemma. In: Museumskunde 66 1/2001, S. 13-29, bes. S. 18 f.

24

Stephen Bann: Historical Text and Historical Object. The Poetics of the Musée de Cluny. In: History and Theory XVII (1978), S. 251-266.

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jeweils alle verfügbaren Gegenstände eines Jahrhunderts zu versammeln suchte. Der metonymische Stil schafft Sinnbilder. Diese beruhen auf dem Prinzip, authentische Elemente zu neuen Bildern zusammen zu fügen, welche die Wirklichkeit andeuten und erklären, aber nicht abbilden sollen. So stellen die Maschinen im Zentrum der 1993 eingerichteten Textilabteilung des Deutschen Museums keine tatsächliche Fabrik dar, lassen aber jeden Besucher an der Idee einer Fabrik teilhaben, indem wesentliche Eigenschaften industrieller Fertigungsprozesse – beispielsweise die Prinzipien der Arbeitsteilung und der Automatisierung – in stark vereinfachter Form visualisiert werden. Die Reduktion und Zuspitzung auf das Wesentliche, die von dieser Art der Inszenierung geleistet wird, kann die Verständlichkeit erhöhen und den Lerneffekt vergrößern. Der synekdochische Stil dagegen versucht vergangene Lebenswelten zu rekonstruieren – idealerweise so, als könnten sie noch betreten werden. Er bettet das Exponat dergestalt in seine Mit-Exponate ein, dass ein scheinbar vollständiges Bild des einstigen Ding-Kontextes entsteht. Bann verdeutlicht diesen Stil am Beispiel des gleichfalls Anfang des 19. Jahrhunderts gegründeten Musée de Cluny von Alexandre du Sommerard. Sommerard schuf thematische Räume, in denen kostbare und gewöhnliche Gegenstände zu einem Ensemble mit realistischem Anspruch zusammengefügt waren, beispielsweise zu einem »Chambre de François I.«. Synekdochische Inszenierungen bestehen niemals nur aus Alten Objekten. Unabhängig davon, ob ein gentechnisches Labor oder die Zentrale eines U-Bootes dargestellt werden sollen, erfordern sie einen Hintergrund, der die Alten Objekte als solche hervortreten lässt. Die Lücken zwischen den Alten Objekten müssen zwar mit Kulissen gefüllt werden, mit Dingen, die nur dem Schein nach Alte Objekte sind. Doch muss dieser Schein für den Besucher als Schein erkennbar sein. Der Besucher muss das Überlieferte vom Hinzugefügten unterscheiden können. Häufig haben synekdochische Inszenierungen einen hypernaturalistischen Anspruch. So finden sich beispielsweise in vielen Stadtmuseen »mittelalterliche Zunftstuben« oder »Arbeiterküchen aus dem 19. Jahrhundert«. Auf Grund der Tatsache, dass solche Inszenierungen verallgemeinern, dabei aber konkret dinghaft bleiben, bieten sie viele Angriffsflächen für wissenschaftliche Kritik. Die 1990er Jahre waren eine Hoch-Zeit von Inszenierungen, die wirklicher als die Wirklichkeit sein wollten. Die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten der Virtual Reality-Technologie ließen sie möglich und wünschenswert erscheinen. Es sei hier nur auf die vielen Vorschläge für »begehbare« Exponate mit illusionistischer Zielsetzung verwiesen, die während der Vorbereitungsphase des Themenpark-Projektes der EXPO2000 diskutiert

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wurden.25 Der Fehler, der solchen Inszenierungsprojekten zugrunde liegt, besteht darin, die exponatkonstituierende Rolle des Besuchers zu ignorieren und seine Einbildungskraft überflüssig machen zu wollen. Vor lauter Daten wird Information verunmöglicht. Die pädagogische Chance der synthetischen Welt Ausstellung liegt in der Reduktion von Wirklichkeitskomplexität, nicht in der Kopie von Wirklichkeit. So kann auch ein Gemälde nur deshalb Tiefe erzeugen, weil ihm die dritte Dimension physikalisch fehlt. Die neuen Medien veranlassen viele Ausstellungsmacher dazu, sich vor dieser Reduktionsleistung zu drücken. Die zwei- und dreidimensionalen Bilder einer Ausstellung müssen Leerstellen enthalten, die durch die Vorstellungskraft des Betrachters aufgefüllt werden. Nur so ist die kritische Distanz eingehalten, die für die verstehende Einverleibung des Exponates erforderlich ist.26 Einen dritten Inszenierungsstil könnte man symbolistisch nennen. Er verzichtet sowohl auf einen realistischen Anspruch als auch auf die Präsentation von Alten Objekten und beschränkt sich auf kulissenartige Bilder, die an den kulturellen Fundus allgemein verständlicher Symbole anknüpfen. Die Ausstellung »Alt & Jung«, 1997 im Deutschen Hygiene-Museum gezeigt, ist ein Beispiel für diesen besonderen Stil. Eigens für die Ausstellung produzierte Raumelemente wie zwei miteinander verkoppelte Schaukeln, ein gemalter Regenbogen oder ein Wald aus Pappmaché deuteten symbolisch auf verschiedene Aspekte des Zusammenlebens der Generationen hin.27

25

So bestand die Anfangsidee des im Themenpark der EXPO2000 gezeigten »Virtuellen Menschen« darin, die perfekte Illusion einer Reise durch den Körper zu zeigen. Dieser Anspruch erwies sich aus wissenschaftlichen, praktischen und finanziellen Gründen als nicht einlösbar. Der Autor dieses Buches hat an dem Projekt »Virtueller Mensch« mitgewirkt.

26

Zum Aspekt der Abwesenheit von Wirklichkeit als Voraussetzung für deren Beherrschung vgl. Jean Baudrillard: Illusion, Desillusion, Ästhetik. In: Stephan Iglhaut, Florian Rötzer und Elisabeth Schweeger: Illusion und Simulation. Begegnung mit der Realität. Ostfildern 1995, S. 90-101, besonders S. 92.

27

Dazu das Begleitbuch zur Ausstellung von Annette Lepenies (Hg.): Alt & Jung. Das Abenteuer der Generationen. Basel/Frankfurt a.M. 1997.

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V.3 Die Bedeutung des Exponates Das »Lesen« des Gegenstandes Dem unkundigen Besucher, der zum ersten Mal eine Ausstellung betritt, sagt das Ausgestellte zunächst nichts. Es ist Zeug, besten Falls Kruscht, mit dem er nichts anzufangen weiß. Erst wenn er sich auf die Zeige- und Merkwelt Ausstellung einlässt, kann er dem Ausgestellten Bedeutung abgewinnen und es auf den Begriff bringen. Im Idealfall wiederholt er die Vergegenständlichung, auf Grund derer das Exponat zu einem permanent zeigenden Teil der Ausstellung gemacht worden ist. Vergegenständlichung, an sich ein subjektiver Prozess, kann in der Ausstellung objektiviert vorliegen. Der Besucher kann den Prozess der Vergegenständlichung nachvollziehen, wenn er die Frage zu beantworten sucht, warum der Gegenstand so und nicht anders präsentiert wird. Nachvollziehen aber ist eine Form des Begreifens. Dem Besucher kann diese sekundäre, nachvollziehende Vergegenständlichung zu einem bewussten Prozess werden. Auf diese Weise vermag es die Ausstellung, Vergegenständlichung selbst zum Gegenstand und damit auch begreifbar zu machen. Das erkundende und betrachtende Individuum nähert sich dem Exponat zunächst mit einem persönlichen, nicht der Ausstellung entstammenden Vorgriff auf Ganzheit. Ohne diesen Vorgriff würde es gar nichts verstehen, ja wäre nicht einmal in der Lage, den ausgestellten Gegenstand als sich selbst gleich bleibende, in der Zeit durchhaltende und von ihrer Umwelt abhebende Einheit zu erkennen. Das heißt, der Betrachter antizipiert ein in sich sinnhaftes, aber vorläufiges Verständnis, das es überhaupt erst erlaubt, sich mit dem Gegenstand kritisch-prüfend auseinander zu setzen und seine Bedeutung zu ermessen. Insofern ist die Wahrnehmung eines ausgestellten Gegenstandes immer theoriegeleitet, wobei hier der Begriff der Theorie auch vorbewusste Prämissen alltäglichen Handelns umfasst.28 Unter optimalen Bedingungen ist das Exponat so gezeigt und erläutert, dass es – ähnlich wie ein Gipsnegativ die Form seines Positivs verrät – seine Weltbezüge erkennen lässt. Dabei wird ein unvermeidlicher Mangel deutlich: Der Gegenstand im Hier und Jetzt der Ausstellung kann nur einen Ausschnitt der Totalität seiner gesamten Weltbezüge offenbaren. Der erkennbare Ausschnitt der Wirklichkeit des Gegenstandes wird vom Betrachter wiederum nur zum Teil aufgenommen. »The message of meaning which the object offers is

28

Dazu H. Treinen, Ausstellungen und Kommunikationstheorie, S. 64.

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always incomplete and each viewer fills in the gaps in his own way, thereby excluding other possibilities […]«29 Die Ausstellungswirklichkeit ist an sich schon eine stark reduzierte Wirklichkeit. Der Besucher »liest« den Gegenstand so, wie es dessen Positionierung im Bedeutungsraum Ausstellung und sein persönlicher Erfahrungshintergrund erlauben. Dadurch dünnt er die ausgestellte Wirklichkeit weiter aus. Dabei wird klar, dass »das« Exponat genauso ein Phantom ist wie »der« Gegenstand, denn: Die Wahrnehmung des Ausgestellten und seine interne Repräsentation als Vorstellung sind stets unvollständig. Sie werden durch die Einbildungskraft komplettiert, so dass der Gegenstand dem betrachtenden Besucher als fiktive Ganzheit entgegen treten kann. Die Leerstellen des Gegenstandes werden schon beim Konzipieren einer Ausstellung zu einem epistemologischen Problem, weil sie zu Vermengungen von Fiktivem und Realem führen können.30 Das Exponat ist ein schematisches Gebilde. Der Besucher füllt die Leerstellen dieses Schemas mit seinen Konkretisationen auf und konstituiert dadurch den ausgestellten Gegenstand. Dabei wird der Prozess des Vergegenständlichens geradezu sinnlich fassbar. Der Vergegenständlichende hat die Chance, sich selbst als Person wahrzunehmen, die den Dingen Bedeutung zuweist. Dabei ähnelt er jemandem, der versucht, den umlaufenden Text einer Litfasssäule zu erfassen. Er sieht immer nur einen Ausschnitt und muss um die Säule herumlaufen, Beiwerk ignorieren, die verschiedenen Textabschnitte entziffern, verstehen und im Kopf festhalten, richtig sortieren und die verschiedenen Momentaufnahmen zu einem virtuellen Ganzen zusammen fügen, das Sinn ergibt, aber immer wieder zerbröselt. Ob das Bild der Wirklichkeit, das so entsteht, dem entspricht, was real ist, kann die betreffende Person nie mit Sicherheit sagen, da es unmöglich bleibt, die 360˚-Perspektive des totalen Wissens um das dinghaft Seiende einzunehmen. Außerdem sieht das rekonstruierte Ganze für jeden Besucher anders aus, weil die Konkretisa-

29

Pearce, Objects as Meaning, S. 136.

30

Dies beweisen beispielsweise die zahlreichen, in Heimatmuseen zu besichtigenden Volkstrachten, die sich bei näherer Prüfung als Erfindungen mit authentischen Einsprengseln entpuppen. Dazu Gottfried Korff: Aporien der Musealisierung. In: Wolfgang Zacharias (Hg.): Zeitphänomen Musealisierung: das Verschwinden der Gegenwart und die Rekonstruktion der Erinnerung. Essen 1990, S. 57-72; dort S. 64.

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tionen, das heißt die Auffüllungen der Leerstellen des Gegenstandes, von Individuum zu Individuum differieren. Da jeder Betrachter eines Exponates dessen Bedeutungen mit konstituiert, sind die Grenzen zwischen Besucher/Subjekt bzw. Exponat/Objekt unscharf. Die Bedeutungen, die er im Exponat sieht, sind Bedeutungen für ihn, und nur zum Teil Bedeutungen auch für andere. Die Vergegenwärtigung dieser Bedeutungen ist in gewisser Hinsicht mit dem Lesen eines Textes vergleichbar, der dem Leser zum Teil überliefert wurde, den er aber auch zum Teil selbst verfasst, wobei die Grenze zwischen Überliefertem und Eigenproduktion zunächst unsichtbar bleibt. S. Heinisch hat dies in treffende Worte gefasst: »Der Besucher [der Ausstellung] ist Leser und Produzent seines Textes zugleich. Verstehen ist dabei niemals reine Denotation, sondern immer auch Konnotation, Assoziation und Überlagerung mit schon vorhandenem Wissen: der ›reine‹ Blick ist nichts als der Mythos der unbefleckten Kommunikation, denn was das Auge sieht, empfängt es immer schon von einer inneren Wahrnehmung verändert und präfiguriert.«31 Mit anderen Worten: Die konkrete Bedeutung eines Exponates baut sich zwischen Subjekt und Objekt/Exponat auf. Sie liegt weder allein in dem einen, noch in dem anderen, sondern umgreift beide am Kommunikationsprozess beteiligte Instanzen – streng genommen auch die Instanz des Ausstellungsautors. Daher kann am ausgestellten Gegenstand nur dann etwas enthüllt werden, wenn der Besucher/Betrachter durch sein Fragen und Suchen auch von sich selbst etwas preisgibt, so dass der ausgestellte Gegenstand einerseits zu einem Spiegel der betrachtenden Person wird, andererseits aber auch auf deren Frageverhalten zurückwirkt. Dabei bleibt der ausgestellte Gegenstand in seiner Totalität prinzipiell unauslotbar. Diese Totalität kann sich dem Besucher nur annäherungsweise erschließen, wobei vielleicht eine Idee von Ganzheit jäh aufblitzt. Der Ausstellungsmacher kann nur versuchen, diese Idee von Ganzheit anzudeuten, ohne die prinzipielle Unabgeschlossenheit des Gegenstandes, das Nicht-Fertig-Werden seiner Bedeutung, zu kaschieren.

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Heinisch, Objekt und Struktur, S. 83 f.

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Die Vergegenständlichung des Alten Objektes Was das Alte Objekt betrifft, so ist es einerseits es selbst, andererseits steht es für etwas Anderes, als es jetzt ist, nämlich etwas, was es einst war beziehungsweise sein wird. Die gewesene Welt des Gegenstandes ist zur Spur reduziert worden, seine zukünftige Welt kann nur geahnt werden. Doch die Spur ist auch übrig Gebliebenes, ist Rest. Was der Gegenstand einst war, ist nicht vollständig der Vergangenheit anheim gefallen, sondern ist noch an und in ihm. Seine Herkunftswelt hat sich in seine Materie eingegraben, wird durch ihn nicht nur repräsentiert, sondern auch verkörpert. Das »noch« des Rests und der Spur ist aber wiederum ein »schon«, denn es ist die Voraussetzung dafür, dass das Alte Objekt überhaupt als Überbleibsel der Vergangenheit erkannt wird. Zum Exponat geworden, zeigt sich das Alte Objekt als Spur und Rest seiner selbst. Zur Spur seiner Totalität reduziert, als Ruine, gewinnt das ausgestellte Alte Objekt aber an Präsenz und erregt Aufmerksamkeit – nicht obwohl, sondern gerade weil es Ruine ist. Denkt man den Gegenstand in der Totalität seines Raum-Zeit-Schicksals, so bildet er sozusagen einen Eisberg, an dessen Spitze das ausgestellte Alte Objekt steht. Bleibt man bei diesem Bild, so entspricht der Museumsbesucher dem Seefahrer, der nur den Teil des Eisbergs sieht, der aus der Wasseroberfläche herausragt. Als Exponat ragt der Gegenstand in das Hier und Jetzt der Ausstellung und in den Erlebnishorizont der Ausstellungsmacher und Besucher hinein. Er ruht auf weit Umfassenderem, als seine bloße Präsenz in der Ausstellung erahnen lässt. Es macht die Kunst des Ausstellens aus, die Weltbezüge des Alten Objektes auf eine vertretbar simplifizierende Art zu rekonstruieren und für den Betrachter erschließbar zu machen, so dass sich ermessen lässt, wie groß der gesamte Eisberg ist. Diese Rekonstruktion ist die spezifische Vergegenständlichung des Alten Objektes. Als Rekonstruktion ist sie keine Restauration, das heißt, sie bleibt notwendigerweise fragmentarisch. Der entscheidende Prozess der Rekonstruktion spielt sich im Kopf des Betrachters ab, nicht am Exponat selbst, auch nicht um das Exponat herum. Insofern gleichen beispielsweise die Versuche amerikanischer Freilichtmuseen, Vergangenes naturalistisch abzubilden – um Geschichte so zu zeigen, wie sie wirklich war –, der Behandlung einer abgestorbenen Zahnwurzel. Solche Bemühungen, situative Kontexte der Vergangenheit 1 : 1 nachzubilden, ignorieren die Tatsache, dass der ausgestellte Gegenstand zwar nicht nur, aber immer auch Konstrukt ist. Versuche dieser Art, beispielsweise das Museumsdorf Old Sturbridge in Massachusetts, in dem 100 Menschen die Zeit des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges mit einer Mischung aus Pedanterie und fröhlichem Geschäftssinn nachspielen, wirken unfreiwillig komisch, denn sie bringen die Welt, in

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der 1 : 1 1 war, ja nicht mehr herauf. Diese simulierten Welten sind fremd in unserer Welt, und wir gehen als Fremde in ihr herum. Sie stellen eher eine museale Variante von Steven Spielbergs Jurassic Parc dar als den ernst zu nehmenden Versuch, sich einer passierten Welt anzunähern. Alte Objekte können die Auseinandersetzung mit dem Gewesenen nur veranlassen, nicht ersetzen. Die Rekonstruktion des Gewesenen ist letztlich ein virtueller und subjektinterner Prozess. Dies gilt selbst für ein so bewunderungswürdiges Projekt wie die detailgetreue Rekonstruktion der Warschauer Altstadt nach dem II. Weltkrieg. Das Wissen um die vorangegangene Zerstörung der Stadt bildet einen Hintergrund, der die Altstadt heute anders rezipieren lässt als vor ihrer Zerstörung. Die Altstadt wird als wieder aufgebaute Stadt wahrgenommen, und nicht als die Stadt, die der Rekonstruktion als Vorlage und Vorbild gedient hat. Die Schlüsseleigenschaften des Exponates Jedes Exponat ist Bezugspunkt, verweisender Ausgangspunkt und materieller Träger von Bedeutung. Und in jedem Exponat entsteht eine besondere, charakteristische Gemengelage von »Deutungsabsichten von Ausstellenden, Bedeutungen des Ausgestellten und Bedeutungsvermutungen von Museumsbesuchern«.32 Dies macht die Einzigartigkeit eines jeden ausgestellten Gegenstandes aus. Welche konkreten Eigenschaften bestimmen nun die Bedeutung des Exponates, das heißt seinen Ausstellungswert und seinen wissenschaftlichen Wert? Wodurch unterscheidet es sich von Vitrinen, Sitzgelegenheiten und Hinweisschildern, wodurch wird es zum exponierten Sein? Vereinfachend lässt sich wohl sagen, dass das Exponat den interpretierenden Blick des Besuchers auf sich zieht, ihn lenkt, sowie neue Felder des Sichtbaren und Sehenswerten eröffnet.33 Doch ist eine solche Aussage tautologisch; sie besagt nicht viel mehr, als dass Sich-Zeigendes sich zeigt. Im Folgenden soll anhand der Unterscheidung von vier Schlüsseleigenschaften des Exponates der Versuch einer genaueren Analyse unternommen werden: der Auffälligkeit, der Anmutung, der Aussagekraft und der Symbolträchtigkeit.

32

Offe, Ausstellungen, S. 42.

33

Vgl. Bernhard Waldenfels: Der herausgeforderte Blick. Zur Orts- und Zeitbestimmung des Museums. In: Ders.: Der Stachel des Fremden. Frankfurt a.M. 1991, S. 225-242, bes. S. 234 ff.

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Selbstverständlich sind all diese Eigenschaften auch vom Ausstellungszusammenhang und der Wahrnehmung des Besuchers34 abhängig. Eine dramatisierende Beleuchtung oder die Platzierung neben einem besonders blassen Exponat hat Einfluss auf alle Schlüsseleigenschaften eines ausgestellten Gegenstandes. Doch könnten Ausstellungskontext und Besucherwahrnehmung nicht zum Tragen kommen, wenn der ausgestellte Gegenstand entscheidende Eigenschaften nicht schon ausstellungsapriorisch an sich hätte. Wären Ausstellungszusammenhang und Besucherrezeption die alleinigen Ursachen der Exponatbedeutung, so könnte man die Exponate beliebig austauschen. Doch kann man jedem Exponat eine Aussage abgewinnen, aber nicht jedem Exponat jede Aussage abgewinnen. Für jede Schlüsseleigenschaft verfügt das Exponat über ein Potenzial, das im Bedeutungsraum der Ausstellung bis zu einem gewissen Grade und in einer bestimmten Richtung freigesetzt werden kann, aber schon vor seiner Kontextierung im Ausgestellten angelegt ist. Auffälligkeit Die spezifische Auffälligkeit eines Exponates liegt darin, dass das Unverfügbare, auf das es verweist, in ihm selbst aufblitzt. Die daraus resultierende Verblüffung des Betrachters kann durchaus auch den Charakter eines Schocks haben.35 Seine Verblüffung bezieht sich nicht nur auf das Exponat selbst, sondern auch und vor allem auf dessen Referenzwelt. Das Staunen, das sich beim Ahnen dieser Hinterwelt einstellt, erhöht aber wiederum die Auffälligkeit des Exponates, so wie ein Fensterplatz bei grandioser Aussicht an Attraktivität gewinnt. Das Exponat ist als Fenster zum Unverfügbaren auffällig. Als Altes Objekt

34

Zur Wahrnehmung des Besuchers vgl. Uwe Christian Dech: Sehenlernen im Museum. Ein Konzept zur Wahrnehmung und Präsentation von Exponaten. Bielefeld 2003. Dech unterscheidet fünf Perspektiven, die für das Sehen des Besuchers maßgeblich werden können: die ruhende (d.h. dem Exponat in seiner Materialität Raum gebende), die kontaktspürende, die erlebnisorientierte, die kontextuelle und schließlich die verbindende, das heißt alle Eindrücke zusammenfassende Perspektive. Ebd. S. 66 f.

35

Benjamin sieht in der schockförmigen Wahrnehmung von Ereignissen ein Characteristicum der Moderne gegenüber der auratischen, auf die Struktur des Gedächtnisses gestützten Wahrnehmung vormoderner Zeiten. Dazu zusammenfassend Schober, montierte Geschichten S. 73 ff.

