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German Pages 356 [350] Year 2021
Thomas Senkbeil, Oktay Bilgi, Dieter Mersch, Christoph Wulf (Hg.) Der Mensch als Faktizität
Kulturen der Gesellschaft | Band 49
Thomas Senkbeil (Dr. phil.), geb. 1985, ist diplomierter Sozialpädagoge auf einer Jugend-Akutstation an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Pädagogischen Anthropologie, Sozialpädagogik und psychoanalytischen Pädagogik. In seinen praxistheoretischen Forschungen zum pädagogischen Takt richtet er den Blick auf die Beziehungsgestaltung der professionellen Akteur*innen und deren therapeutische Rahmenbedingungen. Oktay Bilgi (Dr. phil.), geb. 1982, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department für Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Theoriebildung in der Pädagogik der frühen Kindheit, der ästhetischen Bildung in der frühen Kindheit, der Pädagogischen Anthropologie sowie der Bildungsphilosophie. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit dem historisch-systematischen Begründungszusammenhang des pädagogischen Denkens. Dieter Mersch (Prof. Dr.) war Professor für Medientheorie und Medienwissenschaft an der Universität Potsdam, danach Direktor des Instituts für Theorie an der Zürcher Hochschule der Künste und zuletzt von 2018 bis 2021 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, der Medienphilosophie, Ästhetik und Kunsttheorie sowie der Semiotik, Hermeneutik, des Poststrukturalismus und der Philosophie des Bildes, der Musik und der Sprache. Christoph Wulf (Dr. phil.) ist Professor für Anthropologie und Erziehung und Mitglied des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie an der Freien Universität Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Historische Anthropologie, Pädagogische Anthropologie, Interkulturelle Bildung, Mimesis- und Imaginationsforschung, Performativitäts- und Ritualforschung, ästhetische und interkulturelle Erziehung.
Thomas Senkbeil, Oktay Bilgi, Dieter Mersch, Christoph Wulf (Hg.)
Der Mensch als Faktizität Pädagogisch-anthropologische Zugänge
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Inhalt
Einleitung Oktay Bilgi, Thomas Senkbeil, Dieter Mersch & Christoph Wulf .............................. 9
I. Den Menschen anders denken Menschenbilder Ein systematisch-heuristischer Überblick Jörg Zirfas ............................................................................... 27
Der Mensch zwischen Humanismus und Posthumanismus Dieter Mersch ............................................................................ 37
Zur Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit des Menschen Überlegungen der Pädagogischen Anthropologie Jörg Zirfas ............................................................................... 67
Den Menschen relational denken Versuch einer Standortbestimmung relationaler Anthropologie Theresa Lechner ......................................................................... 85
II. Performativität und Politik in postfaktischen Zeiten Die Performativität von Fakes Thari Jungen............................................................................. 101
Der Fake als eine analytische Kategorie der Universitäts-, Schul- und Unterrichtsforschung Anja Kraus ............................................................................... 119
Die Digitale Moderne Zur Neuheit von »Faktizität« im »Informationszeitalter« Sara Morais dos Santos Bruss ........................................................... 137
Körperbilder als politisches Steuerungsmittel? Kritische Re-/Lektüre cyberfeministischer Konzepte aus pädagogisch-anthropologischer Perspektive Ann-Kathrin Stoltenhoff ................................................................. 155
Zum kritischen Potential der Aufmerksamkeit in postfaktischen Zeiten Lena Scheuring .......................................................................... 171
Takt – Resonanz – Widerstand oder »Was braucht es zur Revolution«?! Thomas Senkbeil ........................................................................ 189
Fakt und Fiktion in der faschistischen Rhetorik Ein Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke Salomé Meier ........................................................................... 213
III. Transformation des Menschen im Anthropozän: Krisenbearbeitung zwischen Natur und Kultur Der Streit um die Zukunft Anthropozän und Nachhaltigkeit als Herausforderung Christoph Wulf .......................................................................... 231
»Bauen nach Katastrophen« Theater und Anthropozän am Beispiel einer Performancekunst mit Kindern Kristin Westphal......................................................................... 247
Am Schauspiel einen Anhalt finden Faktizität und Natur der Leiblichkeit im Verhältnis zur frühkindlichen Erfahrung bei Merleau-Ponty Claus Stieve............................................................................. 265
Ein ökologisches Leben leben Bildungsphilosophische Suchbewegungen zu einer Postwachstumsgesellschaft Frank Beiler............................................................................. 281
Eine pädagogische Exploration zu Ethiken der Mensch-Tier-Beziehung im Anthropozän Oktay Bilgi .............................................................................. 301
Menschlichkeit heißt Fruchtbarkeit Eine Revision des Naturzustandes Andreas Weber ...........................................................................317
Epilog »How to become Andy Kassier« Andy Kassier ............................................................................ 341
Autor_innenverzeichnis ........................................................... 351
Einleitung Oktay Bilgi, Thomas Senkbeil, Dieter Mersch & Christoph Wulf
Betrachtet man die politischen Positionen und gesellschaftlichen Veränderungen, werfen die aktuellen gesamtgesellschaftlichen Zustände die Frage auf, wie es um das Humane im 21. Jahrhundert bestellt ist. Folgt man der Diagnose des Postfaktischen, dann leben wir in einer Zeit grundlegender Verunsicherung über elementare Fragen. In seinem Werk »Existenzweisen« führt Bruno Latour (2018) mit einem anschaulichen Beispiel in die Problemdiagnose des Postfaktischen ein: »Um einen runden Tisch sitzen etwa fünfzehn französische Industrielle, verantwortlich für eine nachhaltige Entwicklung in verschiedenen Unternehmen. Ihnen gegenüber ein Forscher vom Collège de France, Spezialist für Klimafragen. Es ist Herbst 2010, es tobt ein Streit, ob der Klimawandel menschlichen Ursprungs ist oder nicht. Einer der Industriellen stellt dem Professor eine Frage, die ich ein wenig zu ungeniert finde: ›Aber warum soll man Ihnen glauben, Ihnen mehr als den anderen?‹ […] Ich frage mich, wie der Professor antworten wird. Wird er den peinlichen Frager zurechtweisen und ihn daran erinnern, da[ss] es sich nicht um Glauben, sondern um Tatsachen handelt? Wird er von neuem die ›unbestreitbaren Daten‹ wiederholen, die nur wenig Raum für Zweifel lassen? Aber zu meiner großen Überraschung antwortet er mit einem langen Seufzer: ›Wenn man kein Vertrauen in die wissenschaftliche Institution hat, dann ist das schwerwiegend‹.« (Latour 2018: 32-33; Herv. i.O.) Das Beispiel gibt Auskunft darüber, wie sehr Fakten und Daten zur Begründung wissenschaftlicher Erkenntnisse an Evidenz verlieren. In dieser Hinsicht erweist sich nicht nur die Frage des Industriellen als postfaktisch. Ebenfalls zeugt die Antwort des Klimaforschers davon, wie sehr zur Begründung und Rechtfertigung wissenschaftlicher Erkenntnisse auf die Autorität »wissenschaftlicher Institutionen« vertraut wird als auf die »unbestreitbare Gewi[ss]heit« von Fakten (ebd.: 35). In Latours Beispiel findet die Narration einer Krise des Faktischen ihren Ausdruck, die mit einem tiefgreifenden Wandel in Politik und Kultur in Zusammenhang gebracht wird. Dabei scheint der Mensch im Krisenmodus angekommen. Die aktuelle Corona-Krise lässt uns auf die drängenden Fragen unserer Zeit (Demokratie, Migration, Digitalisierung und Natur) anders und neu blicken. Und diese Diagnose
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verlangt eine Verständigung über die Frage, was vernünftiges und ökologisches Handeln in Zeiten der Krise bedeutet. Für ein historisch und kulturelles reflexives (Selbst-)Verständnis des Menschen bildet die Diagnose primär einen Anhaltspunkt und darüber hinaus eine zentrale Bedeutung für zukunftsorientierte Anthropologie(n) des Menschen für das 21 Jahrhundert. Bereits 2016 wurde das Wort postfaktisch von der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) zum Wort des Jahres gekürt. Nicht mehr Fakten und der Anspruch von Wahrheit diene als öffentliches Legitimations- und Begründungsmotiv, sondern allein die »gefühlte Wahrheit« (GfdS 2016). Als Initiationsereignisse für die aktuellen Auseinandersetzungen mit dem Problemfeld des Postfaktischen werden die Leave-Kampagnen vor dem Brexit-Referendum zum EU-Austritt Großbritanniens (bpb 2019) sowie der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf in 2016 (und auch wiederholt in 2020) genannt. In den bekannten Fällen hatten Falschnachrichten und Verschwörungen Hochkonjunktur, sodass es den Anschein hatte, Fakten spielten auf der politischen Bühne kaum noch eine Rolle. Folgenlos sollten die virtuellen Hassparolen und die zum Aufstand auffordernden Tweets des amerikanischen ExPräsidenten Donald Trump jedoch nicht bleiben. Ganz im Gegenteil führten seine affektgeladenen digitalen Aussagen zu einer einmaligen Zensur seiner verschiedenen Social-Media-Kanäle, da die gezielten Falschmeldungen die Grundpfeiler der Demokratie ins Wanken zu bringen drohten. Der traurige Höhepunkt endete mit seiner gezielten Streuung von Fake News über Twitter und Facebook und erzeugte einen »Sturm auf das Herz der Demokratie« (Steinmeier 2021), genauer mit der »Erstürmung des Kapitols« am 07.01.2021. Nach nur kurzer Zeit ist der Begriff des Postfaktischen also zu einem neuen gesellschaftlichen Modewort avanciert. Schon 2016 ruft der Philosoph Eduard Kaeser das »postfaktische Zeitalter« aus. Ähnlich wie bei den Diagnosen Postmoderne oder Poststrukturalismus wird zuweilen sogar vom Postfaktischen als epochaler Umbruch, als eine neue große Erzählung nach der Faktizität gesprochen (Keyes 2004). Folgt man der Einschätzung von Schal, Fleuß & Dumm (2017), dann liegt die Attraktivität des Postfaktizitätsbegriffs darin, dass dieser als einheitlicher Diskurs konstruiert und hierdurch überhaupt als eine große Erzählung wahrgenommen wird. Historisch wie gegenwartsanalytisch kann hingegen gezeigt werden, dass mit dem Begriff des Postfaktischen weder ein neues noch ein klar abzugrenzendes Problemfeld angesprochen ist. Die pädagogisch-anthropologische Frage nach der Faktizität des Menschen unter postfaktischen Konstellationen eröffnet somit ein facettenreiches und breites Themenfeld. Der multiperspektivische Forschungsansatz der pädagogischen Anthropologie verweist auf vielfältige, komplementäre sowie widerstreitende Zugangsweisen zu Fragen der Faktizität des Menschen in postfaktischen Konstellationen. Unter welcher (pädagogischen) Perspektive, Denkweise oder Problemdiagnose wird die Faktizität des Menschen überhaupt zum Thema? Dabei
Einleitung
wird der Begriff der Postfaktizität als heuristischer Deutungsrahmen verstanden, um die Frage nach der Faktizität des Menschen systematisch zu explorieren. So werden die Komplexität und Vielschichtigkeit der affirmativen, kritischen und analytischen Zugänge zum Problemfeld des Postfaktischen thematisch relevant. In dem Problemkomplex der Faktizität des Menschen lassen sich mindestens drei aufschlussreiche Fragen unterscheiden: •
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Erstens stellt sich die Frage, welche möglichen Diagnosen, Einsichten und Antworten eine pädagogische Anthropologie angesichts gesellschaftlicher Herausforderungen des Postfaktischen bietet. Zweitens wird in diesem Zusammenhang die Frage nach den real-historischen sowie den wissenschaftstheoretischen Bedingungen und Voraussetzungen einer pädagogischen Anthropologie angesichts des Postfaktischen brisant. Inwieweit ist die pädagogische Anthropologie im Zuge gesellschaftlicher Transformationen des Postfaktischen auf erkenntnistheoretischer sowie gegenstandstheoretischer Ebene herausgefordert? Wie ist eine pädagogische Anthropologie angesichts von Phänomenen des Postfaktischen denkbar? Und drittens ist in unserer Zeit nach pädagogischen Möglichkeiten zu fragen, die mit den Schlagworten Unsicherheit, Angst, Risiko und Kontingenz angesichts von Selbstoptimierung, Digitalisierung, Enhancement und Trans- bzw. Posthumanismus verbunden sind. Wie können Erziehende und Lehrende mit Problemen umgehen, die mit einer offenen Zukunft, mit neokapitalistischen Entwicklungen, mit Überforderung, Erschöpfung und Ermüdung verknüpft sind?
