Bedeutung und Wirklichkeit: Der Mensch als „animal symbolicum“ 9783787341443, 9783787341436

Symbole sind kein Bereich der Wirklichkeit, sondern selbst Bedingung von Wirklichkeit. Damit wird die Beschäftigung mit

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Bedeutung und Wirklichkeit: Der Mensch als „animal symbolicum“
 9783787341443, 9783787341436

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Anna Flocke

Bedeutung und ­Wirklichkeit

Meiner

Flocke Bedeutung und Wirklichkeit

Anna Flocke

Bedeutung und Wirklichkeit Der Mensch als »animal symbolicum«

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-7873-4143-6 ISBN eBook 978-3-7873-4144-3

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2022. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Umschlaggestaltung: Andrea Pieper, Hamburg. Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Printed in Germany.

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

1. Bedeutung und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17 17 33

1.1 Dogmatische Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die kopernikanische Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Symbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.1 Symbol und Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Symbol, Raum und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Pluralität der Symbolsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55 62 84 94

3. Sozialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103 3.1 Das Wissen vom Du . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3.2 Menschliche Sozialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 3.3 Sprache und Sozialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

4. Die Selbsttransformation des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . .

127 4.1 Die anthropologische Differenz als Unterschied der Lebensform . . 130 4.2 Kritischer Monismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

5. Individualität und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5.1 5.2 5.3 5.4

Individualität und Objektivität der menschlichen Lebensform Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phylogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Literaturverzeichnis

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159 159 169 180 188

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

Einleitung

D

er naiven Auffassung zufolge ist die Wirklichkeit etwas an sich Gegebenes, das unabhängig davon, ob über sie nachgedacht wird oder nicht, besteht. Die Wirklichkeit ist dem Denken gegenüber gleichgültig. Das Ziel des Denkens besteht in der Nachbildung und Wiedergabe dieses Bestandes, der in sich selbst ruht. Wir können diese naive Auffassung mit dem Bild des »globus intellectualis« 1 verdeutlichen. Alles, was denkend erfassbar ist, stellen wir uns auf der Oberfläche einer Kugel angeordnet vor. Die Aufgabe des Denkens besteht nun darin, die Kugel Schritt für Schritt zu umrunden, um schließlich zu der Gesamtschau aller möglichen Wissensinhalte zu gelangen. Es ist zweifelhaft, ob eine solche Übereinstimmung zwischen Denken und Sein möglich ist. Zum einen kann man danach fragen, woher wir wissen können, dass das, was wir denkend oder wahrnehmend erfassen, der Wirklichkeit entspricht. Zum anderen kann man danach fragen, wie es überhaupt möglich ist, dass das Denken sich auf eine unabhängig gegebene Wirklichkeit bezieht. Die Schwierigkeiten, die auftreten, wenn man versucht, auf diese Fragen eine zufriedenstellende Antwort zu geben, führen dazu, an der Erreichbarkeit des Zieles der Erkenntnis zu zweifeln. Mehr noch: Wenn das Ziel der Erkenntnis darin besteht, eine für sich bestehende Wirklichkeit abzubilden und ihrem Umfang nach zu erfassen, so ist nicht mehr einsichtig, wie dieses Vorhaben überhaupt möglich ist. Kant bietet eine bestimmte Lösung für diese Problemlage an. Er gibt keine neue und weitere Antwort auf die soeben gestellten Fragen. Stattdessen ändert er die Perspektive, sodass sich diese Fragen gar nicht mehr stellen. Er geht von einem prinzipiell anderen Verhältnis zwischen Denken und Wirklichkeit aus. Anstatt den Zielpunkt der Erkenntnis in etwas zu suchen, das außerhalb derselben liegt, fragt er danach, wie das Denken in sich selbst zu der Unterscheidung zwischen Denken und Wirklichkeit gelangt. Für diese Problemstellung führt er den Begriff der Synthesis ein. Eine synthetische Einheit ist eine Einheit, die sich nicht aus Teilen zusammensetzt, sondern selbst Bedingung ihrer Elemente ist. Die Einheit von Denken und Wirklichkeit müssen wir mit Kant Der Begriff »globus intellectualis« geht auf Francis Bacon zurück. Vgl. W. Kramer, »Globus intellectualis«, in: Joachim Ritter; Karlfried Gründer; Gottfried Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3 (Basel: Schwabe & Co AG 1971 ff.), S. 677–678; Vgl. dazu auch Ernst Cassirer, »Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs [1929]«, in: ECW 17, S. 342–359, hier: S. 355. 1

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Einleitung

als eine solche synthetische Einheit begreifen. Denken und Wirklichkeit fügen sich nicht äußerlich aneinander wie die Teile eines Ganzen. Vielmehr ist es ihre Einheit, die bestimmend für sie ist. Was »Wirklichkeit« ist, können wir nicht bestimmen, ohne zu bestimmen, was »Denken« ist. Was »Denken« ist, können wir nicht bestimmen, ohne zu bestimmen, was »Wirklichkeit« ist. Der Zusammenhang zwischen Denken und Wirklichkeit ist von einer Zusammenfassung oder Verknüpfung voneinander unabhängiger Elemente grundverschieden. Damit scheint das Denken, wenn es nicht mehr als Abbild der Wirklichkeit aufgefasst wird, seine Sicherheit und seinen Maßstab zu verlieren. Was bindet unsere Erkenntnis, wenn es nicht die Sicherheit und Festigkeit der Wahrnehmungsobjekte ist? Worin gründet die Objektivität der Erkenntnis, wenn es nicht die von der Erkenntnis unabhängig gegebene Wirklichkeit ist? Innerhalb der naiven Auffassung orientiert sich das Denken an der Wirklichkeit. Diese gilt als ihre Richtschnur und als Maßstab ihrer Güte. Wenn wir den Gedanken einer unabhängig gegebenen Wirklichkeit aufgeben, so scheint es, dass wir uns jeglicher Möglichkeit berauben, von der Richtigkeit oder Falschheit unserer Urteile zu sprechen. Damit würden wir den Begriff des Denkens verlieren. Denn Denken bewegt sich im Spielraum von wahr und falsch. Zu denken, dass p, ist unterschieden von der Tatsache, dass p. Ich kann denken, dass heute die Sonne scheint, dass Paris in Italien liegt oder dass noch Milch im Kühlschrank ist, und nichts davon entscheidet darüber, was der Fall ist. Das menschliche Denken zieht – im Gegensatz zu einem göttlichen Intellekt – die von ihm gedachte Wirklichkeit nicht unmittelbar nach sich. Man könnte nun meinen, dass der Maßstab für die Güte unseres Denkens, wenn er nicht in der Abbildung eines gegebenen Tatbestandes liegt, in der systematischen Verfassung, dem inneren Zusammenhang und der Widerspruchlosigkeit unseres Denkens liegt. Die Wahrheit oder Falschheit einer Vorstellung wird daran bemessen, inwiefern sie sich in den Gesamtzusammenhang der Erfahrung einordnen lässt und sich hier bewährt. Der Maßstab, anhand dessen eine gegebene Vorstellung oder ein Urteil sich zu bewähren haben, ist damit nicht das »Ding«, das unabhängig von der Vorstellung von ihm existiert und mit dem die Vorstellung verglichen werden könnte, sondern die ideelle Forderung, dass kein Urteil einem anderen widersprechen dürfe. Anstelle der Konstanz der Dinge tritt die Notwendigkeit des Gesetzes als Maßstab für die Objektivität der Erkenntnis. Aber auch dieser Maßstab der Objektivität unseres Denkens kann hinterfragt werden. Denn was ist die Rechtfertigung dafür, dass unser Denken systematisch verfährt? James Conant formuliert den Zweifel, der auftritt, wenn man die Gesetzlichkeit des Denkens selbst hinterfragt, folgendermaßen:

Einleitung

»What is the status of the laws of logic, the most basic laws of thought? Wherein does their necessity lie? In what sense does the negation of a basic law of logic represent an impossibility?« 2 Der Lösungsversuch, die Erkenntnis der Wirklichkeit als Erkenntnis von Gesetzen aufzufassen, sieht sich der Frage gegenüber, was die Objektivität der Gesetzeserkenntnis verbürgt. Wenn wir den Maßstab für die Wirklichkeit in das Denken selbst verlegen, so folgt auch hier die Skepsis. Die Wirklichkeit, von der wir sprechen, ist nun eine Wirklichkeit für uns, eine Wirklichkeit, die so ist, wie sie ist, weil wir denken, wie wir denken. Dem Einwand der Relativität alles Denkens können wir so nicht entgehen. Dieser Verweis auf die Relativität der Erkenntnis trägt an dieser Stelle ein negatives Vorzeichen: Denn die Relativität der Erkenntnis bezeichnet eine Schranke, die das Denken von der Erfassung dessen, was unabhängig vom Denken besteht, trennt. Die Annahme, dass die Objektivität der Erkenntnis in der Gesetzmäßigkeit des Denkens gründet, unterliegt deshalb dem skeptischen Zweifel, weil sie neben der Erkenntnis noch etwas zulässt, das unabhängig von ihr selbst besteht. Das ist die einzelne Impression oder Empfindung. Die Gesetze des Denkens vollziehen sich an einem gegebenen Material. Die Annahme eines solchen gegebenen Materials ist der Keim zur skeptischen Vernichtung der Erkenntnis. Wollen wir der skeptischen Schlussfolgerung entgehen, so müssen wir den skeptischen Zweifel gegen das richten, was als Impression oder Empfindung bezeichnet wird. Die Auffassung, dass die Einheit von Denken und Wirklichkeit als synthetische Einheit zu verstehen ist, antwortet also auf diesen skeptischen Einwand nicht, indem sie ihn verneint, sondern indem sie die Skepsis verschärft.3 Die Empfindung oder Impression darf nicht als etwas aufgefasst werden, das vor und unabhängig von jeglicher denkenden Bearbeitung als Materie der Erkenntnis besteht. Vielmehr tritt alles, was gegeben ist, als eine Einheit von Denken und Wirklichkeit auf. Das sinnlich Gegebene ist – in anderen Worten – wesentlich geistiger Natur. Die Materie der Erkenntnis dürfen wir nicht als selbst- und eigenständig auffassen, denn dann erscheint der gesetzmäßige Zusammenhang des Denkens als additive Zutat und das Denken erhält den Charakter einer »Formgebungsmanufaktur« 4. Der Gedanke, dass die Materie der Erkenntnis nicht isoliert werden kann, bezeichnet

James Conant, »The Search for Logically Alien Thought: Descartes, Kant, Frege, and the Tractatus«, in: Philosophical Topics 20, Nr. 1 (1991), S. 115–180, hier: S. 116. 3 Vgl. Ernst Cassirer, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie [1921], ECW 10, S. 47. 4 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis [1929], ECW 13, S. 222. 2

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Einleitung

die starke Lesart der durch Kant vollzogenen kopernikanischen Wende in der Philosophie. Wie aber ist der Gedanke einer Sinnlichkeit, die geistiger Natur ist, mit der Auffassung zu vereinen, dass eine Wirklichkeit, die das Denken nicht selbst hervorbringt, der Gegenstand theoretischer Erkenntnis ist? Die Schwierigkeit ist, dass wir an der Vorstellung einer vom Denken unabhängig gegebenen Wirklichkeit nicht festhalten können, gleichzeitig aber auch nicht ohne weiteres begreifen können, wie ein Unterschied zu verstehen ist, der kein Unterschied voneinander unabhängiger Elemente ist. Denken und Wirklichkeit sollen als streng korrelativ aufgefasst werden und dennoch ihrem Begriffe nach nicht zusammenfallen. Denken und Wirklichkeit sind eins und doch verschieden. Ein solches Verhältnis ist in hohem Maße rätselhaft, denn es entzieht sich der anschaulichen Vorstellung. An dieser Stelle leistet Ernst Cassirer einen Beitrag, der in der zeitgenössischen Philosophie, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Denken und Sein auseinandersetzt, noch nicht ausreichend gewürdigt wurde. Cassirer argumentiert, dass wir die Einheit von Denken und Wirklichkeit als Symbol verstehen müssen. Das menschliche Symbol, wie es im Mythos, in der Religion, in Sprache, Kunst und Wissenschaft auftritt, ist Einheit und Differenz von Denken und Sein zugleich. Das Symbol ist, so fasst es auch Ursula Renz auf, »›Antwort‹ auf die Forderung einer radikalisierten kopernikanischen Wende«. 5 Worin besteht diese Antwort? Das Symbol, so formuliert es Renz, ist geistigen Ursprungs, wird aber am Material vollzogen. Ein Symbol ist ein körperlicher Vorgang, der aber nicht als ein dem »Körper verhaftete[r] Vorgang zu denken« 6 sei. Im Symbol sehen wir die Verwirklichung des »Wunders«, dass etwas sinnlich Gegebenes unmittelbar sinnvoll ist. Die These, dass wir die Einheit von Denken und Sein als Symbol verstehen sollten, mag genauso rätselhaft erscheinen wie die Auffassung, dass Denken und Sein eine ursprüngliche Einheit bilden, die sich in sich selbst differenziert. Tatsächlich löst der Verweis auf das Symbol die Rätselhaftigkeit, die diese Auffassung begleitet, nicht auf. Aber der Verweis auf das Symbol zeigt uns, dass eine solche Einheit nicht unmöglich ist. Sie ist uns vielmehr wohlvertraut. Sie begegnet uns in der Sprache, in Kunst, Religion, Mythos, Wissenschaft etc. Mit dem Verweis auf das Symbol ist, um noch einmal Renz zu zitieren, das

Ursula Renz, Die Rationalität der Kultur: Zur Kulturphilosophie und ihrer transzendentalen Begründung bei Cohen, Natorp und Cassirer (Hamburg: Felix Meiner Verlag 2002), S. 85. 6 Ebd., S. 86. 5

Einleitung

»Rätsel […] gelöst und doch nicht aufgelöst. Das Problem ist begriffen, und doch muß es immer wieder von neuem formuliert werden. Das Wunder ist durchschaut und doch nicht eliminiert. Es ist, als dürfe das Staunen nicht übersprungen werden. Cassirer auf jeden Fall hat es nicht übersprungen, sondern hat ihm im verstehenden Bewahren des Wunders einen neuen philosophischen Sinn abgewonnen.« 7

Der Gedanke der synthetischen Einheit von Denken und Wirklichkeit, so verstehe ich Renz hier, ist ein Gedanke, den man nicht einfach in Besitz nehmen kann. Er löst immer wieder Erstaunen aus. Wir lösen das Rätsel der synthetischen Einheit von Denken und Wirklichkeit, indem wir uns verdeutlichen, was es bedeutet, Symbole zu gebrauchen, und doch lösen wir das Rätsel damit nicht auf. Denn der Symbolgebrauch selbst bleibt ein »Wunder«. Die Unmöglichkeit, das »Staunen zu überspringen«, zeigt sich meines Erachtens auch darin, dass Cassirer an keiner Stelle seines Werkes eine eingängige Definition dessen gibt, was ein »Symbol« ist. Dieser Sachverhalt ist oft bemerkt und immer wieder bemängelt worden. 8 Fassen wir das Symbol als eine Antwort auf eine starke Lesart der kopernikanischen Wende Kants auf, so ist klar, dass es eine Definition des Symbols auch nicht geben kann. Denn das Symbol kann dann kein Ding unter Dingen sein, das wir in Abgrenzung zu anderen Dingen definieren können. Das Symbol soll Einheit und Differenz von Denken und Wirklichkeit sein. Damit ist es nichts, das innerhalb der Wirklichkeit vorliegt, sondern das, was jeglicher Betrachtung von Wirklichkeit sozusagen im Rücken liegt. Die erste Schwierigkeit beim Verständnis der Symboltheorie Cassirers besteht mithin darin, dass wir, um den Verweis auf das Symbol als Antwort auf eine starke Lesart Kants zu begreifen, völlig naiv an die Frage herangehen Ebd., S. 87. Susanne K. Langer beschreibt die Rätselhaftigkeit des Symbolbegriffs beispielsweise folgendermaßen: »It was in reflecting on the nature of art that I came on a conception of the symbol relation quite distinct from the one I had formed in connection with all my earlier studies, which had centered around symbolic logic. This new view of symbolization and meaning stemmed from the Kantian analysis of experience, and had been highly developed in Cassirer’s Philosophie der symbolischen Formen. In many years of work on the fundamental problems of art I have found it indispensable; it served as a key to the most involved questions. But this symbol concept, as it emerges in use, in the course of work – which, after all, is the most authentic source of all concepts – cannot be defined in terms of denotation, signification, formal assignment, or reference. The proof of a pudding is in the eating, and I submit that Cassirer’s pudding is good; but the recipe is not on the box.« Susanne K. Langer, »On a new definition of ›symbol‹«, in: dies., Philosophical Sketches: A study of the human mind in relation to feeling, explored through art, language, and symbol (Baltimore: Johns Hopkins Press 1962), S. 53–61, hier: S. 56. 7 8

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Einleitung

müssen, was ein Symbol ist. Wir müssen sozusagen vergessen, was wir über Symbole zu wissen vermeinen. Denn unserer intuitiven Auffassung zufolge ist das Symbol ein Ding unter Dingen: Nicht alle Dinge sind Symbole. Symbole kommen zu einer gegebenen Wirklichkeit als ihre Etiketten hinzu. Das Symbol wäre damit eine Wirklichkeit, die zu einer bestehenden Wirklichkeit hinzutritt und diese erweitert. Jegliche Auffassung, die das Symbol in eine solch äußere Stellung zur Wirklichkeit setzt, lehnt Cassirer ab. Denn sie wäre nichts anderes als Ausdruck der naiven Auffassung der Erkenntnis. Das Symbol ist auch nicht das Werkzeug oder Instrument, das zu der Unterscheidung zwischen Denken und Wirklichkeit führt, sondern es ist selbst diese Unterscheidung. Symbole sind für Cassirer keine Teilbereiche der Wirklichkeit, sondern die Weise, in der Wirkliches erscheint. Wir können auch sagen: Symbole sind Bedingung der Wirklichkeit. Damit unterscheidet sich Cassirers Auffassung in grundlegender Weise von Auffassungen, die das, was ein Symbol ist, durch das »semiotische Dreieck« erläutern: Gedanke oder Bezug

Symbol

Referent

In dieser Darstellung ist das »Symbol« eine bestimmte physische Entität, also beispielsweise die Schallwelle. Der »Referent« ist die Wirklichkeit, die durch das Symbol bezeichnet wird. Der Gedanke oder Bezug ist das, was durch das Zeichen ausgedrückt werden soll. Es ist offensichtlich, dass keine dieser Begriffsbestimmungen eindeutig ist. Es kommt mir an dieser Stelle auch nicht darauf an, eine genaue Begriffsbestimmung zu geben, genauso wenig, wie die Bezeichnung der drei Ecken des Dreiecks für meine Zwecke von besonderer Relevanz ist. 9 Worauf es ankommt, ist, dass in dieser Darstellung der Referent unabhängig davon gegeben ist, ob und wie auf ihn Bezug genommen wird. Der Bezug des Symbols auf das Sein wird damit im Kern als der Bezug auf eine unabhängig gegebene Realität aufgefasst. Cassirers Auffassung ist demgegenüber, dass das Verhältnis zwischen einem Symbol und dem, was durch es bezeichnet wird, ein Verhältnis sui ge-

Vgl. für eine zusammenfassende Darstellung der verschiedenen Bezeichnungen Umberto Eco, Zeichen: Einführung in einen Begriff und seine Geschichte (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977), S. 30. 9

Einleitung

neris ist. 10 Das Symbol verweist nicht auf eine Wirklichkeit, die hinter ihm steht. Man bringt »jedes Symbol um seinen Sinn«, so meint Cassirer, »wenn man es mit dem, was es bedeutet und worauf es hinweist, durch irgendeine real-dingliche, durch eine ontologische Beziehung verbunden sein läßt«. 11 In dieser Einsicht liegt die Schwierigkeit der Symboltheorie Cassirers begründet: Denn worin genau besteht dieses Verhältnis sui generis? Was ist die Alternative zu einer real-dinglichen, ontologischen Beziehung? Wollen wir dieses Verhältnis sui generis zwischen dem Symbol und der Wirklichkeit begreifen, wollen wir also begreifen, inwiefern Symbol und Wirklichkeit sowohl eins als auch verschieden sind, so erfordert dies zu sehen, dass durch die neue Sichtweise unmittelbar auch die Auffassung des Verhältnisses zwischen Mensch und Symbol betroffen ist. Wenn ein Symbol so, wie es das semiotische Dreieck nahelegt, zu einer gegebenen Wirklichkeit hinzutritt, so impliziert diese Auffassung, dass auch der Mensch in einem äußeren Verhältnis zur Wirklichkeit steht. Der Mensch erscheint dann als derjenige, der verschiedene Symbole auf die Wirklichkeit anwendet. Wir können uns diese Auffassung mit dem Bild verdeutlichen, das die Tätigkeit des Denkens in Analogie zum Gebrauch von Instrumenten beschreibt. 12 Ein Mensch, der Instrumente gebraucht, bildet mit diesen Instrumenten einen äußeren und zufälligen Zusammenhang. Mensch und Instrument sind real voneinander unterschieden. Der Zusammenhang zwischen Mensch und Instrument ist, um noch einmal die Wortwahl Cassirers aufzugreifen, »eine real-dingliche, ontologische Beziehung«. Wenn das Symbol aber nicht auf die Wirklichkeit »angewendet« wird, dann folgt daraus, dass das Symbol nicht zwischen dem Menschen und der Wirklichkeit steht. Der symbolgebrauchende Mensch steht weder zu den Symbolen, die er gebraucht, noch zu der Wirklichkeit, die er denkend erfasst, in einem äußeren Verhältnis. Wenn Cassirer das Verhältnis zwischen Symbol und dem, was durch das Symbol bezeichnet wird, als ein Verhältnis »sui generis« bezeichnet, so muss auch das Verhältnis zwischen Mensch und Symbol ein Verhältnis sui generis sein. Ein Symbol kommt nicht zu einem Menschen hinzu, so wie ein Instrument zu jemandem hinzukommt, der es bedient. Die wohl bekannteste Aussage Cassirers ist, dass der Mensch das »animal symbolicum« sei. Meines Erachtens wird diese Aussage häufig unterschätzt. Denn was sie Vgl. beispielsweise Ernst Cassirer, »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie [1927]«, in: ECW 17, S. 13–81, hier: S. 24. 11 Ebd., S. 78. 12 Diese Überlegungen sind Theodor Litt verpflichtet. Theodor Litt, Denken und Sein (Stuttgart: S. Hirzel Verlag 1948), S. 9. 10

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Einleitung

im Kern besagt, ist nicht, dass der Mensch ein Tier ist, das zusätzlich zu seinen sonstigen Eigenschaften noch Symbole benutzt, sondern dass der Mensch ein symbolisches Wesen ist, ein Wesen also, das mit dem Gebrauch von Symbolen »eins« ist. Formulieren wir den Gedanken, dass der Mensch das »animal symbolicum« sei, auf diese Weise, so wird erst deutlich, dass dieser Gedanke dem Gedanken, dass das Symbol sowohl Einheit als auch Differenz von Denken und Wirklichkeit sei, im Hinblick auf seine Rätselhaftigkeit in nichts nachsteht. Wenn wir also fragen: Was ist ein Symbol?, so werden wir, indem wir diese Frage stellen, sofort zu der Frage weitergeleitet: Was ist der Mensch? Verstehen wir das Symbol als Antwort auf die kopernikanische Wende Kants, so ist in dieser Antwort unmittelbar beschlossen, dass auch unser Verständnis des Menschen eine spezifische Wendung erfahren muss. Es ist das Ziel der vorliegenden Arbeit, diesen Zusammenhang aufzuweisen. Der Grundgedanke der Arbeit ist damit der folgende: Fassen wir das Symbol als Antwort auf die kopernikanische Wende Kants auf, so liegt darin beschlossen, dass das Abhängigkeitsverhältnis zwischen »Bedeutung« und »Wirklichkeit« umgekehrt wird. Wir gründen nicht mehr die Bedeutung auf dem Sein, so wie es immer dann geschieht, wenn davon ausgegangen wird, dass Denken und Wirklichkeit ursprünglich selbst- und eigenständige Einheiten sind. Denn dieser Auffassung gemäß bezieht sich das Denken auf eine Wirklichkeit, die unabhängig von diesem Denken besteht. Was Wirklichkeit ist, müssten wir demnach schon voraussetzen, wenn wir erläutern wollen, was Denken ist. Stattdessen behauptet die Theorie des Symbolischen, dass das Umgekehrte gilt: Das Sein gründet auf der Bedeutung. Was uns ursprünglich gegeben ist, ist die Bedeutungsrelation. Wenn wir verstehen wollen, was »Wirklichkeit« ist und was der »Mensch« ist, so müssen wir die Bedeutungsrelation voraussetzen. Man kann die vorliegende Arbeit dementsprechend als einen Beitrag dazu lesen, die Rätselhaftigkeit des Symbolbegriffs bei Cassirer – um noch einmal die Worte von Renz zu gebrauchen – zu lösen, aber nicht aufzulösen, das Wunder zu durchschauen, aber nicht zu eliminieren. Sie tut dies, indem sie Cassirer in einen zeitgenössischen Diskussionskontext einordnet. Damit ist zweierlei gewonnen: Die Autor_innen, die sich heute um ein Verständnis der kopernikanischen Wende Kants bemühen, tun dies, ohne dabei den Begriff des Symbols zu berücksichtigen. Für diese Autor_innen kann der Symbolbegriff als Lösung der Rätsel dienen, mit denen sie sich beschäftigen. Darüber hinaus bietet der Symbolbegriff aber auch einen Prüfstein dafür an, ob die kopernikanische Wende konsequent vollzogen wird. Andererseits ist diese Arbeit aber auch für diejenigen, die mit Cassirers Symboltheorie vertraut sind, insofern

Einleitung

von Interesse, als die Einordnung Cassirers in einen zeitgenössischen Kontext erst langsam in den Fokus der Forschung rückt. 13 Ich gehe wie folgt vor: Wenn wir uns versichern wollen, was Cassirers Symboltheorie uns anbieten kann, so müssen wir damit beginnen, das Symbol als Antwort auf eine starke Lesart der kopernikanischen Wende Kants zu begreifen. Cassirer selbst gibt diesen Hinweis in einer Diskussion, in der er mit der Auffassung wiedergegeben wird, dass nur eine »erkenntnistheoretisch festgelegte Position […] es uns [ermöglicht], die Sprache adäquat zu betrachten«. 14 Im ersten Kapitel dieser Arbeit diskutiere ich zwei verschiedene Auffassungen des Erkenntnisproblems. Ich führe in Anschluss an James Conant eine Unterscheidung zwischen einer schwachen und einer starken Lesart Kants ein und ordne Cassirer als starken Kantianer ein. In der zeitgenössischen Debatte, so zeigt sich, spielen weder Cassirer noch der Symbolbegriff eine Rolle. Das zweite Kapitel führt den Begriff des Symbols als eine Antwort auf die starke Lesart Kants ein. Dies erfordert, das Symbol nicht als Ding unter Dingen zu verstehen, sondern als Form der Wahrnehmung. Das Symbol tritt nicht zu einer gegebenen Wirklichkeit hinzu, um ihr zu ihren sonstigen Eigenschaften noch eine weitere Eigenschaft hinzuzufügen. Vielmehr ist das Symbol eine Weise, in der Wirkliches erscheint. Ich werde diesen Aspekt des Symbolischen anhand der Sprache erläutern. 15 Das dritte Kapitel zeigt, dass diese Auffassung des Symbols eine weitere Facette hat: Ein Symbol ist intersubjektiv. Es verbindet ein »Ich« mit einem »Du«, aber nicht in dem Sinne, dass es eine Brücke von einem an sich gegebenen »Ich« zu einem an sich gegebenen »Du« schlägt, so als wären »Ich« und »Du« für sich bestimmte Wesenseinheiten. Vielmehr geht das Symbol der Konstitution des »Ich« wie des »Du« voraus. Das Symbol kann damit eine Lösung sein für das Problem, das mit dem Namen der »kollektiven Intentionalität« 16 bezeichnet wird. Dieses Problem ringt mit der Frage, wie es möglich ist, Vgl. bspw. J. T. Friedman; Sebastian Luft (Hrsg.), The philosophy of Ernst Cassirer: A novel assessment (Berlin, Boston: De Gruyter 2015). 14 Vgl. Ernst Cassirer, »Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt [1932]«, in: ECW 18, S. 111–126, hier: S. 132. 15 Cassirer kennt bekanntlich neben der Sprache weitere symbolische Formen. Mein Fokus auf die Sprache rechtfertigt sich dadurch, dass der Sprache in der Gewinnung des Bewusstseins der Symbolfunktion eine ausgezeichnete Stellung zukommt. Vgl. beispielsweise Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 120. 16 Vgl. Hans B. Schmid und David P. Schweikard, »Einleitung: Kollektive Intentionalität. Begriff, Geschichte, Probleme«, in: dies. (Hrsg.), Kollektive Intentionalität: Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009), S. 11–65. 13

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16

Einleitung

dass zwei oder mehr Menschen nicht nur die gleiche, sondern dieselbe Absicht haben können. Das vierte Kapitel zeigt auf, dass das, was ein Symbol ist, nur dann richtig verstanden werden kann, wenn wir das Verhältnis klären, in dem es zu dem Wesen steht, das es gebraucht: dem Menschen. Ich sagte bereits, dass wir die Fähigkeit, Symbole zu gebrauchen, nicht als eine additive Zutat auffassen dürfen, die der Mensch zusätzlich zu weiteren Fähigkeiten besitzt. In dieser Hinsicht weist Cassirers Auffassung eine zentrale Gemeinsamkeit mit transformativen Theorien der menschlichen Vernunft auf. 17 Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht in einem einzelnen Merkmal verortet wird, das der Mensch im Gegensatz zum Tier aufweist, sondern in ihrer »Lebensform«. Trotz dieser offenkundigen Gemeinsamkeit weisen die transformative Auffassung der menschlichen Vernunft, wie sie insbesondere durch Matthew Boyle vorgeschlagen wurde, und die Auffassung Cassirers spezifische Unterschiede auf. Wir können diesen Unterschied so formulieren, dass wir sagen, dass für Boyle die Lebensform eine Eigenschaft eines Individuums ist. Genauer: die Art und Weise, wie ein Lebewesen Eigenschaften hat. Für Cassirer ist die Lebensform hingegen keine Sache der Prädikation, sondern eine Tätigkeit. Aus Cassirers Perspektive verlässt die transformative Theorie der menschlichen Vernunft, wie Boyle sie vertritt, trotz aller Radikalität, mit der sie additiven Auffassungen der menschlichen Vernunft entgegentritt, den Dualismus zwischen Natur und Vernunft nicht vollständig. Die dualistische Auffassung tritt an der Stelle wieder hervor, an der nicht erkannt wird, dass die anthropologische Differenz der Frage nach der anthropologischen Differenz nicht vorausgeht. Wenn wir also danach fragen, was Mensch und Tier unterscheidet, so fragen wir nicht nach einem gegebenen Unterschied, der als solcher besteht, sondern es ist die Tätigkeit des Symbolgebrauchs selbst, die der Grund des Unterschieds ist. Das fünfte Kapitel erörtert die Freiheit und Individualität der menschlichen Lebensform, die dann begreif- und verstehbar wird, wenn wir die Priorität des Bedeutungsproblems vor dem Wirklichkeitsproblem anerkennen. Insofern, als der Mensch in und kraft seines Symbolgebrauchs keine gegebene Wirklichkeit abbildet, sondern vielmehr eine »Gestaltung zur Welt« 18 vollzieht, ist diese Gestalt, die die Welt aufweist, kein Schicksal, das dem Menschen von außen auferlegt ist, sondern das Resultat einer freien Tat. Vgl. Matthew Boyle, »Essentially Rational Animals«, in: Günter Abel; James Conant (Hrsg.), Rethinking Epistemology 2 (Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2012), S. 395–427. 18 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache [1923], ECW 11, S. 9. 17

1. Bedeutung und Wirklichkeit

V

ernunft ist die Fähigkeit zu urteilen. Für die Zwecke der Überlegungen in dieser Arbeit können wir die Begriffe »urteilen«, »aussagen« und »denken« synonym gebrauchen. Urteile, Denkakte und Aussagen treten mit dem Anspruch auf, wahr zu sein. Wenn jemand urteilt, dass hier und jetzt die Sonne scheint, denkt, dass Milch im Kühlschrank ist, oder sagt, dass Cäsar den Rubikon überschritt, übt sie dieses ihr Tun mit einem Wahrheitsanspruch aus. Dies bedeutet zunächst, dass das Urteil auch falsch sein kann: Urteile stehen »im Spielraum von wahr und falsch«. 1 Es bedeutet weiter, dass es ein Kriterium dafür geben muss, ob ein Urteil wahr oder falsch ist. Das Kriterium der Wahrheit ist die Sache selbst. Ein Urteil ist wahr, wenn es mit den Tatsachen übereinstimmt; es ist falsch, wenn es dies nicht tut. In dieser Allgemeinheit wird wohl kaum jemand dieser grundlegenden Charakteristik der Vernunft widersprechen – nur, sie ist nicht eindeutig. 2 Denn es ist nicht klar, was eine Tatsache ist und wie wir feststellen können, ob unser Urteil mit den Tatsachen übereinstimmt oder nicht. Im Folgenden diskutiere ich zwei verschiedene Auffassungen davon, was es bedeutet, von einer Übereinstimmung zwischen Urteilen und Tatsachen zu sprechen. Die grundlegende Frage ist: Ist eine Tatsache etwas, das außerhalb des Denkens liegt, so dass wir, wollen wir feststellen, ob das Denken mit den Tatsachen übereinstimmt, dieses mit etwas von ihm selbst Unterschiedenem vergleichen? Oder ist eine Tatsache etwas, das innerhalb des Denkens liegt, so dass wir, wollen wir feststellen, ob das Denken mit den Tatsachen übereinstimmt, dieses mit sich selbst vergleichen?

1.1 Dogmatische Metaphysik

Die dogmatische Metaphysik geht davon aus, dass es eine Wirklichkeit gibt, die vom denkenden Subjekt absolut unabhängig ist. 3 Zwischen Denken und Sein besteht eine ursprüngliche Differenz. Das Ziel der denkenden Bemühung Vgl. dazu Andrea Kern, Quellen des Wissens: Zum Begriff vernünftiger Erkenntnisfähigkeit (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2006), S. 25. 2 Vgl. dazu Ernst Cassirer, »Was ist Subjektivismus? [1939]«, in: ECW 22, S. 167–192, hier: S. 189. 3 Die folgenden Überlegungen sind Theodor Litt verpflichtet. Vgl. Litt, Denken und Sein. Außerdem resultieren sie aus meinem Studium der Werke Cassirers, der insbesondere auch 1

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Bedeutung und Wirklichkeit

besteht darin, die vom Denken unabhängige Wirklichkeit abzubilden oder widerzuspiegeln. Diese Annahme der Unabhängigkeit der Wirklichkeit vom denkenden Bemühen können wir durch das Bild eines Lichts illustrieren, das etwas erleuchtet: Der Gegenstand, der erleuchtet wird, wird in seinen wesentlichen Bestimmungen durch die Erleuchtung nicht verändert. In diesem Bild erscheint die Wirklichkeit, insofern als sie vom Denken unabhängig ist, diesem als übergeordnet. Das Denken richtet sich nach der Wirklichkeit. Es hat in dieser seine Richtschnur und seinen Maßstab. Die Annahme der Unabhängigkeit der Wirklichkeit vom Denken scheint wesentlich zum Begriff des Denkens zu gehören. Denn wenn wir stattdessen behaupten würden, dass die Wirklichkeit vom Denken abhängig ist, so würden wir zentrale Charakteristika des Denkens nicht mehr einholen können. Stellen wir uns vor, dass die Wirklichkeit dadurch, dass sie gedacht wird, ihre Gestalt ändern würde, so könnte es sich in diesem Denken jedenfalls nicht mehr um ein Erkennen der Wirklichkeit handeln. Auch wenn das Denken die Wirklichkeit selbst hervorbringen würde, so wäre das, was wir unter Denken verstehen, verfehlt. Denn ein solches Denken könnte sich nicht irren. Es würde wie ein göttlicher Intellekt unmittelbar die Wirklichkeit des Gedachten nach sich ziehen. Das menschliche Denken ist davon zu unterscheiden. Für den Menschen jedenfalls gilt, dass zu denken, dass p, nicht dasselbe ist wie die Tatsache, dass p. Ich kann denken, dass heute die Sonne scheint, dass Paris in Italien liegt oder dass noch Milch im Kühlschrank ist und nichts darüber entscheidet, ob es sich so verhält oder nicht. Denken vollzieht sich im Spielraum von wahr und falsch. Wir können dies auch so ausdrücken, dass wir sagen, dass die Möglichkeit des Irrtums zum Begriff des Denkens gehört. Gemäß dieser Auffassung benötigt das Denken einen Inhalt, der ihm von außen gegeben wird. Ohne einen solchen Inhalt würde das Denken beliebig und willkürlich verfahren können, denn es hätte keinen Maßstab und keine Richtung. Um also das Denken vor Beliebigkeit zu schützen, so die Annahme, benötigt es eine Begrenzung von außen, also durch etwas, das außerhalb seiner eigenen Sphäre liegt. John McDowell hat die Vorstellung, dass dem Denken ein solcher Halt in einem unabhängig gegebenen Sein entzogen wird, als als Historiker der Philosophie bekannt ist. Es war für mich überraschend, dass ich bezüglich der Grundsatzfragen, die das Thema dieses Kapitels sind, Schriften Cassirers als äußerst hilfreich empfand, die dies vom Titel her jedenfalls nicht nahelegen, insbesondere Cassirer, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie; sowie ders., Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart. Thorilds Stellung in der Geistesgeschichte des Achtzehnten Jahrhunderts, ECW 21. Daneben ist natürlich auf die vier Bände zum Erkenntnisproblem zu verweisen sowie auf seine Antrittsrede als Rektor der Universität Hamburg: »Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs«.

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ein »reibungsloses Kreiseln im luftleeren Raum umschrieben«. 4 Die Annahme, dass wir daran festhalten müssen, dass dem Denken etwas von außen gegeben wird, damit wir überhaupt den Begriff des Denkens bilden können, ist weit verbreitet. Ein Beispiel dafür ist Clarence Irving Lewis. James Conant schreibt über Lewis: »What Lewis calls ›the given‹ is that which is thus delivered up to the mind, furnishing it with content upon which to operate, thus rescuing its operations from emptiness and arbitrariness. Lewis takes us to have no choice but to acknowledge such a given element in experience, if we wish to frame a conception of what it is to have an empirical world-view according to which (that which we wish to be able to look upon as) our ›world-view‹ amounts to something more than wholly unconstrained fabrication.« 5

Es ist nur dann möglich, an dem Unterschied zwischen Wahrheit und Täuschung festzuhalten, so die Annahme, wenn es etwas gibt, das dem Denken von außen gegeben wird, wenn es also eine vom Denken unabhängig gegebene Wirklichkeit gibt. Wahrheit besteht demgemäß in der Übereinstimmung mit der vom Denken unabhängig gegebenen Wirklichkeit. Täuschung oder Irrtum liegen dann vor, wenn diese Übereinstimmung nicht gegeben ist. Diese Annahme einer vom Denken unabhängigen Wirklichkeit, durch die das Denken in irgendeiner Weise affiziert wird, die es also hinzunehmen hat, scheint für den Begriff des Denkens so zentral zu sein, dass wir sie nicht aufgeben dürfen, auch dann nicht, wenn weitere erkenntniskritische Überlegungen uns dazu führen, die Aktivität oder Spontaneität des Denkens anzuerkennen. Was immer unter einer solchen Spontaneität des Denkens zu verstehen ist, sie darf – so die Überlegung – nicht so verstanden werden, dass die Bindung des Denkens an gegebene Elemente gelöst wird. Die Bindung des Denkens an gegebene Elemente ist gleichbedeutend mit der Charakterisierung der menschlichen Vernunft als endliche Vernunft. Die menschliche Vernunft ist endlich, insofern als sie darauf angewiesen ist, dass ihr etwas von außen gegeben wird. Was auch immer also unter der Spontaneität des Denkens zu verstehen ist, sie kann, wenn wir diesem Gedankengang folgen, nicht die Leugnung und Aufhebung der Endlichkeit der menschlichen Vernunft bedeuten. 6 Die Auffassung der dogmatischen Metaphysik weist einen weiteren Aspekt auf: Sie stellt sich die Wirklichkeit als einheitlich und unzerteilt vor. Der BeJohn McDowell, Geist und Welt [1996] (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012), S. 35. James Conant, »Two Varieties of Skepticism«, in: Abel; Conant (Hrsg.), Rethinking Epistemology, S. 1–76, hier: S. 49. 6 Vgl. Ernst Cassirer, »Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation [1931]«, in: ECW 17, S. 221–250, hier: S. 228. 4 5

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griff des »globus intellectualis«, den ich bereits in der Einleitung bemüht habe, veranschaulicht diese Annahme der Einheitlichkeit der Wirklichkeit. 7 Die verschiedenen Bereiche der Wirklichkeit sind so auf der Oberfläche einer Kugel angeordnet, dass sie nahtlos aneinander anschließen. Die Wirklichkeit ist dieser Auffassung zufolge homogen. Damit verbunden ist die Auffassung, dass auch das Denken sich in einer einzigen Weise zu denken erschöpft. 8 Das Verhältnis zwischen Denken und Wirklichkeit ist also so bestimmt, dass das Denken sich zwar auf eine Mannigfaltigkeit von Dingen richten kann, dabei aber nichtsdestotrotz eine Einheitlichkeit des Vollzuges aufweist. Weder wird die Mannigfaltigkeit der Dinge durch die Einheitlichkeit des Denkens gestört, noch stößt sich die Einheitlichkeit des Denkens daran, dass das Denken sich auf eine Mannigfaltigkeit richtet. Auch an dieser Stelle kann uns die Lichtmetapher als Illustration dienen. Denn auch ein Licht erleuchtet viele verschiedene Dinge, ohne dadurch doch selbst seiner Einheit verlustig zu gehen. Die Annahme der Unabhängigkeit der Wirklichkeit vom Denken ist also durch ein starkes Motiv begründet: Es scheint so zu sein, dass wir diese Annahme nicht aufgeben dürfen, wenn wir den Begriff des Denkens bilden wollen. Das Denken orientiert sich an der Wirklichkeit, es hat an ihr seinen Maßstab. Dies ist nur aufgrund der Unabhängigkeit der Wirklichkeit vom Denken möglich. Wenn wir nun einen konkreten Denkakt bewerten wollen, so müssen wir überprüfen, inwiefern er mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Jemand denkt etwas Wahres, wenn sein Gedanke mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Er denkt etwas Falsches, wenn sein Gedanke mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt. Nun erfordert dieses Vorgehen die Angabe eines Kriteriums der Wahrheit. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das Kriterium der Wahrheit zu bestimmen, die aber alle, so unterschiedlich sie auch auf diese Frage antworten mögen, doch eine gemeinsame Grundannahme teilen, nämlich die Grundannahme, dass das Kriterium der Wahrheit uns der Übereinstimmung zwischen Denken und Sein zu versichern habe. Die metaphysische Frage, die sich an diese Auffassung des Verhältnisses zwischen Wirklichkeit und Denken anschließt, ist also: Was könnte das Kriterium sein, das uns der Wahrheit unseres Denkens versichert, das uns also eine Sicherheit dafür gibt, dass unser Denken mit der von ihm unabhängig gegebenen Wirklichkeit übereinstimmt? Barry Stroud hat sich im Rahmen einer dogmatischen Metaphysik diese

Vgl. dazu Cassirer, »Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs«, S. 355. 8 Vgl. auch Litt, Denken und Sein, S. 5. 7

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Frage vorgelegt. Er formuliert die Frage nach dem Kriterium der Wahrheit folgendermaßen: »That we think the world is a certain way is one thing; the world’s really being the way we think it is something different, and something more. This thought alone can be enough to encourage critical assessment of the credentials of our ways of thinking of the world, however familiar and fundamental they might be. […] the metaphysical aspiration is not simply a desire to know what our conception of the world actually is. […] we also want to understand how we and our thoughts about the world stand in relation to a world that is not ourselves. The question is about the relation between the conception we have of the world and the world itself.« 9

Stroud betont hier im Sinne einer dogmatischen Metaphysik, dass es einen Unterschied macht, ob ich denke, dass etwas der Fall ist, oder ob etwas der Fall ist. Zu denken, dass p, ist etwas anderes als die Tatsache, dass p. Allein diese Überlegung, so meint Stroud, führt uns zu der skeptischen Überlegung, wie ich überhaupt wissen kann, dass mein Denken mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Was ist das Kriterium der Wahrheit? Und wie ist es überhaupt zu verstehen, dass sich Denken auf Wirkliches beziehen kann? Man kann an dieser Stelle eine Differenzierung der Fragestellung einführen. Einerseits kann man fragen: Woher weiß ich, dass das, was ich denke, mit der Wirklichkeit übereinstimmt? Andererseits kann man fragen: Wie ist es überhaupt möglich, dass ich mich in meinem Denken auf eine unabhängig gegebene Wirklichkeit beziehen kann? James Conant expliziert diese Unterscheidung in seinem Aufsatz »Two Varieties of Skepticism« 10 und nennt sie die »Cartesianische Problemstellung« respektive die Problemstellung des »schwachen Kantianers«. Die Cartesianische Problemstellung stellt Fragen wie beispielsweise diese: Sind die Dinge wirklich so, wie sie scheinen? Wie kann der Traum von der Wirklichkeit unterschieden werden? Sind meine Urteile wahr? Der schwache Kantianer fragt hingegen: Wie ist Erfahrung möglich? Wie ist es möglich, etwas zu denken, das wahr oder falsch sein kann? 11 Conant betont, dass diese beiden Fragestellungen kombinierbar sind. Wo wir die Problemstellung des Cartesianers antreffen, treffen wir im Allgemeinen auch die Problemstellung des schwachen Kantianers an. 12 Diese Kombinierbarkeit der Fragestellungen gründet, so meine ich, in der gemeinsamen GrundBarry Stroud, Engagement and metaphysical dissatisfaction: Modality and value (New York: Oxford Univ. Press 2013), S. 3–6. 10 Conant, »Two Varieties of Skepticism«. 11 Ebd., S. 4 ff. 12 Ebd., S. 6. 9

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annahme, die Cartesianer und schwache Kantianer eint. Beide gehen davon aus, dass Wahrheit eine Sache der Übereinstimmung zwischen Denken und der unabhängig gegebenen Wirklichkeit ist. Man kann sagen, dass die Fragestellung des schwachen Kantianers eine Erweiterung der Fragestellung des Cartesianers ist. Wir sehen diese Kombinierbarkeit der Fragestellungen auch in den Arbeiten von Stroud. Den eigentlichen Fokus legt Stroud aber, wie das oben genannte Zitat zeigt, auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Denken und Wirklichkeit. In der Terminologie von Conant ist Stroud damit ein schwacher Kantianer. Wir können uns die Schwierigkeiten, in die sich die Fragestellung des Cartesianers wie auch die des schwachen Kantianers verwickeln, anhand der Arbeiten von Stroud verdeutlichen. Stroud verfolgt auf lehrreiche Weise verschiedene Optionen, das Kriterium der Wahrheit festzulegen. Er kommt zu dem Schluss, dass es ein solches Kriterium nicht geben kann. Es gibt nichts – das ist das Ergebnis seiner Überlegungen –, das uns der Übereinstimmung unseres Denkens mit der von ihm unabhängig gegebenen Wirklichkeit versichern würde. Insofern, so sagt Stroud, werden wir in eine Enttäuschung geführt. Die Frage nach dem Kriterium der Wahrheit kann nicht beantwortet werden. Im Folgenden zeichne ich Strouds Argumentationslinie nach. Das Ziel ist zu zeigen, dass im Rahmen einer dogmatischen Metaphysik nicht nur kein Kriterium der Wahrheit angegeben werden kann, sondern dass darüber hinaus die Frage nach einem Kriterium der Wahrheit, insofern als darunter ein Kriterium verstanden wird, das uns der Übereinstimmung unseres Denkens mit der von ihm unabhängig gegebenen Wirklichkeit verstanden wird, nicht möglich ist. In anderen Worten: Es gibt nicht nur keine Antwort auf das so verstandene Kriterium der Wahrheit, es kann noch nicht einmal der Frage selbst ein Sinn abgewonnen werden. Die erste und naheliegende Überlegung, wenn wir im zuvor explizierten Sinn nach einem Kriterium der Wahrheit fragen, ist, dass wir nach einer Stelle fragen, an der sich uns die Wirklichkeit selbst offenbart. An irgendeiner Stelle muss es, so die Überlegung, zu einem direkten Kontakt mit der Wirklichkeit kommen, der durch nichts vermittelt und durch nichts verstellt ist. Das Kriterium der Wahrheit muss an einer Stelle gesucht werden, an der wir der Wirklichkeit Auge in Auge gegenüberstehen und sie in ihrem An-sich-Sein erfassen. Stroud formuliert diesen Gedanken so, dass er sagt, dass wir, um angeben zu können, ob unser Denken mit der Wirklichkeit übereinstimmt, eine Beschreibung der Wirklichkeit benötigen, so wie sie unabhängig von unserem Denken ist. Stroud schreibt:

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»But even if we had one [an accurate account of how we actually think] it would not be enough to reveal the metaphysical point. We would also need a conception of what the world is really like on its own, independent of all human thoughts and responses. Only then could we appreciate the relation between the way we think things are in our thoughts […] and the way things really are.« 13

Wir benötigen, so sagt Stroud hier, eine Beschreibung der Wirklichkeit, wie sie wirklich für sich ist, unabhängig von allen menschlichen Gedanken und Antworten. Die erste Enttäuschung, in die uns Stroud anhand seiner Überlegungen führt, ist, dass wir feststellen müssen, dass es eine solche Beschreibung nicht gibt. Es gibt keine Stelle, an der sich uns die Wirklichkeit, so wie sie an und für sich ist, offenbart. Alles Wahrnehmen von etwas ist Wahrnehmen von etwas, alles Denken von etwas ist Denken von etwas und wir können diese unsere Wahrnehmung oder unser Denken nicht verlassen, um das, was wahrgenommen oder gedacht wird, unabhängig vom Wahrnehmen oder Denken zu erfassen. Diese Einsicht macht er gleich zu Beginn seines Buches »Engagement and Metaphysical Dissatisfaction« 14 deutlich und er schreibt sie Kant zu. Der Beginn unserer Untersuchung müssen unsere Gedanken und unsere Wahrnehmung sein. Die einzige Weise, Metaphysik zu betreiben, ist, so meint Stroud, »Metaphysik von innen«. 15 Damit stellt Stroud eine Weichenstellung für seine weiteren Überlegungen. Womit er sich nun im weiteren Verlauf seines Buches beschäftigt, ist die Gesetzeserkenntnis. Wenn es keine Stelle gibt, an der wir der Wirklichkeit unvermittelt gegenübertreten können, dann folgt daraus, dass wir die Erkenntnis der Wahrheit nicht mehr in diesen oder jenen für sich bestimmten »Eigenschaften« zu suchen haben. Das kann mit Erkenntnis gar nicht gemeint sein. Was Erkenntnis lediglich bedeuten kann, ist die Erkenntnis gesetzmäßiger Zusammenhänge. Im ersten Kapitel beschreibt Stroud diesen Übergang am Beispiel der Erkenntnis des Schönen. Die Frage ist hier: Was bedeutet es zu sagen, dass Schönheit im Auge des Betrachters liegt? Inwiefern kann ein Zusammenhang, also der Zusammenhang zwischen dem Schönen und dem Auge des Betrachters, das Objekt der Erkenntnis sein? Wenn wir davon sprechen, dass etwas schön sei, dann kann nur die Beziehung von etwas auf etwas anderes, also in diesem Fall auf den Menschen, gemeint sein. Unabhängig von solchen Zusammenhängen von etwas »Schönem« zu sprechen, macht gar

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Stroud, Engagement and metaphysical dissatisfaction, S. 9. Ebd. Vgl. ebd., S. 7.

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keinen Sinn. Was wir erkennen können, sind nicht die Dinge an sich, sondern lediglich die Relationen zwischen den Dingen. Das ist eine erste Weise, die Relativität der Erkenntnis zu proklamieren. Die Erkenntnis ist in diesem Sinne relativ, insofern als sie es nicht direkt mit den Dingen zu tun hat, sondern mit den Relationen, die zwischen den Dingen bestehen. Man kann Strouds »Engagement and Metaphysical Dissatisfaction« nun so lesen, dass er nach dem Status der Gesetzeserkenntnis fragt. In welchem Sinn ist es möglich, von der Gesetzeserkenntnis als einer objektiven Erkenntnis zu sprechen? Grundsätzlich gibt es zwei unterschiedliche Möglichkeiten, die Frage nach der Objektivität der Gesetzeserkenntnis zu beantworten, die wir grob als die empirische und als die rationalistische Möglichkeit bezeichnen können. Historisch betrachtet weisen Empirismus und Rationalismus an dieser Stelle, über ihre erklärte Gegensätzlichkeit hinaus, eine überraschende Übereinstimmung auf. Denn sie stimmen darin überein, dass wenn es so etwas wie objektive Erkenntnis gibt, diese dann in der Erkenntnis von Gesetzen zu suchen sei. Wenn Berkeley sagt, dass die Erkenntnis von Gegenständen in der Erkenntnis von Gesetzen besteht, so scheint er, schaut man nicht auf die Begründung dieser Aussage, in unmittelbarer Nähe zu Leibniz verortet werden zu müssen. 16 Wie begründet der Empirismus die Objektivität der Gesetzeserkenntnis? Der Empirist argumentiert, dass die Gesetze der Erfahrung aus der Erfahrung gewonnen werden können. Was uns unmittelbar gegeben ist, ist zwar nur ein punktuelles Hier und Jetzt, aber die Erfahrung zeigt uns, dass bestimmte Erfahrungen häufig oder immer gemeinsam auftreten. Wenn wir also wiederholt die Erfahrung machen, dass Erfahrung a gemeinsam mit Erfahrung b auftritt oder dieser folgt, so können wir dadurch auf einen gesetzlichen Zusammenhang zwischen Erfahrung a und Erfahrung b schließen. Der Empirist meint also nicht, dass wir den Zusammenhang der Erfahrung unmittelbar wahrnehmen. Von Relationen gibt es keine sinnliche Erkenntnis. In diesem Sinne unterscheidet sich ein Empirist von einem Sensualisten, der die sinnliche Erfahrbarkeit der Gesetze selbst postuliert. Berkeley bezeichnet die Schwierigkeit, dass der Zusammenhang der Erfahrung nicht direkt wahrnehmbar ist, als Paradox des Sensualismus. Dieses Paradox beschreibt er beispielsweise so: »Nun ist klar […], daß Entfernung ihrer eigenen Natur nach unwahrnehmbar ist, und doch wird sie durch den Gesichtssinn wahrgenommen.« 17 Die Schwierigkeit besteht für den Empiristen also darin zu erläutern, wie wir Wissen von Vgl. dazu Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit: Zweiter Band. [1907], ECW 3, S. 242. 17 George Berkeley, »Versuch über eine neue Theorie des Sehens«, in: ders., Versuch über 16

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gesetzlichen Zusammenhängen haben können, wenn diese selbst unmittelbar nicht sinnlich wahrnehmbar sind. Berkeley antwortet auf diese Schwierigkeit, indem er sagt, dass der Mensch durch Gewohnheit lernt, disparate Sinneseindrücke aufeinander zu beziehen. Wenn verschiedene Sinnesdaten häufig gemeinsam oder sukzessiv auftreten, so reicht irgendwann einer der Reize aus, um den anderen Reiz zu suggerieren. Oder aber: Eine Ähnlichkeit, die zwischen zwei disparaten Reizen besteht, führt dazu, dass die Darbietung des einen Reizes den vergangenen Reiz ins Bewusstsein zurückholt. Ursprünglich getrennte und selbständige Sinnesdaten werden miteinander verbunden. Dies bezeichnet man auch als »Assoziation«: Assoziation bedeutet die »Vergesellschaftung, Verknüpfung, Verschmelzung, Assimilation mehrerer seelischer Inhalte (Vorstellungen, Gefühle usw.)«. 18 Berkeley argumentiert, dass wir durch Assoziation etwas sehen können, was ursprünglich sinnlich nicht wahrnehmbar ist. Es klingt wie eine Reformulierung des Paradoxes des Sensualismus, wenn Stroud das Folgende schreibt: »Whatever might seem to count in favor of the idea that we cannot perceive instances of causal dependence, it has very implausible, not to say disastrous, consequences that have not been squarely faced. If we never perceived causal connections between things, or never perceived that things are causally connected, we could never see a stone break a window or see one billiard ball knock another ball into a pocket. Nor could we ever see that the second ball went into the pocket because the first one hit it. We would never see a person push a door open, or closed, and never see anyone pick up a knife or fork – or do anything else, for that matter.« 19

Stroud legt hier nahe, dass eine Theorie der menschlichen Wahrnehmung erläutern können muss, warum wir Zusammenhänge wahrnehmen. Eine Auffassung, die suggeriert, dass wir nur isolierte Sinnesdaten wahrnehmen, widerspricht unserer alltäglichen Erfahrung und unserem Reden über unsere alltägliche Erfahrung. Stroud erörtert darauffolgend auch die Antwort des Empirismus. Diese ist unbefriedigend, so argumentiert Stroud, weil wir, wenn unser Wissen von Erfahrungszusammenhängen auf wiederholter Erfahrung beruht, immer nur eine neue Theorie des Sehens und Die Theorie des Sehens oder der visuellen Sprache … verteidigt und erklärt (Hamburg: Felix Meiner Verlag 1987), S. 1–93, hier: S. 15. 18 K. H. Stäcker, »Assoziation«, in: Joachim Ritter; Karlfried Gründer; Gottfried Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1 (Basel: Schwabe & Co AG 1971 ff.), S. 548–553, hier: S. 551. 19 Stroud, Engagement and metaphysical dissatisfaction, S. 23.

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sagen können, was meistens oder bis zu diesem Zeitpunkt der Fall war. Wir können aber keine Aussagen darüber treffen, was notwendigerweise der Fall ist. In Strouds Worten: Wir haben keine Erklärung dafür, warum etwas passiert. Es ist etwas anderes zu sagen, dass Erfahrung a meistens oder immer mit Erfahrung b auftritt, oder diesen Zusammenhang mit Verweis auf ein Gesetz zu erklären. 20 Der Versuch des Empirismus, die Objektivität der Gesetzeserkenntnis zu begründen, scheitert, weil wir aus der Erfahrung keine Aussagen über notwendige Zusammenhänge herauslesen können. Eine Erfahrung mag noch so oft mit einer anderen Erfahrung gekoppelt sein, dies bedeutet noch lange nicht, dass es sich nicht schon im nächsten Fall anders verhalten kann. Stroud sucht dementsprechend nach anderen Wegen, die Objektivität der Gesetzeserkenntnis zu begründen. Er bespricht als Alternative einen Vorschlag, den er Kant zuschreibt. Meines Erachtens können wir den Vorschlag, den Stroud im Namen von Kant macht, auch als die rationalistische Variante, die Objektivität der Gesetzeserkenntnis zu begründen, lesen. Da es aber nicht auf einen Streit der Worte ankommt, ist es lediglich wichtig zu betonen, dass es auch andere Lesarten von Kant gibt, die uns im Folgenden auch begegnen werden. Um die verschiedenen Lesarten Kants voneinander abgrenzen zu können, können wir in Anschluss an die Terminologie von Conant die Lesart Strouds als »schwachen Kantianismus« bezeichnen. Was ist die Auffassung des schwachen Kantianers? Der Gedanke ist, dass die Objektivität der Gesetzeserkenntnis darin gründet, dass es notwendige Formen des Denkens gibt. 21 Der Gedanke, den Stroud Kant zuschreibt, ist der folgende: Eine mögliche Antwort auf das metaphysische Problem besteht darin, notwendige Formen des Denkens auszuweisen. Notwendige Formen des Denkens sind solche, die das Denken qua Denken aufweist. Wenn jemand denkt, dann denkt er auf diese Weise. Dies ist die naheliegende Auffassung, nachdem wir erkannt haben, dass das Wissen um Gesetze nicht aus der Erfahrung gewonnen werden kann, und wir dennoch über dieses Wissen zu verfügen meinen und es irgendwie begründen wollen. Der gesetzliche Zusammenhang, nach dem wir fragen, hat seinen Grund nicht in den Sinnen, sondern im Denken. Wir sahen, dass das Paradox des Sensualismus darin besteht, dass etwas wahrgenommen wird und dennoch nicht in dem liegt, was im eigentlichen Sinne wahrgenommen werden kann. Denn eigentlich wahrgenommen werden kann nur ein punktuelles Hier und Jetzt. Der Empirismus antwortet auf dieses 20 21

Vgl. ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 126.