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wird das Exponat zum Zeitfenster, das Aufschluss über versunkene Welten gibt. Als Experiment und Modell dagegen ist das Exponat ein Fenster zur Welt der Naturgesetze. Als Fenster ist das Exponat aber keine Brücke. Das heißt: Die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Person und Natur, Vertrautem und Fremdem werden durch museale Ausblicke nicht aufgehoben, sondern im Gegenteil bekräftigt. Das Exponat wäre kein Fenster, wenn es nicht Entferntes zeigen würde. Dies gilt selbst für wissenschaftliche Experimente. Werden sie betätigt, so äußern sich die Naturgesetze zwar in Form von Phänomenen, doch verflüchtigen sich diese Phänomene gleich wieder. Auch der Betrachter des Alten Objektes kann keine Brücke zu dessen Referenzwelt überqueren. Er kann nur versuchen, seine Vorstellung des Exponates mit seiner Vorstellung der ursprünglichen Bewandtnisganzheit des Gegenstandes in Einklang zu bringen. Gerade im verstehenden Umgang mit Exponaten liegt die Chance für den Betrachter, die Passgenauigkeit zwischen seinen internen Rekonstruktionen der Welt einerseits, und andererseits der Wirklichkeit zu prüfen, die durch die Exponate belegt wird. Die Auffälligkeit eines Exponates hängt ganz wesentlich davon ab, in welchem Maße es außergewöhnlich erscheint, das heißt, wie stark es von den Erwartungen des Besuchers abweicht und »aneckt«. Dies kann schon die physiologische Ebene betreffen: Niemand wird die erschreckend lauten Hochspannungsversuche in der Elektrizitätsabteilung des Deutschen Museums unauffällig nennen. Auf der kognitiven Ebene entsteht Auffälligkeit durch Unvereinbarkeit des Gesehenen mit dem bisher Gewussten, Erfahrenen und Angenommenen. Man denke an die vielen Möglichkeiten, Uhren als Exponate einzusetzen und dadurch den Besucher immer wieder von einer anderen Seite aus zu überraschen. Man kann eine Uhr ausstellen, weil sie ein kompliziertes Schlagwerk hat. An einer anderen Uhr dagegen mag bemerkenswert sein, dass sie dem preußischen König Friedrich II. das Leben gerettet hat, indem sie eine Gewehrkugel abprallen ließ. Eine weitere Uhr weist erotische Motive als Verzierung auf, die nächste ist die allererste Funkarmbanduhr, eine Cäsium-Atomuhr schließlich geht in einer Million Jahren nur eine Sekunde nach. Das Auffällige einer Uhr kann aber auch gerade darin liegen, dass sie nichts Besonderes ist. So wird eine japanische Digitaluhr vielleicht gerade wegen ihre großen Verbreitung gezeigt. Anmutung Während Auffälligkeit nur zum Aufmerken des Betrachters führt und das Exponat aus der Masse des Zeugs hervorhebt, stiftet Anmutung die erste Nähe zwischen Betrachter und Exponat, so dass ein erster nachhaltiger Eindruck entsteht. Dieser Eindruck setzt eine Art Einverleibung voraus: Nach dem

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Aufmerken entsteht eine differenziertere Vorstellung des Exponates, die, positiv oder negativ bewertet, dem Erfahrungsschatz des Subjektes hinzugefügt wird. Die Anmutung ist prägend für den weiteren Umgang mit dem Exponat. In der Begrifflichkeit der amerikanischen Besucherforschung ausgedrückt, ist die Anmutung eines Exponates eine Eigenschaft seiner »holding power«, wohingegen die Auffälligkeit zu seiner »attracting power« gehört. Die Anmutung bestimmt, wie intensiv das Exponat seinen Platz in der Ausstellung einnimmt. Sie resultiert aus der Fähigkeit des ausgestellten Gegenstandes, Assoziationen beim Betrachter auszulösen, gewissermaßen Gedanken- und Gefühlslawinenlawinen loszutreten. In dieser Hinsicht ist die Kunst, anmutende Ausstellungen zu machen, auch eine »Gemüthserregungskunst« (Novalis). Die Anmutung eines Alten Objektes wird besonders groß sein, wenn der Betrachter den Gegenstand von seiner Kindheit her kennt – einen Teddybär etwa oder eine bestimmte Faltschachtel für Schokolade – und er ihm daher etwas bedeutet. Solche Anmutungen sind für die Ausstellungsplaner nur bedingt vorhersehbar oder gar planbar. Andererseits können die Ausstellungsplaner gezielt die kollektiven Erinnerungen ganzer Besuchergruppen wachrufen – beispielsweise durch das Präsentieren einer Luftschutzsirene des II. Weltkrieges oder der zerbeulten Black Box eines abgestürzten Flugzeuges. Die Palette möglicher Anmutungen reicht von unscheinbar bis zu aufdringlich, von »matt« bis »grell«. Im ungünstigsten Fall wird Anmutung zur Zumutung, im günstigen Fall schafft Anmutung Atmosphäre im Sinne einer positiven Gestimmtheit des Besuchers. Eine solche Gestimmtheit hat weder mit dumpfer Zufriedenheit noch mit herausragendem Lernerfolg etwas zu tun. Vielmehr bildet sie den Kern des Gefühls, dem Sein des Ausgestellten nahe zu sein, es quasi zu belauschen – sei es als Vergegenwärtigung historischer Prozesse, sei es als Beobachtung der Natur. Hat ein Exponat viel Anmutung, so kann die Begegnung mit ihm zu einer authentischen Erfahrung der Zeitlichkeit der Zeit oder der Weltlichkeit der Welt werden. Aussagekraft Die Aussagekraft eines Exponates ist seine Fähigkeit, über das Unverfügbare zu unterrichten, um dessentwillen es zu einem Teil der Ausstellung gemacht wurde, und es zu belegen. Auf Grund seiner Aussage ermöglicht ein Exponat Rekonstruktionen des Gewesenen oder Deutungen des gegenwärtig Wirksamen. Ein in historischer Intention gezeigter Gegenstand belegt die Tatsächlichkeit eines geschichtlichen Zustandes oder Prozesses. Aufgrund dieses Belegs kann der Ausstellende Aussagen machen über die Entstehungsbedingungen des Gegenstandes (z.B. Auftraggeber, Material, technisches Konzept,

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Herstellungsart, Arbeitsaufwand, Gestaltungsvorbilder, Kosten), seine Verwendungsweisen (z.B. Zweckbestimmung, Benutzung, Dauerhaftigkeit, Gebrauchsspuren, Häufigkeit), seine soziale Einbindung (z.B. Konsumfunktion, Produktionsfunktion, Prestigefunktion, Schichtspezifik, Geschlechtsspezifik, Altersspezifik) und seine Symbolbedeutungen (z.B. Gebräuche, Metaphorik, ideelle und spirituelle Bezüge).36 Bei Naturafakten kommt häufig noch ein zusätzliches Moment hinzu. Sie belegen nicht nur naturhistorische Ereignisse und Prozesse, sondern auch die Schlüssigkeit und Systematizität eines wissenschaftlichen Gedankengebäudes. So können die präparierten Extremitäten eines Wals die Zurechnung dieses Tiers zu den Säugetieren plausibel machen. Dabei fungiert der Wal als Vertreter seiner Klasse und bekräftigt dadurch das System, auf Grund dessen er für die Präsentation ausgewählt wurde. Für den kognitiven Wert des Exponates ist seine Aussagekraft entscheidend, während Auffälligkeit und Anmutung in erster Linie für den emotiven Wert eines Exponates relevant sind. Allerdings kann sich die Aussage eines Exponates nicht mitteilen, wenn emotive Werte – und Anmutung – völlig fehlen. Dies ist häufig der Fall, wenn Bücher ausgestellt werden. Die Bücher selbst mögen von großer historischer Bedeutung und Aussagekraft sein; wenn sie in großer Menge in eine schlecht beleuchtete Vitrine gekippt werden, ohne Blick für eventuelle ästhetische Reize der Buchgestaltung und der handwerklichen Ausführung, dann nimmt der Besucher sie nicht wahr. Ruft ein Exponat dagegen Gefühle wach, beispielsweise ein abgegriffenes Struwwelpeter-Exemplar, so stimuliert dies den Besucher, sich auch mit der Aussage des Exponates zu beschäftigen. Spezifische Relevanz ist die Voraussetzung dafür, dass der Besucher die Aussage eines Exponates überhaupt erkennen kann. Sie ist dann gegeben, wenn das Exponat in der Bewandtnisganzheit, auf die es verweist, selbst als Spur oder Rest verwurzelt ist. Das Modell eines Segelschiffs, das nur deshalb in eine Ausstellung zum Thema Homöopathie gestellt wird, um zu demonstrieren, dass in den ersten Jahren der Homöopathie viele solcher Segelschiffe die Weltmeere befuhren, ist von geringer, für den Besucher kaum nachvollziehbarer Aussagekraft, weil ihm die spezifische Relevanz fehlt. Ein solches Modell wäre ein »Alibi-Objekt«, das lediglich als Illustration einer ohne-

36

Die Aufzählung dieser Kriterien lehnt sich an den Aufsatz von Bodo von Borries an: Präsentation und Rezeption von Geschichte im Museum. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1997 (48), S. 337-343, dort S. 338.

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➔ Ausstellen

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hin vorhandenen Aussage diente.37 Das Modell wäre auch in Ausstellungen über Ludwig van Beethoven, die Napoleonischen Kriege oder die Malerei des frühen neunzehnten Jahrhunderts denkbar. Dagegen wäre die inhaltliche Berechtigung groß, in einer Ausstellung über das Leben Darwins ein Modell des Segelschiffs »Beagle« zu zeigen. Die Beagle war Darwin ein schwimmendes Zuhause während seiner Pazifik-Expedition. In einer Ausstellung über das Leben Darwins hätte das Schiff große, in einer Ausstellung über Darwinismus dagegen geringere Aussagekraft. Symbolträchtigkeit Die Symbolträchtigkeit eines Alten Objektes ist in gewissem Sinne die spiegelbildliche Umkehrung seiner Aussagekraft. Bei ihr bestimmt nicht der überlieferte Gegenstand als Folge der einstigen Bewandtnisganzheit, sondern der Symbolgehalt als Folge des ausgestellten Gegenstandes die Bedeutungsstruktur.38 Die Eigenschaft des Gegenstandes, Beleg zu sein, resultiert aus seiner Biographie; die Spuren an ihm ermöglichen den Versuch, seine ursprüngliche Bewandtnisganzheit zu rekonstruieren. Symbolträchtig dagegen wird der Gegenstand, wenn komprimierte Vorstellungen der Wirklichkeit an ihn anknüpfen und erinnert werden. Besonders gewichtige Exponate vereinen in sich die Funktionen des Belegs und des Symbols, so dass sie, um einen Ausdruck des Germanisten Heinz Schlaffer auf das Museumswesen anzuwenden, gleichzeitig vergangen, erinnert und gegenwärtig sind.39 Nehmen wir als Beispiel Napoleon Bonapartes Hut.40 Seine museale Be-

37

Zum Begriff des Alibi-Objektes, der von Chantal Martinet stammt, vgl. Gottfried Korff: Objekt und Information im Widerstreit. In: Museumskunde Bd. 49, Heft 2 (1984), S. 83-93, S. 89.

38

Zu den Exponatfunktionen des Belegens und Symbolisierens vgl. Andreas Groth: Vorrede – das Objekt als Symbol. In: Ders. (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo: die Welt der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1400 bis 1800. Opladen 1994, S. 11-16, bes. S. 14 f.

39

Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München/Wien

40

Zu diesem Beispiel vgl. Christian Müller-Straten: Ist Geschichte musealisierbar?

2002, S. 30. In: Museum aktuell. Dezember 2001, Nr. 75 S. 3.117-3.121, dort S. 3.121. Einer von Napoleons Hüten findet sich in den Sammlungen des Deutschen Historischen Museums in Berlin. Er wurde 1815 in der Schlacht von Waterloo erbeutet.

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deutung liegt zunächst in seiner Eigenschaft als Spur und Rest. Der Hut belegt, dass ein französischer Korporalshut vor 200 Jahren so und nicht anders aussah und aus bestimmten Materialien gefertigt wurde. Er verkörpert einen bestimmten Typus von Hut. Der Besucher kann den Hut aber nur deshalb als typisch erkennen, weil er um den Ursprung des Hutes, das heißt um das ihn hervorbringende historische Umfeld schon weiß. Darüber hinaus ist Napoleons Hut ein Beleg dafür, dass es eine Welt, deren Bestandteil das Individuum Napoleon Bonaparte war, tatsächlich gegeben hat. Seine Zeitzeugenschaft beruht auf seinem Status als Original. Er ist das Original des Hutes, den man auf Abbildungen so oft gesehen hat. Diese Abbildungen leiten sich von ihm ab; er ist ihr Ermöglicher. Der Betrachter setzt den Hut im Geiste wieder in seine ursprüngliche Welt ein, zu deren Rekonstruktion die Ausstellung ihn anregen will. Der Hut verweist aber wiederum auf die Ausstellung zurück und rechtfertigt diese, indem er die Aussagen über das Individuum Napoleon untermauert und ihre Wahrheit plausibel macht. Der Hut belegt aber auch, dass persönlichen Gegenständen des Individuums Napoleon Bonaparte eine gewisse Sammlungspriorität eingeräumt worden ist – sonst wäre er weggeschmissen worden. In dieser Hinsicht wird die Überlieferung als »Lieferant« des Hutes erkennbar.41 Der Hut ist ein Sieger, er hat sich gegen konkurrierende Überbleibsel seiner ursprünglichen MitWelt durchgesetzt. Doch ist der Hut ebenso Symbol wie Beleg: Er steht für die kollektiven Erinnerungen an die historische Figur Napoleons, das heißt erstens für die Vorstellung, die von dieser Figur gebildet wurde, zweitens für die Geschichte dieser Vorstellung, die von der Rezeptionsgeschichte des Hutes nicht zu trennen ist. Der Hut hat seine Symbolpotenz zum überwiegenden Teil erst nach dem Untergang seiner ursprünglichen Bewandtnisganzheit, also sozusagen posthum erlangt. Die Symbolpotenz des Hutes schwingt bei seiner Wahrnehmung mit; der Hut als Symbol verschmilzt mit dem Hut als Spur und Rest. Als Symbol verweist er auf die Mythen, die sich um den »petit corporal« und den »Weltgeist zu Pferde« ranken, aber auch auf die Vorstellungen von militarisierter Gewaltherrschaft und modernem Cäsarentum. Dabei ist Napoleons Hut ein Beleg für die Dominanz des Kopfes in der Körpersymbolik, so-

41

Dieses Wortspiel stammt von Walter Grasskamp, ders.: Museumsgründer und Museumsstürmer. Zur Sozialgeschichte des Kunstmuseums. München 1981, S. 74.

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➔ Ausstellen

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zusagen für deren Kopflastigkeit. Die Stiefel hätten die Symbolkraft des Hutes nie erlangen können. Der ausgestellte Hut korrespondiert mit dem synthetischen und imaginären Bild eines Hutes, in dem sich positive und negative Erinnerungstraditionen verdichtet haben. Dieses Bild differiert von Individuum zu Individuum, zumal sich in kollektive auch persönliche Erinnerungen mischen. Denn die von G. Korff so genannte »Erinnerungsveranlassungsleistung«42 des Exponates strahlt in vielerlei Richtungen aus. Sie lässt möglicherweise auch die Erinnerung an den Hut des Großvaters oder das Lied vom Hut mit den drei Ecken lebendig werden.43 Letztlich sind nur Alte Objekte in der Lage, gleichzeitig Beleg und Symbol zu sein. Dementsprechend ist das Alte Objekt die Exponatgattung mit der komplexesten Zeige- und Aussagestruktur: Es verweist auf die Bewandtnisganzheit seiner ersten Welt und auf deren Zerstörung, aber auch auf die Rezeptionsgeschichte des überlieferten Gegenstandes. Ferner verweist es auf die Konstellation, in der es sich bei seiner Entdeckung und Freilegung befand. Und es verweist zurück auf das zeigende Museum und dessen interpretierend-gestaltendes Tun, das die Ausstellung und die Einbettung des Exponates in ihr überhaupt erst ermöglicht hat. Nicht selten verraten daher Ausstellungen mehr über die Zeit, in der sie entstanden sind, als über die kulturellen Rahmenbedingungen, die sie darstellen beziehungsweise erläutern sollen.44

42

Korff/Roth, das historische Museum, S. 16.

43

Zu diesem Aspekt vgl. Heiner Treinen: Ausstellungen und Kommunikationstheorie. In: Annette Noschka-Roos und Petra Rösgen: Museums-Fragen. Museen und ihre Besucher. Herausforderungen in der Zukunft. Internationales Symposion vom 22. bis 24. November 1995 im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1996, S. 60-72, dort S. 65: »Für die übergroße Mehrzahl der Besucher und Nutzer gilt, dass Entschlüsselungsakte eher auf assoziative Verarbeitungsvorgänge rückführbar sind mit der Folge, dass die in Ausstellungen übliche Form der Objektdeutungen auf subjektive und private kommunikative Vorerfahrungen zurückgreift […]«

44

Dieser Gesichtspunkt ist vom dänischen Künstler Per Kirleby hervorgehoben worden. Dazu Schober, montierte Geschichten, S. 32.

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V.4 Typologie des Ausstellens Die Modi des Ausstellens Zeigen, Erläutern und Inszenieren sind die entscheidenden Modi des Ausstellens. Die Besonderheit einer Ausstellung resultiert aus dem jeweiligen Mischungsverhältnis dieser drei Modi. Zeigen und Erläutern sind zwei Seiten der Exponierung eines Gegenstandes. Die Gewichtung dieser beiden Seiten ist von der inhaltlichen und gestalterischen Einbindung des Exponates abhängig. Auf das Ganze einer Ausstellung bezogen gilt, dass sich Zeigen und Erläutern ergänzen sollten. Das wünschenswerte Resultat wäre dann eine Mischform des erläuternden Zeigens oder zeigenden Erläuterns, die Zusammenhänge transparent macht, ohne das Unverfügbare, das es repräsentiert und verkörpert, zu verstellen. Inszenieren – hier verstanden als Schaffung eines Handlungsrahmens, der den Besucher einbezieht – ist ein weiterer Modus des Ausstellens. Er entfaltet sich zwischen den Exponaten, und nicht am Einzelexponat selbst. Positioniert das Zeigen das Exponat im Bedeutungsraum der Ausstellung, so legt das Inszenieren das Verhältnis des Exponates zur Zeit der Ausstellung fest. Denn: Insofern die Exponate Teile einer Inszenierung sind, bezwecken sie nicht, sich zu zeigen. Sie sind gewissermaßen materialisierte Regieanweisungen, die das Denken, Fühlen und Verhalten des Besuchers lenken und damit eine diachrone Struktur herstellen oder unterstützen. Sie treiben das Ausstellungsgeschehen voran und gliedern es – so wie beispielsweise die verschiedenen Pappmaché-Figuren in der berühmten Disneyland-Attraktion »Pirates of the Carribean«. Die Differenzierung der Ausstellungsmodi leitet zur Frage über, welche verschiedenen Typen von Ausstellungen es gibt. Ausstellungstypen lassen sich durch Unterscheidung der Struktur, des Stils und der technischen Umsetzung bilden.45 Ein viertes Unterscheidungskriterium ist die Art und Weise, in der ein Besucher in die Ausstellung involviert wird. Allerdings ist eine völlig saubere Trennung von Ausstellungstypen nicht möglich, da sich in der Praxis die verschiedenen technischen, gestalterischen und strukturellen Momente mischen. Ausstellungstypen zeigen daher nur Tendenzen oder Schwerpunkte an.

45

Die folgenden Ausführungen knüpfen an die Überlegungen Peter van Menschs zur Ausstellungstypologie an und führen diese weiter. Ders., the characteristics, S. 3981.

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➔ Ausstellen

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Struktur, Stil und Technik Mit Blick auf die Grundstruktur einer Ausstellung lassen sich systematische und rhapsodische Ausstellungen unterscheiden. Systematische Ausstellungen konzentrieren sich auf Identifikation und Klassifikation des Exponates. Dieses wird in erster Linie als Beleg eines historischen oder naturwissenschaftlichen Tatbestands instrumentalisiert und entsprechend erläutert. »Was ist das?« und »Zu welcher Art von Gegenständen gehört dieses Exponat? Wie unterscheidet es sich von ähnlichen Gegenständen?« sind hier die entscheidenden Fragen. Für rhapsodische Ausstellungen dagegen stehen nicht die Exponate, sondern das Thema im Vordergrund. Dieses Thema ist mehr als ein Fachgebiet. Es erlaubt die Bildung einer Storyline, welche die Ausstellung strukturiert. Die Biographie einer Persönlichkeit kann ein solches Thema bilden, aber auch ein historischer Zeitabschnitt oder der Verlauf eines Ereignisses – wie beispielsweise der Untergang der Titanic. Die Exponate sind nicht nur Belege oder Symbole, sondern lassen eine erzählerische Linie plastisch werden – was sich nur durch szenographische Elemente realisieren lässt. Häufig überwiegt der Modus des Zeigens gegenüber dem des Erläuterns, weil erläuternde Elemente den erzählerischen Fluss eher bremsen. Im Hinblick auf den Stil einer Ausstellung können drei elementare Varianten voneinander unterschieden werden: der ästhetische, der evokative und der didaktische Stil. Der ästhetische Stil betont die Anmutung der Exponate. Da deren Aussagekraft in den Hintergrund tritt, sind die Übergänge von Exponat, Werkzeugobjekt und Ausstellungsraum, von Inhalt und Gestaltung fließend. Die Gegenstände sollen in erster Linie gezeigt werden oder, wie ein altes Klischee kunsthistorischen Ausstellens besagt, für sich selbst sprechen. Dementsprechend werden szenographische Mittel sehr zurückhaltend eingesetzt, eine karge, minimalistische Gestaltung ist hier typisch. Der evokative Stil dagegen setzt auf die Präsenz der Exponate und verfolgt die Absicht, mit den medialen Möglichkeiten einer Ausstellung auf der Gefühlsklaviatur des Besuchers zu spielen – häufig unter Zurhilfenahme aufwändiger Inszenierungen. Erläuterungen spielen hier ebenso eine untergeordnete Rolle wie die Kriterien der Originalität und Authentizität. Bei didaktisch orientierten Ausstellungen schließlich steht die Vermittlung von Aussagen, Ideen und Einstellungen, und damit die Lernerfahrung des Besuchers im Vordergrund. Das Lernziel kann wissenschaftlicher Art sein, es kann sich aber auch um eine subjektive Überzeugung handeln, die vermittelt werden soll. Die erläuternden Medien haben hier mindestens die gleiche Gewichtung wie die zeigenden Medien. Hinsichtlich der Technik sind statische, dynamische und interaktive Ausstellungen unterscheidbar. Statische Exponate verändern sich nicht. Insbe-

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sondere Alte Objekte sind statisch – schon aus konservatorischen Gründen, aber auch, weil Museen eine quasi religiöse Pietät ihnen gegenüber an den Tag legen. Dagegen beruht die Wirkung von dynamischen Elementen auf einem Ablauf – sei es, dass der Ablauf automatisch vonstatten geht oder vom Besucher ausgelöst wird. Film- und Tonvorführungen gehören dieser Kategorie an. Entscheidend bei interaktiven Elementen schließlich ist – wie wir gesehen haben – die Möglichkeit für den Besucher, in den Ablauf des dynamischen Exponates einzugreifen. Die Involviertheit des Ichs Der Aspekt der Interaktivität leitet zur Frage über, wie Ausstellungen den Besucher in ihre Welt einbeziehen, wie dicht sie ihn an die Inhalte führen. Die Möglichkeiten reichen hier von maximaler Distanz zwischen Besucher und Ausgestelltem bis zum völligen Aufgehen des Besuchers in der Ausstellung. Unter diesem Gesichtspunkt können, in Anlehnung an die Literaturwissenschaft, dramatische, epische und lyrische Ausstellungen voneinander unterschieden werden. Dramatische Ausstellungen sind hoch inszeniert; Zeigen und Erläutern dagegen spielen keine so große Rolle. Sie integrieren den Besucher selbst in ihre innere Logik und machen ihn zu ihrer eigenen Voraussetzung. Letztlich ist es der Besucher, der durch sein Erleben und Handeln die Ausstellung zur Ausstellung macht. Ohne die Perspektive des Besuchers ist sie totes Material, das allenfalls die grobe Struktur des Besuchserlebnisses vorgibt. Der Besucher wird zum Abenteurer, zum Helden einer Handlung, kraft derer sich die Ausstellung entfaltet. Diese Handlung ist eine stringente Abfolge von Szenen – ähnlich wie die Handlung eines Films. Der Besucher lässt sich auf etwas ein, dessen Ausgang er nicht kennt. Gleichwohl kann er retrospektiv die einzelnen Stationen des Gangs durch die Ausstellung als geplante, aufeinander abgestimmte Teile einer Gesamtkomposition erkennen, die einen Spannungsbogen bilden. Die Makrostruktur dieses Ausstellungstyps ist linear angelegt, womit ein wichtiges Potenzial des Mediums Ausstellung – die Schaffung vernetzter, nicht linearer Abläufe – in den Hintergrund tritt. Die Nähe solcher Ausstellungen zu Jahrmarktsattraktionen oder Erlebnisparks nach Art von Disneyland ist groß. Ein besonders plastisches Beispiel einer dramatischen Ausstellung wurde im Themenpark der EXPO2000 im Bereich »Das 21. Jahrhundert« realisiert. Der Besucher dieser Ausstellung wurde quasi zum Reisenden in die Zukunft und setzte sich, indem er Umwelt und Mitwelt altern sah, mit seinem eigenen Altern auseinander. Der gelegentlich anzutreffende Begriff der »Erlebnisausstellung« trifft wesentliche Aspekte dessen, was eine dramatische Ausstellung sein kann.

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➔ Ausstellen

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Die Differenz von Betrachter und Betrachtetem, Besucher und Exponat ist hier von einer anderen Qualität als sonst in Ausstellungen üblich. Die Ausstellung wird als eine spielerisch zu erkundende Welt erlebt. Das Exponat wird zum funktionellen Bestandteil der Kulisse. Die Kulisse aber ist der Entfaltungsraum für das Handeln des Besuchers, der sich für die Dauer seines Besuchs eine andere Identität ausleihen kann. Epische Ausstellungen dagegen sind vor dem Besucher da und behaupten ihre Eigenständigkeit gegen ihn. Der Besucher ist hier nicht in erster Linie Abenteurer, sondern Zuhörer und Beobachter; er lässt sich etwas erzählen. Die Einzelabschnitte einer epischen Ausstellung entwickeln sich aus den räumlich beziehungsweise orientierungslogisch vorausgehenden Abteilungen und bereiten die nachfolgenden Abteilungen inhaltlich vor. Es ist gerade die Distanz zwischen der Ausstellung und dem Besucher, die Tatsache, dass sie nicht eins werden sollen, die hier die innere Logik bestimmt. Daher stehen das Zeigen und Erläutern der Exponate im Vordergrund. Ausstellungen, die einen wissenschaftlichen Anspruch haben oder sich als Instrument der Bildung verstehen, werden normalerweise als epische Ausstellungen realisiert. Allerdings können die epische und die dramatische Grundkonstellation einer Ausstellung auch ironisch gebrochen werden, indem entweder die Erzählhaltung oder die Handlung als solche in der Ausstellung thematisiert werden.46 Die Inszenierung einer Textilmaschinenhalle des 19. Jahrhunderts kann durch Puppen, die abseits stehen und die bildungsbeflissene Pose des Beobachters einnehmen, in einem verfremdenden Licht erscheinen, das neue Perspektiven eröffnet. Bei lyrischen Ausstellungen folgt die Sequenz der Einzelabschnitte einer unverbindlichen Reihung. Das Prinzip der Reihung ordnet Einzelelemente nicht auf Grund ihrer strukturellen Ähnlichkeit oder aus Gründen der gliederungstechnischen Konsequenz, sondern auf Grund äußerer Ähnlichkeit, Unähnlichkeit oder wegen der Vergleichbarkeit der emotionalen Wirkung auf den Besucher. Ansonsten wird bewusst darauf verzichtet, einen großen erzählerischen Bogen zu spannen oder eine systematische Struktur zu realisieren. Die neue Dauerausstellung des Deutschen Hygiene-Museums mit ihrer assoziativen Themenwahl gehört am ehesten diesem Typus an. Der Besucher

46

In diesem Zusammenhang lohnt sich die Lektüre des Aufsatzes von Stephen Bann: Das ironische Museum. In: Jörn Rüsen, Wolfgang Ernst und Heinrich Theodor Grütter (Hg.): Geschichte sehen. Beiträge zur Ästhetik historischer Museen. Pfaffenweiler 1988, S. 63-68.

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ist hier weder Abenteurer noch Zuhörer, sondern ein Empfänger von Eindrükken, deren Abfolge sich nicht voraussagen lässt und für das Ausstellungserlebnis auch nicht relevant ist. Die Ausstellungselemente werden mit Hilfe einer Bricolagetechnik zusammenmontiert. Wie bei der dramatischen, so ist es auch bei der lyrischen Ausstellung möglich, dass der Besucher komplett in die Ausstellung eintaucht und nahezu ein Teil von ihr wird. »Immersive Exhibitions« werden solche Ausstellungen im angelsächsischen Sprachraum genannt.47 Es bleibt festzuhalten, dass epische Ausstellungen das Ich des Besuchers unterstreichen, dramatische Ausstellungen es durch ein anderes Ich – ein Abenteuer-Ich – ersetzen, lyrische Ausstellungen es auflösen. Was nun die wissenschaftliche Ausstellung betrifft, so kann sie auf epische Elemente nicht verzichten, denn denkende Annäherung an das gegenständliche Sein setzt Distanz voraus. Der Gegenstand muss erst einmal fixiert sein, damit er als eigenständig erkannt werden kann. Erst das Zeigen, das stets nach Distanz verlangt, nimmt dem uns umgebenden Zeug die Vertrautheit und ermöglicht verstehende Anschauung. Um es mit H. Plessners Worten zu sagen: »Wir nehmen nur das Unvertraute wirklich wahr. Um anschauen zu können, ist Distanz nötig.«48

47

Beispielsweise von Christopher Chadbourne: A tool for storytelling. In: Museum

48

Helmuth Plessner: Mit anderen Augen (1953). In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd.