Die Historizität des (Post-)Faktischen Der Versuch, den Menschen aus verschiedenen Perspektiven und im Hinblick auf unterschiedliche humane Gegebenheiten zu (be-)greifen, lässt sich im Abendland über mehr als zwei Jahrtausende verfolgen. Auf bemerkenswerte Weise wird in der abendländischen Philosophiegeschichte ersichtlich, dass die Fragen nach Wahrheit, Wirklichkeit, Vernunft und Erkenntnis des Menschen seit der Moderne in radikaler Form gestellt werden und die Gegenwart diese erkenntnistheoretischen Konzepte der Moderne nun kritisch weiterdenkt. Vor allem Philosophien und Theorien zur sprachlichen Konstitution von Wirklichkeit und Wahrheit, wie sie im 20. Jahrhundert in den Philosophien von Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein prominent geworden sind, haben mit ihrer Kritik an dem neuzeitlichen Programm einer Humanisierung der Welt wesentliche Impulse für das Verständnis einer postfaktischen Anthropologie des Menschen und seiner Beziehung zur Welt geliefert. Alle drei genannten Autoren bemühen sich um eine
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Überwindung des rationalen Subjekts und der Vorstellung, man könnte unabhängig von Sprache eine Wahrheit setzen. So schreibt etwa Nietzsche (1873) in seinem Essay »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn«: »Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, da[ss] sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.« (Nietzsche 1999: 880f.) Jean-François Lyotard (1979) Diagnose vom Ende der Meta-Narrationen wird zur historischen Weichenstellung für die Diskussionen um das Postfaktische am Ende des 20. Jahrhunderts. Die Diagnose des postmodernen Wissens proklamiert die legitimatorische Krise der Wissenschaften, in der Wissen und Wahrheit durch alternative Formen der Wahrheitsspiele relativiert oder gar ersetzt werden. Das Wissen in postindustriellen Gesellschaften, so Lyotards Schlussfolgerung, löse sich zunehmend von seinem bildungstheoretischen Entstehungszusammenhang und werde selbst zu einer Produktivkraft, einer »informationellen Ware« im »weltweiten Konkurrenzkampf« (Lyotard 2015: 32). Wie Lyotard selbst noch feststellte, begünstigt die Relativierung der Legitimität umfassender theoretischer Erklärungsmodelle nicht nur postmoderne Sprachspiele, ebenso würden hier die Grundlagen für eine »positivistische Philosophie« (ebd.: 131) vorbereitet, die die Wahrheitsfindung durch die »Performativität der Verfahren« unterlaufen hätten (ebd.: 115). Auch Michel Foucaults (1966) Analysen zur historischen Genese unterschiedlicher Menschenbilder und seine radikale Prognose, dass der Mensch (der Wissenschaften) verschwinden wird »wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand« (Foucault 2008: 463) werden zum Ende des 20. Jahrhunderts zum entscheidenden Impulsgeber für postmoderne Theorien. Folgt man Frederic Jameson (1986), dann sind postmoderne Theorien durch eine tiefgehende Transformation der bis dato gültigen Modelle gekennzeichnet. Das hermeneutische Modell von Innen und Außen, das dialektische Modell von Wesen und Erscheinung, das psychoanalytische Modell vom Latenten und Manifesten, das existenzialistische Modell von Authentizität und Nichtauthentizität und schließlich das semiotische Modell vom Signifikant und Signifikat werde zunehmend durch Analysekategorien wie Praktiken, Diskurse, (Inter-)Textualität relativiert, sodass Wirklichkeit als Vielzahl von möglichen Konstruktionen erscheint (ebd.: 56f.). Der epistemologischen Prämisse, dass die Analytik des Menschen die Historisierung unterschiedlicher Bilder des Menschen voraussetze, die »sowohl die Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes als auch die Geschichtlichkeit ihrer Methoden zu reflektieren« ermöglicht (Kamper/Wulf
Einleitung
1994: 9), folgt auch die historische und schließlich die pädagogische Anthropologie. Die vielfältigen Zugänge pädagogischer Anthropologie zeigen, wie die je konkreten Verfasstheiten bzw. die empirische Variabilität, wie auch die spekulativen Visionen des Menschen im Zentrum ethnografischer, historischer oder theoriesystematischer Ansätze stehen. Diese machen zugleich deutlich, dass die pädagogische Anthropologie methodisch und theoretisch einem fortschreitenden Ausdifferenzierungsprozess unterliegt.1 Wulf (2009) erinnert daran, dass der Mensch – als Singular- und Kollektivsubjekt – dabei sich selbst immer auch verborgen bleibt und sich nur in Fragmenten begreifen kann. (Un-)Verborgenheit und (Un-)Verfügbarkeit kennzeichnen die anthropologische Faktizität des Menschen, die ständig historischer wie kultureller Explikationen und (Neu-)Interpretationen bedarf. Mit der kulturtheoretischen Neujustierung pädagogisch-anthropologischer Menschenbilder im Zuge des linguistic bzw. cultural turns (1960-1970er Jahre) wird die Komplexität sozialen Handelns nun mit Blick auf den Mehrwert der performativen Inszenierung und Aufführung von Ritualen, Subjektpositionen und Körpern untersucht, vor allem im Hinblick auf die Singularität und Kontingenz sozialer Ereignisse, die eine fehlende Planbarkeit und Voraussehbarkeit pädagogischer Interaktionen implizieren (Wulf/Göhlich/Zirfas 2001). Mit diesem veränderten Verständnis vom Menschen und seiner Bildung gewinnen ästhetisch-sinnliche Dimensionen wie etwa Körperlichkeit, Imagination und Ereignishaftigkeit sowie mimetische Prozesse der Weltaneignung und -transformation an Bedeutung (Wulf/Zirfas 2005). »Die Macht der Performativität liegt darin, dass sie eine ›praktische Wahrnehmung‹ dessen herstellt, was der Körper ist. Performativität trägt zur Subjektbildung und zur Bestätigung des Subjekts im gesellschaftlichen Diskurs bei. Betrachtet man den performativen Akt als ein auf die Erzeugung von Wirklichkeit abzielendes Prozessgeschehen, so sind seine Akte sowohl von den funktionalen Bedin-
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Exemplarisch verwiesen werden kann auf 1. ethnografische Ansätze pädagogischer Anthropologie, in denen die je konkreten Verfasstheiten und die empirische Variabilität des Menschen in den Blick rücken; 2. kulturtheoretische Ansätze, die sich – in neuerer Fassung – der Kontingenz des Menschen in sozial- und performativitätstheoretischen Zugängen annähern; 3. historische Ansätze und deren Fokus auf pädagogische Diskursivierungen des Menschlichen; 4. existentiell-phänomenologische Ansätze, die auf leibliche und appellative Dimensionen des (Mit-)Menschlichen aufmerksam machen; 5. bild- und wahrnehmungstheoretische Ansätze und ihre Zugänge auf die Medialität des Menschen; neurowissenschaftliche Ansätze, die biologische und evolutionstheoretische Aspekte des Menschen beleuchten; 6. technowissenschaftliche Ansätze, die im Faszinosum eines virtual beings die Möglichkeit der Überschreitung des biologisch determinierten Menschen sehen; 7. sowie Ansätze eines neuen Realismus bzw. Materialismus, die sich um eine posthumane Rehabilitierung ontologischer Entwürfe des Menschlichen bemühen.