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Problem, indem er sagt, dass die Assoziation dazu führt, dass etwas wahrgenommen werden kann, was eigentlich nicht wahrgenommen werden kann. Wir können die Auffassung des Rationalisten so beschreiben, dass auch er auf das Paradox des Sensualismus reagiert. Nur führt er die Möglichkeit, etwas Unsinnliches wahrzunehmen, nicht auf die Kraft der Assoziation zurück, sondern auf eine spezifische Leistung des Geistes. Es gibt für den Rationalisten eine »inspectio mentis«. Das bekannteste Beispiel, das Descartes gebraucht, um diese Auffassung zu erläutern, ist wohl das Wachs-Beispiel. Ein Stück Wachs mag alle sinnlichen Merkmale verändern, beispielsweise die Farbe, den Geruch, die Konsistenz, wobei die möglichen Veränderungen der sinnlichen Eigenschaften des Wachses unbegrenzt sind. Trotzdem erkennen wir in diesem Wechsel der sinnlichen Merkmale dasselbe Stück Wachs. Diese Identität des Wachses, die es in dem unendlichen Wechsel der sinnlichen Merkmale beibehält, muss einen Grund haben, der offenbar nicht in den sinnlichen Merkmalen selbst liegen kann. 22 Descartes schreibt: »[…] während ich das sage, wird es [das Wachs] dem Feuer nahegebracht, die Überreste des Geschmacks werden herausgeläutert, der Duft erlischt, die Farbe verändert sich, die Gestalt wird vernichtet, die Größe wächst, es wird flüssig, es wird warm, man kann es kaum mehr berühren […] Bleibt denn noch immer dasselbe Wachs zurück? Es ist zuzugestehen, daß es zurückbleibt, niemand leugnet es; niemand glaubt es anders. Was war es also in ihm, das so deutlich erfaßt wurde? Sicherlich nichts von dem, was ich mit den Sinnen berührte, denn was auch immer unter den Geschmack, den Geruch, das Gesicht, das Getast oder das Gehör fiel, ist jetzt verändert: das Wachs bleibt zurück.« 23

Der »Gegenstand«, so sagt Descartes hier, kann nicht allein durch die Sinne erfasst werden. Das Bleibende, Beharrende in allem Wechsel der sinnlichen Eindrücke wird durch den Geist erfasst: »Es bleibt mir also nur übrig zuzugeben, daß ich, was dieses Wachs ist […] allein im Geist ergreife.« 24

Was wir mit den Sinnen zu sehen vermeinen, dieses Stück Wachs beispielsweise, sehen wir eigentlich nicht mit den Sinnen, sondern mit dem Geist. Wahrnehmen ist für Descartes damit urteilen: Vgl. dazu auch Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit: Erster Band. [1906], ECW 2, S. 405. 23 René Descartes, Meditationen über die erste Philosophie (Hamburg: Felix Meiner Verlag 1956), S. 51. 24 Ebd., S. 53. 22

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»[…] so begreife ich das, was ich mit den Augen zu sehen meinte, allein durch das Vermögen zu urteilen, das in meinem Geist ist.« 25

Wir müssen die Argumentation Descartes’ an dieser Stelle nicht im Einzelnen verfolgen. Wichtig ist vielmehr festzuhalten, dass für Descartes der Wahrnehmungsakt zu einem Urteilsakt wird. Etwas mit den Sinnen zu sehen, also beispielsweise ein Stück Wachs, beinhaltet einen »Einblick des Geistes« 26. Dieser »Einblick des Geistes« besteht darin, dass der Geist über »eingeborene Ideen« 27 verfügt, die er auf das sinnlich Gegebene anwendet. Die eingeborene Idee der Substanz ermöglicht es beispielsweise, in der Mannigfaltigkeit der wechselnden sinnlichen Eindrücke etwas Beharrliches zu »sehen«. Stroud meint nun, dass auch diese Position, die er Kant zuschreibt und die ich in Hinblick auf Descartes erläutert habe, die Objektivität der Erkenntnis nicht begründen kann. Warum sollte daraus, dass wir notwendigerweise auf bestimmte Weise denken, folgen, dass die Welt diesen Formen des Denkens entspricht? Stroud formuliert seine Skepsis folgendermaßen: »If it is established that thinkers must think of the world in certain ways, can we infer that the world must be the ways those thinkers think it is? It is not true in general that if someone thinks something is true then what he thinks is true. Even if there is something that everyone thinks, it does not follow that it is true. Nor does the truth of something follow from the fact that everyone has to think it, or cannot avoid thinking that it is true. How, then, can the stronger Kantian conclusion about what the world is like be reached by necessary steps from weaker claims about how people must think the world is? This is a huge, complicated problem.« 28

Stroud versteht unter Wahrheit – wir erinnern uns – die Übereinstimmung des Denkens mit einer vom Denken unabhängig gegebenen Wirklichkeit. Auch wenn alle Menschen notwendigerweise auf bestimmte Weise denken müssen, so folgt daraus noch lange nicht, so erläutert Stroud an dieser Stelle,

Ebd., S. 55. Vgl. ebd., S. 53 und 55. 27 Vgl. ebd., S. 65. Der Begriff der »eingeborenen Idee« hat bei Descartes oszillierende Bedeutung. Einerseits legt Descartes Wert darauf, dass »eingeborene Ideen« eine Tätigkeit und Aktivität des Geistes bezeichnen, andererseits wird unter einer »eingeborenen Idee« aber auch eine passive Bestimmtheit des Geistes aufgefasst. Cassirer argumentiert, dass dieser schwankende Begriffsgebrauch Ausdruck davon ist, dass Descartes seinen eigenen Grundgedanken, dass die Selbsttätigkeit des Geistes Bedingung und Voraussetzung der objektiven Wirklichkeit ist, nicht konsequent durchführt. Vgl. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit: Erster Band, ECW 2, S. 417. 28 Stroud, Engagement and metaphysical dissatisfaction, S. 134. 25 26

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dass unser Denken mit der vom Denken unabhängig gegebenen Realität übereinstimmt. Auch wenn wir notwendige Weisen des Denkens aufweisen können, so folgt daraus nicht die Objektivität der Erkenntnis. Wir stehen vor einem komplizierten Problem. Damit führen Strouds Überlegungen zu dem Schluss, dass derjenige, der von subjektiven Vorstellungen ausgeht und von hier aus versucht, den Weg zum Objekt zu finden, dieses Objekt nicht finden kann. »Aus diesem ehernen Ring«, um eine Formulierung von Nicolai Hartmann aufzugreifen, »dem »Zirkel des Denkens«, kommt das Bewusstsein bei aller Objektivität des Gedachten nicht heraus. Es bleibt ewig in sich gefangen, auf die Welt seiner Setzungen und Vorstellungen allein angewiesen.« 29 Wir haben zwei Weisen besprochen, die Objektivität der Gesetzeserkenntnis zu begründen: Die empiristische Variante und die rationalistische bzw. die des schwachen Kantianers. Beide Weisen können dem skeptischen Zweifel nicht entgehen. Sie können uns der Übereinstimmung unseres Denkens mit einer vom Denken unabhängig gegebenen Wirklichkeit nicht versichern. Es zeichnet Strouds Arbeiten aus, dass er bei dieser Diagnose nicht stehenbleibt. Er fragt weiter, was es für das metaphysische Projekt, das darin besteht, die Übereinstimmung unseres Denkens mit der unabhängigen Wirklichkeit zu erweisen, bedeuten würde, wenn wir beweisen könnten, dass es notwendige Formen des Denkens gibt. Stroud ist sich zwar nicht sicher, ob es wirklich notwendige Formen des Denkens gibt, wie der Rationalist oder der schwache Kantianer behaupten würden, aber er interessiert sich für die Schlussfolgerungen, zu denen wir gezwungen wären, müssten wir notwendige Formen des Denkens anerkennen. 30 Er kommt zu dem Schluss, dass wir nicht nur die Objektivität der Gesetzeserkenntnis nach wie vor anzweifeln müssten, sondern vielmehr erkennen müssten, dass das metaphysische Projekt selbst unmöglich ist. Der Aufweis notwendiger Formen des Denkens kann gar keine Antwort auf die Frage nach einem Kriterium der Wahrheit sein, denn in Wirklichkeit würde dieser Aufweis die Zerstörung des metaphysischen Problems bedeuten. Diese Zerstörung des metaphysischen Projekts können wir uns daran verdeutlichen, dass es für das Unternehmen, wie Stroud es durchführt, wesentlich ist, dass wir von unserem Denken Abstand nehmen können. Das metaphysische Unternehmen erfordert eine reflektierte Haltung unserer Auffassung der

Nicolai Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis [1921] (Berlin: Walter de Gruyter 1965), S. 62. 30 Vgl. Stroud, Engagement and metaphysical dissatisfaction, S. 136. 29

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Welt gegenüber. 31 Es handelt sich um eine »meta-reflection« 32. Denn was wir mit der metaphysischen Frage befragen, ist die Güte unseres Denkens. Wir müssen in Distanz zu unserem Denken treten können, damit wir dieses Denken bewerten können. Wir müssen nicht nur die Wirklichkeit beschreiben, wie sie an und für sich, unabhängig von jedem Denken, ist. Wir müssen auch das Denken beschreiben können, wie es unabhängig von seinem Gedacht-Werden ist. Wenn wir sowohl über eine Beschreibung der Wirklichkeit als auch eine Beschreibung des Denkens verfügen, wie es unabhängig von allem GedachtWerden besteht, so können wir beides miteinander vergleichen und Auskunft darüber erteilen, ob beides miteinander übereinstimmt oder nicht. Genau diese Einnahme von Distanz ist aber unmöglich, wenn es notwendige Formen des Denkens gibt. Das sehen wir daran, dass auch das Denken über das Denken, insofern als es notwendige Formen des Denkens gibt, diesen Formen unterworfen ist. Jeder Zweifel, der sich gegen die notwendigen Formen des Denkens richtet, wäre selbst eine Instanziierung dieser Formen und würde sie damit durch sich selbst bestätigen. Metaaussagen über das Denken wären nicht möglich. Stroud schreibt: »If we can never detach ourselves even temporarily from our acceptance of indispensable beliefs of those kinds, we could not subject them to the kind of scrutiny that an impartial metaphysical assessment of their relation to reality would seem to require.« 33

Wenn es notwendige Formen des Denkens gibt, dann ist es unmöglich, sich von diesen Formen zu distanzieren, weil jede Einnahme von Distanz die Formen selbst und das, was durch sie erkannt wird, wieder bestätigen würde. Wenn es also notwendige Formen des Denkens gibt, so sagt Stroud hier, dann ist es unmöglich, das metaphysische Unternehmen durchzuführen. Denn wenn es notwendige Formen des Denkens gibt, dann können wir nicht anders, als sie unablässig zu bestätigen. Eine Kritik des Denkens wäre damit ausgeschlossen. Wenn es notwendige Formen des Denkens gibt, dann liegen diese Formen außerhalb der metaphysischen Fragestellung. Sie sind »metaphysisch unangreifbar«. 34

Vgl.: »However much we come to know or think we know about the world it is possible and sometimes desirable to try to stand back from it and take a more reflective attitude toward our conception of the way things are.« Ebd., S. 3. 32 Ebd., S. 5. 33 Ebd., S. 140. 34 Vgl.: »Beliefs that have to be accepted by anyone who is faced with a metaphysical question about their status would be metaphysically invulnerable.« ebd., S. 146. 31

Dogmatische Metaphysik

Wenn es also notwendige Formen des Denkens gibt, dann folgt daraus eine doppelte Enttäuschung. Die erste Enttäuschung besteht darin, dass auch der Nachweis notwendiger Formen des Denkens uns keine Sicherheit darüber geben kann, dass unser Denken mit der vom Denken unabhängig gegebenen Wirklichkeit übereinstimmt. Die zweite und radikalere Enttäuschung ist die, dass wir mit dem Nachweis notwendiger Formen des Denkens gar nicht mehr danach fragen können, ob unser Denken mit der unabhängig gegebenen Wirklichkeit übereinstimmt oder nicht. Denn wir könnten gar nicht anders, als zu denken, dass die Welt so ist, wie wir sie denken. Strouds Arbeit ist wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass er es lediglich für eine Annahme hält, dass es notwendige Formen des Denkens gibt. 35 Gleichzeitig argumentiert er, dass es die Frage nach der Übereinstimmung zwischen Denken und Wirklichkeit nur dann geben kann, wenn es Aussagen über das Denken gibt. Stroud geht also davon aus, dass es Aussagen über das Denken geben kann auch dann, wenn es keine notwendigen Formen des Denkens geben würde. Was aber sind Aussagen über das Denken, wenn es keine Aussagen über notwendige Formen des Denkens sind? Handelt es sich dann um Aussagen über diesen und jenen Denkakt? Haben wir es, wenn wir Aussagen über das Denken treffen, mit einer empirischen Untersuchung über unser Denken zu tun? Strouds Überlegungen legen dies nahe. Denn er versteht das, was Denken ist, als einen Teilbereich der Wirklichkeit. Das sehen wir beispielsweise daran, dass er das Denken als zeitliches Ereignis auffasst. Denken fängt zu einer bestimmten Zeit an und hört irgendwann wieder auf. Beispielsweise bricht das Denken Descartes’ zum Zeitpunkt seines Todes ab. Und auch in Hinblick auf die Evolutionsgeschichte können wir sagen, dass das Denken mit dem Auftreten des Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt in die Wirklichkeit eintrat. Denken ist damit für Stroud kein notwendiger Teil der Wirklichkeit, sondern ein kontingenter. 36 Wenn aber Denken ein Teil der Wirklichkeit ist, dann ist nicht klar, wie sich die Frage, wie das Denken erfasst werden kann, von der Frage unterscheidet, wie die Wirklichkeit erfasst werden kann. Wir wollen, um bestimmen zu können, ob unser Denken mit der unabhängig gegebenen Wirklichkeit übereinstimmt, das Denken erkennen. Dieses Erkennen ist gemäß der Auffassung Vgl. bspw.: »The first step involves a strong claim of absolute indispensability of certain determinate ways of thinking, and it would take strong argument to prove it.« ebd., S. 133. An vielen Stellen spricht Stroud auch im Konjunktiv über die notwendigen Formen des Denkens, beispielsweise: »If it is established that thinkers must think of the world in certain ways […].« Ebd., S. 133 f. 36 Ebd., S. 127; 131. 35

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Bedeutung und Wirklichkeit

Strouds das Erkennen eines Teils der Wirklichkeit. Die Probleme, die sich für das Erkennen der Wirklichkeit ergaben, müssen dementsprechend auch für das Erkennen des Denkens gelten. Insbesondere gilt, dass wir analog zu der Frage nach der Übereinstimmung zwischen Denken und Wirklichkeit nach der Übereinstimmung von Denken und dem Denken-des-Denkens fragen müssen. Was versichert uns, dass wir in unserem Denken über das Denken das Denken richtig erfassen? Was rechtfertigt unsere Annahme, dass unser Denken über das Denken mit unserem Denken übereinstimmt? Wenn wir etwas über diese Übereinstimmung aussagen wollen, landen wir in einem Regress. Wenn Denken ein Teil der Wirklichkeit ist, dann ist auch das Denken über das Denken ein Teil der Wirklichkeit. Wenn wir also eine Aussage darüber treffen wollen, ob unser Denken über das Denken mit dem Denken übereinstimmt, müssen wir beide durch einen weiteren Denkakt vergleichen. Dieser Denkakt, der feststellen soll, ob das Denken des Denkens dem Denken entspricht, wäre selbst wieder ein Teil der Wirklichkeit, und um feststellen zu können, ob er mit dem Denken-des-Denkens übereinstimmt, bräuchten wir einen weiteren Denkakt und so ad infinitum. Wenn Denken ein Teil der Wirklichkeit ist, dann sind keine Aussagen über das Denken möglich. Denn jedes Denken über das Denken müsste als solches überprüft werden. Wenn also das Denken ein Teil der Wirklichkeit ist, dann kann es die Frage, ob unser Denken mit der unabhängig gegebenen Wirklichkeit übereinstimmt oder nicht, nicht geben, weil wir keine Aussagen über das Denken treffen können. Dies ist aber, wie wir sahen, eine Voraussetzung des metaphysischen Projekts, wie Stroud es versteht. Wenn es Aussagen über das Denken gibt, dann folgt daraus, dass weder Denken noch das Denken-des-Denkens Teilbereiche der Wirklichkeit sind. Das Verhältnis zwischen Denken und Denken-des-Denkens ist von Verhältnissen zu unterscheiden, die innerhalb der Wirklichkeit vorliegen. Aussagen über das Denken erfordern, wie Theodor Litt es in seiner »Einleitung in die Philosophie« prägnant formuliert, eine Wendung der Blickrichtung: »Denn mit einer unentrinnbaren Notwendigkeit fordert jede Gegenstandswelt, man mag sie ausweiten soviel man will, als Gegenglied das Denken, das an ihr seinen Gegenstand »hat«. Immer wieder weigert sich das Denken, als »Gegenstand unter Gegenständen« sich einregistrieren zu lassen. Immer wieder springt das Denken, das man in die Fläche der Gegenständlichkeit hinübergezwungen zu haben vermeint, in die dieser Fläche polar zugeordnete Gegenposition zurück. Immer wieder wird deshalb die Blickwendung gefordert, die jene Gegenposition als solche sichtbar werden läßt.« 37 37

Theodor Litt, Einleitung in die Philosophie (Stuttgart: Ernst Klett 1949), S. 7.

Die kopernikanische Wende

Das Denken zu erfassen, so formuliert es Litt hier, erfordert es, die Gegenposition zur Wirklichkeit zu erfassen. Die Erfassung des Denkens ist von der Erfassung eines Teilbereichs der Wirklichkeit zu unterscheiden. Der Widerspruch, der innerhalb von Strouds Argumentation auftritt, ist der Folgende: Stroud muss annehmen, dass es keine notwendigen Formen des Denkens gibt. Denn diese wären »metaphysisch unangreifbar« und würden es damit verunmöglichen, nach der Übereinstimmung zwischen Denken und unabhängig gegebener Wirklichkeit zu fragen. Andererseits muss Stroud annehmen, dass es notwendige Formen des Denkens gibt, denn ansonsten wäre nicht klar, wovon Aussagen über das Denken handeln. Die doppelte Enttäuschung, durch die uns Stroud führt, ist dementsprechend, dass wir weder feststellen können, ob unser Denken mit einer vom Denken unabhängig gegebenen Wirklichkeit übereinstimmt, noch ob unser Denken über das Denken mit unserem Denken übereinstimmt. Wir wissen nicht, was wir denken.

1.2 Die kopernikanische Wende

Die dogmatische Metaphysik geht davon aus, dass Wahrheit eine Frage der Übereinstimmung zwischen Denken und unabhängig gegebener Wirklichkeit ist. Das Objekt der Erkenntnis liegt außerhalb der Erkenntnis. Aufgabe der Erkenntnis ist es demnach, eine Brücke vom Subjekt zum Objekt der Erkenntnis zu schlagen. Die kopernikanische Wende bezeichnet eine neue Auffassung von der Aufgabe der Erkenntnis, indem sie den Gedanken einer vom Denken unabhängig gegebenen Wirklichkeit aufgibt. Damit stellt uns die kopernikanische Wende vor die Herausforderung, den Begriff der Wahrheit, der Wirklichkeit und des Denkens neu zu bestimmen. Bislang sind wir der Auffassung gefolgt, dass wir von einer vom Denken unabhängig gegebenen Wirklichkeit ausgehen müssen, damit wir den Begriff des Denkens überhaupt bilden können. Denken und Wirklichkeit müssen voneinander unterschieden sein, damit das Denken in der Wirklichkeit sein Maß und seine Richtschnur finden kann. Auch die neue Auffassung von der Grundfunktion der Erkenntnis, die durch den Begriff der kopernikanischen Wende bezeichnet werden kann, darf nicht dazu führen, dass Denken und Wirklichkeit dem Begriff nach in eins fallen. Denken, daran müssen wir festhalten, ist von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Zu denken, dass p, ist etwas anderes, als dass p der Fall ist. Wie aber ist dieser Unterschied zwischen Denken und Wirklichkeit zu verstehen, wenn wir den Gedanken einer unabhängig gegebenen Wirklichkeit aufgeben? Wie kann die Wirklichkeit vom Denken abhängig sein, ohne dass wir damit

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Bedeutung und Wirklichkeit

den Gedanken eines Maßstabes und einer Richtschnur für das Denken verlieren? Leugnen wir damit nicht die Möglichkeit der Erkenntnis? Eine Antwort auf die Frage, wie die kopernikanische Wende zu verstehen ist, finden wir bei Ernst Cassirer. Cassirer bietet uns eine Interpretation Kants an, die es uns erlaubt zu verstehen, wie es möglich ist, dass Denken und Wirklichkeit zwar einerseits streng korrelativ aufeinander bezogen sind, andererseits aber auch voneinander unterschieden sind. Um die Lesart Kants, die Cassirer vorschlägt, von der abzugrenzen, die uns zuvor begegnet ist, bezeichne ich Cassirer als einen »starken Kantianer«. Die starke Lesart Kants besagt, dass Kant nicht einfach eine weitere Antwort auf die Frage gibt, wie wir uns von der Übereinstimmung zwischen Denken und Sein überzeugen können. Vielmehr müssen wir gemäß dem starken Kantianer begreifen, dass Kant eine ganz neue Frage stellt. »Die Wandlung und Umgestaltung«, so interpretiert Cassirer Kants Anliegen, »greift tiefer: Sie betrifft nicht die Antwort der Metaphysik, sondern ihren eigenen Begriff und ihr Grundproblem. Ihr Weg muß ein anderer werden, weil ihr Ziel an eine andere Stelle gerückt ist – weil der ›Gegenstand‹, den sie erkennen will und nach dem sie ›sich richtet‹, sich verschoben hat. Und diese Verschiebung bedeutet etwas anderes und etwas Radikaleres, als daß der Gegenstand gleichsam nur seinen Ort in dem übrigens festen Denkraum geändert hätte; sie betrifft vielmehr die Verfassung und Struktur dieses Denkraums als solchen; sie enthält eine neue Ansicht […] von der Natur und Aufgabe, von der Grundfunktion der Erkenntnis selbst.« 38

Cassirer sagt hier, dass die Funktion der Erkenntnis auch nach der kopernikanischen Wende Kants darin bestehe, einen Gegenstand zu erkennen. Er sagt auch, dass der Gegenstand nach wie vor die Richtschnur für das Erkennen bildet. Aber dieser Gegenstand, nach dem sich die Erkenntnis richtet, hat sich nun verschoben.Worin besteht diese Verschiebung? Negativ sagt Cassirer, dass die Verschiebung mehr bedeute als die Verschiebung innerhalb eines im Übrigen festen Denkraums. Wie können wir diesen Gedanken positiv erfassen? Cassirer sagt, um diesen Gedanken positiv zu fassen, dass der Ausgangspunkt unserer metaphysischen Überlegungen das Phänomen der Erkenntnis sein muss. Das bedeutet insbesondere, dass wir von keiner Wirklichkeit ausgehen dürfen, die neben oder über der Erkenntnis steht. Es wäre eine »Belastung« der Beschreibung des Phänomens der Erkenntnis, würden wir von einem Sein neben der Erkenntnis sprechen. 39 Wenn wir diesen Ausgangspunkt – das 38 39

S. 69.

Cassirer, »Kant und das Problem der Metaphysik«, S. 221. Cassirer, »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie«,

Die kopernikanische Wende

Phänomen der Erkenntnis – wählen, dann müssen wir aufhören, nach einem Sein zu fragen und zu suchen, das jenseits der Erkenntnis liegt. Die einzige Frage, die wir stellen können, ist, wie die Erkenntnis in sich selbst den Begriff der »Wirklichkeit« und des »Denkens« bildet, »aus welchen Gesichtspunkten und welcher Notwendigkeit heraus das Wissen selbst zu diesen Scheidungen gelangt«. 40 Wir sahen zuvor, dass Stroud seine metaphysische Untersuchung mit der Feststellung beginnt, dass es lediglich eine »Metaphysik von innen« geben kann. Das Einzige, was wir haben, sind unsere Gedanken und Wahrnehmungen. Einen direkten Kontakt zur Wirklichkeit haben wir nicht. Ist dies derselbe Ausgangspunkt, den auch Cassirer bezeichnet, wenn er sagt, dass wir mit dem Phänomen der Erkenntnis beginnen müssen? Das ist nicht der Fall. »Metaphysik von innen« bezeichnet einen anderen Ausgangspunkt für die metaphysischen Überlegungen als »Phänomen der Erkenntnis«. Hier ist ein Zitat, in dem Cassirer den Ausgangspunkt einer »Metaphysik von innen« ablehnt: »Vom Standpunkt dieser Voraussetzungen [der gewöhnlichen metaphysischen Voraussetzungen] ist es das Subjekt, sind es die Vorstellungen in uns, die uns anfangs allein gegeben sind und von denen wir uns erst mühsam den Zugang zur Welt der Objekte zu bahnen haben. Die Geschichte der Philosophie lehrt indes, wie alle Versuche, die in dieser Hinsicht unternommen werden, versagen: Haben wir uns einmal in den Kreis des ›Selbstbewußtseins‹ eingeschlossen, so kann keine Bemühung des Denkens, die ja selbst vollständig diesem Kreise angehört, uns wieder über ihn hinausführen.« 41

Mit dem Phänomen der Erkenntnis zu beginnen, bedeutet also nicht, mit unseren subjektiven Vorstellungen zu beginnen und nach einer Möglichkeit zu suchen, diese subjektiven Vorstellungen wieder zu verlassen. Mit dem Phänomen der Erkenntnis ist vielmehr ein Ausgangspunkt gewählt, der jenseits der Scheidung von Subjektivität und Objektivität liegt. 42 Wie ist Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff: Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik [1910], ECW 6, S. 293. 41 Ebd., S. 299 f. 42 Wunsch interpretiert Cassirers Ausgangspunkt anders: »Allerdings ist zu berücksichtigen, dass Cassirers gesamtes Philosophieren dem Immanenzgedanken verpflichtet ist, also einem Denken, das sich im Klaren darüber ist, dass uns als endlichen Wesen kein Standpunkt zur Verfügung steht, von dem aus bestimmt werden könnte, was etwa Materie, Raum, Geist etc. jenseits aller geistig-kulturellen Formen ist. Die Rede von all dem, so lässt sich dies auch ausdrücken, ist nur relativ zu einer Welt sinnvoll.« Matthias Wunsch, Fragen nach dem Menschen: Philosophische Anthropologie, Daseinsontologie und Kulturphilosophie (Frankfurt am Main: V. Klostermann 2014), S. 168 f. Meines Erachtens ist es nicht richtig zu sagen, dass Cassirers Philosophieren dem Immanenzgedanken verpflichtet ist. Wunsch legt in diesem 40

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Bedeutung und Wirklichkeit

das zu verstehen? Cassirer sagt, dass es Ausdruck »systematischer ›Vorurteile‹« 43 sei, von der ursprünglichen Trennung zwischen Denken und Wirklichkeit auszugehen. Er spricht auch von einem »verfehlten Ansatz des Erkenntnisproblems« 44. Was bedeutet das? Wie können wir diesen »verfehlten Ansatz des Erkenntnisproblems« korrigieren? Wir können uns verdeutlichen, worin dieser Ausgangspunkt für Cassirer besteht, wenn wir uns anschauen, auf welche Weise er den Unterschied zwischen Kant und den empiristischen bzw. rationalistischen Vorschlägen, ein Kriterium der Wahrheit zu bestimmen, expliziert. Wir sahen im letzten Kapitel, dass Empirismus und Rationalismus eine gemeinsame Grundannahme teilen. Diese Gemeinsamkeit habe ich so formuliert, dass ich sagte, dass sowohl der Empirismus als auch der Rationalismus auf das »Paradox des Sensualismus« reagieren. Das Paradox des Sensualismus – wir erinnern uns – besteht darin, dass das sinnlich Wahrgenommene einerseits in einem punktuellen Hier und Jetzt bestehen soll, wir aber andererseits mehr wahrnehmen als isolierte Sinneseindrücke. Dieses »mehr« führt der Empirist auf die Kraft der Assoziation zurück; der Rationalist auf die Kraft des Geistes. Für den Empiristen ist es die Assoziation, die es uns ermöglicht, Zusammenhänge zwischen disparaten Sinneseindrücken und damit beispielsweise Gegenstände wahrzunehmen. Für den Rationalisten ist es die »inspectio mentis«, sind es die eingeborenen Ideen, die uns den Zusammenhang disparater Sinneseindrücke sichtbar machen. Sowohl für den Empiristen als auch für den Rationalisten kommt also der Zusammenhang der Erfahrung zu den Sinneseindrücken nachträglich hinzu. Der Sinneseindruck wird als etwas vorgestellt, in dem »von allen Form- und Verknüpfungsmomenten prinzipiell abgesehen werden soll«. 45 Der Zusammenhang der Erfahrung ist eine additive Zutat. Dies ist der gemeinsame Nenner von Empirismus und Rationalismus. Cassirer schreibt: »So bewährt sich das Wort Descartes’, daß die Einheit des Objektiven, die Einheit der Substanz nicht in der Wahrnehmung, sondern nur in der Reflexion des GeisZitat nahe, dass es einen Standpunkt geben könnte, von dem aus bestimmbar wäre, was Materie, Raum, Geist etc. jenseits aller geistig-kulturellen Formen sind – nur eben nicht für uns endliche Wesen. Unsere Endlichkeit wird damit als eine Schranke aufgefasst, die uns von der Erkenntnis der Welt, wie sie unabhängig von all unseren geistig-kulturellen Formen ist, trennt. Wie ich zu zeigen suche, ist dies die Auffassung einer dogmatischen Metaphysik, die Cassirer ablehnt. 43 Cassirer, »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie«, S. 69. 44 Ebd., S. 72. 45 Cassirer, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, S. 47.

Die kopernikanische Wende

tes auf sich selbst, in der inspectio mentis erfaßt werden könne. Es ist der schärfste Gegensatz zur empiristischen Theorie der ›Assoziation‹, der sich in dieser Grundlehre des Rationalismus ausspricht – und doch ist auch hier die innere Spannung zwischen zwei grundverschiedenen Wesenselementen des Bewußtseins, zwischen seiner bloßen ›Materie‹ und seiner reinen ›Form‹, nicht aufgehoben. Denn der Grund für die Verknüpfung der Bewußtseinsinhalte wird auch hier in einer Tätigkeit gesucht, die irgendwie von außen her zu den einzelnen Inhalten hinzutritt.« 46

In diesem Gedanken aber, dass die Leistung des Bewusstseins, sei es als Kraft der Assoziation oder als »inspectio mentis«, additiv zu gegebenen Sinneseindrücken hinzukommt, liegt der Keim zur Skepsis beschlossen. Denn solange es etwas gibt, das außerhalb der Leistung des Bewusstseins und diesem als etwas Absolutes gegenübersteht, muss sich die Leistung des Bewusstseins diesem Gegebenen gegenüber skeptisch vernichten. Die Leistung des Bewusstseins muss als subjektiv und willkürlich erscheinen, denn nichts kann uns versichern, dass die Art der Zusammenhänge, die wir erkennen, den gegebenen Sinneseindrücken entspricht. Der starke Kantianer reagiert auf diese skeptischen Einwände, indem er die Skepsis auf den dogmatischen Gehalt richtet, der dem Paradox des Sensualismus zugrunde liegt. Die Skepsis wendet sich nun gegen das, was unter »sinnlichem Eindruck« verstanden wird. Cassirer schreibt: »Die einzige Rettung vor dem radikalen Zweifel liegt somit auch hier darin, daß er nicht beiseite geschoben, sondern vielmehr noch verschärft wird: daß wir nicht nur gegen die ›Dinge‹ und gegen die ›Gesetze‹, sondern vor allem auch gegen die Empfindungen selbst, als die angeblich letzten, an sich bekannten und für sich verständlichen Elemente des Wissens, fragen lernen.« 47

Wir retten uns vor der Skepsis, indem wir sie verschärfen. Wir fragen danach, ob es Erscheinungen gibt, die unabhängig von jeglichen Form- und Verknüpfungsmomenten bestehen. Damit liest der starke Kantianer Kant als jemanden, der gegen zwei »Gegner« gleichzeitig argumentiert – gegen den Rationalismus und gegen den Empirismus – indem er den gemeinsamen Nenner, den Empirismus und Rationalismus teilen, hinterfragt. 48

Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 37. Cassirer, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, S. 47. 48 Diese Lesart Kants wird heute beispielsweise von James Conant vertreten. Vgl. ders., »Die Einheit des Erkenntnisvermögens bei Kant«, in: Andrea Kern; Christian Kietzmann (Hrsg.), Selbstbewusstes Leben: Texte zu einer transformativen Theorie der menschlichen Subjektivität (Berlin: Suhrkamp 2017), S. 229–269, hier: S. 240. 46 47

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Und Cassirers Antwort auf diese Frage ist, dass die Vorstellung von Erscheinungen, die unabhängig von jeglichen Form- und Verknüpfungsmomenten bestehen, eine »Fiktion« sei. 49 Das Erste und Ursprüngliche, was uns gegeben ist, sind Erscheinungen, die aufeinander bezogen sind. Der Bezug kommt nicht nachträglich zu den Erscheinungen hinzu. Sondern indem etwas erscheint, ist es in ein Ganzes von Beziehungen eingeordnet. Außerhalb einer solchen Einordnung gibt es nichts: »Für uns jedenfalls steht fest, daß ›Sinnliches‹ und ›Sinnhaftes‹ uns rein phänomenologisch immer nur als ungeschiedene Einheit gegeben sind.« 50 Das Eingeordnet-Sein der Erscheinungen in ein Ganzes von Beziehungen fasst Cassirer also nicht als einen Makel oder Mangel der Erscheinungen auf. Es kann nicht das Ziel sein, Erscheinungen aus ihrem Bezug aufeinander herauszulösen, denn damit hätten wir aus der »Erkenntnis nicht einen Teil entfernt, sondern […] sie als Ganzes vernichtet«. 51 Damit vertritt Cassirer eine radikale Auffassung der Relativität aller Erkenntnis. Erkenntnis ist für Cassirer nicht relativ insofern, als nur die Beziehungen zwischen Elementen der Wirklichkeit erfasst werden könnten. Denn gemäß dieser Vorstellung bestehen die Elemente der Wirklichkeit noch als ein unerkannter Rest, den unsere Erkenntnis nicht erreichen kann. Die Relativität der Erkenntnis würde somit eine negative Schranke unseres Wissens bezeichnen. Demgegenüber argumentiert Cassirer, dass die Relation zwischen Denken und Wirklichkeit, zwischen »Sinnlichem« und »Sinnhaftem«, das Erste und Ursprüngliche ist, hinter das wir nicht zurückfragen können: »Die ›relativen‹ Eigenschaften bedeuten demnach nicht im negativen Sinne den Rest an Dinglichem, den wir noch gerade zu erfassen vermögen, sondern sie Vgl. beispielsweise: »Hat sich jedoch, so kann man fragen, in diese Beweisführung nicht selbst eine Prämisse eingeschlichen, die eine versteckte ontologische Annahme in sich schliesst? Steht es wirklich fest, daß die Erscheinungen uns zunächst ohne Gegenstandsbezug gegeben sind und daß dieser sich erst später, auf Grund bestimmter Vermittlungen, herstellt? Der Rationalismus suchte diese Vermittlungen im Gebiet des Denkens, der Empirismus und Sensualismus sucht sie im Gebiet des Gedächtnisses und der ›Imagination‹. Jener versucht die Kette der Schlussfolgerungen aufzuweisen, die in geregelter und notwendiger Folge, vom ›Cogitare‹ zum ›Esse‹ hinleiten; dieser sieht in dem Gedanken des Objekts eine Leistung der Assoziation und Reproduktion und eine Zutat der Phantasie. Damit aber wird uns im Grunde das Phaenomen, das es zu erklären galt, unter der Hand vertauscht. Denn betrachten wir unbefangen den reinen Tatbestand der Wahrnehmung selbst, so zeigt sich, daß derselbe nichts von jener Trennung weiss, die hier in ihn hineinverlegt wird.« Ernst Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, ECN 2, S. 26. 50 Ernst Cassirer, »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie [1927]«, in: ECW 17, S. 253–282, hier: S. 259. 51 Cassirer, »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie«, S. 72. 49

Die kopernikanische Wende

bilden den ersten und positiven Grund, in welchem der Begriff der Wirklichkeit selbst wurzelt.« 52

Wir können damit den neuen Ausgangspunkt, den der starke Kantianer für die metaphysische Untersuchung bestimmt – also das Phänomen der Erkenntnis – auch so bestimmen, dass er das Postulat der Geistigkeit der Sinnlichkeit impliziert. Der Zusammenhang der Erfahrungen, der durch den Geist gestiftet wird, kommt zu den Erfahrungen nicht sekundär hinzu, sondern gehört zu der Bestimmung ihres Wesens. Die Sinnlichkeit ist ihrer Natur nach geistig. Wenn wir das Denken von der Wirklichkeit abtrennen, behalten wir weder das Denken noch die Wirklichkeit, sondern zerstören beides. Denken und Wirklichkeit bilden eine ursprüngliche Einheit. James Conant, der eine Interpretation Kants vertritt, die mit der Cassirers meines Erachtens weitestgehend übereinstimmt, formuliert diesen Gedanken so: »Was durch die Sinne gegeben wird, weist, nur weil es so angeschaut wird, eine Form auf, die nicht schlicht von derjenigen verschieden ist, die die Kategorien vorschreiben.« 53 Wir können uns diese Auffassung verdeutlichen, indem wir ein bekanntes Beispiel Cassirers betrachten. 54 Cassirer beginnt mit der Überlegung, dass ein bestimmter Linienzug sowohl als künstlerisches Ornament als auch als mythisches Zeichen oder auch als Sinuskurve gedeutet werden kann. Diese Verschiedenheit in den Auffassungen kann für den starken Kantianer nun nicht dadurch erklärt werden – was intuitiv nahe liegen würde –, dass zunächst ein bestimmter sinnlicher Eindruck gegeben ist, der dann in einem zweiten Schritt gedeutet wird. Vielmehr handelt es sich in allen drei Fällen für den starken Kantianer um das Erlebnis einer Ganzheit. Was gesehen wird, ist ein künstlerisches Ornament oder ein mythisches Zeichen oder eine Sinuskurve. Wir können auch sagen: Die »Form« kommt der »Materie« nicht nachträglich hinzu. Cassirer schreibt: »Statt um solche nachträgliche Ergänzung handelt es sich hier vielmehr um einen Akt der ursprünglichen Formung, der die Anschauung als Ganzes betrifft und sie als Ganzes erst ›möglich macht‹. […] es gibt für uns kein Sehen, und es gibt für uns nichts Sichtbares, das nicht in irgendeiner Weise der geistigen Sicht, der Ideation überhaupt, stünde. Ein Sehen und ein Gesehenes außerhalb dieser ›Sicht‹, eine ›bloße‹ Empfindung außerhalb und vor jeder Gestaltung, ist eine leere Abstraktion. Immer muß das ›Gegebene‹ schon in einer bestimmten ›Hinsicht‹ genommen und sub specie dieser Hinsicht erfaßt sein: Denn sie erst ist es, die ihm Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 331. Conant, »Die Einheit des Erkenntnisvermögens bei Kant«, S. 241. 54 Vgl. Cassirer, »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie«, S. 257 f. 52 53

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seinen ›Sinn‹ verleiht. Dieser Sinn ist hierbei weder als sekundär-begriffliche noch als assoziative Zutat zu verstehen: Sondern er ist der schlichte Sinn der ursprünglichen Anschauung selbst.« 55

In diesem Zitat grenzt Cassirer seine eigene Auffassung des Zusammenhangs zwischen Form und Materie von der additiven Auffassung des Empirismus und Rationalismus ab. Gegenüber einer solchen additiven Auffassung, die die Form als Zutat zur Materie auffasst, wendet Cassirer ein, dass die Form das Sehen nicht nur inhaltlich bestimmt – so als wäre der Geist eine »Formgebungsmanufaktur« 56 –, sondern dass die Einheit von Form und Materie der Sinn der Anschauung selbst ist. Es ist mithin irrig, den drei Fällen – dem Sehen des mythischen Zeichens, des Ornaments oder der Sinuskurve ein gemeinsames Substrat zu unterlegen. Für Cassirer ist also der Gedanke der Geistigkeit der Sinnlichkeit der Kerngedanke der kopernikanischen Wende durch Kant. Bevor ich im Folgenden auf die mit diesem Gedanken verbundenen Schwierigkeiten und Einwände eingehe, ist es vielleicht hilfreich, sich kurz zu vergegenwärtigen, dass die starke Lesart Kants, wie sie durch Cassirer vertreten wird, in den zeitgenössischen Interpretationen Kants eine marginale Rolle spielt. 57 Kant wird gewöhnlich als jemand gelesen, der eine neue Antwort auf das metaphysische Problem gibt, wie es die dogmatische Metaphysik versteht. Die neue Fragestellung, die Kant Cassirer zufolge aufwirft, wird nicht als solche anerkannt. Es wäre nun eine andere Arbeit, wollte ich an dieser Stelle zeigen, dass Cassirers Kant-Interpretation Kant entspricht; wollte ich also zeigen, dass Kant selbst ein starker Kantianer ist. Aber auch wenn dies den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, so ist es vermutlich hilfreich zu erwähnen, dass Cassirer durchaus sieht, dass sich für Kant der Sinn des Gegensatzes von Materie und Form im Laufe seiner Werke ändert und vertieft. 58 »[…] selbst bei Kant«, so meint Cassirer, »zeigt, im Beginn der ›Kritik der reinen Vernunft‹, dieser Gegensatz zwischen Sinnlichkeit und Denken, zwischen den ›materialen‹ und ›formalen‹ Grundbestimmungen des Bewußtseins noch seine alte, unverminderte Kraft […]« 59 Beispielsweise liegt eine dualistische Auffassung von Materie und Form auch der in den Prolegomena vorgenommenen Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen zugrunde. Ein Wahrnehmungsurteil soll zunächst rein subjektive Gültigkeit haben. Es bezeichnet eine Vorstellung, die 55 56 57 58 59

Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 149 f. Ebd., S. 222. Vgl. auch Conant, »Die Einheit des Erkenntnisvermögens bei Kant«, S. 236 ff. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 8. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 38.

Die kopernikanische Wende

nur für das urteilende Subjekt selbst Gültigkeit beansprucht, es ist also ein »Bericht über ein momentanes und individuelles Erlebnis«. 60 Das Erfahrungsurteil hingegen hat objektive Gültigkeit. Mit der Möglichkeit von »Wahrnehmungsurteilen« scheint nun aber die Möglichkeit eines rein sinnlichen Bewusstseins gegeben zu sein, das vor und unabhängig von der Gesetzgebung des Verstandes besteht. Diese Auffassung wird von Kant aber, so meint Cassirer, korrigiert. Der Unterschied zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteil kann dann nicht mehr als ein realer Unterschied zwischen zwei verschiedenen Klassen von Urteilen aufgefasst werden. Die Unterscheidung kann, wenn sie aufrechterhalten wird, nur noch als eine methodische Unterscheidung aufgefasst werden. Das Verhältnis zwischen Form und Materie, das der »neuen Grundansicht Kants […], seiner ›kopernikanischen Drehung‹ entspricht«, ist dann erst begriffen, wenn erkannt wird, dass es sich hier nicht um »Seinspotenzen«, sondern um die »Bezeichnung bestimmter Bedeutungsdifferenzen« handelt. 61 Ich fasse kurz zusammen, an welchem Punkt wir stehen: Wir fragen danach, was die kopernikanische Wende durch Kant bedeutet. Dafür verfolgen wir die Lesart Cassirers, der ein starker Kantianer ist. Cassirer sagt, dass wir, um die kopernikanische Wende Kants verstehen zu können, begreifen müssen, dass Kant eine neue Frage stellt, die in den Rahmen einer dogmatischen Metaphysik nicht eingeordnet werden kann. Diese neue Fragestellung impliziert, dass der Gegenstand der Erfahrung »sich verschoben hat«. Wir fragten, wie das zu verstehen ist. Um dies zu verstehen, müssen wir den Ausgangspunkt der metaphysischen Untersuchungen neu bestimmen. Dieser Ausgangspunkt liegt nun nicht mehr in unseren subjektiven Vorstellungen, sondern im Phänomen der Erkenntnis. Dieser Ausgangspunkt liegt jenseits von Subjektivität und Objektivität, denn er bezeichnet die Einheit von Denken und Sein. Das bedeutet insbesondere, dass wir von keinen Sinneseindrücken ausgehen dürfen, die keinerlei Formmomente aufweisen. Der Ausgang vom Phänomen der Erkenntnis impliziert die Geistigkeit der Sinnlichkeit. Wir wiederholen an dieser Stelle die Frage: Was sagen uns diese Überlegungen über die Verschiebung des Gegenstandes? Der Bezug auf den Gegenstand, so sagt Cassirer, »hört […] auf, den Appell an eine der Erkenntnis fremde und schlechthin äußerliche Instanz zu bedeuten«. 62 Vielmehr liegt der Gegenstand in der Geistigkeit der Sinnlichkeit beschlossen. Die Einheit von Denken und Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 264. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 10 f. 62 Cassirer, »Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart [1939]«, S. 24. 60 61

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Sein ist der Bezug auf den Gegenstand. 63 Die Beziehung auf den Gegenstand ist damit »kein einzelner Prozeß« 64, so als würde man sich hier und da auf einen Gegenstand beziehen und zu anderen Zeiten nicht. Wir denken nicht und beziehen uns dann in unserem Denken noch manchmal auf einen Gegenstand, so als wäre die Beziehung auf einen Gegenstand eine von anderen geistigen Leistungen geschiedene Funktion. Die Frage, wie der Bezug auf einen Gegenstand möglich ist, ist also nach der kopernikanischen Wende nicht mehr so zu verstehen, dass danach gefragt wird, wie ich mich auch unter anderem noch auf einen Gegenstand beziehen kann. Die These des starken Kantianers besteht vielmehr darin, dass Denken qua Denken die Wirklichkeit erfasst. Wir können uns diese Auffassung verdeutlichen, indem wir sie von der Fragestellung des »Cartesianers« und des »schwachen Kantianers« abgrenzen. Diese Unterscheidung der Fragestellungen ist durch Conant eingeführt worden; sie ist uns schon begegnet. Der Cartesianer fragt nach dem Wahrheitswert bestimmter Urteile, die er geneigt ist zu fällen. 65 Woher weiß ich, dass das, was ich denke, wirklich der Fall ist? Für den Cartesianer erfasst also Denken nicht qua Denken die Wirklichkeit, sondern kann hinter der Wirklichkeit zurückbleiben. Damit ist der Bezug auf den Gegenstand ein einzelner Prozess. Er tritt dann und wann auf, nämlich dann, wenn mein Denken mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Der schwache Kantianer, so wie Conant ihn versteht, fragt danach, wie es überhaupt möglich ist, Erfahrung zu haben. Der Unterschied zum Cartesianer ist also, dass der schwache Kantianer etwas problematisiert, was dieser als unproblematisch betrachtet: Die Möglichkeit von Erfahrung. 66 Nun kann man diese Frage aber auch so verstehen, dass sie lediglich eine Erweiterung der Cartesianischen Fragestellung ist. Das heißt: Wir können die Frage so verstehen, dass sie die Erörterung der Möglichkeit der Erfahrung als ein Unternehmen ansieht, das unabhängig von der Frage nach dem Begriff der Wirklichkeit verfolgt werden kann. Paradigmatisch für diese Auffassung ist folgende Aussage von Stroud: »It is possible to find by philosophical reflection that in […] thoughts or beliefs or responses we go beyond anything that is strictly speaking so in reality.« 67 Stroud kann es nur deshalb für möglich halten, dass im Denken nicht die Wirklichkeit erfasst wird, weil die Beziehung auf das Sein das Denken nicht qua Denken bestimmt. Vgl. als vergleichbare Kant-Interpretation auch Sebastian Rödl, »Logical Form as a Relation to the Object«, in: Philosophical Topics 34, 1&2 (2006), S. 345–369. 64 Cassirer, »Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart«, S. 35. 65 Conant, »Die Einheit des Erkenntnisvermögens bei Kant«, S. 238. 66 Vgl. beispielsweise auch Conant, »Two Varieties of Skepticism«, S. 45. 67 Stroud, Engagement and metaphysical dissatisfaction, S. 4. 63

Die kopernikanische Wende

Der starke Kantianer bestimmt hingegen Denken als Bezug auf den Gegenstand. Wir können nicht sagen, was Denken ist, ohne etwas darüber auszusagen, was der Gegenstand bzw. die Wirklichkeit ist. Andererseits wird der Begriff des Gegenstandes auf den Begriff der Gesetzlichkeit reduziert. 68 Wir können nichts darüber aussagen, was der Gegenstand ist, ohne etwas über das Denken auszusagen. Die Frage nach dem Gegenstand, wie er unabhängig vom Denken besteht, ist damit nicht nur lediglich unbeantwortbar, sondern mehr: Es ist eine sinnlose Frage. 69 Denn der Gegenstand ist bestimmt als die Gesetzlichkeit der Erfahrung.Wirklichkeit bedeutet, dass das Chaos des Bewusstseins zum Kosmos gestaltet ist. 70 Was der Gegenstand unter Absehung dieser Gesetzlichkeit ist, ist eine sinnlose Frage, weil wir dann, wenn wir von einem Gegenstand sprechen, schon die Gesetzlichkeit der Erfahrung voraussetzen. Wenn wir von der Gesetzlichkeit der Erfahrung absehen, wissen wir nicht, wovon wir sprechen, wenn wir von einem Gegenstand der Erfahrung sprechen. Damit ist aber auch die Frage, ob die Gesetzlichkeit der Erfahrung subjektiv oder objektiv sei, als sinnlose Frage bestimmt. 71 Cassirer argumentiert, dass diese Frage nicht mehr gestellt werden kann, wenn die kopernikanische Wende richtig begriffen wird. »Subjektiv« bedeutet der dogmatischen Auffassung zufolge die »innere Welt«, »objektiv« hingegen die »äußere Welt«. Diese Entgegensetzung des »Innen« und »Außen« ist aber überhaupt nur vor dem Hintergrund der Erfahrungserkenntnis möglich und setzt diese voraus. In Bezug auf ein Element der Erfahrungserkenntnis können wir fragen, ob dieses der »inneren Welt« oder der »äußeren Welt«, der »Subjektivität« oder der »Objektivität« zugehört. Wir können aber einen Gegensatz, der nur innerhalb der Erfahrungserkenntnis Anwendung findet, nicht auf das Ganze der Erfahrungserkenntnis beziehen. Dies wäre dem Versuch vergleichbar, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob der Raum an sich »oben« oder »unten« sei. Auch diese Frage ist sinnlos. Denn »oben« und »unten« sind Bestimmungen, die den Raum zur Voraussetzung haben. Wir bewegen uns in einem Zirkel, wenn wir danach fragen, ob die Erfahrungserkenntnis subjektiv oder objektiv sei, wie wir uns in einem Zirkel bewegen, wenn wir danach fragen, ob der Raum oben oder unten sei. 72 Cassirer, »Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart«, S. 24. 69 Cassirer, »Was ist Subjektivismus?«, S. 170. 70 Vgl. auch Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit: Zweiter Band, S. 558. 71 Vgl. Cassirer, »Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart«, S. 34. 72 Vgl. Cassirer, »Was ist Subjektivismus?«, S. 181. 68

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Mit dem Ausgang vom Phänomen der Erkenntnis ist also ein Punkt gewählt, der jenseits der Unterscheidung von »subjektiv« und »objektiv« liegt. Die kopernikanische Wende in der Philosophie, so meint Cassirer, »wird nicht richtig verstanden und gewürdigt, wenn man sie als eine einfache Umkehrung des Abhängigkeitsverhältnisses ansieht, das bisher zwischen Subjekt und Objekt, zwischen der Erkenntnis und ihrem Gegenstand angenommen wurde«. 73 Weder besteht das »Subjektive« noch besteht das »Objektive« jenseits und außerhalb der Erfahrungserkenntnis. Die Einheit von Denken und Wirklichkeit ist die Voraussetzung dafür, dass ein Unterschied zwischen Subjektivität und Objektivität gezogen werden kann. Wie kommt es aber zu dieser Scheidung von Subjektivität und Objektivität? Wenn uns zunächst und allein die Erfahrungserkenntnis als Einheit von Denken und Wirklichkeit gegeben ist – was nötigt uns dann überhaupt, eine Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Elementen dieses Ganzen einzuführen? Cassirer schreibt: »Sofern dieser Dualismus auf die Erfahrung anwendbar sein soll, ist zugleich zu fordern, daß er sich rein aus ihr und ihren eigentümlichen Prinzipien verständlich machen lasse.« 74

Was wir verstehen wollen, wenn wir den Unterschied zwischen Subjektivität und Objektivität verstehen wollen, ist damit also nicht ein Unterschied in den »Dingen an sich«, der den Gegensätzen des »Innen« und »Außen«, des »Subjektiven« und »Objektiven« zugrunde liegt. 75 Was wir vielmehr verstehen wollen, ist die Einführung einer Wertunterscheidung in das Ganze der Erfahrungserkenntnis. Die Unterscheidung zwischen Subjektivität und Objektivität ist Ausdruck einer Bewertung einzelner Inhalte der Erfahrung. Bestimmte Erfahrungen werden anderen übergeordnet und erhalten dadurch eine ausgezeichnete Stellung. Diese Einführung eines Wertunterschieds kann, wenn man vom Phänomen der Erkenntnis ausgeht, rätselhaft erscheinen. Denn wir gehen davon aus, dass jegliche Erfahrung auf Gegenständliches, also auf Wirkliches, gerichtet ist. Der Wirklichkeitsbezug kommt zu einer Erfahrung nicht sekundär hinzu, sondern gehört wesentlich zu dem, was es heißt, eine Erfahrung zu haben. Das bedeutet, dass jeglicher Erfahrung – wenn überhaupt – nicht das Prädikat der Subjektivität, sondern das der Objektivität zugesprochen werden müsste. In Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit: Dritter Band, S. 3. 74 Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 292 f. 75 Vgl. zum Folgenden ebd. 73

Die kopernikanische Wende

anderen Worten: Jede Erfahrung tritt mit einem bestimmten Wertanspruch auf. »Die Form des Objektbezugs, als allgemeine Form, entsteht somit nicht, sondern sie besteht; sie wirkt sich im Ganzen der Erkenntnis aus, ohne daß diese für sie einen Anfang oder ein Ende aufweisen könnte; sie wird nicht, sondern sie gilt und ist.« 76

Der Objektbezug gilt für alle »Modi der Erkenntnis«: sowohl für die Empfindung als auch für die Wahrnehmung, den Begriff und das Urteil. 77 Cassirer meint, dass es falsch ist, anzunehmen, dass bestimmte Erfahrungen ursprünglich als »subjektiv«, andere als »objektiv« wahrgenommen werden würden, in dem Sinne, dass beispielweise eine »feste Scheidewand« 78 zwischen den Erfahrungen, die sich auf den eigenen Körper, und denen, die sich auf die äußere Umgebung beziehen, bestehen würde. Oder, um ein weiteres Bespiel zu nennen: Auch das Traumerlebnis steht nicht außerhalb von Raum, Zeit und Kausalität. Der Unterschied zwischen Traum und valider Wahrnehmung besteht nicht darin, dass der Traum aus der Gesetzlichkeit der Erkenntnis herausfällt oder ihr nicht entspricht. Wenn wir träumen, erleben wir uns nicht als Urheber unserer Erlebnisse. 79 Das Traumerlebnis ist uns zunächst ein objektives Erlebnis. Was, so können wir die Frage nun reformulieren, nötigt uns dazu, den Wertanspruch einer Erfahrung zu begrenzen? Was führt dazu, eine Erfahrung als »nur für mich gültig« zu bestimmen, eine andere hingegen als »allgemeingültig«? Worauf beruht es, dass wir manchen Inhalten des Bewusstseins notwendige Geltung zusprechen und anderen nicht? Dies ist die Frage nach dem Gegenstand, dem unser Denken entsprechen soll. Das ist Cassirers Antwort: Der Wertanspruch der einzelnen Erfahrungen wird insofern begrenzt, als Erfahrungen aufeinander bezogen werden. Dadurch wird die eine Erfahrung an der anderen berichtigt. Für den starken Kantianer sind Subjektivität und Objektivität korrelative Begriffe, die ein dynamisches Verhältnis aufweisen. Die Sphäre des »subjektiven« wird nicht ein für alle Mal bestimmt und von der des »objektiven« abgegrenzt, sondern die Grenzscheide zwischen beiden kann sich jederzeit verschieben. Es handelt sich um einen »lebendigen Wechselbezug«. Diesem Verfahren liegt das Postulat der durchgängigen Verknüpfbarkeit der Erfahrungsinhalte zugrunde. Es ist die Vorstellung eines Gesamtsystems der Erfahrung, die der Unterscheidung zwischen Subjektivität und Objektivi76 77 78 79

Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, S. 29. Vgl. Cassirer, »Was ist Subjektivismus?«, S. 170. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 293. Vgl. Cassirer, »Was ist Subjektivismus?«, S. 174.

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tät zugrunde liegt. Wenn die einzelnen Erfahrungen für sich bestehen würden und eine die andere einfach in einer unablässigen Folge abwechseln würde, so gäbe es keinen Grund für die Begrenzung des eines Erfahrungsinhalts an einem anderen. Jede Erfahrung würde eine bestimme Zeitstelle einnehmen und danach anderen Erfahrungen Platz machen. Die Unterscheidung zwischen Subjektivität und Objektivität setzt also voraus, dass sich eine Erfahrung auf die andere bezieht. Was aber genau bedeutet es, zu sagen, dass sich eine Erfahrung auf die andere bezieht? Was bedeutet es, über die Vorstellung eines Gesamtsystems der Erfahrung zu verfügen? Dieses »Sich-Beziehen« der einen Vorstellung auf die andere, das Voraussetzung für die Gliederung der Erfahrungswirklichkeit ist, ist schwer zu verstehen. Es ist, vom Standpunkt des Empirismus und des Rationalismus, die den Zusammenhang der Erfahrung als etwas auffassen, das sekundär zu den einzelnen für sich bestehenden Erfahrungen hinzukommt, geradezu unverständlich. Wenn die einzelne Erscheinung etwas ist, hinsichtlich dessen von jeglichen Form- und Verknüpfungsmomenten abgesehen wird, dann ist es eine paradoxe Forderung, dass die eine Erfahrung trotz ihrer Begrenzung auf eine bestimmte Zeitstelle in sich selbst den Hinweis auf eine andere Erfahrung enthalten soll. 80 Wie soll es möglich sein, dass etwas, das in der Gegenwart beschlossen ist, über diese Gegenwart hinausweist? »Die reflexive Sprachform«, schreibt Cassirer »die wir zur Beschreibung dieses Phänomens anzuwenden pflegen, weist hier auf ein echtes phänomenologisches Problem hin. Ein Inhalt mag dem anderen noch so ähnlich sein oder zu ihm in noch so unmittelbarer kausaler Beziehung stehen: So ist doch darin in keiner Weise gegeben, daß er selbst sich auf ihn bezieht, daß er sich als ihm ähnlich oder mit ihm verbunden weiß.« 81

Die faktische Beziehung zwischen Erfahrungen, auf die der Empirist das Bewusstsein des Zusammenhangs der Erfahrungen zurückführen möchte, reicht für sich genommen niemals aus, um dieses Bewusstsein erklären zu können. Mit Cassirer können wir sagen: Dieses Phänomen, das wir mit der reflexiven Sprachform zu beschreiben pflegen, ist nur dann verständlich, wenn der Zusammenhang der Erfahrung nicht als additive Zutat zu den einzelnen Erfahrungen hinzukommt. Insofern, als die Form- und Verknüpfungsmomente wesentlich zu dem gehören, was es heißt, eine Erfahrung zu haben, können wir auch sagen, dass sich die eine Erfahrung auf die andere bezieht. Das sind zwei verschiedene Beschreibungen desselben Phänomens. Diesen Gedanken Vgl. auch Cassirer, »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie«, S. 22 ff. 81 Ebd., S. 24. 80

Die kopernikanische Wende

können wir auch so formulieren: Die Geistigkeit der Sinnlichkeit führt dazu, dass die einzelnen Erfahrungen in ein Verhältnis der Über- und Unterordnung treten. Der Gegensatz zwischen Subjektivität und Objektivität gründet darin, dass die Formzusammenhänge nicht nachträglich zu einzelnen Erfahrungsinhalten hinzukommen. Die Geistigkeit der Sinnlichkeit bezeichnet damit eine Einheit, die in sich selbst den Keim zur Differenzierung enthält. Denken und Wirklichkeit sind dasselbe und doch unterschieden. Kant bezeichnet eine solche Einheit als synthetische Einheit. Es ist eine Einheit, die sich nicht aus Teilen zusammensetzt, sondern selbst die Bedingung ihrer Elemente ist. Während also die dogmatische Metaphysik die Annahme einer unabhängig gegebenen Wirklichkeit als Voraussetzung dafür ansieht, überhaupt den Begriff der Wirklichkeit und den des Denkens bilden zu können, erscheint nach der kopernikanischen Wende die Einheit von Bewusstseinsmaterie und Bewusstseinsform als Voraussetzung dafür, den Begriff der Wirklichkeit und den des Denkens bilden zu können. Der Gegenstand der Erkenntnis verschiebt sich nach der kopernikanischen Wende von dem bereits Bestimmten zu dem Bestimmbaren hin. »Die neue ›transzendentale‹ Frage, die Kant stellt, betrifft daher nicht sowohl die Natur der Wirklichkeit, als den Zugang zu ihr; sie betrifft die verschiedenen Wege, auf denen gegenständliche Erkenntnis zu gewinnen ist und deren kritische Charakteristik und Unterscheidung.« 82 Die Wirklichkeit ist, was sich im Fortgang der Erfahrungserkenntnis aufbaut. Sie ist nicht ein für alle Mal gegeben. Sie ist nicht das, was der Erkenntnis voraufgeht, sondern vielmehr das, wohin die Erkenntnis strebt. Wir sagten zuvor, dass die Auffassung der Wirklichkeit durch die dogmatische Metaphysik mit dem Bild des »globus intellectualis« verglichen werden kann. In diesem Bild erscheint die Wirklichkeit als homogen. Die verschiedenen Bereiche der Wirklichkeit verteilen sich auf der Oberfläche einer Kugel, ohne sich zu überschneiden. Ist aber die Annahme einer solchen »Homogenität des Denkraums« aufrechtzuerhalten, wenn Denken und Wirklichkeit korrelativ aufeinander bezogen sind? 83 Cassirer argumentiert, dass dies nicht der Fall ist:

Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, S. 25. Vgl. auch: »Die Betrachtung richtet sich fortan nicht mehr ausschließlich auf das Erschlossene, sondern auf den Akt, auf die Art und Weise des Erschließens selbst.« Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 6. 83 Vgl. Cassirer, »Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs«, S. 355. 82

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»Der Fortschritt der erkenntnistheoretischen Analyse bewährt sich eben darin, daß durch ihn die Annahme einer Einfachheit und Einerleiheit der Wirklichkeitsbegriffe mehr und mehr als Täuschung erkannt wird.« 84

Wie ist dieser Gedanke zu verstehen? Wie ist es zu verstehen, dass der »Fortschritt der erkenntnistheoretischen Analyse« sich daran »bewährt«, dass die Annahme einer Homogenität des Denkraums als Täuschung erkannt wird? Ich verstehe Cassirer an dieser Stelle so, dass er betonen und herausarbeiten möchte, dass die kopernikanische Wende Kants in ihrer starken Lesart mit der Tatsache vereinbar ist, dass die Wirklichkeit mehrdimensional ist. Diese Mehrdimensionalität der Wirklichkeit ist für Cassirer ein Phänomen. 85 Das bedeutet: Die Mehrdimensionalität der Wirklichkeit ist eine Tatsache, die eine Erklärung verlangt. Die allgemeine Erkenntnistheorie darf dieser Mehrdimensionalität der Wirklichkeit nicht widersprechen. Inwiefern ist die Mehrdimensionalität der Wirklichkeit eine Tatsache? Diese Mehrdimensionalität wird sichtbar, wenn wir uns in Hinblick auf die Wissenschaften vergegenwärtigen, dass beispielswese Biologie, Chemie oder Physik einen je eigenen Gegenstand haben, der jeweils nicht auf den anderen reduzierbar ist. Biologie, Chemie oder Physik haben unterschiedliche Gegenstände, weil sie »je einen besonderen Gesichtspunkt der Fragestellung in sich schließen«. 86 Aber Biologie, Chemie oder Physik sind noch nicht einmal die einzigen Weisen, durch die sich uns eine objektive Welt erschließt. Wenn wir nach der kopernikanischen Wende unter »Objektivität« das »Walten eines […] Strukturgesetzes« 87 verstehen, so müssen wir anerkennen, dass auch in anderen Bereichen menschlichen Lebens Strukturgesetze walten. »Die Idee des Kosmos, die Idee einer durchgreifenden Ordnung«, erschöpft sich nicht in der Idee der Gesetzlichkeit der Naturphänomene. 88 Solange wir lediglich die Gegenstände der Naturwissenschaften betrachten, so meint Cassirer, können wir die Frage nach der Wirklichkeitserkenntnis noch nicht einmal »in ihrem eigentlichen und vollen Sinne« 89 stellen. Warum können wir die Frage der Wirklichkeitserkenntnis noch nicht einmal in ihrem eigentlichen Sinn stellen, wenn wir die Betrachtung lediglich auf

Cassirer, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, S. 112. Vgl. beispielsweise Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, S. 5. 86 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 5. 87 Ernst Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Erste Studie: Der Gegenstand der Kulturwissenschaften [1942]«, in: ECW 24, S. 357–390, hier: S. 369. 88 Ebd., S. 369. 89 Ebd. 84 85

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den Gegenstand der Naturwissenschaften richten? An anderer Stelle schreibt Cassirer: »Solange die philosophische Betrachtung sich lediglich auf die Analyse der reinen Erkenntnisform bezieht und sich auf diese Aufgabe einschränkt, solange kann auch die Kraft der naiv-realistischen Weltsicht nicht völlig gebrochen werden.« 90

Die naiv-realistische Weltsicht zu brechen kann nur darin bestehen, das Postulat der Geistigkeit der Sinnlichkeit hochzuhalten. Das Postulat der Geistigkeit der Sinnlichkeit kann nicht richtig erfasst werden, so verstehe ich Cassirer, wenn wir lediglich eine Analyse der reinen Erkenntnisform durchführen. Denn es zeigt sich, dass wir, wenn wir allein von einer Analyse der reinen Erkenntnisform ausgehen, in der Sinnlichkeit lediglich die Formen der reinen Erkenntnis finden. 91 Die Intention auf den Gegenstand der Naturwissenschaften ist aber, so meint Cassirer, nicht »die einzige Bedeutungsintention«, die in der Sinnlichkeit beschlossen liegt. 92 Die Begriffe der Wahrheit und der Wirklichkeit können nur dann richtig erfasst werden, wenn wir nicht schon im Ausgangspunkt unserer Fragestellung die Wirklichkeit auf einen bestimmten Bereich begrenzen. Der Ausgangspunkt unserer Überlegungen sollte dementsprechend das Phänomen der Bedeutung sein, das Phänomen also, dass etwas sinnlich Gegebenes einen objektiven Sinn in sich fasst. Die kopernikanische Wende Kants führt damit zu einer Fragestellung, die – so meint Cassirer selbst – »in der Geschichte der Philosophie […] nur selten in dieser umfassenden, schlechthin universellen Bedeutung« gestellt worden sei. 93 Diese umfassende Bedeutung der Fragestellung impliziert, dem Bedeutungsproblem vor dem Wirklichkeits- und Wahrheitsproblem Priorität zuzusprechen. Das, was »Wirklichkeit« und »Wahrheit« sind, sind »Sonderfälle des allgemeinen Bedeutungsproblems«. 94 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 9. Vgl. ebd., S. 12. Vgl. auch: »Wenn es feststeht, daß die Grundkategorien der Physik, daß Begriffe wie Ursache und Wirkung, Grösse und Zahl, Raum und Zeit die einzigen und die allein-zulässigen Mittel der Objektivierung sind, so ist damit bereits implizit gegeben, daß wir im Verfolgen dieser Mittel auch zu keinen anderen Gegenständen als denen der Physik, zu Ausdehnung und Bewegung, gelangen können.« Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, S. 6. 92 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 15. 93 Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, S. 6. 94 Vgl.: »Denn immer deutlicher drängt sich uns die Einsicht auf, daß jenes Gebiet theoretischen Sinnes, das wir mit dem Namen ›Erkenntnis‹ und ›Wahrheit‹ bezeichnen, nur eine, wie immer bedeutsame und fundamentale, Sinnschicht darstellt. Um sie zu verstehen, um sie in ihrer Struktur zu durchschauen, müssen wir diese Schicht anderen Sinndimensionen ge90 91

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Das Problem, das Cassirer an dieser Stelle das »Bedeutungsproblem« nennt, ist die Frage, »wie und auf Grund welcher Prinzipien und Voraussetzungen ein Sinnliches zum Repräsentanten und Träger eines ›Sinnes‹ werden kann. 95 Über dieses Problem sagt Cassirer, dass es »eines der schwierigsten Probleme der Erkenntniskritik, wenn nicht das Problem der Erkenntniskritik überhaupt« 96 sei. Es handelt sich um die Frage, wie das, was ich zuvor als die Geistigkeit der Sinnlichkeit bezeichnet habe, möglich ist. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Form und Materie der Erkenntnis ist für Cassirer dementsprechend gleichbedeutend mit der Frage nach der Möglichkeit von Bedeutung. Dieses Problem ist, so können wir sagen, auch der Dreh- und Angelpunkt für Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. »Die Vorstellung von der Sinnverkörperung im Sinnlichen«, so meint auch Schwemmer, »ist ein tragender Grundgedanke für den gesamten Entwurf einer Philosophie der symbolischen Formen.« 97 Und John Michael Krois fasst zusammen: »For Cassirer the most basic question of philosophy becomes: How is it possible that there is meaning?« 98 Cassirer nennt dasselbe Problem auch »Problem der Repräsentation«. 99 Es ist mithin der zentrale Gedanke Cassirers, dass die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Form und Materie der Erkenntnis dem Bedeutungsproblem entspricht.

genüberstellen und entgegenhalten – müssen wir, mit anderen Worten, das Erkenntnisproblem und das Wahrheitsproblem als Sonderfälle des allgemeinen Bedeutungsproblems begreifen.«, in: Cassirer, »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie«, S. 16. 95 Ebd., S. 66. 96 Ebd. In der Cassirer-Forschung wird immer mal wieder die Frage diskutiert, ob Cassirers Philosophie der symbolischen Formen »Erkenntnistheorie« sei oder nicht (vgl. beispielsweise Christian Krüger, Medien der Bedeutung: Wie die Welt einen Unterschied macht (Hamburg: Felix Meiner Verlag 2019), S. 105 ff.). Um auf diese Frage eine Antwort geben zu können, müsste natürlich zunächst Einigkeit darüber erzielt werden, was »Erkenntnistheorie« ist. Gemäß meiner Interpretation Cassirers, die ich in dieser Arbeit vorstelle, ist Cassirers Philosophie der symbolischen Formen eine Antwort auf die kopernikanische Wende Kants in ihrer starken Lesart. Die Philosophie der symbolischen Formen ist damit nicht lediglich eine Erweiterung des Gegenstandsbereich der Erkenntnistheorie, so dass nun neben die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der naturwissenschaftlichen Erkenntnis noch die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit anderer »Erkenntnisformen« tritt, sondern die Philosophie der symbolischen Formen tritt mit dem Anspruch auf, die Erkenntnistheorie über ihren eigenen Gegenstand und ihre eigene Fragestellung aufzuklären. 97 Oswald Schwemmer, Ernst Cassirer: Ein Philosoph der europäischen Moderne (Berlin: Akademie Verlag 2015), S. 12. 98 John Michael Krois, Cassirer: Symbolic Forms and History (New Haven 1987), S. 44. 99 Vgl. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 119 ff.