News 70/2 (1991) S. 39-42. VIII. Frankfurt a.M. 1983, S. 88-104, dort S. 93. Auf museologischer Seite betont unter anderem Rumpf, dass im Museum die Dinge fremd werden müssen, um sie aufmerksam ansehen und von ihnen lernen zu können. Ders., Gebärde der Besichtigung, S. 33.

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➔ Sammeln und Ausstellen in historischer Perspektive



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VI. Sammeln und Ausstellen in historischer Perspektive

Sammeln und Ausstellen sind heute nicht notwendigerweise miteinander verbunden. Privatsammlungen beispielsweise sind häufig nur für ihren Eigentümer interessant und werden daher nicht ausgestellt. Auf der anderen Seite finden Ausstellungen auch auf kommerziellen Veranstaltungen und Messen statt, wo nicht etwa gesammelte Kostbarkeiten, sondern innovative und marktorientierte Produkte im Rampenlicht stehen. Science Centres, die in der Regel zu den naturwissenschaftlich-technischen Museen gezählt werden, haben nur selten auch eine Sammlung. Historisch gesehen sind es aber gerade die Überkreuzung und auch das Spannungsverhältnis von Sammeln und Ausstellen, die zu Wesensmerkmalen des modernen Ausstellungswesens geworden sind, und nicht das Sammeln oder Ausstellen jeweils alleine. Ohne Sammlungen wären weder kunstnoch kulturhistorische Ausstellungen möglich. Umgekehrt ist aber auch die Sammlung auf einen lebendigen Ausstellungsbetrieb angewiesen. Dieser kann die Sammlung davor bewahren, zu einem Ort selbstzweckhafter Einmottung von historischem Unrat zu degenerieren. Für eine vernünftig geleitete museale Sammlung ist daher die potenzielle Ausstellbarkeit der Gegenstände ein entscheidender Gesichtspunkt, der Sammlungspolitik und konservatorische Praxis bestimmen sollte. Im Rahmen des Museumsbetriebes sind Sammeln und Ausstellen heute intensiv aufeinander bezogen. Das eine würde ohne das andere sowohl seine Berechtigung, als auch seine technische Durchführbarkeit verlieren. Die Möglichkeit des Ausgestelltwerdens muss dem Sammlungsgut inhärent sein, sonst wäre es lediglich Archivgut. Sammeln ist, so Korff, der »Modus der Potenzialität«, Ausstellen dagegen der »Modus der Aktualität« eines Museums.1 Aber auch das Umgekehrte ist zutreffend: Das für eine Ausstellung erworbene Objekt trägt in sich die Möglichkeit, nach seiner öffentlichen Präsentation in die Sammlung aufgenommen zu werden. Von der Perspektive der Sammlung aus ist das Sammeln der Modus der Aktualität, und die Ausstellung verkörpert das mögliche Sammlungsgut. Erst durch das Bedürfnis, die gesammelten Objekte auch permanent auszustellen, wird eine Vorrats- oder Schatzkammer beziehungsweise ein Sach-

1

Korff, Speicher und/oder Generator, S. 45.

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archiv auch zu einem Museum im modernen Sinne. Und erst durch seine Sammlung wird eine Ausstellungs- oder Messehalle zu einem Museum. Aber könnte es nicht sein, dass die begriffliche Trennung von Ausstellen und Sammeln einer zeitgenössischen, historisch gewordenen Perspektive entspringt? Zur Beantwortung dieser Frage lohnt sich ein Blick auf die Geschichte des Ausstellens und des Sammelns. VI.1 Die Anfänge Das Ausgestellte als φαινµενον Auf der Suche nach den historischen Wurzeln des Sammelns und Ausstellens stößt man auf den Handel und den Markt. Seit jeher haben Kaufleute Dinge von Wert gesammelt und das Gesammelte auf Marktständen und in Schaubuden ausgestellt, um es zu tauschen oder zu verkaufen.2 Doch war dieses kaufmännische Ausstellen kein Ausstellen um der Gegenstände willen. Wenn der Gegenstand um seiner und seiner Bedeutung willen gezeigt werden sollte, anstatt ihn zu verkaufen, so war magisches Denken hierfür der Beweggrund. Zeigen aus magischen Gründen war nicht notwendigerweise ein Zeigen, das einen konkreten Adressaten hatte. Am Beispiel der ägyptischen Grabstatuen wird dies deutlich. Die Statue des Pharaos Djoser3 beispielsweise stand mehr als viereinhalb Jahrtausende in einer Kalksteinkammer vor seinem Totentempel in Saqqara, vermutlich das erste lebensgroße Königsbild der Kunstgeschichte. Heute steht das Original im Ägyptischen Museum in Kairo, in Saqqara steht nur noch eine Kopie. Die geböschte Stirnwand der Kammer weist zwei Löcher auf. Die Statue sollte durch diese Löcher die Sterne betrachten können. Für die Lebenden aber war die Statue nicht sichtbar. Sie hatte eine magische, keine repräsentative oder gar didaktische Funktion. Wie alle ägyptischen Grabstatuen, so sollte auch diese Figur als alter ego des Verstorbenen dessen Leben fortsetzen. Sie stellte den Verstorbenen nicht dar, sondern war seine Ewigkeitsform4 und erfüllte diese Aufgabe unab-

2

Darauf hat schon Walter Benjamin hingewiesen. Ders., Jahrmarkt des Essens, S. 528.

3

Zur Statue Djosers vgl. Lange und Hirmer, Ägypten, S. 51.

4

Zur Funktion der altägyptischen Grabstatuen vgl. Claude Vandersleyen: Grabstatue. In: Lexikon der Ägyptologie. Wiesbaden 1977 Bd. II, S. 868-869. Zur Ewigkeitsform in der altägyptischen Kultur s. Assmann, Ägypten, S. 71 f.

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➔ Sammeln und Ausstellen in historischer Perspektive

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hängig davon, ob sie gesehen wurde oder nicht. Ihr bloßes Anwesend-Sein war das Entscheidende, nicht ihr Wahrgenommenwerden. Auch der 1200 Jahre jüngere Grabschatz Tutanchamuns hatte nicht die Bestimmung, von einem Sterblichen gesehen zu werden. Viele Grabbeigaben entstammten nicht der Hinterlassenschaft des verstorbenen Herrschers, sondern wurden eigens für den Zweck des Begräbnisses angefertigt.5 Im Arrangement des Grabschatzes, der »Sammlung«, sollte sich ihr ewiger Wesenskern – als Sitzmöbel, als Schreibutensil, als Truhe – zugunsten des Verstorbenen entfalten. Im Grab wurden die Gegenstände teils nach praktischen Gesichtspunkten der optimalen Platzausnutzung angehäuft, teils aber auch bewusst im Raum platziert – man denke an die Anubis-Figur in Gestalt eines Schakals, die den Zugang zum vergoldeten, von vier Göttinnen umgebenen Kanopenschrein bewachte. Das Zeigen der »Exponate« des Grabes war nicht ein Zeigen für jemanden, sondern ein Sich-Zeigen, ein magisches Offenlegen des Wesentlichen der Gegenstände. Die begriffliche Trennung von Sammlung und Ausstellung ist hier noch nicht sinnvoll. Das Pharaonengrab war ein Gehäuse von gesammelt ausgestellten, oder ausgestellt gesammelten, aber publikumslosen Gegenständen. Das permanente Zeigen in solchen magisch motivierten Kontexten entspricht der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs »Phänomen« als φαινµενον. In der griechischen Philosophie der Antike bedeutet Phänomen das Sich-an-ihm-selbst-Zeigende, das Offenbare.6 Zeigen in diesem Sinne ist eine Seinsweise des Seins. Das Sein zeigt sich so wie es ist; das sich Zeigende ist von verfälschendem Schein frei. Dabei gehört das Zeigen dem gezeigten Sein selbst an und bildet mit ihm eine Einheit. Der Mensch ist nicht als Urheber oder Adressat des Zeigens mitgedacht. Erste Ausstellungen für ein Publikum Erst in den antiken Kulturen der Griechen und Römer entwickelte sich ein permanentes Ausstellen von Gegenständen, das bewusst an ein Publikum gerichtet war. In den griechischen und römischen Tempeln wurden gesammelte Opfergaben ausgestellt. Die ausgestellten Gegenstände hatten vor allem eine Funktion: von Besuchern des Tempels angeschaut zu werden, so dass diese an der Majestät der Götter teilhaben konnten, aber auch der Per-

5

Jürgen Settgast (Hg.): Tutanchamun. Mainz 1980, S. 76.

6

Heidegger, Sein und Zeit, S. 28.

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son gedachten, die geopfert hatte.7 Doch wurden auch solche Gegenstände ausgestellt, die historische Ereignisse belegten und keine unmittelbar sakrale Bedeutung hatten. Auf der Athener Akropolis der perikleischen Zeit wurden Überreste der einst von den Persern zerstörten Heiligtümer bewusst stehen gelassen, um an die Perserkriege zu erinnern. Auch Trophäen waren dort ausgestellt, beispielsweise der Thron, von dem aus Xerxes den Verlauf der Schlacht von Salamis beobachtet hatte.8 In der griechisch-römischen Epoche traten neben die magischen Motive des Zeigens und Sammelns zunehmend auch wissenschaftliche Beweggründe. Die Griechen begannen die Welt als grundsätzlich analysierbar und verstehbar aufzufassen. Der Beweis wurde zu einer Schlüsselbewegung des sich die Welt aneignenden Geistes. Damit war die Voraussetzung dafür gegeben, dass man aufbewahrte Gegenstände als Beweisstücke betrachtete, welche die Richtigkeit von Hypothesen belegten. Diese Gegenstände konnten nur verifizieren, wenn sie auch gezeigt wurden. Dies war die Geburtsstunde der Musealie als materielles Zeugnis. Das Museion im hellenistischen Alexandria bewahrte materielle Zeugnisse auf, die von einem interessierten Publikum betrachtet und untersucht werden konnten.9 Die Römer führten die Rationalisierung des Sammelns und Ausstellens weiter und entwickelten zum ersten Mal ein säkularisiertes und professionalisiertes Ausstellungs- und Sammlungswesen. So gab es in Rom nicht nur private Sammlungen wie die des Cicero oder des Hadrian, sondern auch Kunsthistoriker, Kuratoren und einen wohlorganisierten Kunstmarkt.10 Vieles deutet darauf hin, dass am Anfang der Sammlungen die römische Kriegsbeute stand.11 In den Triumphzügen der Römer wurde Erbeutetes, das heißt auf kriegerischem Wege Gesammeltes, zur Schau gestellt und ausgestellt. Der siegreiche Feldherr präsentierte anlässlich der öffentlichen Heim-

7

Théophile Homolle: Donarium. In: Chr. Daremberg und Edm. Salio: Dictionnaire des antiquités grecques et romaines. Bd. II, 1. Teil, Paris 1892, S. 363-382.

8

Lambert Schneider und Christoph Höcker: Die Akropolis von Athen. Antikes Heiligtum und modernes Reiseziel. Köln 1990, S. 118.

9

Insbesondere verfügte das Museion – das nicht als Museum im neuzeitlichen oder gar modernem Sinne aufzufassen ist – über zoologische und botanische Sammlungen. Vgl. Hubert Concik und Helmuth Schneider: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Stuttgart/Weimar 2000 Bd. 8, S. 507-510.

10

Pearce, On Collecting, S. 91 f.

11

Pomian, Ursprung des Museums, S. 26.

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kehr Beutestücke, die auf ewig seinen persönlichen Triumph über die Feinde Roms bezeugen sollten. Unter anderem das antike Konstantinopel war mit solchen Beutestücken übersäht. Das Sammeln von Beutestücken diente vor allem der symbolischen Bekräftigung von Macht. Da gesammeltes Beutegut eine politische Bedeutung hatte, wurde es auch gezeigt. Sammeln und Ausstellen im Mittelalter Schon für die Antike ist das Sammeln und Ausstellen von Reliquien bezeugt. So berichtet der Historiker Pausanias vom Original des Steins, den Kronos statt seines Sohnes Zeus verschlungen hatte und vom originalem Lehm, aus dem Prometheus die erste Frau und den ersten Mann geformt hatte.12 Doch zur vollen Entfaltung gelangte der Reliquienkult erst in der Zeit des Christentums. Erste Anfänge des christlichen Reliquienkultes sind für die Zeit um 400 n. Chr. belegt.13 Physische Überreste der Heiligen, meist in wertvollen Behältern aufbewahrt, sollten nicht nur das Andenken der verehrten Personen pflegen und im Sinne eines pars pro toto deren Anwesenheit garantieren. Sie sollten auch die Seele des Betrachters Gott näher bringen. Mit Reliquien wurde ein reger Handel getrieben. Die Exhumierung und Zerstückelung von Märtyrern mit anschließender Verteilung der Leichenteile unter vielen Kirchen und Sammlern wurde zur verbreiteten Praxis. Gelegentlich war die Gier nach Reliquien so groß, dass man Heilige umbringen wollte, um zu garantieren, dass ihre Gebeine am Ort des Andenkens blieben.14 Reliquien wurden und werden heute noch in sakralen Räumen ausgestellt und – man denke an das »Grabtuch Christi« in Turin – bei bestimmten Gelegenheiten den Gläubigen gezeigt. In den Kirchen wurden nicht nur Reliquien ausgestellt, sondern auch andere wertvolle Gegenstände wie Kandelaber, Kelche, Monstranzen, Ziborien, Wandbehänge und Messgewänder. Auch profane Kostbarkeiten und Erstaunliches aus fremden Ländern waren in den Kirchen zu sehen.15 Nach den Kreuzzügen wurden zunehmend auch Objekte und Raritäten orientalischen

12

Pomian, Ursprung des Museums, S. 30.

13

Ebd. S. 98.

14

Muensterberger, Sammeln, S. 110 und 117.

15

Julius von Schlosser: Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Ein Beitrag zu Geschichte des Sammelwesens. Braunschweig 1978 (Erstausgabe 1908), S. 19ff. Pomian, Ursprung des Museums, S. 32.

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Ursprungs, zum Beispiel militärische Trophäen, in den Kirchen aufbewahrt und gezeigt.16 Öffentliches Zeigen von Gegenständen wurde aber auch immer schon als Mittel zur Kennzeichnung sozialer Unterschiede eingesetzt. Im ausgehenden Mittelalter nahm dies häufig manieristische Formen an. Dies war beispielsweise bei Festbanketten der höfischen Gesellschaft der Fall, die sich zu prahlerischen Theatern des Überflusses entwickelten. Die Primärfunktionen des Essens und der Bewirtung traten dabei weitgehend in den Hintergrund. Vergoldete Ferkel, Tauben, die aus Zuckerburgen flogen, gebratene Rehe, die, wieder in ihr Fell gesteckt, wie lebendig aussahen, wurden in so gewaltigen Mengen aufgetragen und arrangiert, dass an einen vollständigen Verzehr der Speisen auch nicht im Entferntesten zu denken war.17 Solche Veranstaltungen waren eher Ausstellungen als Festmahle. Die Bankette waren für das Auge, nicht für den Magen bestimmt. Sie sollten Staunen hervorrufen und Herrschaftsverhältnisse aufzeigen, und nicht sättigen. VI.2 Die Geburt des Museums Die neue Bedeutung des Ausstellens und Sammelns Mit dem Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit erwachte ein neuartiges Interesse an den materiellen Zeugnissen der Welt. Diese wurde zum Entfaltungsraum für Entdeckung, Eroberung und Erforschung. Die Welt, das war zum einen die äußere Welt, deren Radius sich durch die Entdeckungen der portugiesischen und spanischen Seefahrer, aber auch durch Forscher wie Kopernikus und Galilei radikal vergrößert hatte. Auch die innere, bislang verborgene Welt des Menschen selbst, mit seinen Zukunftsentwürfen und seiner Geschichte, ebenso aber mit seiner physischen Natur, wurde nun intensiver als je zuvor erkundet. Das starke Verlangen nach empirischer Auslotung der äußeren und inneren Welt verband sich mit traditionellen Formen des ZurSchau-Stellens. Im Hinblick auf die Entdeckung des inneren Menschen war die Gründung von anatomischen Theatern, zuerst 1594 in Padua, dann nach und nach in ganz Europa, von besonderer Bedeutung.18 Es handelte sich tatsächlich um

16

Schlosser, Kunst- und Wunderkammern, S. 14, Pomian, kulturelles Erbe, S. 46.

17

Massimo Montanari: Der Hunger und der Überfluss. Kulturgeschichte der Ernäh-

18

Robert Jütte: Die Entdeckung des »inneren« Menschen 1500 – 1800. In: Richard

rung in Europa. München 1993, S. 111 ff.

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Theater. Die Leichensektionen waren akademische Spektakel, für die Programme gedruckt wurden. Jeder Student konnte die Sektionen nach Zahlung eines Eintrittsgeldes beobachten, von Holzbühnen aus, die wie die Sitzreihen eines antiken Theaters konzentrisch um den Ort der Sektion angeordnet waren. Die Sektionen waren halböffentlich vollzogene Vorstöße in Unbekanntes, die ihre wahrhaft theatralische Faszination nicht zuletzt aus der Lust am Tabubruch zogen. Der erwachende Geist der Naturforschung begann, seinen Herrschaftsanspruch auf alles auszudehnen. Parallel dazu entdeckte dieser Geist den lehrreich-faszinierenden Schock als Mittel der öffentlichen Unterrichtung. Gleichfalls in der Zeit des Übergangs zur Frühen Neuzeit entstanden in Fürstenhäusern, Universitäten und Akademien die ersten großen Sammlungen, die zwar nicht für »die« Öffentlichkeit, aber doch für ein bestimmten Personenkreis im sozialen Umfeld des Sammlers bestimmt waren. Sie waren niemals nur Anhäufungen von wertvollen Gegenständen, sondern immer auch für den Blick des Besuchers arrangiert – manchmal in Form eines Theaters, auf dessen Bühne sich der Interessierte begeben musste, um die gesammelten Schätze anzuschauen.19 Die Kunst- und Wunderkammern von Fürsten wie Herzog Jean von Berry, Erzherzog Ferdinand von Tirol, Herzog Albrecht V. von Bayern, Kaiser Rudolf II. waren musterbildend für eine neue Art des Umgangs mit seltenen, seltsamen und alten Dingen.20 Im 17. Jahrhundert wurden dann immer mehr Kunst- und Wunderkammern im akademischen Umfeld gegründet. Die Kunstkammern der Londoner Royal Society, der

van Dülmen: Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500 – 2000. Wien/Köln/Weimar 1998, S. 241-258, bes. S. 248. 19

Zur Rolle des Besuchers/Betrachters in der Konzeption der Kunst- und Wunderkammern vgl. Hildegard Vieregg: Fürstliche Wunderkammern und frühe Museen – Konzeption und pädagogische Dimension. In: Hildegard Vieregg, Marie-Louise Schmeer-Sturm, Jutta Thinesse-Demel, Kurt Ulbricht: Museumspädagogik in neuer Sicht. Erwachsenenbildung im Museum. Hohengehren 1994, Bd. I, S. 6-31. Ferner Martin Prösler: Museums and Globalization. In: Sharon Macdonald und Gordon Fyfe (Hg.): Theorizing Museums. Oxford/Cambridge 1996, S. 21-44, dort S. 27 ff.

20

Dazu ausführlich Schlosser, Kunst- und Wunderkammern, S. 28 ff. Einen Überblick über die aktuelle Forschung bieten Oliver Impey und Arthur Macgregor: The Origins of Museums. The Cabinet of Curiosities in Sixteenth- and SeventeenthCentury Europe. London 2001.

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Académie Royale des Sciences in Paris, aber auch die des Universalgelehrten Athanasius Kircher, die größte Kunstkammer des 17. Jahrhunderts, sind Beispiele hierfür.21 In den frühneuzeitlichen Sammlerpersönlichkeiten wird ein neuartiger Menschentyp mit neuartigem Selbstgefühl deutlich. Der Sammler war keine rückwärts gewandte, dem Gestern nachblickende Figur, sondern ein Kind neuen, emanzipierten Denkens. Im Laufe der Jahrhunderte nahm er immer mehr die Freiheit in Anspruch, Gegenstände in eine von ihm selbst aufgestellte Ordnung einzusortieren, anstatt sich mit einer fest gefügten, vorgefundenen Ordnung des Seienden abzufinden. Dabei bildete das Sammeln nicht nur mit dem Ausstellen, sondern auch mit dem Forschen und Gestalten eine Einheit. Häufig waren die Kunst- und Wunderkammern mit Werkstätten und Laboratorien verbunden. Die Systematik der Kunst- und Wunderkammer Die Ordnungsprinzipien der Kunst- und Wunderkammern wurden von dem niederländischen Arzt Samuel von Quiccheberg in seiner Schrift »Inscriptiones vel tituli theatri amplissimi« (1565) dargelegt, die als erste museologische Schrift nördlich der Alpen gelten kann. Quiccheberg unterscheidet fünf Objektgruppen. Eine erste Gruppe besteht aus antiken Altertümern, die zusammen mit Stammbäumen, Familienporträts, Landkarten und vielem Anderen aufbewahrt werden. Die zweite Gruppe umfasst kunsthandwerkliche Gegenstände, beispielsweise Goldschmiede- und Juwelierarbeiten. Die dritte Gruppe enthält Naturalien, wobei natürliche Gegenstände neben solchen aufgehoben werden, bei denen natürliches Material, beispielsweise ein bestimmter Stein, verarbeitet worden ist. Gegenstände, die den »artes mechanicae« zuzurechnen sind, bilden die vierte Gruppe. Es handelt sich dabei um musikalische, mathematische und astronomische Instrumente, aber auch um Werkzeuge für Drechsler und Goldschmiede, Geräte für Vogelstellerei und Fischfang, chirurgische Instrumente und vieles andere. Der fünften Gruppe schließlich werden bildliche Darstellungen zugewiesen.22 Die fließenden Übergänge zwischen Natur, Mechanik und Kunst sind charakteristisch für die Gattung der Kunst- und Wunderkammern.

21

Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin 1993, S. 54 u. 70.

22

Schlosser, Kunst- und Wunderkammern, S. 118 ff. u. S. 143, ferner Bredekamp, Antikensehnsucht, S. 33 f.

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Wie in der Systematik Quicchebergs und anderer Autoren der Renaissance deutlich wird, wurde der inhaltliche Zusammenhang zwischen den Gegenständen einer Sammlung mit völlig anderen Augen gesehen als heute. Ähnlichkeit war das entscheidende Kriterium beim Auswählen und Interpretieren, wobei das Gemeinsame, aus dem sich die Ähnlichkeit ergab, im Stoff, in der Herkunft, in der Verwendung und in der Bestimmung der Gegenstände liegen konnte. Ähnlichkeit wurde als Eigenschaft gesehen, die den Gegenständen unabhängig vom erkennenden Subjekt inne wohnte und letztlich göttlichen Ursprungs war. Wie alle Zeichen – Zeichen hier verstanden als Seiendes, das auf anderes Seiendes verweist –, so bildeten auch die Bestandteile einer Sammlung die Welt und damit die Schöpfungsordnung ab.23 Das interpretierende Sammeln von Gegenständen war gewissermaßen ein Lesen der Schrift Gottes, eher ein Akt des Verstehens von schon Vorhandenem, als ein neuschöpferischer Akt des Auslegens. Die Kunst- und Wunderkammern waren lehrreiche Repräsentationen der Welt, so wie die Welt selbst als Kunstund Wunderkammer Gottes aufgefasst wurde.24 Indem Gegenstände in ihnen angehäuft wurden, häufte man auch das Wissen an, das in diesen Gegenständen verborgen lag. Dabei wurde dieses Wissen nicht als etwas aufgefasst, das neu zu erwerben war, sondern als etwas, zu dem man zurückkehren konnte. Die Kunst- und Wunderkammern sollten die Rückkehr zum paradiesischen Wissen Adams ermöglichen.25 Neben dem Wunsch, zum adamitischen Wissen zurückzukehren, war die Lust am Ungewöhnlichen und Staunen Erregenden eine wesentliche Triebfeder, um Kunst- und Wunderkammern zu füllen. Unter anderem befriedigten immer komplizierter werdende Automaten, die natürliche Bewegungsabläufe, beispielsweise das Schreiben nachahmten, diese Lust und vereinigten in sich Kunst, Mechanik und Natur.26 Dem frühneuzeitlichen Begriff des Zeichens entsprach es auch, dass das Gesammelte auf die soziale Stellung des Eigentümers hinwies. Die gesammelten Objekte waren unter anderem auch soziale Attribute einer Person, welche die Gottgewolltheit der gesellschaftlichen Ordnung belegten. Francesco I. von Medici (1541-87) richtete sich ein »Studiolo« ein, einen schmalen

23

Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissen-

24

Bredekamp, Antikensehnsucht, S. 70.

25

A.a.O., S. 43.

26

Bredekamp, Antikensehnsucht, S. 11 ff.

schaften. Frankfurt a.M. 1994, S. 78 ff.

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Raum ohne Fenster, in dem Exponate die hierarchische Ordnung des Seienden repräsentierten. In dieser privaten Schöpfungsordnung konnte Francesco symbolisch als Herrscher eines Miniaturkosmos erscheinen.27 Die Platzierung des Gesammelten im Raum wurde als Mittel entdeckt, die Bedeutungen der Welt freizulegen und sinnfällig werden zu lassen. Das Gedächtnistheater, das Guillo Camillo am Hofe Franz I. von Frankreich baute,28 war eine Ausstellung, welche die verborgenen Dinge des menschlichen Geistes und der Welt nebeneinander sichtbar machen sollte, sozusagen eine Verkörperlichung des Geistes oder eine nach außen gekehrte Seele. Noch John Locke verwendete für den menschlichen Geist nicht nur die Metapher des »white papers«, sondern auch die eines Sammlungsraumes, der sich mit Gegenständen füllt.29 Auch Francis Bacons Vorhaben eines Solomon’s House und der Plan von Gottfried Wilhelm Leibniz, ein Theater der Natur und Kunst einzurichten, entsprangen der Absicht, die Schöpfungsordnung nachzubilden und dadurch verstehbar zu machen. Leibniz wollte seltene Pflanzen, Maschinen, Experimente, Musikaufführungen und Theaterstücke zu einem lebendigen, Staunen machenden und inspirierenden Ensemble zusammen fügen30 – sozusagen zu einer archaischen Form des Science Centres. In der Zeit, als die ersten großen Sammlungen der Neuzeit entstanden, bildeten sich auch wesentliche Grundformen musealer Repräsentationsräume heraus, die bis heute prägend geblieben sind: das Kabinett, ein quadratischer Raum von überschaubarer Größe, der Natur- und Raritätensammlungen aufnahm, sowie repräsentativere architektonische Formen wie die Galleria und die Tribuna, in denen Kunst und historische Zeugnisse untergebracht waren.31 Auch die Rotunde wurde zum festen Bestandteil der musealen Raumtypologie. Während Galleria und Tribuna für das Durchschreiten gedacht waren, lag der Zweck der Rotunde darin, den Besucher zum Innehalten

27

Pearce, on collecting, S. 112.