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Oktay Bilgi, Thomas Senkbeil, Dieter Mersch & Christoph Wulf
gungen des Gelingens als auch von den phänomenalen Bedingungen der Verkörperung abhängig.« (Ebd.: 11) Nach einer Phase der Affirmation des Postfaktischen in Theorie und Forschung, die sich nicht zuletzt in der Herausbildung eines kulturtheoretischen Forschungsfeldes (Reckwitz 2006) mit vielfältigen Spielarten (post-)konstruktivistischer Epistemologien im 21. Jahrhundert widerspiegelt, werden nunmehr kritische Stimmen aus unterschiedlichen Diskursfeldern (Feministische Theorie, Science Studies, New Materialism) vernehmbar, die die (nicht intendierten) Nebenfolgen der De-Faktifizierung sozialer Wirklichkeiten problematisieren (Überblick Bilgi 2021: 123f.). Das Postfaktische fungiert hier als kritische Reflexionsfolie, um bisherige Versäumnisse und blinde Flecken der Theorie und Forschung zu analysieren und einen kritischen Begriff von Faktizität wiederzugewinnen (ebd.).2 Einen wichtigen zeitdiagnostischen Ausgangspunkt bildet dabei die kritische Diagnose einer Koinzidenz zwischen gesellschaftlichen Transformationsprozessen, wie sie seit Ende der 1960er Jahren unter den verschiedenen Labels der nachindustriellen Gesellschaft (Bell 1985), der reflexiven Modernisierung (Beck 2016), der Spätmoderne (Giddens 1992), des Post-Histoire (Gehlen 1988) oder der Gesellschaft der Singularitäten (Reckwitz 2019) diskutiert werden, und einem an Dezentrismus, Kontingenz und Vielfalt von Identitäten orientierten Theorie-Framework in den Sozial- und Kulturwissenschaften seit den 1970er Jahren (Bilgi 2021). Wie Gronemeyer und Stegemann in ihrer Debatte um den neuen Realismus anmerken, »mehren sich die Anzeichen, dass sich die Dekonstruktion von sprachlichen und sozialen Zuschreibungen immer weiter von ihrem emanzipatorischen Anspruch entfernt und in ihr Gegenteil verkehrt hat« (Gronemeyer/Stegemann 2017: 10). So hätte die »Dekonstruktion immer öfter den Effekt, dass angesichts einer zersplitterten Realität nicht mehr zu erkennen [sei], wer tatsächlich in ihr profitiert« (ebd.). Die Gefahr der Postfaktizität, man könne die Realität bis zu einem ungewissen Grad verbiegen und wahr werden lassen, man müsse nur daran glauben, scheint ein neues Ausmaß angenommen zu haben, was die Grundpfeiler der Wissenschaft, Argumentation, Überprüfbarkeit und Rationalität eruiert. In »Elend der Kritik« konstatiert Bruno Latour (2007) eine gefährliche Nivellierung zwischen der konstruktivistischen Skepsis gegenüber Tatsachen der Wissenschaft und Positionen von »gefährlichen Extremist[*innen]«, die sich ebenso 2
Entscheidend für die anthropologische Betrachtung der Faktizität des Menschen scheint die Rückbesinnung auf die Vulnerabilität und Körperlichkeit als konstitutive Faktoren der anthropologischen Grundstruktur. So heißt es bei Fuchs (2020): »Menschen sind weder biologische Maschinen noch reine Geister, sondern in erster Linie lebendige, das heißt verkörperte oder leibliche Wesen. Leib zu sein, ist uns nicht äußerlich, sondern die grundlegende Form unserer Existenz, insofern unser Fühlen, Wahrnehmen, Denken und Handeln immer eine Weise des verkörperten Lebensvollzugs ist.« (Ebd.: 75)
Einleitung
auf die soziale Konstruktion berufen (ebd.: 11). So fragt Latour: »Müssen wir, während wir jahrelang versucht haben, die wirklichen Vorurteile hinter dem Anschein von objektiven Feststellungen aufzudecken, jetzt die wirklich objektiven und unbestreitbaren Fakten aufdecken, die hinter der Illusion von Vorurteilen verborgen sind?« (Ebd.; Herv. i.O.) Für die Rehabilitierung eines kritischen Denkens spricht sich Latour für eine reflexive »Rückkehr zur realistischen Haltung« (ebd.: 22) aus. Folgt man Latour, dann sind Wirklichkeiten nicht vordergründig durch Diskurse oder objektive Tatsachen zu definieren, sondern durch Dinge von Belang, die uns angehen (matters of concern). Dinge von Belang bieten ein erweitertes Verständnis von komplexer Realität, die – mit Heidegger gesprochen – versammelt, statt objektive Fakten zu unterstellen, die schützt und pflegt, statt nur zu entlarven (ebd.). Versuche eines neuen Realismus (bzw. Materialismus) bieten eine interessante Reflexionsfolie, um das Postfaktische auf einer epistemologischen Ebene verständlich zu machen. Das Post im Postfaktischen meint in diesem Sinne nicht ein Jenseits des Faktischen, sondern beschreibt vielmehr Versuche seiner Rehabilitierung auf einer höheren Reflexionsebene. Der gemeinsame Ausgangspunkt dieser unterschiedlichen und nicht abgeschlossenen Theorieversuche lässt sich in einer grundlegenden Kritik gegenüber sozialkonstruktivistischen, linguistischen, diskurstheoretischen Ansätzen und ihrer epistemologischen und subjektzentrierten Vereinseitigung ausmachen (Folkers 2013: 18f.). Ansätze des New Materialism bemühen sich um post-anthropozentrische Verhältnisbestimmungen von epistemologischen Begrifflichkeiten, ontologischen Reflexionen sowie ethischen Orientierungspunkten. Sie leiten ihr Verständnis von einer Ontologie des Lebens ab, die Körper, Materialitäten, Dinge sowie ihre relationalen Bezüge in den Fokus stellt (Barad 2017; Braidotti 2018; Haraway 2018). Neuere Theorieströmungen in den Techno- und Biowissenschaften verweisen etwa auf die virtuelle Transzendenz und Faszination eines virtual being, dass das Potential beinhaltet, biologisch determinierte Identitäten zu unterwandern und gender neu zu performen und auszulegen; die Rede ist von Post-Gender-Identität oder Post-Humanität. Wie kann die pädagogische Anthropologie im Hinblick auf die »qualifizierte Unverfügbarkeit« (Rosa 2019) des Menschen eine Orientierung bei zunehmender Digitalität und Virtualität bieten? Ist es gar die historische Stunde der pädagogischen Anthropologie und deren Verweis auf den Humanismus? Entscheidend scheint eine Vertiefung der Frage zur Realität in der (Neo-)Wahrheitsdebatte zu sein, die Formen eines radikalen Humanismus inszenieren und den postmodernen Körper als Ort der gelebten Möglichkeiten sehen. Wahrheit und Wirklichkeit als Prüfstein für politische Debatten und öffentliche Meinungsbildungen stehen nun mehr zur Disposition. Was kann in einer postfaktischen Welt gelten? Wie können Fakten von Fakes, Wahrheiten von Lügen unterschieden werden? Der Fake kulminiert in seiner ursprünglichen Idee aus einer spezifischen Dialektik aus Wissen und Nichtwissen, Original und Kopie, Kunst
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und Kritik; er impliziert ein erkenntnispolitisches Kalkül. Der Fake will auf mimetische Art etwas erreichen; seine Intention ist eine Wirkung zu erzielen. Dabei gilt weiterhin, Wahrheiten können historisch variieren und sie sind an das menschliche Erkenntnisvermögen gebunden und bewegen sich innerhalb eines sprachgebundenen Denkstils, welcher kultur- wie naturwissenschaftlich gesehen, von den Apparaten und Instrumenten abhängt, mit denen Wirklichkeit bzw. Objektivität/Wahrheit beobachtet, gemessen und analysiert wird. In diesem Sinne leistet das Buch eine kritische Diagnose und Bestandsaufnahme sowie Ermittlung von Desideraten und konstruktiven/produktiven Ideen zur Frage des Menschen in postfaktischen Zeiten. Neben einer differenzierten und kritischen Analyse gegenwärtiger Konstellationen des Postfaktischen ist die pädagogische Anthropologie in mehrfacher Hinsicht herausgefordert, Möglichkeiten nach Perspektiven und Einsichten angesichts des Postfaktischen zu suchen und diese weiterzuentwickeln. Neben der Zeitdiagnose bemüht sich das Buch demzufolge auch um eine gegenstandstheoretische Selbstvergewisserung einer pädagogischen Anthropologie: Inwiefern ändert sich der Gegenstand der pädagogischen Anthropologie (Frage nach dem Menschen) und inwiefern ändert sich dabei das epistemologische, politische sowie ethische Gesicht der pädagogischen Anthropologie angesichts ökologischer und existenzieller Krisen? Schließlich geht es auch um erziehungswissenschaftliche Anschlüsse an neue theoretisch-epistemologische Konzeptualisierungen des Menschen (Stichwort: Posthumanismus) sowie um neue Formen der kritischen Einschätzung, der normativen Bewertung und didaktischen Ausgestaltung der Erziehung und Bildung des Menschen in postfaktischen Konstellationen. In den im Folgenden zu skizzierenden Themenfeldern (Virtualität, Fakenews, Politik in postfaktischen Zeiten und Nachhaltigkeit), die exemplarisch für zentrale Diskursstränge innerhalb der Konstellationen des Postfaktischen stehen, werden Phänomene und Facetten der Faktizität des Menschen in je spezifischer Weise zum Gegenstand. Sie erscheinen für die pädagogische Anthropologie gegenwärtiger und zukünftiger Bilder des Menschen sowie seiner Bildung von besonderem Interesse.