Die kopernikanische Wende

Nun liegt der Kerngedanke der kopernikanischen Wende nach Cassirer darin, dass eine bestimmte Form der Erklärung der Geistigkeit der Sinnlichkeit ausgeschlossen ist. Wir können, wie wir bereits sahen, Materie und Form der Erkenntnis nicht voneinander trennen, so dass sie uns als selbst- und eigenständige Einheiten gegenübertreten. Der Zusammenhang zwischen Form und Materie der Erkenntnis kann kein sekundärer Zusammenhang sein, der zu dem, was »Form« und »Materie« an sich sind, hinzukommen würde. Das bedeutet, dass der Zusammenhang zwischen Form und Materie – oder um in den Begriffen einer Theorie der Bedeutung zu sprechen – zwischen Repräsentant und Repräsentiertem – kein Zusammenhang ist, der innerhalb der Wirklichkeit vorliegt. Form und Materie, Repräsentant und Repräsentiertes stehen in einem Verhältnis zueinander, das auf keine Wirklichkeitsverhältnisse reduziert werden kann. Aus der neuen Fragestellung Kants »quillt«, so meint Cassirer, notwendigerweise die Folgerung, dass »das Ganze der Erkenntnisbedingungen […] selbst keine neue Objektwelt [bildet], die neben oder über den empirischen Gegenständen ihre besondere Stelle hätte«. 100 »Form« und »Materie« der Erkenntnis sind damit keine selbstständigen Elemente der Wirklichkeit. Als Bedingungen der Erkenntnis handelt es sich hier nicht um »Dinge«, sondern um das – um eine Formulierung von Tugendhat aufzugreifen –, was »analytisch im Sinn dessen enthalten ist, was wir mit ›Erfahrung‹ meinen«. 101 Den Versuch, Bedeutungsverhältnisse auf Seinsverhältnisse zu reduzieren, nennt Cassirer die »metaphysical fallacy« 102. Es ist ein Trugschluss, die Bedeutungsrelation als eine Seinsrelation aufzufassen. Die Frage danach, wie die Geistigkeit der Sinnlichkeit möglich ist, kann also nicht bedeuten, nach etwas zu fragen, auf das diese Einheit reduziert werden könnte. Form und Materie, Repräsentant und Repräsentiertes bilden vielmehr eine synthetische Einheit. Cassirer bezeichnet diese Einheit von Form und Materie der Erkenntnis auch als »symbolische Prägnanz« 103. Eine solche Einheit kann nicht aus etwas anderem abgeleitet werden, eine solche Einheit kann, »als echtes Urphänomen, nur sich selbst beglaubigen und sich selbst erklären«. 104 Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit: Dritter Band. Die Nachkantischen Systeme. [1920], ECW 4, S. 4. 101 Ernst Tugendhat, »1. Vorlesung. Ansatz beim Methodischen«, in: ders. (Hrsg.), Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010), S. 13–23, hier: S. 21. 102 Ernst Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology [1942/43]«, in: ECN 6, S. 344–635, hier: S. 425. 103 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 218 ff. 104 Vgl. ebd., S. 189. 100

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Wie sich die Einheit von Materie und Form der Erkenntnis selbst beglaubigen und erklären könnte, ist allerdings schwer einzusehen: Denn die These von der Geistigkeit der Sinnlichkeit scheint nicht vereinbar zu sein mit dem, was es heißt, ein sinnliches Wesen zu sein. Die Definition eines sinnlichen Wesens besagt, dass ein solches Wesen Empfindungen und Vorstellungen kraft dessen hat, dass es durch etwas affiziert wird. »Affektion« bedeutet, dass der Ursprung der Empfindungen und Vorstellungen nicht in diesem Wesen selbst verortet ist. Ein sinnliches Wesen produziert seine Empfindungen und Vorstellungen demnach nicht aus eigenem Antrieb, sondern ist auf etwas angewiesen, das ihm gegeben wird. Die Sinnlichkeit eines Wesens nennen wir auch seine »Rezeptivität«. Die These von der Geistigkeit der Sinnlichkeit besagt nun, dass diese Rezeptivität des sinnlichen Wesens gleichzeitig spontan sei. Cassirer spricht auch von einer »Aktivität des Sinnlichen«. 105 Wie aber kann etwas gleichzeitig passiv und aktiv sein? Wie kann etwas gleichzeitig rezeptiv empfangen und spontan gebildet sein? Wie kann die Erkenntnis sowohl »endlich« sein, also empfangend-rezeptiv, als auch schöpferisch? Diese Frage können wir in Hinblick auf eine Theorie der Bedeutung auch so formulieren: Wie ist es möglich, dass etwas, das sinnlich gegeben ist, über sich selbst hinausweist? Eine solche Doppelheit eines Einfachen hält Konrad Marc-Wogau schlechterdings für unmöglich. Entweder etwas ist, so meint Marc-Wogau, dasselbe, oder es ist verschieden. Die Einheit eines Verschiedenen aber findet er unverständlich. Marc-Wogaus Kritik richtet sich damit gegen die Auffassung der Geistigkeit der Sinnlichkeit, die Cassirer vertritt. Er schreibt: »[…] der Gedanke der Repräsentation, wie Cassirer ihn fasst, bringt einen Doppelgedanken zum Ausdruck: in ihm ist der Gedanke der Differenz und der Gedanke der Identität von Repräsentant und Repräsentat auf eine, wie mir scheint, widerspruchsvolle Art verbunden.« 106

Es scheint mit den Grundgesetzen der Logik nicht vereinbar zu sein, dass etwas sowohl dasselbe als auch verschieden sein kann. Die Geistigkeit der Sinnlichkeit scheint den Gedanken zu beinhalten, dass zwei Elemente, die sich widersprechen, vereint werden sollen. Wie kann etwas »eins« sein und doch »zweifach«? Marc-Wogau argumentiert, dass Cassirer, insofern er für die ursprüngliche Einheit von Geist und Sinnlichkeit argumentiert, die Möglichkeit ihrer geCassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 17. Konrad Marc-Wogau, »Der Symbolbegriff in der Philosophie Ernst Cassirers«, in: Theoria 2, Nr. 3 (1936), S. 279–332, hier: S. 321. 105 106

Die kopernikanische Wende

danklichen Trennung verneinen müsse. Wenn er aber an der Möglichkeit der gedanklichen Trennung festhält – was er ja tut –, dann zeige dies nur, dass Geist und Sinnlichkeit eben ursprünglich nicht dasselbe seien. In Cassirers Ausführungen schleiche sich damit ein »versteckter Sensualismus« 107 ein: »Es scheint mir, dass diese Charakteristik des Verhältnisses von Präsenz und Repräsentation nicht nur die reale Unterschiedenheit, sondern auch jede gedankliche Trennung beider, jede distinctio rationis ausschliessen muss.« 108

Cassirer antwortet auf diese Kritik, indem er sagt, dass er der Wiedergabe seiner Gedanken durch Marc-Wogau zustimme. »In einem gewissen Sinne«, so meint Cassirer, müsse er die Kritik Marc-Wogaus »unterstreichen und verschärfen.« 109 Er selbst argumentiere tatsächlich für eine Art von »Doppelgedanken«, für die Möglichkeit von »Sinnganzheiten, die sich in relativ selbständige, deutlich voneinander unterscheidbare Teile« gliedern. 110 Wenn MarcWogau aber die Möglichkeit eines solchen Sinnganzen leugne, so »scheitert diese These […] an dem einfachen phänomenologischen Tatbestand«. 111 Der Verweis auf diesen »einfachen phänomenologischen Tatbestand« entspricht der Aussage Cassirers, die ich schon angeführt habe: Ein »Urphänomen«, wie es die Einheit von Form und Materie der Erkenntnis ist, kann sich nur selbst bestätigen. Wir müssen also, so meint Cassirer, in der Analyse des Phänomens der Bedeutung durchaus Verzicht üben lernen: Wir müssen auf eine bestimmte Form der Erklärung verzichten lernen. Um die damit verbundene Schwierigkeit zu illustrieren, zitiert Cassirer des Öfteren Goethe: »Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann […] ist das Erstaunen, und wenn ihn das Urphänomen in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewähren, und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen: hier ist die Grenze. Aber den Menschen ist der Anblick eines Urphänomens gewöhnlich noch nicht genug, sie denken, es müsse noch weiter gehen, und sie sind den Kindern ähnlich, die wenn sie in einen Spiegel geguckt, ihn sogleich umwenden, um zu sehen, was auf der anderen Seite ist.« 112

107

Ernst Cassirer, »Zur Logik des Symbolbegriffs [1938]«, in: ECW 22, S. 112–139, hier:

S. 119. Marc-Wogau, »Der Symbolbegriff in der Philosophie Ernst Cassirers«, S. 317. Cassirer, »Zur Logik des Symbolbegriffs«, S. 116. 110 Ebd. 111 Ebd., S. 120. 112 Goethe an Eckermann am 18. 02. 1829; zitiert nach: Ernst Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Vierte Studie: Formproblem und Kausalproblem [1942]«, in: ECW 24, S. 446–461, hier: S. 458. 108 109

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Bedeutung und Wirklichkeit

Diese Art der Entgegnung Cassirers auf Marc-Wogaus Einwand bewertet Jürgen Habermas als »nicht sehr überzeugend«. 113 Auch Habermas hält die These, dass Materie und Form der Erkenntnis einerseits dasselbe sein sollen, es andererseits aber auch möglich sein soll, sie gedanklich voneinander zu trennen, für unplausibel. Habermas und Marc-Wogau stehen mit dieser Einschätzung nicht alleine da. Prominent kritisierte auch Heidegger, dass »der terminus a quo bei Cassirer […] vollkommen problematisch« 114 bleibe. Und dieser »terminus a quo« ist bei Cassirer die Einheit von Materie und Form der Erkenntnis. Auch die zeitgenössische Philosophie zeigt sich gegenüber der Frage, wie das Verhältnis zwischen Form und Materie der Erkenntnis aufzufassen sei, ratlos. Wir sehen das beispielsweise an der Enttäuschung, in die Strouds Überlegungen führen und aus der er keinen Ausweg mehr sieht. 115 Es gibt in der zeitgenössischen Philosophie Stimmen, die aufgrund einer solchen Enttäuschung darauf hinweisen, dass wir das Verhältnis zwischen Form und Materie der Erkenntnis anders auffassen müssen, als es in der dogmatischen Metaphysik geschieht. 116 Aber meist wird hier zwar die Diagnose gestellt und der skeptische Zweifel gegen das gerichtet, was für den dogmatischen Metaphysiker eine »Impression« ist; wie sich aber das Verhältnis von Form und Materie »selbst aufklären und beglaubigen« könne, bleibt eine offene Frage. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen zeigt sich an dieser Stelle als anschlussfähig. Sie zeigt auf, dass wir sehen können, wie sich das Urphänomen der Bedeutung als Urphänomen selbst beglaubigt, wenn wir uns vergegenwärtigen, was menschliche Symbole sind. Das ist das Thema des nächsten Kapitels.

Jürgen Habermas, »Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung. Ernst Cassirers humanistisches Erbe und die Bibliothek Warburg«, in: ders., Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck: Philosophische Essays (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997), S. 9–40, hier: S. 32. 114 Zitiert nach Wunsch, Fragen nach dem Menschen, S. 43. 115 Vergleiche das vorhergehende Kapitel sowie Stroud, Engagement and metaphysical dissatisfaction. 116 Vgl. beispielsweise Adrian Haddock, »Wahrnehmung und Gegebensein«, in: Kern; Kietzmann (Hrsg.), Selbstbewusstes Leben: Texte zu einer transformativen Theorie der menschlichen Subjektivität, S. 190–208; sowie Conant, »Die Einheit des Erkenntnisvermögens bei Kant«, S. 229–269. 113

2. Das Symbol

D

as Denken hat in der Wahrnehmung keine äußere Grenze. Es muss sich nicht nach der Wahrnehmung richten und diese nicht einfach hinnehmen, denn es setzt nicht äußerlich an das an, was durch die Wahrnehmung gegeben ist. Die These von der Priorität des Bedeutungsproblems vor dem Wirklichkeitsproblem beseitigt das Dogma von der »Autarkie und Autonomie, von der Selbstgenügsamkeit und Selbstverständlichkeit der Wahrnehmungserkenntnis«. 1 Damit wird dem Denken nur scheinbar sein Maßstab und seine Richtschnur entzogen. Im letzten Kapitel haben wir gesehen, dass ein Realismus, für den die Wirklichkeit etwas Gegebenes ist, das durch die Erkenntnis wiedergegeben oder abgebildet werden soll, notwendigerweise zu einer Selbstauflösung des Geistes führt. Würde es eine Materie der Erkenntnis geben, die vor und unabhängig von allem Denken besteht, dann würde dem Denken immer der Charakter der Subjektivität anhaften. Ein Denken, das in einer solch äußeren Beziehung zur Wirklichkeit steht, kann der Wirklichkeit nicht gewachsen sein. Es bleibt immer hinter dem zurück, was wirklich ist, es ist bloße Spiegelung und letztendlich Fiktion. Die Objektivität der Erkenntnis, so sahen wir, hat vielmehr ihre Voraussetzung darin, dass Form und Materie der Erkenntnis eine Einheit bilden. Das Denken kommt zum Sein nicht äußerlich hinzu. Das ist die These von der Geistigkeit der Sinnlichkeit, die wir im letzten Kapitel entwickelt haben. Diese These ist rätselhaft. Wie kann etwas dasselbe sein und doch voneinander unterschieden? Die Möglichkeit, zwischen Form und Materie zu unterscheiden, kann dann nicht bedeuten, dass sie sachlich voneinander gelöst werden können. Form und Materie weisen keine Eigenständigkeit auf. Das ist eine Weise, die These von der Geistigkeit der Sinnlichkeit zu explizieren: Würden wir die Korrelation von Materie und Form auflösen, so würden wir nicht zwei Bestandteile in den Händen halten, sondern gar nichts. Die Schwierigkeit besteht also darin, eine solche Einheit zu denken, die Kant mit dem Begriff der Synthesis bezeichnet: die Einheit eines Verschiedenen. Eine synthetische Einheit ist eine Einheit, die sich nicht aus Teilen zusammensetzt, sondern vielmehr den Teilen als ihrer notwendigen Bedingung vorausgeht. Wie kann eine solche Einheit gedacht werden, die weder die Summe ihrer Teile ist noch eine Identität des in ihr Enthaltenen impliziert? Wie ist es möglich, dass die Sinnlichkeit des Menschen sowohl rezeptiv als auch spon1

Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 235 f.

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tan ist? Die Aufgabe und Schwierigkeit, eine solche Einheit zu verstehen, beschreibt Cassirer folgendermaßen: »Für die kritische Betrachtung der Grundgegensätze entsteht somit stets die Doppelaufgabe: eine unlösliche Korrelation zwischen Bestimmungen zu schaffen, ohne sie ihrem Begriffe nach ineinander aufgehen zu lassen.« 2

Es ist Cassirers eigenständige Leistung über Kant hinaus und das, was seinem Werk für die zeitgenössische Debatte Bedeutung verleiht, dass er dieses Problem der synthetischen Einheit von Form und Materie der Erkenntnis in Zusammenhang mit dem Symbolgebrauch des Menschen bringt. Die These Cassirers ist, dass das Symbol die Realität der Synthese von Geistigkeit und Sinnlichkeit ist. In einem Symbol sind Geistigkeit und Sinnlichkeit sowohl eins als auch voneinander unterschieden. Wir können die Schwierigkeiten und Aporien der dogmatischen Metaphysik, die uns im ersten Kapitel dieser Arbeit beschäftigt haben, hinter uns lassen, wenn wir uns einer Analyse des Symbols und der Symbolrelation zuwenden. 3 Denn die Analyse der Symbolrelation zeigt, dass kein Symbol zu dem, was es bezeichnet, in einer mittelbaren Beziehung steht. Der »Hinweis« auf etwas anderes, der in einem Symbol enthalten ist, ist von Formen des »Beweisens«, des »Folgerns« und »Schließens« streng zu unterscheiden. 4 Wir schließen nicht von einem Symbol auf seine Bedeutung oder folgern diese aus jenem. In einem Symbol erscheint der Sinn unmittelbar. Die Symbolrelation ist damit ein Verhältnis, das von Verhältnissen, wie sie innerhalb der Wirklichkeit auftreten, zu unterscheiden ist. Die Symbolrelation ist ein Verhältnis sui generis. Diese wesentliche These Cassirers ist in seinem Werk durchgängig zu finden und er formuliert sie auf unterschiedliche Art und Weise. Er schreibt, dass die Symbolbeziehung keine »real-dingliche« und keine »ontologische« 5 Beziehung ist und dass sie sich »nicht dadurch verständlich machen [lässt], daß man ihr irgendwelche Seinsbestimmungen – mag es sich nun um Bestimmungen der Kausalität oder um solche der Gleichheit oder Ähnlichkeit zwischen Dingen oder um Verhältnisse des ›Ganzen‹ zum ›Teil‹ handeln – unterschiebt«. 6 Betrachtet man ein Symbol, so folge das »Geistige« nicht dem Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit: Dritter Band, S. 10. 3 Vgl. dazu Cassirers Kritik an Nicolai Hartmann: Cassirer, »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie«, hier: S. 77 f. 4 Vgl. bspw. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 137. 5 Vgl. bspw. Cassirer, »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie«, S. 78. 6 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 375. 2

Das Symbol

»Sinnlichen« 7 Das »symbolische Verhältnis«, so schreibt Cassirer auch, gehört »einer ganz anderen Ebene […] [an] als alle jene Beziehungen, wie sie unter empirisch-realen Objekten, unter wirklichen Dingen, stattfinden«. 8 Stattdessen handle es sich bei der Symbolrelation um ein »Verhältnis sui generis«, um eine »Offenbarung und Manifestation geistiger Grundfunktionen im Material des Sinnlichen selbst«. 9 An anderer Stelle spricht Cassirer von einer »Verkörperung des Logos«. 10 Im Symbol erscheint uns ein Ganzes, dass sich nicht aus zwei Elementen nachträglich zusammensetzt und sich nichtsdestotrotz in sich selbst differenziert. Ein Symbol, so sagt Cassirer auch, ist »in sich selbst gespalten, weil es immer und überall eins und doppelt ist«. 11 Es ist die Synthese von Sinnlichkeit und Sinn. Cassirer warnt, dass »jede Betrachtungsweise, die diese Synthese nicht zureichend erklärt, […] unzulänglich« 12 bleibt. Betrachten wir diese Auffassung des Symbols und der Symbolrelation etwas genauer. Jedes Symbol hat eine materielle Seite. Worte beispielsweise bestehen aus Schallwellen, Skizzen oder Bilder aus schwarzen Strichen oder Farbkleksen. Wenn wir ein Symbol betrachten, können wir unsere Aufmerksamkeit also immer auch auf seine materielle Seite lenken und diese zum Gegenstand der Analyse machen. 13 Ein Symbol ist aber mehr als das, was physisch vorliegt. Wir erfassen das Wesentliche eines Symbols nicht, wenn wir uns lediglich auf die Betrachtung seiner materiellen Seite konzentrieren. Ein Symbol hat eine Bedeutung und weist damit über sich selbst hinaus. Diese Bedeutung kommt nicht additiv zu der materiellen Seite des Symbols hinzu, so als wäre ein Symbol Materie plus Form. Ein Symbol ist etwas Sinnliches, in dem unmittelbar ein Sinn erscheint. 14 Cassirer betont damit, dass ein Symbol zwar notwendigerweise eine materielle Seite hat, diese Materialität der Erkenntnis gleichzeitig aber niemals als rein physisches Datum vorliegt. 15 Die Materialität des Symbols ist, in anderen Worten, »unentbehrlich« und gleichzeitig »unselbststän-

Vgl. bspw. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 45. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 271. 9 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 45. 10 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 124. 11 Cassirer, »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie«, S. 254. 12 Ernst Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Dritte Studie: Naturbegriffe und Kulturbegriffe [1942]«, in: ECW 24, S. 414–445, hier: S. 415. 13 Vgl. bspw. Cassirer, »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie«, S. 257. 14 Vgl. dazu auch Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 105. 15 Ernst Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Zweite Studie: Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung [1942]«, in: ECW 24, S. 391–413, hier: S. 402. 7 8

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dig«. 16 Wir sehen nicht erst die Striche auf dem Papier und dann in einem zweiten Schritt das Dargestellte, sondern unmittelbar den gezeichneten Apfel. Die Materialität wird sozusagen transparent und durchlässig. In dem Maße, in dem der Sinn des Symbols erfasst wird, tritt die Materialität des Symbols in den Hintergrund. Im Symbol liegt uns eine geistige Sinnlichkeit bzw. ein sinnlicher Geist vor. Die Geschichte der Theorie von Zeichen und Symbolen ist demgegenüber voll von Versuchen, Bedeutungsverhältnisse auf Seinsverhältnisse zu reduzieren. Der Zusammenhang zwischen Symbol und Symbolisierten oder Darstellung und Dargestellten wird dann so verständlich zu machen versucht, dass er auf eine Ähnlichkeit, einen kausalen Zusammenhang o. ä. zwischen dem Symbol und dem Symbolisierten zurückgeführt wird. Cassirer argumentiert, dass sich alle diese Versuche in einem Zirkel bewegen. 17 Dass etwas in sich selbst den Hinweis auf etwas anderes enthält, so wie es bei einem Symbol der Fall ist, ist niemals dadurch zu erläutern, dass eine nachträgliche Beziehung zwischen zwei Elementen gestiftet wird. Wir haben diese Versuche im ersten Kapitel dieser Arbeit in Hinblick auf die empiristischen und rationalistischen Versuche, die Relation zwischen Denken und Sein zu erfassen, besprochen. Dass etwas in sich selbst den Hinweis auf etwas anderes enthält, ist beispielsweise nicht dadurch zu erläutern, dass es dieses andere als Bestandteil seiner selbst enthält. Denn dieser Bestandteil, der selbst ein Teil der Wirklichkeit ist, soll ja nicht als solcher hingenommen werden, sondern als Hinweis aufgefasst werden. Was aber erklärt nun diesen hinweisenden Charakter? Ein Hinweis könnte dieser Bestandteil dieser Auffassung gemäß nur dann sein, wenn er wiederum selbst einen Bestandteil dessen enthält, auf das er hinweist, und so ad infinitum. Intention ist nicht »Inexistenz«. 18 Aus der Einsicht, dass die Symbolrelation keine dinglich-ontologische Relation ist, folgt aber ein Weiteres und Wesentliches: Ein Symbol ist kein Ding unter Dingen. Wenn die Beziehung zwischen einem Symbol und dem, was es bezeichnet, ein Verhältnis sui generis ist, das keine Entsprechung zu Verhältnissen hat, die innerhalb der Wirklichkeit vorkommen, so kann das Symbol kein weiterer Bestandteil der Wirklichkeit sein, der zu anderen Bestandteilen der Wirklichkeit hinzutritt. Erkennen wir an, dass Bedeutungsverhältnisse nicht auf Seinsverhältnisse reduziert werden können, so müssen wir anerkennen, dass Symbole den Bereich der Wirklichkeit nicht erweitern. 16 17 18

S. 25.

Vgl. Cassirer, »Zur Logik des Symbolbegriffs«, S. 119. Vgl. bspw. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 136. Cassirer, »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie«,

Das Symbol

Das ist ein schwieriger Gedanke, weil er dem entgegensteht, was wir intuitiv unter einem Symbol zu verstehen meinen. Wir dürfen nicht auf unser intuitives Verständnis des Symbolischen zurückgreifen, wenn wir Cassirers Auffassung des Symbols verstehen wollen, denn dann begreifen wir Symbole als Dinge unter Dingen. Es ist beispielsweise naheliegend, anzunehmen, dass ich, indem ich einen Gegenstand durch ein Symbol bezeichne – indem ich »Apfel« zu dem Apfel hier sage oder das Bild eines Apfels aufmale –, den Bereich des Wirklichen erweitere. Denn nun gibt es nicht mehr nur den Apfel hier, sondern auch noch das Symbol als Wort oder Bild. Für Cassirer aber sind Symbole keine Wirklichkeit, die zu einer bestehenden Wirklichkeit hinzutreten und diese erweitern. Cassirer formuliert den Gedanken, dass Symbole den Bereich der Wirklichkeit nicht erweitern, auch so, dass er sagt, dass die Symbolfunktion eine allumspannende oder eine universelle Funktion ist. 19 Symbole sind für Cassirer also keine Erweiterung der Wirklichkeit, so als würden sie ergänzend zu dem hinzutreten, was es bereits gibt. Vielmehr sind Symbole für Cassirer »Organe der Wirklichkeit«. Er schreibt: »Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, wird der Mythos, wird die Kunst, werden die Sprache und die Erkenntnis zu Symbolen: nicht in dem Sinne, daß sie ein vorhandenes Wirkliches in der Form des Bildes, der hindeutenden und ausdeutenden Allegorie bezeichnen, sondern in dem Sinne, daß jede von ihnen eine eigene Welt des Sinnes erschafft und aus sich hervorgehen läßt. In ihnen stellt sich die Selbstentfaltung des Geistes dar, kraft deren es für ihn alleine eine ›Wirklichkeit‹, ein bestimmtes und gegliedertes Sein gibt. Nicht Nachahmung dieser Wirklichkeit, sondern Organe derselben sind jetzt die einzelnen symbolischen Formen, sofern nur durch sie Wirkliches zum Gegenstand der geistigen Schau gemacht und damit als solches sichtbar werden kann.« 20

Wir können diesen Gedanken auch so formulieren, dass Symbole Bedingungen der Wirklichkeit sind. »Bedingung« ist hier im kantischen Sinn zu verstehen, also nicht als etwas, das schon gegeben sein muss, bevor anderes da ist, sondern als etwas, das notwendigerweise in dem enthalten ist, was »Wirklichkeit« bedeutet. 21 Symbole sind Bedingung der Möglichkeit von Wirklichkeit. Das heißt: Es sind nicht zwei verschiedene Sachverhalte, die Wirklichkeit des Apfels wahrzunehmen und ihn als »Apfel« zu bezeichnen oder ein Bild von ihm anzufertigen, sondern ein Sachverhalt. Die Symbole, die sich der Mensch in Religion und Mythos, in Sprache und Wissenschaft erschafft, bezeichnen Vgl. bspw. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 52. Ernst Cassirer, »Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen [1925]«, in: ECW 16, S. 227–311, hier: S. 233. 21 Vgl. oben, S. 51. 19 20

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damit nicht eine Wirklichkeit, die vor und unabhängig von dem menschlichen Symbolgebrauch bestehen würde. Vielmehr ist die Wirklichkeit des Menschen die Wirklichkeit des Symbolischen. 22 Die Symbole des Menschen können, wenn wir von der realistischen Weltauffassung ausgehen, der die Prämisse zugrunde liegt, dass es eine Wirklichkeit gibt, die unabhängig von der Erfassung dieser Wirklichkeit besteht, nur als Verhüllungen des Seins aufgefasst werden. Wie das Denken im Allgemeinen, so gilt auch für alle menschlichen Symbole, dass sie im Rahmen eines solchen Realismus notwendigerweise als subjektiv aufgefasst werden müssen. Cassirers Auffassung des Symbols bezeichnet die Gegenposition zu dieser Auffassung. Symbole sind so wenig subjektiv, dass sie vielmehr die einzige Weise sind, in der dem Menschen überhaupt Wirkliches erfassbar ist. Symbole sind keine Substanzen, so können wir diesen Gedanken auch ausdrücken, sondern haben eine Funktion. 23 Ihre Funktion besteht darin, eine objektive Wirklichkeit zu ermöglichen. Das ist nur dann verständlich, wenn Symbole nicht erst für das Denken, sondern schon für die Wahrnehmung wesentlich sind. Cassirer argumentiert dementsprechend, dass zwischen dem Gebrauch von Symbolen und der Wahrnehmung des Menschen ein innerer Zusammenhang besteht. Das Dogma von der Autarkie und Selbstgenügsamkeit der Wahrnehmungserkenntnis verlässt Cassirer, indem er zeigt, dass der Symbolgebrauch nicht etwas ist, das an einem bereits gegebenen Wahrnehmungsmaterial ansetzt, sondern in die Wahrnehmung selbst eingreift. Symbolgebrauch, so können wir auch sagen, ist eine Form der Wahrnehmung. Symbole kommen also nicht zu einer gegebenen Materie der Wahrnehmung wie Etiketten hinzu, sondern sind eine Weise, wahrzunehmen. Cassirer schreibt: »[…] nicht nur unser Denken der Welt, sondern […] schon die anschauliche Gestalt, in welcher für uns die Wirklichkeit ›vorhanden‹ ist, [steht] unter dem Gesetz und unter der Herrschaft der symbolischen Formung […].« 24

Symbole sind für Cassirer also nicht ein Medium, durch das etwas bezeichnet wird, das auch unabhängig von dieser Bezeichnung als solches wahrgenommen wird. Vielmehr formen Symbole das Wahrnehmungserlebnis selbst. Für Cassirer verwandelt der Symbolgebrauch die Wahrnehmung des Menschen. Vgl. auch: Kunst, Mythos, Religion, Erkenntnis »sind somit nicht verschiedene Weisen, in denen sich ein an sich Wirkliches dem Geiste offenbart, sondern sie sind die Wege, die der Geist in seiner Objektivierung, d. h. in seiner Selbstoffenbarung, verfolgt«. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 7. 23 Vgl. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 239. 24 Ebd., S. 238. 22

Das Symbol

Der Symbolgebrauch impliziert eine »prinzipielle Wandlung« des »Psychischen selber«. 25 Die Interpretation des Symbolischen als eine Antwort auf die starke Lesart der kopernikanischen Wende durch Kant ist, so meine ich, die beste Weise, Licht in das Dunkel der Frage zu bringen, was Cassirer unter einem »Symbol« versteht. Auch in der Cassirer-Forschung besteht hinsichtlich dieser Frage keine übereinstimmende Klarheit. Ein gewichtiger Grund für die anhaltende Rätselhaftigkeit, die den Begriff des Symbolischen begleitet, besteht meines Erachtens darin, dass Cassirer den dritten Teil seiner Philosophie der symbolischen Formen mit der Darstellung der Auffassung des Symbolischen beginnt, die er ablehnt. Die Einleitung beginnt mit einem Konditionalsatz. Wir dürfen die Darstellung, die dann folgt, nicht als Cassirers Auffassung lesen, sondern als die, die aus den angenommenen Bedingungen folgt. Cassirer beginnt also mit einer möglichen Auffassung des Symbolischen und der Aufgabe einer Philosophie der symbolischen Formen, der er widerspricht. Er lehnt die Auffassung ab, dass Symbole »Brechungen« seien, »die das in sich einheitliche und einzigartige Sein erfährt, sobald es vom ›Subjekt‹ her aufgefaßt und angeeignet wird«. 26 Es wird aber immer wieder angenommen, dass Cassirer an dieser Stelle etwas darüber sagt, was seiner Auffassung nach Symbole seien und was die Aufgabe einer Philosophie der symbolischen Formen ist, wie er sie versteht. Das kann nur zu Verwirrung führen, denn es stimmt offensichtlich in keiner Weise mit Cassirers Auffassung überein. 27

Ebd., S. 237. Ebd., S. 1. 27 Matthias Wunsch argumentiert beispielsweise, dass Cassirer in der Einleitung zum dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen den Eindruck erwecke, dass »die Funktionsweise von symbolischen Formen […] der von optischen Linsen analog [sei], in denen eine von allen solchen Formen unabhängige Wirklichkeit oder Welt so oder so erscheint«. Wunsch sagt auch, dass dies im Widerspruch zu der Auffassung steht, dass es keine Materie gibt, die allen symbolischen Formen gleichermaßen zugrunde liegt, was »Cassirer […] aus guten Gründen […]« annimmt. Daran, dass Cassirer diese These vertritt, die These also, dass zwischen Materie und Form der Erkenntnis eine ursprüngliche Einheit besteht, gibt es aber meines Erachtens keinen Grund zu zweifeln, es sei denn, man überliest, dass die genannte Stelle in der Einleitung im Konjunktiv geschrieben ist. Vgl. Wunsch, Fragen nach dem Menschen, S. 32. Wunsch zeigt darauffolgend auch, dass es irrig wäre, Cassirer die These zu unterstellen, dass Symbole nachträglich zu einer gegebenen Materie hinzutreten. 25 26

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2.1 Symbol und Wahrnehmung

Das Symbol, so sagt Cassirer, setzt nicht äußerlich an ein bereits fertig gegebenes Wahrnehmungserlebnis an und fügt ihm additiv eine willkürliche Bezeichnung hinzu, sondern beschreibt vielmehr eine Form der Wahrnehmung selbst. Diese Auffassung der Bedeutung des Symbols widerspricht der gängigen Auffassung dessen, was in der zeitgenössischen Philosophie unter einem Symbol verstanden wird. Insofern, als an dem Dogma von der Autarkie und Autonomie der Wahrnehmungserkenntnis festgehalten wird, kann dem Symbol nur eine sekundäre Rolle zugesprochen werden. Die Produktivität von Symbolen muss sich, wenn das Bedeutungsproblem als Wirklichkeitsproblem aufgefasst wird, darauf begrenzen, die Wirklichkeit wiederzugeben oder zu bezeichnen und an ihr möglicherweise bestimmte Operationen zu vollführen. Diese Selbstverständlichkeit, mit der davon ausgegangen wird, dass Symbole, insbesondere die Sprache, an die Wahrnehmung einer gegebenen Welt von Objekten anschließen, wird exemplarisch an folgender Aussage von Barry Stroud deutlich: »How could language be learned at all if we were not capable of perceiving things in a way that does not require believing or knowing something about the things we see?« 28

Sprache, so meint Stroud, kann nur dann gelernt werden, wenn sie additiv zu etwas hinzutritt, das wir wahrnehmen, ohne dass wir dabei bereits etwas über dieses Wahrgenommene glauben oder wissen. Paul Bloom beschreibt diese Auffassung des Spracherwerbs als einer additiven Zutat zum Wahrnehmungserlebnis folgendermaßen: »It looks simple. A 14-months-old toddles after the family dog […] ›Dog,‹ the child’s mother tells her. ›You’re chasing the dog. That’s the dog.‹ The child stops, points a pudgy hand at the dog, and shrieks ›Daw!‹The mother smiles: ›Yes, dog.‹ Many parents – and many philosophers and psychologists – would say that word learning is as simple as it looks. It can be explained in part by the processes of association and imitation and in part by the efforts of parents who want their children to learn how to speak. A child starts by listening to her parents use Barry Stroud, »Seeing What Is So«, in: Johannes Roessler; Hemdat Lerman; Naomi Eilan (Hrsg.), Perception, causation, and objectivity (Oxford, New York: Oxford University Press 2011), S. 92–102, hier: S. 94 Vgl. auch: »I think our standing in this relation to objects in the world is important, perhaps essential, to the possibility of propositional attitudes about them, and so to the possibility of objektive thought.« Barry Stroud, »Perceptual Knowledge and the Primacy of Judgement«, in: Journal of the American Philosophical Association 1, Nr. 3 (2015), S. 385–395, hier: S. 393. 28

Symbol und Wahrnehmung

words and comes to associate the words with what they refer to. […] Word learning is merely the memorization of a series of paired associates: dog refers to dogs; water refers to water, Mommy refers to Mommy, and so on.« 29

Bloom beschreibt in diesem Zitat die Auffassung, dass der Worterwerb des Kindes bedeutet, dass das Wort additiv zu einem bereits fertigen Wahrnehmungserlebnis hinzutritt, als das Erlernen von Assoziationspaaren. Einem bestimmten Wahrnehmungserlebnis wird ein bestimmter Laut zugeordnet. Bloom wendet gegen diese Auffassung ein, dass sie der Komplexität des Worterwerbs nicht gerecht wird. 30 In seiner detaillierten Beschreibung dessen, was der Worterwerb des Kindes erfordert, verlässt Bloom aber nicht das Dogma von der Autarkie und Autonomie der Wahrnehmungserkenntnis. Auch für Bloom greift das Symbol am Wahrnehmungserlebnis an, es greift nicht in dieses ein und verwandelt es nicht. Während Stroud darauf verweist, dass der Spracherwerb nur dann möglich und verständlich sei, wenn wir ihn als eine additive Zutat zum Wahrnehmungserlebnis auffassen, führt Cassirer interessanterweise Erwägungen zur Möglichkeit des Spracherwerbs als Argument für die gegenteilige Auffassung an. Wir können nur dann verstehen, wie Kinder Sprache erlernen, so meint Cassirer, wenn die Sprache eben keine additive Zutat zum Wahrnehmungserlebnis sei. Hier ist ein Zitat: »Such an attitude [mania for going about naming things] would not be understandable were it not for the fact that the name, in the mental growth of the child, has a function of the first importance to perform. If a child when learning to talk had simply to learn a certain vocabulary, if he only had to impress on his mind and memory a great mass of artificial and arbitrary sounds, this would be a purely mechanical process. It would be very laborious and tiresome, and would require too great conscious effort for the child to make without certain reluctance, since what he is expected to do would be entirely disconnected from actual biological needs. The ›hunger for names‹ which at a certain age appears in every normal child […] proves the contrary. By learning to name things a child does not simply add a list of artifical signs to his previous knowledge of ready-made empirical objects. He learns rather to form the concepts of those objects, to come to terms with the objective world.« 31

Paul Bloom, How Children Learn the Meanings of Words (Cambridge, Mass.: MIT Press 2001), S. 1. 30 Ebd. 31 Cassirer, Essay on Man [1944]. Hrsg. von Birgit Recki. ECW 23 (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2006), S. 143. 29

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Würde Sprache im Erlernen von artifiziellen Lauten und Zeichen bestehen, die wie Etiketten zu einem bereits in sich selbst abgeschlossenen Wahrnehmungserlebnis hinzutreten, dann – so sagt Cassirer hier – müsste der Spracherwerb für das Kind eine äußerst ermüdende und mühselige Tätigkeit sein. 32 Es wäre unverständlich, warum das Kind einen »Hunger nach Namen« entwickeln sollte, wenn durch das Wort einfach das sinnlich Gegebene um eine weitere Eigenschaft erweitert werden würde. Würde das Wort zu der Wahrnehmung eines Objekts hinzutreten, so hätte dieses Objekt nun neben seinen »1000 sonstigen Einzelqualitäten […] seinen optischen, taktilen, akustischen Qualitäten noch eine weitere ›Eigenschaft‹«. 33 Warum sollte das Kind eine solche weitere Eigenschaft des Dinges besonders interessieren? Auch andere Autoren haben natürlich gesehen, dass es eine höchst erstaunliche Leistung wäre, würde das Kind durch den Worterwerb Assoziationspaare erlernen. Bloom verweist darauf, dass das Kind durchschnittlich bis zum Ende der Schulzeit täglich mindestens 10 neue Wörter erlernt und zitiert Steven Pinkert, der Kinder aufgrund dieser angenommenen Fähigkeit als »lexikalische Staubsauger« bezeichnet, die etwas vollbringen, was vergleichbar damit wäre, alle neunzig Minuten ein Fußballergebnis, ein historisches Datum oder eine Telefonnummer auswendig zu lernen. 34 Cassirer zeigt sich von dieser Leistung nicht beeindruckt, sondern nimmt solche Überlegungen als Hinweis darauf, dass wir den Charakter des Spracherwerbs anders auffassen müssen. Wenn das Kind Wörter erlernt, so erlernt es nach Cassirer eben nicht willkürliche Verbindungen zwischen Laut und Objekt, sondern vollbringt eine Leistung ganz anderer Art: den Aufbau einer objektiven Welt. 35 Den Aufbau einer objektiven Welt können wir aber nicht so begreifen, das ist Cassirers These, als würden Symbole an einem gegebenen Material eine nachträgliche Operation vollziehen. Symbole strukturieren nicht einfach nur etwas, das auch ohne Symbole bereits vorhanden ist, sondern sind, so können wir es vielleicht sagen, die Struktur des Wahrgenommenen selbst,

Ernst Cassirer, Vorlesungen und Studien zur Philosophischen Anthropologie, ECN 6, S. 317 f. 33 Ernst Cassirer, Symbolische Prägnanz, Ausdrucksphänomen und ›Wiener Kreis‹, ECN 4, S. 39. 34 Bloom, How Children Learn the Meanings of Words, S. 6 Vgl. zur deutschen Übersetzung des Zitats Steven Pinker, Der Sprachinstinkt: Wie der Geist die Sprache bildet (München: Kanur 1998), S. 173. 35 Vgl. bspw. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 212; Vgl. auch Ernst Cassirer, »Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie [1923]«, in: ECW 16, S. 105–133. 32

Symbol und Wahrnehmung

außerhalb dessen für den symbolgebrauchenden Menschen gar nichts wahrnehmbar ist. Cassirers These ist dementsprechend, dass Symbole eine Form der Wahrnehmung sind. Zwischen Wahrnehmung und Symbolgebrauch besteht ein innerer Zusammenhang. Er schreibt: »[…] die wesentliche und eigentümliche Leistung jeder symbolischen Form – der Sprachform, wie der mythischen Form oder der reinen Erkenntnisform – [besteht] nicht [darin], ein gegebenes Material von Eindrücken, das in sich schon eine feste Bestimmtheit, eine gegebene Qualität und Struktur besitzt, einfach aufzunehmen, um ihm sodann eine andere, aus der eigenen Energie des Bewußtseins stammende Form gleichsam von außen her auszupfropfen, sondern […] die charakteristische Leistung des Geistes [setzt] schon weit früher ein […]. Auch das scheinbar ›Gegebene‹ erweist sich bei schärferer Analyse als bereits hindurchgegangen durch bestimmte Akte, sei es der sprachlichen, sei es der mythischen oder der logisch-theoretischen ›Apperzeption‹. […] In dieser primären, nicht in jener sekundären Formung liegt dasjenige, was das eigentliche Geheimnis jeder symbolischen Form ausmacht und was immer von neuem das philosophische Staunen wachrufen muß.« 36

Die Anerkennung dieser »primären Formung«, also die Auffassung, dass das Symbol nicht zum Wahrnehmungserlebnis von außen hinzukommt, sondern selbst eine Form der Wahrnehmung ist, ist der entscheidende Zug, der Cassirers Auffassung des Symbols kennzeichnet. Cassirer sagt hier auch, dass es ein erstaunlicher Gedanke ist, dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem Symbolgebrauch des Menschen und seiner Wahrnehmung besteht. Das Erstaunen, so denke ich, ist selbst gerade durch diesen inneren Nexus zwischen Symbolgebrauch und Wahrnehmung bedingt. Denn es gibt keinen Ort, an dem wir unseren Symbolgebrauch abstreifen könnten und überprüfen könnten, wie eine nicht-symbolische Wahrnehmung aussehen könnte. 37 Wie voraussetzungsreich unsere Wahrnehmung ist, ist uns nicht bewusst, weil Symbole als Bedingungen unserer Wahrnehmung keine neue »Objektwelt« bilden. 38 Dies impliziert, dass ein grundlegender Unterschied zwischen der Wahrnehmung nicht-symbolgebrauchender Tiere und der Wahrnehmung symbolgebrauchender Menschen besteht. Tiere, so folgt aus Cassirers Auffassung, und Menschen nehmen nicht auf dieselbe Art und Weise wahr und der Grund Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken [1925], ECW 12, S. 111. 37 Vgl. Cassirer, Essay on Man, S. 30. 38 Vgl. oben, S. 51. 36

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für diesen Unterschied der Wahrnehmung ist eben der Symbolgebrauch des Menschen. Diese Auffassung wird in der heutigen Debatte selten geteilt. Als paradigmatisches Beispiel sei an dieser Stelle auf Michael Tomasello verwiesen, der schreibt: »The chimpanzee perceives the scene in the same basic way that we would; our visual systems are similar enough that we see the same basic objects and their spatial relationships.« 39

Die menschliche Wahrnehmung, so meint Tomasello, unterscheidet sich nicht wesentlich von der Wahrnehmung der Schimpansen. Unsere Wahrnehmungsorgane sind einander so ähnlich, dass wir davon ausgehen dürfen, dass wir dasselbe wahrnehmen. Tomasello sagt damit, dass es Unterschiede in der Wahrnehmung verschiedener Spezies geben kann, wenn die Spezies Unterschiede der Wahrnehmungsorgane aufweisen. Unterschiedliche Spezies sind für unterschiedliche Reize sensitiv. Sie unterschieden sich sowohl hinsichtlich der Reize, für die sie empfänglich sind, als auch hinsichtlich ihrer Reizschwellen. Wenn aber die Wahrnehmungsorgane zweier Spezies hinreichend ähnlich sind – wie im Fall von Mensch und Schimpanse –, dann dürfen wir davon ausgehen, dass sie auf dieselbe Art und Weise wahrnehmen. Dieser Auffassung Tomasellos liegt die Annahme zugrunde, dass es eine unmittelbare Korrespondenz zwischen Reiz und Wahrnehmung gibt. 40 Tomasello fasst das Problem der Wahrnehmung unter einem »psychologischen Gesichtspunkt« 41 auf. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet ist das Problem der Wahrnehmung dann gelöst, wenn wir die Wahrnehmung in ihrer Genese erfasst haben, wenn also die Regeln erkannt sind, die zwischen Reiz und Wahrnehmung bestehen. Gemäß dieser Auffassung wird die Wahrnehmung ursächlich durch die Außenwelt bestimmt und erscheint damit als Abbild einer gegebenen Wirklichkeit. Was Mensch und Schimpanse also gemeinsam ist, so verstehe ich Tomasellos Auffassung, sind die Reize, die sie empfangen und damit das Bild von der Wirklichkeit, dass sie erzeugen. Nun ist es so, dass Mensch und Schimpanse dieses Bild der Wirklichkeit unterschiedlich interpretieren. Denn es sind gegebene Relevanzstrukturen, die bestimmen, auf welche Art und Weise die gegebene Wirklichkeit aufgefasst

Michael Tomasello, A natural history of human thinking (Cambridge, Mass: Harvard University Press 2014), S. 11. 40 Ernst Cassirer, »The Concept of Group and the Theory of Perception [1944]«, in: ECW 24, S. 209–250, hier: S. 223. 41 Vgl. dazu Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis [1929], ECW 13, S. 64 f. 39

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wird. 42 Die Relevanzstrukturen unterscheiden sich zwischen Mensch und Tier, aber auch innerhalb einer Spezies von Situation zu Situation: Ein Schimpanse auf Futtersuche richtet seine Aufmerksamkeit auf anderes als ein Schimpanse, der auf der Flucht ist. Tomasello unterscheidet also zwischen Wahrnehmung und Aufmerksamkeit und erst die Aufmerksamkeit bestimmt, so können wir ihn interpretieren, den Gehalt der Anschauung. Die Unterschiede der Wahrnehmung zwischen Mensch und Schimpanse bestehen also, so können wir vielleicht sagen, im sekundären Umgang mit dem Bild der äußeren Wirklichkeit, das durch die Wahrnehmung erfasst wird. Tomasellos Auffassung von Wahrnehmung können wir damit als eine Zwei-Stufen-Auffassung bezeichnen. In einem ersten Schritt wird ein Bild der Wirklichkeit erfasst, in einem zweiten Schritt wird dieses Bild gemäß bestehender Relevanzstrukturen des jeweiligen Organismus interpretiert. Die Sprache kann in Tomasellos Auffassung nur im Rahmen einer solchen sekundären Operation am Material der Wahrnehmung in Erscheinung treten. Die Auffassung Cassirers, dass ein innerer Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung des Menschen und seinem Symbolgebrauch besteht, würde Tomasello ablehnen. Was ist Cassirer Argumentation gegen einen Standpunkt, wie Tomasello ihn vertritt? Cassirer kritisiert die Annahme, dass wir dann verstanden haben, was Wahrnehmung ist, wenn wir verstanden haben, auf welche Art und Weise Wahrnehmung auf Reize folgt. Der psychologische Blick auf das Problem der Wahrnehmung ist unzureichend. Er schreibt: »[…] perception is not a process of mere reproduction. The theory of tabula rasa is just as inadequate to account for ›reflection‹ as it is to account for pure ›sensation‹. We cannot compare perception to the reception of light by a photographic plate and the development of an image that is exclusively determined by the light falling on the plate. Only in rare, exceptional cases, under the artifical conditions of ›reduction‹, does this ever happen. There seems to be no stage, however ›primitive‹, of perception, at which perception constantly reacts to the ›same‹ stimulus by producing the ›same‹ sensation.« 43

Cassirer argumentiert hier, dass die Annahme, dass auf denselben Reiz regelmäßig derselbe Sinneseindruck folgt, falsch sei. Er weist damit die Auffassung zurück, dass eine unmittelbare Korrespondenz zwischen Reiz und Wahrnehmung besteht. Als Beleg führt er an, dass die phänomenologischen Tatsachen

Tomasello, A natural history of human, S. 11 f. Cassirer, »The Concept of Group and the Theory of Perception«, S. 231. Auf Deutsch: Ernst Cassirer, »Gruppenbegriff und Wahrnehmungstheorie«, in: ECN 8, S. 135–180, hier: S. 158 f. 42 43

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Das Symbol

diese These widerlegen. Insbesondere verweist er auf ein Phänomen, das er »Wahrnehmungskonstanz« 44 nennt und das zu seiner Zeit große Aufmerksamkeit erregt hat. 45 In Experimenten konnte nachgewiesen werden, dass beispielsweise die Wahrnehmung von Farbe oder der Größe von Dingen auch dann konstant bleibt, wenn sich die Beleuchtung bzw. die Entfernung der Dinge zum Betrachter verändern. Obwohl also die Reize, die auf die Wahrnehmungsorgane einwirken, sich ändern, bleibt die Wahrnehmung unverändert. Wir nehmen ein Papier, das unter normalen Umständen weiß ist, auch dann als weiß wahr, wenn die Beleuchtungsverhältnisse variieren. Cassirer zieht daraus den Schluss, dass die Gleichheit oder Ähnlichkeit von Reizen nicht ausreicht, um die Wahrnehmung zu bestimmen. 46 In anderen Worten: Nur weil Mensch und Schimpanse über ähnliche Wahrnehmungsorgane verfügen, dürfen wir daraus nicht schlussfolgern, dass sie auf dieselbe Art und Weise wahrnehmen. Cassirer merkt in dem zuletzt genannten Zitat an, dass die Wahrnehmung damit nicht mit einer fotografischen Platte vergleichbar sei. Eine fotografische Platte produziert ein Abbild. Wahrnehmung, so können wir Cassirers Einwand reformulieren, ist kein Bild und auch keine Summe von Bildern. Auch in diesem Punkt können wir eine unmittelbare Differenz zu Tomasellos Auffassung ausmachen: Tomasello legt nahe, dass wahrnehmen bedeutet, über Bilder zu verfügen. Direkt vor der bereits besprochenen Stelle illustriert er die Wahrnehmung eines Schimpansen durch ein Bild: »the image in Figure 2.1. is what a chimpanzee sees […]« 47 Das suggeriert, dass Tomasello Wahrnehmung als Produktion von Bildern verstanden haben möchte. Diese Auffassung Tomasellos ist zunächst deshalb plausibel, weil Wahrnehmung an das Hier und Jetzt gebunden ist. 48 Kraft unserer Wahrnehmung erfassen wir, was hier und jetzt der Fall ist. Es scheint so zu sein, als würde die Wahrnehmung dem einzelnen Moment verhaftet sein und ihn nicht überschreiten können. Das ist aber, so argumentiert Cassirer, eine verfehlte Auffassung dessen, was Wahrnehmung ist. Wahrnehmung ist kein Bild und keine Summe von Bildern. Auch eine vollkommene fotografische Platte, die nicht nur unzählige Bilder empfangen, sondern sie auch noch speichern und aufeinander abstimmen kann – ein Gedanke, der zu Cassirers Zeiten noch nicht

Vgl. bspw. Cassirer, »The Concept of Group and the Theory of Perception«, S. 219. Auf Deutsch: Cassirer, »Gruppenbegriff und Wahrnehmungstheorie«, S. 146. 45 Cassirer, »The Concept of Group and the Theory of Perception«, S. 220 f. 46 Vgl. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 139. 47 Tomasello, A natural history of human thinking, S. 10. 48 Vgl. Cassirer, »The Concept of Group and the Theory of Perception«, S. 218. 44

Symbol und Wahrnehmung

Wirklichkeit geworden war –, wäre nicht mit dem vergleichbar, was Wahrnehmung bedeutet. 49 Cassirer argumentiert, dass Wahrnehmung das Hier und Jetzt immer überschreitet und damit nicht nur rezeptiv ist – wie eine fotografische Platte –, sondern immer auch produktiv. Würde die Wahrnehmung das Hier und Jetzt nicht überschreiten, so sagt er, würde sie in einzelne Elemente zerfallen. Denn jeder Eindruck gibt uns ein anderes Bild des Gegenstandes – macht ihn uns in anderer Größe, Farbe oder Form vorstellig. 50 In der Wahrnehmung gleiten wir aber nicht in einem Strom von Eindrücken dahin, sondern streben danach, Gestalten herauszulösen. 51 Diese Möglichkeit, Gestalten herauszulösen, ist daran gebunden, dass wir in unserer Wahrnehmung nicht an dem einzelnen Eindruck haften bleiben und uns in ihn versenken. »Psychisches«, sagt Cassirer, besteht »nicht erst an sich, als isoliertes ›Datum‹ […], sondern […] die Beziehung [gehört] bereits zu seiner reinen Wesensbestimmtheit […].« 52 Für Cassirer ist damit das zentrale und eigentliche Rätsel der Wahrnehmung, dass wir in unserer Wahrnehmung nicht am partikularen Moment haften oder kleben bleiben: »[…] perception in general is not confined to the mere hic et nunc. Perception expands the particular datum […].« 53 Wahrnehmen bedeutet, so argumentiert er hier, dass kraft der Wahrnehmung der einzelne Moment überschritten wird. Wahrnehmung ist kein Aggregat, in dem verschiedene Sinneseindrücke nachträglich eine Einheit bilden. Wahrnehmung bedeutet das Eingeordnet-Sein von Sinneseindrücken in Sinneinheiten. In anderen Worten: Wahrnehmung ist keine Sukzession von Sinneseindrücken, sondern eine Totalität. Hier ist ein weiteres Zitat: »Es gibt keine bewußte Wahrnehmung, die bloßes ›Datum‹, die ein lediglich Gegebenes und in dieser Gegebenheit Abzuspiegelndes wäre; sondern jede Wahrnehmung schließt einen bestimmten ›Richtungscharakter‹ in sich, mittels dessen sie über ihr Hier und Jetzt hinausweist.« 54

Dieser Richtungscharakter, den die Wahrnehmung miteinschließt, verleiht dem Wahrgenommenen eine unmittelbare Bedeutung. Wir nehmen nicht zuVgl. dazu Cassirer, »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie«, S. 41. 50 Cassirer, Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, S. 103. 51 Vgl. auch ebd., S. 83. 52 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 224. Vgl. dazu auch die zuvor besprochene radikale Auffassung der Relativität der Erkenntnis, die Cassirer vertritt, oben S. 38. 53 Cassirer, »The Concept of Group and the Theory of Perception«, S. 224. 54 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 232. 49

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erst und ursprünglich »Dinge« wahr, wie Tomasello nahelegt, wenn er schreibt, dass das, was wahrgenommen wird, ein Bild ist. Was wir erfassen, ist unmittelbar etwas Bedeutungsvolles. Jede Wahrnehmung, so sagt Cassirer, ist damit symbolisch: In der Wahrnehmung realisiert sich die Synthese von Materie und Form. In seiner weitesten Bedeutung verwendet Cassirer den Begriff des Symbols, um eine »›Sinnerfüllung‹ des Sinnlichen«55 zu bezeichnen. Das heißt: In dieser weitesten Bedeutung ist auch die Wahrnehmung des Tieres symbolisch, denn auch für das Tier besteht Wahrnehmung nicht in dem Vorliegen einfacher Reize, sondern in der Erfassung eines Sinnes kraft eines sinnlich Gegebenen. Dieser Sinn, der durch ein sinnlich Gegebenes erfasst wird, ist ursprünglich und primär, so argumentiert Cassirer, die Erfassung von Leben, also die Erfassung von etwas als »innerlich beseelt«. 56 Er nennt dies auch Ausdrucksverstehen und begreift darunter die Fähigkeit, etwas unmittelbar beispielsweise als bedrohlich, vertraut oder furchterregend zu begreifen. 57 Die »Brücke« zur Wahrnehmung des Tieres ist für Cassirer nur im Verstehen von Ausdruck auszumachen. 58 Auch in der Wahrnehmung des Tieres realisiert sich damit die Bedeutungsrelation. Auch das Verstehen von Ausdruck kann, so wie es für die Zeichen und Symbole des Menschen gilt, nicht auf dinglich-ontologische Relationen zurückgeführt werden. Ausdrucksverstehen ist kein Schließen von einem sinnlich gegebenen Material auf eine Bedeutung. Cassirer schreibt: »Als Ausdruckswerte und Ausdrucksmomente haften diese Bestimmungen den erscheinenden Inhalten selbst an; […] Es ist eine Verkennung der reinen Ausdrucksphänomene, wenn eine bestimmte psychologische Theorie sie erst aus einem sekundären Akt der Deutung entstehen läßt […]. Keineswegs gesellt sich dem ›objektiven‹ Inhalt der Empfindung nachträglich und wie zufällig ein bestimmter Ausdruckscharakter als subjektives Anhängsel hinzu, sondern ebendieser Charakter ist es, der zum wesentlichen Bestand der Wahrnehmung gehört. Er ist an sich so wenig ›subjektiv‹, daß er es vielmehr ist, der der Wahrnehmung gleichsam die ursprüngliche Farbe der Realität gibt […].« 59

Im Verstehen von Ausdruck offenbart sich unmittelbar ein Sinn. Cassirer argumentiert also, dass Wahrnehmung nicht bedeutet, etwas sinnlich GegeEbd., S. 105. Vgl. ebd., S. 104. 57 Ebd., S. 74; Vgl. auch ebd., S. 80 f. Vgl. auch die Diskussion des Ausdrucksverstehens in Kapitel 3.1. dieser Arbeit. 58 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 72. 59 Ebd., S. 80 f. 55 56

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benes in einem zweiten Schritt zu interpretieren – so wie Tomasellos ZweiStufen-Auffassung der Wahrnehmung nahelegt. Wahrnehmen bedeutet vielmehr kraft etwas sinnlich Gegebenem unmittelbar einen Sinn zu erfassen. Cassirer verortet also das Symbolische in seiner weitesten Bedeutung auch im Leben des Tieres. 60 Damit betont er, dass die Symbole des Menschen die Bedeutungsrelation nicht erzeugen oder erschaffen. »Die Grundfunktion des Bedeutens«, meint Cassirer, ist »schon vor der Setzung des einzelnen Zeichens vorhanden und wirksam […].« 61 Das Rätsel, das uns beschäftigt, nämlich, wie der innere Zusammenhang zwischen Sprache und Wahrnehmung zu verstehen ist, wird erhellt, indem wir uns vergegenwärtigen, dass Wahrnehmung überhaupt nur da möglich ist, wo etwas sinnlich Gegebenes unmittelbar eine Bedeutung in sich schließt. Wollen wir den inneren Zusammenhang zwischen Sprache und Wahrnehmung verstehen, so müssen wir »das Problem der Sprache […] dem Problem einer allgemeinen Psychologie der Ausdrucksbewegungen« 62 einordnen. Gleichwohl ist nach Cassirer der Symbolgebrauch des Menschen nicht auf das Verstehen von Ausdruck reduzierbar. Der Symbolgebrauch lässt sich aus dem Ausdrucksverstehen genetisch nicht ableiten. 63 Er ist etwas Eigenes und Neues und »wie der Anbruch eines neuen Weltentages«. 64 Zwischen dem Verstehen von Ausdruck und dem Symbolgebrauch des Menschen besteht, so sagt Cassirer, ein »funktionelle[r] Unterschied«. 65 Worin besteht nun dieser Unterschied zwischen dem Symbolgebrauch des Menschen und der Wahrnehmung des Tieres, die – im weitesten Sinne – auch als symbolische Wahrnehmung bezeichnet werden kann? Worin besteht dieser funktionelle Unterschied? Im Ausdrucksverstehen des Tieres realisiert sich, so haben wir gesagt, eine Synthese aus Sinnlichkeit und Sinn. Ausdrucksverstehen ist damit eine Einheit, die gleichsam zwei Elemente enthält: Das sinnlich Wahrgenommene und der Sinn, der darin verkörpert ist. Im Ausdrucksverstehen ist, so formuliert es Cassirer auch, ein »Spannungsverhältnis zwischen dem Inhalt einer Erscheinung als solchem und ihrer darstellenden Funktion« angelegt. 66 Nichtsdestotrotz liegt im Ausdrucksverstehen eine konkrete Einheit vor. Die beiden Elemente, die potenziell in dieser Einheit enthalten sind, treten nicht auseinander. Ebd., S. 104. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 39 f. Vgl. auch Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 85. 62 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 124. 63 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 124. 64 Ebd., S. 125. 65 Ebd., S. 124. 66 Ebd., S. 143. 60 61

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Die Polarität, die im Ausdrucksverstehen enthalten ist, wird vom Tier als solche nicht gewusst. Cassirers starke These ist nun, dass sich kraft des Symbolgebrauchs des Menschen die konkrete Einheit des Ausdrucksverstehens in sich selbst differenziert. Das bedeutet nicht, dass Symbole ein Instrument oder Werkzeug darstellen, das von außen am Verstehen von Ausdruck ansetzt und es in Elemente zerlegt. Vielmehr äußert sich die Differenzierung zwischen dem Darstellenden und dem Dargestellten, zwischen Sinnlichkeit und Sinn im Symbolgebrauch. Symbole zu gebrauchen ist dasselbe, wie zwischen Sinnlichkeit und Sinn zu unterscheiden. In anderen Worten: Es ist dieselbe Wirklichkeit, Symbole zu gebrauchen und zwischen Darstellenden und Dargestellten unterscheiden zu können. Die in jeglicher Wahrnehmung angelegte Polarität zwischen dem Inhalt einer Erscheinung und seiner darstellenden Funktion wird kraft des Symbolgebrauchs als solche erkannt. Hier ist ein Zitat: »So weit wir in den Gestaltungen des sinnlich-geistigen Bewußtseins auch hinabgehen mögen – niemals treffen wir dieses Bewußtsein als ein schlechthin Gegensatzloses, als ein absolut Einfaches, vor allen Scheidungen und Unterscheidungen, an. Immer erscheint es als ein Lebendiges, das sich in sich selber trennt […]. Aber wenn diese Differenz besteht, so ist sie doch damit noch nicht als solche gesetzt; vielmehr erfolgt diese Setzung erst, sofern das Bewußtsein aus der Unmittelbarkeit des Lebens in die Form des Geistes und in die des spontanen geistigen Schaffens übergeht. Erst dieser Übergang läßt alle jene Spannungen, die als solche schon dem einfachen Bestand des Bewußtseins angehören, zur Entfaltung kommen: Was zuvor, ungeachtet aller inneren Gegensätzlichkeit, eine konkrete Einheit war, das beginnt jetzt auseinanderzutreten und sich in analytischer Sonderung ›auszulegen‹.« 67

Die Besonderheit des Symbolgebrauchs, so erläutert Cassirer an dieser Stelle, besteht darin, dass er die Differenzierung des zuvor Ununterscheidbaren bedeutet. Das Tier kann kraft des Ausdrucksverstehens unmittelbar einen Sinn erfassen. Der Mensch hingegen kann, insofern er über Symbole verfügt, zwischen dem sinnlich Gegebenen und seiner Bedeutung differenzieren. Die Wahrnehmung des Menschen ist symbolisch, insofern sie den Charakter der Darstellung gewinnt. Das bedeutet: Nach Cassirer erfasst ein Tier, das Ausdruck versteht, kraft etwas sinnlich Gegebenem unmittelbar einen Sinn. Ein Knurren bedeutet vielleicht Gefahr – aber wozu das Tier seiner Auffassung nach nicht in der Lage ist, ist, zwischen »Knurren« und »Gefahr« zu differenzieren. Das Darstellende und Dargestellte treten für das Tier nicht auseinander. »Die einfache Dar67

Ebd., S. 105.