28

Pearce, on collecting, 113, zu Francis Bacons Solomon’s House S. 117.

29

John Locke: An essay concerning human understanding. Oxford 1975, Bd. II/1, §

30

Horst Bredekamp: Leibniz’ Theater der Natur und Kunst. In: Horst Bredekamp,

2 (15), S. 55. Zu Lockes Metapher vgl. auch Bredekamp, Antikensehnsucht, S. 44. Jochen Brüning und Cornelia Weber: Theater der Natur und Kunst. Wunderkammern des Wissens. Berlin 2000, S. 13-19. 31

Friedrich Waidacher: Handbuch der Allgemeinen Museologie. Wien/Köln/Weimar 1993, S. 100.

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zu bewegen.32 Noch in der Museumsarchitektur des 20. Jahrhunderts werden beide Grundformen verwendet. Im Deutschen Museum werden die lang gestreckten, vom Besucher zu durchquerenden Ausstellungssäle durch das repräsentative Rund des sogenannten Ehrensaales ergänzt. Das Ende der Kunst- und Wunderkammern Bis ins späte 18. Jahrhundert behielten viele Orte des Sammelns und des Ausstellens den Charakter von Kunst- und Wunderkammern. Im Zuge des Rationalismus und der Aufklärung begann sich dies allmählich zu ändern: Es entstanden die ersten modernen Museen als Orte eines systematisierten und allgemein zugänglichen Wissens. 1661 wurde mit dem Amerbach-Kabinett in Basel das erste allgemein zugängliche Museum gegründet, 1693 folgte das Ashmolean Museum in Oxford. 1753 wurde das British Museum in London eröffnet, dessen Zugang keinen ständischen Beschränkungen mehr unterlag. Von schwer zugänglichen Schatzkammern wurden die Museen allmählich zu Orten, die der bürgerlichen Öffentlichkeit offen standen, die sich in dieser Zeit formierte. Diese Entwicklung schlug sich auch in der Museumsarchitektur nieder: Die repräsentativ nach außen gekehrte, für das Durchschreiten gedachte Galleria löste das Kabinett ab.33 Erst von dieser Zeit an ist es sinnvoll, vom »Besucher« zu sprechen. Sein Interesse, sich Wissen anzueignen, begann nun das kuratorische Handeln wesentlich zu bestimmen und relativierte die Bedeutung privater, kultischer oder rein wissenschaftlicher Motive des Sammelns und Ausstellens. Die bislang als zusammengehörig gedachten Bereiche der natürlichen Gegenstände, antiken Skulpturen, Maschinen und Kunstwerke wurden nun so getrennt, wie es der Auffächerung des Gelehrtenwissens in Naturwissenschaften, Geschichte, Technik und Kunst entsprach. Damit wurde den Kunstund Wunderkammern ihre theoretische Grundlage entzogen und sie lösten sich auf.34 Der Siegeszug des Utilitarismus setzte insbesondere der Einheit von Kunst und Mechanik ein Ende.35 Letztere galt nun als den Künsten überle-

32

Beat Wyss: Das Museum, oder die Rückverzauberung entzauberter Dinge. In:

33

Waidacher, Allgemeine Museologie, S. 85.

34

Friedrich Klemm: Geschichte der naturwissenschaftlichen und technischen Mu-

35

Bredekamp, Antikensehnsucht, S. 80.

Museumskunde 63, 2/1998, S. 74-83, dort S. 78.

seen. München 1973, S. 29 ff.

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gen, weil sie als nützlicher eingestuft wurde. Man begann, Maschinen und technische Instrumente getrennt zu sammeln. Die trennscharfen Wissenschaftsgrenzen lösten die Gliederungsprinzipien der Renaissancesammlungen mit ihrem universalen Anspruch ab.36 Je nach ihrer Kategorie wurden nun die Sammlungsgegenstände in verschiedenen Räumen untergebracht. Von nun an beruhte das Sammeln auf einem zirkulären Schluss: Die Sammlungen entstanden auf Grund einer Deutung der Realität, die zu bestimmten Auswahlkriterien führte. Solche Deutungen konnten aber nur anhand von Gegenständen zustande kommen. Die Deutung folgte also den Gegenständen, ging ihnen aber auch voraus. Noch heute sind Sammlungen »Objekt-Zusammenhänge, die aufgrund von Deutungen zustande kommen, die sich an jenen selbst legitimieren.«37 Die wissenschaftlichen Ordnungsvorstellungen bestimmten die Auswahl und Präsentation des Aufzuhebenden und des zu Zeigenden. Die Objekte wurden nun nach abstrakten Skalen, Schemen und Kriterien gemessen, verglichen und geordnet. Gleichzeitig änderte sich der theoretische Hintergrund des Sammelns. Auf Grund eines enttheologisierten Verständnisses von Erkenntnis und Wissenschaft wurde das Sammeln als ein Akt aufgefasst, der die Identität des Gesammelten überhaupt erst stiftete. Die Bedeutung der Gegenstände galt nun nicht mehr als etwas, das in den Gegenständen selbst liegt und dem Akt der Erkenntnis voraus geht.38 Das Verstehen der Welt wurde zum Auslegen der Welt und trug eben dadurch zum Zusammenhang dieser Welt bei. Die Setzung von Identität durch Differenz löste das Auffinden von Ähnlichkeiten ab. Das erkennende Subjekt maß und verglich den Gegenstand seines Interesses nach Maßgabe seiner Kriterien und konstituierte ihn dadurch. Erst jetzt konnte es ihn als Original oder Fälschung in eine von ihm selbst entworfene Ordnung einsortieren oder von dieser ausschließen. In den Sammlungen des späten 18. Jahrhunderts war nicht mehr das

36

Gottfried Korff: Museumsreisen (1991). In: Martina Eberspächer, Gudrun Marlene König und Bernhard Tschofen (Hg.): Museumsdinge. Deponieren – Exponieren. Köln/Weimar/Wien 2002, S. 3-11, dort S. 7.

37

Michael Fehr: Aufklärung oder Verklärung. In: Jörn Rüsen, Wolfgang Ernst und Heinrich Theodor Grütter (Hg.): Geschichte sehen. Beiträge zur Ästhetik historischer Museen. Pfaffenweiler 1988, S. 110-122, dort S. 111, ferner Fehr, Understanding Museums, S. 16.

38

Foucault, Ordnung der Dinge, S. 93 ff., ferner, mit besonderem Blick auf die museale Sammlung: Ritter, Fake, S. 264 f.

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räumliche Nebeneinander der Ausstellungsstücke, sondern ihr zeitlich-kausaler Zusammenhang entscheidend. Die Zeit hatte den Raum als wichtigstes Ordnungsprinzip des Gesammelten und Ausgestellten abgelöst.39 Sammlung und Ausstellung wurden zu Verräumlichungen der Zeit, nachdem sie vorher räumliche Repräsentationen des gleichfalls räumlich gedachten Kosmos gewesen waren. Allerdings verschwand die den Kunst- und Wunderkammern zugrunde liegende Überzeugung nicht völlig, dass die Bedeutung des Gegenstandes in diesem selbst begründet liege. Bis auf den heutigen Tag ist sie als Abneigung vieler Museen – besonders von Kunstmuseen – wirkungsmächtig geblieben, ihre ausgestellten Exponate durch Text zu erläutern. Als Begründung hört man häufig, dass der Gegenstand »aus sich selbst heraus« verständlich sei oder lediglich »zum Sprechen gebracht« werden müsse, so als bräuchte der Besucher nur unter die Oberfläche des Exponates zu blicken, um seiner ewigen Wahrheit gewahr zu werden. Doch wird dabei kein absoluter Standpunkt eingenommen, sondern die Einstellung der Kunst – und Wunderkammer zu den Dingen weitergeführt. Was den neuen Museumstyp des 18. Jahrhunderts betrifft, so stand das exemplarisch Gesammelte und Ausgestellte auch für den Anspruch auf lükkenlose Erfassung eines vorab definierten Weltausschnitts, ähnlich wie sich in den versammelten Tieren der Arche Noah ein Anspruch auf Lückenlosigkeit manifestiert hatte.40 Die meist von Angehörigen des Bürgertums angelegten Sammlungen41 – der Adel hatte seine Pionierrolle in der Geschichte des Sammelns eingebüßt – stellten komprimierte, systematisierte und Lückenlosigkeit beanspruchende Repräsentationen der Kunst, Geschichte oder Natur dar, wie etwa die erste botanische Sammlung des Carl von Linné in Lappland.42 Dadurch wurden Sammlungen einerseits zu Schaufenstern in die Welt, ande-

39

Korff, Museumsreisen, S. 8.

40

Fehr, Understanding Museums, S. 14.

41

Nach Angaben des zeitgenössischen Kunsthistorikers Johann Georg Meusel gab es 1789 in Deutschland und der Schweiz 480 bürgerliche, 46 fürstliche und 46 öffentliche Kunst-, Münz- und Naturalienkabinette. Vgl. Korff, Museumsreisen, S. 6.

42

Botanische Sammlungen waren die mit Abstand häufigsten Sammlungen im 18. Jahrhundert. Anke te Heesen: Das Naturalienkabinett und sein Behältnis. Überlegungen zu einem Möbel im 18. Jahrhundert. In: Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Preprint 50: Sammeln in der Frühen Neuzeit. 1996, S. 29-56.

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rerseits zu Widerlagern des dramatischen Traditionsverlusts seit Beginn der Frühen Neuzeit. H. Treinen hat dazu Folgendes angemerkt: »Die kollektive Wertschätzung authentischer Objekte als Symbole für gedachte Kulturzusammenhänge findet vorwiegend in solchen Epochen statt, in denen sich kulturelle Wandlungsvorgänge abspielen und kognitiv verarbeitet werden; in denen also Traditionen durch Prozesse der Reflexion über Geschichte, durch historisches Bewusstsein, ersetzt werden.«43 Das späte 18. Jahrhundert, die letzten Jahrzehnte des Ancien Régimes, war eine solche Epoche. Die Initialzündung des modernen Museums Im Zuge der Französischen Revolution wurden die Museen vollends zu Stiftern und Bewahrern nationaler Identität. Es manifestierte sich in ihnen ein nationaler Konsens über Bewahrenswertes, sei es, dass es sich um historische Zeugnisse, um technische Erfindungen oder um naturkundliche Proben und Überreste handelte. Nachdem im August 1793 die Königsgräber in St. Denis verwüstet worden waren, richtete Alexandre Lenoir im Konvent der Barfüßigen Augustiner einen Platz ein, wo er die Trümmer der bilderstürmerischen Aktion sammelte und inventarisierte.44 Auf der Grundlage dieser Sammlung, deren Zustandekommen nicht zuletzt als antagonistischer Reflex gegen die Traditionsfeindlichkeit der radikalen Revolutionäre zu erklären ist, wurde 1795 das Musée des Monuments Français gegründet, das erste Nationalmuseum Frankreichs. Lenoir begründete bei dieser Gelegenheit den Primat des Kunstmuseums. Sich auf Winckelmann berufend, sah er das ästhetische Verhältnis zur zweckfrei gedachten Kunst als Mittel an, den Menschen in politisch-gesellschaftlicher Hinsicht zu erziehen. Als »Gefäß der befreiten

43

Heiner Treinen: Strukturelle Konstanten in der Entwicklung des Museumswesens. In: Wolfgang Zacharias (Hg.): Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung. Essen 1990, S. 151-166, S. 156 f.

44

André Desvallées: Konvergenzen und Divergenzen am Ursprung der französischen Museen. In: Gottfried Fliedl: Die Erfindung des Museums. Anfänge der bürgerlichen Museumsidee in der Französischen Revolution. Wien 1996, S. 65-130. Schulin, Absage an und Wiederherstellung von Vergangenheit, S. 26 f.

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➔ Sammeln und Ausstellen in historischer Perspektive

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Menschheit«45 wurde das Kunstmuseum zur direkten Erbin des Prestiges, das die Kunst- und Wunderkammern ausgezeichnet hatte. Doch fällt auch die Gründung des wohl ersten Museums für Wissenschaft und Technik im verlassenen Kloster Saint-Martin-des-Champs, des Conservatoire des Arts et des Métiers, in die Revolutionszeit, ebenso des ersten modernen zoologischen Gartens im Jardin des Plantes. Die Französische Revolution machte die Institution Museum endgültig zu einer Einrichtung der bürgerlichen Öffentlichkeit und zu einer Bildungseinrichtung, deren Auftrag allgemeiner Natur war und sich auf alle Individuen bezog. Von nun an waren ständische Beschränkungen des Zugangs zu Museen Relikte des Ancien Régimes. Die moderne Unterscheidung von »Sammeln« und »Ausstellen«, die heute konstitutiv für das Museumswesen ist, wurde nun überhaupt erst möglich. Vorher hatte es eine Öffentlichkeit, an die sich das Ausstellen hätte richten können, wenn überhaupt, dann nur in Ansätzen – meist im höfischen oder akademischen Milieu – gegeben. Auch waren Sammlungen immer schon gezeigt, das heißt ausgestellt worden – mindestens für den adligen oder bürgerlichen Sammler selbst, meistens aber auch für verwandte und sozial ebenbürtige Personen, die dem Sammler nahe gestanden hatten. Doch erst das Museum der Moderne wurde von einer Dichotomie bestimmt, die das hermetische Depot und die offen zugängliche Ausstellung einerseits voneinander unterschied, andererseits als komplementäre Bestandteile des Museumsbetriebs aufeinander bezog. Auch in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht begann Ende des 18. Jahrhunderts eine neue Epoche. Das akkumulierte Wissen wurde in einer vorher nicht möglich gewesenen Art und Weise dynamisiert. Der wissenschaftliche Blick wandte sich der Vielfalt der Natur nunmehr unter dem Gesichtspunkt der Naturgeschichte beziehungsweise der Naturentwicklung zu. In der Gestalt des Historismus fand der Entwicklungsgedanke auch in die sich neu formierenden Geisteswissenschaften Eingang. Die Bewertung der Technik wurde gleichfalls dynamisiert, indem man ihr eine Tendenz zu unaufhaltsamem Fortschritt zuschrieb. Das Museum wurde nun immer mehr zu einem Ort der Rettung für das, was durch diesen Fortschritt überrollt zu werden schien.

45

Eine Formulierung von Bredekamp, Antikensehnsucht, S. 88 f.

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VI.3 Musealisierung in der Moderne Das Museum als Ort des Alten Schon im 19. Jahrhundert – und nicht erst in unserer Gegenwart – wurde Musealisierung zu einem Totalphänomen, das alle Bereiche der Gesellschaft erfasste. Angesichts der historisch singulären Wucht von Industrialisierung und Urbanisierung erschien vieles bislang Vertraute, das außer Gebrauch zu geraten drohte beziehungsweise sich einer technischen Instrumentalisierung entzog, nunmehr bewahrens- und ausstellenswert. Das Museum hörte nun endgültig auf, in erster Linie ein Ort des Neuen, gerade erst Entdeckten zu sein. Es mutierte zu einem Ort der Gegenstände, die zwar alt und überholt waren, aber angesichts des drohenden Totalverlustes der alten Lebenswelt gleichwohl als Gegengewichte taugten zur neuen, mental noch nicht verkrafteten Welt der Eisenbahn, der Stahlbauten, der Telegraphie und der Großstädte. Das museale Sammeln war nun zu einer Tätigkeit geworden, deren wichtigste Funktion im Bewahren, Konservieren bestand. Was man unter Fortschritt verstand, spielte sich ohnehin außerhalb der Museumsmauern ab. Die menschliche Weltaneignung, so eine treffende Formulierung Odo Marquards, trat auseinander in Labor und Museum.46 Ein antimoderner Impuls, der darauf abzielte, die Einzigartigkeit der Gegenstände angesichts der allmählich bedeutender werdenden Massenproduktion zu retten, prägte die weitere Entwicklung des Museumswesens entscheidend. Unter dem Gesichtspunkt, Einzigartiges zu retten, hatte sich das Sammeln bisher weitgehend erübrigt, denn die Dinge waren vor dem Anbruch der Moderne ohnehin einzigartig und unverwechselbar gewesen – ganz zu schweigen vom Mittelalter, das in ihnen Individuen gesehen hatte.47 Die jeweiligen Gattungsbegriffe für Gegenständliches – zum Beispiel »Tisch« – hatten ungleiche, stark voneinander abweichende Exemplare umfasst.48 Nun, im 19. Jahrhundert, wurden Normierung und Austauschbarkeit der Einzelteile endgültig zu theoretischen Grundlagen industrieller Produktion. Parallel dazu

46

Marquard, Wegwerfgesellschaft, S. 914.

47

Johann Huizinga: Herbst des Mittelalters. Stuttgart 1969, S. 338 f.

48

Sommer/Winter/Skirl, gehen von einer antimodernen, gegen die Auswirkungen der Massenproduktion gerichtete Spitze des Sammelns fälschlicherweise schon für die Zeit der Renaissance. Indessen blieb Massenproduktion bis zum 19. Jahrhundert im Großen und Ganzen eine Seltenheit. Vgl. dies., die Hortung, S. 35 f.

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➔ Sammeln und Ausstellen in historischer Perspektive

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wurde das Museum mehr und mehr zu einem Ort der Erinnerung an die nicht normierte Welt, die sich aus Einzigartigem zusammengesetzt hatte. Die Ausstellung als Repräsentation des Unverfügbaren Nationalparks, Völkerschauen und Zirkusse entwickelten sich zu gigantischen Schaubühnen für den öffentlichen Blick. Es wurde entweder das noch nie Gesehene, Exotische gezeigt – beispielsweise die reitenden und Lasso werfenden Cowboys und Indianer in Bill Codys, das heißt Buffalo Bills Zirkus – oder aber das durch technischen und sozialen Wandel Bedrohte, wie die Bison-Herden in den amerikanischen Nationalparks. 1872 wurde in Wyoming der erste Nationalpark der Welt gegründet, der Yellowstone-Nationalpark.49 Das große Ausgreifen der amerikanischen Siedler nach Westen näherte sich seinem Kulminationspunkt; die grundsätzliche Begrenztheit des Lebensraumes auch auf dem amerikanischen Kontinent wurde allmählich bewusst. Es war auch die Zeit, als in London, Antwerpen und Berlin zoologische Gärten gegründet wurden – permanente Tierpräsentationen mit exotischen Monumentalbauten und kopierter Wildnis, deren Besuch kein exklusives Vergnügen mehr, sondern ein erschwingliches Massenspektakel war.50 Ein entscheidender Grund für die rasche Ausbreitung dieser Einrichtungen ist darin zu sehen, dass die moderne, schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts in globalem Maßstab ausgreifende Zivilisation für das Individuum mehr und mehr undurchschaubar und unüberschaubar geworden war, so dass sich ein Bedürfnis nach Orientierung und Überblick einstellte. Es entstanden Repräsentationen des Unverfügbaren, um auch die fernsten, exotischen Inhalte zu ent-fernen und in die Lebenswelt des einzelnen Bürgers inserieren zu können. Zum ersten Mal wurde die Illusion greifbar, dass die Menschheit auf einer planetaren Ebene ihrer selbst gewahr werden und jeder an den Eroberungen und Entwicklungen der Zivilisation partizipieren könne. Freilich wurde das bislang für unverfügbar Gehaltene dabei auch zur Ware, zum konsumierbaren Fetisch. In den Ausstellungen, wo das Unverfügbare nunmehr zugänglich erschien, wurde suggeriert, ein objektiver, vogelperspektivischer Überblick der Vielfalt des Gegenständlichen sei ebenso möglich wie ein Erfassen der unverfälschten Bedeutungsstrukturen der Welt. Die Ordnungen, in der die ausge-

49

Sturm, konservierte Welt, S. 19.

50

Eric Baratay und Elisabeth Hardouin-Fougier: Zoo. Von der Menagerie zum Tierpark. Berlin 2000, S. 92 ff.

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stellten Gegenstände dem Besucher entgegen traten, schienen die Realität abzubilden. Die Ausstellung wurde zu einem Modell für die Erkennbarkeit der Welt schlechthin.51 Das Museum als bürgerliche Institution Auch in Deutschland wirkte die französische Entwicklung hin zum radikal öffentlichen Museum als Vorbild und regte bedeutende Museumsgründungen an, so die Gründung des maßgeblich von Wilhelm von Humboldt geprägten Alten Museums in Berlin 1830.52 Doch galten vorerst nur Kunstwerke als würdiger Gegenstand musealer Präsentation. Diese Grundeinstellung wurde um die Mitte des 19. Jahrhunderts erschüttert. Es entstanden Museen, die das neuartige Selbstbewusstsein des erstarkenden Bürgertums ausdrückten und sich als historische Einrichtungen verstanden, als Einrichtungen, die Identität über Aufbewahrung materieller Geschichtszeugnisse stiften wollten. Die Gründung des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg 1853 stand unter liberalen Vorzeichen und war dem Geist der Paulskirchenversammlung von 1848 verpflichtet. In dieser neuartigen Institution drückte sich der Wunsch aus, ein Identitätsgefühl für einen deutschen Nationalstaat, der ja noch gar nicht existierte, zu finden und völkisch zu untermauern. Das Germanische Nationalmuseum war in Deutschland der erste konkrete Schritt auf einem Weg, der das Museum zum Aufbewahrungsort von säkularen Reliquien machte, von Alten Objekten, die der staatsbürgerlichen Erbauung dienten. Im weiteren Verlauf dieses Weges sollten Museen als quasi sakrale Orte an die Seite der Kathedralen treten, wobei sich ihr wissenschaftlicher und pädagogischer Anspruch mit dem Bedürfnis des erstarkenden Staates vermengte, seine Machtfülle historisch zu legitimieren. Die kulturgeschichtlich orientierte, aus heutiger Sicht ungewöhnlich moderne Sammlungskonzeption des Germanischen Nationalmuseums hatte auch Rücksicht auf die materiellen Zeugnisse des täglichen Lebens und der unterbürgerlichen Schichten genommen. Das Typische, historisch Aufschlussreiche dieser Exponate war über deren ästhetischen Reiz gestellt worden. Dadurch setzte sich das Museum in einen scharfen Kontrast zur aka-

51

Timothy Mitchell spricht in diesem Zusammenhang von der »Welt als Ausstellung« und weist darauf hin, dass sich der Begriff der Objektivität von der Mitte des 19. Jahrhunderts an durchzusetzen begann. Vgl. ders.: Colonizing Egypt. Cambridge 1988, S. 19 f.

52

Dazu Hochreiter, Musentempel, S. 10.

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➔ Sammeln und Ausstellen in historischer Perspektive

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demischen Geschichtswissenschaft, die von einem politik- und ereignisgeschichtlich orientierten Historismus bestimmt wurde. Es dauerte noch einige Jahrzehnte, bis Sachzeugnisse der Alltags-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte endgültig zu Gegenständen wurden, die man einer Aufbewahrung und Ausstellung im Museum für würdig befand.53 Im 19. Jahrhundert wurde das Museum zu einer bürgerlichen Institution. Dies bedeutete auch, dass ein bestimmter Verhaltenskodex für Ausstellungsbesucher festgeschrieben wurde, der das Besondere, über dem Alltag Stehende der Institution Museum unterstreichen sollte. In einer Museumsausstellung hatte man seine Triebe in jeder Hinsicht zu kontrollieren. Lautes Reden, Anfassen von Exponaten und Herumrennen war zu unterlassen. Das korrekte Benehmen im Museum zeichnete sich durch Gedämpftheit, Gemessenheit und Diskretion aus, ein Benehmen also, wie es einem quasi sakralen Ort angemessen war,54 allerdings ohne dass das eigene Verhalten – wie etwa beim Gottesdienst – von einem unverrückbaren Ablauf bestimmt worden wäre. Man hatte sich zu benehmen, blieb aber frei, kurzum: Gerade im Museum konnte der Bürger Bürger sein. Das Museum in der wilhelminischen Epoche Der Historismus Rankescher Prägung, der sich einer objektiven und wertneutralen Aufklärung der Geschichte, »wie sie wirklich gewesen«, verschrieben hatte, wurde in der wilhelminischen Epoche von einem historischen Ästhetizismus neuer Art überlagert. Die Verwendung von Zeugnissen materieller Alltagskultur war zwar üblich geworden. Doch sah man sie eher als Dekorationsmaterial denn als Spuren, welche die Rekonstruktion vergangener Welten erlaubten. Sie wurden als Instrumente angesehen, die den »Geist einer Epoche« lebendig werden ließen. Exponatensembles interessierten in erster Linie als Kulissen für die als grandios und heroisch empfundene Gegenwart. In malerischen Inszenierungen – sehr beliebt waren Stubenpräsentationen –

53

Hochreiter, Musentempel, S. 67 ff.

54

Auf die Herausbildung eines spezifisch bürgerlichen Verhaltenskodexes in den Ausstellungsräumen macht die brasilianische Museologin Tereza Christiana Scheiner aufmerksam: The Ontological Bases of the Museum and of Museology. In: Hildegard K. Vieregg (Hg.): Museology and Philosophy. München 1999, (ICOFOM Study Series – ISS 31), S. 103-173, dort S. 151. Sich auf die britischen Verhältnisse beziehend, führt Tony Bennett diesen Aspekt aus. Ders.: The Birth of the Museum. History, theory, politics. London/New York 1997, bes. S. 99 ff.