Teil 1: Den Menschen anders denken Postfaktizität nicht nur als die Zeit nach der Faktizität zu affirmieren, sondern sie produktiv für die Suche nach nicht essentialistischen und reduktionistischen Konzepten des Menschlichen und seiner Bildung zu wenden, beschreibt die Zielsetzung dieses Buches. Die Frage nach der Faktizität des Menschen kann nur aporetisch beantwortet werden. Jörg Zirfas zeichnet in einem systematisch-heuristischen Überblick die Tiefenstrukturen pädagogischen Denkens und Handelns und
Einleitung
die komplexen pädagogischen Zuschreibungen als Menschenbilder der Geschichte. Man kann den Menschen und seine Bildung aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten, und nicht alle der dabei entstehenden Bilder sind deckungsgleich, doch das bedeutet nicht, dass man etwas frei Erfundenes über die Wirklichkeit sagen kann. Sich in nicht-absoluter, eben kontingenter Weise auf Fakten als unabdingbare Notwendigkeit zu beziehen und um diese Kontingenz zu wissen, bricht mit den geläufigen Trennungen und Entgegensetzungen (Fiktion/Tatsache, Simulation/Wirklichkeit, Konstruktivismus/Realismus, Mensch/Nicht-Mensch) und macht es möglich, innovative Perspektiven und Antworten auf das Menschliche für gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen zu explorieren. Die Suche nach neuen Entwürfen des Menschen bedarf neuer Orientierungspunkte oder einer stärkeren Skepsis gegenüber den Gegebenen. Jüngere Theoriediskurse des Posthumanismus oder des Neuen Realismus sind Querschnittsthemen, die für die Analyse gegenwärtiger Problemkonstellationen (Klimakrise, Anthropozän, Virtualität, Post-Demokratie) sowie eine post-anthropozentrische Neujustierung von Menschenbildern in unterschiedlichen Kontexten (Feminismus, Ökologie, Politik, Pädagogik) immer bedeutsamer werden lassen. Dabei werden die unterschiedlichen Begriffe (Humanismus, Antihumanismus und Posthumanismus) teilweise äquivok verwendet. Um eine sorgsame Trennung der verschiedenen Arten von Humanismen und Humanismuskritiken bemüht sich Dieter Mersch in diesem Band. Dabei rekonstruiert Mersch die Theoriegeschichte der verschiedenen Spielarten von Anti- und Posthumanismus und verweist auf ihren genuin metaphysischen Grund. In einem zweiten Beitrag widmet Jörg Zirfas sich den Möglichkeiten und Grenzen der Natur und Technik und letztlich der menschlichen (Selbst-)Bestimmung. Theresa Lechner versucht aus einer historisch-dialektischen Perspektive mit Bezug auf Friedrich Schleiermacher den Menschen aus seiner relational-anthropologischen Beziehungsförmigkeit her (neu) zu denken.
Teil 2: Virtualität und Politiken im postfaktischen Zeitalter Die weitreichenden Folgen von postfaktischen Wissens- und Wahrheitsspielen auf Kontexte der Politik, Medien, Kunst, Pädagogik und Wissenschaft sind bisher nur rudimentär erforscht. Demokratie in Zeiten des Postfaktischen, die Zunahme populistischer Sichtweisen, das Aufkommen neuer Ökonomien der Aufmerksamkeit beschreiben in diesem Zusammenhang neuartige Problemkonstellationen postfaktischer Wissens- und Wahrheitsspiele. Die Kunst der Manipulation impliziert immer auch eine Art Neuschöpfung und setzt durch »das Ereignis der Enttäuschung einen Reflexionsprozess in Gang«, wie der Beitrag von Thari Jungen verdeutlicht. Die Transformation von Selbstbestimmung und Verschiebung des Sinnlichen kann als ein politischer Akt gelesen wer-
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den. Anja Kraus zielt auf die performative Kraft der Kategorie Fake bei der Aufdeckung pädagogischer Zusammenhänge von Personalität, Sozialität sowie Wissen und erinnert, bei jeglichem Potenzial der Aufdeckung von Machtstrukturen, dass ein Fake immer teilweise unaufgeklärt bleibt. Die emotionale Polarisierung bestehend aus Euphorie des Progressiven und der Angst vor dem Ungewissen zeigt sich im Rahmen der Virtualität besonders. In Zeiten der Digitalisierung ereignen sich die gesellschaftlichen Umbrüche schneller und großflächiger. Die emotionale Involviertheit des Menschen führt teilweise zu hoher Skepsis bis hin zur Furcht vor progressiven Schritten, die mit einer Vermessung, Datensammlung, computergestützten Kontrolle und Ersetzung des Menschen durch Künstliche Intelligenz zu tun haben. In diesem Kontext wird weiterhin zu untersuchen sein, welchen Einfluss die visuellen und akustischen Medien auf die mitempfindende mimetische Resonanz haben und unser Gefühl für räumliche, wie körperlich-leiblich Nähe-Distanz verändern. Resonanz ist im Hinblick auf die Faktizität daher ein paradigmatisches Erfahrungsformat von Intersubjektivität, welches das ästhetische Tun in digitalen und virtuellen Sphären besonders hervorhebt. In der digitalisierten Wissens- und Informationsgesellschaft erhält der Begriff Virtualität schließlich eine technische Dimension, indem diese vor allem als virtuelle Realität thematisch und damit auf eine technisch hergestellte Wirklichkeit (im Sinne einer techné) sowie in jüngster Zeit auf digitale Medien enggeführt wird. Eine Verschränkung der Themen Virtualität und (Un-)Verfügbarkeit des Menschen nimmt die körperlichen Begrenzungen im digitalen Zeitalter in den Blick, die sich auf rasante Weise verschieben und Formen der Kommunikation verändern. Der Beitrag von Sara Morais dos Santos Bruss beleuchtet die Historizität von Wissensproduktionen und ihre Komplizenschaft mit Macht im Hinblick auf die techno-utopistische Perspektive wie auch die radikale Ablehnung als solche, die in der aktuellen Debattenkultur um das Problemnetzwerk des 21. Jahrhunderts ein aufklärerisches Menschenbild zeichnen. Ann-Kathrin Stoltenhoff widmet sich einer poststrukturalistischen sowie queer- und technofeministischen Position bei ihrer Betrachtung veränderter Menschenbilder und verweist dabei auf cyberfeministische Gegenpositionen als »wichtige Agentinnen im Diskurskampf«. In den Fokus rückt ebenso die Ausdifferenzierung eines virtuellen Imaginären, das affektive Beiträge oder Begehren hemmt oder blockt. Andererseits kann von einer regelrechten emotionalen Entfesselung in virtuellen Räumen gesprochen werden, in der es neue Formen der Höflichkeit, des Anstands, der Zurückhaltung und des Takts (netiquette) bedarf, die einen sogenannten shitstorm präventiv entgegenstehen und Cyber-Angriffe oder Mobbingfälle zu verhindern wissen. Lena Scheuring nimmt die aktuellen gesellschaftlichen Transformationen inklusive ihrer Folgen für die menschliche Aufmerksamkeit in den Blick und analysiert, wie dieses Potential unter den gegenwärtigen Bedingungen anders und kritisch gedacht werden kann. Das Phänomen der Aufmerksamkeit unterliegt dabei einer intendierten
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politischen und ökonomischen Vereinnahmungsstrategie, die ein souveränes Subjekt voraussetzt. Die aktuellen Versuche der politischen Unterwanderungen hinsichtlich völkisch-nationalistischer Konzeptionen des Identitätsbegriffs durch Rechte (u.a. Hildebrand 2017) sowie die Gefahr affektgeladener Diskurse in subversiven, meist virtuellen Räumen, zeigen das mitunter negative Potential von Virtualität. Wie schnell von der Mehrheitsgesellschaft für (moralisch) gut geheißene Positionen gegenteilige Effekte auf gesellschaftliche Bewegungen haben können, sobald sie populistisch und postfaktisch befeuert werden, stellt sich in den sozialen Medien dar. Es wird zunehmend beobachtet, dass ein politischer Diskurs überhaupt erst ein mediales Interesse erzeugt, wenn mit Hilfe antagonistischer Kontrastfolien, die Gesellschaft in zwei Lager geteilt wird. So ergeben sich neue Theorien, beispielsweise zur Politik in postfaktischen Zeiten, die mit Hilfe einer Persönlichkeitsanalyse, namentlich anhand der Person Donald Trump, gefährliche Taktiken der Politik offenlegen und Gesellschaftsdiskurse anstoßen. Thomas Senkbeil verweist mit seinem Beitrag auf das gesellschafts- und kulturkritische Potential des Takt-Konzepts und greift dabei eine Leerstelle des antiquierten Begriffs auf. In seinen Resonanzpädagogischen Überlegungen werden zeitgenössische Beobachtungen skizziert und mit der Frage verknüpft, was es für eine Revolution zu einer nachhaltig solidarischen Gesellschaft benötigt. So bezeugen zeitgenössische gesellschaftliche Entwicklungen und Bewegungen soziale Disparitäten und gesellschaftliche Exklusion hinsichtlich individueller Zugänge zu sozialen Positionen. Ebenso deuten neue Verrohungstendenzen in Sprache und Aktion auf teilweise bedrohliche Art und Weise, wie es um die Demokratie und Glaubwürdigkeit von Fakten bestellt ist. Homogenisierungstendenzen von politisch Rechten, separatistische Bewegungen der gesellschaftlich Linken, oder affekthaltige Bewegungen aus nahezu allen Milieus und Richtungen implizieren Transformationen mit fortschrittlichen Verheißungen für die Zukunft, welche die eigenen, für bestätigt gehaltenen inneren Grundüberzeugungen aus den Bahnen werfen können. Salomé Meier diskutiert mit Albrecht Koschorke die Grundzüge der faschistischen Rede anhand Hitlers Buches »Mein Kampf« und verweist auf die Dringlichkeit des Kampfes gegen rechtsradikales Gedankengut, welches auf dem Weg der Institutionalisierung und Verbreitung in der Gesellschaft bedrohliche Formen angenommen hat. Gleichzeitig kann von einem Erstarken utopischer, zumeist linker Ideen gesprochen werden, was die Gesellschaft polarisierend in zwei Lager teilt – Kosmopoliten versus Traditionalisten – und sich auf den hoch ambivalenten Konfliktlinien der Sphären Virtualität und Digitalität abspielt. Entscheidend ist, welche neuen Formen der Zugehörigkeit und Solidarität entstehen und wie sich demokratische Kollektive neu bilden werden.