Symbol und Wahrnehmung

legung des Phänomens«, erläutert Cassirer, »ist zugleich seine Auslegung, und zwar die einzige, deren es fähig und bedürftig ist.« 68 Das Tier hat also, das ist die These, kein Verständnis der Bedeutungsbeziehung. Charles Taylor formuliert diesen Gedanken unabhängig von Cassirer so, dass er sagt, dass der wesentliche Unterschied zwischen symbolgebrauchenden Menschen und nichtsymbolgebrauchenden Tieren darin besteht, dass erstere verstehen, »what ›standing for‹ involves.« 69 Dieses Bewusstsein der Bedeutungsrelation, so erläutert Taylor, ganz im Sinne von Cassirer, ist von der Fähigkeit zu sprechen nicht zu unterschieden: »To account for language by saying that we learn that the word ›a‹ stands for a’s, the word ›b‹ for b’s, is to explain nothing. How do we learn what ›standing for‹ involves, what it is to describe things […]? This kind of reflection is inseparable from language. It can’t precede our learning our first word […]. This is because only someone capable of using language to describe is capable of picking things out as …, or recognizing things as …, in the strong sense. […] Speaking is not only the expression of this capacity, but also its realization.« 70

Taylor argumentiert im Anschluss an Herder hier, dass das Erlernen von Sprache nicht so erklärt werden kann, dass eine Bezeichnung für etwas erlernt wird, weil das Erlernen von Bezeichnungen schon ein Bewusstsein der Bedeutungsrelation voraussetzt. An der Stelle aber, wo ein Bewusstsein der Bedeutungsrelation vorliegt, ist das erste Wort schon gesprochen. Versuche, die Sprache auf das Erfassen der Bedeutungsrelation zurückzuführen, bewegen sich in einem Zirkel, weil im Erfassen der Bedeutungsrelation schon all das, was Sprache ist, enthalten ist. Es gibt die Fähigkeit, zwischen Sinn und Sinnlichkeit zu unterscheiden, nicht, bevor es Symbole gibt. Positiv: Es gibt diese Fähigkeit, sobald es Symbole gibt. Anders: Das ist Sprachfähigkeit. Die Frage danach, was zuerst da war, das Bewusstsein der Bedeutungsrelation oder das Setzen von Symbolen, kann nach Cassirer nicht beantwortet werden. 71 Die Ähnlichkeit zwischen den Auffassungen Taylors und Cassirers beruht darauf, dass sich beide gleichermaßen auf Herder beziehen, insbesondere auf Herders Kritik an Condillac. Condillac erläutert den Ursprung der Sprache durch eine Geschichte. In dieser Geschichte kommen zwei kleine Kinder in der Wüste vor, die jeweils ihre Gefühle durch Geräusche und Schreie ausdrücken. Condillac argumentiert nun, dass die Kinder, indem sie gegenseitig ihre Ebd., S. 105. Vgl. bspw. Charles Taylor, »Theories of Meaning«, in: Man and World 13 (1980), S. 281– 302, hier: S. 293. 70 Ebd. 71 Vgl. beispielsweise Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 127 f. 68 69

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Geräusche und Schreie wahrnehmen, verstehen, dass ein bestimmter Schrei auf etwas anderes verweist, also beispielsweise Hunger. Sobald sie dies verstehen, können sie diesen bestimmten Schrei nutzen, um sich auf Hunger beziehen. Die Kinder verfügen über ihr erstes Wort. Condillac nimmt also an, dass zuerst die Bedeutungsrelation verstanden wird und dann in einem zweiten Schritt Sprache entsteht. Für Condillac kommt die Sprache sekundär zu einer bestehenden und in sich abgeschlossenen Vorstellung hinzu. Herder argumentiert nun gegen Condillac, dass das Bewusstsein der Bedeutungsrelation von der Fähigkeit zu sprechen nicht zu unterscheiden ist. 72 Wenn Condillac versuche, Sprache aus dem Bewusstsein der Bedeutungsrelation abzuleiten, so bewege er sich in einem Zirkel. Denn im Bewusstsein der Bedeutungsrelation ist das, was Sprache ist, bereits enthalten. Sprache kann, so können wir diesen Gedanken auch reformulieren, nicht aus einer Beobachterperspektive heraus erlernt werden. 73 Das vielleicht bekannteste Beispiel für eine Auffassung, die den Spracherwerb innerhalb einer Beobachterperspektive thematisiert, ist Quines Kaninchen-Beispiel, in dem ein Linguist die Sprache eines ihm fremden Volkes lernen möchte. 74 Der Linguistik beobachtet, dass der Ausruf »gavagai« beim Anblick eines Kaninchens geäußert wird. Quine argumentiert nun, dass der Linguist niemals mit Sicherheit bestimmen kann, was »gavagai« bedeutet: Ist es ein Teil des Kaninchens? Sein Fell? Was Quine an dieser Stelle also bereits voraussetzt ist, dass der Beobachter bestimmte Merkmale der Situation erfasst – er unterscheidet zwischen Kaninchen, Fell, Beinen, Umgebung etc. und kann seine Aufmerksamkeit willkürlich auf diesen oder jenen Aspekt der Situation richten. Cassirer argumentiert hingegen, dass diese Fähigkeit, Taylor, »Theories of Meaning«, S. 293. Herder selbst hat diesen Zirkel der Beweisführung, der dann entsteht, wenn man Sprache aus einer Beobachterperspektive heraus entstehen lässt, nicht so klar gesehen. In seiner bekannten Beschreibung der Entstehung der Sprache lässt er die Sprache aus der »Besonnenheit« erwachsen und sieht nicht, dass diese Besonnenheit selbst schon Ausdruck und Verwirklichung der Sprache ist: »Lasset jenes Lamm, als Bild, sein [des Menschen] Auge vorbeigehn: ihm wie keinem andern Tiere. Nicht wie dem hungrigen, witternden Wolfe! […] – die wittern und schmecken schon im Geiste! Die Sinnlichkeit hat sie überwältigt! der Instinkt wirft sie darüber her! […] – Nicht so dem Menschen! Sobald er in die Bedürfnis kommt, das Schaf kennenzulernen, so störet ihn kein Instinkt, so reißt ihn kein Sinn auf dasselbe zu nahe hin oder davon ab: es steht da, ganz wie es sich seinen Sinnen äußert. Weiß, sanft, wollicht – seine besonnen sich übende Seele sucht ein Merkmal – das Schaf blöket! Sie hat Merkmal gefunden. Der innere Sinn würket.« Johann Gottfried Herder, Abhandlungen über den Ursprung der Sprache (Stuttgart: Reclam 1969 [1772]), S. 32 f. Vgl. auch Cassirer, »Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen«, S. 255. 74 Vgl. W. V. Quine, Wort und Gegenstand (Stuttgart: Reclam 1987), S. 64 f. 72 73

Symbol und Wahrnehmung

Merkmale einer Situation zu bestimmen, schon Ausdruck und Verwirklichung der Sprachfähigkeit ist. Er fragt: »Wie aber […] bestehen derartige Kennzeichen schon vor der Sprache, vor dem Akt der Benennung, oder werden sie nicht vielmehr erst mittels der Sprache, erst in diesem Akt des Benennens selbst erfaßt?« 75

Cassirer ist der Auffassung, dass Zweiteres zutrifft. Merkmale bestehen erst kraft des Akts der Benennung. Sprache ist nicht etwas, das dem Bemerken von Merkmalen bzw. der Erfassung der Bedeutungsrelation nachfolgt, sondern ist genau dieses Bemerken. Cassirer würde gegenüber Quine also einwenden, was Herder gegen Condillac einwendet: Was auch immer Quine mit seinem Kaninchen-Beispiel erläutert, er erläutert jedenfalls nicht, wie Sprache entsteht, weil schon von Beginn an vorausgesetzt ist, dass Sprache besteht. Taylor merkt an, dass Quines Beispiel ein »theoretisches Apriori« zugrunde liegt, das »so schlagend ist, daß viele Philosophen davon überzeugt sind, daß wir tatsächlich auf diese Weise eine Sprache erlernen.« 76 Wir sehen dieses theoretische Apriori beispielsweise auch bei Stroud. Zu Beginn dieses Kapitels wies ich darauf hin, dass Stroud argumentiert, dass Sprache zu einem gegebenen Wahrnehmungserlebnis hinzutritt und nur auf diese Weise verständlich ist, wie Sprache überhaupt erlernbar ist. An dieser Stelle können wir diese Auffassung Strouds so reformulieren, dass wir sagen, dass Stroud davon ausCassirer, »Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen«, S. 248. Vgl. auch: »Daß die von uns verglichenen Inhalte schon bestimmte ›Merkmale‹ haben, daß sie qualitative Bestimmungen in sich tragen, nach denen wir sie in Ähnlichkeitsklassen und Ähnlichkeitskreise, in Arten und Gattungen abteilen können, wird hierbei meist als eine selbstverständliche, keiner besonderen Erwähnung bedürftige Voraussetzung hingenommen. Und doch liegt gerade in dieser scheinbaren Selbstverständlichkeit eines der schwierigsten Probleme beschlossen, das die Begriffsbildung uns bietet. Hier vor allem erneuert sich die Frage, ob die ›Merkmale‹, nach denen wir die Dinge in Klassen teilen, uns schon vor der Sprachbildung gegeben sind oder ob sie uns vielleicht erst durch dieselbe geliefert werden.« Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 250. Cassirer merkt in diesem Zitat an, dass seine These eine Erweiterung der traditionellen Begriffslehre impliziere. Die traditionelle Begriffslehre geht davon aus, dass Begriffe entstehen, indem eine Mehrzahl von Objekten miteinander vergleichen wird und ihre gemeinsamen Merkmale abstrahiert werden. Der Begriff bezeichnet dann die Vorstellung der wesentlichen Merkmale, die einer bestimmten Klasse von Objekten gleichermaßen zukommen. Nun ist offensichtlich, dass diese Art von Begriffsbildung nur dann möglich ist, wenn bestimmte Merkmale schon identifiziert sind. Wie aber kommt es, so fragt Cassirer, zu dieser Setzung und Bestimmung von Merkmalen? Hier sieht er die wesentliche Leistung der Sprache, die nicht darin besteht, wesentliche Merkmale zu identifizieren und sie von unwesentlichen Merkmalen abzusetzen, sondern darin, überhaupt Merkmale zu erfassen. 76 Charles Taylor, »Bedeutungstheorien«, in: ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008), hier: S. 62. 75

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geht, dass Sprache nur aus einer Beobachterperspektive heraus erlernbar ist. Und Bloom schreibt: »Nobody doubts that for children to learn words they have to be exposed to them in contexts in which they can infer their meanings: this is a truism.« 77 Die Differenz zwischen Cassirer und Bloom könnte nicht stärker ausgedrückt werden. Was Bloom hier als Gemeinplatz ausgibt – nämlich die Vorstellung, der Spracherwerb beruhe auf einer Schlussfolgerung –, ist für Cassirer eine irrige Vorstellung. Wir können dies an dieser Stelle so ausdrücken, dass wir sagen, dass für Cassirer ein innerer Zusammenhang zwischen der Beobachterperspektive auf die Wirklichkeit und der Sprache besteht. Ein Kind, das eine Beobachterperspektive auf die Welt einnimmt, ist schon ein sprachliches Wesen. Ich habe zu Beginn dieses Kapitels auch auf ein Zitat Cassirers verwiesen, in dem er schreibt, dass das Erlernen von Assoziationspaaren eine so ermüdende Tätigkeit ist, dass der »Hunger nach Namen«, den Kindern entwickeln, unverständlich wäre. Kinder, so meint Cassirer, fragen unentwegt danach, was etwas ist, weil sie durch das Erlernen von Sprache den Aufbau einer objektiven Welt vollziehen. Er betont, dass Kinder keineswegs danach fragen, wie etwas heiße. »Was ist das?« ist die typische Frage von Kindern, nicht »Wie heißt das?«. Cassirer nimmt dies als Bestätigung seiner These, dass der Name mehr und anderes leistet, als bloße Bezeichnung zu sein. »Das Sein des Gegenstandes«, meint Cassirer, »und sein Name schmelzen ihm [dem Kind] völlig in eins zusammen.«78 Wie ist nun die These zu verstehen, dass der Symbolgebrauch Bedingung der Möglichkeit einer objektiven Wirklichkeit ist? Was meint Cassirer damit, wenn er sagt, dass kraft der Sprache der Aufbau einer objektiven Welt vollzogen wird? Eine objektive Welt, so sagt Cassirer, liegt immer dann vor, wenn sich mehrere Subjekte eine Welt teilen und sich gemeinsam auf sie beziehen. 79 Sie liegt dann vor, wenn diese Subjekte nicht in einem Strom von Empfindungen dahingleiten und die Welt sich ihnen nicht als Summe von Einzelzügen und Einzelcharakteren präsentiert. Vielmehr bedeutet die Erfassung einer objektiven Welt das Vorliegen eines »Kosmos« – also das Vorliegen eines Ganzen von Gestalten, das durch eine »durchgreifende Ordnung« bestimmt ist. 80 Wie wir im ersten Kapitel dieser Arbeit gesehen haben, vertritt Cassirer eine starke Lesart der kopernikanischen Wende durch Kant. 81 Er begreift 77 78 79 80 81

Bloom, How Children Learn the Meanings of Words, S. 8. Vgl. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 135. Vgl. Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Erste Studie«, S. 369. Vgl. ebd. Vgl. dazu und zum Folgenden insbesondere Kapitel 1.2.

Symbol und Wahrnehmung

Kants Anliegen als eine Neubestimmung des Grundproblems der Metaphysik. Die Frage ist nun nicht mehr – so sahen wir –, wie die Erkenntnis über sich selbst hinausgreifen könne und etwas ergreifen könne, was außerhalb ihrer selbst liegt. Gehen wir von einer solch ursprünglichen Trennung zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Erkenntnis aus – ist man also einer dogmatischen Metaphysik verhaftet –, dann können wir dem Skeptizismus nicht entgehen. Kant korrigiert nach Cassirer diesen »verfehlten Ansatz des Erkenntnisproblems« 82, der darin besteht, von einer ursprünglichen Trennung von Subjekt und Objekt auszugehen. Der neue Begriff des Objekts oder des Gegenstands, der durch die kopernikanische Wende Kants gewonnen ist, ist, dass das Objekt nichts anderes ist als der »Ausdruck und die Zusammenfassung von Gesetzen, die das Wesen des Geistes selbst […] ausmachen«. 83 Eine starke Lesart Kants führt damit den Objektbegriff auf das Walten von Gesetzen zurück. 84 Die Vorstellung eines Kosmos ist gebunden an die Vorstellung eines gesetzmäßigen Zusammenhangs aller Vorstellungsinhalte. Dieser gesetzmäßige Zusammenhang kann nun nicht als etwas aufgefasst werden, was additiv zu Sinneseindrücken hinzukommt. Damit korrigiert Kant den gemeinsamen Grundfehler sowohl des Empirismus als auch des Rationalismus, der darin besteht, den Zusammenhang der Sinneseindrücke als etwas aufzufassen, das additiv zu diesen hinzukommt. Für den starken Kantianer bilden Form und Materie keinen äußerlichen Zusammenhang, sondern sind ursprünglich eins. Die starke Lesart der kopernikanischen Wende durch Kant, so zeigte ich im ersten Kapitel, impliziert die These von der Geistigkeit der Sinnlichkeit. Kommen wir zu der These zurück, dass zwischen dem Symbolgebrauch des Menschen und der Möglichkeit der Vorstellung einer objektiven Welt ein innerer Zusammenhang besteht. Wir können diesen Gedanken mit Cassirer nun so ausdrücken: Was Kant als Leistung des Urteils auffasst, »ist im konkreten Leben des Geistes nur durch die vermittelnde Leistung der Sprache möglich«. 85 Sprache, Mythos, Religion usw. sind Ausdruck für das Walten von Gesetzen. Wenn Kant also sagt, dass einen Gegenstand zu erkennen bedeute, in dem Mannigfaltigen der Anschauung synthetische Einheit zu bewirken, so ist die These Cassirers, dass dieses Bewirken einer synthetischen Einheit Vgl. dazu oben S. 36. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit: Dritter Band, S. 277. 84 Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Erste Studie«, S. 369. 85 Cassirer, »Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie«, S. 121. Cassirer referiert hier die Auffassung Humboldts, die allerdings mit seiner eigenen übereinstimmt. 82 83

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Das Symbol

durch die Symboltätigkeit des Menschen vollzogen wird. Das bedeutet nicht, dass das Wort den Begriff kausal verursacht. Cassirer betont, dass »das Wort zwar nicht den Begriff [schafft], aber ebensowenig […] ein bloßes äußeres Anhängsel zu ihm [ist]«. Es sei vielmehr das wichtigste »Mittel für seine Aktualisierung«. 86 Für den starken Kantianer besteht die zentrale Frage nicht darin, wie eine objektive Wirklichkeit erfasst werden kann, die außerhalb der Subjektivität des begreifenden Subjekts liegt, sondern wie die Erkenntnis in sich selbst zu der Scheidung zwischen Objektivität und Subjektivität gelangt. 87 Cassirer schießt an diese starke Lesart der Philosophie Kants an und argumentiert, dass das Symbol Bedingung der Möglichkeit der Scheidung zwischen Objektivität und Subjektivität ist. Erst an der Stelle, wo es Symbole gibt, werden Erfahrungen umfänglich aufeinander bezogen und aneinander gemessen. »Alles hat einen Namen«, sagt Cassirer und meint damit, dass kraft des Symbols alles aufeinander bezogen ist. Indem jede Erfahrung Symbol ist, enthält sie das Bewusstsein der Totalität, der sie angehört. Den inneren Zusammenhang zwischen Symbolgebrauch und Wahrnehmung können wir auch so beschreiben: Für den Menschen ist alles Wahrgenommene Symbol, insofern als es in einem unmittelbaren Zusammenhang mit allen anderen Erfahrungen steht. Dass der Mensch spricht, ist Ausdruck und Realität der Tatsache, dass die Erfahrungen des Menschen ein Ganzes bilden. Wer einfach nur über einzelne Wörter verfügt, verfügt nicht über Sprache. Das Bewusstsein der Bedeutungsrelation ist eben darin vom Lernen von Assoziationspaaren unterschieden, dass man ein Bewusstsein davon hat, dass alles mit allem zusammenhängt. Cassirer illustriert diesen Unterschied am Beispiel des Spracherwerbs von Helen Keller. Helen Keller ist ein taubstummes Kind, das im Vergleich zu anderen Kindern in einem relativ fortgeschrittenen Alter Sprache erwirbt. Cassirer meint, dass man an diesem Beispiel sehen kann, dass es die Erkenntnis der universellen Anwendbarkeit ist, die wesentlich zum Begreifen der Darstellungsfunktion gehört. Über den Bericht der Entwicklung Helen Kellers schreibt er: »The decisive step leading from the use of signs and pantomime to the use of words, that is, of symbols, could scarcely be described in a more striking manner. What was the child’s real discovery at this moment? Helen Keller had previously learned to combine a certain thing or event with a certain sign of the manual alphabet. A fixed association had been established between these things and certain tactile impressions. But a series of such associations, even if they are re86 87

Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 380. Vgl. oben, S. 44.

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peated and amplified, still does not imply an understanding of what human speech is and means. In order to arrive at such an understanding, the child had to make a new and much more significant discovery. It had to understand that everything has a name – that the symbolic function is not restricted to particular cases, but is a principle of universal applicability which encompasses the whole field of human thought.« 88

Das Bewusstsein der Bedeutungsbeziehung erschöpft sich also nicht darin, dass man weiß, dass a auf b verweist und c auf d. Auch eine noch so lange Reihe solcher Assoziationspaare führt nicht zum Bewusstsein der Bedeutungsbeziehung, die vielmehr darin besteht, dass man begreift, dass es hier um ein Prinzip geht, das universell anwendbar ist. Es gibt nichts, das sich nicht sprachlich ausdrücken lässt. 89 Das Bewusstsein der Bedeutungsbeziehung impliziert damit das Bewusstsein einer Ganzheit, die prinzipiell unabschließbar ist. Insofern jede Erfahrung das Bewusstsein ihres eigenen Zusammenhangs enthält, wird in das Ganze der Erfahrungserkenntnis eine Wertunterscheidung eingeführt. Erst an der Stelle aber, wo nicht alles gleichermaßen »wirklich« ist, sondern es vielmehr neben der Wirklichkeit auch die Täuschung gibt, neben dem Objektivem auch das Subjektive, erst da können wir im eigentlichen Sinn von einer objektiven Wirklichkeit sprechen. Das heißt: Das Symbol ist Bedingung der Möglichkeit einer objektiven Wirklichkeit. Schauen wir uns diese These etwas genauer an. Ausdrucksverstehen ist das Begreifen einer Wirklichkeit, die ihren eigenen Gegensatz nicht kennt. In einem zuvor bereits angeführten Zitat sagt Cassirer, dass das Ausdrucksverstehen »die ursprüngliche Farbe der Realität« 90 trägt. Für ein Lebewesen, das Ausdruck versteht, aber über kein ausgereiftes Symbolsystem verfügt, bedeutet das, dass alles, was es wahrnimmt, für es wirklich ist. Es kennt die Unterscheidung zwischen Schein und Sein nicht. »Erscheinung und Wirklichkeit«, so formuliert es Cassirer auch, »lassen sich […] nicht voneinander ab-

Cassirer, Essay on Man, S. 39 f. Vgl.: »[…] it is a common characteristic of all symbolic forms that they are applicable to any object whatsoever. There is nothing that is inaccessible or impermeable to them: the peculiar character of an object does not affect their activity. What would we think of a philosophy of language, a philosophy of art or science that began with enumerating all those things that are possible subjects of speech and of artistic representation and of scientific inquiry? Here we can never hope to find a definite limit; we cannot even seek it. Everything has a ›name‹ ; everything may become a theme for a work of art. It is the same with myth.« Ernst Cassirer, The Myth of the State [1946], ECW 25, S. 37. 90 Vgl. oben, S. 70. 88 89

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lösen oder gegeneinander aufrechnen.« 91 Es liegt hier, um eine weitere Formulierung Cassirers anzufügen, eine »Indifferenz«, eine »eigentümliche Gleichgültigkeit […] [der] wichtigsten Bedeutungs- und Wertdifferenzen« gegenüber vor, die einen solchen Weltzugang »vielleicht am schärfsten von der Welt des rein theoretischen Bewußtseins scheidet«. 92 Denn für das theoretische Bewusstsein treten Erscheinung und Wirklichkeit auseinander. Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit, zwischen Darstellendem und Dargestelltem zu unterscheiden. Nur wenn hier eine Differenzierung vollzogen wird, können in das sinnlich Wahrgenommene Bedeutungs- und Wertdifferenzen eingeführt werden. Das bedeutet, dass der Mensch das sinnlich Wahrgenommene daraufhin befragt, was es für den Aufbau der empirischen Wirklichkeit bedeutet. Und in Hinblick auf die empirische Wirklichkeit kann nicht allem, was sinnlich wahrgenommen wird, derselbe Stellenwert zugesprochen werden. Der Mensch ist sich der Möglichkeit der Täuschung bewusst. Im und kraft des Symbolgebrauchs, so argumentiert Cassirer also, baut sich eine Wirklichkeit auf, die in sich selbst die Unterscheidung zwischen Schein und Sein enthält. Es ist interessant zu bemerken, dass Cassirers Überlegungen zum Ausdrucks- und Symbolverstehen starke Parallelen zu den sogenannten disjunktiven Auffassungen der menschlichen Wahrnehmung aufweisen. Die unter diesem Label zusammengefassten Überlegungen zur Wahrnehmung gehören zu einer Familie von Theorien, die das Problem der Wahrnehmung unter einem völlig anderen Gesichtspunkt auffassen, als es beispielsweise Tomasello tut. Dort sprachen wir von einem »psychologischen Gesichtspunkt«, der danach fragt, wie die Entstehung und Genese der Wahrnehmung zu begreifen ist. Der Disjunktivismus teilt dieses Interesse nicht. Die zentrale Fragestellung der disjunktivistischen Theorien der Wahrnehmung ist vielmehr, wie der Stellenwert der Wahrnehmung als wahrheitsgarantierender Grund im Ganzen der Erkenntnis zu begründen ist. Diese Perspektive auf die Wahrnehmung können wir als »erkenntniskritischen Gesichtspunkt« 93 bezeichnen. Andrea Kern fragt beispielsweise danach, wie »jemand auf der Grundlage einer Wahrnehmung Wissen erwerben kann«. 94 Woran festgehalten werden soll, ist genau dies: Wahrnehmung ist ein wahrheitsgarantierender Grund für Überzeugungen. Wenn ich sehe, dass p der Fall ist, ist das der Grund für die Überzeugung, dass p der Fall ist. Nun 91 92 93 94

Vgl. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 76. Ebd. Vgl. ebd., S. 64 f. Vgl. bspw. Kern, Quellen des Wissens, S. 155.

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scheint es so zu sein, dass Wahrnehmung kein wahrheitsgarantierender Grund sein kann, wenn wir die Möglichkeit der Täuschung in Betracht ziehen. Insofern es immer möglich ist, dass ich mich in meiner Wahrnehmung täusche, indem ich beispielsweise halluziniere, kann Wahrnehmung mir höchstens einen Grund für die Annahme geben, dass es so scheint, als wäre etwas der Fall. Aber ob es wirklich so ist, kann die Wahrnehmung allein nicht garantieren. Denn meine Wahrnehmung selbst, so die These, ist in den beiden Fällen – der Halluzination und der validen Wahrnehmung – ununterscheidbar dieselbe. Disjunktivistische Theorien der Wahrnehmung wollen auf dieses »argument from illusion« reagieren und die These bekräftigen, dass unsere sinnlichen Vermögen uns mit Gründen für Wissen ausstatten. 95 Kern argumentiert nun, dass unsere Wahrnehmung nur dann ein wahrheitsgarantierender Grund sein kann, wenn wir eine bestimmte Auffassung der Natur von Gründen ablehnen. 96 Die Auffassung, die wir ablehnen müssen, ist die, dass das Vorliegen eines Grundes für eine Überzeugung es offenlässt, ob es sich wirklich so verhält oder nicht. Wenn wir es offenlassen, ob unsere Wahrnehmung für uns ein Grund für die Erkenntnis von Wirklichkeit ist oder nicht, dann können wir das Vorliegen von Überzeugungen niemals erklären. 97 Sie sagt auch, dass Wahrnehmung einen irreduziblen »faktiven Sinn« habe. 98 Bringen wir dies nun damit in Zusammenhang, was Cassirer sagt, so sehen wir, dass Cassirer diese Auffassung in Hinblick auf das Ausdrucksverstehen vertritt und betont. Das Ausdrucksverstehen, so sahen wir, trägt die »ursprüngliche Farbe der Realität«. 99 Und er schreibt an anderer Stelle, ganz im Sinne einer Auffassung, die Wahrnehmung einen irreduziblen faktiven Sinn zuschreibt: »Dieser Zugang zur Wirklichkeit aber ist uns nicht in der Empfindung, als sinnlichem Datum, sondern allein in dem Urphänomen des Ausdrucks und des ausdrucksmäßigen ›Verstehens‹ gegeben. Ohne die Tatsache, daß sich in bestimmten Wahrnehmungserlebnissen ein Ausdruckssinn offenbart, bliebe das Dasein für uns stumm. Wirklichkeit könnte niemals aus der Wahrnehmung als bloßer Sachwahrnehmung gefolgert werden, wenn sie nicht in ihr, kraft der Ausdruckswahrnehmung, schon in irgendeiner Weise beschlossen läge […].« 100

Vgl. dazu auch Adrian Haddock, »Disjunctive Conceptions of Experience and Perceiving«, in: Abel; Conant (Hrsg.), Rethinking Epistemology 2, S. 349–374. 96 Vgl. Kern, Quellen des Wissens, S. 153. 97 Vgl. auch ebd., S. 151. 98 Ebd., S. 156. 99 Vgl. oben, S. 70. 100 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 82. 95

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Im Verstehen von Ausdruck, so sagt Cassirer hier, offenbart sich die Wirklichkeit. Wirklichkeit kann aus nichts abgeleitet werden, was nicht selbst schon als Wirkliches erkannt ist. In den nachgelassenen Manuskripten gibt es weitere Überlegungen Cassirers zu den »Basisphänomenen« und dort bietet er ein Bild an, um die Leistung eines solchen Basisphänomens zu beschreiben: Durch sie wird kein Äußerlich-Seiendes vermittelt, das »wir mittelbar mühselig ›in unseren Kreis hineinziehen‹ müssen … sie sind der Blick, den wir auf die Welt werfen – sozusagen das Auge, das wir aufschlagen – In diesem ersten Augenaufschlag erschliesst sich uns das Phaenomen: ›Wirklichkeit‹«. 101 Cassirer betont hier also aufs Schärfste, dass wir Wirklichkeit nicht durch Schlussfolgern beweisen. Für die disjunktivistischen Theorien der menschlichen Wahrnehmung stellt sich an dieser Stelle die Frage, wie sie einerseits behaupten können, dass Wahrnehmung einen »faktiven Sinn« habe, und andererseits aber auch anerkennen können, dass man sich täuschen kann. Wie können wir beides gleichzeitig behauptet: erstens, dass Wahrnehmung ein wahrheitsgarantierender Grund für Überzeugungen ist, insofern als Wahrnehmung ein irreduzibler faktiver Sinn zukommt, und zweitens, dass wir uns wahrnehmend doch täuschen können? 102 Kern antwortet darauf, dass wir, »um beides zusammen behaupten zu können, […] die Konsequenz ziehen [müssen], daß eine Aussage der Form ›Ich habe den sinnlichen Eindruck, daß p‹ einen disjunktiven Sinn haben muß«. 103 Das bedeutet: Sowohl wenn ich etwas wahrnehme als auch wenn ich mich täusche, kann ich sagen, dass ich einen sinnlichen Eindruck habe. Und doch lassen sich die beiden Fälle nicht auf denselben Nenner bringen. Es scheint nur so zu sein, dass ich im Falle einer Täuschung denselben sinnlichen Eindruck habe wie im Falle einer validen Wahrnehmung. Es ist aber ein Unterschied, ob ich einen sinnlichen Eindruck habe und mich täusche oder ob ich einen sinnlichen Eindruck habe und dabei eine valide Wahrnehmung habe. Der Gedanke ist also der Folgende: Der sinnliche Eindruck lässt sich aus dem Gesamterlebnis – Täuschung oder Wahrnehmung – gar nicht abstrahieren. Entweder ich täusche mich oder ich nehme etwas wahr. Und auch wenn ich in beiden Fällen einen scheinbar ununterscheidbaren sinnlichen Eindruck habe, so habe ich im Falle der Wahrnehmung einen Grund für meine Überzeugung, den ich im Falle der Täuschung nicht habe. Der Gedanke ist also, dass es falsch ist anzunehmen, dass in die Täuschung und in die valide Wahrnehmung derselbe sinn101 102 103

Ernst Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN 1, S. 132 f. Vgl. Kern, Quellen des Wissens, S. 157. Ebd.

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liche Eindruck eingeht, so als wäre ein sinnlicher Eindruck vor und unabhängig von der Täuschung oder der validen Wahrnehmung bereits gegeben. Wir haben bereits im ersten Kapitel gesehen, dass Cassirer eine ganz ähnliche Auffassung vertritt. Dort habe ich auf ein Beispiel verwiesen, dass er verwendet: Ein Linienzug kann sowohl als künstlerisches Ornament, als mythisches Zeichen oder als Sinuskurve gedeutet werden. Cassirer argumentiert hier, dass in keinem der drei Fälle die Wahrnehmung auf die Wahrnehmung des Linienzuges reduziert werden könne. Es ist irrig, so habe ich Cassirers Position beschrieben, dem Sehen des mythischen Zeichens, des Ornaments oder der Sinuskurve ein gemeinsames Substrat zu unterlegen. 104 Was wir erfassen, sind immer Sinnganzheiten. Dies entspricht meines Erachtens in dieser groben Skizzierung auch der Position des Disjunktivismus. Wahrnehmung ist keine Schlussfolgerung von einem Sinnesdatum auf einen Sinn oder eine Bedeutung. Das bedeutet, dass die Halluzination oder Täuschung kein Fehlschluss im Urteilen ist. Was Cassirer aber den disjunktivistischen Auffassungen der menschlichen Wahrnehmung voraushat, ist eine Antwort auf die Frage, was den Disjunktivismus in der Wahrnehmung ermöglicht. Wie ist es möglich, dass Wahrnehmung einen irreduziblen faktischen Sinn hat und wir uns gleichzeitig wahrnehmend auch täuschen können? Cassirers Symboltheorie verweist darauf, dass der disjunktive Sinn, der unseren sinnlichen Eindrücken zukommt, nur dort möglich ist, wo die Darstellungsfunktion in Kraft ist. Nur dann, wenn zwischen Darstellendem und Dargestelltem unterschieden werden kann, kann ein sinnlicher Eindruck sowohl als Täuschung als auch als valide Wahrnehmung erfasst werden. Die Wirklichkeit des Menschen wandelt sich schrittweise in eine objektive und gegenständliche Welt, weil und insofern der Mensch kraft der Darstellungsfunktion zwischen Täuschung und valider Wahrnehmung unterscheiden kann. Der Aufbau einer objektiven und gegenständlichen Welt ist insbesondere mit der Erfassung der Raum- und Zeitordnung verbunden. »Wirklichkeit [bezeugt ein Ding] vor allem darin, daß es einen Teil des Raumes einnimmt.« 105 Und eng mit der Anschauung des Raumes ist die der Zeit verbunden. Auch die Erfassung der Ordnung der Zeit ist wesentliches Moment im Aufbau einer objektiven Welt: »Erst wenn es dem Gedanken gelingt, die Mannigfaltigkeit der Ereignisse in ein System zusammenzufassen, innerhalb dessen die einzelnen Ereignisse in RückVgl. oben, S. 39. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 160; Vgl. auch Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 154. 104 105

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sicht auf ihr ›Vor‹ und ›Nach‹ bestimmt sind, fügen sich damit die Phänomene zur Gesamtgestalt einer anschaulichen Wirklichkeit zusammen.« 106

Es müsste sich nun zeigen lassen, dass die Erfassung der räumlichen und zeitlichen Ordnung der Wirklichkeit in einem inneren Zusammenhang mit dem Symbolgebrauch des Menschen steht. Das ist das Thema des nächsten Kapitels.

2.2 Symbol, Raum und Zeit

Die These des letzten Kapitels war, dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem Symbolgebrauch und der Wahrnehmung des Menschen besteht, insofern als der Mensch kraft seines Symbolgebrauchs zur Anschauung einer objektiven Wirklichkeit gelangt. Im folgenden Kapitel expliziere ich diese These Cassirers anhand seiner Erläuterungen zum Raum- und Zeitbewusstseins des Menschen. Wir gehen im Folgenden von der Annahme aus, dass Raum und Zeit für die Konstitution der Welt der Dinge eine wesentliche Rolle spielen. »Wirklich« ist das, was eine bestimmte Stelle in Raum und Zeit einnimmt. »Dinge« sind »Dinge«, insofern wir ihnen einen Ort zusprechen und sie auf die Ordnung der Zeit beziehen. Cassirer schreibt: »[…] die Wahrnehmung gelangt erst dadurch zur Setzung von ›Dingen‹ und zu ihrer Unterscheidung von ihren wandelbaren Zuständen und Beschaffenheiten, daß sie sie in einen objektiven Raum hineinstellt und in ihm sozusagen ansiedelt. Jedes einzelne ›wirkliche‹ Ding bezeugt ebendiese seine Wirklichkeit vor allem darin, daß es einen Teil des Raumes einnimmt und alles andere von ihm ausschließt.« 107

Die Wahrnehmung einer räumlichen und zeitlichen Ordnung, in der jedes Ding seine bestimmte Stelle einnimmt, so sagt Cassirer hier, ist wesentliches Element im Aufbau einer objektiven Wirklichkeit. Wir nehmen nicht erst Dinge wahr und ordnen sie dann in einem zweiten Schritt in eine räumliche und zeitliche Ordnung ein. Vielmehr sind die Erfassung von Dingen und die Wahrnehmung der Ordnung von Raum und Zeit zwei Seiten derselben Medaille.

Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 183. Ebd., S. 160. In Hinblick auf den Zusammenhang zwischen dem »Gegenstand der Erfahrung« und der Erfassung einer Ordnung der Zeit schreibt Cassirer: »Und hier zeigt sich zunächst, daß ebendas, was dieser ›Gegenstand‹ besagt und meint, nicht nur mittelbar auf die Zeitordnung bezogen ist, sondern daß er geradezu erst durch sie setzbar wird.« Vgl. ebd., S. 192. 106 107

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Nun ist es so, dass Raum und Zeit keine »anschaulichen Gegebenheiten« 108 sind. Gehen wir von der einzelnen Impression aus, so wie Rationalismus und Empirismus es tun, so ist klar, dass wir Raum im eigentlichen Sinne nicht wahrnehmen. 109 Für Descartes ist es der Verstand, der die einzelnen Daten zu der Vorstellung des Raumes zusammenfasst, für Berkeley Gewohnheit und Übung. »Alle Raumtheorien«, so fasst Cassirer die vorherrschenden Auffassungen der Raumwahrnehmung zusammen, »scheinen entweder den Weg der ›Reflexion‹ oder aber den Weg der ›Assoziation‹ gehen zu müssen.« 110 So verschiedenen aber auch diese empiristischen und rationalistischen Erklärungsweisen der Raumwahrnehmung sein mögen, so weisen sie doch eine zentrale Gemeinsamkeit auf: Es handelt sich in beiden Fällen um Versuche, die Genesis der Raumwahrnehmung zu erläutern, also aufzuzeigen, »wie ein schlechthin Unräumliches die Qualität der Räumlichkeit erlangt«. 111 Cassirer weist diese Fragestellung zurück. Die Frage nach der Genese des Raum- und Zeitbewusstseins ist eine verfehlte Fragestellung, weil sie die phänomenologischen Tatsachen außer Acht lässt. Räumlichkeit und Zeitlichkeit sind »Charaktere« der sinnlichen Wahrnehmung. 112 Was wir aber unterscheiden können – so Cassirer –, sind verschiedene »Phasen, bestimmte […] Akzentuierungen und Gliederungen« 113 der Räumlichkeit selbst. Dasselbe gilt für das Bewusstsein von Zeit. Innerhalb des Raum- und Zeitbewusstseins können wir einen »Bedeutungswandel« 114 ausmachen. Was meint Cassirer damit? Welchen »Bedeutungswandel« hat er im Blick? Leben ist nur dort möglich ist, wo Raum und Zeit dieses Leben informieren. Wir können uns kein Leben vorstellen, das nicht auf irgendeine Art und Weise Raum und Zeit wahrnimmt. Aber zwischen dem Raum- und Zeitbewusstsein des Tieres und dem des Menschen, so argumentiert Cassirer, besteht ein qualitativer Unterschied. 115 Raum zu erleben ist etwas anderes, als Raum zu erfassen, in den Dinge eingeordnet sind. Tiere können sich im Raum orientieren und zurechtfinden. Sie nehmen räumliche Unterschiede wahr und reagieren auf diese Unterschiede. Es ist ihnen möglich, die Lage von Objekten zu unterscheiden. Kurz: Ein Tier könnte nicht überleben, wenn es räumlich völlig desorientiert wäre. Der 108 109 110 111 112 113 114 115

Ebd., S. 160. Vgl. oben, S. 24f. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 165. Ebd., S. 167. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 168. Vgl. Cassirer, Vorlesungen und Studien zur Philosophischen Anthropologie, S. 265.

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Mensch hingegen überschaut den Raum. Er hat eine Vorstellung räumlicher Beziehungen. Diese Überschau ermöglicht eine Orientierung im Raum, die nicht auf Grund eingeübter motorischer Mechanismen erfolgt. »Links« und »rechts«, »hier« und »dort« werden als räumliche Beziehungen erfasst. Das bedeutet, dass sie zwar einerseits unterschieden, andererseits aber auch in die Einheit eines Blicks zusammengefasst wird. »Links«, »rechts«, »oben«, »unten« etc. werden als räumliche Bestimmungen erfasst, die nicht an konkreten Objekten haften. Das heißt: Der Raum des Menschen ist kein »starres Gefäß« 116.Was jetzt links ist, kann gleich rechts sein; die »einzelnen Grund- und Hauptrichtungen haben keinen absoluten, sondern nur relativen Wert«. 117 Dadurch ist es dem Menschen möglich, seine räumlichen Wahrnehmungen und Empfindungen im Raum anzuordnen und eine Darstellung oder Beschreibung von ihnen zu geben, also beispielsweise eine Karte seines Weges zu zeichnen. Der Raum des Menschen ist ein »ideales Liniengefüge«. 118 Der Mensch verfügt über eine Vorstellung des Raumes, also über die Idee eines einheitlichen Raumes, der alles, was erscheint, umfasst. In der Zeit zu leben und durch vergangene Erlebnisse beeinflusst zu sein, ist etwas anderes, als sich durch die Vergangenheit bestimmt aufzufassen. Alles Leben, sagt Cassirer, ist Prozess – ein Prozess, der nicht die Summe einzelner Momente ist, sondern ein Prozess, in dem jeder Moment eine Einheit aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft darstellt. 119 Dadurch unterscheidet sich Leben von toter Materie. Wollen wir die Reaktionen eines Organismus verstehen, so müssen wir dafür nicht nur die gegenwärtigen Reize beachten, sondern auch das, was einem Organismus in der Vergangenheit widerfahren ist. Denn die Vergangenheit hat Einfluss darauf, wie der Organismus in der Gegenwart reagiert. In diesem Sinne können wir sagen, dass Lebendiges ein Gedächtnis hat. Ebenso gilt, dass Organismen auf die Zukunft gerichtet sind. Jeder Organismus ist in der Lage, sein Verhalten an Zielen zu orientieren, die der Zukunft angehören. 120 Organismen sorgen beispielsweise für das Überleben ihrer Spezies, indem sie im Hier und Jetzt Vorkehrungen für ihre Nachkommen treffen. Der Mensch aber wird nicht nur von der Vergangenheit beeinflusst, sondern er weiß um diese Beeinflussung. Er kann sich vergangene Dinge und Ereignisse als vergangen vergegenwärtigen und sie als konstitutive Momente seiner Gegenwart begreifen. Der Mensch agiert auch nicht einfach 116 117 118 119 120

Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 281. Ebd. Ebd. Vgl. Cassirer, Vorlesungen und Studien zur Philosophischen Anthropologie, S. 280 f. Vgl. ebd., S. 290; 297.

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nur zukunftsgerichtet, sondern nimmt die Zukunft selbst in den Blick. Der Mensch, so formuliert es Cassirer, erhebt sich über den Fluss der Zeit. 121 Sebastian Rödl bezeichnet den Unterschied zwischen dem Zeitbewusstsein des Tieres und dem des Menschen als den Unterschied zwischen einem »impliziten« und einem »expliziten Zeitbewußtsein«. 122 Wer ein implizites Zeitbewusstsein hat, kann die Umstände, die heute vorliegen, von denen unterscheiden, die gestern vorlagen, indem er anders reagiert. Wer ein explizites Zeitbewusstsein hat, kann gestern von heute unterscheiden. Wir können diesen Begriffsgebrauch ebenso auf das Raumbewusstsein anwenden. Ein implizites Raumbewusstsein hat derjenige, der auf das, was hier ist, anders reagiert als auf das, was dort ist. Wer ein explizites Raumbewusstsein hat, unterscheidet hier von dort. Nur wer ein explizites Raum- und Zeitbewusstsein hat – das ist die These Cassirers, formuliert in den Begrifflichkeiten Rödls –, erfasst eine objektive Wirklichkeit. Die Erfassung von »Dingen« ist dort möglich, wo der Mensch in der Lage ist, sich aus den reinen Raum- und Zeiterlebnissen zu lösen und eine Überschau über Raum und Zeit zu gewinnen. Die wesentliche Rolle, die Raum und Zeit für den Aufbau einer objektiven Welt haben, bezieht sich auf das explizite Raum- und Zeitbewusstsein. Hier liegt eine Korrelation vor: Der Gegenstand ist kraft der Ordnung von Raum und Zeit setzbar. 123 Indem der Mensch ein explizites Raum- und Zeitbewusstsein gewinnt, gewinnt »das Bewußtsein die Möglichkeit einer neuen Orientierung – gewinnt es eine spezifische Richtung des geistigen Blicks, durch die ihm jetzt auch alle Gestalten der ›objektiven‹, der objizierten Wirklichkeit wie verwandelt sind«. 124 Die wesentliche und zentrale Frage in Hinblick auf das Raum- und Zeitproblem ist für Cassirer nun, wie diese »Metamorphose« 125 zwischen dem impliziten und dem expliziten Raum- und Zeitbewusstsein zu erklären ist. Die Frage nach der Genese und Entstehung der Räumlichkeit als solcher lehnt Cassirer, wie wir sahen, ab. Aber was seiner Ansicht nach »gefragt werden [kann und muss, ist,] auf welchem Wege und kraft welcher Vermittlung die bloße Räumlichkeit in ›den‹ Raum, der pragmatische Raum in den systematischen Raum übergeht«. 126 Was sind die Voraussetzungen für diesen Bedeutungswandel der Räumlichkeit und Zeitlichkeit? Ebd., S. 283 f. Sebastian Rödl, Kategorien des Zeitlichen: Eine Untersuchung der Formen des endlichen Verstandes (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005), S. 78. 123 Vgl. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 192. 124 Ebd., S. 168. 125 Ebd. 126 Ebd., S. 167. 121 122

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Es überrascht an dieser Stelle natürlich nicht mehr, wenn Cassirer die These vertritt, dass der Symbolgebrauch des Menschen Bedingung der Möglichkeit dieser Metamorphose ist. Das Raum- und Zeitproblem stehen für Cassirer in engem Zusammenhang mit dem Symbolproblem. Er fragt: »Welcher Anteil kommt […] der Sprache an der Gewinnung und Sicherstellung der Welt der räumlichen Anschauung zu?« 127 Oder: »Ist der Raum, ›in‹ dem sich uns die Dinge darstellen, eine einfache anschauliche Gegebenheit, oder ist er vielleicht erst der Ertrag und das Ergebnis eines Prozesses der symbolischen Formung?« 128 Diese Fragen bezeichnen die neue Problemstellung, die Cassirer verfolgt, sie enthalten aber auch die Antwort in sich. Für Cassirer weisen explizites Raum- und Zeitbewusstsein und der Symbolgebrauch des Menschen einen inneren Zusammenhang auf. Er kommt zu dem Schluss, dass »sich auch von dieser Seite her von neuem [zeigt], daß die Symbolfunktion in eine weit tiefere Schicht des Bewußtseins zurückreicht, als man gewöhnlich annimmt und zugesteht«. 129 Im vorangehenden Kapitel haben wir gesehen, dass der Symbolgebrauch für Cassirer die Realisierung und Aktualisierung der Fähigkeit ist, zwischen Darstellendem und Dargestelltem zu unterscheiden. Wer Symbole gebraucht, ist in der Lage, die Bedeutungsbeziehung – oder in anderen Worten: den hinweisenden Charakter von etwas – zu verstehen. Die bedeutungsvolle Einheit des Wahrgenommenen gliedert sich in sich selbst. Die einzelne Erscheinung wird zum Symbol, indem sie auf ein Bleibendes und Verharrendes verweist. Im und kraft des Symbolgebrauchs differenziert sich, was zuvor ununterschieden war. Genau diese Fähigkeit zur Differenzierung, die sich im Symbolgebrauch realisiert, ist – so Cassirer – Bedingung der Möglichkeit eines expliziten Raumund Zeitbewusstseins. Er schreibt: »Die Scheidung zwischen den beiden Grundmomenten der Darstellung – zwischen Darstellendem und Dargestelltem, zwischen ›Repräsentant‹ und ›Repräsentat‹ – trägt den Keim in sich, aus dessen Entwicklung und vollständiger Entfaltung die Welt des Raumes, als eine Welt der reinen Anschauung, hervorgeht.« 130

Denn auch für das explizite Raum- und Zeitbewusstsein gilt, dass es entsteht, indem sich die Einheit des Bewusstseins in sich selbst differenziert. Das Rätsel, das uns beim Übergang zum expliziten Zeitbewusstsein entgegentritt, ist, wie die Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die jedes organische Leben charakterisiert, in sich differenziert werden kann, und zwar so, dass 127 128 129 130

Ebd., S. 161. Ebd., S. 160. Ebd., S. 177. Ebd., S. 182.

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sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft voneinander abheben, ohne auseinanderzubrechen: »Diese Form der phänomenalen Differenzierung bildet das eigentliche Problem.« 131 Wie diese Differenzierung möglich ist, ist schwer zu verstehen, denn sie scheint nicht vereinbar zu sein mit dem logischen Prinzip des Satzes vom Widerspruch. 132 Der Satz vom Widerspruch besagt, dass zwei Aussagen, die sich widersprechen, nicht zugleich zutreffen können. Die Differenzierung des Zeitbewusstseins verlangt nun aber, dass das, was wir erinnern oder uns für die Zukunft vorstellen, zwar einerseits jetzt in unserem Bewusstsein ist, andererseits aber nicht dem »Jetzt« zugehört. Das Raumproblem lässt sich auf ähnliche Weise beschreiben. Auch die Gesamtvorstellung des Raumes erfordert, das »Hier« und »Dort« zu unterscheiden und sie doch in einer Einheit zusammenzufassen. Es handelt sich um eine »eigentümliche Doppelbeziehung« 133. Zwar müssen die unterschiedlichen Orte des Raumes voneinander unterschieden werden, gleichzeitig aber auch gemeinsam in den Blick genommen werden. »Der Prozeß der Differentiation«, so sagt Cassirer, »schließt hier unmittelbar zugleich einen Prozeß der Integration in sich.« 134 Fassen wir das Problem auf diese Weise, so sehen wir, dass es in Zusammenhang steht mit dem Symbolgebrauch des Menschen. Denn auch die Symbole des Menschen sind Ausdruck und Verwirklichung der Bedeutungsrelation, also einer synthetischen Einheit. In der Erfassung von Bedeutungsrelationen besteht die gemeinsame Wurzel eines expliziten Raum- und Zeitbewusstseins und der Sprachfähigkeit. Die Fähigkeit, zwischen Darstellendem und Dargestellten unterscheiden zu können, realisiert sich auf der einen Seite im Symbolgebrauch, auf der anderen Seite in einem expliziten Raum- und Zeitbewusstsein und damit in der Wahrnehmung einer objektiven Wirklichkeit. Es ist also nicht so, dass wir uns den Übergang von einem impliziten zu einem expliziten Zeit- und Raumbewusstsein so erklären können, dass die Sprache von außen kommend diesen Übergang bewerkstelligt. Vielmehr, so sagt Cassirer, gleichen die neue Form der Wahrnehmung und der Symbolgebrauch »zwei Stämmen, die derselben geistigen Wurzel entspringen«. 135 Diese gemeinsame Wurzel ist die »Grundkraft der ›Reflexion‹« 136, es ist das, was wir zuvor als die Fähigkeit, die Bedeutungsbeziehung zu erfassen, charakEbd., S. 200. Vgl. auch: »Wie kann der gegenwärtige Zeitpunkt […] sich […] in sich selbst entzweien und unterscheiden? Wie vermag er, als Gegenwart, die Vergangenheit und Zukunft von sich abzulösen und zu unterscheiden?« Ebd., S. 197. 132 Cassirer, Vorlesungen und Studien zur Philosophischen Anthropologie, S. 284. 133 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 171. 134 Ebd., S. 282. 135 Ebd., S. 128. 136 Ebd. 131

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terisiert haben. Es ist, so sagt Cassirer, »eine gemeinsame Funktion, die auf der einen Seite die Sprache, auf der anderen Seite die spezifische Gliederung der anschaulichen Welt erst ermöglicht«. 137 Der Zusammenhang zwischen dem expliziten Raum- und Zeitbewusstsein und der Sprachfähigkeit bzw. allgemeiner der Fähigkeit, Symbole zu gebrauchen, kann also kein ursächlich-kausaler Zusammenhang sein. 138 Die Sprache ist nicht die Ursache für das explizite Zeit- und Raumbewusstsein. Das explizite Zeit- und Raumbewusstsein ist auch nicht Ursache für das Sprachbewusstsein. Hier ist ein Zitat: »Ob bei diesem Prozeß die neue Form der Wahrnehmung vorangeht und auf diese erst die Sprachform folgt – oder ob der umgekehrte Prozeß gilt, ob erst die Sprache es ist, die diese Form erschafft: diese Frage braucht uns jetzt nicht mehr zu bekümmern. Denn für uns handelt es sich ebendarum, zu erkennen, daß hier eine wirkliche Scheidung nicht möglich ist – daß die ›Sprache der Sinne‹ und die reine Lautsprache sich an- und miteinander entwickeln.« 139

Die These des inneren Zusammenhangs zwischen dem Symbolgebrauch des Menschen und der Wahrnehmung einer objektiven Wirklichkeit erläutert Cassirer an dieser Stelle so, dass er sagt, dass beide Fähigkeiten »sich an- und miteinander entwickeln«. Das heißt: Mit der Entwicklung der Sprachfähigkeit entwickelt sich die Wahrnehmung einer objektiven Wirklichkeit; mit der Wahrnehmung einer objektiven Wirklichkeit entwickelt sich die Sprachfähigkeit. Es handelt sich nicht um isolierte Fähigkeiten des Menschen. Wie kann diese These bewiesen werden? Wir können – dieser Gedanke ist uns schon begegnet – unsere Fähigkeit, Symbole zu gebrauchen, nicht einfach ablegen und unsere Weise wahrzunehmen mit einer Wahrnehmung vergleichen, die nicht symbolisch strukturiert ist. Die Fähigkeit, Bedeutungsrelationen zu erfassen, ist auch kein der »Beobachtung zugängliches Datum des Ebd., S. 127. Vgl.: »In der Tat kann es sich, wenn man den durchgängigen Zusammenhang zwischen Sprachstruktur und Wahrnehmungsstruktur aufzuweisen und zu verstehen sucht, hierbei nicht um kausale Feststellungen, um Verhältnisse von ›Ursache‹ und ›Wirkung‹, handeln. Worauf es wesentlich ankommt, das ist nicht ein zeitliches Verhältnis des ›Früher‹ und ›Später‹, sondern ein sachliches Verhältnis der ›Fundierung‹.« ebd., S. 262. 139 Ebd., S. 266. Vgl. auch: »Ob diese Wendung, die nicht sowohl der Inhalt, als der Modus des ›Erlebens‹ im Menschen erfährt, ein Werk der symbolischen Formen ist, oder ob umgekehrt die letzteren nur den Ausdruck, das charakteristische ›Symptom‹ für diese Wendung darstellen: diese Frage ist im Grunde eben so müssig, wie sie unbeantwortbar ist. Denn erfassbar sind für uns beide Bestimmungen immer nur in ihrem reinen ›Zumal‹ : wir haben hier nirgends ein ›Vor‹ oder ›Nach‹ selbstständiger Elemente, sondern immer nur eine Korrelation von Momenten vor uns.« Cassirer, »Zur Metaphysik der symbolischen Formen«, S. 64 f. 137 138

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Bewußtseins«. 140 In einem gewissen Sinn ist der Beweis der These an dieser Stelle ausgeschlossen. Cassirer sagt: »Conditions of this sort can be shown but they cannot be demonstrated; they cannot be ascertained by mere reasoning, by deduction or logical proof. For to deduce them in this way would mean to reduce them to some other thing or principle that we suppose to be better known than they are known themselves; and it is just this reduction that proves to be impossible in the case of fundamental facts and fundamental phenomena.« 141

Cassirer argumentiert aber, dass wir diesen Zusammenhang empirisch erweisen und bestätigen können. Und zwar zeigt die Sprachpathologie, dass eine Veränderung der Sprachfähigkeit immer auch einhergeht mit einer Veränderung der Wahrnehmung und des Gesamtverhaltens des Patienten. 142 Die Aphasie, also eine erworbene Störung der Sprachfähigkeit, ist keine Störung, die nur den Akt des Sprechens im Besonderen trifft. »Die eigentlichen aphasischen Störungen«, so sagt Cassirer und nimmt dies als Beleg seiner Auffassung des Zusammenhangs zwischen Wahrnehmung und Sprachfähigkeit, betreffen »niemals bloß den Akt des Sprechens als isolierten Akt […], sondern […] jeder Änderung in der Sprachwelt des Kranken [entspricht] immer eine bestimmte charakteristische Wandlung in seinem Gesamtverhalten – in seiner Wahrnehmungswelt wie in seiner praktischen, seiner tätigen Stellung zur Wirklichkeit […].« 143

Cassirers eingehende und sehr interessante Erörterung der aphasischen Störungen werde ich hier nicht im Detail wiederholen. 144 Ich greife lediglich wenige Beispiele heraus, um darzustellen, wie sich das Zeit- und Raumbewusstsein von Aphasischen verändern kann. Cassirer schildert, dass sich Patienten mit einer erworbenen Störung der Sprachfunktion häufig noch gut im Raum zurechtfinden können. 145 InsbesonCassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 128. Cassirer, Vorlesungen und Studien zur Philosophischen Anthropologie, S. 285. 142 Vgl.: »Der Prozeß der Vergeistigung, der Prozeß der ›Symbolisierung‹ der Welt wird seinem Wert und seiner Bedeutung nach gerade dort für uns faßbar, wo er nicht mehr frei und ungehindert sich vollzieht, sondern wo er gegen Hemmungen anzukämpfen und gegen diese sich durchzusetzen hat. In diesem Sinne geben uns die Sprachpathologie und die Pathologie des Handelns einen Maßstab an die Hand, mit dem wir die Breite des Abstandes messen können, der zwischen der organischen Welt und der Welt der menschlichen Kultur, zwischen dem Gebiet des Lebens und dem des ›objektiven Geistes‹ besteht.« Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 322. 143 Ebd., S. 240. 144 Vgl. ebd., S. 234–321. 145 Ebd., S. 280, 284. 140 141

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Das Symbol

dere sind alltägliche Handlungen, die mehr oder weniger routiniert ablaufen, für die Patienten kein Problem: Sie können beispielsweise ein Streichholz nutzen, um eine Kerze anzuzünden, oder finden ihren Weg ins Krankenhaus. Die Orientierung im Raum ist möglich, solange der Patient Handlungen ausführt, die auf einen einzelnen, bestimmten Zweck bezogen sind. Das heißt: Die Patienten verfügen in jedem Fall über ein implizites Raumbewusstsein. Was den Patienten aber nicht gelingt, ist, eine Darstellung des Gesamtraumes zu geben. Beispielsweise können sie den Weg, den sie zuvor gegangen sind, nicht sprachlich beschreiben; oder sie sind nicht in der Lage, eine Skizze des Raumes anzufertigen. Wenn sie versuchen, eine solche Skizze zu zeichnen, so ist zu beobachten, dass sie an einzelnen Gegebenheiten des Raumes »kleben« bleiben, dass sie also beispielsweise den Stuhl oder Tisch im Detail zu zeichnen versuchen und dabei den Blick auf das Ganze verlieren. Denn für die Darstellung des Gesamtraumes ist nicht der Tisch in seiner detaillierten Erscheinungsform von Bedeutung, sondern lediglich seine Stellung im Raum, für die eine Markierung ausreichen würde. Die Darstellung des Gesamtraumes erfordert es, sich von der Gegenwart bestimmter sinnlicher Data zu lösen, was den aphasischen Patienten nur schwer möglich ist. 146 Ein weiteres Bespiel: Cassirer verweist auf Fälle, in denen Patienten nicht in der Lage sind, ein Objekt parallel zu einem bereits gegebenen Objekt auszurichten. Die einzige Weise, in der dies gelingt, ist, wenn sich die Objekte unmittelbar berühren dürfen. Was den Patienten aber nicht gelingt, ist, den Gegenstand an gedachten Richtungslinien im Raum auszurichten. Es fällt diesen Patienten schwer, den Raum als Liniengefüge aufzufassen. Hier ist ein Beispiel in Cassirers Worten: »[…] die wesentliche Veränderung im ›Raumsinn‹ des Kranken [scheint] darin bestanden zu haben, daß es ihm unüberwindliche Schwierigkeiten machte, eine feste Achse im Raum zu konzipieren und diese sodann als Ausgangspunkt für räumliche Unterscheidungen zu brauchen. Setzte sich etwas der Arzt ihm gegenüber und legte er zwischen sich und dem Patienten ein Lineal, so war es diesem nicht möglich, ein Geldstück derart hinzulegen, daß es auf die Seite des Arztes oder auf seine eigene Seite zu liegen kam: Der Gegensatz der beiden ›Seiten‹ wurde nicht als solcher erfaßt.« 147

Im Hinblick auf das Zeitbewusstsein der an Aphasie leidenden Patienten lässt sich Ähnliches sagen. Die meisten Patienten können auf zeitliche Angaben reagieren. Wenn jemand beispielsweise regelmäßig um drei Uhr das Haus ver-

146 147

Vgl. ebd., S. 282. Ebd., S. 285.

Symbol, Raum und Zeit

lassen muss, mag das kein Problem sein, insofern der Patient weiß, wie die Zeiger der Uhr um drei Uhr zu stehen haben. Das bedeutet aber noch nicht, dass er eine Vorstellung der Zeit hat. Dafür wäre es beispielsweise erforderlich, dass der Patient angeben kann, wie die Zeiger der Uhr zu einer anderen Zeit stehen. Die Vorstellung der Zeit bedeutet, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu unterscheiden und doch in einem Blick zusammenzufassen. Die Vorstellung der Zukunft ist die Vorstellung von etwas, das nicht ist. Wir können auch sagen, dass die Vorstellung der Zukunft eine Vorstellung von Möglichkeiten ist. Die Zukunft kann damit nur in einem symbolischen Akt vorgestellt werden, d. h. in einem Akt, der kraft der Gegenwart die Zukunft vorstellt. Cassirer nennt nun Beispiele von Patienten, die nur Sätze bilden können, die Wirkliches beschreiben, aber nicht in der Lage sind, Unwirkliches oder Mögliches auszusprechen. »Daher vermag der Kranke immer nur Tatsächliches, nur Vorhandenes, nicht aber bloß Vorgestelltes oder Mögliches ›auszusagen‹. Denn hierzu gehört eben, daß ein gegenwärtiger Inhalt behandelt wird, als wäre er nicht gegenwärtig, daß von ihm ›abgesehen‹ und auf einen anderen rein ideellen Zielpunkt ›hingesehen‹ wird.« 148

Ein eindrückliches Beispiel ist, dass ein Patient nicht sagen kann »Heute ist schlechtes Wetter«, wenn gerade die Sonne scheint. Einem anderen Patienten, der unter einer Lähmung der rechten Hand litt, gelang es nicht zu sagen »Ich kann mit meiner rechten Hand gut schreiben«. Stattdessen gebrauchte er beim Sprechen immer das »richtige« Wort »links«. Ich führe an dieser Stelle die Beschreibungen der spezifischen Veränderungen des Raum- und Zeitbewusstseins bei aphasischen Patienten nicht weiter aus. Ich denke, die genannten Beispiele genügen, um zu demonstrieren, wie Cassirer sie verwendet: Als Belege für seine These, dass zwischen der Wahrnehmung und der Sprachfähigkeit des Menschen ein innerer Zusammenhang besteht. Einige der von Cassirer besprochenen Beispiele zeigen nun in erster Linie, dass der Patient nicht in der Lage ist, seine Raum- und Zeitvorstellungen in einem Symbol, also vermittels einer Zeichnung oder der Sprache, wiederzugeben. Man könnte nun meinen, dass hiermit noch nicht gezeigt ist, dass die Raum- und Zeitvorstellung des Patienten verändert ist, sondern eben lediglich, dass er eine Sprachstörung hat. Cassirer widerspricht diesem Einwand explizit. Die von ihm besprochenen Beispiele zeigen, dass nicht nur die »Umset-

148

Ebd., S. 297.

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Das Symbol

zung des sinnlich Wahrgenommen in Worte als vielmehr die Umsetzung überhaupt […] den eigentlichen Kern der Schwierigkeit in sich schließt.« 149

2.3 Die Pluralität der Symbolsysteme

Wir haben dieses Kapitel mit der Erörterung der Frage begonnen, wie die synthetische Einheit von Form und Materie zu verstehen ist. Die Frage lautete, wie es möglich ist, dass Form und Materie eine Einheit bilden, in die sie nicht als Teile eingehen. In anderen Worten: Form und Materie sind weder identisch noch ursprünglich unterschieden. Cassirer antwortet auf dieses Rätsel, indem er darauf verweist, dass sich diese Einheit von Form und Materie im Symbolgebrauch des Menschen verwirklicht. Das Symbol kommt nicht zu einer gegebenen Materie der Wahrnehmung hinzu, sondern ist vielmehr selbst eine Weise wahrzunehmen. Der Mensch verfügt aber nicht nur über ein Symbolsystem, sondern über verschiedene. Cassirer unterscheidet beispielsweise sprachliche, mythische, künstlerische und wissenschaftliche Symbolsysteme. Wie ist das Verhältnis der verschiedenen Symbolsysteme zueinander und zu dem, was sie bezeichnen, zu verstehen? 150 Wir beginnen unsere Überlegungen mit einer Beobachtung, die Paul Bloom macht: Viele psychologische Studien zum Worterwerb von Kindern sind so aufgebaut, dass sie anstelle von realen Objekten mit Zeichnungen derselben arbeiten. 151 Der Spracherwerb des Kindes wird also beispielsweise nicht in Verbindung mit einem realen Bananenbaum, sondern in Verbindung mit der Zeichnung eines Bananenbaums getestet. Diese Austauschbarkeit, so stellt Bloom fest, ist universell: Es gibt kein Wort, das sich nur auf wirkliche Objekte bezieht, genauso wenig wie es ein Wort gibt, dass sich nur auf Zeichnungen bezieht. 152 Die Wörter »Buch«, »Haus«, »Eis« etc. beziehen sich alle gleichermaßen auf das reale Objekt wie auf die Zeichnung des realen Objekts. Ebd., S. 299. Vgl.: »And here begins, in my view, the real philosophical problem. Are language, art, religion, science only various provinces of the human mind that lie the one beside to the other? Is their relation nothing else than such a vicinage – a spatial neighbourhood of separate domains or is it to be understood in a much more profound and much more systematic way?« Ernst Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language [1941/42]«, in: ECN 6, S. 189–343, hier: S. 211. 151 Vgl. Bloom, How Children Learn the Meanings of Words, S. 172. 152 Vgl.: »The word dog can name both a real object and a visual representation of an object. In general, words describe both reality and depictions of reality […]. No words refer to dogs but not representations of dogs or refer to representations of dogs but not the real things.« Ebd., S. 173. 149 150

Die Pluralität der Symbolsysteme

Dies irritiert Bloom. Ist es nicht sehr merkwürdig, dass es keinen Unterschied zu machen scheint, ob man Wörter in Zusammenhang mit Zeichnungen oder mit realen Objekten erlernt? Fasst man die Sprache als eine additive Zutat zum Wahrnehmungsbewusstsein auf, so muss dies rätselhaft erscheinen. Natürlich macht es einen Unterschied, ob ein Wort mit einer Zeichnung oder mit einem realen Objekt verbunden wird, wenn der Zusammenhang zwischen Wort und Sache als eine sekundäre Verbindung zwischen zwei gegebenen Elementen der Wirklichkeit aufgefasst wird. Wenn die additive Auffassung von Sprache zutrifft, so sollten wir eigentlich davon ausgehen, dass die Sprache für die Zeichnung ein anderes Wort bereithält als für das reale Objekt, denn die Zeichnung ist doch genauso Objekt wie das »reale Objekt«. Bloom meint, diese Austauschbarkeit zwischen realem Objekt und Zeichnung damit erklären zu können, dass zwischen beiden eine maximale Ähnlichkeitsbeziehung besteht: »The obvious answer to the question of why the above drawing is called ›A dog‹ is that it looks like a dog. More generally, some pictures resemble what they depict and can be recognized without further information.« 153

Zeichnung und reales Objekt sind austauschbar, weil sie eigentlich gleich sind. Damit meint er, an seiner additiven Auffassung von Sprache festhalten zu können. Sprache kommt eben zu einem realen Objekt hinzu, das in gewissem Sinne – so können wir vielleicht sagen – doppelt vorkommt: Nämlich als reales Objekt und als Zeichnung. Wenn der Zusammenhang zwischen realem Objekt und Zeichnung kein Problem ist, insofern beides unmittelbar als »dasselbe« erkannt werden kann, so ist es auch nicht verwunderlich, dass beides mit demselben Wort bezeichnet wird. Diese Annahme, dass zwischen Zeichnung und realem Objekt eine Ähnlichkeitsbeziehung besteht, die es uns ermöglicht, beides unmittelbar als dasselbe zu erkennen, und die in diesem Sinne unproblematischer ist als das sprachliche Zeichen, ist weit verbreitet. Es scheint so zu sein, dass wir den Zusammenhang zwischen Zeichnung und »realem Objekt« intuitiv als unproblematischer auffassen als den Zusammenhang zwischen Wort und »realem Objekt«. So sahen wir bereits, dass auch Michael Tomasello annimmt, dass Wahrnehmung mit der Produktion von Bildern vergleichbar ist. 154 In dem Beispiel, auf das ich mich beziehe, versucht Tomasello eine Antwort darauf zu geben, was Schimpansen sehen, wenn sie einen Bananenbaum sehen. 155 Er 153 154 155

Ebd., S. 174. Vgl. oben, S. 68. Tomasello, A natural history of human thinking.