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wurde Geschichte einerseits als etwas Alltagsfernes, andererseits als atmosphärisch vertrauter, anheimelnder Hintergrund für ein gegenwartsbejahendes Hochgefühl präsentiert. Diese Meistersinger-Ästhetik wurde zum vorherrschenden Stil in historischen Museen.55 Dies änderte sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als sich das Museumswesen stark differenzierte und neuen Aufgaben zuwandte. Ein wesentlicher Anstoß dafür war das Lauterwerden kulturkritischer Stimmen, die sowohl das Tempo, als auch die Art und Weise der wissenschaftlich-technischen Modernisierung und der sozialen Umwälzungen beklagten. Diese Art von Distanz zur fortschrittsgläubigen Grundstimmung des Kaiserreichs brachte nicht nur die Volkskunde als Wissenschaft hervor, sondern auch das Heimatmuseum, dessen Zweck zunächst in der Konservierung und Verklärung vormoderner Lebensformen gesehen wurde. Ferner entstanden in dieser Zeit die ersten Sozialmuseen, die eine neue Sensibilität gegenüber sozialen Missständen an den Tag legten und konkrete Beiträge zur Verbesserung der Lebenslage der unterbürgerlichen Schichten leisten wollten. Auch die Gründungen von ersten Hygienemuseen sind in diesem Zusammenhang zu sehen.56 In Deutschland wie in ganz Europa wurden nach und nach alle kulturellen Bereiche, geographischen Regionen und Ethnien für würdig befunden, in Museumsausstellungen repräsentiert zu werden.57 Und das Museum wurde zu einem globalen Phänomen. Seit den 1870er Jahren schlug die Idee des Museums als eines allgemein zugänglichen Sammlungs- und Ausstellungshauses in der ganzen Welt Wurzeln. Es kam zu Museumsgründungen an Plätzen wie Bangkok (1874), Japan (1871, 1877), Oran (1884), Tunis (1889), Costa Rica (1887) und Argentinien (1888, 1889, 1895).58 Was die Entwicklung in Europa und insbesondere in Deutschland anbelangt, so bildeten Museen gemeinsam mit Parks, Büchereien, Konzerthallen, Sportanlagen und anderen kulturellen Einrichtungen die Grundlage einer sich mehr oder weniger stumm vollziehenden Bildungsreform, die dazu führte, dass politische Partizipationschancen an die Beherrschung eines bestimmten Bildungskanons gebunden waren. Dabei gerieten die Museen in einen Ge-

55

Hochreiter, Musentempel, S. 103.

56

Zu den Sozialmuseen vgl. die materialreiche Arbeit von Sabine Schulte: Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden von Wilhelm Kreis: Biographie eines Museums der Weimarer Republik. Bonn 2001, S. 306 ff.

57

Pomian, kulturelles Erbe, S. 57.

58

Vgl. M. Prösler, Museums and globalisation, S. 24 f.

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➔ Sammeln und Ausstellen in historischer Perspektive

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gensatz zur Kultur der Massenunterhaltung, die sich rasch entwickelte. Museen standen nun für die Sphäre der hohen, hochwertigen Kultur, wohingegen Kinos, Tanzpaläste, Zeitschriften und schließlich das Radio als Elemente einer angeblich niedriger stehenden Kultursphäre interpretiert wurden. Die Mutation des Museums zu einer dem Bildungsbürgertum vorbehaltenen Mischung aus Tempel und Schatzhaus erschwerte seine Öffnung gegenüber alltags- und mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen, die ja nicht Sache der »hochwertigen« Bildungseinrichtungen zu sein schienen. Die zunehmende Spezialisierung der Museen war mit einer Verwissenschaftlichung des Sammlungs- und Ausstellungswesens verzahnt. Dies bedeutete zum einen, dass verstärkt Fachwissenschaftler für die Kernaufgaben des Museums herangezogen wurden. Zum anderen wurden Schau- und Studiensammlungen konsequenter als zuvor voneinander getrennt; ihre Betreuung wurde professionalisiert. Die heute übliche Trennung von Sammlung und Ausstellung setzte sich nun endgültig durch.59 Noch heute finden sich in einigen Museen deutliche Spuren, die verraten, dass diese Trennung erst jüngeren Datums ist. So bezieht sich der Begriff der »Sammlungen« in der Exponatverwaltung des Deutschen nicht nur auf die Objekte in den von der Öffentlichkeit abgeschotteten Depots, sondern auch auf die Exponate in den Dauerausstellungen, die allgemein zugänglich sind. Das Museum unter Konkurrenzdruck Auch das Ausstellungswesen selbst differenzierte sich und erlangte größere Eigenständigkeit gegenüber der Institution Museum. Dies schlug sich unter anderem in Gebäuden oder Geländen nieder, die eigens zum Zweck von Ausstellungen errichtet wurden, wie dem Glaspalast in München oder dem Ausstellungsgelände am Lehrter Bahnhof in Berlin.60 Vor allem aber äußerte sich die wachsende Bedeutung des Ausstellungswesens in den Weltausstellungen, welche die Traditionslinie nationaler Gewerbeausstellungen in neuen, gigantischen Dimensionen fortführten. In den Weltausstellungen wurden nicht nur technische Neuerungen präsentiert, sondern auch historische Schauplätze wie römische Amphitheater und die Pariser Bastille, aber auch ganze Schlachtschiffe nachgebaut; hunderte eigens zu diesem Zweck herangeführte Eingeborene spielten in ethnographischen Dörfern archaische Le-

59

Hochreiter, Musentempel, S. 193.

60

Ekkehard Mai: Expositionen. Geschichte und Kritik des Ausstellungswesens. München/Berlin 1986, S. 34.

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bensformen vor. Die erste Weltausstellung im Jahre 1851, »The Great Exhibition« in London, stand unter dem Motto »Einheit der Menschheit«.61 Sie fand im Londoner Crystal Palace eine spektakuläre und bautechnisch innovative Behausung. Weltausstellungen wurden im wahrsten Sinne des Wortes zu Weltereignissen, auch wenn chauvinistischer Ehrgeiz zu ihren stärksten Triebfedern gehörte. Riesige Präsentationsensembles und Pavillon-Reihen zu allgemein interessierenden und aktuellen Themen wie Garten- und Städtebau, Hygiene und Kunst, aber auch der Volkskultur zogen in kurzer Zeit Hunderttausende von Besuchern in ihren Bann und beschäftigten eine Öffentlichkeit, die sich gerade auf solchen Veranstaltungen bewusst wurde, dass sie eine Weltöffentlichkeit war. Die Besucher fanden eine Mischung aus innovativer Ingenieurskunst und Architektur, Unterhaltung, Belehrung und Selbstdarstellung von Industrieunternehmen und Nationen vor.62 Infolge der großen Themenausstellungen, welche die nationale und die Weltöffentlichkeit zu beschäftigen begannen, wurden die Museen anders wahrgenommen. Sie erschienen nun als vergleichsweise klein dimensionierte Einrichtungen mit begrenzter Kapazität. In vielerlei Hinsicht zeigten sich die Großausstellungen den Museen überlegen. Insbesondere konnten sie Exponate ohne den aufwändigen Unterbau einer konstanten Sammlung präsentieren. Ihre begrenzte Dauer war mit größerer Flexibilität und relativ niedrigen Gestehungskosten verbunden. Inhaltlich zeichneten sich diese Ausstellungen durch größeren Gegenwarts- und Alltagsbezug aus. Die Konkurrenz der neuen Großausstellungen stellte die Museen vor neue Herausforderungen. Vor allem machten sie klar, das es nicht mehr nur Kunst und Kunsthandwerk, Naturalien und historische Monumente auszustellen galt, sondern auch die naturwissenschaftlichen, technischen und sozialen Neuerungen ihrer Zeit. Insbesondere die neue Gattung der naturwissenschaftlich-technischen Museen formierte sich auf Grund des ambivalenten Einflusses der großen Themenausstellungen. Von diesen ging beides aus: innovative Impulse, die

61

Martin Wörner: Vergnügung und Belehrung. Volkskultur auf den Weltausstel-

62

Einen kompakten Überblick bietet Ulrike Weber-Felber: Die Weltausstellungen

lungen 1851-1900. New York/München/Berlin 1999, S. 4. des 19. Jahrhunderts – Medium bürgerlicher Weltsicht. In: Margarete Erber-Groiß, Severin Heinisch, Hubert C. Ehalt und Helmut Konrad (Hg.): Kult und Kultur des Ausstellens. Beiträge zur Praxis, Theorie und Didaktik des Museums. Wien 1992, S. 90-102. Ferner Winfried Kretschmer: Geschichte der Weltausstellungen. Frankfurt/New York 1999.

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➔ Sammeln und Ausstellen in historischer Perspektive

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sowohl in das Sammlungs- als auch das Ausstellungswesen hineinwirkten, aber auch Konkurrenzdruck und neue Legitimierungszwänge. Die erste Weltausstellung in London führte zur Gründung des South Kensington Museums. Die Weltausstellung in Wien 1873 war Anstoß für die Gründung des Technischen Museums für Industrie und Gewerbe; das 1912 gegründete Deutsche Hygiene-Museum in Dresden ging aus der ein Jahr zuvor veranstalteten I. Internationalen Hygiene-Ausstellung hervor, die hinsichtlich ihrer Ansprüche und Dimensionen gleichfalls eine Weltausstellung war. In nahezu allen entwickelten Industrieländern wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts naturwissenschaftlich-technische Museen gegründet, unter anderem in München (Deutsches Museum 1903), Wien (Technisches Museum 1912), New York (Museum of Science and Industry 1930), Chicago (Museum of Science and Industry 1936) und Paris (Palais de la Découverte 1937). In diesen neuen und innovativen Häusern überkreuzten sich die Entwicklungslinien des Wissenschaftsmuseums und des Nationalmuseums, wie im Namen des damals wie heute größten Museums in Deutschland deutlich wird, des Deutschen Museums in München. Noch heute nennt sich das Deutsche Museum ein Haus für »Meisterwerke der Naturwissenschaft und Technik«. Diese Selbstbezeichnung verweist einerseits auf den Anspruch, Bedeutsames zu sammeln und auszustellen, andererseits aber auf einen auch heute noch lebendigen Geniekult der Moderne, der die Geschichte der Wissenschaften und der Technik in erster Linie auf den genialen Geist von Forschern und Ingenieuren zurückführt. Dementsprechend wurden die Exponate des Deutschen Museums im Großen und Ganzen als Fußnoten und Illustrationen naturwissenschaftlich-technischen Fachwissens aufgefasst, die einen Fortschritt vom Primitiven und Einfachen zum Komplexen und hoch Entwikkelten dokumentieren sollten, eine Auffassung, die nicht zuletzt Folge des Wunsches der deutschen Ingenieure nach sozialer Anerkennung war.63 Gerade in der Gründung des Deutschen Museums tritt zutage, dass das Kunstmuseum die dominierende Museumsgattung in Deutschland blieb. Wie im Begriff des Meisterwerks deutlich wird, lehnte sich das Deutsche Museum ganz bewusst an das Kunstmuseum an, ja ordnete sich ihm sogar unter, indem es die idealistische, das schöpferische Individuum verherrlichende Schwärmerei für die Kunst auf Naturwissenschaften und Technik übertrug. Die Leitfunktion des Kunstmuseums trat umso klarer hervor, als das Sammeln kulturhistorischer Artefakte vom späten Wilhelminismus an zur Ni-

63

Hochreiter, Musentempel, S. 126 ff.

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schenaufgabe von Heimatmuseen verkümmerte. Selbst Volkskundemuseen trennten sich von ihren Sammlungen.64 Ausstellungen als Mittel der Volkspädagogik Allerdings – und dies war der unbestreitbar innovative Tat des Deutschen Museums – verband es die Anlehnung an bildungsbürgerliche Kunst- und Kulturauffassungen mit einem volkspädagogisch geprägten, bewusst auch die Unterschichten einbeziehenden Vermittlungsanspruch. Wie Andrea Hauser zutreffend formuliert hat, war es im 18. Jahrhundert zur Systematisierung und Spezialisierung der Museumsobjekte gekommen. Das 19. Jahrhundert hatte zu einer Historisierung des Ausgestellten geführt. Das 20. Jahrhundert schließlich führte zur Didaktisierung des Ausgestellten.65 Um die Wende zum 20. Jahrhundert geriet die gesamte deutsche Museumsszene im Sinne einer stärkeren volkspädagogischen Ausrichtung stark in Bewegung. Im Jahr 1903, dem Gründungsjahr des Deutschen Museums, fand in Mannheim die 12. Konferenz der »Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen« unter dem Motto »Die Museen als Volksbildungsstätten« statt. Im gleichen Jahr wurde die »Ständige Ausstellung der Arbeiterwohlfahrt« in Berlin gegründet, das spätere Deutsche Arbeitsschutzmuseum. Gleichfalls um die Jahrhundertwende wurde in den naturkundlichen Museen eine Reform vollzogen, die zum einen eine stärkere Psychologisierung und Pädagogisierung der Ausstellungskonzeption zum Inhalt hatte, zum anderen eine Ablösung von zoologischen Ordnungsvorstellungen durch biologische und ökologische Perspektiven. Die Lebensweisen und Beziehungen der Lebewesen untereinander wurden nun stärker gewichtet.66 Bezogen auf das gesamte Museumswesen wurde die bildungsbürgerlich und staatspolitisch motivierte Auffassung allmählich unterlaufen, dass das Museum ein Ort weihevoller Betrachtung des Bedeutungsvoll-Erbaulichen zu sein habe. Oskar von Miller, der Gründer des Deutschen Museums, wollte durch eine

64

Korff, Objekt und Information, S. 88.

65

Andrea Hauser: Staunen – Lernen – Erleben. Bedeutungsebenen gesammelter Objekte und ihrer Präsentation im Wandel. In: Gisela Ecker, Martina Stange und Ulrike Vedder (Hg.): Sammeln – Ausstellen – Wegwerfen. Königstein 2001 (Kulturwissenschaftliche Gender Studies Bd. 2), S. 31-48, dort S. 34.

66

Dazu grundlegend Susanne Köstering: Natur zum Anschauen. Das Naturkundemuseum des Deutschen Kaiserreichs 1871-1914. Köln/Weimar/Wien 2003, bes. S. 6 f.

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➔ Sammeln und Ausstellen in historischer Perspektive

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Verbindung traditioneller Exponatpräsentation und praktischer Einbeziehung des Besuchers diesen belehren, zum Staunen bringen und für Naturwissenschaft und Technik begeistern. Vermutlich ohne dass ihm dies bewusst war, nahm er dabei einen Faden aus der Zeit der Kunst- und Wunderkammern wieder auf. Auch diese hatten einst die Präsentation lehrreicher und Staunen erregender Gegenstände mit Forschung, Lehre und praktischem Tun verbunden. Von Millers pädagogischer Anspruch hatte sowohl volkstümliche als auch egalisierende Untertöne. An Erfahrungen der Berliner Urania anknüpfend, eines 1889 gegründeten Volksbildungsinstitutes,67 ließ er bewegliche Modelle und Experimente entwickeln, die von den Besuchern selbst bedient werden konnten. Heute nennt man solche Ausstellungselemente interaktiv. Außerdem entstanden auf seine Veranlassung aufwändige, zum Teil bewegliche Dioramen, miniaturisierende Schaubilder und Modelle, welche die jeweilige Technik in ihrer einstigen Anwendung und landschaftlichen Einbettung zeigen. Das neue Verständnis von Ausstellungen, das sich in solchen neuartigen Exponaten niederschlug, war für die Geschichte des naturwissenschaftlichtechnischen Museums richtungweisend. Die Modelle und Experimente bezweckten die Vermittlung und Veranschaulichung von Wissen. In dieser Hinsicht waren sie nützlich – und hoben sich gerade dadurch von Kunstwerken oder historischen Zeugnissen ab, deren entscheidendes Merkmal ja gerade die Abwesenheit eines konkreten Alltagsnutzens war. Der Zweck der neuartigen Exponate lag nicht mehr in ihnen selbst, sondern darin, naturwissenschaftliches Denken zu schulen und die Akzeptanz der Naturwissenschaften und der Technik zu fördern. Von nun an war das Museum nicht mehr nur ein Ort, wo der Besucher andachtsvoll, in der »Gebärde der Besichtigung«,68 vor Zeugnissen vergangener Kulturen verharren sollte. Das Museum bot nun auch die Möglichkeit, durch aktive Aneignung des Ausgestellten die naturwissenschaftlichen Grundbedingungen der Welt kennen zu lernen. Weimarer Republik und Nationalsozialismus In der Weimarer Republik wurde die Entwicklung des Museums- und Ausstellungswesens einerseits von Impulsen bestimmt, die aus dem Kaiserreich stammten, andererseits aber auch von neueren Tendenzen, die auf die intel-

67

Vgl. Lührs, vom Schauen und Anfassen, S. 49-53.

68

Horst Rumpf: Die Gebärde der Besichtigung. In: Land Kärnten – Kulturreferat (Hg.): Die Brücke. Kärntner Kulturzeitschrift. Sonderbeilage. 4 (1988).

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lektuellen Experimente der 1920er Jahre zurückgingen.69 Der schon 1903 formulierte Gedanke des Museums als Volksbildungsstätte wurde aufgegriffen und weiterentwickelt. Typisch für das intellektuelle Klima der Weimarer Republik war eine Umdeutung des Museumsbegriffs: Museum sollte nicht mehr ein Sacharchiv für Altertümer sein, sondern ein Ort der Aufklärung, der alles aufgriff, was die Lebenswirklichkeit der Bürger betraf. Wirtschaftliche und soziale Themen spielten eine immer größere Rolle. Bezeichnend hierfür war die große Ausstellung GESOLEI (Gesellschaft – Soziales – Leibesübungen) in Düsseldorf, aus der das »Reichsmuseum für Gesellschaft und Wirtschaftskunde« hervorging. Visualisierungstechniken wie dreidimensionale Statistiken, die in Otto Neuraths Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien erstmals gezeigt wurden, und der Einsatz von Tontechnik bereicherten die medialen Möglichkeiten des Museums. Die Nationalsozialisten machten das Medium Ausstellung ebenso zum Propagandainstrument wie die italienischen Faschisten und die Sowjets. Dabei bedienten sie sich in technischer und ästhetischer Hinsicht durchaus moderner Mittel, auch wenn die Botschaften irrational und inhuman waren. In Ausstellungen wie »Das Wunder des Lebens«, »Ewiges Volk« und »Schaffendes Volk« wurden Großfotos und Fotomontagen, Audioeffekte und animierte Modelle eingesetzt. Die Gestaltung nationalsozialistischer Ausstellungen war zum Teil vom Bauhaus und vom Konstruktivismus bestimmt, wobei auch sowjetische Einflüsse spürbar wurden. Die Organisatoren und Gestalter der NS-Ausstellungen legten auf Inszenierungen besonderen Wert: Symbolhafte Kulissen und begehbare Bühnenbilder sollten die Massen psychologisch beeinflussen. Die Besucher sollten die nationalistischen, biologistischen und antisemitischen Komponenten der NS-Ideologie nicht nur lernen, sondern auch erleben und erfahren, um sie letztlich zu verinnerlichen. Auch die Institution des Freilichtmuseums – das erste große Freilichtmuseum in Deutschland wurde 1933 in Cloppenburg gegründet – wurde zu einem Instrument, um ideologische Komponenten des Nationalsozialismus sinnlich aufzubereiten. Es verklärte die bäuerliche Lebensweise; eine »inszenierte Agrarromantik«70 unterstellte die Höherwertigkeit der germanischen Vorfahren. Ähnlich wie beim Propagandafilm, so war es auch in den Ausstellungen letztlich die emo-

69

Zur Situation des Museumswesens in der Weimarer Republik vgl. Martin Roth: Heimatmuseum. Zur Geschichte einer deutschen Institution. Berlin 1990 (Berliner Schriften zur Museumskunde Bd. 7), S. 18 ff.

70

Roth, Heimatmuseum, S. 149.

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tionale Beeindruckung des Publikums, die zählte. Alles andere wurde als sekundär eingestuft, auch wenn sich Elemente des progressiv-wissenschaftlichen Ausstellungswesens der Weimarer Jahre bis in die Jahre 1937/38 hielten.71 Der stark szenographielastige Ausstellungsstil der Nationalsozialisten war nach 1945 zunächst diskreditiert. Die 1950er und 60er Jahre zeichneten sich durch einen puristischen Ausstellungsstil aus, der die ästhetische Dimension des Ausstellungsbesuchs betonte.72 Kulturhistorische Ausstellungen nach 1945 In der Bundesrepublik Deutschland fasste ein neues Genre des Ausstellungswesens Fuß: die kulturhistorische Sonderausstellung. Nach bescheidenen Anfängen in den 1950er und 60er Jahren, es seien hier nur die Ausstellung »Karl der Große« 1965 in Aachen und die Ausstellungen des Europarates erwähnt, wurden Landesausstellungen zu Ereignissen mit überregionaler Anziehungskraft. Das Schlagwort Landesausstellung fiel zum ersten Mal 1966 im Zusammenhang der Ausstellung »Weserraum« im Kloster Corvey. 1977, anlässlich des 25jährigen Bestehens des Bundeslandes Baden-Württemberg, bildete die Stauffer-Ausstellung in Stuttgart einen spektakulären ersten Gipfelpunkt dieser Gattung. 671.000 Besucher sahen diese Ausstellung innerhalb von 72 Tagen.73 1981 folgte das nächste Großereignis vergleichbarer Dimension, die in ihrem Erfolg bis heute nicht übertroffene Preußen-Ausstellung im Gropius-Bau zu Berlin.74 Eine Variante der kulturhistorischen Ausstellung war besonders erfolgreich: die »Goldausstellung«. Häufig wurden Schätze des Altertums präsen-

71

Dazu Christoph Kivelitz: Die Propagandaausstellung in europäischen Diktaturen. Konfrontation und Vergleich: Nationalsozialismus in Deutschland, Faschismus in Italien und die UdSSR der Stalinzeit. Bochum 1999, bes. S. 87 ff. und 129 ff.

72

Hauser, Staunen – Lernen – Erleben, S. 40.

73

Mai, Expositionen, S.70, ferner Gottfried Korff: Zielpunkt: Neue Prächtigkeit? Notizen zur Geschichte kulturhistorischer Ausstellungen in der »alten« Bundesrepublik. In: Adolf W. Biermann: Vom Elfenbeinturm zur Fußgängerzone: Drei Jahrzehnte deutsche Museumsentwicklung. Versuch einer Bilanz und Standortbestimmung. Opladen 1996, S. 53-84, dort S. 59.

74

Zur Preußen-Ausstellung von 1981 vgl. Bodo-Michael Baumunk: Geburtszange und Flohfalle neben den Werken Kants. In: Berliner Zeitung Nummer 121, 26./27. Mai 2001, S. 6-7.

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tiert: das Gold der Skythen, der Inkas und der Thraker, um nur einige Beispiele zu nennen. Als der Schatz des Tutanchamun 1980 in Köln gezeigt wurde, schoben sich täglich acht- bis zwölftausend Menschen durch das relativ kleine Kölner Stadtmuseum.75 Die Anziehungskraft dieser Ausstellungen ist nicht nur dadurch zu erklären, dass »Gold« eine allgemein verständliche Metapher für unerreichbaren Reichtum ist. Das Publikum wurde auch durch die Möglichkeit eines sublimen Voyeurismus fasziniert, durch die Vorstellung, unerlaubt Bloßliegendes und für das Jenseits Bestimmtes schon im Diesseits einsehen zu können. Die neuartigen, von den Medien intensiv beworbenen und besprochenen Ausstellungen kulturhistorischer Ausrichtung brachen das Public-RelationsMonopol der kunsthistorischen Expositionen und relativierten damit auch die Bedeutung der Kunstmuseen, die bisher als die eigentlichen Kompetenzträger bei der Präsentation authentischer Exponate gegolten hatten.76 Sie relativierten aber auch die Bedeutung der Museen insgesamt. Die Erfolge der großen historischen Ausstellungen führten jedermann deutlich vor Augen, dass ihre Gestehungskosten wesentlich niedriger als die eines Museums waren und ihre Durchführbarkeit nicht notwendigerweise den institutionellen Unterbau einer wissenschaftlichen Institution voraussetzte. Kulturhistorische Ausstellungen entsprachen einem steigenden Bedürfnis nach Selbstdarstellung und historischer Legitimierung der Bundesländer, womit die Traditionslinie des Nationalmuseums gewissermaßen föderalisiert wurde. Das europäische Denkmalschutzjahr 1975 verstärkte ganz allgemein die Hinwendung zum kulturellen Erbe der Regionen und Kommunen. Auf der regionalen und lokalen Ebene schlug sich der Wunsch, das traditionelle Erbe zu bewahren, vor allem in der Gründung von Heimatmuseen nieder. Besonders in Baden-Württemberg und Bayern kam es zu einer boomartigen Ausbreitung solcher Museen, häufig ohne dass sich die Verantwortlichen der Gemeinden und des Landes über die langfristig notwendigen Aufwendungen für Unterhalt und Betrieb im Klaren waren. Das programmatische Ziel der sozialliberalen Ära, eine kulturelle Grundversorgung der gesamten Bevölkerung

75

Mai, Expositionen, S. 72 ff.

76

Vgl. die Rezension von Hartmut Boockmann: Stadt im Wandel. Ausstellungsrezension. In: Kunstchronik 39 (1986) S. 1-11, dort S. 1: »Wo originale Gegenstände aus der Vergangenheit gesammelt werden, hat man es mit einem Kunstmuseum zu tun, während ein Arrangement von Fotokopien und Papier und Kopien anderer Art eine historische Ausstellung charakterisieren.«

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sicherzustellen, spielte beim Museumsboom der 1970er und 80er Jahre eine große Rolle. In späteren Jahren fügte sich der Trend zum Heimat- und Regionalmuseum in die Modeströmungen des Regionalismus und Folklorismus ein, deren Popularität sich unter anderem im großen Erfolg der Fernsehserie »Heimat« zeigte.77 Auf der Bundesebene war es Ende der 1960er Jahre zu einem grundlegenden Wandel des politischen Klimas gekommen, der auch für das Museums- und Ausstellungswesen von Bedeutung war. Der Regierungsantritt der sozialliberalen Koalition 1969 hatte die Scheu vor nationalen Themen verringert, so dass sich auch Museen und Ausstellungsmacher wieder an sie heranwagten. Die 1971 im Berliner Reichstagsgebäude eröffnete Ausstellung »Fragen an die deutsche Geschichte« bildete einen Meilenstein auf dem Weg zu einem Nationalmuseum, der nach der Wiedervereinigung mit neuer Energie beschritten wurde: 1991 wurde das Deutsche Historische Museum im Berliner Zeughaus, 1994 das Haus der Geschichte in Bonn eröffnet. Die Ausstellung als zentrales Element städtischen Kulturlebens Der Wunsch nach Abbau sozialer und psychologischer Barrieren, die dem Museumsbesuch entgegen stehen, wurde in den 1970er Jahren zu einem beherrschenden Motiv der Kulturpolitik. In museumsfachlichen Kreisen wurde diese Diskussion unter dem Schlagwort »Lernort oder Musentempel« geführt. Im Kielwasser der von Georg Picht propagierten Bildungsreform wurde die Sozialrelevanz der Museumsinhalte »hinterfragt«, die Alltagsferne der bildungsbürgerlichen Institution Museum kritisiert und »Kultur für alle« gefordert. In dieser Zeit formierte sich auch die Museumspädagogik,78 eine Disziplin, welche die Schwellen zwischen Außen und Innen des Museums – räumlich und sozial verstanden – abbauen sollte. Diese egalisierende, vom Gedanken der Chancengleichheit getragene Tendenz entsprach einem internationalen Trend, der stärker als jemals zuvor die individuellen Bedürfnisse des Besuchers in den Vordergrund rückte. Generell wurden seit den 1970er Jahren die Voraussetzungen der Besucherwahrnehmung problematisiert und modifiziert. In diesen Zusammenhang gehört auch, dass interaktive Vermitt-

77

Korff, Aporien der Musealisierung, S. 62 ff.