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In anthropologischer Hinsicht scheinen eine gegebene Verunsicherung und Spaltung der Gesellschaft aufgrund der Orientierung an politische Ränder real und alarmierend zugleich. So zeigen die Ergebnisse der Landtagswahlen in Ostdeutschland 2019, dass durchschnittlich ein Viertel der Wähler*innen eine rechtspopulistische Partei wählen, die von sich aus sagt, das der thüringische Spitzenkandidat der AFD als Faschist in der Mitte der Partei stehe. Nicht zuletzt bekräftigt der GeorgBüchner Preisträger Lukas Bärfuß in seiner Dankesrede in Darmstadt, die Nazis seien nie weggewesen, sie waren immer zwischen uns. Er erinnert an die schmerzhafte menschliche (deutsche) Vergangenheit und hält sie mit seinen literarischen Werken lebendig. Darüber hinaus warnt er eindringlich vor dem Vergessen der Gewalt und appelliert an Hoffnung und Zuversicht an den Menschen, trotz oder gar aufgrund der neuen Diskursintoleranz in der Welt. Dass dieser Diskurs nicht neu ist, darüber hinaus die politischen Entwicklungen vor einem halben Jahrhundert widerspiegelt, verstärkt die immerwährende Angst, der Mensch habe aus den Gräueltaten der Geschichte nichts gelernt. Theodor W. Adornos Appelle an die Humanität in seiner Wiener Rede über Aspekte des neuen Rechtsradikalismus von 1967 zur Aufarbeitung der Vergangenheit lässt die damaligen Analysen bedrohlich real erscheinen.
Teil 3: Transformation des Menschen im Anthropozän. Krisenbearbeitung zwischen Natur und Kultur Eine weitere Konstellation des Postfaktischen lässt sich in einer Rückbesinnung auf die Beziehung zwischen Mensch und Natur ausmachen. In den Debatten um das Anthropozän rücken nicht nur die negativen Folgen der Bewirtschaftung, der Verbrauch von natürlichen Ressourcen, der Klimaveränderung und der Umweltverschmutzung in den Fokus ( u.a. Wulf 2020). Traditionelle Antworten und Selbstverständlichkeiten über den Menschen und seiner Beziehung zur Natur verlieren ihre Evidenz. Gleichzeitig wird immer bewusster, dass die Menschheit die Verantwortung für die Zukunft des Planeten trägt. Doch scheint der Mensch in einem Zustand der ohnmächtigen Verantwortung gefangen. Aufgrund der Unsicherheit, Prekarität und Gefahr in der ökologischen Katastrophe, scheint sich der Mensch nach Schutz und Sicherheit zu sehnen und befürwortet einen konservativen bis reaktionären Weg aus der Krise, obwohl unsere Gesellschaften einen radikalen Wandel benötigen würden. Das Anthropozän enthält damit die Aufforderung einer Neuordnung der Stellung des Menschen in der Natur. Grundlegende Konzepte und Begrifflichkeiten müssen neu gedacht werden. Was ist noch Natur, wenn sie in grundlegender Weise durch menschliche Einwirkungen bestimmt ist? Wie sinnvoll erscheinen tradierte Grenzziehungen zwischen Natur und Kultur? Welche Bilder des
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Menschen sind heute noch zukunftsweisend, und welche erkenntnistheoretischen, politischen und normativen Herausforderungen stellen sich in besonderer Weise? Der Appell an die neue Erzählung des Menschen richtet sich unweigerlich an zeitgenössische Narrationen alternativer Zukünfte und einer verstärkten Akzentuierung des utopischen Denkens. Angesichts ubiquitärer Steigerungs- und Fortschrittslogiken wird weiterhin zu fragen sein, wo die Grenzen des Humanen im 21. Jahrhundert liegen, welche Rolle der Mensch in Zukunft neben der Natur als zentraler Akteur neben Datenströmen oder Netzwerken noch spielt (Wulf/Zirfas 2020) und wie eine Ära der Post-Wachstumsgesellschaft aussehen und realisierbar werden kann. Inwiefern die Gegebenheiten im Anthropozän nachhaltige Auswirkungen auf das Handeln der Menschen zeigen, und welchen Wert wir den mit wissenschaftlichen Methoden erhobenen Daten, Fakten und Argumenten bemessen, scheint eine der dringendsten und spaltenden Herausforderungen unserer Zeit, wie Christoph Wulf in diesem Buch beschreibt. Die weltpolitische Forderung nach einer Bildung für nachhaltige Entwicklung markiert hier einen ersten Anhaltspunkt für eine zukunftsweisende Transformation der Mensch-Umwelt-Beziehung. Auch in der Kunst- und Theaterforschung werden die mit dem Anthropozän diagnostizierten ökologischen, epistemischen sowie ethischen Krisen zum Gegenstand kultureller und künstlerischer Praktiken. Die Frage danach, wie ästhetischkünstlerische Praktiken in epistemische und ethische Problemkonstellationen des Anthropozäns eingebunden sind und welche Transformationen des Selbstverständnisses des Verhältnisses von Selbst und Welt angesichts der Grenzen des Wahrnehmbaren und Zukünftigen denkmöglich werden können, wird in dem Beitrag von Kristin Westphal behandelt. Am Beispiel von global vergleichender künstlerisch-performativer Feldstudien mit Kindern zeichnet Westphal nach, wie in experimentellen Praktiken an Orten mit alltäglichen Gegenständen, Texten und sprachlichen Aufführungs- und Ausdruckformen Kinder Imaginationen eines möglichen zukünftigen Lebens beim »Bauen von Katastrophenmodellen« hervorbringen. Dass eine Transformation der Mensch-Natur-Beziehung notwendigerweise das Zusammenspiel der inneren und äußeren Natur des Menschen zur Voraussetzung hat, wird in dem Beitrag von Claus Stieve deutlich. Aus einer leibphänomenologischen Perspektive fragt Stieve nach der Verhältnisbestimmung der Begriffe der Faktizität, Natur und Kultur im Kontext von frühkindlichen Erfahrungen. Mit Merleau-Ponty diskutiert er am Beispiel einer videographierten Szene aus einem Kindergarten nach der Faktizität der Leiblichkeit und untersucht auf dieser Basis den Leib als Umschlagstelle von Natur und Kultur in der Konstitution von (frühkindlichen) Erfahrungen. In kritischer Distanz zu klimapolitischen Forderungen einer großen Transformation unter dem Leitgedanken der Nachhaltigkeit, die eine Gefahr einer Politik
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der De-Polititisierung befördere, schlägt Frank Beiler eine Verschiebung des epistemologischen sowie politischen Frameworks vor. Anschließend an Denkansätze der Ontologien des Sinnlichen skizziert Beiler Formen der politischen Subjektivierung, die bildungsphilosophische Suchbewegungen zu kollaborativen, artenübergreifenden Lebenspraxis bieten sollen. Welche Maßstäbe und Rahmenbedingungen sind zum Führen eines ökologischen Lebens in politischer sowie epistemologischer Hinsicht zukunftsweisend? An diese Frage schließt der Beitrag von Oktay Bilgi an; er untersucht kollaborative Praxen in mehr als menschlichen Welten und entwickelt auf dieser Grundlage Gedanken zu einer Ethik der Mensch-Tier-Beziehung im Anthropozän. Ausgehend von dem australisch-kanadischen Forschungsnetzwerk Common World Research Collective werden didaktische sowie (care-)ethische Vorschläge zur MenschTier-Beziehung in posthumanistischer Perspektive vorgestellt sowie anthropozentrische Denkstrukturen in der Geschichte und Theorie der Pädagogik kritisch beleuchtet. Der dritte Teil des Buches schließt mit dem Beitrag von Andreas Weber, der sich um eine grundlegende Revision innerer und äußerer Naturverständnisse bemüht. Ausgehend von Epistemologien des Indigenen entwirft Weber eine animistische Kosmologie, die tradierte anthropozentrische Vorstellungen des Naturzustandes (romantisch vs. technokratisch) grundlegend ins Wanken bringt. In der von Weber entwickelten Vorstellung einer Pädagogik des Lebendigen wird Ökologie als die Gemeinschaft alles Lebenden begriffen, die vom Begehren nach lebensstiftenden Verbindungen und einer Tugend der Vermehrung des Lebendigen getrieben ist, um in Zeiten der Zerstörung Leben zu erneuern, Leben zu schenken.