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Das Symbol

tut dies, indem er die Skizze eines Bananenbaums einfügt. Tomasello schreibt also nicht: »Der Schimpanse sieht einen ›Bananenbaum‹«. Stattdessen fertig er die Skizze eines Bananenbaums an. Diese Skizze trägt die Unterschrift »What a chimpanzee sees« 156. Tomasello meint offenbar, dass er durch die Skizze dem Wahrnehmungserlebnis des Schimpansen näherkommt, als wenn er sagen würde, dass der Schimpanse einen ›Bananenbaum‹ sieht. Und tatsächlich: Wenn wir diese Skizze betrachten und die Unterschrift lesen, so bekommen wir eine Vorstellung davon, was der Schimpanse sieht. Wir denken nicht, dass der Schimpanse, wenn er in freier Wildbahn auf Futtersuche ist, der Skizze eines Bananenbaumes begegnet. Wir können sozusagen durch die Zeichnung hindurch das reale Objekt »sehen«. Man könnte also meinen, dass die Zeichnung des Bananenbaums ihren Zweck erfüllt. Wir wissen jetzt, was der Schimpanse sieht. Aber wissen wir tatsächlich mehr, als wenn Tomasello einfach gesagt hätte, dass der Schimpanse einen »Bananenbaum« sieht? Cassirer argumentiert, dass dies nicht so ist. Ein Bild bildet nicht einfach eine gegebene Wirklichkeit ab. Auch ein Bild erweitert – so wie wir es schon in Hinblick auf die Sprache besprochen haben – den Bereich der Wirklichkeit nicht. »Wie die geistige Leistung der Sprache«, so sagt Cassirer, »wird die der bildenden Kunst völlig unzulänglich beschrieben, wenn man in ihr nichts anderes als die ›Wiedergabe‹ einer schon vorhandenen Formwelt sieht.« 157 Was in der Zeichnung geleistet wird, ist nicht die Nachzeichnung der Wirklichkeit, sondern die Gewinnung einer objektiven Wirklichkeit. Sprache und Kunst und alle anderen symbolischen Formen haben in dieser Gewinnung einer objektiven Wirklichkeit ihr gemeinsames Ziel und in der Erreichung dieses Ziels bedingen sie sich gegenseitig. Alle symbolischen Formen sind »Grundmittel der Objektivation« und bilden darin eine »Union«. 158 Sprache, Mythos, Kunst etc. bilden kein Aggregat, sondern sind systematisch aufeinander bezogen: »The different forms of human activities are no mere aggregate; they form a system.« 159 Was die Kunst im Besonderen leistet, so argumentiert Cassirer, ist die Sichtbarmachung der visuellen Struktur des Wahrgenommenen. Auch dann, so meint er, wenn wir einen Gegenstand schon unzählige Male gesehen haben, so ist damit noch nicht gesagt, dass wir seine visuelle Gestalt beschreiben Ebd., S. 10. Cassirer, »Zur Metaphysik der symbolischen Formen«, S. 76. Vgl. auch: »Like all the other symbolic forms art is not the mere reproduction of a ready-made, given reality. It is one of the ways leading to an objective view of things and of human life.« Cassirer, Essay on Man, S. 155. 158 Cassirer, »Zur Metaphysik der symbolischen Formen«, S. 81. 159 Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language«, S. 210. 156 157

Die Pluralität der Symbolsysteme

können. Einfacher ist es, seine physikalischen Eigenschaften anzugeben oder die Wirkungen, die von ihm ausgehen. Die Kunst hingegen ermöglicht uns, die visuelle Gestalt des Gegenstandes zu erfassen. 160 Wir dürfen also nicht annehmen, dass uns diese visuelle Gestalt des Gegenstandes einfach gegeben ist. Wir müssen sie uns erarbeiten bzw. »entdecken«. 161 Das bedeutet: Für Cassirer arbeiten zwar alle symbolischen Formen an dem Aufbau einer objektiven Wirklichkeit zusammen, sie tun dies aber auf unterschiedliche Weise. Es ist etwas anderes, ob ein Bananenbaum von einem Künstler gezeichnet, von einem Dichter beschrieben oder einem Geographen bzw. Geologen vermessen wird. Und was der Künstler oder die Künstlerin uns zeigt, ist die sinnliche Welt. 162 Ein wirkliches »Sehen«, meint Cassirer, liegt dort vor, wo es auch künstlerische Gestaltung gibt: »Die ›Dinge‹ gewinnen ein ›Gesicht‹ erst dadurch, daß der Geist es ihnen, in einer bestimmten Art und Richtung seiner Tätigkeit, verleiht. Und diese Tätigkeit ist keine andere als die der künstlerischen Darstellung. Diese bildet nicht Gesehenes nach – sondern ihre Grundbedeutung und ihre eigentliche Leistung besteht darin, daß sie das bloss-Empfundene oder dumpf Gefühlte in ein Gesehenes verwandelt.« 163

Dieser innere Zusammenhang zwischen künstlerischer Gestaltung und eigentlichem »Sehen« erklärt möglicherweise auch die eingangs erwähnte Selbstverständlichkeit, mit der wir davon ausgehen, dass eine Zeichnung das Gesehene unmittelbarer darstellt als das Wort. Weder die Sprache noch die künstlerische Gestaltung wird nach Cassirer aber dann richtig verstanden, wenn wir sie als Kopien der Wirklichkeit auffassen. Damit gilt nach Cassirer nicht nur für das Wort, sondern auch für die Zeichnung, dass sie in keiner dinglich-ontologischen Beziehung zu dem steht, was sie darstellt. Die Zeichnung ist – anders als Bloom annimmt – keine Zeichnung, weil sie in einem Ähnlichkeitsverhältnis zu einem »realen Objekt« steht. Auch zwischen Zeichnung und »realem Objekt« besteht eine Beziehung sui generis, die wir zuvor als symbolische Beziehung bezeichnet haben. Eine Zeichnung und das, was sie zeigt, sind einerseits dasselbe und andererseits doch verschieden. Eine Zeichnung ist wie ein Wort ein Symbol. In beiden vollzieht sich die eigentümliche Synthesis von Form und Materie der Erkenntnis. Cassirer sagt, dass

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Vgl. Cassirer, Essay on Man, S. 156. Ebd., S. 171. Ebd., S. 182 f. Cassirer, »Zur Metaphysik der symbolischen Formen«, S. 80.

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Das Symbol

»man jedes Symbol um seinen Sinn bringt, wenn man es mit dem, was es bedeutet und worauf es hinweist, durch irgendeine real-dingliche, durch eine ontologische Beziehung verbunden sein läßt«. 164

Die Bedeutungsbeziehung, so sagt Cassirer hier, ist unterschieden von den Beziehungen, die zwischen realen Dingen bestehen können. Anders als Bloom und offenbar auch Tomasello annehmen, ist der Zusammenhang zwischen Zeichnung und Wirklichkeit nicht auf eine Ähnlichkeitsbeziehung reduzierbar. Die Schwierigkeit einer solchen Auffassung liegt darin, dass das Vorliegen einer Ähnlichkeitsbeziehung nicht bedeutet, dass diese Beziehung erkannt wird. »Ein Inhalt«, so formuliert Cassirer diesen Einwand, »mag dem anderen noch so ähnlich sein oder zu ihm in noch so unmittelbarer kausaler Beziehung stehen: So ist doch darin in keiner Weise gegeben, daß er selbst sich auf ihn bezieht, daß er sich als ihm ähnlich oder mit ihm verbunden weiß.« 165

Dass zwei Dinge einander ähneln, impliziert nicht, dass sie als ähnlich erkannt werden. Denn dies erfordert die Festlegung eines bestimmten Gesichtspunktes, unter dem sie als ähnlich erkannt werden können. Im Prinzip gibt Bloom dafür selbst ein gutes Beispiel: Als Beleg dafür, dass zwischen Bild und realem Objekt eine maximale Ähnlichkeitsbeziehung besteht, führt er an, dass Hunde an lebensgroßen Abbildungen von anderen Hunden schnüffeln. Sie täuschen sich. Sie denken, dass die Zeichnung ein echter Hund ist. Dasselbe scheint auch für Kinder bis zum Alter von zwei Jahren zu gelten. In dieser Zeitspanne verwechseln Kinder häufig Bild und reales Objekt und versuchen mit dem Bild so umzugehen, als sei es ein reales Objekt. 166 Dies ist ein gutes Beispiel für den Unterschied zwischen dem Vorliegen einer Ähnlichkeitsbeziehung und dem Erkennen einer Ähnlichkeitsbeziehung. Hund und Kleinkind fassen das Bild nicht als Bild auf. Der erwachsene Mensch, der das Bild eines Hundes sieht, sagt zwar, dass er einen Hund sieht, aber er verwechselt nicht Bild und reales Objekt. Er weiß sehr wohl, dass er keinen echten Hund sieht, sondern die Zeichnung eines Hundes. Das bemerkt auch Bloom. 167 Wenn Bloom also annimmt, dass zwischen Bild und

Cassirer, »Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie«, S. 78. 165 Ebd. S. 24. 166 Vgl. Bloom, How Children Learn the Meanings of Words, S. 178. 167 Vgl.: »If asked ›What’s this?,‹ you might say ›A dog.‹ But you would not confuse it for an actual dog. It will not bark, bite, or piddle on the page, it has no color, depth, mass, texture, or smell.« Ebd., S. 173. 164

Die Pluralität der Symbolsysteme

Sache, also beispielsweise zwischen der Zeichnung eines Hundes und dem wirklichen Hund, lediglich eine dingliche Beziehung besteht, dann kann er nicht begreifen, wie es möglich ist, die Zeichnung als Zeichnung aufzufassen. Beim Anblick einer Zeichnung müssten Menschen dann entweder der Zeichnung keine spezifische Bedeutung beimessen oder sie mit dem dargestellten Gegenstand verwechseln. Das eigentlich Rätselhafte wäre dann, warum Menschen nicht ständig Zeichnungen und reale Objekte verwechseln. Wir können diesen Schwierigkeiten nur dann entgehen, wenn wir erkennen, dass wie für das sprachliche Wort, so auch für die Zeichnung gilt, dass sie den Bereich der Gegenständlichkeit nicht erweitert. Eine Zeichnung ist keine Dopplung der Wirklichkeit. Eine bloße Verdopplung der Wirklichkeit wäre, meint Cassirer, von zweifelhaftem Wert. 168 Die Zeichnung kommt nicht zu einer gegebenen Wirklichkeit hinzu, sondern ist eine Weise, wahrzunehmen. Für den Menschen gilt tatsächlich, dass die richtige Antwort auf die Frage, was er wahrnimmt, ein Symbol ist. Wenn man jemanden fragt, was er sieht, so kann er mit einem Wort oder mit einer Zeichnung antworten, denn das ist das, was er sieht. Wenn jemand sagt, was er sieht, oder zeichnet, was er sieht, dann fügt er seiner Wahrnehmung damit nichts Neues hinzu. Dass man einen »Bananenbaum« sieht, weiß man, ob man es nun sagt oder nicht. Der Schimpanse sieht aber keinen »Bananenbaum« und auch keine Zeichnung eines Bananenbaums. Er sagt nicht, dass er einen Bananenbaum sieht und er zeichnet auch keinen Bananenbaum. Das ist kein Mangel einer additiven Fähigkeit, die zu seiner Wahrnehmungsfähigkeit hinzukommen könnte, sondern ein Unterschied in der Wahrnehmung selbst. Dies können wir uns auch so klar machen, dass, sollte der Schimpanse das Wort »Bananenbaum« mit einem realen Bananenbaum assoziieren, dies seine Wahrnehmung selbst nicht verändern würde. Weiß hingegen ein Mensch nicht, dass das, was er sieht, ein Bananenbaum ist, und lernt er dies nun, so verändert sich seine Wahrnehmung. Denn nun sieht er einen »Bananenbaum«. Es gibt eine für diesen Zusammenhang sehr interessante Beobachtung von Karl Bühler. Bühler beschäftigt sich mit Kinderzeichnungen und stellt fest, dass das Dargestellte regelmäßig vollkommen disproportional gezeigt wird. Hier ist ein Beispiel: »Die ersten Menschenfiguren des Kindes sind skizzenhaft, unvollständig, ungeordnet und disproportioniert. […] Man erkennt jetzt jedenfalls Umrisse, und zwar vor allem eine geschlossene Kopflinie mit den wichtigsten Gesichtsteilen darin. Aus dem Kopfkreis wachsen andere Linien heraus, am häufigsten zwei

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Cassirer, Essay on Man, S. 183.

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Das Symbol

lange Geraden nach unten, die offenbar die Beine darstellen sollen. Die Arme fehlen häufig ganz oder kommen neben den Beinen aus dem Kopf heraus […].« 169

Kinder setzen also beispielsweise in ihren Zeichnungen die Beine direkt am Kopf an und andere Körperteile fehlen vollständig. Welche Erklärung gibt es für diese Art der Darstellung, die offenbar mit der »Wirklichkeit« nicht übereinstimmt? Karl Bühler schlägt vor, dass der intrinsische Zusammenhang zwischen Sprache und Wahrnehmung die Erklärung für diese merkwürdige »Verzerrung der Wirklichkeit« ist. Der Schlüssel zum Verständnis von Kinderzeichnungen, so sagt Bühler, besteht darin zu erkennen, dass das Kind nicht zeichnet, »was es sieht, sondern aus dem Wissen heraus«. 170 Was bedeutet das? Das Kind, so meint Bühler, zeichnet eine Wirklichkeit, die wesentlich sprachlich strukturiert ist. Er schreibt: »Nun, die Ordnung einer sprachlichen Schilderung ist nicht an die Raumordnung der Gegenstandsbestandteile gebunden; wenn in einem Märchen steht ›Der Zwerg hat einen riesengroßen Kopf und zwei ganz kurze Beinchen, schneeweiße Händchen und eine feuerrote Nase‹, so wäre stilistisch dagegen sicher nichts einzuwenden. Sollte etwa eine derartige Satzfolge unbefangen und unkritisch, ohne die nötige vollständige Vorstellungsübersicht die Hand eines kindlichen Zeichners lenken, dann können leicht die kurzen Beinchen unmittelbar aus dem großen Kopf herausgewachsen und ungefähr an derselben Stelle auch die Hände ansetzen, während die Nase vielleicht wieder ungefähr richtig in der Mitte des Kopfkreises zu stehen käme. Das ist aber genau, was man an vielen frühesten Kinderzeichnungen sehen kann, die Zeichnungen des Kindes sind in gewissem Sinne graphische Erzählungen.« 171

Die merkwürdige Weise der kindlichen Zeichnungen erklärt sich daraus – so meint Bühler –, dass das Kind die Wirklichkeit der Sprache zeichnet. Für diesen Zusammenhang sieht Bühler weitere Belege an anderer Stelle. In »primitiven Kulturen« 172 – gemeint sind Kulturen, deren sprachliche Entwicklung noch nicht so weit fortgeschritten ist – wird naturgetreuer gezeichnet. Wir können auch sagen: Wo kein Allgemeinbegriff vorliegt 173, wird weniger Karl Bühler, Abriß der geistigen Entwicklung des Kleinkindes (Heidelberg: Quelle & Meyer 1967), S. 153 f. 170 Ebd., S. 156. 171 Ebd., S. 158. 172 Ebd., S. 159. 173 Vgl. zu dieser Interpretation der Entwicklung der Sprache auch die Darstellung bei Cassirer: »Und die gleiche, fast schrankenlose Differenzierung gilt, wie für die Tätigkeitsbegriffe, auch für die Dingbegriffe. Auch hier ist das Bestreben der Sprache, ehe sie zur Schaffung bestimmter Klassenbezeichnungen und ›Gattungsbegriffe‹ gelangt, vor allem auf die Bezeichnung der ›Varietäten‹ gerichtet. Die Ureinwohner von Tasmanien hatten kein 169

Die Pluralität der Symbolsysteme

schemenhaft gezeichnet. Des Weiteren: Während Kinder mit großem Eifer unzählige Zeichnungen produzieren, lässt diese Aktivität im Jugendalter rapide nach. Bühler meint, dass dieses Nachlassen des künstlerischen Ausdrucks im Zusammenhang steht mit dem Erstarken und Ausbilden des sprachlichen Ausdrucks. 174 Diese Beobachtungen Bühlers sprechen dafür, dass die Sprache dem Wahrgenommenen nicht äußerlich bleibt, sondern es formt. Die kindlichen Zeichnungen sind Darstellungen dessen, was sprachlich gesehen wird. Ein guter Künstler und Zeichner ist dann jemand, der sich von der Sprachlichkeit der Wahrnehmung distanzieren kann und sozusagen in und kraft eines anderen Symbolsystems wahrnimmt. Oder, anders formuliert: Ein guter Künstler und Zeichner lehrt uns die Welt in ihren räumlichen Proportionen und Verhältnissen zu sehen. Auch zwischen Wort und Zeichnung besteht somit ein symbolisches Verhältnis. Sie sind eins und doch verschieden.

Wort, um den Begriff des Baumes auszudrücken, dagegen je einen besonderen Namen für jede einzelne Spielart der Akazie, des blauen Gummibaumes usf.« Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 263. 174 Bühler, Abriß der geistigen Entwicklung des Kleinkindes, S. 163.

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icht jeder empirische Zusammenhang, so sahen wir, lässt sich als ein dinglich-ontologischer Zusammenhang auffassen. Der Zusammenhang zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist kein Zusammenhang innerhalb der Wirklichkeit. Das Zeichen kommt nicht sekundär und nachträglich zu dem hinzu, was es bezeichnet, sondern beides bildet eine ursprüngliche Einheit. Der Prototyp für ein solches Verhältnis sui generis besteht für Cassirer in dem Zusammenhang zwischen Leib und Seele. 1 Leib und Seele – so argumentiert Cassirer – sind nicht zwei ursprünglich voneinander unabhängig gegebene Einheiten, im Hinblick auf welche wir danach fragen könnten, wie sie zusammenkommen und miteinander harmonieren können. Dasselbe gilt für das Verhältnis zwischen »Ich« und »Du«. Auch das Band, dass ein »Ich« und ein »Du« miteinander verbindet, ist kein Band, das zwei für sich bestehende und selbständige Einheiten nachträglich miteinander verknüpft. Zwar ist für uns die scharfe analytische Unterscheidung zwischen Körper und Seele sowie zwischen physischen und psychischen Faktoren eine Selbstverständlichkeit. Es ist aber ein Fehler, diese Selbstverständlichkeit als bedingungslos aufzufassen. Vielmehr bildet die Möglichkeit dieser Unterscheidung zwischen Körper und Seele, zwischen physischen und psychischen Faktoren sowie zwischen Ich und Du das eigentliche Rätsel. Was sind die Bedingungen der Möglichkeit dieser Unterscheidungen? Mit dieser Fragestellung weist Cassirer das »erkenntniskritische Problem des Fremdpsychischen« zurück. Dieses Problem basiert auf der Annahme, dass dem einzelnen Subjekt immer nur die eigenen Bewusstseinszustände in unmittelbarer Gewissheit gegeben sind. Ob aber ein anderes Subjekt ein mit Bewusstsein ausgestattetes Wesen ist, ist zweifelhaft insofern, als wir auf die Bewusstseinszustände anderer schließen müssen. In Kapitel 3.1. diskutiere ich zwei prominente Weisen, das erkenntnistheoretische Problem des Fremdpsychischen zu lösen: die Analogieschluss- und die Einfühlungslehre. Es zeigt sich, dass beide Vorschläge dem skeptischen Zweifel nichts entgegenzusetzen haben. Cassirer schlägt nun keine weitere Lösung für das erkenntniskritische Problem des Fremdpsychischen vor, sondern bringt es zum Verschwinden, indem er die Prämissen verneint, auf denen es beruht. Das Wissen um den Anderen gründet nicht in einer Schlussfolgerung, sondern im gemeinsamen Tun. Der Mensch ist nicht das einzige soziale Lebewe1

Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 111.

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Sozialität

sen auf der Welt, aber seine Sozialität hat eine spezifische Form. In Kapitel 3.2. erläuterte ich den Unterschied zwischen der Sozialität im Tierreich und der Sozialität des Menschen. Cassirers These ist, dass das Wissen um das »Du« von der spezifischen menschlichen Sozialität nicht zu trennen ist. Im und kraft des gemeinsamen Handelns wissen wir voneinander und begreifen uns als ein »Ich« und ein »Du«. Daraus folgt, dass wir die Struktur des gemeinsamen Handelns des Menschen nicht reduktiv beschreiben können, in dem Sinne, dass wir das gemeinsame Handeln von Menschen auf die Intentionen von Individuen zurückführen. Denn in einem gewissen Sinn ist das gemeinsame Handeln den Individuen vorgängig. Dieser anti-reduktionistische Ansatz steht im Gegensatz zu zeitgenössischen Versuchen – beispielweise von Michael Bratman –, gemeinsames Handeln auf die Intentionen der beteiligten Akteure zurückzuführen. Die Bedingung dieses gemeinsamen Tuns, so zeigt Kapitel 3.3, liegt für Cassirer in der Sprache beschlossen. Wir können auch sagen: Sprache ist eine spezifische Form der Sozialität.

3.1 Das Wissen vom Du

Der Mensch teilt die Welt mit anderen Menschen. Ich weiß, dass es neben mir andere Menschen gibt, die mir gleich sind, die also ebenso wie ich zu sich selbst »Ich« sagen und die ich mit »Du« anrede. Diese intuitive Gewissheit kann zweifelhaft erscheinen, wenn wir danach fragen, woher ich dies eigentlich wissen kann. Was berechtigt mich, anzunehmen, dass diejenigen, die ich mit »Du« anspreche, wirklich geistbegabte Akteure sind und keine Roboter? Diese Fragestellung bezeichnet das erkenntnistheoretische Problem des Fremdpsychischen. Das erkenntnistheoretische Problem basiert auf der Annahme, dass eine radikale Differenz zwischen der Art und Weise besteht, wie uns unsere eigenen Bewusstseinserlebnisse gegeben sind, und der Art und Weise, wie uns die Bewusstseinserlebnisse anderer gegeben sind. 2 Während wir direkt wissen, was wir selbst denken, fühlen, wahrnehmen usw., können wir dies nie in derselben Unmittelbarkeit von Anderen wissen. Die Prämisse, auf der das erkenntnistheoretische Problem basiert, ist, dass die Wirklichkeit außer uns zunächst und primär eine physische Wirklichkeit ist. Diese können wir direkt wahrnehmen; Bewusstseinszustände gehören nicht dazu. Daraus folgt, dass Vgl. für einen zusammenfassenden Überblick Anita Avramides, »Other Minds?«, in: Think 1, Nr. 2 (2002), S. 61–68. 2

Das Wissen vom Du

wir auf die Bewusstseinszustände Anderer schließen müssen. Von etwas, das wir direkt wahrnehmen, nämlich einer rein physischen Wirklichkeit, müssen wir schlussfolgernd die Bewusstseinszustände Anderer erfassen. Das erkenntnistheoretische Problem erfordert dann die Angabe von Gründen, die unsere Annahme der Existenz anderer mit Bewusstsein ausgestatteter Wesen rechtfertigen. Wie kann unsere Überzeugung, dass es neben uns selbst noch andere denkende, fühlende und wahrnehmende Wesen gibt, gerechtfertigt werden? Ein bekannter Versuch, eine Antwort auf das erkenntnistheoretische Problem zu geben, besteht in Analogieschlusslehren. 3 Die Annahme ist, dass wir an Anderen bestimmte körperliche Bewegungen wahrnehmen, die wir auch an uns selbst bemerken. Und da wir wissen, wodurch unsere eigenen Bewegungen verursacht wurden, können wir dieselbe Ursache auch bei anderen unterstellen. Wenn wir zum Beispiel wissen, dass Zorn bei uns selbst Auslöser für eine bestimmte Reaktion ist, so können wir – sehen wir bei einem anderen dieselbe Verhaltensweise – folgern, dass er zornig ist. Der Einwand gegen Analogieschlusslehren ist der Folgende: Abgesehen davon, dass die Wahrnehmung der eigenen Körperbewegungen kaum eine Ähnlichkeit zu der Wahrnehmung der Bewegungen anderer aufweist, ist dieser Schluss schon deshalb zweifelhaft, weil dieselbe Wirkung natürlich verschiedene Ursachen haben kann. Nichts garantiert, dass eine bestimmte Mimik bei mir zwar durch einen bestimmten mentalen Zustand ausgelöst wird, bei dir hingegen nicht. Cassirer fasst die Argumente gegen Analogieschlusslehren folgendermaßen zusammen: »Im ganzen wie im einzelnen erweist sich dieser Schluß der schärferen Betrachtung alsbald als durch und durch brüchig. Denn einmal ist es ein bekanntes erkenntnistheoretisches Prinzip, daß sich zwar von der Gleichheit der Ursachen auf die der Wirkungen, nicht aber umgekehrt von dieser auf jene schließen läßt, da ein und dieselbe Wirkung von ganz verschiedenen Ursachen hervorgebracht werden kann. Zudem aber würde, auch wenn man von diesem Einwand absieht, ein Schluß von der hier bezeichneten Art im günstigsten Falle immer nur eine provisorische Annahme, eine bloße Wahrscheinlichkeit begründen können.« 4

Versuche, das Wissen um den Anderen durch einen Analogieschluss zu rechtfertigen, können ihr Ziel nicht erreichen. Statt einer Rechtfertigung erhalten wir Wahrscheinlichkeitsaussagen. Unter diesen Voraussetzungen hat es der Skeptiker leicht, seinen Zweifel an der Existenz anderer zu begründen.

3 4

Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 92–94. Ebd., S. 92 f.

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Auf diese Problematik hat Stanley Cavell in seinem Aufsatz »Knowing and acknowledging« 5 reagiert. Er diagnostiziert, dass der Anti-Skeptiker unter der Prämisse, dass das Wissen von anderen auf einer Schlussfolgerung beruht, dem Skeptiker nichts entgegenzusetzen hat. Was wir nach Cavell erkennen müssen, um auf den Skeptiker reagieren zu können, ist, dass wir, wenn wir Aussagen über die mentalen Zustände anderer machen, uns gar nicht auf logische Gründe stützen. Wir drücken damit nicht die Konklusion einer Schlussfolgerung aus, sondern unsere Sympathie mit dem anderen: »[…] ›I know you are in pain‹ is […] an expression of sympathy.« 6

Dass wir Sympathie mit dem anderen haben, ist ein Ausdruck davon, dass die mentalen Zustände anderer uns ansprechen: »[…] your suffering makes a claim upon me.« 7 Auf diesen Anspruch der mentalen Zustände müssen wir nach Cavell nicht notwendigerweise mit Sympathie reagieren. Wir können auch eine Antipathie oder Schadenfreude oder etwas anderes fühlen. Es ist nach Cavell aber nicht möglich, auf diesen Anspruch mentaler Zustände anderer gar nicht zu reagieren. Auch keine Reaktion ist eine Reaktion. Was nun Cavell meines Erachtens nach nicht in der notwendigen Klarheit herausstellt, ist, dass und inwiefern sich seine Auffassung von einer klassischen Einfühlungstheorie unterscheidet. Einfühlungstheorien argumentieren, dass sich das Wissen um Fremdpsychisches nicht mit Verweis auf logische Schlüsse erklären lasse. Darin weisen sie eine oberflächliche Ähnlichkeit zu den Auffassungen Cassirers und Cavells auf. Der tiefergehende Unterschied besteht aber darin, dass Einfühlungstheorien auf einen psychischen Akt verweisen, um die Möglichkeit der Erfassung eines an sich rein physischen Sinneseindrucks als Ausdruck eines mentalen Zustands zu erläutern. Es ist eine besondere Form des »Miterlebens« oder »Nacherlebens«, durch die die Welt beseelt wird. Dadurch wird das eigene Leben auf andere projiziert oder übertragen. Paradigmatisch für eine solche Position ist die Auffassung Theodor Lipps: »In der Tat sagt das Wort ›Ausdruck‹ […] dasselbe wie das Wort ›Einfühlung‹. Es ist deutlich, die Freude kann ich nicht sehen, nicht hören, sondern nur in mir erleben oder fühlen. Und ›liegt‹ nun die Freude für mich in einem Sinnlichen, das ich sehe, oder ›drückt‹ ein Sinnliches, eine Gebärde etwa, diese Freude ›aus‹, Stanley Cavell, »Knowing and acknowledging«, in: ders., Must we mean what we say? A book of essays (Cambridge [England], New York: Cambridge University Press 1976), S. 220– 245. 6 Vgl. ebd., S. 243. 7 Ebd. 5

Das Wissen vom Du

so kann dies nichts heißen als: ich fühle ›mich‹ in dieser Gebärde oder ich bin in sie eingefühlt.« 8

Eine solche Einfühlungstheorie unterscheidet sich lediglich hinsichtlich des »brechenden Mediums« 9 von Schlussfolgerungstheorien, wie Cassirer hervorhebt. Die grundsätzliche Gemeinsamkeit zu Schlussfolgerungstheorien besteht darin, dass davon ausgegangen wird, dass das, was primär und ursprünglich wahrgenommen wird, Sinnesdaten sind. Denn die Freude kann ich, wie Lipps in diesem Zitat voraussetzt, nicht sehen und nicht hören. Genau wie Schlussfolgerungstheorien wollen auch Einfühlungstheorien erläutern, wie der Übergang von einem rein physischen Sinnesdatum zu der Erfassung dieses Sinnesdatums als Ausdruck von etwas Lebendigem zu verstehen ist. Das Problem für Einfühlungstheorien ist, dass der Grund für die Erfassung von Fremdpsychischem in das Subjekt hineinverlegt wird und diese Erfassung deshalb auch als subjektiv erscheinen muss. Auch wenn aus einer solchen subjektiven Perspektive heraus die Sicherheit der Existenz anderer und die Deutung von Sinnesdaten als Hinweise auf psychisches Dasein nicht bezweifelt wird und als vollkommen sicher gelten darf, so schwindet diese Sicherheit, sobald man versucht, ihre intersubjektive und objektive Gültigkeit zu erweisen. 10 Mir scheint, dass Cavell an manchen Stellen dieser Schlussfolgerung zustimmt und sich damit den Einfühlungstheorien annähert, beispielsweise dann, wenn er sagt, dass der skeptische Zweifel auftritt, sobald man sich in »die philosophische Studierstube« begibt, aber keinen Ort »in der Gesellschaft« hat. 11 Wie aber können wir auf den skeptischen Zweifel in der »philosophischen Studierstube« reagieren? Der Verweis auf die Selbstverständlichkeit, mit der wir in unserem Alltag von der Existenz anderer lebender und denkender Subjekte ausgehen, ist in sich selbst keine Antwort auf den skeptischen Zweifel. Aber er zeigt auf, dass Analogieschluss- und Einfühlungslehren »phänomenologische Schwächen« 12 haben. Diese bestehen darin, dass die skeptische Position, zu der diese Lehren führen, im Widerstreit zu unseren alltäglichen Erfahrungen steht. Wollen wir diesen Widerspruch und das Ergebnis, dass die Theorie den »phänomenologischen Befund […] statt [ihn] […] zu bestätigen oder zu begründen, […] fast Theodor Lipps, Schriften zur Einfühlung. Hrsg. von Faustino Fabbianelli (Baden-Baden: Ergon Verlag, 2018), S. 247. 9 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 94. 10 Vgl. zu Cassirers Kritik an der Einfühlungstheorie ebd. 11 Stanley Cavell, Der Anspruch der Vernunft: Wittgenstein, Skeptizismus, Moral und Tragödie (Berlin: Suhrkamp 2016), S. 711. 12 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 96. 8

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durchgängig verleugnet« 13, nicht einfach akzeptieren, so können wir dies als Aufforderung verstehen, die Voraussetzungen, von denen Analogieschlussund Einfühlungslehren ausgehen, zu hinterfragen. So formuliert es auch Anita Avramides: »The intuition that the mind lies hidden inside our bodies is a very strong one. But this intuition leads to a problem about the mind of another. I think there is another intuition about the mind that also has a claim to being strong. This second intuition is that by looking at the way another’s body moves, the way her face is arranged – in other words, by observing the other’s overall bodily attitude – I can know that she is thinking and feeling and, within limits, I can know what she is thinking and feeling.« 14

Die Besinnung auf die Selbstverständlichkeit des Wissens um Andere in unserem alltäglichen Leben führt Avramides hier zu der Feststellung, dass es möglicherweise falsch ist zu behaupten, dass Bewusstseinszustände nicht direkt wahrnehmbar sind. Wenn dies falsch ist, dann beruhen Analogieschlussund Einfühlungslehren auf einer falschen Prämisse. Sebastian Rödl meint, dass es sich so verhält: »Im grundlegenden Fall erfasse ich die sinnliche Wirklichkeit des Denkens anderer – absichtliches Handeln oder Sprechakte –, ohne mich auf die Beobachtung von etwas zu stützen, das ich nicht schon als Denken verstehe.« 15

Hier ist also die Prämisse, die zu dem erkenntnistheoretischen Problem führte, zurückgewiesen. Die Annahme, dass der Andere nur vermittels der Erkenntnis der physischen Wirklichkeit erkannt wird, wird abgelehnt. Die Zurückweisung sowohl der Analogieschlusslehre als auch der Einfühlungslehre besteht also darin, dass ihre gemeinsame Grundannahme zurückgewiesen wird. Wir müssen nicht von einem Wissen um »Physisches« auf ein Wissen um »Psychisches« schließen. In diesem Sinne weist Cassirer Analogieschluss- und Einfühlungslehren zurück, weil sie von falschen Annahmen über die Fähigkeit der Wahrnehmung ausgehen. Wahrnehmung, so argumentiert Cassirer, ist immer eins und doppelt. Sie ist »symbolisch«. 16 Damit ist sie von der Affektion unterschieden und immer mehr als das, was der Sensualist unter einem Sinneseindruck versteht. Wir nehmen im und kraft des Physischen unmittelbar ein Psychisches wahr. Dies nennt Cassirer auch »Ausdrucksverstehen«. Er schreibt: 13 14 15 16

Ebd., S. 89. Avramides, »Other Minds?«, S. 67. Sebastian Rödl, Selbstbewusstsein (Berlin: Suhrkamp 2011), S. 234. Vgl. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 220.

Menschliche Sozialität

»Die erste Form, in der ein empfindendes und fühlendes Subjekt eine Umwelt ›hat‹, besteht darin, daß es diese Welt als eine Mannigfaltigkeit von ›Ausdruckserlebnissen‹ besitzt. Lange bevor die Umwelt dem Subjekt als ein Komplex von ›Dingen‹ mit objektiven Merkmalen, mit festen Qualitäten und Eigenschaften, gegeben ist, hat sie sich in dieser Weise gegliedert. Was immer wir ›Existenz‹ oder ›Wirklichkeit‹ nennen, das gibt sich uns zunächst nicht anders als in reinen Ausdrucksbestimmtheiten zu eigen. Schon hier also sind wir über jene Abstraktion der ›bloßen‹ Empfindung, von der der dogmatische Sensualismus auszugehen pflegt, hinaus. Denn der Inhalt, den das Subjekt als ihm selbst ›gegenüberstehend‹ erlebt, ist keinesweg ein bloß äußerlicher in der Art, daß er, mit Spinoza zu sprechen, einem ›stummen Bild auf einer Tafel‹ gleicht. Er ist gleichsam transparent, er gibt uns unmittelbar in seinem Dasein und in seinem Sosein Kunde von einem innern Leben, das durch ihn hindurchscheint.« 17

Das »innere Leben« Anderer, das heißt Bewusstseinszustände, sind, so sagt Cassirer hier, direkt wahrnehmbar. Es muss nicht auf sie geschlossen werden, denn die »bloße Empfindung« ist eine Abstraktion. Wahrnehmung bedeutet für Cassirer primär und ursprünglich, Leben zu erfassen. Wenn wir dieser ihren ursprünglichen Symbolcharakter absprechen wollten, so würde dies bedeuten, dass wir unseren Zugang zur Wirklichkeit verschließen würden. Die erste Wirklichkeit, die wir erfassen, ist die Wirklichkeit des Lebens. Die Frage lautet für Cassirer nicht: Wie wird aus der Wahrnehmung der unbelebten Materie die Wahrnehmung des Lebens? In Anlehnung an Cassirers Formulierung des Raumproblems können wir die Problemstellung des Fremdpsychischen, wie es sich uns stattdessen nun darstellt, so formulieren: Nicht wie ein zuvor schlechthin Unpsychisches die Qualität des Psychischen erlangt, lässt sich aufzeigen – wohl aber kann und muss gefragt werden, auf welchem Wege und kraft welcher Vermittlungen die bloße Wahrnehmung des Lebens in das Bewusstsein eines »Ich« und eines »Du« übergeht. 18

3.2 Menschliche Sozialität

Der Mensch ist nicht das einzige Lebewesen, das in sozialen Gemeinschaften lebt und mit seinen Artgenossen in vielfältigen Beziehungen steht. Viele Tierarten können wir in einem gewissen Sinn als »soziale Lebewesen« bezeichnen, denn viele Tierspezies leben in sozialen Verbänden. Wer in sozialen Verbänden lebt, zeigt sich seinen Artgenossen gegenüber von Zeit zu Zeit ko-

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Ebd., S. 520 f. Vgl. oben, S. 85.

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operativ. Viele Tiere suchen beispielsweise gemeinsam Futter, verteidigen sich gemeinsam gegen Raubfeinde und bilden spezielle Beziehungen wie Koalitionen und Allianzen. 19 Das alles wäre nicht möglich, würden Tiere die Wirklichkeit lediglich als ein Ganzes von physischen Körpern erfassen. Die ursprüngliche Weise, in der Wirkliches erscheint, – so argumentiert Cassirer – ist nicht die Wirklichkeit physischer Körper, sondern die Wirklichkeit von »Ausdruckscharakteren«, also das Erfassen einer unmittelbaren Bedeutung des Gegebenen. 20 Auch der Mensch lebt in sozialen Gemeinschaften. Wir können die menschliche Sozialität aber nicht mit der Sozialität der Tiere gleichsetzen. Das gemeinsame Handeln des Menschen ist beispielsweise von dem gemeinsamen Handeln der Honigbiene bei der Anlage ihrer Zellen oder ihrem gemeinschaftlichen Abwehrverhalten zu unterscheiden. Worin besteht dieser Unterschied? Die Sozialität des Menschen ist gegenüber der Sozialität der anderen Tiere dadurch charakterisiert, dass sie eine Veränderung der motivationalen Grundstruktur des Menschen bezeichnet. Der Mensch als soziales Wesen ist dadurch ausgezeichnet, dass er andere Motive kennt, zu handeln, als Tiere sie haben. Hier sind ein paar Beispiele: Menschen sind im Gegensatz zu Tieren in der Lage, gemeinsame Ziele zu bilden. Beispielsweise können Menschen gemeinsam spazieren gehen, Fußball spielen oder gemeinsam ein Haus streichen. Solche gemeinsamen Aktivitäten gehen mit bestimmten Verpflichtungen einher. Wenn wir gemeinsam spazieren gehen, kann ich nicht einfach weggehen, ohne mich abzumelden, denn unser gemeinsames Ziel verpflichtet mich bis auf Weiteres, mein Handeln daran zu orientieren. 21 Darüber hinaus verpflichtet mich unser gemeinsames Ziel, dich ggf. bei der Erreichung dieses Ziels zu unterstützen. Wenn du Schwierigkeiten hast, deinen Teil zu unserem Ziel beizutragen, werde ich dir helfen. Mehr noch: Wenn wir gemeinsam etwas tun, ich aber schneller dabei bin, meinen Teil zu erledigen, werde ich dir helfen, deinen Teil zu Ende zu führen. 22 Natürlich wird es in all diesen Fällen Ausnahmen von der Regel geben. Darauf kommt es an dieser Stelle nicht an. Worauf es ankommt, ist, dass Menschen prinzipiell in der Lage sind, das Gefühl zu haben, etwas gemeinsam zu tun und die damit verbundenen Erwartungen, Rechte und Pflichten zu erkennen. Dies ist etwas, was anscheinend nur beim Menschen vorkommt. 23 Die Bildung gemeinsamer 19 20 21 22 23

Michael Tomasello, Warum wir kooperieren (Berlin: Suhrkamp 2016), S. 55. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 71 f. Vgl. Tomasello, Warum wir kooperieren, S. 53 f. Vgl. ebd., S. 58. Vgl. ebd., S. 54.

Menschliche Sozialität

Ziele bedeutet also die Bildung spezifischer Handlungsmotive. Das Motiv zu handeln ist nicht mehr nur, dieses oder jenes zu tun oder zu erreichen, sondern es gemeinsam zu tun. Wenn wir etwas gemeinsam tun, setzt dies die Koordination unserer jeweiligen Rollen voraus. Wenn wir zusammen spazieren gehen, geht der eine links und der andere rechts und wir passen unsere Geschwindigkeit aneinander an. Wenn wir Fußball spielen, steht einer im Tor und der andere auf dem Platz. Wenn wir zusammen ein Haus streichen, streicht einer Wand A und einer Wand B. Unsere jeweiligen Rollen sind komplementär. Diese Rollen sind in gemeinsamen Handlungen nicht an bestimmte Individuen gebunden, sie sind »akteur-neutral«24. Die Handelnden wissen, dass sie prinzipiell ihre Rollen tauschen können. Sie sind damit in der Lage, die gemeinsame Handlung aus einer Vogelperspektive heraus zu betrachten. Die Tatsache, dass eine gemeinsame Handlung aus komplementären Rollen besteht, bedeutet, dass die jeweiligen Handlungen der Interaktionspartner auf spezifische Weise miteinander verzahnt sind. Diese Verzahnung zu beschreiben bedeutet wiederum, auf die spezifische motivationale Grundstruktur des Menschen Bezug zu nehmen. Denn die Verzahnung der komplementären Rollen wird dadurch möglich, dass das Verhalten des einen Interaktionspartners ein Motiv für den anderen Interaktionspartner ist, etwas zu tun. Im gemeinsamen Handeln wissen die Handelnden, dass ihr je eigenes Verhalten Motiv für den anderen ist, etwas zu tun. Und nur weil ich antizipiere, dass mein Verhalten Motiv für dich ist, etwas zu tun, kann ich versuchen, so auf dich einzuwirken, dass du dein Verhalten an meinem orientierst. Deine Bereitschaft, mein Verhalten als Grund für ein Verhalten deinerseits anzunehmen, geht als Erwartung in mein Verhalten ein. Wir können in Anschluss an Alfred Schütz auch sagen, dass ein gemeinsames Handeln ein »intersubjektiver Motivationszusammenhang« 25 ist. Diese spezifische Form der Sozialität und des gemeinsamen Handelns, die den Menschen auszeichnet, können wir auch so charakterisieren, dass wir sagen, dass Menschen sich gegenseitig als ein »Ich« und als ein »Du« auffassen. Den anderen als ein »Du« aufzufassen impliziert, mit ihm auf eine Weise zu interagieren, die der zuvor beschriebenen entspricht. Wenn wir das gemeinsame Handeln von Menschen beschreiben, so ist dies darin von einer Beschreibung gemeinsamen Handelns im Tierreich unterschieden, dass in dieser Beschreibung die Begriffe »Ich« und »Du« vorkommen. Gleichzeitig ist es so,

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Ebd., S. S. 60. Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, S. S. 309.

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dass wir nicht von einem »Ich« und einem »Du« sprechen können, ohne das vorauszusetzen, was »gemeinsames Handeln« im menschlichen Sinn ist. Es ist für Cassirer eine spezifische Form der Interaktion, die das Wissen um das »Ich« und um das »Du« konstituiert, eine Form der Interaktion, die also sowohl dem »Ich« als auch dem »Du« in gewissem Sinne vorgängig ist. Die aktive Beziehung zwischen Menschen ist Ausdruck dafür, dass das »Ich« vom »Du« weiß. Subjekte, so meint Cassirer »finden und vereinigen sich […] in einem gemeinsamen Tun. Indem sie dieses Tun miteinander vollziehen, erkennen sie einander und wissen sie voneinander […].« 26

Cassirer formuliert hier die These, dass Menschen kraft ihres gemeinsamen Tuns voneinander wissen. Es ist nicht so, dass wir zuerst voneinander wissen und dann gemeinsam handeln, sondern kraft unseres gemeinsamen Handelns wissen wir voneinander. Wir können dies auch so ausdrücken: Gemeinsamens Handeln ist im grundlegenden Fall kein Handeln, das von einzelnen Individuen intendiert wird. Cassirers Auffassung können wir dementsprechend als eine anti-reduktionistische Auffassung bezeichnen. Er geht davon aus, dass das gemeinsame Handeln nicht auf die Intentionen der beteiligten Akteure reduziert werden kann. Diese Auffassung widerspricht einer Grundannahme, die viele zeitgenössische Ansätze, das Phänomen des gemeinsamen Handelns zu erläutern, teilen: der Grundannahme, dass es eine Sache sei, jemanden als »mir gleich«, also als ein »Du«, zu erkennen, und dass es eine andere Sache sei, gemeinsam zu handeln. Die Annahme, dass wir in der Beschreibung der Struktur gemeinsamer Handlungen von der Frage absehen dürfen, was es bedeutet, jemanden anderen als »mir gleich« aufzufassen, wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Diese Annahme führt aber entweder dazu, dass sich die Erläuterung gemeinsamen Handelns in einem Zirkel bewegt, nämlich so, dass überall dort, wo von einem »Du« gesprochen wird, schon das vorausgesetzt wird, was erst gezeigt werden soll, nämlich »gemeinsames Handeln«. Oder aber gemeinsames Handeln wird gar nicht erläutert, indem der Unterschied zwischen dem gemeinschaftlichen Tun im Tierreich und den gemeinsamen Handlungen des Menschen nicht erfasst wird. Die Struktur gemeinsamer Handlungen kann nicht erläutert werden, wenn wir uns nicht fragen, wie es möglich ist, jemand anderen als ein »Du« aufzufassen. Wir können uns diese Schwierigkeiten anhand der Auffassung Michael Bratmans verdeutlichen. Bratman beschreibt das gemeinsame Handeln, das

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Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Dritte Studie«, S. 433.

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den Menschen strukturell auszeichnet, als »geteiltes kooperatives Handeln«. 27 Beispiele, die Bratman für geteiltes kooperatives Handeln nennt, sind: zusammen ein Duett singen, zusammen ein Haus streichen, zusammen einen Ausflug machen, zusammen etwas bauen, zusammen einen Doppelpass spielen. 28 Bratman schlägt vor, geteiltes kooperatives Handeln als ein Ineinandergreifen individueller Absichten aufzufassen. Sein Ansatz ist damit ein reduktiver Ansatz. Er möchte die Möglichkeit gemeinsamer Handlungen auf individuelle Handlungen zurückführen. Hier ist die Struktur geteilten kooperativen Handelns, die Bratman nennt: 29 (1a) (1b) (2) (3a)

Ich beabsichtige, dass wir streichen Du beabsichtigst, dass wir streichen Du kennst meine Absicht, und ich kenne deine Das Fortbestehen von (1a) hängt von meinem fortwährenden Wissen von (1b) ab: Wenn ich nicht wüsste, dass (1b), würde ich nicht beabsichtigen, dass wir streichen; (3b) Das Fortbestehen von (1b) hängt von deinem fortwährenden Wissen von (1a) ab: Wenn du nicht wüsstest, dass (1a), würdest du nicht beabsichtigen, dass wir streichen. (4) Wir werden genau dann streichen, wenn (1a) und (1b) (5) (1) bis (4) ist gemeinsames Wissen unter uns. In dieser Struktur geteilten kooperativen Handelns, die Bratman vorschlägt, treten Begriffe wie »Ich«, »Du« und »Wir« auf. Bratman setzt also voraus, dass die Akteure, die in ein gemeinsames Handeln eintreten, sich schon zuvor jeweils als »ihresgleichen« begreifen. Die Frage ist: Dürfen wir, wenn wir geteiltes kooperatives Handeln auf individuelle Intentionen zurückführen wollen, voraussetzen, dass die Akteure sich gegenseitig als »ihresgleichen« begreifen, oder setzen wir damit nicht vielmehr schon voraus, was wir erst zeigen wollen? Bratman selbst meint, dass die Intention (1a) hinsichtlich der Kooperation der Handlung neutral sein soll. 30 Was versteht Bratman unter Handeln, das kooperativ neutral ist? Es sind Handlungen, die sowohl kooperativ als auch nicht kooperativ sein können. »Streichen« ist eine kooperativ neutrale HandMichael E. Bratman, »Geteiltes kooperatives Handeln«, in: Hans B. Schmid; David P. Schweikard (Hrsg.), Kollektive Intentionalität: Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009), S. 176–193, hier: S. 176. 28 Bratman, »Geteiltes kooperatives Handeln«, S. 176. 29 Vgl. Michael E. Bratman, »Ich beabsichtige, dass wir G-en«, in: Schmid; Schweikard (Hrsg.), Kollektive Intentionalität: Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen, S. 345. 30 Bratman, »Geteiltes kooperatives Handeln«, S. 179. 27

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lung, weil wir sowohl gemeinsam als auch einzeln streichen können. Ein anderes Beispiel für eine kooperativ neutrale Handlung ist eine gemeinsame Reise nach New York. Eine solche Reise kann sowohl kooperativ sein, wenn wir nämlich beide gemeinsam nach New York fahren wollen, sie kann aber auch nicht kooperativ sein, wenn beispielsweise einer den anderen entführt. 31 Von kooperativ neutralem Handeln grenzt Bratman »kooperativ beladene Typen gemeinsamen Handelns« ab. Dies ist Handeln, das die »Vorstellung der Kooperation« bereits in sich schließt. Ein Beispiel dafür ist nach Bratman »der Versuch, gemeinsam ein Problem zu lösen«. 32 Die Intention (1a) soll nun eine kooperativ neutrale Handlung intendieren. Der Grund dafür ist, dass Bratman die Struktur gemeinsamen kooperativen Handelns erläutern möchte und dieses Handeln damit nicht schon in dem voraussetzen darf, aus dem er es ableiten möchte. Wenn wir beispielsweise versuchen, den Blickkontakt zwischen zwei Menschen auf die Intentionen einzelner Menschen zurückzuführen, dann könnten wir versuchen zu sagen, dass diese Intention darin besteht, dass »wir uns in die Augen sehen«. In dieser Intention ist aber die Vorstellung der Kooperation bereits enthalten. Diese wird also nicht aus den Intentionen der einzelnen Akteure abgleitet, sondern schon in ihnen vorausgesetzt. Bratman schlussfolgert daraus: »Unsere Analyse von GKH [geteiltes kooperatives Handeln] sollte sich auf Absichten zugunsten gemeinsamen Handelns beziehen, das als kooperativ neutral charakterisiert ist.« 33 Intention (1a) intendiert also eine kooperativ neutrale Handlung. Dies bedeutet, dass meine Absicht, mit dir zu streichen, unabhängig von deiner Absicht ist, mit mir zu streichen. In anderen Worten: Meine Absicht (1a) hängt nicht von deiner Absicht (1b) ab. Eine solche Intention kann sich dementsprechend nicht nur auf gemeinsames Handeln mit Menschen, sondern auch auf gemeinsames Handeln mit Tieren, Pflanzen oder unbelebten Objekten richten. 34 Wenn beispielsweise die Intention, eine gemeinsame Reise nach New York zu unternehmen, hinsichtlich der Kooperation dieser Handlung neutral sein soll, dann handelt es sich um dieselbe Art von Intention, unabhängig davon, ob ich diese Reise mit dir unternehmen will, mit meinem Hund oder mit meinem Plüschteddy. Und auch wenn ich diese Reise mit dir unternehmen will, dann ist es nicht Teil meiner Intention, dass du dich kooperativ zeigst. Ob Vgl. ebd., S. 179 ff. Ebd. 33 Ebd. 34 Darauf hat Sebastian Rödl in einem Vortrag hingewiesen. Sebastian Rödl, »Intentional Transaction: Joint Attention and Recursive Consciousness of Consciousness« (Leipzig, 19. 10. 2013). 31 32

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ich dich zwingen muss oder nicht, ist – anders formuliert – für die Intention einer kooperativ neutralen Handlung irrelevant. Damit hat aber auch das Wort »wir« in der Intention (1a) eine spezifische Bedeutung. Mit »wir« ist hier gemeint: Ich habe die Absicht zu streichen und du hast die Absicht zu streichen. Dass du die Absicht hast zu streichen, weiß ich nicht, indem ich selbst die Absicht habe, zu streichen, sondern indem ich auf dich schaue. Ich kann dann zusammenfassend sagen, dass »wir« die Absicht haben zu streichen. Matthias Haase bezeichnet einen solchen Gebrauch von »wir« als »distributiv«. 35 Er sagt, dass in Absichten, die ein »distributives Wir« enthalten, die Bezugnahme auf jemanden enthalten ist, nicht aber die Absicht, zusammen zu handeln. Das stimmt mit Bratmans Anforderungen an (1a) überein: Wenn (1a) eine kooperativ neutrale Handlung bezeichnen soll, dann muss das »wir«, das in (1a) vorkommt, distributiv sein. Absichten, die ein distributives »Wir« enthalten, richten sich an jemanden. Wir können hinzufügen: oder an etwas. Denn ein distributives Wir ist vergleichbar mit einer Und-Relation, die – wie Cassirer in Anlehnung an Russell sagt – »ebensowohl einen Teelöffel mit der Zahl 3 wie eine Chimäre und einen vierdimensionalen Raum miteinander verbinden kann«. 36 Ob die Gemeinsamkeit, eine Reise nach New York zu unternehmen, zwischen mir und dir, zwischen mir und meinem Hund oder mir und meinem Plüschteddy besteht, ist – in anderen Worten – für (1a) irrelevant. Um den distributiven Charakter des »wir« in (1a) herauszustellen, sollten wir (1a) besser folgendermaßen formulieren: (1a)* Ich beabsichtige, dass ich und es streichen. Für (1b) gilt dasselbe wie für (1a). Auch der andere intendiert die gemeinsame Handlung zunächst unabhängig davon, ob ich die gleiche Absicht zeige. Das heißt, es ist für den anderen irrelevant, ob ich ein Mensch, ein Tier oder ein unbelebtes Objekt bin. Der Gebrauch des Wortes »Du« in (1b) verschleiert aber genauso wie der des Wortes »Wir« in (1a) und (1b) die Bedingung, dass die intendierte Handlung kooperativ neutral sein soll. Eine Formulierung, die dies verdeutlicht, könnte sein: (1b)* Es beabsichtigt, dass ich und es streichen. Die zweite Bedingung (2) bedeutet dementsprechend, dass ich weiß, dass du mit mir beispielsweise nach New York fahren möchtest, in deiner Intention aber nichts davon vorkommt, dass es sich hierbei um ein gemeinsames Tun handelt. In deiner Intention, so ist mir klar, behandelst du mich auf dieselbe Vgl. zu diesem Begriff Matthias Haase, »Drei Formen der Ersten Person Plural«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55, Nr. 2 (2007), S. 225–243, hier: S. 234. 36 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 336. 35

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Art und Weise, wie du auch deinen Hund oder deinen Plüschteddy behandeln würdest. Möglicherweise gibt es Fälle, in denen ein Subjekt X eine Intention (1a) hat, die das Subjekt Y betrifft, und Y – wie in (2) gefordert – davon weiß. Ich bezweifle, dass Y unter diesen Umständen normalerweise bereit ist, mit nach New York zu fahren. Um es etwas salopp zu formulieren: Wahrscheinlich würde Y vorschlagen, dass X doch lieber mit seinem Hund nach New York fahren solle. Bedeutet das, dass unter den von Bratman genannten Bedingungen gar keine gemeinsame Handlung zustande kommen kann? Nein, das bedeutet es nicht. Dann nämlich, wenn Y selbst ein starkes persönliches Ziel entwickelt, nach New York zu fahren, und dies bestenfalls nur mit X möglich ist, kann es zu einer gemeinsamen Handlung kommen. Eine solche gemeinsame Handlung ist aber keine geteilte kooperative Handlung, wie Bratman sie erklärtermaßen erfassen möchte. Denn in geteilten kooperativen Handlungen haben zwei Akteure dasselbe Ziel, während in dem Handlungstyp, auf den Bratmans Analyse hinausläuft, zwei Akteure das gleiche Ziel haben. In anderen Worten: Geteilten kooperativen Handlungen liegt eine Absicht zugrunde, bei dem anderen Handlungstyp liegen aber mindestens zwei Absichten vor. Wir können uns diesen Unterschied anhand der Kooperation von Schimpansen verdeutlichen. 37 Es kommt vor, dass Schimpansen sich zusammenschließen, um kleine Affen zu jagen. 38 Schimpansen können nur zusammen einen Affen fangen, alleine gelingt es ihnen nicht. In seiner Absicht, einen Affen zu fangen, ist ein Schimpanse also auch auf andere Schimpansen angewiesen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass jeder Schimpanse den Affen für sich fangen möchte. Jeder Schimpanse hat die persönliche Absicht, den Affen zu fangen. Das bedeutet, dass in dem Zusammenschluss von Schimpansen die Absicht, den Affen zu fangen, in der Mehrzahl vorhanden ist. Wenn vier Schimpansen mitmachen, gibt es viermal die Absicht, den Affen zu fangen. Vgl. dazu Tomasello, Warum wir kooperieren, S. 56 f.; ders., Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2011), S. 187 ff.; vgl. für eine kritische Diskussion Matthias Wunsch, »Was macht menschliches Denken einzigartig? Zum Forschungsprogramm Michael Tomasellos«, in: Gerald Hartung; Matthias Herrgen (Hrsg.), Interdisziplinäre Anthropologie: Jahrbuch 3/2015 (Wiesbaden: Springer 2016), S. 259–288, hier: S. 273 ff. 38 Es gibt auch andere Tiere, wie Löwen oder Wölfe, die zusammen jagen. Der Unterschied zu der gemeinsamen Jagd unter Schimpansen besteht darin, dass Schimpansen für ihr individuelles Überleben nicht auf die gemeinsame Jagd angewiesen sind. Sie können sich auch selbstständig ernähren, beispielsweise durch Beeren und Früchte. Zudem reicht die Beute des Löwen- oder Wolfrudels für mehrere Individuen, während die Beute der Schimpansen nicht für alle reicht. 37

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Die Gruppenjagd der Schimpansen ist keine geteilte kooperative Handlung. Sie hat eher Ähnlichkeit mit den sich bekämpfenden Soldaten, ein Beispiel, das Bratman bespricht. 39 Soldaten, die sich bekämpfen, verfolgen jeweils ein persönliches Ziel (»zu überleben«). In der Verfolgung dieses Ziels gehen sie auf die Absichten und Handlungen des anderen ein. »Gegenseitiges Aufeinandereingehen im Verfolgen persönlicher Ziele kann also ohne Festlegung auf gemeinsames Handeln und ohne Festlegung auf gegenseitige Unterstützung bestehen.« 40 Michael Tomasello drückt diesen Unterschied so aus: Die gemeinsamen Handlungen der Menschen finden im »Wir-Modus« statt, im Gegensatz zu dem gemeinschaftlichen Tun der Tiere – wie beispielsweise der Jagd der Schimpansen –, das im »Ich-Modus« stattfindet. Der zentrale Unterschied zwischen gemeinschaftlichem Tun im Ich-Modus und gemeinsamen Handlungen im Wir-Modus, so können wir zusammenfassend sagen, besteht in einer Änderung der motivationalen Grundstruktur. Der Vergleich zwischen Menschen und den großen Menschenaffen, durch den Michael Tomasellos Arbeit charakterisiert ist, macht diesen Unterschied deutlich. Beispielsweise implizieren Handlungen im Wir-Modus Verbindlichkeit. Schimpansen fordern sich nicht gegenseitig auf, an der gemeinsamen Handlung weiter teilzunehmen. Im Gegensatz dazu reagieren Menschen verärgert, wenn ein anderer die gemeinsame Handlung ohne Erklärung abbricht. 41 Wenn zwei Menschen zum Beispiel gemeinsam spazieren gehen, kann nicht einer ohne weiteres plötzlich stehenbleiben oder abbiegen, ohne den anderen über seine Absicht zu informieren. 42 Darüber hinaus ist für Menschen das »Gemeinsame« an der gemeinsamen Handlung nicht nur Mittel zum Zweck. Sie beteiligen sich, im Gegensatz zu Schimpansen, beispielsweise an gemeinsamen Spielen, die keinen instrumentellen Zweck verfolgen. 43 Für Schimpansen ist eine Handlung zudem vollbracht, wenn sie ihr individuelles Ziel erreicht haben. Der Schimpanse, der den Affen schließlich fängt, versucht, sich mit der Beute aus dem Staub zu machen. Kinder helfen einander, bis das gemeinsame Ziel für jeden Teilnehmer erreicht ist. Es wäre dementsprechend eine verkürzte Auffassung, die Sozialität des Menschen nur dort zu suchen, wo Menschen gemeinsam ein Haus streichen, Bratman, »Geteiltes kooperatives Handeln«, S. 178. Ebd., S. 178. 41 Vgl. auch Tomasello, Warum wir kooperieren, S. 53. 42 Vgl. zu diesem Beispiel Margaret Gilbert, »Zusammen spazieren gehen: Ein paradigmatisches soziales Phänomen«, in: Schmid; Schweikard (Hrsg.), Kollektive Intentionalität: Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen, S. 154–175. 43 Tomasello, Warum wir kooperieren, S. 57. 39 40

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ein Duett singen oder gemeinsam spazieren gehen. Tomasello betont, dass das Auftreten des »Wir-Modus« – oder in anderen Worten: das Auftreten von kollektiver Intentionalität – eine Restrukturierung, Transformation und Sozialisation aller Prozesse impliziert, die an individueller Intentionalität beteiligt sind. 44 Der »Wir-Modus« ist also nicht nur auf die Fälle beschränkt, in denen wir explizit eine gemeinsame Tätigkeit durchführen, er führt zu einer Transformation der individuellen Intentionalität des Menschen. Ein Mensch, der zu gemeinsamem Handeln in der Lage ist, verfügt damit nicht nur über eine zusätzliche Fähigkeit, sondern diese Fähigkeit impliziert eine Veränderung seiner gesamten motivationalen Grundstruktur. Bratman würde meines Erachtens zustimmen, dass die gemeinsame Gruppenjagd der Schimpansen kein Beispiel für eine gemeinsame kooperative Handlung ist, denn die genannten Unterschiede zwischen der Gruppenjagd von Schimpansen und gemeinsamen Handlungen unter Menschen entsprechen in etwa seinen Kriterien gemeinsamer kooperativer Handlungen. 45 Sein Vorschlag dazu, wie gemeinsame kooperative Handlungen zu analysieren sind, läuft aber letztendlich genau auf diese Handlungsform hinaus. Das Problem ist, dass es nicht ersichtlich ist, wie aus koordinierten individualistischen Absichten eine gemeinsame Absicht entstehen soll. Was ist das Ergebnis unserer Auseinandersetzung mit Bratman? Wir können nun genauer bestimmen, worin sich die Sozialität des Menschen von der des Tieres unterscheidet. Menschen sind im Gegensatz zum Tier dazu in der Lage, eine gemeinsame Absicht zu bilden. Eine solche gemeinsame Absicht ist nicht auf individuelle Absichten reduzierbar. Sie ist nicht erfassbar als ein wechselseitiges Wissen über individuelle Absichten. Das heißt: Menschen tun nicht nur Dinge in Bezug auf andere, sie tun bestimmte Dinge mit anderen zusammen. 46 Sie bilden eine gemeinsame Absicht, die nicht die Summe mehrerer individueller Absichten ist. Dies ist ein Gedanke, der schwer zu verstehen ist. Matthias Haase formuliert diesen Gedanken so: Mein Urteil, dass wir etwas gemeinsam tun, muss dein Urteil, dass wir dies gemeinsam tun, schon enthalten. Mein Urteil hängt in seiner Konstitution davon ab, dass du dasselbe denkst. 47 Dies ist rätselhaft, solange wir an der Prämisse festhalten, dass »Ich« und »Du« zwei ursprünglich selbst- und eigenständige Einheiten sind. Die Überlegung verliert an Rätselhaftigkeit, wenn wir diese Prämisse fallen lassen. Das Wissen um das »Du« geht einer gemeinsamen Absicht nicht voraus. Ein »Du« 44 45 46 47

Tomasello, A natural history of human thinking, S. 132. Vgl. Bratman, »Geteiltes kooperatives Handeln«, S. 177. Vgl. zu dieser Formulierung: Haase, »Drei Formen der Ersten Person Plural«, S. 237. Ebd., S. 237.

Menschliche Sozialität

ist derjenige, mit dem ein »Ich« in einer gemeinsamen Absicht zusammengeschlossen ist. Das gemeinsame Handeln, das Wissen um das »Ich« und das Wissen um das »Du« sind drei Aspekte eines Vorgangs, der nicht in ein »Früher« oder »Später« aufgeteilt werden kann. »Ich« und »Du«, so sagten wir zuvor, sind in einer gemeinsamen Absicht zusammengeschlossen. Wir haben bereits gesehen, dass eine gemeinsame Absicht nicht die Summe von individuellen Absichten ist. Das bedeutet, dass wir die Gemeinsamkeit, die »Ich« und »Du« verbindet, auf spezifische Weise verstehen müssen. 48 Wenn wir nach der Gemeinsamkeit zwischen verschiedenen Objekten in der Welt fragen, dann fragen wir nach einer Eigenschaft, die bei diesem und bei jenem Objekt vorkommt. Wenn wir beide schnell rennen können oder braune Augen haben, dann sind diese Eigenschaften bei dir und bei mir aufweisbar. Die Voraussetzung dafür, dass wir diese Gemeinsamkeit zwischen uns erkennen können, ist, dass wir uns selbst vergleichend in den Blick nehmen. Die Gemeinsamkeit, die entsteht, wenn sich zwei Subjekte in einer gemeinsamen Absicht vereinen, ist davon unterschieden. Die gemeinsame Absicht ist nicht bei dir und bei mir vorhanden. Wir erfassen sie nicht, indem wir erst auf mich und dann auf dich schauen, sondern indem wir sie haben. Während es sich im Falle der braunen Augen oder Ähnlichem um »Verwandtschaft, Ähnlichkeit, günstigenfalls Gleichheit« handelt, so ist die Gemeinsamkeit im gemeinsamen Handeln vielmehr – so betont Litt – »Selbigkeit, […] Identität«: »Es ist fürwahr ein gewaltiger Unterschied, ob ich eine Vielheit von Menschen, indem ich sie als Objekte mir gegenüberstelle, miteinander durch die ›Gemeinsamkeit‹ desselben Organs (etwa des Großhirns) verbunden weiß, oder ob ich dieselbe Vielheit von Menschen, indem ich sie als Subjekte mit mir gleichstelle, mir durch die ›Gemeinsamkeit‹ desselben Denkgehalts (etwa des Wissens um die Gemeinsamkeit des Großhirns« verbunden weiß. Wo die Gemeinsamkeit der letzteren Art vorliegt, da kommen die Subjekte genau in dem Maße zur Deckung, wie sie in das ideell Gültige eindringen; sie ›identifizieren‹ sich im tätigen Erwerben des nämlichen Gehalts.« 49

Die Gemeinsamkeit, die Menschen zusammenschließt, die eine gemeinsame Absicht verfolgen, ist stärker als die, die wir haben, wenn wir dieselben Merkmale aufweisen. Die Gemeinsamkeit im gemeinsamen Handeln lässt uns identisch sein. Wir kommen »zur Deckung« wie Litt in diesem Zitat sagt. 50 Vgl. zur Ambiguität des Begriffs »Gemeinsamkeit« Litt, Denken und Sein, S. 19 ff. Ebd., S. 23. 50 Vgl. auch: »Sich im Identischen zu finden ist das unveräußerliche Vorrecht des Ich und des Du. Mit diesem Einswerden verglichen ist jedes sonstige Zusammenkommen äußerliche Berührung.« Ebd., S. 24. 48 49

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Sozialität

»Ich« und »Du« wissen im und kraft des gemeinsamen Handelns voneinander. »Ich« und »Du« wissen aber im gemeinsamen Handeln nicht nur, dass sie in bestimmter Hinsicht miteinander identisch sind, sondern auch, dass sie aufs äußerste unterschieden sind. Die Identität zwischen »Ich« und »Du«, die im gemeinsamen Handeln vorliegt, steht nicht im Widerspruch zu ihrer jeweiligen Individualität. Das »Ich« ist nicht ein »Ich«, obwohl es mit dem »Du« im gemeinsamen Handeln identisch ist, sondern weil es im gemeinsamen Handeln mit dem »Du« identisch ist.