78

Der Begriff der Museumspädagogik stammt allerdings aus den 1930er Jahren. Vgl. Hüther, Medienverbund, S. 61.

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lungsformen in das mediale Repertoire der Ausstellungsmacher aufgenommen wurden.79 Was die Verhältnisse in Deutschland betrifft, so ist das Museums- und Ausstellungswesen seit den 1980er Jahren in sich vielfältiger und inhaltlich offener geworden. Seine Präsenz in Presse und Öffentlichkeit hat einen vorläufigen Höhepunkt erreicht.80 Die Überzeugung, dass auch sozialhistorische Inhalte, insbesondere die Lebenslage von Unterschichten, lohnende und notwendige Ausstellungsthemen sind, ist heute selbstverständlich. Dies hat sich nicht nur in Ausstellungen wie »Stadt im Wandel« (Braunschweig 1985), »Aufbruch ins Industriezeitalter« (Augsburg 1985) und »Leben und Arbeiten im Industriezeitalter« (Nürnberg 1987) gezeigt, sondern auch in der Gründung von Industrie- und Technikmuseen wie dem Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim (Eröffnungsjahr 1990) und dem Museum für Arbeit (Eröffnungsjahr 1997) in Hamburg. Aber auch exotische (z.B. die Kulturen in China und Altmexiko), kulturanthropologische (»Sehsucht«, Bonn 1993; »Krank Warum?«, Dresden 1995) und schließlich naturwissenschaftliche Themen (Gen-Welten 1998, Dresden/Bonn/München/Mannheim/Vevey) erfreuen sich seit den 1980er Jahren einer großen Beliebtheit bei Ausstellungsmachern und -besuchern. Insgesamt gesehen ist die Ausstellung, vor allem die zeitlich begrenzte Sonderausstellung, zu einem Kristallisationspunkt und Schlüsselmedium städtischen Kulturlebens geworden, das die ganze Vielfalt der überhaupt denkbaren Kultur- und Wissenschaftsthemen auszuloten versucht. Event-Kultur Legten die reformerischen Kräfte der 1970er und 80er Jahre besonderen Wert auf Einebnung der Unterschiede zwischen Museum und Alltag, so betont eine gegenläufige, noch heute wirkungsmächtige Tendenz das besondere, außeralltägliche des Museums- und Ausstellungsbesuchs, macht diesen aber auch zur konsumierbaren Ware, wodurch seine Außeralltäglichkeit wiederum relativiert wird. Der Erwerb des Produktes Ausstellungsbesuch steht grundsätzlich jedem offen und verspricht mindestens ebenso viel Vergnügen wie Bil-

79

Dazu François Dagognet: Quel musée demain? In: Jacques Heinard und Roland

80

In dieser Hinsicht lohnt die Lektüre des gerade in ausstellungshistorischer Hin-

Kaehr: Temps Perdus Temps Retrouvé. Neuchatel 1985, S. 99-109. sicht sehr dichten und materialreichen Aufsatzes von Grütter, Zur Theorie historischer Museen und Ausstellungen, bes. S. 180 ff.

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➔ Sammeln und Ausstellen in historischer Perspektive

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dung. Das Ausstellungswesen ist auf dem Wege, zu einem Teil der Kulturindustrie zu werden, die ihre Produkte absetzen will. Es ist in diesem Zusammenhang charakteristisch, dass die so genannte Event-Kultur seit einigen Jahren eine Grundströmung des kulturellen Lebens in Deutschland bildet.81 Sie setzt vor allem auf spektakulär inszenierte Ereignisse und lässt dadurch den programmatischen Gedanken der kulturellen Grundversorgung, der die 1970er und 80er Jahre bestimmte, verblassen. Die Event-Kultur äußert sich nicht zuletzt in einem Ausstellungsgigantismus. Als typisch in vielerlei Hinsicht erwiesen sich Vorbereitung und Durchführung der Weltausstellung EXPO2000 in Hannover mit ihren zahlreichen Ausstellungspavillons, vor allem aber dem Themenpark, einer Riesenausstellung auf einer Fläche von circa 100.000 qm. Die EXPO2000 präsentierte sich als eine gigantische Unterhaltungs- und Ausstellungsmaschinerie, die unter dem vagen Motto »Mensch-Natur-Technik« stand. Die bis zum Abschluss der EXPO nicht verstummenden Zweifel am Sinn der Riesenveranstaltung erwiesen sich aus der Perspektive der Museen als berechtigt, weil sich die einst fruchtbare Verbindung von Weltausstellung und Museum nicht wiederholen ließ. Von so genannten Nachnutzungskonzepten profitierten in erster Linie Agenturen und Erlebnisparks, nicht aber die Museen. Nicht nur die Großausstellungen betonen die Differenz zum Alltag und nutzen dies als Verkaufsargument. Auch die Science Centres, die nach großen Anlaufschwierigkeiten nun auch in Deutschland Fuß zu fassen scheinen, stilisieren den Museumsbesuch zu einer Tat für abenteuerliche Herzen. »Sie befinden sich außerhalb des Universums. Hier betreten sie es!«, steht effektvoll über dem Eingang des UNIVERSUMS, eines neueren Science Centres in Bremen. Dies ist insofern bemerkenswert, als die Science Centre-Bewegung in einer Zeit entstanden war, als gerade die Einebnung der Unterschiede zwischen Museum/Ausstellung und Alltag propagiert wurde. Eine typische Auswirkung der Event-Kultur auf das Ausstellungswesen ist die gestiegene Bedeutung szenographischer Mittel – vor allem in Sonderausstellungen. Sogar für die naturwissenschaftlichen Ausstellungen, die sich traditionellerweise durch einen eher nüchternen Stil auszeichnen, ist die Inszenierung wieder salonfähig geworden, auch wenn sie nicht unumstritten ist.82 Dabei scheuen die Gestalter vor kräftigen Effekten nicht zurück und

81

Zu den allgemeinen Tendenzen im Museumswesen seit den 1980er Jahren vgl.

82

Vgl. in diesem Zusammenhang die kritisch-distanzierte Rezension Rainer Flöhls

Korff, Zeitpunkt, S. 69 ff.

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bringen sozusagen einen Schuss Jahrmarkt in das Bildungswesen. Im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden lief der Besucher der Ausstellung »Gen Welten« (1998) durch eine überdimensionale Spritze in einen Bereich hinein, der das menschliche Blut behandelte. Gerade der neue Mut zur Inszenierung hat dazu beigetragen, dass die in Deutschland besonders breite Kluft zwischen »hochwertiger« und »niedriger« Kultur, zwischen bildungsbürgerlichem Dünkel und Massenvergnügen schmaler werden konnte und das Museums- und Ausstellungswesen viel von seinem elitären Ruf verloren hat. Mit Sicherheit ist ein nicht unwesentlicher Teil des Publikumserfolges deutscher Museen und Ausstellungen in den letzten Jahren auf diesen inszenierungsfreudigen Stil zurückzuführen. Neue Tendenzen des Ausstellungswesens Mit Blick auf die inhaltliche Entwicklung des Ausstellungs- und Museumswesens heute ist der Einfluss der als »Postmoderne« bezeichneten Strömung hervorzuheben. Dies zeigt sich in der gestiegenen Wertschätzung des Fragmentarischen und Assoziativen, eine Geisteshaltung, die mit großer Skepsis gegenüber wissenschaftlichen Dogmen und Wahrheitsansprüchen sowie systematischen Gliederungsprinzipien verbunden ist. Neben dieser Tendenz ist es vor allem das Betreben, Wissenschaft allgemein verständlich zu machen und auch das Verständnis für sie zu erhöhen, das die inhaltliche Ausrichtung bestimmt. Dabei sind amerikanische und britische Vorbilder des »Public Understanding of Science and the Humanities« (PUSH) richtungweisend. Verständlichmachung von Wissenschaft heißt in diesem Zusammenhang nicht mehr, dass enzyklopädisches Wissen ausbreitet wird. Vielmehr sollen Lernbarrieren verschwinden, Komplexität reduziert und Dinge auf den Punkt gebracht, Abstraktes veranschaulicht, der Besucher einbezogen und nicht zuletzt der Vergnügungsanteil beim Gang durch die Ausstellung vergrößert werden.83 Was die Wissenschaftlichkeit der heutigen Ausstellungen anbelangt, so äußert sie sich nicht selten in einer Selbstreflexivität, welche die historische und soziale Bedingtheit des ausgestellten Wissensstands selbst zum Ausstellungsthema macht. Ein Beispiel hierfür war die umstrittene, gleichwohl sehr erfolgreiche Wehrmachtsausstellung des Hamburger Institutes für Sozialfor-

zur Sonderausstellung »Gen-Welten«. Ders.: Staunen statt urteilen. In: FAZ vom 29.05.1998. 83

Dazu A. Lepenies, Wissen vermitteln im Museum, bes. S. 42.

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➔ Sammeln und Ausstellen in historischer Perspektive

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schung, in deren überarbeiteter Fassung auch der Entstehungsprozess der Ausstellung selbst berücksichtigt worden ist.84 Entgrenzung des Museums In den letzten Jahren ist in Deutschland eine Tendenz zur Dezentralisation des Museumswesens deutlich geworden, die sich in der Auslagerung von Sammlungsbeständen und der Einrichtung von Ausstellungsdependancen fernab vom Mutterhaus äußert. Das Deutsche Museum beispielsweise hat seinen Zweigmuseen in Schleißheim und Bonn im Mai 2003 ein weiteres nahe der Münchner Theresienwiese hinzugefügt, das so genannte »Verkehrszentrum«. Das Haus der Geschichte in Bonn hat 1999 ein Zweigmuseum in Leipzig eröffnet, das Zeitgeschichtliche Forum. Die Tendenz zur Dezentralisation hat auch dazu geführt, dass Wanderausstellungen eine größere Rolle im Kulturgeschehen spielen.85 Die Bedeutung der Mutterhäuser wird dadurch relativiert. Parallel zu diesem Prozess der Dezentralisation sind heute Anzeichen einer Entgrenzung des Museums feststellen, das heißt einer Überwindung der konventionellen, sich an den Ausmaßen des Gebäudes oder der Fläche orientierenden Konturen der Institution. Dabei wird versucht, das Museum in

84

A.a.O., S. 46. Ob allerdings der von Lepenies verwendete Begriff des »konstruktivistischen Museums« geeignet ist, die aktuelle Museumslandschaft überschaubarer zu machen, muss bezweifelt werden. Der Begriff bleibt unklar. Ist damit nun gemeint, dass sich das Museum der philosophischen Schule des Konstruktivismus verpflichtet fühlen sollte? Wenn Selbstreflexivität zu den Charakteristika dieses Museumstyps zählt, wie Lepenies auf S. 55 betont, auf welche Aspekte des »Selbst« bezieht sich diese Reflexivität? Auf die Ausstellungsinhalte im Sinne einer Berücksichtigung der Kontextabhängigkeit von Wissenschaft, oder auf die Methode der Wissensvermittlung im Sinne einer Einbeziehung des Besuchers (beide Formen der Selbstreflexivität sind keineswegs neu)? Auch dass sich der Besucher sein Ausstellungserlebnis selbst »konstruiert«, ist nicht neu, sondern liegt im Wesen des Mediums Ausstellung, so dass dieses Merkmal nicht als Kriterium eines besonderen Ausstellungstyps taugt.

85

Es sei hier nur auf die Wanderausstellungen des Hauses der Geschichte in Bonn verwiesen, das im Jahr 2002 sechs Wanderausstellungen in 25 Museen und anderen Kultureinrichtungen zeigte. Vgl. Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Tätigkeitsbericht 2001-2002. Freiburg i. Br. 2003, S. 35 ff.

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den Alltag auszulagern, anstatt – wie es noch in den 1970er Jahren propagiert wurde – den Alltag ins Museum zu holen. Es ist, als wäre diese Tendenz auf den Fluchtpunkt eines offenen Museums hin ausgerichtet, »in dem die Sammlung die Totalität des Erbes ausmacht, das Gebäude die Totalität des Territoriums und das Publikum die Totalität der Bevölkerung«.86 Im Gegensatz zur Tendenz, das Außergewöhnliche des Museums- und Ausstellungsbesuches hervorzuheben, wird die Differenz zwischen Ausstellung und Alltag, Gezeigtem und Welt hier bewusst klein gehalten. Bei Museumskonzepten der »Neuen Museologie« wie den »Ecomusées«87 oder dem »integrated museum«88 wird dies besonders deutlich. Betonen die Ecomusées vor allen den ursprünglichen Kontext des Exponates, indem sie auf dessen Dislokation bewusst verzichten und für eine Musealisierung am historisch überlieferten Ortszusammenhang plädieren, so legt das Konzept des »integrated museum« besonderen Wert auf die soziale Offenheit der Institution, auf seine Ausrichtung an der Lebenswelt und dem Erwartungshorizont der Besucher. Innovationsversuche im Sinne einer Aufhebung der Differenz von Ausstellung und Alltag gehen heute aber auch von Institutionen aus, die dem Museumswesen nicht unbedingt verbunden sind, wodurch einmal mehr zutrage tritt, dass Musealisierung zu einer Grundtendenz der Epoche geworden ist. Vor allem Firmen äußern immer mehr Interesse daran, das Innenleben ihres Unternehmens auf eine kontrollierte Art und Weise vorzuzeigen und für den Blick interessierter Besucher – die vor allem als potenzielle Kunden gesehen werden – zu öffnen. Neu ist diese Tendenz nicht, hatte doch schon General Motors 1933 eine komplette Produktionsstraße in die Automesse nach Chicago verlagert. Während dieser Messe war weiter produziert worden; die Besucher hatten dies hinter einer Glasscheibe verfolgen können.89 Heute versucht man, den Erlebniswert beispielsweise eines Autokaufs dadurch zu steigern, dass man die Teilhabe und Zeugenschaft des Kunden am Produktions-

86

Hochreiter, vom Musentempel zum Lernort, S. 238.

87

Gottfried Korff: Die »Ecomusées« in Frankreich – eine neue Art, die Alltagsgeschichte einzuholen. In: Die Zukunft beginnt in der Vergangenheit. Museumsgeschichte und Geschichtsmuseum. Herausgegeben von Mitarbeitern des Historischen Museums Frankfurt. Frankfurt a.M. 1982, S. 78-88.

88

Der Begriff stammt von Kenneth Hudson. Ders.: Museums for the 1980ies. A Survey of Trends. Paris/London 1977, dort S. 15 ff.

89

Lutz Engelke: Die Zukunft hat keine Bilder. In: Museumskunde 66 (1/2001), S. 37-42, dort S. 38.

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➔ Sammeln und Ausstellen in historischer Perspektive

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prozess suggeriert. Dies ist in der Gläsernen Manufaktur der Volkswagen AG in Dresden der Fall, wo der Kunde die Entstehung seines persönlichen Phaetons verfolgen darf. Ob dieser kommerziell motivierte Versuch, einen Ausschnitt der Arbeitswelt ohne mediale Brechung zu zeigen, einer Authentizitätsprüfung standhalten kann, erscheint allerdings zweifelhaft. Die Produktion, die der Besucher beziehungsweise Kunde verfolgen kann, ist inszeniert und verdient den Namen Produktion kaum mehr. Die wesentlichen Schritte der Produktion erfolgen entweder dezentral in der Zulieferindustrie, oder sie entziehen sich nach wie vor dem Blick des Besuchers. Solche Werbeaktionen können das synekdochische Prinzip des Ausstellens nicht aushebeln. Die Schnittmenge von Wirklichkeit und Ausstellung kann sehr groß werden, eine Differenz aber – und sei es auch nur in Form von Texttafeln oder Hinweisschildern zur Lenkung des Besucherstroms – wird es immer geben. Die neuen Medien als Herausforderung? Anfang der 1990er Jahre wurde Multimedia zu einem Zauberwort des Ausstellungswesens, das für eine wesentliche Bereicherung der eingesetzten Medientechnik stand. Viele Ausstellungen – man denke an die Anfang der 1990er Jahre eröffneten Abteilungen des Deutschen Museums zur Telekommunikation und zur Mikroelektronik – wurden digital hochgerüstet. Heute, nach den ausstellungstechnischen Materialschlachten des Jahres 2000 (Sieben Hügel, EXPO 2000, Auto-Stadt Wolfsburg), scheint die Digitaleuphorie ihren Höhepunkt überschritten zu haben. Nach ernüchternden Erfahrungen mit den technischen und didaktischen Aspekten und angesichts knapper Budgets scheinen die klassischen Medien des Museums wieder gleich berechtigt neben die Hypermedien zu treten: das dreidimensionale Exponat, der gedruckte Text und die personale Vermittlung durch Vorführ- und Aufsichtspersonal. Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp hat vor kurzem im Wissenschaftskolleg zu Berlin die »Stunde der Objekte« ausgerufen, da die These von der »Virtualität allen Seins« zusammengebrochen sei.90 Anders ist der Ausbreitung der Internet-Technologie seit Mitte der 1990er Jahre zu bewerten. Auf Grund dieser epochalen mediengeschichtlichen Zäsur können Museen endgültig nicht mehr von sich behaupten, als Ort des permanenten Zeigens etwas Besonderes zu sein. Parallel zur Totalmusealisierung der Gesellschaft, die schon ganze Industriereviere erfasst hat, und vor

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Dazu Arno Orzessek: Das Ding kehrt zurück. In: Süddeutsche Zeitung vom 11. Juli 2003, S. 14.

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dem Hintergrund einer ohnehin schon allgegenwärtig erscheinenden Werbung heizt das World Wide Web die Inflation des öffentlichen Zeigens weiter an. Nahezu alles scheint heute dem Zwang zu unterliegen, sich ständig weltweit zu zeigen, wobei man gerade im Internet der Illusion eines umfassenden Bildes und der lückenlosen Information unterliegen kann. Umso eher stellt sich für die Museen und ausstellenden Institutionen die Notwendigkeit, sich mit ihren spezifischen Inhalten und Erlebnisangeboten – und weniger als fest umrissener Raum – gegen die Konkurrenz der Medien zu behaupten und die Qualität des Zeigens zu sichern. Die neue Einheit von Sammeln und Ausstellen Für die Antike und das Mittelalter ist es kaum möglich, Sammeln und Ausstellen zu trennen. Das Gesammelte wurde gezeigt, und das Gezeigte wurde gesammelt; die Übergänge von sammelndem Zeigen und zeigendem Sammeln waren fließend. Erst in der Frühen Neuzeit entstand die uns heute geläufige Dichotomie von Sammeln und Ausstellen. Heute scheint sich der Kreis zu schließen. Die Bereiche des Sammelns und des Ausstellens nähern sich einander so an, dass die Grenze zwischen ihnen mitunter nur noch schwer auszumachen ist. Dabei verschmelzen bei rechtem Lichte betrachtet nicht Sammeln und Ausstellen zu einer Einheit, sondern das Ausstellen verdrängt das Sammeln beziehungsweise nimmt es in sich auf. Sammlungen werden für das Publikum geöffnet und mutieren zu Ausstellungen, wie das Beispiel des Übermaxx zeigt, des neuen Schaudepots des Bremer Überseemuseums. Sonderausstellungen, Erlebnisparks und Science Centres entstehen nur selten auf der Basis einer permanenten Sammlung, aus der Exponate entnommen werden, sondern in der Regel als Veranstaltungen, deren Organisatoren entweder ohne Alte Objekte auskommen oder sich die gewünschten materiellen Zeugnisse je nach Interessenlage aus Museen der ganzen Welt zusammen klauben, um sie gegebenenfalls nach Abbau der Ausstellung wieder zurück zu schicken. Letztlich ist dies gleich bedeutend mit einer Krise des musealen Sammelns. Diese Krise schlägt sich unter anderem in der Verwahrlosung bedeutender Sammlungen nieder.91 Über die Hälfte der Museumsobjekte, dies ergab eine Umfrage, ist dringend restaurierungsbedürftig.92 Heute können

91

Dazu der Artikel von Katja Thimm: Pleitegeier Archaeopteryx. In: Der Spiegel. Nr.

92

Die Umfrage wurde von Museumsämtern und -verbänden der Bundesländer ge-

44/28.10.2002, S. 172-175.

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➔ Sammeln und Ausstellen in historischer Perspektive

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sich Institutionen profilieren, die zwar ausstellen, aber keine oder keine bedeutende Sammlung haben. Hierzu zählen nicht nur die Science Centres. Auch Häuser wie die Kunst- und Ausstellungshalle in Bonn und der GropiusBau in Berlin sind typisch für diese Tendenz. Auch durch die Hypermedien hat der Gegensatz von Sammlung und Ausstellung an Schärfe verloren. Wenn die Aussage oder Unterhaltsamkeit eines Sammlungsobjektes vermittelt wird, so muss dieses nicht mehr notwendigerweise in der Ausstellung anwesend sein. Die Internet-Technologie schließlich hat die Möglichkeit eröffnet, Ausstellungen im Cyberraum, ohne reales Pendant zu zeigen.93 Ein Beispiel ist das Museum of Jurassic Technology (Die Internet-Anschrift lautet: www.mjt.org). Aber auch die Arbeiten des telematischen Künstlers Roy Ascott mit der Vision eines »neuronalen Museums« loten die Möglichkeiten aus, das konventionelle Museum durch digitale Technik zu überwinden.94 Diese Entwicklungen wirken sich gravierend auf das Verhältnis von Ausstellung und Sammlung, von Zeigehandlung und Referenzobjekt aus. Letztlich befördern sie die weitere Loslösung des Mediums Ausstellung von der Institution Museum, einen Prozess, der in vollem Gange ist und mittel- bis langfristig betrachtet zum Tod des Museums in seiner uns heute geläufigen Form führen kann.

meinsam mit dem Deutschen Museumsbund und dem Institut für Museumskunde durchgeführt. Vgl. Pressemitteilung des Deutschen Museumsbundes vom 22. November 2002. 93

Zu diesem Gesichtspunkt vgl. Rosemarie Beier-de Haan: Post-national, trans-national, global? Zu Gegenwart und Perspektiven historischer Museen. In: HansMartin Hinz (Hg.): Das Museum als Global Village. Versuch einer Standortbestimmung am Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 2001, S. 43-63, dort S. 47.

94

Zu Roy Ascott und den Arbeiten anderer Künstler vgl. Hünnekens, Expanded Museum, S. 135 ff.

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➔ Schlussreflexionen



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VII. Schlussreflexionen

Die wissenschaftliche Ausstellung Die wissenschaftliche Ausstellung ist ein Medium, das Lernen und Begreifen auf der einen, Staunen, Ergriffenheit und auch Vergnügen auf der anderen Seite ermöglicht. Sie bietet einerseits Weltwissen und Orientierung in einer unübersichtlich gewordenen Zeit an. Andererseits vermittelt sie spezifische Erfahrungen emotionaler Art, die andere Medien nicht bieten können. Auf diese spezifischen Erfahrungen müssen sich die Autoren und Organisatoren von Ausstellungen umso eher besinnen, als die Besonderheit von ausstellenden Institutionen heute weniger denn je in der Funktion des permanenten Zeigens liegt. Zeigen will sich heute alles, möglichst permanent, und möglichst von der besten Seite. Über das Alte Objekt vermittelt die wissenschaftliche Ausstellung nicht nur Geschichte. An ihm wird die Zeitlichkeit der Zeit und die Geschichtlichkeit des persönlichen Daseins selbst erfahrbar und sinnlich präsent. Interaktive Experimente und naturwissenschaftliche Modelle dagegen verweisen auf die physikalische Welt und repräsentieren diese, indem sie Naturgesetze demonstrieren und die Funktionsweise technischer Systeme zeigen. All diese Gattungen von Exponaten – sowohl die mit historischer, als auch die mit naturwissenschaftlicher Aussage – inserieren Wirklichkeit, die ansonsten unverfügbar wäre, in das Medium Ausstellung und in den Erfahrungshorizont des Besuchers. So wird die Ausstellung zu einem Brennglas, in dem die Überschaubarkeit und Verstehbarkeit der Welt ansatzweise möglich wird. In der Begegnung mit dem Unverfügbaren übersteigt der Besucher seine persönlichen, ihn im Alltag fesselnden Beschränkungen, und bleibt doch er selbst. Kein anderes Medium kann dies leisten. Musealisierung In welchem Licht erscheint nun heute die Musealisierung, der Prozess, der dem wissenschaftlichen Ausstellen ebenso wie dem modernen Museum zugrunde liegt und beide ermöglicht hat? Es greift zu kurz, Musealisierung als eine zerstörerische Perversion modernen Denkens aufzufassen, welche die Gegenstände aus ihrem lebendigen Zusammenhang reiße und dadurch quasi

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töte.1 Musealisierung eröffnet gerade dadurch die Chance, die Welt besser zu verstehen, dass sie Gegenstände versetzt und in einem neuen Licht erscheinen lässt. Ausstellende Institutionen sind daher keine Orte der Agonie des Realen, wie Baudrillard sich ausdrückt, sondern des besseren Verständnisses der Welt, in der wir leben. Wenn man die Welt verständlich machen will, dann müssen die Gegenstände gezeigt werden, aus denen sie besteht. Ein Verständnis der Gegenstände, ohne sie anschauen zu können, bliebe unvollständig und unglaubwürdig. Ohne die ausstellungsspezifische Versetzung und Fixierung der Dinge, die gewiss ihren Tod voraussetzen, kann man sie nicht so zeigen, wie ihre komplexe Bedeutung es verdient. Es mag stimmen, dass häufig das Museum selbst die Dinge umbringt, indem es sie musealisiert und ausstellt. Ebenso richtig ist es, dass die Dinge in der Ausstellung wieder auferstehen können. Die Ausstellung als Wirklichkeitsspiel Als versetzendes Medium lebt die Ausstellung von der Differenz zur Welt, die sie umgibt. Diese Differenz kommt dadurch zustande, dass sich die Wirklichkeit, von der jeweils die Rede ist, in der Ausstellung nicht als lebendige, primäre Wirklichkeit, sondern in der Brechung des Bildes, des Restes, des Modells oder des Experiments zeigt. Das heißt, die Ausstellung ist Wirklichkeit nicht nur auf Grund des Materials, das in ihr arrangiert wird. Sie ist darüber hinaus auch eine zeigende Wirklichkeit, die gerade von der Abwesenheit des Gezeigten lebt. Ähnlich wie Tempel und Kirchen, so sind auch Ausstellungen Konvergenzpunkte von Wirklichkeiten. Drei Wirklichkeitsebenen treffen in einer Ausstellung beziehungsweise im Ausgestellten zusammen: die Wirklichkeit, die sie kraft ihrer erscheinenden Materialität selbst ist, die Wirklichkeit, die sie kraft ihrer Bedeutung ist, und die Referenzwirklichkeit, auf die sie verweist. Das Alte Objekt ist ein Punkt, wo sich diese drei Ebenen besonders nahe kommen. Zeigendes und Gezeigtes berühren sich in seiner erscheinenden Materialität. Darüber hinaus ist die Ausstellung aber auch ein Wirklichkeitsspiel, mit dem sich erproben lässt, wie sich die verschiedenen Wirklichkeits- und Be-

1

Diese negative Sicht der Musealisierung findet sich vor allem bei Baudrillard, Agonie des Realen; ferner bei Jeudy, der ähnlich wie Baudrillard die zerstörerischen Aspekte der Musealisierung betont. Ders., Welt als Museum.