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Menschenbilder Ein systematisch-heuristischer Überblick Jörg Zirfas
Einleitung Dass jede pädagogische Theorie und jegliches pädagogische Handeln ein explizites oder implizites Menschenbild enthält, erscheint vielleicht trivial. Bedeutsamer wird dieser Sachverhalt, wenn man sich bewusst macht, dass pädagogische Menschenbilder deskriptive und vor allem normative Vorstellungen darüber enthalten, was ein/der Mensch ist, was er kann und soll, wie Entwicklungen verlaufen bzw. verlaufen sollen oder auch, was eine humane Bestimmung ausmacht bzw. ausmachen soll. Sie enthalten damit auch Vorstellungen darüber, was Erziehung ist, wozu sie dient und wie sie umzusetzen ist. Pädagogischen Menschenbildern kommen im komplexen pädagogischen Geschehen Deutungs-, Orientierungs-, Praxis- und Legitimierungsfunktionen zu, weil sie Zuschreibungen ermöglichen, Erwartungen strukturieren, Handlungen präferieren und erzieherische Maßnahmen legitimieren. Pädagogische Menschenbilder sind mit Vorstellungen von wahr und falsch, gut und böse, schön und hässlich, gesund und krank etc. untrennbar verknüpft. Diese Menschenbilder gehören einerseits zu den Tiefenstrukturen pädagogischen Denkens und Handelns und sie sind andererseits von historisch-kulturellen Lebenslagen abhängig. Sie stehen insofern wiederum einerseits in einer sie fundierenden Beziehung zu den historisch-kulturellen Gegebenheiten wie sie andererseits auch selbst dazu beitragen, den pädagogischen Geist der Zeit zu stabilisieren oder zu verändern. Im Folgenden soll nun der Versuch unternommen werden, die häufig sehr pauschale Rede von den »Menschenbildern in der Pädagogik« begrifflich systematisch schärfer zu fassen. Dabei beziehe ich mich auf Menschenbilder der europäischen Tradition. Ich versuche in einem ersten Schritt zu unterschieden zwischen Wesensbestimmungen des Menschen, dualistischen und triadischen Modellen, sowie integrativen und negativen Modellen – ohne den Anspruch zu erheben, alle anthropologischen Modelle der Pädagogik in dieser Matrix versammelt zu haben oder auch versammeln zu können. Diese Reihung ist als analytische zu verstehen, die im Einzelfall nicht exakt trennscharf zu machen ist. Und sie ist nicht zufällig, da sie
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von stärkeren und eindeutigeren zu schwächeren und uneindeutigeren anthropologischen Vorstellungen verläuft. Damit folgt sie einer historischen Betrachtung, insofern die stärkeren Modelle sich bis zum 20. Jahrhundert, die schwächeren seit dem 20. Jahrhundert finden lassen. Und damit ist auch ein zweiter Argumentationsschritt verknüpft, nämlich dass stärkere Modelle eindeutigere Vorgaben für Erziehung, Unterricht und Bildung ermöglichen als schwächere. Insofern liefern stärkere Modelle die Grundlagen eines pädagogischen Systems, das die pädagogischen Ausgangslagen ebenso definiert wie die Ziele, Möglichkeiten und Erfolge pädagogischer Bemühungen. Die schwächeren Modelle (das integrative und negative) versuchen lediglich, die anthropologischen Bedingungen der Möglichkeit von Erziehung, Bildung und Unterricht in den Blick zu nehmen.
Wesensanthropologie Mit sog. essentiellen Anthropologien sind Modelle gemeint, die den Menschen auf einen »Wesen« hin festlegen, wobei unter »Wesen« die Eigenheit, die Natur, die Substanz, der Sinn, der Kern oder auch das Wirkliche verstanden wurden. So ist etwa bei Jan Amos Comenius (1592-1670) die zentrale anthropologische Figur eine unverdorbene und gute, d.h. letztlich gottgebene Menschennatur, an die immer wieder (pädagogisch) angeknüpft und die auch immer wieder (pädagogisch) hergestellt werden kann. Pädagogik findet hier in einem umfassenden Kontext statt, der zeitlich von der »Schule des vorgeburtlichen Werdens« bis hin zur »himmlischen Akademie«, d.h. von der fötalen bis zur letalen Existenz reicht; inhaltlich hat das zu vermittelnde Wissen einen pansophischen Anspruch: Es gilt allen, alles, allumfassend (omnes, omnia, omnino) zu lehren. Da der Mensch mit dem Schöpfungsplan in dreifacher Weise, nämlich: vegetativ, animalisch und spirituell, verbunden ist, leitet Comenius daraus auch eine Dreizahl der anthropologischen Bestimmungen und pädagogischen Aufgaben ab: Der Mensch soll Vernunft und Einsicht gewinnen, mit sich selbst und anderen diszipliniert umgehen und Gottes Ebenbild sein; dazu benötigt er die eruditio, die Zivilisierung und Rationalisierung, die mores als Tugenden und Sitten und die religio (oder pietas) als Nachbildung der Vollkommenheit Gottes. Andere Formen dieser essentialistischen Anthropologien lassen sich etwa bei Aristoteles (384-322 v. Chr.) und seiner Theorie des »zoon politikon« oder auch in Friedrich Nietzsches (1844-1900) Figur des Übermenschen nachzeichnen. Diese Vorstellungen sind inhaltlich positiv bestimmt und bieten eindeutige pädagogische Anschlussmöglichkeiten. Doch in der Regel sind diese anthropologischen Figuren nicht monistisch um einen Kern, sondern zumindest um zwei Aspekte zentriert. Bei Aristoteles wird zwar der Mensch einerseits als »zoon politikon« identifiziert, d.h. als ein Lebewe-
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sen, das in der Verwirklichung seiner Natur auf die polis, den Staat und die Gesellschaft bezogen ist. Doch andererseits spricht er auch von ihm als »zoon logon echon«, d.h. von einem Lebewesen, das sich durch den Logos im Sinne von Sprache und Vernunft auszeichnet. Insofern lassen sich mit Aristoteles zwei wesentliche Existenzformen benennen, die dem Wesen des Menschen angemessen sind: die praktische Existenz desjenigen, der sich für die ethischen und politischen Praxisfragen einsetzt und dabei die Freundschaft mit (wenigen) anderen pflegt (praxis); und die Existenz eines Philosophen, der sich durch Anschauung und Reflexion um das Leben und seine Prinzipien bemüht (theoria). Man kann hier natürlich die Existenzform der Praxis mit der einer Theorie in Übereinstimmung bringen – wie das bei Aristoteles angelegt ist; man kann aber auch von einer Spannung dieser beiden Lebensformen ausgehen.
Dualistische Anthropologie Hierbei geht es um Modelle, die im Abendland fast durchgängig vertreten sind, weil dieses im Kern durch ein binäres Denken gekennzeichnet ist. Dieses Denken erzeugt hierarchische Oppositionen, die im Grund die ganze abendländische Metaphysik ausmachen: Geist/Körper, Vernunft/Trieb, Kultur/Natur, Mann/Frau, Bewusstes/Unbewusstes, Freiheit/Zwang, Sprache/Stummheit, Gesellschaft/Individuum, Perfektion/Defekt, Erziehung/Wildheit etc. Zusammenfassend verweisen diese Oppositionen und die sich daraus ergebenden Modelle schon auf die Unmöglichkeit eines abgeschlossenen Menschenbildes. Allerdings lassen sich mehrere Facetten dieser Oppositionslogik verdeutlichen, die ich anhand des für das Abendland sehr prominenten Gegensatzes von Geist und Körper unternehmen werde. •
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Hierarchiemodell (Platon): Man kann eine Seite privilegieren und ein hierarchisches, und damit auch tendenziell gewaltförmiges Verhältnis zwischen Geist und Körper etablieren. Diese Form der Oppositionierung hat mehrere Effekte: Sie privilegiert eine Seite der Opposition, i.d.R. den Geist, sie wirkt vereinheitlichend (aus dem zahlreichen rationalen Tätigkeiten wird die Vernunft) und zugleich diskriminierend (eine Seite ist immer akzidentell, dunkel oder defekt), sie konstruiert inklusiv-exklusive Verhältnisse (je nachdem, welche Seite man mit welchem Sachverhalt identifiziert). Polarisierungsmodell (Descartes): Dieses Modell geht davon aus, dass wir es in der Pädagogik mit nicht vermittelbaren und – wenn man so will – isolierten Aspekten der menschlichen Psyche und des Körpers zu tun haben, die auch je einzeln für sich betrachtet werden müssen. Der Mensch ist res cogitans und rex extensa, die sich gegenüberstehen.
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Komplementaritätsmodell (Pestalozzi): Man kann Körper und Geist weniger stark als Polaritäten, sondern eher als sich ergänzende Aspekte einer pädagogischen Situation und Struktur betrachten. Der Mensch ist sowohl ein körperliches als auch geistiges Wesen – und insofern muss man beiden Aspekten pädagogisch etwa gleichermaßen gerecht werden. Insofern ist eine Pädagogik gut beraten, das sowohl als auch dieser komplementären Aspekte zu berücksichtigen. Geist ohne Körper wäre pädagogisch ebenso wenig sinnvoll denkbar wie Körper ohne Geist. Transitmodell (Kant): Der Mensch ist zwar (zunächst) ein körperliches Tier, hat aber vernünftige humane Anlagen, die durch die entsprechende Umwelt entfaltet werden können. Ziel ist die Humanisierung des Animalischen. Dieses Modell ist eng mit dem Fortschrittsmodell der Aufklärung verknüpft. Ist dieses Ziel aber nur approximativ erreichbar, dann ist mit ihm ein unendliches Projekt verbunden, gilt es doch den Menschen immer wieder (neu) zu disziplinieren, zivilisieren, kultivieren und moralisieren (Kant); insofern ist diese »Aufgabe« eine doppelte: nicht nur eine Pflicht, ein Projekt oder ein Programm, sondern immer auch ein Scheitern, ein Abbruch und eine Kapitulation. Das »krumme Holz des Menschen« (Kant) wird nie ganz gerade. Reziprozitätsmodell (Nietzsche): Das Modell der Wechselseitigkeit, d.h. der gegenseitigen Bezug- und Einflussnahme der Polaritäten von Vernunft und Körper gibt pädagogisch zu beachten, dass der Bezug auf Vernunft sozusagen immer auch körperliche Effekte provoziert wie auch die pädagogische Inanspruchnahme von Körperlichkeit Reaktionen des Intellekts zur Folge hat. Dialektikmodell (Freud): Etwas anders gelagert ist das Dialektikmodell. Der Mensch hat in sich körperlich-triebhafte Aspekte (Aggressivität), wie umgekehrt seine Leiblichkeit auch humane Aspekte (Kultur) umfasst. Pädagogische Interventionen müssen hier mit ungewollten Nebenwirkungen rechnen. Denn immer wieder zeitigen Kultivierungs- und Sozialisierungsleistungen ein »Unbehagen an der Kultur« (Freud), das in Selbst- und Fremdaggression umschlagen kann; und umgekehrt kann eine Förderung von Sinnlichkeiten aller Art zu höchsten Kunst- und Kulturleistungen befähigen.