3.3 Sprache und Sozialität

Im grundlegenden Fall wird gemeinsames Handeln von einzelnen Subjekten nicht intendiert. Es ist vielmehr Voraussetzung dafür, dass sich das »Ich« wie das »Du« konstituieren. Dieses Sich-Finden und Sich-Trennen von »Ich« und »Du« in der gemeinsamen Handlung hängt wesentlich mit der menschlichen Sprachfähigkeit zusammen. So wie wir sagten, dass ein intrinsischer Zusammenhang zwischen der Sprachfähigkeit und der Wahrnehmungsfähigkeit besteht, so können wir sagen, dass ein intrinsischer Zusammenhang zwischen der Sprache und der Art und Weise des Zusammenlebens besteht. Sprache ist eine Form der Sozialität. Einen Zusammenhang zwischen der Fähigkeit, gemeinsam zu handeln, und der Sprachfähigkeit des Menschen hat in jüngster Zeit Michael Tomasello in seinem »Kooperationsmodell« 51 der menschlichen Sprache postuliert und begründet. Tomasellos Auffassung eignet sich in besonderer Weise als Kontrastfolie zu Cassirers Theorie des Symbolischen. Denn einerseits sind sich Cassirers und Tomasellos Auffassungen hinreichend ähnlich. Dass ein Zusammenhang zwischen der Fähigkeit des Menschen zu gemeinsamen Handlungen und seiner Sprachfähigkeit besteht, wird von keinem der beiden Autoren bestritten. Der Unterschied zwischen den beiden Autoren besteht vielmehr darin, wie sie diesen Zusammenhang auffassen. Für Tomasello ist die Fähigkeit, gemeinsam zu handeln – oder in seinem Sprachgebrauch: die Fähigkeit zu »geteilter Intentionalität« 52 –, Voraussetzung für die Sprache. Tomasellos Programm, so meint auch Matthias Wunsch, ist »durch eine evolutionäre Perspektive charakterisiert, in der sich die menschliche Sprache selbst als vermittelt erweist«. 53 Hier ist ein Zitat: 51 52 53

Vgl. beispielsweise Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, S. 83 ff. Ebd., S. 83. Wunsch, »Was macht menschliches Denken einzigartig?«, S. 284.

Sprache und Sozialität

»Die finale Erklärung dafür, was Menschen dazu befähigt, miteinander […] zu kommunizieren, lautet, daß sie miteinander auf einzigartige Weise sozial interagieren.« 54

Tomasello geht davon aus, dass unsere einzigartige Weise, sozial zu interagieren, zunächst und ursprünglich erläutert werden kann, ohne auf die Sprachfähigkeit des Menschen Bezug nehmen zu müssen. Die Sprachfähigkeit ist das Resultat oder die Wirkung der spezifischen sozialen Interaktion des Menschen. Eine solche Vermittlung, jedenfalls wenn damit eine Reduzierbarkeit der Sprache auf kollektive Intentionalität gemeint ist, würde Cassirer bestreiten. 55 Cassirer ist der Auffassung, so meine Interpretation, dass das gemeinsame Handeln des Menschen und der Symbolgebrauch zwei Seiten einer Medaille sind. Menschen sind in der Lage, gemeinsam zu handeln insofern, als sie Symbole gebrauchen. Sie gebrauchen Symbole insofern, als sie gemeinsam handeln. Hier nach einem »Früher« oder »Später« zu fragen in dem Sinne, was zuerst da war: Sprache oder gemeinsames Handeln, macht keinen Sinn. Sprache – so können wir auch sagen – ist der Prototyp einer gemeinsamen Handlung. Meine Interpretation Cassirers deckt sich mit der von Theodor Litt. Litt schließt in seiner Darstellung des Zusammenhangs zwischen Sprache und der Sozialität des Menschen unmittelbar an Cassirer an. Hier ist ein Zitat, in dem er den Gedanken des inneren Zusammenhangs zwischen Sprache und Sozialität auf den Punkt bringt: »Wenn wir klar sehen wollen, wie die Sprache dem Sichfinden von Ich und Du und damit dem Sichselbstfinden des einen wie des anderen dient, dann sind Mißverständnisse abzuwehren, vollkommen analog denjenigen, die das interpersonale Verhältnis überhaupt verdunkeln. Auch hier heißt es der Versuchung widerstehen, der ein zu äußeren Analogien neigendes Denken so leicht unterliegt: der Versuchung, in dem einen sei es bloß die vorangehende Bedingung sei es bloß die hinterherkommende Wirkung des anderen zu sehen. Weder ist die Sprache »Voraussetzung« der Begegnung – als ob sie solche Wesen, die aus eigener Kraft Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, S. 83. Cassirer sagt notorisch wenig über die Sozialität des Menschen. Das Phänomen des »gemeinsamen Handelns« wird von Cassirer im Prinzip gar nicht thematisiert. Im Manuskript zum »Essay on Man« kommt ein Kapitel »Tradition and Originality« vor, in dem es um die soziale Natur des Menschen geht. Dieses Kapitel wurde in die veröffentliche Version nicht aufgenommen. In den fünf Studien »Zur Logik der Kulturwissenschaften« gibt es einige Hinweise auf die Sozialität des Menschen. Meine Interpretation Cassirers kann sich damit nicht auf eine eingehende Darlegung Cassirers zu seiner eigenen Auffassung der Sozialität des Menschen stützen. 54 55

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Sozialität

nicht zueinander gelangen können, als Mittlerin, wie durch hilfreichen Brückenschlag, in Verbindung brächte. Noch ist die Sprache »Werk«, »Wirkung« der Begegnung – als ob sie von solchen Wesen, die einander schon gefunden haben, zwecks gründlicherer Verständigung erst hervorgebracht würde. Und entsprechend für die Seiten des Verhältnisses! Weder ist die Sprache »Voraussetzung« der Ichfindung – als ob sie ein an sich selbst-loses Wesen wie durch zauberische Berührung zur Selbstheit erweckte. Noch ist die Sprache »Wirkung« oder »Folge« der Ichfindung – als ob das bereits zur Selbstheit erwachte Wesen sich in ihr das Werkzeug schüfe, den neuen Zustand nach außen kundzutun. Sondern: Finden des Du und Erwachen zum Ich, Vernehmen des Du und Aussprechen des Ich – alles dies sind nur in abstracto herauszulösende Momente eines Vorgangs, der keine Scheidung von Vorher und Nachher, Bedingung und Bedingtem, Mittel und Zweck kennt.« 56

Ich habe hier Litt ausführlicher zitiert, weil er an dieser Stelle die Auffassung des spezifischen Verhältnisses zwischen Sprache und Sozialität, die er in Anschluss an Cassirer vertritt, besonders prägnant formuliert. Die Sprache, so meint Litt, wird nicht von Menschen, die bereits zueinandergefunden haben, erfunden. Vielmehr ist Sprache eine Form der Sozialität. Die menschliche Sozialität ist – so können wir sagen – eine sprachliche Sozialität. Die Bedeutung der Sprache für das Zusammenleben der Menschen geht für Litt – und für Cassirer – weit darüber hinaus, ein bloßes Mittel der besseren Kommunikation und Verständigung zu sein. Die Sprache kommt nicht zu einer bestehenden Gesellschafts- oder Sozialstruktur hinzu, sondern ist vielmehr die Bedingung für die menschliche Sozialform. In diesem Sinn begreift auch Cassirer die grundlegende Funktion der Sprache nicht in erster Linie als ein »technisches Produkt […], das lediglich dem Bedürfnis der Mitteilung und gegenseitigen Verständigung dient […]« 57. Tomasellos Auffassung ist von dieser unterschieden insofern, als er die Sprache als »Resultat« oder »Wirkung« der menschlichen Fähigkeit zu kollektiver Intentionalität auffasst. Für Tomasello besteht die grundlegende Funktion der Sprache darin, ein Mittel der Verständigung zu sein. Wesentlicher Zweck der Sprache sei es, eine »Botschaft zu übermitteln«. 58 Man könnte nun meinen, dass Tomasellos Position – sofern sie haltbar ist – den höheren Erkenntnisgewinn mit sich bringt. Denn hier wird etwas aus etwas erklärt. Die Sprache wird auf die Fähigkeit zur kollektiven Intentionalität zurückgeführt. Die kollektive Intentionalität soll, um noch einmal Wunsch zu zitieTheodor Litt, Mensch und Welt: Grundlinien einer Philosophie des Geistes (Heidelberg: Quelle & Meyer 1961), S. 36. 57 Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 58. 58 Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, S. 94. 56

Sprache und Sozialität

ren, »die kognitive Infrastruktur« aufzeigen, auf der die Sprachfähigkeit des Menschen beruht. 59 Mit Cassirer müsste man nun, so meine ich, sagen, dass diese kognitive Infrastruktur nichts anderes ist als Sprache bzw., allgemeiner gefasst, nichts anderes als die menschliche Fähigkeit, Symbole zu gebrauchen. Damit bleibt aber Cassirer nicht hinter dem zurück, was Tomasello leistet. Wir können »zu Gunsten« von Cassirer sagen, dass dieser zwar nicht die Sprache auf etwas anderes zurückführt, dafür aber die Sprache über sich selbst aufklärt. Der Unterschied zwischen Cassirer und Tomasello zeigt sich insbesondere in ihrer Auffassung der Bedingungen eines »gemeinsamen Hintergrunds«. Beide Autoren betonen die Bedeutung, die ein solcher »gemeinsamer Hintergrund« für den Menschen hat. Ein »gemeinsamer Hintergrund«, so erläutert Tomasello den Sachverhalt, ist nicht einfach die gemeinsame räumlich und zeitlich bestimmte Umgebung, in der wir uns aufhalten. 60 Ein gemeinsamer Hintergrund liegt dann vor, wenn verschiedene Interaktionspartner sich auf dasselbe beziehen und wechselseitig darum wissen. Tomasello meint, dass ein solcher gemeinsamer Hintergrund den Menschen gegenüber dem Tier auszeichnet. 61 Er schreibt: »Der Kommunikationskontext erschöpft sich für uns nicht einfach in dem, was zur unmittelbaren Umgebung gehört, von der Raumtemperatur bis zu den Geräuschen von Vögeln im Hintergrund; der Kommunikationskontext ist vielmehr das, was für die soziale Interaktion relevant ist, das heißt, was jeder Beteiligte als relevant einschätzt und wovon er weiß, daß der andere das auch weiß usw. usw., potentiell ad infinitum. […] Der gemeinsame Hintergrund beinhaltet alles, was wir beide wissen (und wissen, daß wir es beide wissen usw.) […].« 62

Das Tier lebt mit anderen Tieren in derselben unmittelbaren Umgebung. Tiere teilen Raumtemperatur und Hintergrundgeräusche. Was aber den »gemeinsamen Hintergrund« des Menschen auszeichnet, ist, dass der Mensch RaumWunsch, »Was macht menschliches Denken einzigartig?«, S. 285. Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, S. 85. In seinem Buch A natural history of human thinking führt Tomasello eine Differenzierung des gemeinsamen Hintergrunds ein. Er unterscheidet nun zwischen »common ground« und »cultural ground« – also zwischen gemeinsamem Hintergrund und kulturellem Hintergrund. Zwischen diesen beiden Arten von Hintergrund besteht – soweit ich sehe – ein gradueller Unterschied insofern, als der cultural ground eine größere Reichweite hat. Die zentrale Frage betrifft also nicht den Übergang vom »common ground« zum »cultural ground«, sondern die Bedingungen der Möglichkeit des »common ground«. Vgl. Tomasello, A natural history of human thinking, S. 5. 61 Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, S. 85. 62 Ebd. f. 59 60

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Sozialität

temperatur und Hintergrundgeräusche als gemeinsamen Kontext erfassen kann. Wir können also sagen, dass der Mensch, im Gegensatz zum Tier, in einer »gemeinsamen Welt« lebt. Gemeint ist, dass der Mensch ein Bewusstsein davon hat, dass er sich gleichermaßen wie andere Menschen auf dieselbe Welt bezieht. Der gemeinsame Hintergrund ermöglicht es, über die »eigene egozentrische Perspektive auf die Welt hinauszugehen«. 63 Cassirer formuliert diesen Gedanken so: Der Bezug auf eine gemeinsame Welt impliziere die »Durchbrechung der individuellen Schranke«. 64 Den Zusammenhang zwischen Sprache und »gemeinsamem Hintergrund« fassen die beiden Autoren aber unterschiedlich auf. Tomasello argumentiert, dass der »gemeinsame Hintergrund« die Voraussetzung für die Sprache ist. Cassirer argumentiert, dass der »gemeinsame Hintergrund« durch Sprache erzeugt wird bzw. dass Sprache der gemeinsame Hintergrund ist. Tomasello geht davon aus, dass ein »gemeinsamer Hintergrund« die Erklärung dafür ist, dass der Mensch auf komplexe Weise kommunizieren kann. Ohne einen »gemeinsamen Hintergrund« wäre es schlicht unverständlich, wie überhaupt so etwas wie Kommunikation zustande kommen könnte. Nur weil wir über einen gemeinsamen Hintergrund verfügen, ist es beispielsweise möglich zu erfassen, worauf jemand meine Aufmerksamkeit lenken möchte und warum er dies tun möchte. 65 Wir können uns leicht Situationen vorstellen, die auf vielfältige Weise interpretiert werden können. Wenn jemand, um ein Beispiel von Tomasello aufzugreifen, auf ein Schnapsglas zeigt – worauf zeigt er? Auf den Sprung im Glas? Seine Farbe? Seine Leere? 66 Meistens fällt es uns nicht schwer, genau zu bestimmen, worauf in einer konkreten Situation gezeigt wird. Dies liegt – so meint Tomasello – daran, dass wir mit unserem Interaktionspartner über einen gemeinsamen Hintergrund verfügen. Wie wird nach Tomasello ein gemeinsamer Hintergrund erzeugt? Wie ist es möglich, die »individuelle Schranke« zu durchbrechen? Die primäre Weise, einen gemeinsamen Hintergrund zu erzeugen, besteht nach Tomasello darin, dass verschiedene Menschen gemeinsam ihre Aufmerksamkeit auf etwas rich-

Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, S. 87. Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Erste Studie«, S. 369. 65 Vgl. auch: »Also nur weil Menschen in der Lage sind, zusammen mit anderen verschiedene Formen eines gemeinsamen begrifflichen Hintergrunds zu konstruieren, können sehr einfache ikonische und Zeigegesten verwendet werden, um auf komplexe Weise zu kommunizieren; das geht weit über das hinaus, was Menschenaffen mit ihren Intentionsbewegungen und ihren Gesten der Aufmerksamkeitserheischung kommunizieren können.« Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, S. 92. 66 Ebd., S. 86. 63 64

Sprache und Sozialität

ten und dabei eine gemeinschaftliche Tätigkeit ausüben. 67 Gemeinsame Aufmerksamkeit und gemeinsames Handeln konstituieren einen gemeinsamen Hintergrund. Dazu ist Sprache prinzipiell nicht notwendig. Tomasello meint, dass »die vollständige kooperative Infrastruktur grundsätzlich schon ausgebildet [ist], bevor der Spracherwerb ernsthaft beginnt«. 68 Cassirer argumentiert demgegenüber, dass der »gemeinsame Hintergrund« die Sprache ist. Insofern, als der Mensch ein sprachliches Wesen ist, verfügt er auch über einen »gemeinsamen Hintergrund« mit anderen Menschen. Er schreibt: »Die […] Bedeutungen sind ein Wiederholbares und Wiederkehrendes; ein Etwas, das nicht am bloßen Hier und Jetzt haftet, sondern das in unzählig vielen Lebensmomenten und in der Aneignung und dem Gebrauch von seiten noch so vieler verschiedener Subjekte als ein sich selbst Gleiches, identisches gemeint und verstanden wird. Kraft dieser Identität des Meines, die sich über der Buntheit und Verschiedenheit der momentanen Eindrücke erhebt, tritt, allmählich und stufenweise, ein bestimmter ›Bestand‹, ein ›gemeinsamer Kosmos‹ hervor. […] Auch vom genetischen Gesichtspunkt aus dürfen wir daher sagen, daß die Sprache die erste ›gemeinsame Welt‹ ist, in die das Individuum eintritt, und daß sich ihm erst durch ihre Vermittlung die Anschauung einer gegenständlichen Wirklichkeit erschließt.« 69

Erst durch die Sprache, so meint Cassirer, kann der Mensch dem Fluss des Werdens entsteigen. Ein Bleibendes und Dauerhaftes entsteht für den Menschen erst mit der Sprache. Was Cassirer also im Gegensatz zu Tomasello annimmt, ist, dass wir immer dann, wenn wir von einem »gemeinsamen Hintergrund« sprechen, schon die Sprache voraussetzen müssen. Die Sprache ist »die erste ›gemeinsame Welt‹«, in die ein Kind eintritt. Es gibt für Cassirer keine »gemeinsame Welt«, die der geteilten Welt des Symbolgebrauchs vorgängig wäre. Damit vertreten Cassirer und Tomasello auch grundlegend unterschiedliche Auffassungen über den Ursprung der Sprache. Für Tomasello erklärt sich die Sprache aus dem gemeinsamen Tun des Menschen, man kann auch sagen, sie wird »erfunden«. Für Cassirer ist die Sprache nicht in diesem Sinn willkürlich entstanden. Die Sprache ist für Cassirer wesentlich intersubjektiv, aber nicht, weil sie von Individuen erfunden wurde oder weil sie der Verständigung dient, sondern weil ihr Dasein daran gebunden ist, dass es sich zwischen Subjekten ent-

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Ebd., S. 90. Ebd., S. 180. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 371.

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spinnt. 70 Die Sprache ist nur als ein »Wechselgespräch« zwischen Individuen zu denken. Die Frage des einen ist das Motiv für die Antwort des anderen. Und in diesem Wechselverkehr, der sich zwischen »Ich« und »Du« entspinnt, bauen beide eine gemeinsame Welt auf. 71 Eine solche wechselseitige Verbindung mit dem Anderen ist für Cassirer das Charakteristikum der menschlichen Sozialität. Es ist eine Sozialität, die wesentlich vom Symbolgebrauch getragen ist, weil im und kraft des Symbolgebrauchs diese Korrelativität und Wechselseitigkeit von Individuen sich einstellt.

70 71

Vgl. Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Erste Studie«, S. 369. Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Zweite Studie«, S. 411.

4. Die Selbsttransformation des Lebens

D

as Verhältnis zwischen Symbol und Wirklichkeit, so sahen wir im zweiten Kapitel, ist ein Verhältnis sui generis. Zwischen einem Symbol und dem, was es bezeichnet, besteht keine dinglich-ontologische Beziehung. Ein Symbol ist also nicht ein Teil der Wirklichkeit, so als wäre es ein Objekt unter Objekten. Das Verhältnis zwischen einem Symbol und dem, was es bezeichnet, muss als ein ursprüngliches und nicht weiter reduzierbares Verhältnis aufgefasst werden. Das Symbol kommt dementsprechend nicht zu einer gegebenen Wirklichkeit hinzu. Diese Auffassung des Symbolischen führt unmittelbar zu der Frage, wie das Verhältnis zwischen Mensch und Symbol aufzufassen ist. Wenn das Verhältnis zwischen Symbol und Wirklichkeit ein Verhältnis sui generis ist, muss auch das Verhältnis zwischen Mensch und Symbol ein Verhältnis sui generis sein. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass auch der Mensch nicht lediglich ein Teilbereich der Wirklichkeit sein kann. Cassirer definiert den Menschen als »animal symbolicum«. 1 Dies ist die wohl bekannteste Aussage Cassirers und diejenige, in der sich Cassirers eigenständige philosophische Position scheinbar prägnant ausdrückt. Einerseits ist es richtig, dass in der Definition des Menschen als »animal symbolicum« die wichtigsten und grundlegendsten Einsichten Cassirers enthalten sind, andererseits wäre es falsch, anzunehmen, dass wir es hier mit einer These zu tun haben, die uns voraussetzungslos über Cassirers Grundansichten informiert. Wenn wir »animal symbolicum« mit »das symbolgebrauchende Tier« übersetzen, so sind damit mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben. Ist der Mensch ein Tier, das zusätzlich noch sprechen kann? Wie ist das Verhältnis zwischen Symbol und Mensch aufzufassen, wenn es sich hier um keine dinglich-ontologische Beziehung handeln kann? Und was bedeutet das für den Unterschied zwischen Mensch und Tier, also für unsere Auffassung der anthropologischen Differenz? Es gibt zwei Weisen, das Verhältnis zwischen Mensch und Vernunft bzw. zwischen Leben und Geist aufzufassen. Die eine Weise besteht darin, dieses Verhältnis als ein additives Verhältnis zu begreifen. Ich nenne sie in Anschluss an Matthew Boyle »additive Theorien der menschlichen Vernunft«. 2 Die andere Weise, das Verhältnis zwischen Leben und Geist aufzufassen, besteht Cassirer, Essay on Man, S. 31. Matthew Boyle, »Forthcoming. Additive Theories of Rationality: A Critique,« https:// dash.harvard.edu/handle/1/8641840. 1 2

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Die Selbsttransformation des Lebens

darin, im Geist ein Prinzip des Lebens zu sehen. Zwischen Mensch und Tier besteht dementsprechend kein Unterschied in einzelnen Merkmalen, sondern ein Unterschied in der Form des Lebens. Diese Weise, das Verhältnis zwischen Vernunft und Leben aufzufassen, entspricht in der zeitgenössischen Debatte den »transformativen Theorien der menschlichen Vernunft«. Ich argumentiere, dass Cassirers Definition des Menschen solchen transformativen Theorien zugeordnet werden muss. Wenn Cassirer den Menschen als »animal symbolicum« definiert, so darf dies also nicht so verstanden werden, als wäre der Mensch ein Tier, das zusätzlich noch spricht. Wir haben bereits gesehen, dass Cassirer durchweg argumentiert, dass der Symbolgebrauch des Menschen sein gesamtes Leben durchdringt, dass er eine »prinzipielle Wandlung« des Lebens impliziert. Die zunächst einfach erscheinende Definition des Menschen als animal symbolicum bezeichnet nicht einen Unterschied in bestimmten Merkmalen, sondern einen Unterschied der Lebensform zwischen Mensch und Tier. Cassirer bereichert die zeitgenössische Debatte um eine wesentliche Einsicht: Das Symbol ist die Bedingung des Formunterschieds zwischen Mensch und Tier. In der Entwicklung der transformativen Theorien der menschlichen Vernunft in den letzten Jahren hat die Frage nach den Bedingungen der anthropologischen Differenz keine große Rolle gespielt. Hier ist meist einfach von »der Vernunft« die Rede, die den Unterschied zwischen Mensch und Tier markiert. Cassirer argumentiert, dass der Begriff »Vernunft« »ungeeignet« sei, um die anthropologische Differenz zu bezeichnen. Er schreibt: »Reason is a very inadequate term with which to comprehend the forms of man’s cultural life in all their richness and variety. But all these forms are symbolic forms. Hence, instead of defining man as an animal rationale we should defined him as an animal symbolicum. By doing so we can designate his specific difference, and we can understand the new way open to man – the way to civilization.« 3

Es ist der Symbolgebrauch, so argumentiert Cassirer hier, der den Menschen vom Tier unterscheidet. Wenn wir dies sehen, so meint er, können wir erst richtig verstehen, was es bedeutet, Mensch zu sein. An verschiedenen Stellen dieser Arbeit habe ich darauf hingewiesen, dass es falsch wäre anzunehmen, dass der Symbolgebrauch von außen in die Sphäre des Menschen eintritt. Der Symbolgebrauch, so sagten wir beispielsweise, bewirkt nicht die Fähigkeit, zwischen Darstellendem und Dargestellten unterscheiden zu können, sondern ist Ausdruck und Realisierung dieser Fähigkeit. 3

Cassirer, Essay on Man, S. 30 f.

Die Selbsttransformation des Lebens

In Hinblick auf die anthropologische Differenz bedeutet dies, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht von außen bewirkt wird, sondern sich selbst realisiert. Mit Cassirer können wir, in anderen Worten, das Verhältnis zwischen Mensch und Symbol nur dann richtig verstehen, wenn wir es selbst als ein symbolisches Verhältnis auffassen, also nicht als ein Verhältnis, das innerhalb der Wirklichkeit vorliegt, sondern als ein Verhältnis, das im Symbolgebrauch entsteht. Dieser Gedanke führt zu einer Radikalisierung des Grundgedankens, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier in einer Transformation der Lebensform besteht, wie er beispielsweise von Matthew Boyle vertreten wird. Auch der Unterschied zwischen Mensch und Tier kann nun nicht mehr als ein Unterschied aufgefasst werden, der in der Wirklichkeit vorliegt und denkend erfasst wird. Vielmehr ist das Denken der anthropologischen Differenz und das Vorliegen der anthropologischen Differenz ein und derselbe Sachverhalt. Der Mensch ist nicht vom Tier unterschieden und denkt, dass er vom Tier unterschieden ist, sondern kraft dessen, dass er die Frage nach der anthropologischen Differenz stellt, konstituiert sich diese Differenz. In seiner Vorlesung über Symbolismus und Sprache bezeichnet Cassirer seine Auffassung der anthropologischen Differenz als »critical monism« 4. Diese Bezeichnung scheint mir besonders geeignet, Cassirers Position auf den Punkt zu bringen: Sie ist monistisch, weil sie die Einheit von Mensch und Tier anerkennt. Sie ist kritisch, weil sie davon ausgeht, dass das Denken des Unterschieds zwischen Mensch und Tier diesen Unterschied konstituiert. »Das eigentliche ›fundamentum divisionis‹«, so meint Cassirer, »liegt zuletzt nicht in den Dingen, sondern im Geiste« 5. Wir können uns den Unterschied zwischen den Positionen Cassirers und Boyles in einem ersten kurzen Überblick verständlich machen, indem wir die Frage betrachten, die Boyle seiner Arbeit zugrunde legt. Es ist die Frage: »What sort of difference is a difference ›in kind‹ meant to be, and how is the rational-nonrational contrast supposed to amount to that sort of difference?« 6

Boyle meint, dass die Art des Unterschieds, nach der er fragt, generisch in Bezug auf die Vernünftig-nicht-vernünftig-Unterscheidung ist. Das heißt: Wir können etwas über die Art des Unterschieds sagen, ohne etwas über Vernunft zu sagen. Dieselbe Art von Unterschied liegt beispielsweise auch zwiCassirer, Vorlesungen und Studien zur Philosophischen Anthropologie, S. 254. Ernst Cassirer, »Die Begriffsform im mythischen Denken«, in: ECW 16, S. 3–73, hier: S. 60. 6 Boyle, »Essentially Rational Animals«, S. 4. 4 5

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Die Selbsttransformation des Lebens

schen Pflanze und Tier vor. In anderen Worten: Die Lebensform des Menschen tritt neben die Lebensform des Tieres und die der Pflanze. Cassirers Position besteht demgegenüber darin, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier sich in dieser Frage ausdrückt und verwirklicht. Die Wirklichkeit der anthropologischen Differenz ist von der Frage nach der anthropologischen Differenz nicht zu trennen. Es ist also kein Unterschied, der denkend erfasst wird, sondern ein Unterschied, der denkend entsteht. 7 Der Dualismus, der aus Cassirers Perspektive von Boyle nicht konsequent genug überwunden wird, tritt an der Stelle wieder auf, an der Boyle einen Unterschied postuliert, der außerhalb der Vernunft liegt. Diese Auffassung der anthropologischen Differenz als einer Differenz, die nicht aus einer Beobachterperspektive heraus erfasst wird, sondern vielmehr durch die Frage nach der anthropologischen Differenz selbst konstituiert wird, wurde bislang in der zeitgenössischen Philosophie meines Wissens nach nicht vertreten. Damit kann Cassirer die zeitgenössische Debatte um einen innovativen Gedanken bereichern.

4.1 Die anthropologische Differenz als Unterschied der Lebensform

Wird ein Symbol als ein Teilbereich der Wirklichkeit aufgefasst, also als ein Objekt unter Objekten, dann liegt die Annahme nahe, dass der Symbolgebrauch dem Gebrauch von Instrumenten vergleichbar ist. So wie wir einen Hammer oder eine Axt aufnehmen können, um ein Stück Holz zu bearbeiten, so nutzen wir auch Symbole, um die uns umgebende Wirklichkeit greifbar zu machen. Das Symbol tritt dieser intuitiven Auffassung zufolge also zwischen den Menschen und die Wirklichkeit und ermöglicht damit eine Annäherung zwischen beiden. Fasst man ein Symbol in diesem Sinne als Bindeglied zwischen dem Menschen und der Wirklichkeit auf, so impliziert diese Auffassung aber gleichermaßen, dass das Symbol den Menschen von der Wirklichkeit trennt. »Wie immer man dann dieses Mittlere näher bestimmen mag«, so meint Cassirer: »Es erscheint, indem es das Bindeglied zwischen zwei Welten sein will, doch zugleich immer als die Schranke, die beide voneinander scheidet. Mag man die Sprache als noch so klares und als noch so reines Medium ansehen: Es bleibt doch stets dabei, daß dieses kristallhelle Medium auch kristallhart bleibt, daß es für

Da der Symbolgebrauch ein Tun ist, ist es sogar besser zu sagen, dass die anthropologische Differenz im Tun vollzogen wird. 7

Die anthropologische Differenz als Unterschied der Lebensform

den Gedanken wie immer durchsichtig, so doch niemals völlig durchdringlich ist. Seine Transparenz hebt seine Impenetrabilität nicht auf.« 8

Das Symbol, so legt Cassirer hier nahe, ist keine Brücke, die vom Menschen zur Wirklichkeit führt. Ein Symbol ist mit einem Instrument nicht vergleichbar. Ist das Verhältnis zwischen Symbol und Wirklichkeit ein Verhältnis sui generis, so muss auch das Verhältnis zwischen Mensch und Symbol ein Verhältnis sui generis sein. Auch dieses Verhältnis können wir nicht als ein dinglich-ontologisches Verhältnis auffassen. Ein Symbol ist mithin nichts, was ein Mensch »aufnimmt«, was zu ihm »hinzukommt«, was er »nutzt« oder »ablegt«. Mensch und Symbol stehen in keiner äußeren Beziehung zueinander. Die Beziehung zwischen Mensch und Symbol ist eine sehr viel innigere, als es alle Vergleiche mit Verhältnissen, die innerhalb der Welt der Dinge vorliegen, darzustellen vermögen. Es ist ein Verhältnis, das in seiner Rätselhaftigkeit dem Verhältnis zwischen Form und Materie, das wir im ersten Kapitel besprochen haben, in nichts nachsteht. Wenn wir also verstehen wollen, was Cassirer meint, wenn er davon spricht, dass der Mensch das »animal symbolicum« sei, so müssen wir danach fragen, wie er das Verhältnis zwischen Mensch und Symbol auffasst. In der zeitgenössischen Philosophie wurde die Frage, wonach wir eigentlich fragen, wenn wir nach einer Definition des Menschen fragen, von Matthew Boyle in zwei zentralen Aufsätzen aufgegriffen. 9 Boyle weist darauf hin, dass einer Antwort auf die Frage, worin der Unterschied zwischen Mensch und Tier besteht, die Frage vorausgehen müsse, nach welcher Art von Unterschied hier überhaupt gefragt werde. 10 Er versteht seine Arbeit als einen Beitrag zu dieser »vorbereitenden, aber essenziellen Aufgabe« 11 und kündigt an, damit »Rahmenbedingungen« zu formulieren, »denen eine zufriedenstellende Beschreibung von Vernunft genügen müsste«. 12 Wenn wir also mit Cassirer sagen, dass der Symbolgebrauch die anthropologische Differenz markiert, so muss dieser Aussage eine Auseinandersetzung mit der Frage vorausgehen, um welche Art von Unterschied es sich hier handeln soll.

Ernst Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart [1930]«, in: ECW 17, S. 185–205, hier: S. 204. 9 Boyle, »Essentially Rational Animals«; ders., »Forthcoming. Additive Theories of Rationality: A Critique«. 10 Vgl. Boyle, »Essentially Rational Animals«, S. 398. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 398. Deutsche Übersetzung: Matthew Boyle, »Wesentlich vernünftige Tiere«, in: Kern; Kietzmann (Hrsg.), Selbstbewusstes Leben: Texte zu einer transformativen Theorie der menschlichen Subjektivität, S. 78–119, hier: S. 82 f. 8

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Die Selbsttransformation des Lebens

Die Arbeiten Boyles, in denen er sich an keiner Stelle auf Cassirer bezieht, sind instruktiv für ein Verständnis dessen, was Cassirer mit seiner Definition des Menschen als »animal symbolicum« meint. Cassirer und Boyle identifizieren dieselbe Schwierigkeit, die der philosophischen Anthropologie zugrunde liegt, nämlich die Schwierigkeit, zwar einerseits an dem Unterschied zwischen Mensch und Tier festzuhalten, andererseits aber den Menschen auch nicht aus der Reihe der organischen Lebewesen herausfallen zu lassen. Cassirer formuliert diese Schwierigkeit, die darin besteht, gleichzeitig an der Einheit alles Lebendigen und dem spezifischen Unterschied des Menschen festzuhalten, folgendermaßen: »We must try to understand that a species, which in its structure, in its anatomical, physiological, biological aspect is in the closet relation with all the other organic beings could, nevertheless, initiate a new series of functions that are the very conditions of all our cultural life.« 13

Boyle betont ebenso, dass die Auffassung des Unterschieds zwischen Mensch und Tier nicht implizieren dürfe, dass die Spezies Mensch den allgemeinen Gesetzen der Evolution nicht unterstehe. Hier ist ein Zitat: »For whatever we mean by calling our minds ›rational‹, surely this must be compatible with a recognition that the human mind is a species of animal mind, which has arisen through the same sorts of evolutionary processes that also produced the minds we call ›nonrational‹.« 14

Cassirer und Boyle möchten also gleichermaßen die anthropologische Differenz auf eine Weise auffassen, die den »Doppelaspekt menschlichen Daseins« 15 erfassen kann, nämlich die Tatsache, dass der Mensch ein Lebewesen ist, das denkt. Einerseits möchten sie den Menschen damit also nicht aus der Reihe der Lebewesen herausheben, andererseits aber auch die anthropologische Differenz nicht auf einen rein graduellen Unterschied reduzieren. In der Sekundärliteratur wird allerdings bestritten, dass es Cassirer gelingt, den Menschen als Lebewesen in den Blick zu bekommen. Matthias Wunsch schreibt beispielsweise, dass »eine größere Fehleinschätzung als diese […] sich bei Cassirer kaum finden lassen« 16 wird. Cassirer könne, so meint Wunsch, dieses »Kernproblem« – das Problem, wie der Mensch sowohl »Geist« als auch »Natur« ist – gar nicht lösen, weil er mit seiner Philosophie der sym-

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Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language«, S. 259. Boyle, »Essentially Rational Animals«, S. 396. Wunsch, Fragen nach dem Menschen, S. 173. Ebd., S. 172.

Die anthropologische Differenz als Unterschied der Lebensform

bolischen Formen »kein Instrument besitzt, auch die Ebene unseres leiblichen Daseins zu adressieren«. 17 Meines Erachtens gibt Cassirer hingegen eine Antwort darauf, wie der »Doppelaspekt menschlichen Daseins« zu erfassen ist, indem er den Unterschied zwischen Mensch und Tier als einen Unterschied der Lebensform auffasst. 18 Die grundlegende Idee ist, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht in einer einzelnen Eigenschaft liegt, über die der Mensch, aber nicht das Tier verfügt. In dieser Hinsicht weisen Cassirer und Boyle also einen gemeinsamen Gegner auf. Schauen wir uns die Argumente gegen additive Theorien der menschlichen Vernunft an, so sehen wir, dass sie wesentlich darauf hinweisen, dass additive Auffassungen den »Doppelaspekt menschlichen Daseins« nicht zu erfassen in der Lage sind. Das heißt: Additive Theorien der menschlichen Vernunft können die Einheit von Leben und Geist nicht erfassen. Wenn wir die Vernunft gleich einem Instrument auffassen, das ein Mensch »aufnimmt« oder »gebraucht«, also als etwas, das in einer äußerlichen und sekundären Beziehung zum Menschen steht, so ist nicht mehr verständlich zu machen, wie es möglich ist, dass der Mensch ein Lebewesen ist, das denkt. In anderen Worten: Die Einheit von Leben und Geist kann durch die Vorstellung, die Vernunft sei etwas, das zum Leben hinzutritt, nicht erfasst werden. Diese grundlegende Schwierigkeit bezeichnet Matthew Boyle als »Interaktions-Problem« sowie als »Einheits-Problem«. 19 Das Interaktions-Problem entspringt der Überlegung, dass die rationalen Vermögen des Menschen nicht unabhängig von seinen nicht-rationalen Vermögen ausgeübt werden können. Das Einheits-Problem resultiert aus der Frage, wie die Einheit des konkreten Subjekts zu verstehen ist, eines Subjekts, das gemäß der Auffassung additiver Theorien aus zwei verschiedenen Bestandteilen zusammengesetzt ist: einem animalischen und einem denkenden Teil. Das Interaktions-Problem betrifft den Zusammenhang zwischen unserer Wahrnehmung und unseren Urteilen. Additive Theorien der menschlichen Vernunft gehen davon aus, dass die Vernunft zu unserer Wahrnehmungsfähigkeit hinzukommt. Die Wahrnehmung selbst ist vor-vernünftig oder a-rational. Ebd., S. 173. Der Titel des dritten Abschnitts des zweiten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen lautet: »Der Mythos als Lebensform.« Es überrascht, dass Cassirer diesen Begriff im Verlauf des Abschnitts nicht explizit ein- und ausführt. Boyle bezieht sich in seiner Verwendung des Ausdrucks »form of life« insbesondere auf Michael Thompson. Vgl. Boyle, »Essentially Rational Animals«, S. 403 f. 19 Das »Interaction Problem« und »Unity Problem«, vgl. Boyle, »Forthcoming. Additive Theories of Rationality: A Critique, S. 10. 17 18

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Die Selbsttransformation des Lebens

Die Schwierigkeit, die das Interaktions-Problem für additive Theorien bezeichnet, besteht darin, dass nicht klar ist, wie unter den Voraussetzungen additiver Theorien die Wahrnehmung und die Vernunft miteinander harmonieren können. Wie ist es zu verstehen, dass unsere Wahrnehmungen Gründe für unsere Urteile sein können? Ein Grund für ein Urteil muss ein Grund sein, der vom urteilenden Subjekt selbst als Grund erkannt und anerkannt wird. Ein Grund, der aus der Perspektive des urteilenden Subjekts nicht als Grund erfasst wird, ist eigentlich – so sagt Boyle im Anschluss an John McDowell – kein Grund, sondern eine Entschuldigung. 20 Ein Grund im eigentlichen Sinne kann dementsprechend nicht einfach außerhalb der Sphäre der Vernunft liegen. Ein Grund, auf den die Vernunft sich beziehen kann, muss innerhalb der Sphäre der Vernunft liegen. Die Schwierigkeit additiver Theorien der menschlichen Vernunft besteht also darin, dass sie nicht deutlich machen können, wie unsere Wahrnehmung ein Grund und eine Rechtfertigung für unsere Urteile sein kann, die von der richtigen Art sind. Die Wahrnehmung kann nur dann ein eigentlicher Grund für unser Urteilen sein, so schlussfolgert Boyle, wenn sie selbst der Sphäre der Vernunft angehört. Das Einheits-Problem bezieht sich auf die Art der Einheit, die ein menschliches Wesen bildet. Für additive Theorien besteht ein Mensch aus zwei gegensätzlichen Elementen. Er hat sowohl Fähigkeiten, die seiner animalischen Seite, als auch Fähigkeiten, die seiner vernünftigen Seite zugeordnet werden. Nun stellt sich die Frage, wo das »Subjekt« verortet ist. Ist es ein und dasselbe Subjekt, das wahrnimmt und urteilt? »What I am calling the Unity Problem«, so sagt Boyle, »[…] is a difficulty about how to account for the intuitive idea that the same subject is both a certain animal and the subject who thinks. The animal is supposed to be the subject of various perceptions and desires. The thinker is supposed to be the subject of various reflective thoughts. Is the very same subject the locus of all these activities? […] But given how the additive theorist conceives of our powers of perception and desire, it is not clear how the unity of this subject is secured.« 21

Die Auffassung additiver Theorien, dass im Menschen zwei verschiedene Teile zusammengefügt werden, macht es unverständlich, wie diese Teile eine Einheit bilden können, die beide Teile gleichermaßen informiert. Dieses Einheitsproblem, so denke ich, lässt sich gut durch eine Überlegung Theodor Litts zur Selbstreflexion illustrieren. Wenn wir, so meint Litt, uns den Menschen so vorstellen, als wäre er ein Tier plus Vernunft, so ist es nahe20 21

Ebd., S. 12. Ebd., S. 37.

Die anthropologische Differenz als Unterschied der Lebensform

liegend anzunehmen, dass wir unsere »animalische Seite« betrachten können, ohne dass diese durch den forschenden Blick der Vernunft alteriert wird. Hier ist ein Zitat von Litt: »Gewiß: glaubt man in der Seele ein Bündel von Einzelvermögen, von ›Kräften‹ vor sich zu haben, von denen eine jede für sich besteht, aus eigenem Vorrat lebt und aus eigenem Antrieb wirkt, dann kann man sich leicht dem Glauben hingeben, daß eines dieser Vermögen, nämlich das uns unter dem Namen ›Denken‹ vertraute, den forschenden Blick auf das Insgesamt der ihm verschwisterten ›Kräfte‹ richten könne, indes diese unbekümmert ihr Geschäft genau so weitertrieben, wie sie es auch ohne solche Beaufsichtigung tun würden. Oder: hat man das Bild von einer ›Schichtung‹ der seelischen Wirklichkeit einmal adoptiert, dann entdeckt man bald so etwas wie eine ›obere‹ Zone der Seele, die in die weiter abwärts gelegenen Schichten ihr Licht hinabsendet und nun mit Staunen, Entzücken oder Grauen dem zuschaut, was sich da unten alles regt und bewegt.« 22

Die Grundannahmen additiver Theorien der menschlichen Vernunft implizieren die Auffassung, dass die Selbstreflexion vergleichbar ist mit der Reflexion auf einen Gegenstand, der dadurch, dass auf ihn reflektiert wird, sich in seinem Sosein nicht verändert. Additive Theorien sind zu der Annahme verpflichtet, dass wir uns denkend auf unsere »animalischen Eigenschaften« beziehen können, diese aber von dieser Betrachtung unberührt bleiben. Das bedeutet aber, dass das erkennende und das erkannte Selbst radikal voneinander unterschieden sind. 23 Dies ist eine Weise, das von Boyle so genannte Einheits-Problem zu beschreiben. Denn diese radikale Differenz trifft offensichtlich im Falle der Selbstreflexion gar nicht zu. Für die Fremderkenntnis gilt, dass das erkennende Subjekt vom erkannten Gegenstand unterschieden ist. In der Selbstreflexion besteht diese Differenz aber nicht. Stattdessen liegt eine Identität zwischen dem, der erkennt, und dem, der erkannt wird, vor. Die Vorstellung additiver Theorien, dass die rationalen Vermögen zu anderen Vermögen hinzutreten, führt zu der Vorstellung, dass in der Selbstreflexion ein Gegenstand erfasst wird. Sie übersieht, dass während in der Erkenntnis von Gegenständen eine Differenz zwischen erkanntem Gegenstand und erkennendem Subjekt vorliegt, diese Differenz in der Selbstreflexion nicht vorliegt. Auch wenn in der Selbstreflexion eine »Selbstzerteilung« vollzogen wird, so nimmt

Theodor Litt, Die Selbsterkenntnis des Menschen (Hamburg: Richard Meiner Verlag 1948), S. 19. 23 Vgl. ebd., S. 18 f. 22

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»[…] diese […] nicht das mindeste weg […], von der Identität, in der hier, in schärfstem Unterschied von der Fremderkenntnis, Subjekt und Objekt geeint sind und geeint bleiben.« 24

Wir können das Einheits-Problem dementsprechend auch so formulieren: Additive Theorien der menschlichen Vernunft können das Phänomen der Selbstreflexion nicht erfassen. Die in der Selbstreflexion vorliegende Identität zwischen erkennendem und erkanntem Subjekt zerfällt für additive Theorien in zwei Teile. Additive Theorien sind unfähig, die »Selbigkeit in der Selbstentzweiung« 25, die für die Selbstreflexion charakteristisch ist, zu begreifen. Wir finden in Cassirers Werk eine ähnliche Kritik an Auffassungen, die Leben und Geist als zwei verschiedene Bestandteile ansehen, die eine nachträgliche Einheit bilden. Cassirer fragt in Hinblick auf solche additiven Theorien: »Wie vermag der Geist auf eine Welt zu wirken, der er doch nicht angehört – wie läßt sich die Transzendenz der Idee mit der Immanenz des Lebens vereinen?« 26 Explizit lehnt Cassirer die Vorstellung additiver Theorien in diesem Zitat ab: »We must […] admit that it would be illusive to explain the new form of life that we find in man by referring to a special physical or metaphysical quality which he possesses in addition to those other qualities that constitute the whole of organic nature.« 27

Das Interaktions- und das Einheits-Problem sind zwei Weisen, sich zu verdeutlichen, dass additive Theorien der menschlichen Vernunft die Einheit von Leben und Geist nicht erfassen können. Sie können damit nicht erläutern, wie der Mensch ein Lebewesen ist, das denkt. In anderen Worten: Additive Theorien der menschlichen Vernunft können den Gedanken der anthropologischen Differenz nicht erfassen. Denn der Gedanke der anthropologischen Differenz ist der Gedanke, dass der Mensch, ohne aus der Reihe der organischen Lebewesen herauszufallen, sich dennoch von allen übrigen Lebewesen auf eine spezifische Weise unterscheidet.

Ebd., S. 19. Ebd. 26 Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart«, S. 193. 27 Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology«, S. 406. Diese Textstelle findet sich im Manuskript zum »Essay on Man«. Sie wurde in die veröffentliche Version nicht aufgenommen. Die Herausgeber der nachgelassenen Manuskripte merken an, dass auch das Manuskript des »Essay on Man« »Anspruch darauf erheben kann, als ein originärer Cassirer-Text angesehen zu werden«, und zwar, weil der veröffentlichten Version »ein für Cassirer ungewöhnlicher Prozeß des rewritings« zugrunde liegt«. Vgl. ebd., S. 670 ff. 24 25

Die anthropologische Differenz als Unterschied der Lebensform

Die Lösung, die sowohl Cassirer als auch Boyle für diese Schwierigkeit in den Blick nehmen, lässt sich um den Begriff der Lebensform zentrieren. Die grundlegende Idee ist, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht in einer einzelnen Eigenschaft liegt, über die der Mensch, aber nicht das Tier verfügt. Vielmehr betrifft der Unterschied zwischen Mensch und Tier die gesamte Organisation des Lebendigen. Wenn wir die anthropologische Differenz verstehen wollen, so müssen wir den Gedanken eines Formunterschieds verstehen. Die Attraktivität transformativer Theorien der menschlichen Vernunft besteht darin, dass sie der anthropologischen Differenz, also dem Gedanken des Unterschieds zwischen Mensch und Tier, einen neuen Sinn und eine neue Bedeutung abgewinnen. Sie wollen verständlich machen, wie es möglich ist, dass der Mensch als lebendes Wesen denkt, dass er also denselben Gesetzen untersteht, denen alle Lebewesen unterstehen, und sich dennoch von ihnen nicht nur graduell unterscheidet. 28 Transformative Theorien argumentieren, dass dies nur dann verständlich ist, wenn wir uns von einer Beschränkung befreien, die unser Denken dann bestimmt, wenn wir davon ausgehen, dass die einzige Weise, den Unterschied zwischen Mensch und Tier zu bestimmen, darin besteht, ein Merkmal anzugeben, über das der Mensch, aber nicht das Tier, verfügt. Die Diagnose der Schwierigkeiten, in die sich additive Theorien der menschlichen Vernunft verstricken, lautet, dass diese Schwierigkeiten darauf zurückzuführen sind, dass additive Theorien eine eingeschränkte Vorstellung davon haben, was eigentlich ein »Unterschied« ist. Sie kennen nur den Unterschied in Merkmalen und verlieren damit die Möglichkeit, die Einheit von Leben und Geist zu erfassen. Hier ist ein Zitat von Boyle: »[…] the idea of a difference in kind between rational and nonrational minds needs clarification before it can be assessed, and […] supplying the needed clarification is not a straightforward task. I think this task is often overlooked by both fans and detractors of the distinction.«29

Boyle sagt in diesem Zitat, dass die Idee eines Unterschieds, der kein Unterschied in bestimmten Merkmalen ist, eine schwierige Idee ist. Wir müssen, so meint Boyle, die Idee eines Formunterschieds explizieren, bevor wir uns der Frage zuwenden, worin die anthropologische Differenz besteht. Was soll es bedeuten, zu sagen, dass sich Tier und Mensch spezifisch voneinander unter-

Zur Entwicklung dieses Gedankens in der philosophischen Anthropologie vgl. Gerald Hartung, Das Maß des Menschen: Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers (Weilerswist: Velbrück Wiss. 2006), S. 62–82. 29 Boyle, »Essentially Rational Animals«, S. 398. 28

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Die Selbsttransformation des Lebens

scheiden, dieser Unterschied aber nicht in einem Merkmal liegt, über das der Mensch, aber nicht das Tier, verfügt? Der Gedanke eines Formunterschieds ist der Gedanke, dass die Einheit des menschlichen Lebens eine andere Form aufweist als die Einheit des tierischen Lebens. Der Begriff der Form, so erläutert Boyle in Anschluss an Aristoteles, bezeichnet das Prinzip, kraft dessen etwas ein Lebewesen ist. 30 Nicht um das Vorliegen bestimmter Eigenschaften geht es also, sondern um die Art und Weise, Eigenschaften zu haben. Oder in anderen Worten: Das Prinzip, das die Einheit des Lebens des Tieres bestimmt, ist ein anderes als das, welches die Einheit des menschlichen Lebens bestimmt. Diesen Gedanken drückt Boyle beispielsweise so aus: »A rational animal is capable, not just of being, having, and doing more than a nonrational creature, but of being the subject of ascriptions of being, having, and doing in a distinctive sense.« 31

Der Unterschied zwischen Mensch und Tier, so sagt Boyle hier, ist kein quantitativer, sondern ein qualitativer Unterschied. Ein qualitativer Unterschied ist – negativ bestimmt – ein Unterschied, der nicht in einem einzelnen Merkmal liegt. 32 Positiv bestimmt, so meint Boyle, liegt der qualitative Unterschied zwischen Mensch und Tier darin, dass Menschen bestimmte Eigenschaften auf eine spezifische Weise haben bzw. bestimmte Fähigkeiten auf spezifische Weise ausführen. Die Vernunft ist für Boyle also nichts, was zu einem Wahrnehmungsvermögen hinzutritt, das der Mensch mit dem Tier teilt, sondern bezeichnet vielmehr eine spezifische Form der Wahrnehmung. Hier ist ein Beispiel: Boyle meint, dass wir uns einen solchen Formunterschied anhand dessen verdeutlichen können, was »Tätigsein« im Hinblick auf Pflanze, Tier und Mensch bedeutet. Eine Pflanze ist beispielsweise aktiv, insofern sie wächst. Dabei kann das Wachstum der Pflanze durch hier und jetzt vorliegende Umstände beeinflusst werden – wenn beispielsweise ein Stein im Weg ist, wächst die Wurzel um den Stein herum. Im Gegensatz dazu ist ein Tier, so argumentiert Boyle, auf andere Weise aktiv, nämlich insofern, als die vorliegenden Umstände das Verhalten des Tieres informieren: Das Tier kann beispielsweise versuchen, ein bestimmtes Objekt zu erlangen. 33 Und analog zu diesem Unterschied können wir sagen, dass sich auch im Hinblick auf den Menschen das, was »Aktivität« bedeutet, verändert. Denn der Mensch handelt Ebd., S. 409. Ebd., S. 414. 32 Vgl.: »[…] rationality is not a particular power rational animals are equipped with, but their distinctive manner of having powers.« ebd., S. 399 f. 33 Ebd., S. 411 ff. 30 31

Die anthropologische Differenz als Unterschied der Lebensform

intentional, er wählt seine Ziele und weiß damit, was er tut und warum er es tut. 34 Wir sahen in den vorangegangenen Kapiteln dieser Arbeit bereits, dass Cassirer ebenfalls argumentiert, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier ein qualitativer Unterschied ist. Die Differenz zwischen Mensch und Tier besteht in einem »Funktionswandel«, »den alle Bestimmungen erfahren, sobald wir aus der Welt des Tieres in die des Menschen übergehen« 35. Wir haben diesen Funktionswandel ausführlich im Hinblick auf den Unterschied zwischen dem Ausdrucksverstehen und der Wahrnehmung einer objektiven Wirklichkeit und in Zusammenhang damit im Hinblick auf den Unterschied zwischen einem impliziten und expliziten Zeit- und Raumbewusstsein besprochen. Er trat uns auch in der spezifischen Sozialität des Menschen entgegen. Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch in der Lage, die Welt von sich abzurücken. 36 Er handelt nicht nur »pragmatisch«, sondern »theoretisch«, und dieser Übergang bedeutet, dass der Mensch in seinen sinnlichen Eindrücken nicht aufgeht, sondern Gegenstände anschaut: »Statt unmittelbar durch einen wirklichen Reiz bewegt zu werden, blickt er [der Mensch] auf ›mögliche‹ Bedürfnisse hin, zu deren Befriedigung er die Mittel im voraus bereitstellt.« 37 Diese Beschreibung des Funktionswandels durch Cassirer entspricht, so denke ich, der Beschreibung dieses Funktionswandels, die Boyle anhand des genannten Beispiels des »Tätigseins« gibt. Die anthropologische Differenz besteht auch für Cassirer nicht darin, dass der Mensch mehr kann als das Tier. Die anthropologische Differenz bezeichnet vielmehr unterschiedliche Weisen zu leben. Das Tier lebt anders als der Mensch. 38 Hier zeigt sich eine grundlegende Übereinstimmung zwischen Cassirers Position und der Position der zeitgenössischen Vertreter des transformativen Ansatzes. Diese grundlegende Übereinstimmung besteht in der Auffassung der anthropologischen Differenz als eines Unterschieds der Lebensform. Cassirers Ansatz geht aber weiter als der Boyles. Während Boyle sich in seinen Aufsätzen auf die Frage konzentriert, was es genau heißen kann, von einem Formunterschied zu sprechen, fragt Cassirer nach den Bedingungen, denen diese spezifische Organisation, die das menschliche Leben im Vergleich Ebd., S. 414. Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Erste Studie«, S. 381. 36 Vgl. beispielsweise Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 126; Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 477. 37 Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Erste Studie«, S. 382. 38 Vgl. dazu Andrea Kern und Christian Kietzmann, »Einleitung: Menschliches Leben und die Idee des Selbstbewusstseins«, in: dies. (Hrsg.), Selbstbewusstes Leben: Texte zu einer transformativen Theorie der menschlichen Subjektivität, S. 13–25, hier: S. 15. 34 35

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zu der des Tieres aufweist, unterliegt. Gerade dann, so schreibt er sinngemäß in einer Auseinandersetzung mit Max Scheler, wenn wir die anthropologische Differenz als einen Unterschied der Lebensform auffassen, müssen wir nach den Bedingungen dieser Differenz fragen. Diese Bedingung sieht Cassirer, wie sich uns überall bereits zeigte, im Symbolgebrauch: »Die Sprache und die Kunst, der Mythos und die theoretische Erkenntnis – sie alle arbeiten, eine jegliche nach eigenem inneren Gesetz, an diesem Prozeß der geistigen Distanzsetzung mit: Sie sind die großen Etappen auf dem Wege, der von dem Greif- und Wirkraum, in dem das Tier lebt und in den es gleichsam gebannt bleibt, zum Anschauungs- und Denkraum, zum geistigen ›Horizont‹, hinführt.« 39

Cassirer argumentiert, dass der Symbolgebrauch die anthropologische Differenz markiert. Bei Boyle hingegen finden wir keine Antwort auf die Frage nach den Bedingungen des Unterschieds der Lebensform zwischen Mensch und Tier. Boyle bezeichnet die menschliche Lebensform als die »vernünftige Lebensform«. Das Prinzip des menschlichen Lebens, so können wir diese Auffassung Boyles zusammenfassen, ist die Vernunft. Cassirers Auffassung steht dazu nicht im Widerspruch, sie ist aber genauer. Denn für Cassirer ist der Begriff »Vernunft« zu eng. Das eigentliche Charakteristikum des Menschen ist der Symbolgebrauch. Richtig verstanden, ist die Vernunft ein Aspekt des Symbolgebrauchs.40 Wir haben im Zusammenhang mit dem Zeit- und Raumbewusstsein Fälle von Aphasie besprochen, die Cassirer anführt, um die These zu belegen, dass der Symbolgebrauch eine spezifische Wandlung im Raum- und Zeitbewusstsein des Menschen impliziert. Cassirer bespricht darüber hinaus auch Fälle, in denen die erworbene Sprachstörung zu einer spezifischen Veränderung der Handlungsfähigkeit des Menschen führt. Aphasische, so bemerkt Cassirer, können nicht einfach nur weniger tun als gesunde Menschen. Die Störungen in der Handlungsfähigkeit sind also nicht in erster Linie darin zu suchen, was aphasische Patienten nicht mehr tun können. Der Unterschied besteht also nicht darin, dass gesunde Menschen Handlungen a, b, c, und d ausführen können und aphasische Patienten lediglich Handlungen a und b, so als wären sie plötzlich nicht mehr in der Lage, zu schreiben oder zu kochen oder einen Nagel einzuschlagen. Die eigentliche Störung, so meint Cassirer, liegt auf einer ganz anderen Ebene. Sie wird erst dann sichtbar, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass es nur bestimmte Umstände sind, unter denen aphasische Patienten bestimmte Handlungen ausführen können. Die Handlungen aphasi39 40

Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart«, S. 200. Vgl. Cassirer, Essay on Man, S. 30 f.

Kritischer Monismus

scher Patienten sind situationsgebunden, während die Handlungen von gesunden Menschen situationsunabhängig sind. Wenn die Sprachfähigkeit gestört ist, so stellt Cassirer fest, dann bleiben die Handlungen des Kranken an konkreten Objekten haften und können sich nicht von ihnen lösen. Die »Kraft der ›Repräsentation‹ […] [erlahmt] während all das, was mit bloßer ›Präsentation‹ zu leisten ist, relativ gut gelingt«. 41 Cassirer berichtet beispielsweise von einem Patienten, dem es ohne Mühe gelingt, einen Nagel in eine Wand zu schlagen. Sobald aber eine pantomimische Darstellung des »Nagel-in-die-Wand-Schlagens« von dem Patienten gefordert ist, kann er dieser Aufforderung nicht mehr Folge leisten. Ein anderer Patient kann ohne Probleme eine Drohgebärde zeigen, wenn er zornig ist. Ohne das zugehörige Gefühl des Zorns oder der Verärgerung ist es dem Patienten allerdings nicht möglich, eine Drohgebärde zu machen. Oder: Ein Patient klopft an die Tür, wenn er eintreten möchte. Wird ihm aber das reale Objekt »entzogen«, wird er also beispielsweise einen Meter von der Tür entfernt hingestellt, so kann er mit der Hand kein Klopfen andeuten. 42 Diese Beispiele Cassirers zeigen, dass die Symbolfähigkeit des Menschen keinen quantitativen Zuwachs an Fähigkeiten impliziert, sondern eine Veränderung des Modus des Lebens. Der Symbolgebrauch des Menschen ist unlöslich damit verbunden, dass der Mensch sich aus der konkreten Situation lösen kann und sich von ihr distanziert. Im Aufweis dieser Bedingung geht Cassirer über die zeitgenössischen Ansätze, eine transformative Theorie der menschlichen Vernunft zu entwickeln, weit hinaus. Die spezifische These Cassirers ist also, dass der Symbolgebrauch des Menschen, wenn er nicht als eine additive Fähigkeit missverstanden wird, über die der Mensch zusätzlich zu seinen animalischen Fähigkeiten verfügt, der Schlüssel dafür ist, den Doppelaspekt menschlichen Daseins zu begreifen. Der Mensch ist ein Lebewesen, das in der Reihe der organischen Lebewesen steht und nichtsdestotrotz eine Lebensform aufweist, die sich von der der Tiere spezifisch unterscheidet. 43

4.2 Kritischer Monismus

Transformative Theorien der menschlichen Vernunft halten an dem Unterschied zwischen Tier und Mensch fest. Sie nivellieren diesen Unterschied nicht. Aber sie geben ihm einen anderen Sinn und eine andere Bedeutung. 41 42 43

Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, S. 315. Vgl. zu allen drei Beispielen: ebd., S. 307. Vgl. auch Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language«, S. 286.