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deutungsebenen miteinander verweben lassen. Der Prozess der Vergegenständlichung, der den Dingen Bedeutung verleiht, kann in einer Ausstellung selbst zu einem Bestandteil der phänomenalen Welt, und damit sinnlich erfahrbar werden. Die Ausstellung ist der einzige säkulare Ort, wo man Bedeutung antreffen kann. Was nun die modernen Informationswissenschaften betrifft, so sind sie auf Grund der Uneindeutigkeiten der Verweisungszusammenhänge, die sich beim Ausstellen ergeben, nur bedingt in der Lage, die Besonderheiten des Mediums Ausstellung und ihr komplexes Verhältnis zur Wirklichkeit zu erfassen. Denn das Alte Objekt ist mehr als ein Zeichen, da es Spur beziehungsweise Spurenkomplex ist. Als Spur aber verweist es nicht nur auf das, was es nicht mehr und noch nicht ist, sondern auch auf sich selbst als anwesenden Rest und Teil einer entschwundenen Ganzheit. Rückverzauberung? Mit Blick auf die transrationale Dimension der Kommunikationsform Ausstellung hat Wyss von der »Rückverzauberung entzauberter Dinge«2 durch das Museum gesprochen, was unter anderem eine Rücknahme der von Max Weber diagnostizierten Entzauberung der Welt im Zuge der frühneuzeitlichen Rationalisierung unterstellt. Dies ist insofern zutreffend, als das ausstellende Museum nicht nur kühl-rational agiert, sondern auch hoch emotional und auf eine Weise, welche die Unauslotbarkeit, Rätselhaftigkeit und fragmentarische Natur des Exponates offenbar werden lässt. Das Museum lebt gerade vom nicht Gewussten, das sich dem empirisch-rationalen Zugriff entzieht, von der Lücke, die nur von der Vorstellungskraft des Besuchers und seinen Emotionen gefüllt werden kann. Andererseits: Ausstellungen stellen keinen vergangenen Zustand wieder her. Sie sind in sich selbst Wirklichkeiten besonderer Art und aus eigenem Recht; neue, synthetische und fingierte Welten. Diese ermöglichen dem Besucher eine besondere, spielerische und vorübergehende Art der Weltverhaftung. Für den Zustand des permanenten Gezeigtwerdens trifft es zu, dass das Zeugsein der Dinge in der objektivierten Gegenständlichkeit der Exponate überwunden worden ist. In dieser Hinsicht ist eine Ausstellung eher eine Vorwegnahme eines den Gegenständen gerecht werdenden Idealzustandes als die Wiederherstellung eines Urzustandes, der mit dem Begriff »Rückverzauberung« suggeriert wird.

2

Wyss, das Museum, S. 74-83.

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Der Begriff der Verzauberung aber – ohne das Präfix »Rück« – trifft Wesentliches. Denn die Möglichkeiten einer Ausstellung erschöpfen sich eben nicht darin, eine Informationsplattform oder ein volkspädagogisches Instrument zur Hebung des Bildungsniveaus zu sein. Neben dem rationalen Kern des Ausstellungserlebnisses gibt es auch einen dionysischen Kern, dessen Wesen der Rausch ist, und nicht der Erkenntnisgewinn.3 Der Rausch, um den es sich dabei handelt, ist ein Verschmelzungsrausch, der sich bei der scheinbaren Erfüllung des Wunsches einstellt, Vergangenheit und Gegenwart, Fernes und Nahes im erlebenden Individuum zusammenzuführen und zu vereinen. Der Verschmelzungsrausch stellt sich bei der Illusion ein, dass das Unverfügbare tatsächlich verfügbar geworden sei – unabhängig davon, ob es sich um Gewesenes, oder um Naturgesetzliches handelt. Die Eigenständigkeit der Gegenstände Andererseits zeigt sich gerade an den ausgestellten Gegenständen deren Eigenständigkeit, und es wird deutlich, dass sie als Exponate nicht verstummt sind – und auch keineswegs immer mit der Stimme ihres Herrn, das heißt des Museums oder des Kurators sprechen. Nicht einmal die synthetische Welt einer Ausstellung vermag es, die Bedeutung des Gegenstandes vollständig festzuschreiben oder gar vorzuschreiben. Letztlich entzieht sich der Gegenstand solchen Versuchen und bleibt unauslotbar. Daher ist das Medium Ausstellung auch nicht das Grab der Wirklichkeit. Vielmehr ist sie ein Ort, durch den Wirklichkeit hindurch geht. In einer Ausstellung werden die Grenzen einer Einstellung deutlich, welche die Welt lediglich als Material oder Resultat menschlicher Handlungen begreift. Eben aus diesem Grunde ist es nicht angebracht, die Qualität kuratorischer Arbeit allein daran zu messen, ob sie einer bestimmten Besuchererwartung zu entsprechen in der Lage ist. So unbestreitbar es ist, dass die Entdeckung beziehungsweise Aufwertung des Besucherinteresses das Museumswesen revolutioniert und auf ein neues qualitatives Niveau gehoben hat, so bedauerlich ist doch das gelegentliche Abhandenkommen der Fähigkeit, den Gegenstand »sein zu lassen« und ihn im ursprünglichen Sinne als Phänomen, als Sich-an-ihm-selbst-Zeigendes, zu denken und zu behandeln – anstatt ihn letztlich so zu sehen, wie man ihn zu sehen wünscht. Ein solcher

3

Zum Dionysischen und Apollinischen des Museums vgl. Scheiner, The Ontological Bases, S. 135 ff.

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Wunsch verbirgt sich häufig hinter radikal konstruktivistischen Theorien. Das Sein-Lassen des Gegenstandes ist gleich bedeutend mit der Anerkennung einer außersubjektiven Realität; es hat nichts mit einem naiven Realismus zu tun. Erkennt man eine solche außersubjektive Realität an, so wird der subjektive Faktor nur relativiert, nicht aber beseitigt, da er im Begriff des Gegenstandes notwendigerweise enthalten ist. Die Ausstellung ist ein Platz, wo sinnlich erfahrbar wird, dass Gegenstände und Welten, die aus ihnen bestehen, offen für Umwertungen bleiben, das heißt für kommende, heute noch nicht absehbare Bedeutungen. Die Wirklichkeit erweist sich als nicht feststellbar. Ein solcher Platz kann die Wahrnehmung von Prozessen der Vergegenständlichung schärfen. Er kann die Transparenz dieser Prozesse erhöhen und zur Teilnahme an ihnen anregen, so dass die Erfahrungen des Wirklichkeitsspiels »Ausstellung« als Inspiration für den Alltag fruchtbar werden. Dabei kann das Medium Ausstellung jeden dazu einladen, über die Bedeutung der Gegenstände mitzuverhandeln – freilich ohne die Illusion zu erwecken, diese Bedeutung »machen« oder »produzieren« zu können.4 Die Ausstellung eignet sich dafür besser als andere Medien, weil es die Gegenstände selbst präsentiert und schon dadurch ausdrückt, dass die Bedeutung der Dinge immer an Materialität und Gegenständlichkeit gebunden ist, dass man daher eine Sache selbst in Augenschein nehmen, ihr aufs Maul schauen muss, um sie deuten und bei ihrer Auslegung mitzureden zu können. Die Bedeutung der Gegenstände wird dann nicht als etwas Feststehendes, in den Objekten schon vollständig Angelegtes erfahren, sondern als das Resultat eines ständig neu auszuhandelnden Kompromisses zwischen Zeigendem, Betrachter und Gezeigtem. Gerade in dieser Hinsicht tritt zutage, dass das Museum als bloßer Zufluchtsort für Alltagsmüde, als eine Art Bildungsreeperbahn oder als Renommierobjekt statusbewusster Personen unter seinen Möglichkeiten bleiben würde. Das Museum kann eine »Passage« sein,5 nach deren Durchquerung der Alltag und dessen Bedeutungsgeflecht in einem neuen, kritischen Licht gesehen werden

4

Vor allem Roswitha Muttenthaler betont die Rolle des Museums als eines Ortes, an dem über Symbolisierung verhandelt wird. Vgl. dies.: »Kultur ist deshalb öffentlich, weil Bedeutung etwas öffentliches ist«. Referat im Rahmen der Enquete »Aufgaben und Ziele städtischer Museen im 21. Jahrhundert« zum Historischen Museum der Stadt Wien, 10.04.2002. Im Internet unter der Adresse: http://www. univie.ac.at/ittroec/museologie/lesezimmer/Historisches_Museum_Wien.html.

5

Waldenfels, der herausgeforderte Blick, S. 233.

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kann, in einem Licht, das jeden dazu einlädt, sich in die Prozesse des Bedeutungswandels einzuschalten. Echtheit als Droge des Ausstellens Vergangenheit und Gegenwart berühren sich im Echtheitserlebnis, das sich einstellt, wenn die Gewordenheit des Bestehenden sinnlich erfahrbar wird. In naturwissenschaftlichen Ausstellungen vermitteln interaktive Elemente ein anderes Echtheitserlebnis. Es stellt sich ein, wenn man glaubt, die Natur selbst steuern und beherrschen zu können. Hier wie dort ist Echtheit die Droge des Ausstellens. Diese Droge ist Trumpf in einer Zeit, da viele andere Bildungsinstitutionen und Medien einen Verlust an Reputation haben hinnehmen müssen, weil man ihnen Echtheit ebenso wenig zutraut wie Ehrlichkeit. Echtheit wird eine Leitidee musealen Arbeitens bleiben. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass ein Denken, welches Echtheit an den äußerlichen Merkmalen des Exponates festmacht, den medialen Realitäten des heutigen Ausstellungswesens und dem gewandelten Verständnis von Exponat nicht mehr entspricht. Die Bedeutung von Echtheit wird sich in Zukunft verlagern. Echtheit wird sich mehr als bisher auf die Konstellation beziehen, in der ein Exponat – beispielsweise ein Computerprogramm – entstanden oder dabei gewesen ist. Zweitens wird der Begriff der Echtheit stärker auf das Authentizitätserlebnis des Besuchers abheben, für den authentische Informationen mehr zählen als die nur schwer überprüfbare Originalität der Exponate. Kurzum: Wichtiger als Erlebnisse des Authentischen werden in Zukunft authentische Erlebnisse sein. Zukunft des Museums? Was aber ist das Museum heute, und was wird es in Zukunft noch sein können? Es hat viele Versuche gegeben, die Institution Museum zu definieren. Sie reichen von sarkastischen Formulierungen, die das Museum in die Nähe des Gefängnisses rücken oder es mit einem Kulturfriedhof gleich setzen, bis zu Benennungen wie Schule des Befremdens, Musentempel, Lernort, Opferhöhle, Laboratorium, Ort der permanenten Konferenz oder Science Centre. Solche Begriffsbildungen sind immer angreifbar gewesen, da sie Einzelaspekte, Moden oder Traditionen verabsolutieren. Eines aber haben fast alle Definitionsversuche gemeinsam: Sie setzen voraus, dass das Museum ein Ort ist, das heißt eine fest umrissene, physisch-physikalisch begrenzte Einheit, deren topographische Lage auf einer Landkarte oder einem Stadtplan ausfindig

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gemacht werden kann. Auch wird das Museum als ein Raum gesehen, der durch die Differenz zwischen einem Innen und einem Außen bestimmt wird. In der Regel hat ein Museum Wände, Boden, Decke, Ein- und Ausgang. Der Besucher muss zum Museum hin, das Museum kommt nicht zum Besucher. Der Besucher betritt und verlässt das Museum mit seinem Körper.6 Fast möchte man ein solches Museum als einen locus amoenus der Moderne bezeichnen, als einen ummauerten, eingefriedeten und idyllischen Ort, in dem der Alltag, ja die Zeit ihre Macht verliert. Es ist gerade dieses Beharren auf der Idee des Ortes, der Lokalisierbarkeit des Museums, die heute als Modernisierungshemmnis wirkt. Denn es ist ja das Revolutionäre an den modernen Medien, insbesondere am Internet, dass sie ihren Benutzern eine Art von Omnipräsenz ermöglichen. Als Surfer ist man überall und nirgends. Es ist sinnlos zu sagen, dass man mit einem internetfähigen Computer geographische Entfernungen überwinden kann, wenn man beispielsweise die Website einer Universität in Florida aufruft. Statt sich hinweg zu bewegen, bleibt der Surfer – im konkret physischen Sinne – ja an seinem Platz. Die Zugänglichkeit der Daten ist radikal und global ausgeweitet worden. Die Daten sind sozusagen nicht mehr irgendwo, sondern überall. Demgegenüber sieht das traditionelle Museum natürlich, im Jugendjargon ausgedrückt, »alt aus«. Allerdings stellt sich die Frage, ob das Museum einen Wettlauf mit den modernen Medien überhaupt beginnen sollte, einen Wettlauf um Aktualität, Schnelligkeit und Massenwirksamkeit der so genannten Informationen, die ja, wie oben ausgeführt worden ist, zunächst einmal keine Informationen sind, sondern nur Daten. Dies muss verneint werden. Die nicht zu leugnende Verpflichtung des Museums zur Aktualität wird immer wieder in Konflikt mit der berufsimmanenten Tendenz aller Museumsleute geraten, erst einmal die Historisierung beziehungsweise Musealisierung eines aktuellen Geschehens abzuwarten, bevor man es als Sammlungs- oder Ausstellungsthema ernst nimmt. Diese konservativ-abwartende Grundhaltung entspricht den Grundsätzen des Historismus, dem nach wie vor die meisten Museen verpflichtet sind. Erst zeitliche Distanz, so der Historismus,

6

Ausnahmen wie beispielsweise das Museum im Koffer in Nürnberg oder die zahlreichen im Internet auffindbaren »Virtuellen Museen« ziehen ihre Rechtfertigung daraus, dass sie sich negativ auf eben dieses Museum als Ort beziehen. Sie bekräftigen das, von dem sie sich unterscheiden. Ob neue Ansätze wie die französischen Ecomusées sich durchsetzen werden, bleibt abzuwarten.

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verhelfe zum Adlerblick des über der Zeit Stehenden und ermögliche das überlegene Ordnen der Dinge im Sinne einer Rekonstruktion des Gewesenen. Dieser Auffassung entspricht die Tatsache, dass das Museum ein relativ träges Medium ist. Schneller als die Zeitung, das Fernsehen oder gar das Internet kann es nicht sein in einer Zeit, da einem der Boden der Aktualität, auf dem man zu stehen glaubt, immer schneller entzogen wird. Doch muss die Trägheit des Museums keine Schwäche sein. Museen sind kulturelle Institutionen, die das vorschnelle Ad-Acta-Legen von Wichtigem verhindern können oder umgekehrt dafür sorgen, dass beiseite Geschobenes wieder im Vordergrund zu sehen ist. Ein Museum vermag Gegenstände im kulturellen Gedächtnis festzuhalten, die zu übergehen unverantwortlich wäre. Es ist eine Stärke des Museums, den immer hektischer werdenden Strom der Neuigkeiten dort, wo es nötig ist, auch zu bremsen, ähnlich wie ein Rubato den Fluss eines Musikstückes bremst. Wie wichtig solch ein kulturelles Bremsen wäre, zeigt der Verlauf der öffentlichen Diskussion zu Themen wie Treibhauseffekt, AIDS oder Klonen. Seitdem die Massenmedien das Interesse an diesen Themen weitgehend verloren haben, werden sie auch nicht mehr so zur Kenntnis gekommen, wie sie es verdienten. Sowohl Ausstellungen als auch Sammlungen sind retardierende Momente im kulturellen Geschehen. Darin liegt ihre Chance, vor allem aber ihre Verantwortung. Andererseits hält ein Museum nicht nur Erinnerungen fest, sondern erzeugt auch Vergessen. Indem es definiert, was bewahrens-, erinnerns- und sehenswert, aber auch, was lernenswert ist, befördert es das Vergessen von dem, was als überholt und nutzlos eingestuft worden ist. Dabei ist die Gefahr, kulturelles Erbe unwiederbringlich zu verlieren, die Kehrseite der Notwendigkeit, sich von altem Zeug zu trennen. Ohne Vergessen gäbe es auch keine Erinnerung und kein An-denken. Museen können das Vergessen zu einer positiven kulturellen Kraft werden lassen.7

7

Zu diesem Aspekt vgl. Michael Fehr: Das Museum als Ort des Vergessens. In: Wolfgang Zacharias (Hg.): Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung. Essen 1990, S. 220-223.

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Museum als Bedeutungsraum Freilich ist damit die Frage nach der Zukunft des Museums noch nicht hinreichend beantwortet. Denn wie wird das Museum die ganz unterschiedlichen Forderungen, die an es herangetragen werden, miteinander in Einklang bringen können: Aktualität und historische Tiefe, synoptischer Überblick, visionäre Kraft und detailscharfe Analyse dicht an der Gegenwart? Ich denke, das Museum der nächsten Jahrzehnte wird sich zu einer Institution entwickeln, die nicht mehr auf einem Ort, sondern auf Prinzipien fußt. Das heißt: Die Identität eines Museums wird sich durch das bestimmen, was es tut, und nicht durch seine Tradition oder die topographische Lage seines Gebäudes.8 Der Zweck des Museumshandelns wird weiter darin liegen, An-denken durch Vergegenständlichung, Fixierung und Versetzung von Dingen zu ermöglichen. Dadurch werden Museen weiterhin die Erinnerungen einer Gesellschaft aufheben, die Welt verstehbarer machen und dem Einzelnen die Möglichkeit bieten, sich dem Gewesenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen im Denken anzunähern. Es ist jedoch zu bezweifeln, dass die eigentliche Stärke der Museen, die Ermöglichung von authentischen Erlebnissen beim Umgang mit Dingen, notwendigerweise an einen topographisch stabilen Raum gebunden bleiben wird. Ein Museum kann den physikalischen Raum überwinden und ihn durch eine besondere Art von Raum ersetzen, nämlich einen Bedeutungsraum. Ein solcher Bedeutungsraum ist ein permanent gezeigter Zusammenhang von Daten, der so strukturiert und gestaltet ist, dass man diese Daten weitgehend ortsunabhängig für sich zur Information werden lassen kann. Einen Königsweg zur Erfüllung der museumsspezifischen Aufgaben wird es aber nicht mehr geben. Einige Museen werden Arche Noahs für dreidimensionale Gegenstände bleiben und sind gut beraten, dies zu tun, wenn sie nicht den Verlust ihrer Identität riskieren wollen. Andere Museen werden sich als flexibler Medienverbund verstehen, der sich einem bestimmten Themenkreis methoden- und medienpluralistisch annähert. Auf das Museum insgesamt bezogen gilt, dass es nur dann im 21. Jahrhundert bestehen kann, wenn

8

Der Gedanke, dass ein Museum die Begrenzungen seines Gebäudes duch neuartige Methoden überwinden könne, ist von André Malraux 1947 in die museologische Diskussion gebracht worden. Malraux bezog sich dabei auf das Kunstmuseum und die Möglichkeiten des Buches und der Fotografie. Vgl. ders.: Das imaginäre Museum. Frankfurt a.M./New York 1987.

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es sich als eine der Möglichkeit nach heteromediale und heterotope Einrichtung versteht. Auf diese Weise könnte die Allgegenwart der Musealisierung zu einer neuen Chance für das Museum werden. Die Zukunft des wissenschaftlichen Ausstellens Denkt man das Museum als Bedeutungsraum, so wird dies auch den Begriff der Ausstellung in Richtung einer größeren Flexibilität erweitern. Das dreidimensionale Exponat ist nur eines von vielen Ausstellungsmedien, wenn auch ohne Zweifel ein Medium mit zentraler Bedeutung für die Kontinuität unserer materiellen Kultur. Der Bedeutungsraum Museum kann eine konventionell räumliche Ausstellung oder Sammlung umfassen, sie muss es aber nicht notwendigerweise. Museum ist überall möglich, wo sich Wirklichkeit permanent zeigen lässt. Dabei kann Museum aus ganz verschiedenen Medienamalgamierungen entstehen. Damit soll keineswegs die alte Forderung wieder aufgegriffen werden, die Schwellen zu beseitigen, die das Museum beziehungsweise die Ausstellung vom Alltag trennt. Wenn ein geschlossener Raum nicht erforderlich ist, um den Besucher zu faszinieren, so muss sich eine solche Faszination durch die präzise und nachvollziehbare Bestimmung eines Themas, die Art der Darstellung und der Gestaltung einstellen. Die Intensität des Erlebnisses schafft die Distanz zum Alltag, und nicht die Tatsache einer geschlossenen Räumlichkeit. Museale Erlebnisse aber kann man vor einer Website, in einer Fabrik, in einer Kirche oder bei einem Denkmal, ja sogar auf dem eigenen Speicher haben – sofern die Möglichkeit zum permanenten Zeigen, zur distanzierten Betrachtung oder zur interaktiven Erkundung gegeben ist. Die wissenschaftliche Ausstellung kann sich heute wieder in einem Licht der Modernität und Flexibilität präsentieren, nachdem sie sich lange Zeit eher im Abseits der medientheoretischen Diskussion befunden hat. Sie bietet Möglichkeiten, mit der »Krise der Linearität«9, die für das zeitgenössische Denken charakteristisch ist, produktiv umzugehen. Denn die wissenschaftliche Ausstellung ist ein nicht lineares Informationsfeld. Der Besucher muss dieses Feld nicht ablaufen, sondern kann den Weg, der durch es hindurch führt, selbst wählen. Das heißt, er kann sich selbst sein Besuchserlebnis zusammen komponieren. Diese charakteristische Nichtlinearität des Mediums

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Vilém Flusser: Krise der Linearität. Bern 1988.

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➔ Schlussreflexionen

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Ausstellung müsste heute durch eine Neubestimmung des musealen Raums im Sinne eines Bedeutungsraums ergänzt werden. In der Formenlehre der klassischen Musik wird der erste Teil eines Sonatensatzes »Exposition« genannt. In der Exposition wird das motivische Material der Komposition entfaltet, ehe es in den darauf folgenden Abschnitten, der Durchführung, der Reprise und der Coda, verarbeitet wird. Expositionen als Ausstellungen könnten Ähnliches im gesellschaftlichen Umfeld leisten wie Expositionen in einem Musikstück. In wirkungsmächtigen Bildern vermögen sie es, kulturelle Strömungen, gesellschaftliche Dissonanzen und wissenschaftliche Umwälzungen für den Einzelnen, der ansonsten überfordert wäre, wahrnehmbar und verstehbar zu machen, so dass sie angemessen verarbeitet werden können. Dadurch können Ausstellungen weit mehr leisten als einen Beitrag zur Popularisierung akademischen Wissens. Ähnlich wie die Werbung, aber ohne kommerzielles Handlungsmotiv, können sie neue Bildwelten und Mythen schaffen, das heißt: kollektiv lesbare Erinnerungsfiguren, welche die Wirklichkeit eichen und – ähnlich wie musikalische Motive, die sich in der Durchführung eines Sonatensatzes bewähren müssen – zum Kristallisationspunkt von Weltwissen und Lebensklugheit, aber auch von Lebensfreude werden können.

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EXPOSITUM – bebilderter Anhang

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) vakat176.p 44562497764

➔ EXPOSITUM – bebilderter Anhang



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Königsbüste des Tutanchamun, Ägyptisches Museum, Berlin

Umdeutungen Die Kolossalstatue wurde 1844 von Richard Lepsius im oberägyptischen Theben gefunden und zunächst als Darstellung des Pharaos Eje (1327 – 1323 v. Chr.) interpretiert, dessen ausgekratzten Namenszug man unter dem seines Nachfolgers Haremhab (1323 – 1295 v. Chr.) entdeckt hatte. 1944 wurde die Statue unter den Trümmern des Neuen Museums in Berlin verschüttet und erst 1977 wieder freigelegt. Dabei stellte sich heraus, dass die Statue zu einem großen Teil aus neuerem Zement und aus Gips bestand. Lepsius hatte sie nach seinen ästhetischen Vorstellungen »vervollständigen« lassen. Die Entdecker des 19. Jahrhunderts waren nicht unähnlich mit ihr umgegangen wie die Steinmetze des Haremhab. Die massiven Eingriffe in die Authentizität des Gegenstandes waren in Vergessenheit geraten. 1998 wurde die Statue entrestauriert. Es zeigte sich dabei, dass sie keinen alten Mann wie den Pharao Eje darstellte, sondern einen jungen Mann, dessen Züge denen der goldenen Totenmaske Tutanchamuns (1336 – 1327 v. Chr.) ähnelten. Die neue Zuschreibung der Statue passte auch zu ihrem Fundort: Sie war inmitten des Totentempels von Tutanchamun gefunden worden. Unabhängig von seiner Monumentalität beeindruckt das Exponat durch seine komplexe Überlieferungsgeschichte, die auch eine Bemächtigungsge-

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schichte ist. Verschiedene Welten deuteten sie um, legten ihre Vorstellungen in sie hinein und erklärten die vorangegangenen für ungültig. Gleich dreimal wurde die Statue entdeckt; nach jeder Entdeckung wurde sie völlig neu gesehen: im 19. Jahrhundert; 1977 und 1998. Heute bezeugt die Statue mehrere historische Ebenen, die sich in ihr überschneiden. Sie verweist auf ihre kultische Funktion unter Tutanchamun, auf die Usurpation durch dessen Nachfolger, auf ihre kulturimperialistische Instrumentalisierung im 19. Jahrhundert, schließlich auf die historistische Auffassung von Authentizität, welche die modernen Geschichtswissenschaften bestimmt. Indem das Exponat ganz verschiedene Arten bezeugt, mit Überlieferung umzugehen, symbolisiert sie den Umgang mit Überlieferung schlechthin.