Diese Modelle sollen verdeutlichen, dass die Pädagogik über weite Strecken ihrer Geschichte durch ein anthropologisches Denken strukturiert ist, das ein Differenzund Oppositionsdenken ist. Pädagogisches Denken ist Denken in Polaritäten, das gut beraten ist, wenn es versucht, pädagogische Voraussetzungen, Ziele, Praktiken und Bewertungen nicht nur von einer Seite der Korrelation der Polaritäten zu denken. Wir denken in diesen Differenzen und ihren Korrelationen und wissen zugleich, dass ihre Bedeutungen historisch kontingent und Ausdruck von Aushandlungsprozessen sind. Wir verstehen pädagogische Prozesse in diesen Korrelationen
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und orientieren unser Denken und Handeln an ihnen und nicht zuletzt legitimieren wir es auch durch sie.
Triadische Anthropologie Im Abendland finden sich anthropologische Überlegungen aber auch häufig um eine Trias zentriert, die über Jahrhunderte hinweg verschiedene Ausprägungen erfahren hat. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier einige bedeutsame Anthropologien benannt: Bei Platon ist die Rede vom Menschen als Integral von Vernunft (Lernbegierigem), Mut (Löwenartigem) und Begehren (Schlangenartigem), Thomas von Aquin begreift ihn durch Denken, Wollen und Fühlen, während für Jan Amos Comenius Vernunft (eruditio), Selbstbeherrschung und Zivilisierung (mores) sowie Ehrfurcht und Glaube (religio) den Menschen ausmachen. Bei Immanuel Kant wird die Anthropologie durch das Erkennen, die Moral und die Hoffnung konturiert, Johann Heinrich Pestalozzi fasst den Menschen durch Herz, Hand und Kopf und bei Sigmund Freud finden wir die Dreiheit von Es (Trieb), Ich (Handlung) und Über-Ich (Normen). Kurz: Der Mensch erscheint im Okzident (in zentralen Anthropologien) als animal rationale, animal sociale und animal emotionale – als vernünftiges, praktisches und emotionales Lebewesen. Eine pädagogische Anthropologie von Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) lässt sich in seinem anthropologischen Hauptwerk »Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts« (1797) wiederfinden. Ihr liegt eine Trias als Struktur zugrunde. Im Anschluss an Rousseaus Idee einer natürlichen Entwicklung zeichnet Pestalozzi in diesem Buch seine eigene Entwicklung und die des Menschengeschlechts nach, die dann als Modelle für Ontogenese und Phylogenese stehen sollen; dabei findet er heraus, dass er ein tierisches, soziales und moralisches Wesen ist. Auch Immanuel Kants (1724-1804) anthropologisches Denken umfasst insgesamt drei Ansatzpunkte, insofern man eine physiologische, eine pragmatische und eine transzendental-praktische Anthropologie unterscheiden kann: Während die physiologische die Natur des Menschen, seine physischen und physikalischen Dimensionen fokussiert und die pragmatische die vernünftige Gestaltung des Lebens propagiert, verfolgt die transzendentale Anthropologie die Grenzfestlegungen des Humanen. Liest man Kants anthropologische Überlegungen mit einem pädagogischen Blick, so muss die Pädagogik zunächst die physischen Dimensionen beachten, d.h. die physikalischen, körperlichen, rasse- und geschlechtsbezogenen Momente des Menschen; sie muss darüber hinaus den Mensch im pragmatischen Sinne in den Blick nehmen, d.h. den Menschen in den Raum des konkreten Allgemeinen einer Menschen- und Weltkenntnis stellen, die einen nützlichen Umgang mit dem Gebrauch der humanen Natur nahe legt, um so seine technischen Geschick-
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lichkeiten, praktischen Klugheiten und moralischen Weisheiten auszubilden und dem einzelnen Orientierungs- und Handlungswissen zu vermitteln. Und schließlich muss die Pädagogik sich auch mit der transzendentalen Idee des Menschen und seinem Autonomiepotential auseinandersetzen, was in das Dilemma führt, einerseits die Würde der Selbstbestimmungsfähigkeit unbedingt anzuerkennen und andererseits dennoch den Menschen disziplinieren, kultivieren, zivilisieren und moralisieren zu wollen: Denn der Mensch gelangt zu seiner Bestimmung nur durch Erziehung, die aber wiederum diese Bestimmung selbst nicht hervorbringen kann und soll.
Integrative Anthropologie Heinrich Roths (1906-1983) pädagogisches Menschenbild ist zwischen Bildsamkeit und Bestimmung situiert. So wird einerseits deutlich, dass Erziehung ohne Bildungsmöglichkeit (homo educabilis) unmöglich erscheint, und dass diese Bildsamkeit zugleich auf Erziehung angewiesen bleibt, um ihre Möglichkeiten auch entfalten zu können (homo educandus); andererseits zeigt sich, dass die zentrale Bestimmung des Menschen, seine Mündigkeit, in einer Selbstbestimmung bestimmt, die wiederum ohne pädagogische Reflexion und Praxis nicht realisiert werden kann. Roth betreibt eine integrative pädagogische Anthropologie, die die pädagogische Relevanz der Fülle des geistes- und naturwissenschaftlichen Wissens in Bezug auf Bildsamkeit und Bestimmung des Menschen diskutiert. Hierbei zielt er auf das theoretisch konsistente, empirisch abgesicherte und praktisch evaluierte Menschenbild eines reifen und mündigen Menschen, der sich durch die Vollständigkeit seiner körperlichen und seelischen Entwicklungsmöglichkeiten, durch Identität und Selbstreflexivität sowie durch Ausgeglichenheit im Verhältnis zu sich und der Welt auszeichnet. Die Vorstellung überwog, man könne das von den Human- und Naturwissenschaften erarbeitete anthropologische Wissen in die Erziehungswissenschaft einführen und zu einem für Erziehung und Bildung relevanten Ganzen zusammenfassen. Diesem Ziel entspricht auch die relative Homogenität des anthropologischen Wissens dieser Jahre, die mit dem Anspruch zusammenhing, allgemeine Aussagen über den Menschen, das Kind und die Erziehung machen zu können. Die Relativierung wissenschaftlichen Wissens in den wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzungen im Positivismus-, Hermeneutik-, Systemtheorie-, Strukturalismus- und Postmoderne-Streit hatte noch nicht stattgefunden. Sie führte im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in den Humanwissenschaften auch zur Auflösung für sicher gehaltener anthropologischer Referenzrahmen.
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Negative Anthropologie In der neueren pädagogischen Anthropologie erscheint der Mensch als homo absconditus. Der Mensch wird in dieser Perspektive zu einer nicht lösbaren Frage, zu einer negativen und heuristischen Kategorie, die die Reflexion über anthropologische Grundphänomene historisch, interkulturell, transdisziplinär und selbstreflexiv möglich machen soll. Gerade die paradoxale Fassung der modernen pädagogischen Anthropologie macht die Betonung des fragmentarischen Charakters und der Negativität von Menschenbildern möglich, d.h. die Unabgeschlossenheit, das Nichtwissen, das Nichtwissenkönnen und das Rätselhafte des Humanen. Nur wenn der Menschen offen, ja unerkennbar bleibt, können seine Bildungs- und Bestimmungsmöglichkeiten untersucht werden. Eine pädagogische Anthropologie des homo absconditus enthält sich jeder Wesensbestimmung des Menschen. Sie ist daher eine reiche, vielfältige Anthropologie. Ein Ergebnis anthropologischer Forschungen zeigt sich immer wieder: Der Versuch, die Universalien des Menschen zu bestimmen, führt zur Erkenntnis, dass die einzige Bestimmtheit des Menschen seine Unbestimmtheit ist. Zwar kann man deutlich machen, dass es viele Universalien gibt – z.B. alle Menschen werden geboren, sind sterblich, nehmen Nahrung zu sich, lernen etwas etc. –, doch unterhalb dieser bloß faktischen Feststellungen (die im Einzelnen weniger »faktisch« und weniger trivial sind, als man glaubt) zeigen sich zahlreiche bestehende oder mögliche Bestimmungen dieser Universalien. Diese Form pädagogischer Anthropologie stellt sich nicht mehr die Frage nach dem Menschen, sondern die Frage nach den je spezifischen, historisch-apriorischen Dimensionen, die für die Erziehungs- und Bildungsprozesse des Menschen als konstitutiv betrachtet werden. Nunmehr geht man davon aus, dass man ohne die Aspekte der menschlichen Entwicklungen und Grenzen, der Zeit- und Räumlichkeit, der Körper- und Leiblichkeit, der Kulturalität und Sozialität sowie der Subjektivität und Individualität den Menschen in der Pädagogik nicht angemessen verstehen kann. Diese Kategorien dienen der Pädagogik nunmehr als Deutungs-, Orientierungs-, Praxis- und Legitimierungshorizonte. Diese Anthropologien sind performativ-optative Anthropologien, da sie nicht mehr danach fragen, was den Menschen ausmacht, sondern wie er betrachtet und eingeschätzt werden kann – und welche pädagogischen Anschlussmöglichkeiten sich dabei ergeben.
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Zur Motivgeschichte Pädagogischer Anthropologien Versucht man nun über die vorgestellten unterschiedlichen anthropologischen Modelle hinweg Motive zu identifizieren, so kann man wohl folgende Ideen festhalten: A) Aus einer anthropologischen Perspektive, und darauf ist im letzten Jahrhundert in den geistes- wie natur- und sozialwissenschaftlichen Kontexten pädagogischer Anthropologie immer wieder hingewiesen worden, ist der Mensch ein homo educandus, ein erziehungsbedürftiges Lebewesen. Neben der Erziehungsbedürftigkeit hat die pädagogische Anthropologie noch ein anderes Moment betont, nämlich die Erziehungsfähigkeit des Menschen (homo educabilis). Auf diese beiden konstitutiven Momente ist die pädagogische Anthropologie gegründet: Nur wenn der Mensch erziehungsbedürftig ist, soll er auch erzogen werden, und nur dann, wenn er erziehungsfähig ist, kann er auch erzogen werden. Man kann die pädagogischen Bestimmungen der Anthropologie um folgende Aspekte erweitern und folgenden pädagogischen Grundriss der Anthropologie vorschlagen: •
• • • •
Der Mensch ist ein erzieherisches Wesen, insofern er einerseits erzogen wird (d.h. ein erziehungsfähiges und erziehungsbedürftiges Wesen ist) und anderseits ein Wesen, das selbst erzieht. Der Mensch ist ein lernendes (lernfähiges und -bedürftiges) Wesen. Der Mensch ist ein sich bildendes (bildungsfähiges und -bedürftiges) Wesen. Der Mensch ist ein lehrendes, unterrichtendes Wesen. Der Mensch ist schließlich ein sich sozialisierendes und kultivierendes Wesen.