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Das macht ihre Attraktivität aus. Die allgemeine Frage, wie genau es zu verstehen ist, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier in ihrer Lebensform liegt, kann aber unterschiedlich beantwortet werden. In der zeitgenössischen Debatte haben sich zwei Positionen herausgebildet, die ich in Anschluss an Michael Thompson als die »anspruchsvolle Lösung« und die »naive Lösung« bezeichne. 44 Thompson selbst ordnet sich der »naiven Lösung« zu; die »anspruchsvolle Lösung« schreibt er insbesondere John McDowell zu. Es ist hilfreich, Cassirers Auffassung mit diesen beiden Auffassungen zu vergleichen und sie dadurch zu konkretisieren. Cassirers Position unterscheidet sich sowohl von der »naiven« als auch von der »anspruchsvollen Lösung« darin, dass sie eine andere Frage als die zentrale und relevante Frage hervorhebt. Während sich die »naive« und die »anspruchsvolle Lösung« anhand der Frage unterscheiden lassen, wie Leben und Form zueinanderkommen, zeigt Cassirer, dass es auf diese Frage keine Antwort gibt. Die zentrale Frage ist nicht: Wie kommen Leben und Form zusammen? Sondern: Wie ist es möglich, dass der Mensch zwischen Leben und Form unterscheidet? Cassirer fragt also nach den Bedingungen der Unterscheidung zwischen Leben und Form und Mensch und Tier. Dies ist eine Frage, die für die Durchführung des MenschTier-Vergleichs von großer Relevanz ist. Es handelt sich nicht um eine Überlegung, die den Vergleich lediglich vorbereitet. Denn wenn wir auf die Bedingungen des Mensch-Tier-Vergleichs reflektieren, sagen wir etwas über uns selbst aus, da wir es sind, die den Vergleich durchführen. 45 Cassirer selbst bezeichnet seine Position an einer Stelle als »kritischen Monismus« 46. Das Ziel des folgenden Kapitels ist, den Grundgedanken des »kritischen Monismus« herauszuarbeiten. Sowohl die »anspruchsvolle« als auch die »naive Auffassung« der anthropologischen Differenz stimmen darin überein, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht in einem einzelnen Merkmal besteht, sondern als ein Unterschied der Lebensform aufzufassen ist. Es handelt sich in beiden Fällen um Varianten einer transformativen Theorie der menschlichen Vernunft. Beide Auffassungen unterscheiden sich aber darin, an welcher Stelle im menschlichen Leben sie den Unterschied zum Tier eintreten lassen. Die »anspruchsvolle Lösung« geht davon aus, dass der Unterschied der Lebensform das Vgl. Michael Thompson, »Forms of nature: ›first‹, ›second‹, ›living‹, ›rational‹, and ›phronetic‹«, in: Gunnar Hindrichs; Axel Honneth (Hrsg.), Freiheit: Stuttgarter Hegel-Kongress 2011, hier: S. 702. 45 Vgl. dazu auch Litt, »Mensch und Tier«, in: Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie 7, S. 213–231, hier: S. 215. Ich danke Roman Yos für den Hinweis auf diesen Aufsatz. 46 Vgl. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language«, S. 254. 44

Kritischer Monismus

Ergebnis eines langsamen und allmählichen Prozesses der Sozialisation ist, in dessen Verlauf das neugeborene Kind im eigentlichen Sinne zum Menschen wird. Die »anspruchsvolle Lösung« trägt damit der Tatsache Rechnung, dass neugeborene Kinder diejenigen Verhaltensweisen, die wir zuvor als Beispiele für den Unterschied der Lebensform angeführt haben, gar nicht aufweisen: Sie handeln nicht intentional, wie es ein Erwachsener tut; sie sind nicht in der Lage, sich in gleicher Weise vom »pragmatischen« Zugang zur Welt zu lösen und sich der »theoretischen Sicht« zuzuwenden. Die »naive Lösung« geht hingegen davon aus, dass der Mensch sich nicht erst langsam zum Vernunftwesen entwickelt, sondern von Beginn an eines ist. John McDowell ist ein Vertreter einer »anspruchsvollen Lösung«. Er verwendet, um den langsamen Übergang von einem vor-vernünftigen Wesen zu einem Vernunftwesen zu erläutern, den Begriff der »zweiten Natur«. 47 Der Unterschied zwischen Mensch und Tier liegt in der »zweiten Natur«, denn nur der Mensch durchläuft den Prozess, der zu einer Transformation seiner Lebensform führt. Die »anspruchsvolle Lösung« beantwortet also die Frage, wie es zu verstehen ist, dass die Vernunft zur Natur gehört, mithilfe des Begriffs der »zweiten Natur«. Die Vernunft gehört zur Natur, aber eben nicht zur »ersten Natur«, sondern zur »zweiten Natur«. Die Gemeinsamkeit zwischen Mensch und Tier besteht hingegen in ihrer »ersten Natur«. Zwischen einem neugeborenen Kind und einem Tier besteht, in anderen Worten, kein metaphysischer Unterschied. Hier ist ein Zitat: »[Die Menschen] werden als gewöhnliche Tiere geboren und im Verlauf ihres Erwachsenenlebens entwickeln sie sich zu Denkern und intentional Handelnden.« 48

McDowell versteht unter Vernunft etwas, das von außen auf die Sphäre des Lebens wirkt und in diesem eine Veränderung hervorruft. Wir können also sagen: Der »fertige« Mensch besteht nicht aus zwei Teilen – einer ersten Natur plus Geist –, sondern weist eine wesentlich andere »Natur« auf als das Tier. Aber dieses Ergebnis ist das Ergebnis eines Zusammentreffens und Zusammenwirkens von zwei ursprünglich selbst- und eigenständigen Einheiten. In den Aufsätzen von Matthew Boyle gibt es Formulierungen, die nahelegen, dass er dieser »anspruchsvollen Lösung« McDowells zustimmt. In seiner zentralen These, dass die Vernunft all unsere grundlegenden mentalen Fähigkeiten transformiere, tritt die Vernunft beispielsweise als Substantivum auf. 49 47 48 49

McDowell, Geist und Welt, S. 109. Ebd., S. 152. Vgl. nochmals: »Rather, rationality transforms all of our principal mental powers,

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Man kann diese These so lesen, dass sie besagt, dass wir grundlegende mentale Fähigkeiten haben – also in anderen Worten eine »erste Natur« –, die durch die Einwirkung der Vernunft einen transformatorischen Prozess durchlaufen und zu einer »zweiten Natur« werden. Die Kritik an der »anspruchsvollen Lösung« besteht darin, dass der Begriff der »zweiten Natur« ungeeignet ist, um verstehen zu können, wie es möglich ist, dass die Vernunft zur Natur gehört. 50 Der Dualismus ist nicht aufgehoben, sondern lediglich an eine andere Stelle verlegt. Denn nun müssen wir uns fragen, wie das Verhältnis zwischen der »ersten« und »zweiten Natur« des Menschen zu verstehen ist. Wie ist es zu verstehen, dass die »erste Natur« des Menschen den Ansprüchen der Vernunft folgt? Cassirer hat in seiner Auseinandersetzung mit Max Scheler diesen Einwand folgendermaßen formuliert: »Wenn Leben und Geist völlig verschiedenen Welten angehören, wenn sie einander ihrem Wesen wie ihrem Ursprung nach gänzlich fremd sind – wie ist es möglich, daß sie nichtsdestoweniger eine durchaus einheitliche Leistung vollziehen, daß sie im Aufbau der spezifisch menschlichen Welt, der Welt des ›Sinnes‹ zusammenwirken und ineinandergreifen? Ist dieses Ineinandergreifen […] nichts anderes und nicht mehr als ein ›glücklicher Zufall‹ ? Wie läßt es sich verstehen, daß die Kräfte des Lebens […] sich von der eigenen Bahn abdrängen lassen und daß sie jene andere, ja jene völlig entgegengesetzte Richtung einschlagen, die das Gebot des Geistes ihnen weist? […] Wie vermöchte das Leben die Ideen, die der Geist ihm vorhält, auch nur zu sehen und seinen Lauf, wie nach Sternbildern, nach ihnen zu richten, wenn es seinem ursprünglichen Wesen nach als bloßer Trieb, also als spezifisch geistblind, zu bestimmen wäre?« 51

Auf einer anderen Ebene tritt also das Einheits-Problem wieder auf: Wie können wir die Einheit von Natur und Vernunft verstehen, wenn sowohl die Natur als auch die Vernunft ursprünglich selbst- und eigenständige Einheiten sind? Die »naive Lösung« reagiert auf dieses Problem, indem sie argumentiert, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht in der »zweiten Natur« zu verorten ist, sondern in der »ersten Natur«. 52 »We must make«, so sagt Michael Thompson, »a certain formal distinction among first natures.« 53 Die making our minds different in kind from the minds of nonrationals animals.« Boyle, »Essentially Rational Animals«, S. 395. 50 Vgl. für eine solche Kritik beispielsweise Sebastian Rödl, »Reason and Nature, First and Second«, in: Gunnar Hindrichs; Axel Honneth (Hrsg.), Freiheit: Stuttgarter Hegel-Kongress 2011, S. 119–130. 51 Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart«, S. 191 f. 52 Vgl. beispielsweise Thompson, »Forms of nature: ›first‹, ›second‹, ›living‹, ›rational‹, and ›phronetic‹«, S. 703. 53 Ebd.

Kritischer Monismus

Besonderheit des Menschen tritt der »naiven Lösung« zufolge nicht erst mit dem Erwerb einer »zweiten Natur« auf, sondern bezeichnet einen Unterschied der »ersten Natur«. In anderen Worten: Mensch und Tier teilen keine gemeinsame »erste Natur«. Das Ansinnen, im Menschen seine tierischen Grundlagen aufzuspüren, wird von der »naiven Auffassung« als hoffnungslos aufgefasst. Der Mensch wird nicht erst zum Menschen, so als würden auf einer vitalen Grundlage geistige Kräfte entstehen, sondern er ist von Anfang an ein vom Tier unterschiedenes Wesen. Gemäß der »naiven Lösung« sind Kinder dementsprechend keine »bloßen Tiere«. Auch Kinder unterscheiden sich von Tieren, und zwar in dem Sinne, dass wir, wenn wir von Kindern sprechen, immer schon die Vernunft als wirksames Prinzip in ihrem Leben voraussetzen müssen. Einen rein biologischen Begriff des Menschen gibt es dieser Auffassung zufolge nicht. Diese Auffassung wurde beispielsweise von dem Biologen Alfred Portmann vertreten, der allerdings in den zeitgenössischen Vertretern der »naiven Lösung« nicht rezipiert wird. Portmann geht in seinen Forschungen davon aus, dass wir, wo immer wir vom Menschen sprechen, die Vernunft schon voraussetzen müssen – wir also nicht die Vernunft als etwas Sekundäres und Additives auffassen dürfen, das zu einer rein biologischen Seite des Menschen hinzutritt und diese transformiert. Portmann schreibt beispielsweise: »Wir müssen mit Nachdruck vom Standort des Biologen aus betonen, daß unser ganzes System die Eigenart des Menschlichen zeigt, daß es weder im Ablauf der Entwicklung noch in der Sozialwelt der Reifegestalt eine Etappe oder ein Teilstück gibt, das diese unsere Sonderart nicht klar erkennen ließe. […] Noch einmal sei daran gemahnt, daß der eigene System-Charakter des Lebewesens ›Mensch‹ in allen Stadien seiner Entwicklung ganz am Werke ist und daß im Werdegang des einzelnen nicht irgendwo spät erst der Geist erblüht – wenn auch noch so spät erst im individuellen Leben die Fähigkeit aufgeht, zu sagen und zu gestalten, was so früh schon in diesem Wesen Besonderes wirkt.«54

Auch wenn also die Eigenschaften, an denen wir das spezifisch »Geistige« des Menschen zu erkennen vermeinen, erst spät im Leben des Individuums sichtbar werden, so dürfen wir nicht davon ausgehen, dass erst zu diesem Zeitpunkt das Lebewesen, um das es geht, ein vernünftiges Lebewesen ist. Die Vernunft ist schon von Beginn an wirksam.

Adolf Portmann, »Die Biologie und das Phänomen des Geistigen«, in: ders., Biologie und Geist (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985), S. 11–49, hier: S. 29; Vgl. auch ders., Zoologie und das neue Bild des Menschen: Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen (Basel: Benno Schwabe & Co 1951), S. 59 f. 54

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Portmann erörtert die vielfältigen Unterschiede, die zwischen dem Menschen und den ihm am nächsten stehenden Verwandten von Geburt an bestehen, und argumentiert, dass diese Unterschiede nur im Hinblick auf die Vernunft des Menschen zu erfassen sind. 55 Aus der Fülle seiner Beobachtungen greife ich hier nur ein Beispiel heraus: das Gewicht. Wenn wir davon ausgehen, dass der Mensch sich langsam von einem »bloßen Tier« zu einem Vernunftwesen entwickelt – wie es die »anspruchsvolle Lösung« tut –, so müssen wir davon ausgehen, dass das Gewicht eines neugeborenen Menschen unabhängig davon betrachtet werden kann, dass er sich zu einem Vernunftwesen entwickeln wird. Im Sinne einer solchen »anspruchsvollen Lösung« schreibt beispielsweise Matthew Boyle in seiner Diskussion dessen, was ein Unterschied der Form bedeutet: »I take it that there is no fundamental difference between, say, talking about the weight of a plant and the weight of an animal, or between talking about the color of a plant’s leaves and the color of an animal’s fur.« 56

Boyle meint, dass es keinen grundlegenden Unterschied gibt zwischen der Aussage über das Gewicht einer Pflanze und einer Aussage über das Gewicht eines Tieres. Da Boyle argumentiert, dass der Unterschied zwischen Tier und Pflanze dem Unterschied zwischen Tier und Mensch analog ist, dürfen wir davon ausgehen, dass Boyle auch davon ausgeht, dass kein grundlegender Unterschied zwischen der Aussage über das Gewicht eines Tieres und der Aussage über das Gewicht des Menschen besteht. Nun ist dies in einem Sinne trivial: Wenn wir den Menschen, das Tier und die Pflanze gleichermaßen als Objekt unter Objekten auffassen, so können wir das Gewichtsmaß auch gleichermaßen auf alle drei Objekte anwenden. In einem anderen Sinne, so argumentieren nun aber Vertreter der »naiven Lösung«, besteht sehr wohl ein grundlegender Unterschied zwischen diesen drei Aussagen. Denn in jedem Fall können wir überhaupt nur dann eine Aussage über das Gewicht eines Lebewesens treffen, wenn wir schon unser Wissen um die Lebensform, der das entsprechende Lebewesen angehört, ins Spiel bringen. In diesem Sinne schreibt beispielsweise Michael Thompson: »Even such apparently purely physical judgments as that the organism starts here and ends here, or weighs this much, must involve a covert reference to something that goes beyond the individual, namely its life form.« 57 Vgl. auch ebd. Boyle, »Essentially Rational Animals«, S. 414. 57 Michael Thompson, »Apprehending Human Form«, in: Royal Institute of Philosophy Supplement 54 (2004), S. 47–74, hier: S. 52. 55 56

Kritischer Monismus

Wir können, so sagt Thompson hier, das Gewicht eines Menschen nicht so auffassen, als wäre es das Gewicht einer Pflanze. Das heißt: Wenn wir von dem Gewicht eines Menschen sprechen, dann müssen wir immer schon berücksichtigen, dass dieser Mensch ein vernünftiges Lebewesen ist. Wie ist das zu verstehen? Portmann weist darauf hin, dass, obwohl der neugeborene Mensch in vielerlei Hinsicht viel hilfloser ist als beispielsweise ein neugeborener Gorilla oder Schimpanse, er nicht – wie anzunehmen wäre – auch ein geringeres Geburtsgewicht aufweist als das Gorilla- oder Schimpansenjunge, sondern vielmehr wesentlich schwerer ist als diese. 58 Portmann argumentiert nun, dass dieser Unterschied in einem Zusammenhang steht mit dem Gewicht des Gehirns: Das höhere Geburtsgewicht des Menschen entspricht einem höheren Hirngewicht zur Geburt. Das Gehirn des Menschen sei bei Geburt etwa dreimal so schwer wie das Gehirn der nächsten lebenden Verwandten des Menschen. Das Körpergewicht des Menschen steht, so meint Portmann, in einem Zusammenhang mit dem Gehirngewicht des Menschen. Dabei lässt Portmann offen, inwieweit das Körper- und Hirngewicht in einem Zusammenhang stehen mit der Vernunft des Menschen. Was er aber betont, ist das Folgende: Der Mensch weist rein biologisch betrachtet schon von Geburt an spezifische Unterschiede zu seinen nächsten lebenden Verwandten auf und diese Unterschiede kann man nur dann richtig deuten, wenn man den Menschen von Beginn an als in einer Entwicklung begriffen auffasst, die sich spezifisch von der der großen Menschenaffen unterscheidet. Die »anspruchsvolle Lösung« unterscheidet sich von der »naiven Lösung« also darin, dass sie im Falle des Menschen das Leben sich langsam zu einem geistigen Leben entwickeln lässt, während die »naive Lösung« das Leben des Menschen als ein ursprünglich geistiges Leben auffasst. »Leben« und »Form« kommen für den Vertreter einer »naiven Lösung« also nicht nachträglich zueinander, sondern bilden eine ursprüngliche Einheit. Unterscheiden wir innerhalb transformativer Ansätze in diesem Sinne zwischen einer »anspruchsvollen« und einer »naiven Lösung«, so müssen wir Cassirer der naiven Lösung zuordnen. Auch Cassirer argumentiert, dass der Mensch von Beginn an ein vernünftiges Lebewesen ist. Wie genau ist diese ursprüngliche Einheit von »Leben« und »Form« zu verstehen? Dieses Verhältnis ist rätselhaft. Denn einerseits sind Leben und Form nicht identisch. Wir können zwischen dem, was »Form« ist, und dem, was »Leben« ist, unterscheiden. Dies sehen wir beispielsweise daran, dass wir zwischen Aussagen über Individuen »Dieses A ist/tut/hat F« und Aussagen über Le58

Vgl. Portmann, Zoologie und das neue Bild des Menschen, S. 44 ff.

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Die Selbsttransformation des Lebens

bensformen »A’s sind/tun/haben F« unterscheiden können. 59 Andererseits bilden Leben und Form gemäß der »naiven Auffassung« eine ursprüngliche Einheit und sind damit identisch. Wir begegnen hier wieder der Einheit, die Kant als synthetische Einheit bezeichnet: die Einheit eines Verschiedenen. In einer Notiz, die sich in den nachgelassenen Manuskripten findet, attestiert Cassirer der Philosophie des 19. Jahrhunderts eine »durchgehende Ratlosigkeit« gegenüber der Bedeutung des Formbegriffs. 60 Diese Ratlosigkeit führt er auf ein Dilemma zurück: »Überall scheint die einzige Lösung – den Formbegriff festzuhalten, aber damit wieder der Metaphysik zu verfallen oder ihn aufzugeben – sich aber damit zugleich den ›Zugang‹ zur Welt des Lebens u[nd] zur Welt der Geschichte zu verrammeln – Alle bedeutenden philos[ophischen] Denker des 19. Jahrhunderts standen vor diesem Dilemma.« 61

Das Dilemma besteht darin, dass wir einerseits an dem Begriff der Form festhalten müssen, um überhaupt den Begriff des Lebens bilden zu können, andererseits aber der »Form« auch keine räumlich-dingliche Existenz zuschreiben wollen, da sie dann als etwas Mysteriöses erscheinen würde, dass nur innerhalb einer rückständigen Metaphysik Geltung beanspruchen könnte. Ich erläutere dieses Dilemma in meinen Worten: Das eine Horn des Dilemmas besteht darin, dass wir den Begriff der »Form« benötigen, um erfassen zu können, was »Leben« ist. Vertreter der »naiven Lösung«, wie Michael Thompson, teilen diese Auffassung: In der Beschreibung des Lebens können wir auf den Begriff der Form nicht verzichten. 62 Dies bedeutet insbesondere, dass Leben nicht vollständig in kausal-mechanischen Begriffen erfassbar ist. Der Formbegriff erscheint also, in anderen Worten, im Kontext einer teleologischen Weltbetrachtung. Warum benötigen wir im Hinblick auf das Leben eine Teleologie? Im Hinblick auf das Leben, um eine knappe Zusammenfassung von Thompsons Argumentation zu geben, gilt der Grundsatz, dass gleiche Ursachen gleiche Wirkungen haben, nicht. Denn um die Wirkung einer »Ursache« auf einen Organismus zu bestimmen, müssen wir diesen selbst in seiner Eigenart in Betracht ziehen. Ein Organismus steht äußeren Einflüssen nicht nur passiv gegenüber, so wie der Asphalt gleichermaßen der Sonneneinstrahlung, der Feuchtigkeit oder der Wasserstoffbombe gegenübersteht, Vgl. zu einer ausführlichen Diskussion Michael Thompson, »The Representation of Life«, in: ders., Life and Action: Elementary Structures of Practice and Practical Thought (Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press 2008), S. 23–82. 60 Ernst Cassirer, Geschichte. Mythos, ECN 3, S. 68. 61 Ebd., S. 245. 62 Thompson, »The Representation of Life«; ders., »Apprehending Human Form. 59

Kritischer Monismus

sondern weist eine spezifische Aktivität auf, mit der er auf bestimmte äußere Einflüsse reagiert. 63 Wilhelm Roux unterscheidet in diesem Sinne neun verschiedene »Selbstleistungen« des Organismus: Selbstveränderung, Selbstausscheidung, Selbstaufnahme, Selbstassimilation, Selbstwachstum, Selbstbewegung, Selbstvermehrung, Selbstübertragung der Eigenschaften, Selbstgestaltung und Selbsterhaltung. 64 Damit drückt er aus, dass wir bestimmte Vorgänge danach unterscheiden müssen, ob sie im Hinblick auf Lebendiges auftreten oder im Hinblick auf Unbelebtes. Es ist, um ein Beispiel von Thompson aufzugreifen, etwas anderes zu sagen, dass Streifenhörnchen oder eine Kiefer wachsen, als zu sagen, dass ein Müllhaufen wächst. 65 Nun haben wir normalerweise keine Probleme damit, diese Unterschiede zu ziehen. Der Unterschied zwischen »Wachstum« und »Selbstwachstum«, »Bewegung« und »Selbstbewegung« ist leicht zu erfassen. Das bedeutet aber nicht, dass wir schon wissen, worin der Unterschied besteht. Der Gebrauch des Reflexivs ist nicht die Lösung des Problems, sondern Ausdruck desselben: »[…] the whole problem is already contained in the reflexive.« 66 Es ist naheliegend, diese »Selbstleistungen« des Organismus auf eine je spezifische »Anlage« zurückzuführen. Mit diesem Begriff, der auf ein typisches Geschehen verweist, haben wir aber bereits die Grenzen einer rein physisch-mechanistischen Erklärung verlassen. 67 Im Rahmen von kausal-mechanischen Erklärungen kann man sagen, dass y passieren wird, wenn x passieren wird, aber nichts darüber, ob x passieren wird. Eine Beschreibung des Lebens ist aber nur dann möglich, wenn wir nicht vollständig offenlassen, was passieren wird. Leben ist die Vorstellung eines Entwicklungsprozesses. Entwicklung ist kein zufälliger Prozess. Um Leben beschreiben zu können, müssen wir damit auf ein Prinzip zurückgreifen, das den Prozess des Lebens bestimmt. Dieses Prinzip ist die »Lebensform«. Das andere Horn des Dilemmas besteht darin, dass es rätselhaft ist, was »Form« eigentlich ist. Es scheint so, als wären wir mit der Anerkennung des Formbegriffs gezwungen, die Existenz von etwas anzunehmen, das außerhalb oder jenseits unserer Wirklichkeit besteht und auf diese einwirkt. Das Dilemma, von dem Cassirer spricht, entsteht dann, wenn man sich fragt, »wo« Vgl. Thompson, »The Representation of Life«, S. 40 ff. Zitiert nach Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit: Vierter Band. Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932). [1957], ECW 5, S. 221. 65 Thompson, »The Representation of Life«, S. 43. 66 Ebd., S. 45. 67 Vgl. auch Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit: Vierter Band, S. 220. 63 64

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die Form sei oder »wie« sie genau auf das Leben einwirken kann. Entweder, so scheint es, müssen wir eine übersinnliche Existenz annehmen oder aber auf den Formbegriff verzichten. Dieses Dilemma spüren auch die Vertreter der »naiven Lösung«. Es wäre falsch, so meint Thompson, das Verhältnis von »Leben« und »Form« als ein räumliches Verhältnis aufzufassen. In der Formulierung des zuletzt genannten Zitats: Dies wäre ein Verfall an die Metaphysik. »Form« ist nicht etwas, das neben oder über einem Lebewesen besteht. Er schreibt: »But each of these latter expressions [life-form; species; psuchē] carries a baggage of associated imagery – a picture to hold us captive, if you like. I mean: what do I have that ›he‹ lacks, and by which I am alive? Friends and countrymen? Or a ghost? Or perhaps, if we stress the ›form‹ in our preferred expression ›life-form‹, the thing will even be sought in a platonic heaven, or in the mind of God. Here the associated ideas are respectively of things to the right and left of me, or of something ›within‹ me, or of something somehow ›above‹. But all such images should be cast aside. I think our question should not be: What is a life-form, a species, a psuchē?, but: How is such a thing described?« 68

Keine Lebensform, so sagt Thompson hier, steht in einem räumlichen Verhältnis zu den Lebewesen, die diese Form instanziieren. Die Vorstellung, dass die Lebensform eines Individuums rechts oder links, neben oder über dem Individuum aufzufinden ist, das diese Lebensform instanziiert, können wir auch als eine Vorstellung explizieren, die der Lebensform eine eigenständige Existenz, eine Selbstständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber ihren Individuen zuschreibt. Wenn es so wäre, dann wären sowohl die Lebensform als auch das Individuum Teile der Wirklichkeit. Die Frage, wie ein Individuum zu seiner Lebensform kommt, wäre dann die Frage danach, wie zwei wirkliche Dinge zueinanderkommen können. Wenn Thompson sagt, dass die Lebensform eines Individuums nicht in einem räumlichen Verhältnis zu diesem Individuum steht, so will er meines Erachtens diese Vorstellung abweisen. Für die »naive Lösung« ist das Verhältnis zwischen Mensch und Lebensform kein dinglichontologisches Verhältnis. In dieser Auffassung können wir eine starke Parallele zu Cassirers Auffassung sehen. Auch Cassirer betont, dass wir das Verhältnis zwischen »Leben« und »Form« nicht als ein statisches Verhältnis auffassen dürfen. Die Beschreibungen dieses Verhältnisses dürfen »nicht der statischen Welt, der Welt der Dinge und Dingverhältnisse entlehnt sein« 69. Dies impliziert, dass wir auch nicht danach fragen können, wie die »Form« zum »Leben« hinzukommt: 68 69

Thompson, »The Representation of Life«, S. 62. Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart«, S. 205.

Kritischer Monismus

Denn ein »Hinzukommen« ist ein Verhältnis, das innerhalb der Dinge und Dingverhältnisse vorkommt. Cassirer macht dies explizit in folgendem Zitat deutlich: »So tief wir in das Reich des organischen Werdens hinabsteigen, und so hoch wir uns in das Reich des geistigen Schaffens erheben mögen: wir finden niemals jene beiden Subjekte und gleichsam jene beiden Substanzen, nach deren ›Harmonie‹, nach deren metaphysischem Zusammenhang hier gefragt wird. Wir treffen so wenig auf ein schlechthin formloses Leben, wie wir auf eine schlechthin leblose Form treffen. Die Trennung, die unser Gedanke zwischen beiden vollzieht, geht daher nicht auf zwei metaphysische Potenzen, deren jede ›für sich ist und für sich gedacht werden kann‹, sondern sie betrifft gewissermassen nur zwei Accente, die wir im Fluss des Werdens setzen. Das Werden ist seinem Wesen nach weder blosses Leben, noch blosse Form, sondern es ist Werden zur Form […].« 70

Das Verhältnis zwischen Leben und Form ist ein ursprüngliches Verhältnis. Dies gilt für die Pflanze, wie es für das Tier und für den Menschen gilt. Es gibt kein formloses Leben, so sagt Cassirer hier, und auch keine leblose Form. Leben und Form gibt es nur in- und miteinander. Gehen wir von dieser Auffassung aus, die meines Erachtens auch der »naiven Lösung« entspricht, so dreht sich also gleichsam die Frage um. Wir fragen nun nicht mehr danach, wie es möglich ist, dass die Vernunft zum Leben hinzukommt, sondern danach, wie es möglich ist, dass sich die Einheit von Leben und Form so in sich selbst differenzieren kann, dass das Leben sich selbst fragwürdig wird. Wie ist es möglich, dass die Einheit von Leben und Form eine innere Differenz aufweist? Das eigentlich Wunderliche besteht nicht darin, dass Leben und Form eine Einheit bilden, sondern in der Möglichkeit der Differenzierung von Leben und Form. Um diese wunderliche Einheit von Leben und Form zu bezeichnen, verwendet Cassirer den Begriff der dynamischen Form. 71 Eine dynamische Form enthält den Gegensatz von Werden und Sein in sich, allerdings nicht als absoluten Gegensatz, sondern als einen relativen – das heißt, als »Gegensätze des Sinnes und der Richtung der Auffassung«. 72 Cassirer ist der Auffassung, dass der Unterschied zwischen Leben und Form nicht »metaphysisch, sondern […] methodisch verstanden werden muss […]«. 73 Wir erinnern uns an den Gegensatz von Form und Materie, den Cassirer als eine »distinctio rationis« auffasst. 74 70 71 72 73 74

Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 15. Vgl. beispielsweise Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 238. Ebd. Vgl. dazu Cassirer, Geschichte. Mythos, S. 197. Vgl. oben, S. 53.

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Analog können wir sagen, dass auch der Unterschied zwischen Leben und Form für Cassirer eine »distinctio rationis« ist. Weder gibt es ein nacktes Leben, das vor und unabhängig von jeglicher Form bestehen würde, noch gibt es eine Form, die sich nicht im Leben verwirklicht. Der Grundfehler, den nach Cassirer die meisten Theorien machen, die sich mit dem Zusammenhang von Leben und Geist auseinandersetzen, besteht darin, dass sie annehmen, dass der Unterschied zwischen Leben und Geist ein metaphysischer Unterschied ist. Sie fixieren den Gegensatz von Leben und Form und vergegenständlichen ihn damit. 75 Damit verkennen sie, dass der Zusammenhang von Leben und Form kein Zusammenhang ist, der in Analogie zu einem Zusammenhang aufgefasst werden kann, der innerhalb der Wirklichkeit besteht. Dieses merkwürdige Verhältnis sui generis zwischen Leben und Form versucht Cassirer zu verdeutlichen, indem er den Begriff der »dynamischen Form« oder gelegentlich auch der »lebendigen Form« gebraucht. Er grenzt diesen Begriff von der Vorstellung einer »statischen Form« ab. Ein statischer Formbegriff versteht unter »Form« etwas Ewiges und Unveränderliches, das als solches dem Leben als dem sich Wandelnden gegenübersteht. Ich bin mir nicht sicher, ob Michael Thompson als Vertreter der »naiven Lösung« die Frage, wie es möglich ist, zwischen Leben und Form zu unterscheiden, wenn Leben und Form ursprünglich dasselbe sind, immer klar vor Augen hat. Thompson kann gelegentlich auch so gelesen werden, als würde er einen »statischen Formbegriff« vertreten. Wir können den Unterschied zwischen Cassirer und Thompson auch so ausdrücken: Während Thompson betont, dass es nur geformtes Leben gibt, wir also immer dann, wenn wir von Leben sprechen, schon den Formbegriff voraussetzen müssen, betont Cassirer zudem und darüber hinaus, dass es nur lebendige Formen gibt. Das heißt, dass wir überall da, wo wir von Form sprechen, schon das Leben voraussetzen müssen. »Form« ist also eher eine Tätigkeit als eine Substanz. Hier sind zwei Zitate, in denen Thompsons Darlegung so klingt, als würde er einen statischen Formbegriff vertreten, als würde er also unter »Form« etwas Ewiges und Unveränderliches verstehen, das als solches in einem absoluten Gegensatz zum Leben steht: »[…] to know what it is for a form, kind or ›species‹ of bird to be crested one need not attach any significance to the notion of its ceasing to be crested.« 76

75 76

Vgl. dazu auch Cassirer, Geschichte. Mythos, S. 212. Thompson, »The Representation of Life«, S. 66.

Kritischer Monismus

»Of any individual jelly here and now, you will speak in the usual temporal way. You will judge that it ›is‹ in some of these phases and ›has been‹ in another, and you might form the expectation that it ›will later on be‹ in another. But of umbrella jelly as a general kind, or form, of life, you will speak in the first instance completely atemporally.« 77

Man kann diese Zitate Thompsons so lesen, dass er hier das Ewige und Unveränderliche der Form gegenüber dem sich wandelnden, konkreten Leben abgrenzt. Immer dann, wenn man von solch einem statischen Formbegriff ausgeht, muss aber sofort die Frage aufkommen, wie es möglich ist, dass Leben und Form eine Einheit bilden. Es entsteht das Bild, das Thompson explizit ablehnt, nämlich das Bild, die »Form« sei irgendwo, neben oder über mir. Dies entspricht, so habe ich zu zeigen gesucht, nicht der Grundtendenz der »naiven Lösung«. Thompson täte gut daran, deutlicher zu machen, dass er seinen Erläuterungen keinen statischen Formbegriff zugrunde legt. Wenn es, wie Cassirer sagt, immer nur geformtes Leben und lebendige Formen gibt, dann gibt es zwischen Leben und Form keinen dinglich-ontologischen Unterschied. Der Unterschied zwischen Leben und Form ist kein Unterschied zwischen zwei selbst- und eigenständigen Einheiten. Was uns in der Wirklichkeit begegnet, ist immer nur die Einheit von Leben und Form. Der Unterschied zwischen Leben und Form und zwischen Tier und Mensch ist damit von anderer Art als ein Unterschied zwischen zwei Dingen oder Objekten, die in der Wirklichkeit vorkommen. Der Gegensatz zwischen Leben und Form, so sagten wir, ist vielmehr als »distincito rationis« zu verstehen. Der letzte Grund des Unterschieds, so können wir auch sagen, liegt im Denken, nicht in den Dingen. Die Position des »kritischen Monismus« impliziert damit, dass das Denken nicht den gegebenen Unterschied zwischen Leben und Form abbildet, sondern der Grund für diesen Unterschied ist. Der Unterschied zwischen Leben und Form liegt damit innerhalb der Vernunft, nicht außerhalb derselben. An anderer Stelle sagt Cassirer, dass das »eigentliche ›fundamentum divisionis‹ […] zuletzt nicht in den Dingen [liegt], sondern im Geiste«. 78 Cassirer argumentiert damit, dass der Unterschied zwischen Leben und Form und zwischen Mensch und Tier erst gewonnen werden muss – nicht in dem Sinne, dass es eine schwierige und langwierige Aufgabe wäre, einen gegebenen Unterschied zu enthüllen, sondern in dem Sinne, dass es eine langwierige Aufgabe ist, den Unterschied, der durch das Denken gesetzt wird, als solchen zu fixieren. Es ist nicht so, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier, so wie wir ihn heute kennen, auf einen Schlag gegeben ist. Dem heutigen 77 78

Thompson, »Apprehending Human Form«, S. 49. Cassirer, »Die Begriffsform im mythischen Denken«, S. 60.

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Bewusstsein der anthropologischen Differenz liegt eine lange kulturgeschichtliche Arbeit zugrunde. Eine erste Stufe dieser Entwicklung bezeichnet Cassirer als »Mythos« und schreibt: »Die Entwicklung des Mythos zeigt zunächst das eine mit besonderer Deutlichkeit: daß auch die allgemeinste Form des menschlichen Gattungsbewußtseins, daß auch die Art, in der der Mensch sich gegenüber der Gesamtheit der Lebensformen absondert, um sich mit seinesgleichen zu einer eigenen natürlichen ›Spezies‹ zusammenzuschließen, nicht von Anfang an als Ausgangspunkt der mythisch-religiösen Weltansicht gegeben, sondern nur als ein vermitteltes Ergebnis, als ein Resultat ebendieser Weltansicht zu verstehen ist.« 79

Die Bedingungen der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, so sagt Cassirer hier, liegen im »Mythos« beziehungsweise, allgemeiner formuliert, im Symbolgebrauch des Menschen. Der Symbolgebrauch ist die Bedingung der anthropologischen Differenz. Die anthropologische Differenz liegt damit logisch nicht vor dem Symbolgebrauch, sondern ist Resultat desselben. Möglicherweise können wir sogar einen ähnlichen Gedanken bei Thompson finden. An der Stelle, an der Thompson sagt, dass das Verhältnis zwischen Leben und Form kein räumliches Verhältnis ist, fügt er an, dass wir uns nicht fragen sollten, was eine Form ist, sondern wie sie beschrieben wird. 80 Damit verlegt Thompson den Unterschied zwischen Leben und Form in unsere Aussagen. Es handelt sich um einen Unterschied, der in unseren Aussagen anzutreffen ist. Diesen Gedanken führt Thompson allerdings nicht weiter aus. Verfolgen wir diesen Gedanken mit Cassirer weiter, so sehen wir, dass er das Folgende impliziert: Die Frage nach der anthropologischen Differenz richtet sich nicht auf einen Unterschied, der auch unabhängig von dieser Frage bestehen würde. Vielmehr ist die Frage nach der anthropologischen Differenz konstitutiv für die anthropologische Differenz. Theodor Litt formuliert diese Einsicht in außerordentlicher Prägnanz: »[D]ie geistige Operation, durch welche der Vergleich vollzogen wird, ist selbst die deutlichste Offenbarung des Unterschiedes, und zu ihr gehört unabtrennbar die Einsicht hinzu, dass sie dies ist. Das Bemerken des Unterschiedes und die Realisierung des Unterschiedes: beides ist ein und dasselbe.« 81

Die Frage nach der anthropologischen Differenz und die Realisierung der anthropologischen Differenz, so sagt Litt hier, sind ein und dasselbe.

79 80 81

Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, S. 209. Vgl. oben, S. 150. Litt, »Mensch und Tier«, S. 226.

Kritischer Monismus

Der »kritische Monismus« Cassirers unterscheidet sich damit sowohl von der »anspruchsvollen« als auch von der »naiven Lösung« darin, dass er die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier nicht als einen gegebenen Unterschied auffasst. Dies impliziert, dass der Mensch nicht einfach in die Reihe der organischen Lebewesen eingeordnet wird. Der Mensch erscheint nicht nur als ein Lebewesen, das in der Wirklichkeit vorkommt und sich als ein Wirkliches von anderen wirklichen Lebewesen unterscheidet, sondern gleichermaßen als Grund der anthropologischen Differenz. Andrea Kern drückt diesen Gedanken so aus, dass sie sagt, dass die menschliche Lebensform die grundlegende Lebensform sei. Sie ist grundlegend in dem Sinne, dass im Begriff der menschlichen Lebensform die Begriffe anderer Lebensformen enthalten sind. Sie schreibt: »Minded life is the logically fundamental form of life. Not in that one can think minded life without thinking vegetative life and animal life. On the contrary, it is logically prior in that the thinking of vegetative life and animal life is not the thinking of something other than minded life, but the thinking of limited forms of life that are contained in the concept of minded life. The concept of minded life is a concept that is not limited by other vital concepts that it excludes from itself, but rather contains these other concepts in itself.« 82

Dass der Mensch sich selbst denkt, so können wir auch sagen, impliziert, dass er das Tier denkt. Und immer dann, wenn er das Tier denkt, denkt er auch den Menschen. Der Unterschied zwischen Mensch und Tier ist kein Unterschied, der denkend erfasst wird, sondern der denkend entsteht. Wir können uns das auch so klarmachen: Wenn wir den Mensch-Tier-Vergleich durchführen, so sind wir gleichermaßen Subjekt und Objekt des Vergleichs. Dies ist die Bedingung dafür, dass überhaupt nach der anthropologischen Differenz gefragt werden kann. »Es ist ein Grundfehler vieler hierher gehörender Untersuchungen«, so sagt Theodor Litt, »[…] dass sie sich gar nicht die Frage vorlegen, unter welchen Bedingungen der Vergleich durchzuführen ist […].« 83

Denn wenn wir uns nicht die Frage vorlegen, unter welchen Bedingungen der Vergleich durchzuführen ist, dann kann es so scheinen, als wäre der Mensch einfach nur ein Wirkliches unter Wirklichem. Wenn wir den Menschen als ein Wirkliches unter Wirklichem auffassen, dann scheint es für die Durchführung des Vergleichs irrelevant zu sein, ob wir Pflanzen mit Tieren oder Tiere mit Andrea Kern, »Life and Mind: Varieties of Neo-Aristotelianism: Naive, Sophisticated, Hegelian«, in: Hegel Bulletin 2014 (2019), S. 1–21, hier: S. 14. 83 Litt, »Mensch und Tier«, S. 214. 82

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Menschen vergleichen. Wir gehen davon aus, dass wir in jedem Fall Objekte von derselben Art untersuchen, die wir auch auf dieselbe Art und Weise untersuchen können. So eine Herangehensweise zeichnet beispielsweise auch das Vorgehen von Matthew Boyle aus. Er geht davon aus, dass der Unterschied zwischen Tier und Mensch von derselben Art ist wie der Unterschied zwischen Pflanze und Tier. 84 Der Mensch erscheint als ein Lebewesen, das auf derselben Ebene steht wie Pflanze und Tier. Das heißt: Pflanze, Tier und Mensch sind gleichermaßen Arten des Lebens. Der Mensch ist eine besondere Lebensform, die neben anderen Lebensformen, wie der tierischen oder pflanzlichen, existiert. Diese Auffassung und Vorgehensweise sind aus einer bestimmten Perspektive heraus durchaus naheliegend. Denn es ist ja nicht so, dass der Mensch nicht ein Wirkliches unter Wirklichem wäre. Schließlich kenne ich mich selbst als ein Wirkliches mit dieser und jener Beschaffenheit und weiß auch, dass es neben mir noch andere Menschen gibt, die vergleichbare Eigenschaften haben. Ich kann mich selbst und andere Menschen als Objekt unter Objekten auffassen und sie vergleichend in den Blick nehmen. Den Menschen als ein Wirkliches unter Wirklichem zu betrachten, so meint Litt, ist »sicherlich eine der wichtigsten und der lockendsten Aufgaben« 85. Verlieren wir dabei aber aus dem Blick, dass der Mensch nicht nur das Objekt, sondern auch das Subjekt des Vergleichs ist, also derjenige, der den Vergleich durchführt, so entgeht uns, dass der Mensch der Reihe der Lebewesen nicht nur eingeordnet, sondern ihr auch in gewissem Sinne übergeordnet ist. Denn der Mensch ist derjenige, der als Vollstrecker des Vergleichs den Objekten, die in den Vergleich eingehen, gleichermaßen als Gegenposition zugeordnet ist. Wenn es so ist, dass der Symbolgebrauch der letzte Grund der anthropologischen Differenz ist, dann folgt daraus, dass nicht der Mensch Symbole aufnimmt, so als wären sie Instrumente, sondern dass die Bedingung des Menschseins der Symbolgebrauch ist. Überall dort, wo wir vom Menschen sprechen, müssen wir den Gebrauch von Symbolen voraussetzen. Eine Position, die sich selbst als kritisch-monistisch versteht, kann damit, so sagt Cassirer, nur eine funktionelle, keine substanzielle Definition des Menschen geben. Er schreibt: »The philosophy of symbolic forms starts from the presupposition that, if there is any definition of the nature or ›essence‹ of man, this definition can only be understood as a functional one, not a substantial one. We cannot define man by 84 85

Vgl. Boyle, »Essentially Rational Animals«, S. 17 ff. Litt, Einleitung in die Philosophie, S. 49.

Kritischer Monismus

any inherent principle which constitutes his metaphysical essence – nor can we define him by any inborn faculty or instinct that may be ascertained by empirical observation. Man’s outstanding characteristic, his distinguishing mark, is not his metaphysical or physical nature – but his work. It is this work, it is the system of human activities, which defines and determines the circle of ›humanity‹. Language, myth, religion, art, science, history are the constituents, the various sectors of this circle.«

Die Forderung nach einer funktionellen Definition des Menschen trägt der Einsicht Rechnung, dass das Leben ein Geschehen ist. Dieses Geschehen kann auf seine Prinzipien hin befragt werden. Was aber nicht möglich ist, ist die Gestalt, zu dem dieses Geschehen führen wird, im Voraus zu bestimmen. Der Mensch hat keine Lebensform, so als wäre er der passive Empfänger einer im Voraus gegebenen Bestimmung. Der Mensch gibt sich selbst seine Form und diese seine Form findet sich nur in seiner eigenen Tätigkeit.

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5. Individualität und Freiheit

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ie Auffassung des kritischen Monismus, die wir im letzten Kapitel besprochen haben, impliziert, dass der Mensch nicht einfach nur ein Teil der Wirklichkeit ist, sondern dass die Gestalt seiner selbst und der Welt das Resultat einer freien Tat ist. Das Thema dieses Kapitels ist diese Freiheit des Menschen. Wie ist sie zu verstehen und was sind ihre Bedingungen? In Kapitel 5.1 argumentiere ich, dass sich die Freiheit des Menschen in grundlegender Weise von der Variabilität unterscheidet, die die tierischen Lebensformen kennzeichnet. Diese Freiheit ist Ausdruck eines spezifischen Verhältnisses zwischen Individualität und Objektivität der menschlichen Lebensform. Die Lebensform des Menschen ist individuell und objektiv zugleich. Anhand der Sprache kann man sich dies sehr gut verdeutlichen. Kein sprachliches Zeichen ist rein subjektiv und kein sprachliches Zeichen ist rein objektiv. In der Sprache vollzieht sich eine eigentümliche Korrelation von Subjektivität und Objektivität. In Kapitel 5.2 frage ich daran anschließend, wie die Freiheit – bzw. das zuvor dargelegte spezifische Verhältnis zwischen Subjektivität und Objektivität innerhalb der menschlichen Lebensform – mit dem Gedanken der Entwicklung zusammenzudenken ist. Es zeigt sich, dass Freiheit und Entwicklung sich dann nicht ausschließen, wenn wir sehen, dass sich die menschliche Entwicklung von der eines Tieres unterscheidet, und zwar insofern, als sie sich nicht im Spannungsfeld zwischen biologischer und kultureller Vererbung erschöpft. In Kapitel 5.3 argumentiere ich, dass die Korrelation von Subjektivität und Objektivität in der menschlichen Lebensform die Vererbung erworbener Eigenschaften ermöglicht und dass der Mensch insofern ein geschichtliches Wesen ist. Abschließend zeige ich in Kapitel 5.4 die Grenzen auf, denen unsere Fragen nach der menschlichen Kultur unterliegen: Wie der Geist entsteht und wo sein Ursprung liegt, kann nicht mehr mit Sinn gestellt werden. Dies folgt aus der These von der Geistigkeit der Sinnlichkeit, die das Thema der vorliegenden Arbeit war.

5.1 Individualität und Objektivität der menschlichen Lebensform

Der Mensch lässt sich nicht so fassen, dass er einer gegebenen Wirklichkeit eingeordnet ist, die er in seinem Schaffen, sei es theoretischer, künstlerischer, sprachlicher oder religiöser Art erfasst, spiegelt und wiedergibt. Der Mensch vollzieht vielmehr eine »Gestaltung nicht sowohl der Welt als vielmehr eine

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Individualität und Freiheit

Gestaltung zur Welt, zu einem objektiven Sinnzusammenhang und einem objektiven Anschauungsganzen«. 1 Der Mensch formt und gestaltet also nicht ein gegebenes Material, sondern sein eigenes Dasein ist es, kraft dessen sich »Wirklichkeit« und »Ich« voneinander scheiden. Die Unterscheidung zwischen Mensch und Wirklichkeit liegt der menschlichen Tätigkeit damit nicht voraus, sondern ist das Ziel, zu dem sie hinstrebt: »[D]ie entscheidende Leistung jeder symbolischen Form [liegt] eben darin, daß sie die Grenze zwischen Ich und Wirklichkeit nicht als ein für allemal feststehende im voraus hat, sondern daß sie diese Grenze selbst erst setzt – und daß jede Grundform sie verschieden setzt.« 2

Die Unterscheidung zwischen Ich und Wirklichkeit ist, so meint Cassirer, als Aufgabe gegeben. Wie diese Aufgabe gelöst wird, ist nicht vorherbestimmt. Die menschliche Symboltätigkeit zeichnet sich durch Freiheit aus. Die Gestalt der Wirklichkeit und unserer selbst verdankt sich der »Freiheit des geistigen Tuns«. 3 Das Thema des folgenden Kapitels ist nicht, auf welche Art und Weise sich die Gestaltung zur Welt in den einzelnen symbolischen Formen vollzieht, sondern vielmehr, den hier zugrundeliegenden Gedanken herauszuarbeiten. Wie genau ist die Freiheit der Produktivität des Menschen zu verstehen? Hier sind verschiedene Formulierungen, die diese Freiheit der Produktivität beschreiben: Man kann sagen, dass die Gestalt der Welt sowohl als auch die Gestalt des Ich kein Schicksal ist, das dem Menschen von außen gegeben ist, sondern Resultat einer freien Tat. Man kann auch sagen, dass die Freiheit der Produktivität bedeutet, dass dem individuellen Sein und Tun eine selbstständige Bedeutung zukommt. Indem wir nach den Bedingungen dieser Freiheit des Menschen fragen, betrachten wir den Unterschied zwischen Mensch und Tier noch einmal aus einer anderen Perspektive und schließen an das Ergebnis des letzten Kapitels an: Der Mensch ist, anders als das Tier, nicht nur Teil der Wirklichkeit. Denn das Tier verfügt nicht über die Möglichkeit, sich selbst und die Welt zu gestalten. Diejenigen Theorien, die an dieser Stelle keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier sehen – die also auf der Grundannahme aufbauen, dass sich die Leistungen des Menschen nicht wesentlich von der der Tiere unterschei-

Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 9. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil, S. 182; Vgl. auch Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 122. 3 Ebd., S. 41. 1 2

Individualität und Objektivität der menschlichen Lebensform

den –, bezeichnet Cassirer als »Organologie«. 4 Wir können auch sagen, dass es sich um organische Modelle der menschlichen Kultur handelt. Organische Modelle gehen davon aus, dass die kulturelle Tätigkeit des Menschen sich auf das Leben von Tieren reduzieren lasse. Cassirers These ist demgegenüber, dass wir die Offenheit und Freiheit der menschlichen Produktivität nur dann richtig verstehen, wenn wir sehen, dass sie sich grundlegend von der Variabilität unterscheidet, die wir im Tierreich antreffen. Cassirer bezeichnet und benennt die zentrale Schwäche des organischen Modells an verschiedenen Stellen seines Werkes auf unterschiedliche Weise. In der Vorlesung über die »Grundprobleme der Kulturphilosophie« sagt er, dass »die Schranke jeder ›naturalistischen‹ Auffassung und Deutung des Kulturprozesses, die Schranke aller blossen ›Organologie‹« 5 darin bestehe, dass das organische Modell die spezifische Zeitlichkeit der menschlichen Lebensform, die sich von jedem Naturgeschehen unterscheide, nicht erfassen könne. In seinem Aufsatz »Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie« legt Cassirer hingegen nahe, dass das organische Modell das »Prinzip der Individualität« 6 nicht begreifen könne. Dabei handelt es sich um zwei Beschreibung derselben Schwäche. Das »Prinzip der Individualität« nicht zu erfassen, impliziert, die »spezifische Zeitlichkeit« der menschlichen Lebensform nicht zu erfassen. Und beides impliziert wiederrum die spezifische Freiheit der menschlichen Lebensform nicht begreifen zu können. Es ist also nicht so, dass Cassirer einmal das eine sagt und ein anderes Mal etwas anderes – sondern er sagt beide Male dasselbe auf unterschiedliche Weise. Den Unterschied zwischen einem organischen Modell der menschlichen Kultur und Cassirers Auffassung können wir durch folgende Fragen beispielhaft verdeutlichen: Produziert der Mensch »mit derselben Notwendigkeit Gedichte oder philosophische Systeme, wie die Seidenraupen ihre Puppen und die Bienen ihre Zellen hervorbringen?« Ist es ein »Irrtum zu glauben, daß die deutsche Kultur eine andere Gestalt gewonnen und einen anderen Lauf genommen hätte, wenn Goethe oder Beethoven in ihrer Kindheit gestorben wären«? 7 Ein organisches Modell der menschlichen Kultur würde beide Fragen affirmativ beantworten: Die Entwicklung der Kultur ist bestimmt durch Faktoren, die außerhalb der Sphäre des Individuellen liegen. Es sind beispielsweise klimatische Bedingungen, physische Anlagen oder Gesetze der Ver4

Ernst Cassirer, »Grundprobleme der Kulturphilosophie [1929]«, in: ECN 5, S. 3–28, hier:

S. 25. Ebd. Ernst Cassirer, »Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie [1939]«, in: ECW 22, S. 140–166, hier: S. 159 f. 7 Ebd. 5 6

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Individualität und Freiheit

erbung, die die Gestalt des Menschen bestimmen. Die »Spontaneität des Ich« ist dabei ausgeschaltet. 8 Cassirer verneint die zuletzt genannten Fragen. Der Mensch produziert nicht mit derselben Notwendigkeit Gedichte wie die Seidenraupe ihre Puppen und die deutsche Kultur wäre heute eine andere, wäre Goethe in seiner Kindheit gestorben. Die Freiheit des Menschen ist von der Variabilität, die wir im tierischen Leben antreffen, unterschieden. Wenn wir das menschliche Leben verstehen wollen, so müssen wir danach fragen, wie Individualität und persönliches Dasein möglich sind. Die Freiheit und Individualität des Menschen, so meint Cassirer, ist Ausdruck davon, dass beim Menschen im Gegensatz zum Tier »ein anderes Verhältnis des Allgemeinen und Besonderen« 9 herrscht. Dieses Verhältnis ist so zu charakterisieren, dass das Allgemeine nicht im Gegensatz zum Individuellen steht. Für den Menschen gilt, dass das Allgemeine individuell ist. 10 Dies ist eine rätselhafte Überlegung, die wir uns folgendermaßen verdeutlichen können: Das Verhältnis zwischen der Lebensform eines Tieres und dem individuellen Tier beschreibt Cassirer, indem er sagt, dass das Tier »nur Exemplar seiner Gattung« 11 sei. Das einzelne Tier bringt an seinem Teil die Gesetze der Lebensform zum Ausdruck. Es kann diese Gesetze aber selbst nicht verändern. Die Gesetzlichkeit seiner Lebensform bestimmt das individuelle Leben eines Tieres. Das bedeutet: Für das individuelle Tier gilt, dass es durch das Allgemeine (seine Lebensform) bestimmt ist, selbst aber seine Lebensform nicht bestimmen kann. Die Beschreibung einer animalischen Lebensform enthält dementsprechend keinen Verweis auf Individuen dieser Lebensform als Individuen. Wir beschreiben beispielsweise die Lebensform des Rotluchses, ohne auf irgendeinen spezifischen Rotluchs Bezug zu nehmen. Michael Thompson weist darauf hin, dass die typischen Naturdokumentationen über Tiere genau diesen Charakterzug aufweisen: Ebd., S. 150. Ernst Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion«, in: ECN 5, S. 105–200, hier: S. 135. 10 Dieses Prinzip, so meint Cassirer, sei in »Reinheit und Tiefe« von Humboldt erfasst worden. Was Humboldt in Reinheit und Tiefe erfasst habe, sei, dass im Hinblick auf den Menschen das Allgemeine individuell ist. Humboldts Werk steht, so sagt Cassirer, »im Zeichen einer großen Idee: im Zeichen eines allumfassenden Universalismus, der zugleich der reinste Individualismus sein und bleiben will«. Vgl. Cassirer, »Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie«, S. 158. 11 Cassirer, »Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion«, S. 135. 8 9

Individualität und Objektivität der menschlichen Lebensform

»Everyone is familiar with the characteristic discursive mood, as we might call it, of what was formerly called ›natural history‹ […]. We will see film footage depicting some particular bobcats, taken perhaps in the spring of 1977; the voiceover will include verbs and other predicates that were verified, as the film shows, in the activities, parts, and environment of the featured, or starring, individual bobcats. But the verbs and predicates we hear will not generally be combined with proper names or demonstrative expressions – words that, as we say ›make singular reference‹. It sound like this: ›When springtime comes, and the snow begins to melt, the female bobcat gives birth to two to four cubs. The mother nurses them for several weeks.‹ (Here perhaps we see and hear violent mountain streams, rioting birds, blossoming alpine flora, and, say, three predictably adorable cubs piled up against a perplexed but stoical mother – not just ›two to four‹ of them, but exactly three.) […] The filmed individuals themselves are rarely mentioned. Or if they are, it will be for example to give a sort of personal touch to the braodcast […] It is evidently irrelevant to the ends of this sort of employment of film that it might sometimes be a different bobcat family that is filmed later on in the summer. Why should the film-maker wait until next year if the original crop of cubs falls to distemper?« 12

Thompson sagt hier, dass Beschreibungen von animalischen Lebensformen allgemein gehalten sind. Es geht in ihnen nicht um einzelne individuelle Tiere, sondern um die Gattung. Einzelne individuelle Tiere können zwar als Beispiel und Bestätigung für das allgemeine Geschehen herangezogen werden, das individuelle Tier ist aber nur in dieser Funktion der Exemplifikation des Allgemeinen von Bedeutung. Jedes andere individuelle Tier kann im Prinzip dieselbe Funktion übernehmen. Deshalb ist es auch möglich, innerhalb ein und derselben Tierdokumentation verschiedene individuelle Tiere gegeneinander auszutauschen. Cassirer, der in dieser Hinsicht mit Thompson übereinstimmt, formuliert diesen Gedanken so, dass er sagt, »dass der genetische Gesichtspunkt […] hier immer und notwendig ein generischer Gesichtspunkt [ist.] Was die Individuen betrifft, so fallen sie aus dieser Betrachtungsweise notwendig heraus; wir wissen von ihnen nichts und brauchen von ihnen nichts zu wissen.« 13

Über die Lebensform eines Tieres Bescheid zu wissen, erfordert nicht, ein individuelles Tier der entsprechenden Lebensform zu kennen. Man kann allerhand über Rotluchse oder Wale wissen, ohne irgendetwas über einen individuellen Rotluchs oder Wal zu wissen. Thompson, »The Representation of Life«, S. 63 f. Ernst Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünfte Studie: Die ›Tragödie der Kultur‹ [1942]«, in: ECW 24, S. 462–486, hier: S. 484. 12 13

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Individualität und Freiheit

Das gilt nicht für den Menschen. Für die menschliche Lebensform, so können wir diesen Gedanken ausdrücken, spielen Individuen eine Rolle. Der Mensch ist nicht nur einfach Exemplar seiner Gattung. Schauen wir uns, ähnlich wie Thompson für das Leben des Tieres vorschlägt, Dokumentationen über das menschliche Leben an. Wie sind diese Dokumentationen aufgebaut? Ein Blick auf die Internetpräsenz der Dokumentationsreihe »Terra X« 14 zeigt beispielsweise die Titel folgender Sendungen an: »Ein Tag in Köln 1629 – Ein Tag im Leben der Hebamme Anna Stein«, »Ein Tag in Paris 1775 – Ein Tag im Leben des Perückenmachers Léonard Minet«, »Humboldt und die Neuentdeckung der Natur«, »John Franklin: Drama im ewigen Eis«, »Brot und Spiele: Wagenrennen im alten Rom«. Augenscheinlich nehmen Dokumentationen über den Menschen Bezug auf konkrete Individuen. Die Individuen fallen hier aus der Betrachtung nicht heraus. Auch hier dient das Individuum, wie in der Tierdokumentation, als Exemplifikation der Lebensform. Aber was bedeutet hier – in Bezug auf den Menschen – »Exemplifikation«? Die Figur Anna Stein ist fiktiv. Es hat eine »Anna Stein«, so wie sie in der genannten Dokumentation dargestellt wird, nie gegeben. Wir dürfen nicht annehmen, dass die Kunstfigur mit irgendeinem konkreten Einzelfall zur Deckung kommen würde. Zeigt uns die Kunstfigur vielleicht Eigenschaften und Merkmale, die wir an allen Menschen finden können, die 1629 in Köln gelebt haben? Mit Sicherheit nicht. Welchen Sinn und welche Bedeutung hat dann diese Kunstfigur? In der Dokumentation heißt es: »Eine Hebamme namens Anna Stein hat es nie gegeben. Aber ihre Geschichte steht für die vieler Geburtshelferinnen in Köln 1629.« 15 Anhand von Anna Stein sollen wir uns also etwas vergegenwärtigen können: die Situation von Geburtshelferinnen in Köln 1629. Uns interessieren dabei nicht einfach nur die reinen Fakten – also beispielsweise, wann welches Gesetz erlassen wurde –, sondern wir suchen gleichermaßen nach einer Möglichkeit, uns die beteiligten Akteure vorstellig zu machen. Unser Urteil über die Ereignisse ist nicht unabhängig von dieser Vorstellung der beteiligten Akteure. 16 Hinsichtlich der Tierdokumentationen sagt Michael Thompson in oben genanntem Zitat, dass die Darstellung von individuellen Tieren eine »sort of personal touch« darstelle. Man könnte nun meinen, dass auch die Kunstfigur Anna Stein einzig und allein deshalb erdacht wird, um der Dokumentation eine persönliche Note zu verleihen. Wenn ich Cassirer richtig verstehe, würde https://www.zdf.de/dokumentation/terra-x/; zuletzt geprüft am 15. 05. 2019. Das Zitat findet sich im Film bei Minute 42–43. 16 Vgl. auch Ernst Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology [1942/ 43]«, in: ECN 6, S. 344–635, hier: S. 196. 14 15

Individualität und Objektivität der menschlichen Lebensform

er erwidern, dass es nicht bloße Rührseligkeit ist, dass in Dokumentationen über die Lebensform Mensch Individuen dargestellt werden, sondern dass die Lebensform des Menschen nur kraft des Individuellen dargestellt werden kann. Wenn wir nach der Lebensform des Menschen fragen, können wir uns nicht mit der Beschreibung von Tatsachen zufriedengeben. Die Deutung der Tatsachen der Physik erschöpft sich in der Angabe ihrer zeitlichen, kausalen und räumlichen Ordnung. Die Deutung des menschlichen Lebens erfordert anderes. Sie erfordert, die Fakten der Geschichte als Manifestationen des Lebens zu erkennen. Cassirer sagt: »In history we regard all the works of man, and all his deeds, as precipitates of his life; and we wish to reconstitute them into this original state, we wish to understand and feel the life from which they are derived.« 17

Die Kunstfigur Anna Stein ist ein Versuch dieser »Wiederherstellung« des Originalzustands; der Versuch, die Vergangenheit wieder lebendig werden zu lassen. Es gibt eine Stelle, an der Cassirer die Schilderung des »Renaissancemenschen« durch Jacob Burckhardt diskutiert. Hier sagt er, dass es den »Renaissancemenschen«, so wie Burckhardt ihn darstellt, sicher nie gegeben habe. Wir fassen durchaus gegensätzliche Individuen gleichermaßen als »Renaissancemenschen« auf. Cassirer argumentiert, dass »Renaissancemensch« keine »Einheit des Seins« bezeichnet. Vielmehr handle es sich um einen »Sinnbegriff« 18. Er soll uns eine bestimmte Aufgabe verdeutlichen, die wir als den Sinn der Renaissance auffassen. Übertragen wir diese Argumentation auf die genannten Dokumentationen, so können wir sagen, dass die Kunstfigur »Anna Stein« uns eine Aufgabe verdeutlichen soll, die das 17. Jahrhundert vom 18. Jahrhundert unterscheidet. Es ist kein Zufall, dass es nicht nur eine Dokumentation gibt, sondern dass es neben dem »Tag im Leben der Hebamme Anna Stein« auch den »Tag im Leben des Perückenmachers Léonard Minet« und andere gibt. Anna Stein und Léonard Minet bilden einen Kontrast. Wir können es so formulieren: Dass in Tierdokumentationen die einzelnen Individuen aus der Betrachtung herausfallen, verweist uns darauf, dass das einzelne Tier seine Lebensform nicht beeinflusst. Die Variabilität zwischen verschiedenen Populationen wird durch Umstände erklärt, die nicht der individuellen Sphäre zugehören. Dass in Dokumentationen über den Menschen hingegen auf Individuen verwiesen wird und diese darüber hinaus teilweise auch fingiert werden, ist hingegen Anzeichen dafür, dass das menschliche 17 18

Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology«, S. 198. Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Dritte Studie«, S. 430.

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Individualität und Freiheit

Individuum auf seine Lebensform Einfluss nehmen kann und dementsprechend aus einer Darstellung dieser Lebensform auch nicht herausfallen kann. Die Lebensform des Menschen ist universell und individuell zugleich; das bedeutet, dass sie nicht vollständig in allgemeinen Sätzen ausgedrückt werden kann. Während wir zuvor sagten, dass wir eine Menge über Wale wissen können, ohne etwas über irgendeinen individuellen Wal zu wissen, so gilt für die Lebensform des Menschen demgegenüber, dass wir nur etwas über den Menschen wissen können, wenn wir etwas über einen individuellen Menschen wissen. Dabei wäre es »Rührseligkeit«, würden wir annehmen, dass es in der Darstellung von Individuen um die Individuen selbst geht. Dies ist sofort offensichtlich, wenn wir eine Kunstfigur wie »Anna Stein« betrachten. Wenn es Anna Stein nicht gegeben hat, kann es auch nicht um das Individuum Anna Stein gehen. Dasselbe gilt aber auch für Humboldt. Die erwähnte Dokumentation »Humboldt und die Neuentdeckung der Natur« beschäftigt sich nicht mit dem Individuum an sich, sondern nur insofern, als dieses Individuum eine bestimmte Bedeutung für die Entwicklung der Kultur des Menschen hat und damit auch unmittelbar für uns selbst. So heißt es auch gleich zu Beginn der Dokumentation über Alexander von Humboldt: »Seine Entdeckungen prägen bis heute unser Weltverständnis.« 19 Das Interesse an der Vergangenheit entspringt der Gegenwart. Die Geschichtsschreibung gibt Antworten auf Fragen, die die Gegenwart an uns richtet. 20 Die Bedeutung des Individuellen für die Lebensform des Menschen ist die Einsicht, die Cassirer in »Reinheit und Tiefe« bei Wilhelm von Humboldt ausgearbeitet sieht. Der Unterschied zwischen dem Menschlich-Allgemeinen und dem Tierisch-Allgemeinen ist, dass das Menschlich-Allgemeine individuell-allgemein ist. Humboldts Werk steht, so sagt Cassirer, »im Zeichen einer großen Idee: im Zeichen eines allumfassenden Universalismus, der zugleich der reinste Individualismus sein und bleiben will«. 21 Wenn die Lebensform des Menschen individuell-allgemein ist, dann ist verständlich, warum der Mensch, obwohl er als Lebewesen ebenso durch seine Lebensform bestimmt ist wie alle anderen Tiere, nichtsdestotrotz in seinem Handeln und Tun eine Freiheit aufweist, die von der des Tieres unterschieden ist. Der Mensch produziert nicht mit derselben Notwendigkeit Gedichte wie die Seidenraupe ihre Puppen, weil das Allgemeine, das ihn bestimmt, zugleich individuell ist. Das Zitat findet sich in Minute eins. Vgl. dazu auch Cassirer, »An Essay on Man. A Philosophical Anthropology«, S. 192. 21 Cassirer, »Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie«, S. 156. 19 20

Individualität und Objektivität der menschlichen Lebensform

Nun ist mit dieser »großen Idee« eines Universalismus, der zugleich Individualismus sein will, ein Rätsel gestellt. Wie ist es zu verstehen, dass das Allgemeine nicht im Gegensatz zum Individuellen steht, sondern beides – Allgemeines und Individuelles – dasselbe sein wollen? Wie kann zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen unterschieden werden, wenn beides dasselbe ist? Für Humboldt – und für Cassirer – verliert dieses Rätsel seine Rätselhaftigkeit, wenn wir uns klarmachen, dass sich diese Vereinigung und Trennung vom Allgemeinen und Individuellen in der Sprache vollzieht: »Hier erst zeigt sich daher nach Humboldt jenes Ideal eines Konkret-Allgemeinen, mit welchem die gesamte nachkantische Spekulation ringt, wahrhaft erreicht: Hier ist ein Allgemeines, das nicht willkürlich in der begrifflichen Reflexion ersonnen wird, sondern das sich in der individuellen geistigen Entwicklung selbst als ihr immanentes Ziel und zugleich als ihre treibende geistige Kraft darstellt.« 22

Die Sprache ist beides, sie ist individuell und allgemein. Die Sprache ist sowohl Ziel der individuellen Entwicklung als auch ihre treibende Kraft. Die Sprache offenbart uns sowohl Möglichkeit als auch Notwendigkeit »der Durchbrechung der individuellen Schranke« 23, das heißt die Möglichkeit, dass das Individuelle allgemein wird. Sprache ist niemals bloß allgemein noch bloß individuell, sie ist beides. Die Sprache – oder allgemeiner: der Symbolgebrauch – ist die Bedingung dafür, dass der Mensch ein Bewusstsein seines Ich sowie ein Bewusstsein der Wirklichkeit hat. Im Symbol vereinen sich Subjektivität und Objektivität, um sich gleichzeitig voneinander zu scheiden. 24 Denn das gesprochene Wort ist einerseits vom Individuum hervorgebracht, andererseits steht es als etwas Objektives in der Wirklichkeit. Das gesprochene Wort ordnen wir damit sowohl dem »Inneren« als auch dem »Äußeren« zu. Die subjektive und die objektive Dimension des Symbols sind dabei nicht zwei Teilbereiche, die sich im Symbol aneinanderfügen, sondern sie bilden im Symbol eine Einheit. Die Sprache ist, so argumentiert Cassirer, niemals Ausdruck von etwas rein Subjektivem noch Ausdruck von etwas rein Objektivem. Er schreibt: »Denn durch sie [die Sprache] wird weder ein einseitig Subjektives noch ein einseitig Objektives bezeichnet und zum Ausdruck gebracht, sondern es tritt in

22

Cassirer, »Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie«,

S. 119. 23 24

Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Erste Studie«, S. 15. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil, S. 22 f.