2004-02-10 16-42-26 --- Projekt: T174.kum.klein.expositum / Dokument: FAX ID 016744562496596|(S. 177-203) T09_01 klein.kap8.p 44562497796

➔ EXPOSITUM – bebilderter Anhang



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Das Theater des Marcellus, Rom

Spur und Rest Im Jahre 13 v.Chr. ließ Kaiser Augustus ein Theater zur Erinnerung an seinen Neffen Marcellus bauen. Spuren dieses Gebäudes sind im heutigen Theatro di Marcello enthalten. Dieses genießt längst nicht die Popularität anderer römischer Altertümer, was weniger damit zusammenhängt, dass es nicht so fotogen ist, sondern vor allem damit, dass es sich weder um einen komplett erhaltenen Bau – wie beim Pantheon –, noch um eine Ruine – wie beim Kolosseum – handelt. Antike Bestandteile des Theaters sind zwar deutlich erkennbar. Doch haben die Bauten späterer Zeiten die altrömische Substanz überwuchert oder sind in sie hinein gewachsen. Über den Resten des Theaters erhebt sich heute eine neuzeitliche Bebauung, die sich an die alte Form des Theaters anschmiegt, dieses aber zugleich ersetzt hat. Das Theater ist einem Fußabdruck der Geschichte vergleichbar, der sich mit den materiellen Spuren späterer Zeiten angefüllt hat. Ähnlich einem geologischen Querschnitt durch das Erdreich werden die verschiedenen Schichten als Niederschlag historischen Wandels erkennbar. Das Theatro di Marcello ist nicht nur ein Zeugnis römischer Stadtgeschichte, sondern auch ein Symbol für den Prozess der kulturellen Erinnerung selbst: Überliefertes wird zunächst verwendet, umgebaut und vergessen, bevor es erinnert wird.

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Römische Sandale, Römisch-Germanisches Zentralmuseum, Mainz

Ceci n’est pas une sandale. Schuhe sind etwas Alltägliches, dicht am Körper Getragenes, von dessen Verwendung man in der Regel nicht viel Aufhebens macht. Es ist selbstverständlich, dass man sie an hat, es sei denn, sie drücken oder ein Schnürsenkel löst sich. Insofern ist die hier gezeigte Sandale, die aus dem ersten Jahrhundert nach Christus stammt und bei Arbeiten am Postgebäude in der Mainzer Innenstadt gefunden wurde, ein trivialer Gegenstand. Doch sie ist heute gar keine Sandale mehr, sondern eine Musealie. Einst war sie Zeug, dann vermutlich Abfall. Als Museumsstück hat sie eine neue Bedeutung erhalten – als Zeugnis einer versunkenen Welt, das vom Betrachter gelesen werden kann. Im Zustand des permanenten Gezeigtwerdens ist die Sandale dem Verschleiß entzogen und in sich abgeschlossen. Infolge dieser Abgeschlossenheit ist das triviale Zeug zur kostbaren Rarität geworden. Zum einen wird die Sandale zum Beleg des hoch entwickelten römischen Handwerks. Zum anderen symbolisiert sie als Überbleibsel des Imperium Romanum die Welt umspannende Macht der römischen Staatsidee. Nicht zuletzt trifft auf dieses Exponat das zu, was Heidegger zu dem von van Gogh gemalten Paar alter Bauernschuhe sagte: Diese verkörpern für ihn die Schu-

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he schlechthin. Gerade durch ihre Patina, die Spuren ihres Gebrauchs wächst der Sandale eine Bedeutung zu, die ihre Funktionalität übersteigt. Sie wird zur Verbindung von Mensch und Erde und zum Symbol der menschlichen Mobilität.

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Die Cape Cross Säule, Deutsches Technikmuseum, Berlin

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Vergessene Spur – Spur des Vergessens Zu den bedeutenden Sammlungen der Humboldt-Universität zu Berlin gehört auch die so genannte Cape Cross Säule, die von portugiesischen Seefahrern 1485 an der Westküste Afrikas aufgestellt wurde. Ursprünglich war sie ein Symbol kolonialer Inbesitznahme, aber auch eine Navigationshilfe für vorbeifahrende Schiffe. Jahrhundertelang stand sie an ihrem Platz, ohne dass man Notiz von ihr nahm. Von deutschen Kolonialtruppen 1903 wieder entdeckt, kam sie in das Museum für Meereskunde und wurde schließlich den Sammlungen der Humboldt-Universität einverleibt. Heute verweist die Säule auf eine Vielzahl von Zusammenhängen. Sie verkörpert einen praktischen Aspekt vormoderner Seefahrt, ist aber auch ein ehemaliges Zeichen kolonialen Besitzes. Auch ihre jahrhundertelange Bedeutungs- und Funktionslosigkeit – die keine Unzugänglichkeit war, sondern einfach ein In-Vergessenheit-Geraten – ist Teil der von ihr bezeugten Geschichte. Sie war lange Zeit eine nicht gesehene, verborgene Spur. Auch wenn sie physikalisch sichtbar blieb, wurde sie nicht gesehen.

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Lenin, Mausoleum am Roten Platz, Moskau

Der Mensch als Exponat »Wenn ich den Genossen Stalin recht verstanden habe, schlägt er vor, die Reliquien des heiligen Sergej von Radonesh und des heiligen Serafim von Sarow durch die Reliquien Lenins zu ersetzen.« So Leo Trotzki 1923. Ein ganzes Institut, das Mausoleumslaboratorium, ist damit beschäftigt, Lenins Leiche, die in einem öffentlich zugänglichen Mausoleum aus Granit aufbewahrt wird, vor dem Verfall zu retten. Die einbalsamierte Leiche, von der nur Kopf und Hände zu sehen sind, soll den Eindruck erwecken, der Gründer der UDSSR schlafe nur. Und wer schläft, der wacht auch wieder auf. Zwischen 1949 und 1995 war das Mausoleumslaboratorium ein Weltzentrum der Einbalsamierung, das die Leichen verschiedener kommunistischer Diktatoren, z.B. die Ho Chi Minhs und Kim il Sungs, präparierte. Heute balsamiert dieses Institut auch Neureiche und Mafiagangster ein. An Lenins Leiche wird klar, dass Musealisierung auch Sakralisierung bedeutet. Durch Sublimierung einer Leiche zum Exponat, durch das zeigende Aufheben des Körpers wurde der Tote zum Ewigen. In einem Staat, der offensiv gegen die Religion vorging, erhielt Lenin vielleicht kein Leben nach dem Tod, aber doch eine Art Nicht-Tod. Dabei wurde die Leiche zu einem Kultbild, zu einer dreidimensionalen Ikone, welche die überpersönliche Lehre des

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Marxismus-Leninismus verkörperte. Körper und Lehre wurden eins. War der Körper ewig, so musste es auch die Lehre sein. Auf diese Weise nahmen die sowjetischen Machthaber, die eigentlich mit allen Traditionen hatten brechen wollen, den uralten Gedanken wieder auf, durch Ausstellen die Zeit auszuschalten und Ewigkeit zu ermöglichen. Es fragt sich allerdings, mit welcher Berechtigung das aufgebahrte dreidimensionale Gebilde noch Lenins Leiche zu nennen ist. Möglicherweise steht nur noch die äußere Form in der Kontinuität von Lenins Körper. Ein Vergleich zum Kölner Dom lässt sich ziehen. Kaum ein Stein, aus dem sich der Dom heute zusammen setzt, hat auch schon im Mittelalter zum Bauwerk gehört.

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Die Vasa, Vasa-Museum, Stockholm

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Die Spur als Welt in sich selbst Was im Halbdunkel des Vasa-Museums vor dem Besucher Gestalt annimmt, macht keineswegs den Eindruck eines Wracks. Die Wasa erscheint als ein bis auf kleinste Details erhaltenes Prunk- und Schlachtschiff. Die Welt, der die Wasa entstammt, ist in ihr selbst in nuce enthalten. Die Wasa ist zu einem beträchtlichen Teil das, worauf sie verweist. Sie ist eine Art Monade, in der alles enthalten zu sein scheint, worin sie einst verstrickt war. Die Dinge, aus denen das Schiff besteht und die dreieinhalb Jahrhunderte auf dem Meeresboden der Bucht von Stockholm überstanden haben, werden im Museum genutzt, um die Welt des 17. Jahrhunderts wieder auferstehen zu lassen. Das Exponat ist ebenso Beleg wie Symbol. Es belegt die Katastrophe ihres eigenen Untergangs in der Bucht von Stockholm, die Schwächen der damaligen Schiffsbaukunst, aber auch die heroische Ingenieurstat ihrer Hebung in den 60er Jahren, schließlich belegt sie die mühevolle, aber letztlich erfolgreiche Restaurierung. Darüber hinaus ist das Schiff zum Symbol des schwedischen Wunsches nach weltweiter Geltung geworden. Die Kraft dieses Artefaktes, beim Betrachter Assoziationen frei zu setzen, ist beträchtlich. Der Betrachter denkt an eine Zeitkapsel, vielleicht auch eine Arche Noah, die nicht für Tiere, sondern für Gegenstände bestimmt ist.

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Schwebende Kugel im Magnetfeld, Deutsches Museum, München

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Wunderglaube und Verstehensanreiz In der Elektrizitätsabteilung des Deutschen Museums hält ein Elektromagnet, der mit einer Kamera gekoppelt ist, eine eiserne Kugel von der Größe einer Apfelsine schwebend in der Luft. Erst wenn die Besucher das Museum verlassen haben und der Strom abgeschaltet wird, fällt die Kugel auf den mit Sand bedeckten Boden der Vitrine. Was wird da gezeigt? Sowohl die Kugel als auch die technische Apparatur sind austauschbar. Die Kugel zeigt auf nichts, vielmehr zeigt sich etwas an ihr, nämlich das Gesetz der Schwerkraft und die Möglichkeit, es technisch zu überlisten. Es handelt sich um ein klassisches Phänobjekt, wenn auch nicht um ein »hands-on«-Exponat. Die Wahrnehmung der Kugel führt in der Regel zu großer Verblüffung. Das Schweben einer Eisenkugel ist nicht mit den alltäglichen Erfahrungen des technisch unbedarften Besuchers in Einklang zu bringen; er nimmt das Phänomen so auf, als handele es sich um ein Wunder. »Jede genügend fortgeschrittene Technik ist von Magie nicht zu unterscheiden«, hat einmal der Science-fiction-Autor Arthur C. Clarke gesagt. Natürlich ist das Deutsche Museum der erklärte Feind solchen Wunderglaubens und nutzt die Verblüffung des Besuchers, um das Phänomen naturwissenschaftlich zu erklären. Doch auch nach der naturwissenschaftlich präzisen Erklärung wirkt beim Besucher die paradoxe Wahrnehmung nach. Diese verleiht dem scheinbar Selbstverständlichen, der Schwerkraft, den Charakter des Außerordentlichen und Prekären. Dadurch erinnert das Exponat umso kräftiger an diese physikalische Grundbedingung unserer Existenz und macht sie dem Betrachter bewusst.

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Die Deutsche Reichskrone, Schatzkammer Wien

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Beleg, Beleg des Symbols und Symbol Die Krone ist nicht nur bildhaft, weil sie ein Exponat ist. Sie ist als Bild überliefert worden, als konzentrierte, von ihren Urhebern bewusst geschaffene Darstellung hochmittelalterlichen Herrschaftsverständnisses. Die Wiener Schatzkammer zeigt also mit der Krone etwas, das immer schon zeigen sollte. Vermutlich in den letzten Jahrzehnten des 10. Jahrhunderts wurde sie in verschiedenen Werkstätten angefertigt, wobei ein Einfluss byzantinischen Kunsthandwerks wahrscheinlich ist. Die oktogonale Form des Kronenkörpers ist einzigartig und spielt möglicherweise auf den Topos des Himmlischen Jerusalems an. Darüber hinaus war die Zahl Acht ein Symbol für die Auferstehung Christi und den Anbruch der Endzeit. Die Edelsteinplatten betonten den priesterlichen Charakter des Kaisertums. Die Krone belegt die Fertigkeit der Kunsthandwerker im 10. und 11. Jahrhundert, die Gültigkeit bestimmter Formen und Bilder, aber auch ein Denken, das weltliche und geistliche Herrschaft, Reich und Kirche als zusammen gehörig begriff. Als Reichsinsignie wurde die Krone schon im Mittelalter als besonders bedeutungsreiches Objekt aufgehoben und gezeigt. Sie ist daher ein Exponat, das seine eigene Geschichte als Exponat bezeugt. Erst 1806, mit dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, verlor die Krone ihre kultische Funktion. Adolf Hitler ließ die Krone 1938 in die Katharinenkirche zu Nürnberg bringen. Dadurch wollte er seine Herrschaft im Glanz des idealisierten, mittelalterlichen Reiches erstrahlen lassen. Heute ist die Krone eine der Attraktionen Wiens. Neben ihre mittelalterlichen Bedeutungen sind moderne Bedeutungen getreten. Die Krone steht für die Macht der Tradition, die Kontinuität der Geschichte, die Touristenstadt Wien, die Faszination des Werkstoffs Gold und vieles andere mehr.

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Der Zug der Tiere, La Grande Galerie de l’Evolution, Paris

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Inszenierung über Exponate Beim Zug der Tiere handelt es sich um die zentrale Inszenierung der Grande Galérie de l’Evolution, der traditionsreichen, auf das 17. Jahrhundert zurückgehenden zoologischen Sammlung der Bourbonen, die 1994 in völlig neuer Architektur und Gestaltung wiedereröffnet wurde. Die Inszenierung kommt ganz ohne Kulissen aus; sie entsteht durch Auswahl und Arrangement der Exponate selbst. Licht- und Audioeffekte dramatisieren die Erschließung des Ausgestellten durch den Besucher. Dicht gedrängt scheinen die Tiere einem gemeinsamen Ziel zuzulaufen. Auf eine unaufdringliche Weise stellt sich die Assoziation der Arche Noah ein. Dieser vorwissenschaftliche Topos verbindet sich mit der Vorstellung vom Zug des Lebens, der die Darwinsche Evolutionstheorie poetisch illustriert, auch wenn der Fortgang der Evolution gar nicht dargestellt ist, sondern nur die Vielfalt des Lebendigen gezeigt werden soll. Die Zusammenballung der Tiere widerspricht dem Verhalten der Tiere in der Natur. Andererseits wirkt der Zug natürlich, weil er ein notwendiges Naturgeschehen, die Auffaltung des Lebendigen in unzählige Varianten, in eine räumliche Symbolik umsetzt.

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Bisonjagd in den Great Plains, Übersee-Museum, Bremen

Der dramatische Moment Dieses Großdiorama hält einen dramatischen Moment fest: Ein berittener Indianer hält inne und konzentriert sich, bevor er seine Lanze in die Seite eines Bisons stößt. Die bemalten Wände fügen die Szene in die Prärielandschaft ein und verleihen der Szene räumliche Tiefe. Großdioramen dieser Art sind vor allem in amerikanischen Natur- und Völkerkundemuseen häufig anzutreffen. Ihr besonderer Reiz besteht darin, dass sie nicht nur das Leben in einer versunkenen Welt veranschaulichen, sondern auch eine Situation, eben einen dramatischen Moment abbilden. Sie sind ein Stück gestellte Wirklichkeit, von dem man annimmt, es sei einer echten, Vorbild gebenden Situation ähnlich. Die Situation wird quasi eingefroren und verewigt. Etwas von Natur aus Flüchtiges, sich selbst Vorantreibendes wird permanent beobachtbar und – indem es dem Blick preisgegeben wird – auch partiell beherrschbar. Dafür wird aber auch ein hoher Preis gezahlt: Die Wirklichkeit wird in das Format einer Bühne gepresst und dadurch festgestellt. Diese Zeigetechnik ist dem Aufspießen von Schmetterlingen nicht unähnlich. Jede Art von Exponat verlangt nach einer Rahmung von Wirklichkeit, das heißt einer geistigen Eingrenzung von Wirklichkeit. In diesem Fall fällt der geistige Rahmen mit einem sichtbaren Rahmen zusammen. Das Bild der Vergangenheit wird tatsächlich durch ein Bild vermittelt.

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Sauriergelege, Naturmuseum Senckenberg, Frankfurt a.M.

Naturgeschichtliches Streng genommen handelt es sich bei diesen Exponaten nicht um Eier, sondern um Steine. Freilich, die Form der Steine lässt erkennen, dass sie einst aus zerbrechlichen Eiern hervorgegangen sind. Aber was vor Urzeiten einmal zerbrechliches Ei war, ist zu festem Stein geworden. Das zu Stein gewordene Gelege von Dinosaurier-Eiern wurde in China gefunden. Man weiß nicht, von welcher Dinosaurierart es stammt. Ohne den menschlichen Betrachter wären die steinernen Eier nur Material. Der Natur war es gleichgültig, was sie hervor brachte und was da unter die Erde kam. Erst der Mensch hat aus versteinerten Spuren eine Geschichte herausgelesen. Insofern ist das Exponat ein sehr menschliches Exponat. Es lässt an Friedrich Schellings Ausspruch denken, dass die Natur im Menschen die Augen aufschlägt und sich selbst erblickt. Der Mensch ist das Resultat einer natürlichen Entwicklung. Umgekehrt ist der denkende Mensch aber auch Voraussetzung der Natur, insofern diese Begriff und Vorstellung ist. Dies begreiflich zu machen, ist ein besonderes Potenzial naturhistorischer Exponate.

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Der Rodeo-Kreisel, Technorama, Winterthur (Schweiz)

Exponat hinter den Exponaten Der Besucher kann auf diesem Kreisel wie auf einem Rodeo-Pferd reiten. Er erfährt am eigenen Leib die Wirkung dieses Exponates und macht eine paradoxe Erfahrung: ein toter Gegenstand benimmt sich so, als wäre er lebendig, er scheint bockig und unberechenbar zu sein. Gerade diese paradoxe Erfahrung sensibilisiert für zwei Bauprinzipien unserer Welt, die Zentrifugalkraft und die Schwerkraft, welche die eigentlichen, freilich unsichtbaren Exponate »hinter« dem Rodeo-Kreisel sind. Die Geltung dieser Naturgesetze kann an ihrem Vollzug demonstriert und begreiflich gemacht werden. Dadurch werden die Grenzen von Ausstellung und Wirklichkeit relativiert. Denn die Demonstration der Naturgesetze verweist ja nicht auf die Welt außerhalb der Ausstellung, sondern macht deutlich, dass auch die Ausstellung ein Teil der Welt ist. Die intensive körperliche Erfahrung des Besuchers bildet Anknüpfungspunkte für die Aufnahme von Wissen. Das Selbstverständliche der physikalischen Kräfte wird unselbstverständlich und macht dadurch neugierig. In guten Science Centres wird die Begegnung mit dem Exponat zur persönlichen und körperlichen Erfahrung und schließlich auch zum Nährboden für neues Wissen.

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Camera Virtuosa, Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe

Persönlichkeitsspaltung Bruno Cohens Medieninstallation lässt den Besucher für sich selbst zum Fremden werden – zu einem Fremden, mit dem er Experimente macht. Die Erscheinung des eigenen Körpers wird in »Echtzeit« auf eine miniaturisierte Theaterbühne projiziert. Das gleichfalls miniaturisierte Alter Ego auf der Bühne bewegt sich synchron mit dem Besucher selbst. Dieser kann seine eigene Repräsentation durch die Bühne bewegen, indem er sich selbst bewegt, wobei er zunächst nicht merkt, wie er anfängt, in »seiner« Wirklichkeit lächerlich und deplatziert zu wirken, während er die Steuerung seines Bildes durch die synthetische Wirklichkeit der Bühne immer besser beherrscht. Die Installation führt zu einer sehr weit gehenden Integration des Besuchers in die synthetische Welt des Ausgestellten. Zum anderen vermittelt sie eine paradoxe, tendenziell schizoide Erfahrung. Die epische und die dramatische Perspektive fallen zusammen: Man ist nicht nur agierender Teil eines Ganzen – des Bühnenstücks –, sondern sieht sich auch als Teil dieses Ganzen, was aber voraussetzt, dass man nicht restlos in diesem Ganzen aufgegangen ist. Die Tendenz der Hypermedien, die Grenze zwischen Benutzer und Medium aufzuheben und ihn zu integrieren, wird hier ironisch gebrochen.

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Seite aus dem Laborbuch des Klaus von Klitzing, Deutsches Museum Bonn

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Der glorreiche Augenblick Die Aufzeichnungen in der aufgeschlagenen Seite des Laborbuches stammen aus der Nacht vom vierten zum fünften Februar 1980. In dieser Nacht entdeckte Klaus von Klitzing den Quanten-Hall-Effekt, eine später mit dem Nobelpreis für Physik gewürdigte Leistung. Seine ungewöhnlichen Messergebnisse teilte er der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig mit. Die Telefonnummer der Anstalt ist auf der Seite vermerkt. Kaum ein Museumsbesucher wird genau wissen, worum es sich beim Quanten-Hall-Effekt handelt. Entscheidend ist etwas anderes: Die Seite des Laborbuchs ist ein materielles Zeugnis, das sehr dicht an der Idee selbst liegt, die Klaus von Klitzing in der besagten Februarnacht hatte. Sie ist sozusagen vom Feuerschweif der Idee angesengt worden. Auf den ersten Blick ist die Seite unscheinbar. Unscheinbar zum einen, weil sie für den durchschnittlichen Betrachter unentzifferbar und daher bedeutungslos ist, unscheinbar aber auch, weil sich ähnliche Kritzeleien in jeder Schulkladde finden. Diese Unscheinbarkeit des Exponates steht in scharfem Kontrast zur Geburt der nobelpreisgekrönten Idee, die es bezeugt. Es ist gerade das Understatement des Exponates, das seinen Reiz ausmacht – auch für Nichtphysiker.

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Flur der Ausstellung »Kosmos im Kopf«, Deutsches Hygiene-Museum, Dresden

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Inszenierung als gestellte Wirklichkeit Der Besucher betritt die Ausstellung, ohne es zu merken. Er befindet sich in einem lang gestreckten Gang mit Bürotüren, gewissermaßen in einer Bürokratenschlucht. An der Decke des Ganges ist eine Reihe von neutralen, sehr preiswerten Lampen aufgehängt, wie sie in deutschen Behördenfluren nicht unüblich sind. Die letzte Lampe fällt durch ihr schwaches, rötliches Licht auf, was vom unbedarften Besucher zunächst für einen technischen Defekt gehalten wird. Erst die ausstellungsinternen Texte neben den Bürotüren lassen begreifen, dass man sich schon mitten in der Ausstellung befindet. Und erst jetzt hat man die Chance, zu erkennen, dass die schwach leuchtende Lampe an der Flurdecke kein technischer Defekt, sondern Teil einer Inszenierung ist. Das Gehirn des Besuchers ist gefoppt worden, womit ein zentrales Thema der Ausstellung, die wirklichkeitskonstituierende Funktion des Gehirns und seine daraus resultierende Täuschbarkeit, nicht nur angesprochen, sondern demonstriert worden ist. Der Flur ist die Wiederaufnahme einer uralten Metapher, des Gehirns als Haus mit vielen Zimmern. Hat der Besucher dies begriffen, so wird der Besuch der Ausstellung zu einem dramatischen Erlebnis. Die Zimmer stehen für verschiedene Funktionsbereiche des Gehirns, und der Besucher wird selbst zum Gedanken, der die verschiedenen Hirnareale durchzuckt.

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»Landschaftszimmer« im Buddenbrookhaus, Lübeck

Die Wirklichkeit des Fiktiven Das »Landschaftszimmer« ist ein zentraler Schauplatz in Thomas Manns Roman »Die Buddenbrooks«. Der Ausstellungsraum ist eine dreidimensionale Illustration des Romans. Er stellt eine Auslagerung der fiktionalen Welt des Romans in das Museum dar, wodurch er die Grenzen zwischen Realität und literarischer Wirklichkeit zum Verschwimmen bringt. Der Besucher könnte den Eindruck haben, der Roman sei für ihn begehbar geworden, so als würden jeden Augenblick Thomas, Christian und Toni Buddenbrook in das Landschaftszimmer, dem er nun selbst angehört, eintreten. An den Raumelementen des Landschaftszimmers sind Hinweise auf Seitenzahlen angebracht, die es erlauben, die entsprechende Beschreibung im Roman nachzulesen. Dieser steht den Besuchern in Handexemplaren zur Verfügung. Früher oder später wandert der Blick des Besuchers zwischen den einzelnen Elementen der Inszenierung und den Romanpassagen hin und her. Man erkennt die Landschaften auf den Tapeten, »Idyllen im Geschmack des 18. Jahrhunderts, mit fröhlichen Winzern, emsigen Ackersleuten, nett bebänderten Schäferinnen, die reinliche Lämmer am Rande spiegelnden Wassers

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im Schoße hielten oder sich mit zärtlichen Schäfern küssten«, ferner den »zerbrechlichen Luxussekretär«. Allerdings sind viele Möbel mit Tüchern verhüllt. Diese Maßnahme ist Teil der Inszenierung – was natürlich auch den praktischen Vorteil hat, dass der Besucher die unsichtbaren Elemente des Zimmers nicht mit den Beschreibungen des Romans vergleichen kann. Das Zimmer wird in einer bestimmten Situation dargestellt: kurz bevor die Familie Buddenbrook endgültig die Mengstraße verlässt. Es zeigt sich, dass die Ausstellungsmacher sehr viel improvisieren mussten, um die Vorstellung »Landschaftszimmer« zu versinnlichen. Der gestalterische, an Christo denken lassende Kunstgriff, das Ausgestellte zu verhüllen, versinnbildlicht das subjektive Auffüllen der Realitätslücken des Wahrgenommenen, das Gegenstände entstehen lässt.

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➔ Literatur



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Literatur

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➔ Literatur

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➔ Literatur

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2004-02-10 16-42-40 --- Projekt: T174.kum.klein.expositum / Dokument: FAX ID 016744562496596|(S. 205-216) T10_01 klein.literatur.conv.imp.p 44562497852

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Alexander Klein Expositum

Wohlfromm, Anja: Museum als Medium. Neue Medien in Museen. Überlegungen zu Strategien kultureller Repräsentation und ihrer Beeinflussung durch digitale Medien. Köln 2002 Wyss, Beat: Das Museum, oder die Rückverzauberung entzauberter Dinge. In: Museumskunde 63, 2/1998, S. 74-83 Zacharias, Wolfgang: Zur Einführung. Zeitphänomen Musealisierung. In: Ders. (Hg.): Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung. Essen 1990, S. 7-30

2004-02-10 16-42-40 --- Projekt: T174.kum.klein.expositum / Dokument: FAX ID 016744562496596|(S. 205-216) T10_01 klein.literatur.conv.imp.p 44562497852

➔ Literaturverzeichnis



217

Bildnachweise

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2004-02-10 16-42-41 --- Projekt: T174.kum.klein.expositum / Dokument: FAX ID 016744562496596|(S. 217

) T99_01 klein.bildnachweise.conv.imp.p 44562497860

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