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Individualität und Freiheit

ihr eine neue Vermittlung, eine eigentümlich Wechselbestimmung zwischen beiden Faktoren ein.« 25

Wir können also aus der Sprache nicht einfach die »subjektive Komponente« entfernen, denn sie ist mit der »objektiven Komponente« verwoben. Diese »eigentümliche Wechselbestimmung« des Subjektiven und Objektiven illustriert Karl Bühler folgendermaßen: »Was kümmert sich der reine Logiker um die Ausdrucksvalenzen der Zeichen, die er mit Kreide auf die Tafel malt? Er soll sich auch gar nicht darum kümmern; und doch würde vielleicht an dem und jenem Kreidestrich oder am Duktus der ganzen Zeilen ein geübter Graphologe seine Freude haben und seine Deutekunst nicht vergebens bemühen. Denn ein Rest von Ausdruck steckt auch in den Kreidestrichen noch, die ein Logiker oder Mathematiker an die Wandtafel malt. Man muß also nicht erst zum Lyriker gehen, um die Ausdrucksfunktion als solche zu entdecken; nur freilich wird die Ausbeute beim Lyriker reicher sein.« 26

Bühler sagt hier – und ich denke, es ist vollkommen im Sinne Cassirers – dass sprachliche Zeichen niemals rein objektiv sind. Er fügt im Anschluss an dieses Zitat direkt an, dass sprachliche Zeichen auch niemals rein subjektiv sind. Auch der Lyriker bringt nicht nur Subjektives zum Ausdruck. 27 Im letzten Kapitel haben wir gesagt, dass die zentrale Frage nicht ist, wie Leben und Form zusammenkommen, sondern wir zwischen beiden unterschieden werden kann. An dieser Stelle sehen wir, dass die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen Leben und Form die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen Individuellem und Allgemeinem impliziert. Das Symbol ist sowohl Einheit als auch Differenz von Subjektivität und Objektivität.

Ebd., S. 24. Karl Bühler, Sprachtheorie: Die Darstellungsfunktion der Sprache (Stuttgart: Lucius & Lucius 1999), S. 32. 27 Auch an dieser Stelle besteht eine Übereinstimmung zwischen Cassirer und Bühler. Zum Verhältnis von Subjektivität und Objektivität in der Kunst schreibt Cassirer: »The lyric poet is not just a man who indulges in displays of feeling. To be swayed by emotion alone is sentimentality, not art. An artist who is absorbed not in the contemplation and creation of forms but rather in his own pleasure or in his enjoyment of ›the joy of grief‹ becomes a sentimentalist. Hence we can hardly ascribe to a lyric art a more subjective character than to all the other forms of art. For it contains the same sort of embodiment, and the same process of objectification.« Cassirer, Essay on Man, S. 154–155. 25 26

Entwicklung

5.2 Entwicklung

Wir haben im Vorstehenden gesehen, dass der individuelle Mensch im Gegensatz zum Tier Einfluss auf seine Lebensform nehmen kann. Er ist, in anderen Worten, im Gegensatz zum Tier frei. Wie ist dieser Gedanke der Freiheit mit Entwicklung zusammen zu denken? 28 Die Entwicklung eines menschlichen Individuums muss anders verlaufen als die des individuellen Tieres, wenn der Mensch durch seine Lebensform nicht einfach nur bestimmt wird, sondern selbst auch Einfluss auf seine Lebensform nimmt. Die Entwicklung eines individuellen Lebewesens bis zu seiner adulten Form bezeichnet man als Ontogenese. Alle Organismen sind darauf angewiesen, dass die Umwelt, in die sie hineingeboren werden, bestimmten Bedingungen genügt, damit sie überleben und sich artgerecht entwickeln können. Für den Menschen gehört zu diesen Bedingungen, dass er in eine kulturelle Umwelt hineingeboren wird. In diesem Sinne schreibt Michael Tomasello: »Organismen erben ihre Umwelten so, wie sie ihr Genom erben. Das kann nicht genug betont werden. Fische sind dazu geschaffen, sich im Wasser zu bewegen, Ameisen sind dazu geschaffen, in Ameisenhaufen zu leben. Menschen sind dazu geschaffen, in einer bestimmten Art von sozialer Umwelt zu leben, und ohne eine solche würden die Jungen (vorausgesetzt, man könnte sie am Leben halten) sich weder sozial noch kognitiv normal entwickeln. Diese bestimmte Art sozialer Umwelt ist es, was wir Kultur nennen, und es ist einfach die arttypische und einzigartige ›ontogenetische Nische‹ für die Entwicklung des Menschen.« 29

Dieses Zitat von Tomasello kann man so lesen: Was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist, dass er in eine kulturelle Umwelt hineingeboren wird und diese kulturelle Umwelt unterscheidet sich von der sozialen Umwelt der Tiere – beispielsweise von Ameisenhaufen – auf eine Weise, die noch näher expliziert werden müsste. Worin sich aber die kulturelle Umwelt des Menschen nicht von der des Tieres unterscheidet, ist die Art der Vererbung. Tomasello legt nahe, dass Menschen ihre kulturelle Umwelt genauso erben wie Tiere ihre soziale Umwelt und dies wiederum ist vergleichbar mit der Vererbung eines Genoms. Diesem Zitat liegt die These der »dualen Vererbung« zugrunde, die

Gerald Hartung, »Critical Monism. Ernst Cassirers sprachtheoretische Grundlegung der Kulturphilosophie«, in: Birgit Recki (Hrsg.), Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens: Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert (Hamburg: Meiner 2012), S. 359–376, hier: S. 359. 29 Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens: Zur Evolution der Kognition (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009), S. 105. 28

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Tomasello an anderer Stelle expliziert. 30 Die These von der dualen Vererbung besagt, dass die Entwicklung individueller Lebewesen sowohl von der biologischen als auch der kulturellen Erbschaft ihrer Vorfahren abhängig ist. Cassirers Auffassung steht im Widerspruch dazu. Die Entwicklung des Kindes, so verstehe ich Cassirer und so kann man es in Anschluss an die Formulierung Tomasellos ausdrücken, erschöpft sich nicht in dem Spannungsfeld zwischen biologischer und kultureller Vererbung. Die Theorie der dualen Vererbung reicht nicht aus, um die Entwicklung des Kindes zu beschreiben. Beide Formen der Vererbung verweisen auf die Abhängigkeit des menschlichen Individuums und seine Stellung als Empfänger. Sie erfassen damit nicht die spezifische Form der Aktivität des Individuums, die erforderlich ist, damit so etwas wie »Kultur« bestehen kann. Die Entwicklung des Kindes ist unzureichend beschrieben, wenn vor allem darauf verwiesen wird, was ihm gegeben wird. In seiner Entwicklung ist das Kind von bestimmten Faktoren abhängig, aber diese Abhängigkeit ist nur dann richtig verstanden, wenn sie nicht als Gegensatz zur Freiheit und Selbsttätigkeit des Kindes verstanden wird, sondern als Bedingung der Möglichkeit ebendieser Freiheit. Abhängigkeit und Freiheit schließen sich in der Entwicklung des Kindes nicht aus. Wir beginnen mit der Überlegung, dass die Aktivität und Selbsttätigkeit des Individuums zu betonen, nicht bedeutet, seine Abhängigkeit zu leugnen. Wie auch Tomasello in dem zuvor genannten Zitat expliziert, ist die arttypische Entwicklung des Kindes daran gebunden, dass es in eine kulturelle Umwelt hineingeboren wird, und damit daran, dass ihm etwas gegeben wird. Wenn wir im Folgenden die Aktivität und Selbsttätigkeit des Kindes verstehen wollen, so bedeutet das nicht, dass wir seine Abhängigkeit von gegebenen Umständen leugnen werden. In diesem Sinne schreibt Cassirer: »Auch das menschl[iche] Individuum wird in eine Welt von Formen hineingeboren – die genau so streng und bestimmt sind, wie es die körperlich-morphologische Struktur ist […]« 31

Die kulturelle Welt, in die der junge Mensch hineingeboren wird, ist eine Welt, die er nicht selbst geschaffen hat. Sprache, Religion, Kunst etc. sind vor ihm da. Kein Kind sucht sich aus, zu welcher Zeit und an welchem Ort es geboren wird. Die kulturellen Umstände, in die es gerät, sind bestimmend für den Erwachsenen, zu dem das Kind heranreift. In diesem Sinne ist das Leben sowohl des Menschen als auch des Tieres an bestimmte Bedingungen gebunden. Vergleichen wir den Erwerb des Gesangs 30 31

Ebd., S. 26. Cassirer, Kulturphilosophie: Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, S. 135.

Entwicklung

des Vogels mit dem Spracherwerb des Kindes, so scheinen beide Prozesse unter diesem Gesichtspunkt eine Parallele aufzuweisen: Sowohl der Vogel als auch das Kind sind abhängig davon, dass sie in eine spezifische Umwelt hineingeboren werden, in eine Umwelt also, in der gesungen bzw. gesprochen wird. Ein Vogel lernt das Singen, indem er den Gesang seiner Artgenossen hört. Kein Kind erfindet die Sprache. Zudem können weder Vogel noch Kind sich dem Erwerb der Fähigkeit entziehen. Sie lernen zu singen bzw. zu sprechen, ohne dass sie diesem Prozess entgehen könnten. Diese Abhängigkeit des Kindes von der sozialen Umgebung, in die es hineingeboren wird, entspricht innerhalb der »Theorie der dualen Vererbung«, die Tomasello vertritt, der Seite der »kulturellen Vererbung«. Tomasello betont, dass der Aspekt der kulturellen Vererbung nicht überbetont werden kann. Das Kind entwickelt sich nicht aus sich selbst heraus zu einem sprechenden, denkenden und intentionalen Erwachsenen, sondern bedarf dafür einer entsprechenden Umwelt. Tomasello schreibt: »Ein Kind, das auf einer einsamen Insel ohne menschliche Gefährten aufwüchse, würde nicht, wie Rousseau es sich vorstellte, zu einem ›natürlichen‹ Menschen, frei von gesellschaftlichen Zwängen werden, sondern würde vielmehr im Sinne von Geertz zu einer Art Monster werden, zu etwas anderem als einem wirklich menschlichen, intentional und moralisch Handelnden.« 32

Ohne eine entsprechende Umwelt, so argumentiert Tomasello, entwickelt sich das Kind gar nicht zu einem normalen Menschen. Es ist darauf angewiesen, dass es in eine ihm entsprechende soziale Umwelt hineingeboren wird. Fokussieren wir uns auf diese Seite des Spracherwerbs, also auf die Tatsache, dass ein Kind nur dann sprechen lernen kann, wenn es in eine Gemeinschaft hineingeboren wird, die spricht, so ist es naheliegend, den Spracherwerb als »Übernahme«, »Vermittlung«, »Wiedergabe« oder »Nachbildung« zu bezeichnen, wie es beispielsweise Charles Taylor tut: »Das erste offenkundige Faktum ist der Umstand, daß Kinder nur dadurch zu Sprechern werden können, daß man ihnen die Sprache beibringt. Das heißt, sie müssen die Sprache von einer Gemeinschaft oder Familie, die sich um sie kümmert, übernehmen, also von einer Gemeinschaft, deren Angehörige miteinander und mit den Kindern reden.« 33 Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 270. Charles Taylor, Das sprachbegabte Tier: Grundzüge des menschlichen Sprachvermögens (Berlin: Suhrkamp 2017), S. 104 Als »Vermittlung« bezeichnet Taylor den Spracherwerb an folgender Stelle: »Aber der aus der Betrachtung der Ontogenese der Sprache hervorgehende Grundgedanke lautet, daß die Sprache nur im Rahmen von Beziehungen geteilter emotionaler Bindungen vermittelt werden kann – man könnte auch von einem Rahmen der ›Gemein32 33

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Individualität und Freiheit

Taylor legt an dieser Stelle nahe, dass der Spracherwerb darin besteht, dass dem Kind irgendetwas Bestehendes übermittelt wird. Die zugrundeliegende Vorstellung ist, dass wir eine Trennlinie ziehen können zwischen einem vorsprachlichen und einem sprachlichen Kind und dass dieser Übergang von Vorsprachlichkeit zur Sprachlichkeit in dem Erwerb von etwas besteht, das unabhängig vom Kind gegeben ist. Im letzten Kapitel haben wir im Hinblick auf transformative Theorien der menschlichen Vernunft zwischen der »anspruchsvollen« und der »naiven« Variante unterschieden. Taylors Auffassung weist eine starke Parallele zur »anspruchsvollen« Variante auf. Das Kind wird demgemäß im Laufe der Sozialisation in seine Lebensform eingeführt. Diese Auffassung ist weit verbreitet und sie hat in dem Gedanken des Spracherwerbs, wie Taylor ihn vertritt, einen starken Fürsprecher. Denn es ist ja offensichtlich, dass Kinder nicht sprechend geboren werden. Schauen wir uns den Gedanken, dass der Spracherwerb in der »Übernahme« oder »Wiedergabe« von etwas Bestehendem besteht, genauer an. Das Kind wird hier als jemand aufgefasst, dem etwas gegeben wird. Aber die implizierte Passivität des Kindes ist nur relativ. Niemand würde behaupten wollen, dass es keinerlei Voraussetzungen auf Seiten des Kindes bedarf, um eine Sprache zu erwerben. Alle Versuche beispielsweise, einem Schimpansen eine Sprache beizubringen, führten nicht zu dem gewünschten Erfolg. 34 Es ist nun naheliegend anzunehmen, dass das Kind eine bestimmte Anlage mitbringt, die es befähigt, eine Sprache zu erwerben. Wenn wir diesem Gedanken folgen, fragen wir uns, worin genau diese Anlage bestehen könnte, über die das Kind verfügt, der Schimpanse aber nicht, und die es ihm ermöglicht, Sprache zu erwerben. Wir wenden uns damit der »biologischen Vererbung« zu, die innerhalb der Theorie der dualen Vererbung neben der »kulturellen Vererbung« steht. Der Gedanke ist der folgende: Dass das Kind in der Lage ist, Sprache zu erwerben, der Schimpanse aber nicht, muss in etwas liegen, dass es »mitbringt«, das also in ihm selbst liegt und ihn vom Schimpansen unterscheidet. Tomasello weist darauf hin, dass Mensch und Schimpanse ungefähr 99 Prozent ihres genetischen Materials teilen. 35 Es ist vor dem Hintergrund dieser großen Übereinstimmung durchaus rätselhaft, worin genau dieser Unterschied besteht, der es dem Kind ermöglicht, Sprache zu erwerben. Die Bedeutung der »biologischen Vererbung« wird aber auch überall da deutlich, wo Kinder zwar in eine entsprechende soziale Umgebung schaft‹ sprechen.« Vgl. ebd. S. 110. Zu »Wiedergabe« und »Nachbildung« vgl.: »Von Anfang an versucht das Kind, das Wort wiederzugeben, das an es gerichtet wird. Es bemüht sich, ›unser‹ Wort beziehungsweise ›das‹ Wort nachzubilden.« Ebd., S. 118. 34 Vgl. beispielsweise Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, S. 46. 35 Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 14.

Entwicklung

hineingeboren werden, trotzdem aber Schwierigkeiten haben, Sprache im vollumfänglichen Sinn zu erlernen, wie es beispielsweise bei Autismus vorkommen kann. 36 Unabhängig davon, wie genau dasjenige zu bestimmen ist, was auf biologischer Seite den Spracherwerb ermöglicht, besagt die Theorie der dualen Vererbung, dass weder allein die biologischen Faktoren, die das Kind mitbringt, noch allein die kulturellen Faktoren, in die das Kind hineingeborenen wird, für sich ausreichen, damit der Spracherwerb stattfindet. Immer bedarf es beider Komponenten, damit das Resultat der Entwicklung ein sprechender Mensch ist. In diesem Sinne kann man die Theorie der dualen Vererbung als eine Theorie lesen, die innerhalb der »Nature-vs.-nurture«-Debatte zwischen den beiden konkurrierenden Standpunkten vermittelt. Weder ist es die »Natur«, also die biologische Erbmasse, noch ist es die »Erziehung«, die allein für die Entwicklung eines Kindes bestimmend ist. Cassirers Standpunkt, so sagte ich zuvor, besteht meiner Interpretation zufolge darin, dass die Theorie der dualen Vererbung die Möglichkeit der Kultur, also die menschliche Entwicklung, nicht adäquat beschreibt. Was der Theorie der dualen Vererbung zugrunde liegt, ist die Vorstellung, dass hier das Kind ist und dort die Sprache. Was sie erklären möchte, ist, wie Kind und Sprache zueinanderkommen. Cassirer meint, dass wir dadurch dem »Faktum der Kultur« nicht gerecht werden. 37 Diese Auffassung ist zunächst rätselhaft, denn – so hielten wir bereits fest – ein Kind wird ja nicht sprechend geboren. Ist es unter diesem Gesichtspunkt nicht klar, dass das Kind und die Sprache irgendwie zusammenkommen müssen? Der Haupteinwand gegen die Theorie der dualen Vererbung besteht meines Erachtens darin, dass die Theorie der dualen Vererbung die spezifische Freiheit und Offenheit der menschlichen Lebensform, die wir im vorhergehenden Unterkapitel besprochen haben, nicht erfassen kann. Die Theorie der dualen Vererbung ist die Variante eines organischen Modells der menschlichen Kultur. Sie geht davon aus, dass zwischen der Entwicklung des Kindes und der eines Tieres der Art nach kein Unterschied besteht. Cassirer bezieht sich in seiner Kritik der Organologie auch auf Theodor Litt und stellt fest, dass Theodor Litt »eine besonders klare und treffende methodische Kritik an den Grundgedanken der organologischen Metaphysik« 38 formuliert habe. Schauen wir uns also die Argumentation von Litt etwas genauer an. Ebd., S. 270. Vgl. Cassirer, »Grundprobleme der Kulturphilosophie«, S. 13. 38 Cassirer, »Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie«, S. 144. 36 37

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Litts Kritik zentriert sich um den Begriff der »Anlage«. Er betont, dass das, was wir unter der »biologischen Vererbung« verhandelt haben, also die »Anlage« eines Kindes, sich in grundlegender Weise von der »Anlage« eines Tieres unterscheidet. 39 Denken wir uns die »Anlage« des Menschen analog zu der eines Tieres, so gehen wir davon aus, dass der Entwicklung des menschlichen Individuums enge Grenzen gesetzt sind. Wir denken es »mit Eigenschaften und Funktionen, bzw. Funktionsmöglichkeiten ausgestattet, die in sich und aus sich bereits so eindeutig charakterisiert und gerichtet sind, daß sie in ihrer Gesamtheit ihrem Träger ein völlig klares Relief, eine ganz bestimmte Gesamtverfassung geben«. 40

Nehmen wir also an, dass die »Anlage« eines Menschen der eines Tieres entspreche, so nehmen wir an, dass die Entwicklung des menschlichen Individuums klar vorgezeichnet ist. Demgegenüber erscheint dann das, was dem Kind von außen gegeben wird, also seine »kulturelle Vererbung«, als auslösender Reiz. Litt argumentiert, dass diese Annahme der Vorzeichnung des Entwicklungsweges nicht auf die Entwicklung eines Kindes zutrifft. 41 Wir können das »Relief« des Menschen, seine »Gesamtverfassung«, nicht im Vorfeld vorhersehen. Wir sehen das beispielsweise daran, dass ein Kind alle möglichen Sprachen erwerben kann. In der »Anlage« des Kindes ist nicht vorgezeichnet, welche Sprache es erwerben wird. Im Hinblick auf das Kind widerspricht der Gedanke der »Anlage« dem Gedanken nicht, dass die möglichen Weisen ihrer Verwirklichung unbegrenzt sind. Das bedeutet nicht, dass aus der Anlage alles werden kann. Aber es bedeutet, dass aus der Anlage unendlich viel werden kann. In der Abgelöstheit von den konkreten Umständen, in die ein Kind hineingeboren wird, ist die Anlage eines Kindes, so meint Litt, nichts anderes als eine gedachte grenzenlose Möglichkeit. 42 Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen »Anlage« und »Umwelt« führt Theodor Litt an, dass »die »Anlage« […] in Bezug auf die Beschaffenheit des ihr in der Begegnung Nahetretenden nichts weiter als dies eine postuliert, daß es überhaupt der inneren Berührung mit ihr fähig sei«.

Vgl. bspw. Theodor Litt, Individuum und Gemeinschaft: Grundlegung der Kulturphilosophie (Leipzig: B. G. Teubner 1926), S. 207 ff. 40 Ebd., S. 207. 41 Vgl. dazu auch Theodor Litt, Führen oder Wachsenlassen: Eine Erörterung des pädagogischen Grundproblems (Stuttgart: Ernst Klett 1964). 42 Vgl. auch Litt, Mensch und Welt, S. 34, 300 f. 39

Entwicklung

Die »Anlage« des Menschen, so betont Litt an dieser Stelle, enthält keine Vorzeichnung der konkreten Beschaffenheit der Umwelt. Das Einzige, was in der Anlage enthalten ist, ist die Fähigkeit zur »inneren Berührung« mit der kulturellen Umwelt des Menschen. Verfolgen wir den Gedankengang Litts noch ein bisschen weiter. Litt betont, dass nur ein Anlagebegriff, der auf diese Weise mit einer grenzenlosen Möglichkeit von Verwirklichungen verbunden ist, geeignet ist, nicht im Widerspruch zur Freiheit des Individuums zu stehen. 43 Ein Individuum, das durch seine Anlage auf eine bestimmte Form festgelegt ist, kann nicht frei sein. Um diese Freiheit des Individuums begreifen zu können, müssen wir das sonderbare Verhältnis, das zwischen »Anlage« und »Umwelt« im Hinblick auf den Menschen besteht, erfassen. Richtig verstanden impliziert die grenzenlose Möglichkeit von Verwirklichungen ein spezifisches Verhältnis zwischen Anlage und Umwelt, und zwar eines, in der die Umwelt nicht nur eine »dienende Hilfsfunktion« 44 bzw. ein »Reiz ist, der einen lediglich der »Auslösung« harrenden Instinkt […] mobilisiert«. 45 Denn eine Anlage, die mit einer grenzenlosen Möglichkeit an Verwirklichungen verbunden ist, kann keine Anlage sein, die lediglich eines auslösendes Reizes bedarf, um sich in eine spezifische Richtung zu entwickeln. 46 Dieses spezifische Verhältnis zwischen der Anlage des Menschen und seiner kulturellen Umwelt entzieht sich der anschaulichen Vergegenwärtigung. Wir können es nicht so denken, als würde hier das eine zum anderen hinzukommen. Es ist nicht so, dass ein Individuum auf eine bestimmte kulturelle Umwelt trifft und sich zwischen beiden eine sekundäre Verbindung einstellt, sondern beides, Individuum und kulturelle Umwelt, wird erst das, was es ist, in der Verbindung. Es gibt hier kein »Außen« und kein »Innen«. Die Wirklichkeit der Sprache, so können wir diesen Gedanken auch ausdrücken, ist eine Totalität, die das Individuum und seine Umwelt umfasst. Wie ist das zu verstehen? Um diesen Gedanken zu verstehen, müssen wir die Vorstellung fallen lassen, dass die Sprache (für das Kind) schon da ist, bevor das Kind sie erwirbt. Das Dasein der Sprache ist von ihrem Gebrauch nicht zu trennen. Das bedeutet insbesondere, dass alle Beschreibungen des Spracherwerbs als »Übernahme«, »Vermittlung«, »Wiedergabe« oder »Nachbildung« unzutreffend sind. Vgl. ebd., S. 34. Ebd., S. 30. 45 Litt, Mensch und Welt, S. 33. 46 Bei Litt heißt es: »Wie aber dürfte von einer Sprache, die sich zu dieser bestimmten, nur dies eine Mal und an dieser einen Stelle möglichen Gestalt konkretisiert hat – wie dürfte von ihr angenommen werden, daß sie zu der ›Anlage‹ des ihr zustrebenden Individuums in einer im Voraus festliegenden Entsprechung stehe!« ebd., S. 38. 43 44

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Cassirer drückt das so aus, dass er sagt, dass der Mensch die Sprache nicht als »geprägte Münze« 47 erhält. Litt, der in diesen Überlegungen an Cassirer anschließt, formuliert diesen Gedanken so, dass er sagt, dass die Sprache im »Zustande der Offenheit, der Bestimmbarkeit« sei. 48 Sprache zu erlernen ist keine Wiedergabe oder Reproduktion. Cassirer schreibt: »Was wir das ›Erlernen‹ einer Sprache nennen, ist daher niemals ein bloß rezeptiver oder reproduktiver, sondern ein im höchsten Maße produktiver Prozeß. In ihm gewinnt das Ich nicht nur Einblick in eine bestehende Ordnung, sondern es baut an seinem Teil diese Ordnung auf, es gewinnt Anteil an ihr, nicht indem es sich ihr einfach, als einem Gegebenen und Vorhandenen, einfügt, sondern indem jeder einzelne, jedes Individuum sie für sich erwirbt und in und kraft dieser Erwerbung an ihrer Erhaltung und Erneuerung mitwirkt.« 49

Das Erlernen von Sprache, so sagt Cassirer hier, ist gleichzeitig Aufbau der Ordnung der Sprache. Es ist gleichermaßen Erhaltung und Erneuerung der Sprache. Wir können diesen Gedanken auch so formulieren: Sprache wird nicht aus einer Beobachterperspektive heraus erlernt. Das Erlernen einer Sprache ist ein produktiver Prozess. In ihm wird die Sprache neu erschaffen. Dies impliziert die Annahme, dass jeder Sprecher und jede Sprecherin eine individuelle Sprache sprechen. So sagt Cassirer auch: »So spricht der Lehrer und der Lernende, so sprechen Eltern und Kinder niemals streng ›dieselbe‹ Sprache.« 50

Und Litt formuliert diesen Gedanken folgendermaßen: »Als ob auch nur zwei Menschen dieselbe Sixtina schauten, denselben Faust läsen!« 51

Wenn ich die Gemälde in der Sixtinischen Kapelle betrachte und du sie betrachtest, wenn ich den Faust lese und du ihn liest, dann betrachten und lesen wir nicht dasselbe. Etwas zu betrachten oder etwas zu lesen bedeutet nicht, um noch einmal auf Cassirers Wortwahl zurückzukommen, die Aufnahme einer »geprägten Münze«, sondern den »Gebrauch« von etwas. Die »Aufnahme einer geprägten Münze« würde bedeuten, dass die »Aktivität und Selbsttätigkeit« des Empfangenen ausgeschaltet ist. 52 Es würde bedeuten, dass die Bedeutung des Faust, der Gemälde der Sixtinischen Kapelle, 47 48 49 50 51 52

Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünfte Studie«, S. 473. Litt, Mensch und Welt, S. 103. Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Erste Studie«, S. 371. Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünfte Studie«, S. 473. Litt, Mensch und Welt, S. 43. Vgl. Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünfte Studie«, S. 473.

Entwicklung

eines Wortes etc. feststehen, unabhängig davon, ob und von wem sie aufgenommen werden. Die »Aufnahme« der Bedeutung der Sixtinischen Kapelle oder des Faust würde die Aufnahme einer bestehenden Bedeutung implizieren. Das heißt: Einführung in die Kultur bzw. der Spracherwerb würden durch eine Beobachterperspektive vollzogen werden können. 53 Die Annahme, dass es (für das Kind) keine Sprache gibt, bevor es die Sprache gebraucht, impliziert die Annahme, dass der Spracherwerb niemals aus einer Beobachterperspektive heraus vollzogen werden kann. Die Annahme, dass der Spracherwerb aus einer Beobachterperspektive heraus vollzogen werden kann, liegt immer dann nahe, wenn angenommen wird, dass Spracherwerb im Erwerb von Assoziationspaaren besteht. Denn dann besteht die Aufgabe des Kindes darin, herauszufinden, welche Dinge in der Wirklichkeit üblicherweise mit welchen sprachlichen Zeichen verknüpft werden. Dies kann das Kind herausfinden, indem es beobachtet. Damit ist nicht gesagt, dass Theorien, die den Spracherwerb als den Erwerb geprägter Münzen auffassen, annehmen müssen, dass das Kind am Sprachgeschehen nicht teilnimmt oder dass es durch die Teilnahme am Sprachgeschehen nicht wesentliche Informationen bekommt, die ihm ansonsten nicht zugänglich wären. 54 Aber im Prinzip könnte ein externer Beobachter zu denselben Schlussfolgerungen kommen wie ein Teilnehmer. Es ist vielleicht hilfreich, sich diese Auffassung des Spracherwerbs durch ein Gegenbeispiel zu verdeutlichen. Bei dem Kinderspiel »Stille Post« geht es darum, dass ein bestimmtes Wort oder ein bestimmter Satz durch Flüstern von einer Person zur nächsten weitergegeben wird. Je weiter diese Reihe fortgesetzt wird, desto mehr wird der ursprüngliche Satz verfälscht. Hier handelt es sich also um eine Abwandlung der ursprünglichen Aussage, die dieser selbst äußerlich ist. Beim Spracherwerb ist dies nicht so. Es ist der Sprache nicht äußerlich, dass sie im erneuten Sprechen abgewandelt wird. Es handelt sich um keine widrigen Umstände, wie das Flüstern oder Ähnliches, die dazu führen, dass der Sprache im »Gebrauch […] eine neue Prägung«55 aufgedrückt wird. Es handelt sich hier, so formuliert Litt den Gedanken, um keine »ordnungswidrige Gehorsamsverweigerung« 56, sondern es gehört zu dem, was es heißt, ein Werk der Kultur zu sein, dass es in Handlungen verwirklicht wird, die ein Individuum »zum Urheber« haben. Sprache, Religion, Kunst etc. sind Taylor, »Bedeutungstheorien«, S. 61 f. Vgl. dazu ebd., S. 62. 55 Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünfte Studie«, S. 473. 56 Litt, Mensch und Welt, S. 42 f. Fast gleichlautend bei Cassirer: »Die ›Wandlung‹ ist kein Mangel, kein äusseres Gebrechen – sie ist die ›conditio sine qua non‹ für die echte Fortpflanzung der Bedeutung, für ihre ›Generations‹kraft.« Cassirer, Geschichte. Mythos, S. 207. 53 54

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nicht statische Güter, sondern sich in Bewegung befindliche Prozesse. Dies meint Cassirer, wenn er davon spricht, dass die Sprache als »reiner Vollzug« aufgefasst werden muss oder – in Humboldts Worten – als »energeia«, nicht als »ergon«. 57 Im vorstehendem Unterkapitel haben wir betont, dass die Sprache sowohl objektiv als auch subjektiv sei. Wir sagten, dass die Sprache sich nicht aus einem objektiven und einem subjektiven Anteil zusammensetzt, sondern dass sie beides zugleich ist. Was wir soeben besprochen haben, ist der subjektive Aspekt der Sprache. Um diesen subjektiven Aspekt der Sprache noch einmal zusammenzufassen, können wir auf ein paar Formulierungen zurückgreifen, die Cassirer gelegentlich gebraucht. Die Subjektivität der Sprache wird dadurch bezeichnet, dass sie »ständig von neuem angeeignet und dadurch stets aufs neue geschaffen wird«. 58 »Die Sprache«, so sagt Cassirer auch »ist nur das, was der jeweilige Impuls, was der belebende und beseelende Augenblick aus ihr macht. Ihr Sinn und Wert […] hängt von der Art ihres Gebrauchs« ab. 59 Nun scheint diese Beschreibung des subjektiven Aspekts der Sprache die Möglichkeit jeglicher Kommunikation zu vereiteln. Wenn streng genommen zwei Subjekte niemals dieselbe Sprache sprechen, wie können wir unter dieser Voraussetzung die Möglichkeit der Kommunikation begreifen? Wenn, wie Litt sagt, zwei Menschen nicht denselben Faust lesen können, wie ist es dann möglich über »den Faust« zu sprechen? Jede Verständigung setzt voraus, dass die sprachliche Form nicht willkürlich erzeugt wird, sondern eine innere Festigkeit und Konsistenz aufweist. 60 Und gerade die Sprache zeigt uns hier eine starke traditionelle Bindung, die dem eigenen Schöpfertum enge Grenzen setzt. Sprechen und Verstehen sind nur möglich, wenn wir uns an diese traditionellen Bindungen halten und den Wortschatz und die Grammatik nicht im jeweiligen Augenblick frei erschaffen. Dies beinhaltet, so können wir sagen, den Hinweis auf die objektive Seite der Sprache. Die Sprache ist auch ein Gewordenes, ein Erzeugtes. Nur weil das jeweilige Sprechen sich an diesem Gewordenen und bereits Erzeugten orientiert und sich diesem anschließt, erhält es selbst eine Dauerhaftigkeit und Beständigkeit und unterscheidet sich von einem Lufthauch. 61 Die Werke der Kultur, zu denen die Sprache gehört, sind menschliche Taten, die sich zum Sein verdichten. 57 58 59 60 61

Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart«, S. 205. Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünfte Studie«, S. 470. Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart«, S. 204. Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünfte Studie«, S. 476 f. Cassirer, »Zur Metaphysik der symbolischen Formen«, S. 17.

Entwicklung

Dieses Verhältnis von Subjektivität und Objektivität erweist sich damit als ein Verhältnis von Gegenpolen. Die Sprache ist sowohl formkonstant als auch modifizierbar. 62 Dies gilt nicht nur für die Sprache, sondern für alle Werke der Kultur. Ihnen eignet eine innere Festigkeit bei gleichzeitiger Wandlungsfähigkeit. Jeder Schaffensprozess knüpft an Bleibendes und Bestehendes an und wandelt dieses Bleibende und Bestehende. Die Werke der Kultur, so argumentiert Cassirer, sind damit durch eine innere Polarität gekennzeichnet. Sie sind erfüllt »von den stärksten inneren Gegensätzen«. 63 In ihnen besteht ein »Widerstreit und Wettstreit von Kräften, von denen die eine auf Erhaltung, die andere auf Erneuerung zielt«. 64 Die Kultur ist sowohl ein »Formerzeugend [es]« als auch »Formzerstörendes, Formzerbrechendes«. 65 Cassirer spricht auch von einem »Pendelschlag«: »Wie die scholastische Metaphysik den Gegensatz zwischem dem Begriff der ›natura naturata‹ und der ›natura naturans‹ geprägt hat, so muss die Philosophie der symbolischen Formen zwischen der ›forma formans‹ und der ›forma formata‹ unterscheiden. Das Wechselspiel zwischen beiden macht erst den Pendelschlag des geistigen Lebens selbst aus. Die ›forma formans‹, die zur ›forma formata‹ wird, die um ihrer eigenen Selbstbehauptung willen zu ihr werden muss, die aber nichtsdestoweniger in ihr niemals gänzlich aufgeht, sondern die Kraft behält, sich aus ihr zurückzugewinnen, sich zur ›forma formans‹ wiederzugebären – dies ist es, was das Werden des Geistes und das Werden der Kultur bezeichnet.« 66

Das Verhältnis zwischen der gewordenen Form und dem Erzeugen der Form charakterisiert Cassirer hier als ein inneres Verhältnis. Es ist kein Verhältnis, das sich durch irgendein räumliches Bild adäquat beschreiben lässt, durch ein Bild also, das dieses Verhältnis als ein äußeres Verhältnis auffasst. Es handelt sich vielmehr um ein Verhältnis, das nur in »dynamischen Gleichnissen« 67 dargestellt werden kann. Hier ist ein solches dynamisches Gleichnis, das Cassirer zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen »forma formans« und »forma formata«, zwischen »ergon« und »energeia« anführt: »So fliesst der einzelne, der zeitlich gebundene Sprachakt in das grosse Strombett der Sprache ein; aber er geht in ihm nicht schlechthin unter. Je stärker vielmehr seine Individualität war, um so mehr wird sie erhalten und um so kräftiger pflanzt sie sich fort, – derart[,] daß der Antrieb, den er enthält, sich nicht in einer mo62 63 64 65 66 67

Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünfte Studie«, S. 480. Ebd., S. 467. Ebd., S. 482. Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart«, S. 205. Cassirer, »Zur Metaphysik der symbolischen Formen«, S. 18. Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart«, S. 205.

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mentanen Bildung erschöpft, sondern daß er weiter und weiter wirkt, daß er die Strömung als Ganzes, in ihrer Intensität und in ihrer Richtung, in ihrer Dynamik und Rhythmik, verändert und fortbestimmt.« 68

Was solche dynamischen Gleichnisse darzustellen versuchen, ist die Tatsache, dass die Werke der Kultur sowohl subjektiv als auch objektiv sind. Kein Werk der Kultur erscheint als bloße Materie, als reines Objekt. Es ist niemals lediglich »Stoff«. Wir erkennen ein Werk der Kultur als Zeugnis einer geistigen Kraft und damit als Zeugnis der Freiheit. 69 In dem Begreifen eines Werks der Kultur begreifen wir die »unendliche Formungsmöglichkeit« 70, die in ihm beschlossen liegt. Während also von außen betrachtet der Mensch abhängig ist von den Umständen, in die er hineingeboren wird, so sind diese Umstände von innen gesehen »Zeugnis seiner Freiheit [und] seiner Selbstgestaltung«. 71 Im Falle des Menschen schließen sich Abhängigkeit und Freiheit nicht aus.

5.3 Geschichte

Die Entwicklung des menschlichen Individuums, so sahen wir, erschöpft sich nicht in dem Spannungsfeld zwischen biologischer und kultureller Vererbung. Der Mensch nimmt nicht auf, was gegeben ist, sondern erneuert in der Aufnahme das Gegebene. Diese spezifische Form der menschlichen Entwicklung entspricht dem Verhältnis zwischen Subjektivität und Objektivität, das in der Kultur – also beispielsweise der Sprache – vorliegt. Diese ist nicht subjektiv oder objektiv, sie ist auch nicht subjektiv und objektiv, so als gäbe es in ihr einen subjektiven und einen objektiven Teilbereich. Vielmehr stiftet sie zwischen Subjektivität und Objektivität ein neues Wechselverhältnis und eine Korrelation. Ein weiterer Aspekt dieses Wechselverhältnisses zwischen Subjektivität und Objektivität der Kultur ist, dass der Mensch ein geschichtliches Wesen ist. So wie sich die Werke der Kultur durch eine Korrelation von Subjektivität und Objektivität auszeichnen, so eignet ihnen eine Korrelation von Werden und Sein. Die Werke der Kultur sind weder »beharrend«, noch »verändern« sie sich einfach. Sie sind beides. Sie finden im Wandel ihre Ewigkeit und lassen uns »das Ewige im Vorübergehenden sehen«. 72 Wir können dieses spezifische 68 69 70 71 72

Cassirer, »Zur Metaphysik der symbolischen Formen«, S. 17. Ebd., S. 18. Ebd. Ebd. Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Erste Studie«, S. 389.

Geschichte

Verhältnis zwischen »Sein« und »Werden« auch als »Geschichte« bezeichnen. Zu sagen, dass der Mensch ein geschichtliches Wesen ist, ist eine andere Weise zu sagen, dass seine Entwicklung von der Entwicklung, die wir im Tierreich antreffen, unterschieden ist. Schauen wir uns unter diesem Aspekt noch einmal den Unterschied zwischen der Entwicklung im Tierreich und beim Menschen an. Für das Tier gilt, dass die Eigenschaften der Gattung vererbt werden. Die Eigenschaften und Fertigkeiten, die ein individuelles Tier im Laufe seines Lebens erwirbt, bleiben von der Vererbung ausgeschlossen. 73 Cassirer geht also davon aus, dass auch Tiere individuelle Fähigkeiten und Fertigkeiten erwerben können. Er nimmt an, dass es auch unter den Tieren Neuerungen gibt, die wir als »Erfindungen« bezeichnen können. 74 Der Mensch unterscheidet sich also nicht dadurch vom Tier, dass nur er über eine »Erfindungsgabe« verfügt. In dieser Hinsicht stimmt Cassirer mit den Ergebnissen von Michael Tomasello überein, der darauf hinweist, dass nichtmenschliche Primaten »regelmäßig intelligente Verhaltensneuerungen hervor[bringen]«. 75 Diese intelligenten Verhaltensneuerungen des individuellen Tieres werden aber nicht an Artgenossen und die nachfolgende Generation weitergegeben. Sie sind etwas Einmaliges, das an die Zeitlichkeit des individuellen Tieres gebunden ist. Vom Blickpunkt des Menschen aus ist dies ein Mangel. Denn insofern, als die individuell erworbenen Eigenschaften nicht an Artgenossen weitergegeben werden, können diese von diesen Eigenschaften auch nicht direkt profitieren. Jedes Tier ist sozusagen wieder auf sich selbst gestellt. Im Gegensatz dazu können Menschen auf die Leistungen und Errungenschaften ihrer Vorfahren aufbauen, diese weiter verändern und ihren Bedürfnissen anpassen. Tomasello spricht von einem »Wagenhebereffekt« oder auch von »kumulativer kultureller Evolution«. 76 Kumulative kulturelle Evolution bedeutet, dass individuell erworbene Eigenschaften weitergegeben werden und so als Basis für weitere Erneuerungen fungieren können. 77 Der Mensch ist also in der Lage, das einmal Erworbene festzuhalten. Es ist vielleicht wichtig, an dieser Stelle zu betonen, dass weder Tomasello noch Cassirer behaupten, dass Tiere in keiner Weise zu sozialem Lernen in der Lage sind. Auch Tiere lernen beispielsweise durch Nachahmung, wie Vögel es tun, wenn sie im Verlauf ihrer Ontogenese den arttypischen Gesang ihrer 73 74 75 76 77

Cassirer, Geschichte. Mythos, S. 203. Ebd. Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 16. Ebd. Ebd., S. 57.

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Spezies erlernen. 78 Dies entspricht dem Modell der dualen Vererbung, das wir zuvor besprochen haben. Auch das Leben der Tiere ist nicht allein durch biologische Vererbung geprägt, sondern auch durch kulturelle Vererbung. Diese umfasst »solche Dinge wie, daß […] Rattenjunge nur diejenige Nahrung fressen, die ihre Mütter fressen, Ameisen dadurch Nahrung lokalisieren, daß sie den Pheromonspuren ihrer Artgenossen folgen, junge Schimpansen den Gebrauch von Werkzeugen von den sie umgebenden Erwachsenen lernen« usw. 79 Diese Prozesse sozialen Lernens im Tierreich sind aber »individuelle Lernprozesse.« 80 Sie betreffen nicht die Gattung des Tieres. Kumulative kulturelle Evolution ist also eine spezifische Art sozialen Lernens, die nur beim Menschen auftritt: »Es scheint kein Verhalten anderer Tierarten, einschließlich der Schimpansen, zu geben, das eine kumulative kulturelle Evolution aufweist.« 81 Tomasellos Auffassung ist in besonderer Weise geeignet, uns Cassirers Auffassung zu vergewissern, da beide Autoren die Bedeutung der kumulativen kulturellen Evolution unterstreichen und betonen. Cassirer sieht, ähnlich wie Tomasello, einen großen Vorteil in der Möglichkeit der Vererbung erworbener Eigenschaften: »Der Fortschritt besteht darin, daß nun jede einmal erzielte Vervollkommnung des Gebrauchs sich auch unmittelbar – und ohne Durchgang durch das Medium des organischen Leibes – erhalten und weiterausbreiten kann[.]« 82

Ähnlich sagt auch Tomasello, dass die kumulative kulturelle Evolution eine Weitergabe und Verbesserung einmal erworbener Eigenschaften ermöglicht. 83 Wir können auch zur Unterstreichung der Bedeutung der kumulativen kulturellen Evolution an den (angeblichen) Ausruf Newtons erinnern: »If I have seen further it is by standing on ye sholders of Giants.« 84 Neben dieser gemeinsamen Feststellung der Bedeutung der kumulativen kulturellen Evolution unterscheiden sich aber die Auffassungen der beiden Autoren im Kern voneinander. Schauen wir uns an, worin dieser Unterschied besteht, so werden wir auf grundsätzlich andere Auffassungen dessen geführt, wie die Kultur des Menschen zu begreifen ist. Wir können uns diesem UnterVgl. ebd., S. 40. Vgl. ebd., S. 15. 80 Ebd., S. 42. 81 Ebd., S. 56. 82 Cassirer, Geschichte. Mythos, S. 205. 83 Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 16. 84 Richard S. Westfall, Isaac Newton: Eine Biographie (Heidelberg, Berlin, Oxford: Spektrum, Akad. Verl. 1996), S. 143. 78 79

Geschichte

schied annähern, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass für Tomasello die kulturelle kumulative Evolution die Voraussetzung für die einzigartigen kognitiven Fähigkeiten des Menschen ist, während Cassirer argumentiert, dass die kulturelle kumulative Evolution (er verwendet diesen Begriff nicht) ein Aspekt der einzigartigen kognitiven Fähigkeiten des Menschen ist. Tomasello beginnt sein Buch »Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens« mit einem Grundrätsel. Dieses Grundrätsel besteht darin, dass der Mensch über einzigartige kognitive Fertigkeiten verfügt, ihn aber nur ungefähr sechs Millionen Jahre von seinen nächsten Verwandten, den Menschenaffen, trennen. Diese Zeitspanne, so argumentiert Tomasello, ist viel zu kurz, um anzunehmen, dass sich diese einzigartigen kognitiven Fertigkeiten des Menschen durch »normale biologische Evolutionsprozesse« 85 entwickelt haben könnten. Des Rätsels Lösung, so argumentiert Tomasello, liegt in den Prozessen der kumulativen kulturellen Evolution: »Dieses Rätsel hat nur eine einzige Lösung. Das heißt, es gibt nur einen einzigen bekannten, biologischen Mechanismus, der diese Veränderungen im Verhalten und der Kognition in so kurzer Zeit hervorbringen könnte, ob man diese Zeit nun mit sechs Millionen, zwei Millionen oder 250 000 Jahren veranschlagt. Dieser biologische Mechanismus besteht in der sozialen oder kulturellen Weitergabe, die auf einer um viele Größenordnungen schnelleren Zeitskala operiert als die Prozesse der organischen Evolution.« 86

Die kumulative kulturelle Evolution ermöglicht es dem Menschen, so argumentiert Tomasello, einzigartige kognitive Fähigkeiten zu entwickeln. Diese basieren, so nimmt er an, auf einer generationsübergreifenden Zusammenarbeit. Cassirers Frage ist von diesem Grundrätsel Tomasellos unterschieden. Er fragt nicht: Wie sind die einzigartigen kognitiven Fähigkeiten des Menschen entstanden? Sondern: Wie ist die kumulative kulturelle Evolution möglich? Und seine Antwort ist, dass Bedingung der kumulativen kulturellen Evolution die besonderen kognitiven Fähigkeiten des Menschen sind. Diese liegen für Cassirer, soviel wissen wir bereits, im Symbolgebrauch des Menschen beschlossen. Er schreibt: »Kultur ist das Medium, das die ›Vererbung erworbener Eigenschaften‹ ermöglicht – ja das im Grunde gar nichts anderes ist, als dieser nie stillstehende, unablässige Prozess der Vererbung.« 87

85 86 87

Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 14. Ebd. 14 f. Cassirer, Geschichte. Mythos, S. 205.

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Für Tomasello führt also die kumulative kulturelle Evolution zu den spezifischen kognitiven Fähigkeiten des Menschen. Wir können in anderen Worten auch sagen, dass für Tomasello die kumulative kulturelle Evolution zur Kultur des Menschen führt. Für Cassirer ist hingegen die Kultur die Bedingung der kumulativen kulturellen Evolution. Wollten wir mit Cassirer eine Kritik an Tomasello formulieren, so könnten wir diese ausdrücken, indem wir sagten, dass sich Tomasellos Argumentation in einem Zirkel verstrickt. Überall dort, wo er von kumulativer kultureller Evolution spricht, muss er die Kultur – also das, was er ableiten möchte – schon voraussetzen. Wir können uns dies anhand von Tomasellos Darstellung der kumulativen kulturellen Evolution verdeutlichen. Tomasello fügt in sein Buch eine Graphik ein, die den Prozess der kumulativen kulturellen Evolution darstellen soll: 88 Generation 1

Artefakt Kulturelles Lernen des Kindes

Generation 2

Artefakt

Individuelle oder kollektive Schöpfung Erste Modifikation Kulturelles Lernen des Kindes

Generation 3

Modifiziertes Artefakt

Individuelle oder kollektive Schöpfung Zweite Modifikation Kulturelles Lernen des Kindes

Generation 4

Modifiziertes Artefakt

Die Unterschrift lautet: »Vereinfachte Darstellung des Wagenhebereffekts, durch den ein Artefakt mit kumulativen Modifikationen entsteht.« 89 88 89

Vgl. Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 55. Ebd.

Geschichte

Der Zirkel wird dort sichtbar, wo Tomasello in der ersten Generation ein »Artefakt« postuliert. Ein Artefakt ist ein Kulturerzeugnis. Entweder setzt er also mit diesem Artefakt bereits die gesamte Kultur voraus und seine Darstellung zeigt nicht die Entstehung der Kultur. Oder aber er meint eigentlich nicht »Artefakt«, sondern etwas anderes, etwas, das auch im Tierreich vorkommt. Mein Vorschlag wäre: »Intelligente Verhaltenserneuerung eines Individuums«. Dann würde die Aufgabe nicht darin bestehen, zu zeigen, wie ein »Artefakt mit kumulativen Modifikationen entsteht«, sondern wie ein Artefakt aus einer intelligenten Verhaltenserneuerung eines Individuums entstehen kann. Das eigentliche Rätsel liegt im Artefakt beschlossen. Die Frage, wie ein Artefakt aus intelligenten Verhaltenserneuerungen eines Individuums entstehen kann, beantwortet Tomasello nicht. Er spricht schlicht davon, dass Artefakte »erfunden« werden. 90 Wie wir sahen, gibt es auch im Tierreich intelligente Verhaltenserneuerungen, die sich allerdings nicht – wie beim Menschen – von einer Generation zur nächsten weitervererben, obwohl es auch beim Tier Formen sozialen Lernens gibt. Das eigentlich Neue und Rätselhafte im Leben des Menschen ist das Artefakt. In Anschluss an Cassirers Auffassung des Symbolischen als der Darstellung eines Sinns in einem Sinnlichen können wir auch sagen: Das eigentlich Rätselhafte ist das Symbol. Das Symbol, das Artefakt oder die Kultur – wie auch immer man es nun bezeichnen mag – entsteht nicht durch kumulative kulturelle Evolution, sondern ist die Bedingung der kumulativen kulturellen Evolution. Tomasellos Schaubild legt genau dies nahe. Bei Cassirer heißt es explizit: »Der Mensch aber ist dasjenige Wesen, in dem dieser eigentümliche ›Mangel‹ der organischen Natur sich gewissermaßen ›berichtigt‹ und korrigiert – Er kann über die Bedingungen der organischen Natur nicht hinausspringen, er bleibt ihnen verhaftet – aber ihm ist es gegeben, ein neues Medium zu schaffen, das die Lücke füllt, – […] das eine Vererbung ›erworbener‹ Eigenschaften[,] erworbener Fertigkeiten gestattet – […] das Tun, Wirken, Erlernen, Erfinden des Menschen […] [schafft] sich seinen Ausdruck im Unbelebten[,] Anorganischen […] es [›objektiviert‹] sich physisch im Werk […].« 91

Bedingung der kumulativen kulturellen Evolution, so sagt Cassirer hier sinngemäß, ist, dass sich das individuelle Tun des Menschen im Werk objektivieren kann. Die eigentümliche Korrelation zwischen Subjektivität und Objektivität im Symbol, die wir zuvor besprochen haben, ist Bedingung dafür, dass das, was ein individueller Mensch in seinem eigenen Leben erlernt und erfindet, nicht gemeinsam mit ihm stirbt, sondern ihn selbst überdauern kann. Das 90 91

Vgl. beispielsweise ebd., S. 16. Cassirer, Geschichte. Mythos, S. 203 f.

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Individuelle drückt sich im Symbol in etwas »Anorganischem« oder »Unbelebtem« aus und schafft sich so eine neue Dauer. Der Unterschied zwischen Cassirers und Tomasellos Auffassung besteht also darin, dass Cassirer in der Kultur die Bedingung der kumulativen kulturellen Evolution sieht, Tomasello hingegen annimmt, dass die kumulative kulturelle Evolution zur Kultur hinführt. Wir sind damit aber noch nicht beim Kern des Unterschieds zwischen den beiden Autoren angekommen. Ihre Differenz reicht tiefer. Zur Verdeutlichung können wir wieder Tomasellos Schaubild heranziehen. Nehmen wir an – wie das Schaubild suggeriert –, dass es bereits Artefakte gibt. Für Tomasello vollzieht sich die kumulative kulturelle Evolution außerhalb des Artefakts. Cassirer würde dieser Auffassung nicht zustimmen. Die kumulative kulturelle Evolution ist für Cassirer vom Dasein eines Artefakts nicht zu unterscheiden. Wie ist das gemeint? Zur Verdeutlichung möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, dass Tomasello zwischen dem »kulturellen Lernen des Kindes« und der »individuellen oder kollektiven Schöpfung« unterscheidet. Es handelt sich um zwei verschiedene Prozesse, die beide gleichermaßen die Gegebenheit des Artefakts voraussetzen. Zunächst übernimmt, »imitiert« – wir können auch sagen: reproduziert – ein Kind ein Artefakt. Dann fügt es ggf. Neuerungen hinzu. Eine ähnliche Auffassung vertritt auch Taylor: »Die Sprache läßt sich nicht von innen heraus erzeugen, sondern sie kann nur aus der Umwelt zum Kind gelangen, obschon Neuerungen möglich werden, sobald die Sprache beherrscht wird.« 92

Taylor drückt in diesem Zitat die Annahme aus, dass eine Neuerung nur an einem gegebenen, d. h. an einem bereits angeeigneten Material vollzogen werden kann. Diese Auffassung impliziert die Möglichkeit, dass ein Artefakt ausschließlich durch Reproduktion weitergegeben wird. Wenn eine Generation keine Veränderungen an dem Artefakt vornimmt, wird es als ein und dasselbe an die nächste Generation weitergegeben. 93 Cassirers Auffassung ist demgegenüber, dass diese beiden Prozesse nicht voneinander unterschieden werden können. Der Spracherwerb, so sahen wir im letzten Kapitel, ist für Cassirer nicht mit der Aufnahme einer »geprägten Münze« vergleichbar. Jede »Aufnahme« beinhaltet eine Neuerung. Die VerTaylor, Das sprachbegabte Tier, S. 110. Vgl. bspw.: »Vielmehr war es so, daß ein Individuum oder eine Gruppe zunächst eine primitive Version des jeweiligen Artefakts oder der betreffenden Praxis erfand und spätere Benutzer eine Veränderung oder ›Verbesserung‹ einführten, die dann von anderen manchmal unverändert viele Generationen lang übernommen wurde.« Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S. 16. 92 93

Geschichte

änderung eines Symbols oder Artefakts wird diesem nicht von außen zugefügt, sondern gehört zu dem, was es überhaupt heißt, ein Artefakt zu sein. Wir erinnern uns an das dynamische Gleichnis, das Cassirer anführt, um das eigentümliche Wechselverhältnis zwischen Subjektivität und Objektivität im Symbol darzustellen 94: Er sagt hier, dass der einzelne Sprachakt in das »Strombett der Sprache« einfließe. Und er kann dieses Strombett der Sprache kraft seiner eigenen Individualität verändern. Die Veränderung vollzieht sich also nicht von außen – so als würde jemand kommen und den Strom umlegen – sondern von innen heraus. Bedingung dafür ist, dass jeder Sprachakt schon eine Neuerung mit sich bringt. Das bedeutet nicht, dass es nicht auch Fälle gibt, auf die Tomasellos Schaubild zutrifft. Selbstverständlich ist es möglich, an einem bestehenden Artefakt nach einer Phase der Testung Veränderungen vorzunehmen und es so beispielsweise benutzerfreundlicher zu gestalten. Dies ist aber nicht der grundlegende Fall. Das Dasein eines Artefakts ist nur möglich, so meint Cassirer, wenn wir die Weitergabe an die nächste Generation nicht als Reproduktion, sondern als Wiedergeburt auffassen. Er sagt: »The life of art, religion, science, the life of human culture, cannot be maintained by reproduction. Its very essence depends on production.« 95

Das Wesen der Kultur, so sagt Cassirer hier, besteht darin, dass sie produziert wird. In einem Zitat, das ich weiter oben schon anführte, sagt Cassirer auch, dass Kultur im Prinzip nichts anderes ist als ein nie stillstehender, unablässiger Prozess der Vererbung.96 Diese Auffassung Cassirer ist eine andere Weise zu sagen, dass die Werke der Kultur keine Dinge sind, die den Bereich der Wirklichkeit erweitern. Die grundlegende Differenz zwischen der Darstellung Tomasellos und der Cassirers ist, dass Tomasello die Werke der Kultur auf der Ebene der Dinge und Tatsachen verortet. Cassirer argumentiert demgegenüber, dass das, was in der Kultur vererbt wird, kein »Ding« ist. Es handelt sich um nichts »Bestehendes«, sondern um »ein fort u[nd] fort Wandlungsfähiges und Wandlungsbedürftiges«. 97 Das Dasein der Kultur ist an diese Wandlungsfähigkeit gebunden. Die Kultur besteht nicht einfach fort, sie beharrt nicht, wie es physische Gegenstände tun. Ihre Dauer ist von anderer Art. In dieser Wandlungsfähigkeit gewinnen die Werke der Kultur eine Ewigkeit, die keinen Gegensatz zur 94 95 96 97

Vgl. oben, S. 179. Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language«, S. 295. Vgl. oben, S. 183. Cassirer, Geschichte. Mythos, S. 206.

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Individualität und Freiheit

Zeit darstellt. 98 Wie sich in den Werken der Kultur eine Korrelation von Subjektivität und Objektivität einstellt, in der beides sowohl eins als auch verschieden sind, so stellt sich in diesen Werken genauso eine Korrelation von Sein und Werden ein. Die Kultur ist ewig insofern, als sie sich wandelt. Fassen wir die Kultur als das rein Beharrende auf, als etwas, das durch Reproduktion weitergegeben wird, so haben wir es nicht mehr mit Kultur zu tun. Als etwas Beharrendes würde die Kultur »in das bloss-organische Sein zurückfallen«. 99 Zu Beginn dieses Kapitels sagte ich, dass der Mensch das geschichtliche Wesen ist. Er ist das einzige Wesen, das Geschichte hat. Insofern, als der Mensch ein geschichtliches Wesen ist, weiß er, dass er nimmt und gibt; dass er empfängt und wiedergebiert; dass er traditionsgebunden und traditionsschaffend ist. Er begreift die Kultur als Werdendes und Veränderliches und er begreift ihre Weitergabe als eigene Tat. Dieses Wissen, so sagt Cassirer, ist »der Anfang und das Prinzip […] allen geschichtlichen Bewusstseins«. 100

5.4 Phylogenese

Ist es möglich, den »Geist samt seinen Werken aus etwas herzuleiten, auf etwas zurückzuführen, aus etwas zu erklären, was selbst nicht Geist, anders als Geist, jenseits des Geistes, meinetwegen auch: mehr als Geist ist« 101? Aus der These von der Priorität des Bedeutungsproblems vor dem Wirklichkeitsproblem folgt die Verneinung dieser Frage. Denn die Herleitung aus etwas, die Zurückführung auf etwas, die Erklärung durch etwas anderes bezeichnen Zusammenhänge innerhalb der Wirklichkeit, die allesamt bereits die Bedeutungsbeziehung selbst voraussetzen. Versuche, das Phänomen der Bedeutung und damit den »Geist samt seinen Werken« auf etwas zurückzuführen, das selbst nicht Geist ist, verwickeln sich damit in einem Zirkel. Sie müssen voraussetzen, was sie zu zeigen suchen. In dem, was sie als vor-geistig ansetzen, muss versteckt und implizit schon enthalten sein, was erst aus ihm entwickelt werden soll. Diese Auffassung scheint insbesondere dem Gedanken der Evolution zu widersprechen. Der Grundgedanke der Evolutionstheorie ist der Folgende: Der Geist ist an den Menschen gebunden, ein Lebewesen aus Fleisch und Blut. Dieses Lebewesen muss zu irgendeinem Zeitpunkt und an irgendeinem Ort Vgl. auch Cassirer, »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language«, S. 295. Cassirer, Geschichte. Mythos, S. 208. 100 Ebd., S. 211. 101 Litt, Mensch und Welt, S. 150. 98 99

Phylogenese

aus etwas entstanden sein, das bereits vor ihm da war. Denn es ist ja offenbar so, dass der Mensch nicht von Anfang an die Erde bevölkert hat. Vor dem Menschen gab es bereits diese Welt, die er jetzt bewohnt und auf der bereits andere Lebewesen lebten. Aus dieser Welt, die dezidiert vor-geistig ist, entwickelt sich das, was Geist ist. 102 Damit scheint die Evolutionstheorie dem Gedanken zu widersprechen, dass der Geist nicht auf etwas zurückgeführt werden könne, was selbst nicht Geist ist. Vielmehr scheint zu gelten: Wollen wir weder der Evolutionstheorie widersprechen noch an ein Schöpfungswunder glauben, so müssen wir annehmen, dass der Geist aus etwas entstanden ist, das nicht-geistig ist. Die Evolutionstheorie sucht den Gedanken der Kontinuität und Einheit der Natur so zu begründen, dass sie den Geist, der zur Natur gehört, sich aus der vor-geistigen Natur heraus entwickeln lässt. Cassirer argumentiert, dass auch die Evolutionstheorie diese Entwicklung nicht als eine Entwicklung auffassen kann, die keine fundamentalen Veränderungen zulasse: »But the law of continuity cannot be interpreted in such a sense as to forbid and exclude fundamental changes between the various series of things and events.« 103

Es ist insbesondere der Begriff der Mutation, der Cassirer als Begründung dafür dient, dass Evolution nicht bedeuten könne, dass alles, was als Produkt der Entwicklung erscheint, schon keimhaft von Anfang an vorhanden sein muss. Evolution ist, so meint Cassirer, keine Auswicklung von bereits im Keim Angelegten. 104 Die Geschichte der Evolution ist keine Geschichte bloß quantitativer Vermehrung, sondern eine Geschichte qualitativer Veränderungen. 105 »Der Übergang von der Natur zur ›Kultur‹«, so meint Cassirer, gibt uns dementsprechend »in dieser Hinsicht kein neues Rätsel auf. Er bestätigt nur, was uns schon die Naturbetrachtung lehrt, daß jede echte Entwicklung im Grunde immer eine μετάβασις εἴς ἄλλο γένος ist, die wir zwar aufweisen, aber nicht mehr kausal erklären können.« 106

Dem kausalen Begreifen, so sagt Cassirer hier, ist eine Grenze gesetzt. 107 Die Tatsache der Kultur können wir aufweisen, aber nicht kausal erklären. Das

102 103 104 105 106 107

Vgl. zu dieser Beschreibung ebd., S. 152. Cassirer, Vorlesungen und Studien zur Philosophischen Anthropologie, S. 256. Vgl. Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Vierte Studie«, S. 460. Vgl. Cassirer, Vorlesungen und Studien zur Philosophischen Anthropologie, S. 259. Cassirer, »Zur Logik der Kulturwissenschaften. Vierte Studie«, S. 461. Vgl. auch ebd., S. 458.

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Individualität und Freiheit

Rätsel des Ursprungs der Sprache, des Mythos, der Religion oder der Kunst ist »mit wissenschaftlichen Mitteln nicht lösbar«. 108 Dies mag manchen wie eine Resignation erscheinen. Für Cassirer ist es keine Resignation. Die Anerkennung dieser Grenze ist für ihn ein fruchtbarer und wichtiger Schritt, um sich aus einer Verwirrung zu befreien, die immer dann auftritt, wenn man versucht, Scheinprobleme zu lösen, wenn man also versucht, die Kausalfrage auf Phänomene anzuwenden, auf die sie nicht anwendbar ist. Das Rätsel der Kultur – so sagte ich in der Einleitung zu dieser Arbeit in Anschluss an Ursula Renz – kann gelöst, aber nicht aufgelöst werden; das Wunder kann durchschaut, aber nicht eliminiert werden. Das Problem muss immer wieder von neuem formuliert werden. Zu diesem »verstehenden Bewahren des Wunders« 109 will die vorliegende Arbeit ihren Beitrag geleistet haben.

108 109

Ebd., S. 459. Vgl. oben, S. 11.

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Dank

I

n ihren Anfängen geht die vorliegende Arbeit auf Impulse und Anregungen zurück, die ich während meines Studiums der Kulturwissenschaften in Leipzig in den Seminaren von Klaus Christian Köhnke erhalten habe. Leider ist das Gespräch mit Köhnke über meine eigenen Interessen durch seinen zu frühen Tod abgebrochen, bevor es richtig beginnen konnte. Immer wieder habe ich Köhnkes Rat und Einschätzung vermisst. Mein herzlicher Dank gilt Andrea Kern, der Betreuerin meiner Arbeit, und Sebastian Rödl dafür, dass sie mir am Institut für Philosophie in Leipzig eine neue wissenschaftliche Heimat gegeben haben. Durch ihre Unterstützung und Ermutigung war es möglich, an meinem ursprünglichen Interesse in einem für mich zunächst völlig neuen Diskurskontext festzuhalten und es neu zu artikulieren. Ihre Fragen, Anregungen und Impulse haben meiner Arbeit zu ihrer Gestalt verholfen.

Meine Arbeit profitierte von unzähligen Gesprächen in verschiedenen Kontexten. Ich danke allen von Herzen, die mich auf meinem Weg begleitet haben. Insbesondere bin ich Thomas Dworschak, Rebekka Gersbach, Johann Gudmundsson, Jonas Held, Tobias Kasmann, Christian Kietzmann, Monika Nachtwey, Christiane Turza und Jonas Zahn für ihr Interesse an meinen Fragestellungen und ihre kritischen Kommentare zu einzelnen Kapiteln zu Dank verpflichtet. Matthias Wunsch hat eine frühe Version des ersten Kapitels ausführlich mit mir besprochen und wertvolle Rückmeldungen gegeben. Während eines Aufenthalts an der University of Chicago haben mich Matthew Boyle und Jim Conant willkommen geheißen und mit mir einzelne Fragestellungen diskutiert. Meine Schwester Vera Flocke war mir stets eine zentrale Gesprächspartnerin. Ihr Mut, ihre Klarheit und Entschlossenheit, wichtigen Fragen auf den Grund zu gehen, waren mir Ansporn und Vorbild. Die vielen Gespräche mit Stefanie Adamitz haben mir insbesondere in der Abschlussphase der Dissertation sehr geholfen. Ich danke meinem Vater Arno für kurzfristiges Korrekturlesen und ihm und meiner Familie – meiner Mutter Rosemari, Marie, Elisabeth und Theo – für ihre Unterstützung während langer Denk- und Schreibphasen. Meinem Mann Philipp danke ich für seinen Rückhalt und seine unbedingte Bestärkung in meinen Vorhaben, aber auch dafür – das sage ich rückblickend mit einem Augenzwinkern – dass seine Geduld nicht unendlich ist. Danke!

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Dank

Finanziell wurde die vorliegende Arbeit durch ein Stipendium der Stiftung der deutschen Wirtschaft ermöglicht. Die Fulbright-Kommission förderte meinen Forschungsaufenthalt an der University of Chicago. Für die finanzielle Unterstützung bei der Veröffentlichung danke ich der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften. Leipzig, im Dezember 2021

Anna Flocke