Wer für immer, über alle Kulturen und Zeiten hinweg, über Menschen spricht, muss folgende pädagogische Kategorien unterstellen: Menschen lernen und bilden sich, werden erzogen bzw. erziehen sich selbst, lehren andere und entwickeln sich schließlich im Umgang mit Kultur und Sozialem. B) Ein relativ häufiges Motiv ist desweitern die Identifizierung eines deskriptiven mit einem normativen pädagogischen Menschenbild. So wird die Beschreibung einer spezifischen Form des Menschen als sein pädagogisches Idealbild ausgegeben, wenn etwa Platon die Existenz des Philosophen oder Locke das Leben eines Gentlemans normativ vorschreibt. Dieser Kurzschluss von Sein und Sollen und die mit ihm einhergehende Ideologisierung der Menschenbilder sind seit den sechziger Jahren in den Erziehungswissenschaften zu Recht stark kritisiert worden. Denn in der Geschichte der Pädagogik war man oftmals von einem einzigen idealistischen Menschenbild ausgegangen, das folgende Kriterien hatte: männlich, weiß, europäisch, vernünftig, bürgerlich, gesund, gebildet; dieses Menschenbild wurde dann als universeller pädagogischer Maßstab verwendet. Eine wichtige Aufgabe der pädagogischen Anthropologie heute besteht darin, auf die (gewaltför-
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migen) Implikationen solcher Sonderanthropologien aufmerksam zu machen und diese im Bewusstsein ihrer Historizität und Perspektivität einzuordnen. C) Als ein weiteres durchgängiges Motiv der pädagogischen Menschenbilder ist das pädagogische Ternar: 1. Natur/Wesen/Sein, 2. Lernen/Askese/Arbeit/Bildung und 3. Inhalte/Gegenstände/Ziele festzuhalten. Das meint, dass man in pedagogicis immer wieder einen engen Zusammenhang findet zwischen eines wie auch immer verstandenen menschlichen Wesens (als göttliches, als natürliches, genetisches etc.), den jeweiligen selbstbezogenen Lern- und Bildungspraktiken der Zöglinge und schließlich den je unterschiedlichen Lern- und Bildungsinhalten. I.d.R. erweitert sich dieses Ternar zu einem Quartett, insofern noch Erziehung und Unterricht zu diesem hinzukommen. Erst in der Neuzeit erhält der Selbstbildungsgedanke gegenüber dem Erziehungs- und Unterrichtsgeschehen einen systematischen bedeutsameren Wert. Der Mensch erscheint mehr und mehr als Werk seiner selbst und nicht als Resultat von Erziehung. D) Sodann lässt sich bis in das 20. Jahrhundert hinein eine Dominanz des Intellektuellen, des Geistes, des Verstandes und der Vernunft in den Menschenbildern ausmachen. Erst in jüngerer Zeit werden die pädagogischen Menschenbilder stärker in Bezug auf den Körper, die Mimesis, das Performative, das Ritual, die Geburt und den Tod, die Gefühle und die Imagination diskutiert. E) Festzuhalten ist auch, dass die pädagogische Anthropologie über die Jahrhunderte hinweg sich als ein immer offener werdendes Feld des Wissens entwickelt hat, dessen Ränder unscharf konturiert sind und das Überschneidungen mit vielfältigen Wissensformen (Philosophie, Geschichte, Ethnologie, Biologie, Psychologie, Theologie, Ästhetik usw.) enthält. Sie bildet heute keinen fest umrissenen, systematischen Wissenskanon mehr, sondern eine wissenschaftliche Einstellung oder Haltung, die die Frage nach dem Humanen stellt, eben weil dieses rätselhaft und nicht vollständig erkennbar ist. Sie definiert sich über die Perspektiven und die Problematisierungen, die sich in ihrem Wissen abzeichnen. F) Schließlich: Diese Überlegungen wiederum verweisen darauf, dass Menschen ihr Leben anthropologisch leben, d.h. auf die Bedingungen der menschlichen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten reflektieren. Und zu diesen Bedingungen gehören unweigerlich auch die Phänomene der Erziehung, der Bildung und des Unterrichts. Und: Wie kaum in einer anderen wissenschaftlichen Betrachtungsweise ist in der Anthropologie der Forschende mit sich selbst konfrontiert, gehen der Forscher und seine Gegenwart in die pädagogisch-anthropologische Forschung mit ein. Wer Aussagen über das Humane macht, macht auch Aussagen über sich selbst – und vice versa. Neuzeitliche Anthropologie ist im Kern selbstreflexive anthropologische Anthropologie.
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Der Mensch zwischen Humanismus und Posthumanismus Dieter Mersch
Einleitung Die Begriffe des Humanismus, Antihumanismus und Posthumanismus werden äquivok verwendet. Sie kursieren in unterschiedlichen Diskursen mit zum Teil gegensätzlichen Bedeutungen. Mal wird das Etikett Humanismus im negativen Sinne eines Anthropo- oder besser Humanozentrismus verstanden und dem Anthropozän sowie dem Ende des Menschen im Sinne einer Sistierung seiner Machtstellung zugeordnet, um ihm kontrapunktisch eine relativierende Humanismuskritik entgegenzusetzen. Mal wird es auch positiv als ethisches Programm mit universalistischen Ansprüchen wie den allgemeinen Menschenrechten oder, im Sinne Jacques Derridas, einer »Ethik der Gabe« (Derrida 1993) bzw. einer »Politik der Freundschaft« (Derrida 2018) oder – in der Bedeutung, die ihm Emmanuel Lévinas verliehen hat – als soziale Humanität bzw. als »Humanismus des anderen Menschen« (Lévinas 2005) aufgefasst. Mal wird aber ebenfalls, im Unterschied dazu, der Antihumanismus mit einem Posthumanismus als Teil eines anhaltenden Ikonoklasmus der Kultur der Aufklärung verstanden, oder, als deren Pendant und andere Seite, mit einem technisch definierten Transhumanismus identifiziert, der – forciert durch Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz – die Schwächen »des Menschen« ausgleichen und überwinden helfen soll, um einen »anderen«, einen »Übermenschen« Nietzscheanischer Prägung durch »Enhancement« und »Cyborgisierung« zu kreieren (Herbrechter 2009). Man muss also verschiedene Arten von Humanismen, Humanismuskritiken oder Post- und Transhumanismen sorgsam auseinanderhalten, um den Etiketten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wobei die Unübersichtlichkeit der zeitgenössischen Diskurse sowohl systematische als auch historische Gründe hat. Dabei erweisen sich die Überschneidungen als derart dicht, dass es vorderhand schwerfällt, klare Linien durch das Labyrinth der Positionen zu ziehen. Ein erster – durchaus dominanter Bezugspunkt – bildet Martin Heideggers (1975) an seine französischen Leser*innen gerichtete »Brief über den ›Humanismus‹«, der bezeichnenderweise den Ausdruck Humanismus in distanzierende Anführungszeichen setzte. Hei-
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deggers Brief setzte sich vor allem mit der Hegemonie des Menschen auseinander, seinem Souveränitätsanspruch gegenüber allem Seienden, seiner Zentrierung inmitten des Seins, als ob die Welt gleichsam nur für ihn und zu seiner Verfügung geschaffen sei. Dabei entzifferte Heidegger den Humanismus als Charakteristikum der Geschichte der Metaphysik von der Antike bis zu Friedrich Nietzsche und dem »Ende der Metaphysik«, mit der Nietzsche (1999) in »Also sprach Zarathustra« die Notwendigkeit einer Transformation des klassischen Menschen durch die Heraufkunft des »Übermenschen« postulierte. Die entscheidenden Passagen in dieser dichterisch-philosophischen Schrift haben indessen ebenso viele Missverständnisse wie zweifelhafte Rezeptionen erfahren, obgleich Nietzsche, wie später auch Heidegger, den Begriff des Menschen historisiert, um ihn – als Menschenbild – einer bestimmten Periode des Denkens, nämlich der nachsokratischen, christlichen sowie neuzeitlichen und rationalistischen Epoche zuzuschreiben. Demgegenüber beziehen sich der Antihumanismus und Posthumanismus der Gegenwart zumeist auf Michel Foucaults (1974) »Ordnung der Dinge« sowie auf Jean-François Lyotards (2006) Kritik des »Inhumanum«, welches dem Humanitätsphantasma von Beginn an konstitutiv eingewoben sei. Beide historisieren im Übrigen gleichfalls die Bestimmung des Menschen als genuin metaphysisch und schließen damit an Heidegger an. Jede Version von Humanismus, die eine Begründung der Idealität des Menschen vornimmt, fällt danach dem Paradox zum Opfer, ihr eigenes Gegenteil mit hervorzubringen und sich an ihm zu beschämen. Von diesem ersten, kritischen Sinn des Humanismus ist ein zweiter, ethisch motivierter Humanismus zu unterscheiden, der von der Differenz zwischen Humanität als einem übergreifenden Wert und dem Menschen als wissenschaftliches Objekt und Abstraktum ausgeht. Statt einen Kollektivsingular zu adressieren und ihm eine generelle anthropologische Bedeutung zuzumessen, richtet sich der Begriff der Humanität in der Bedeutung von humanitas auf universelle Kriterien der Menschlichkeit, d.h. auf das, was den Menschen allererst zum Menschen macht, sei es mit Verweis auf moralische Grundsätze oder allgemeine Normen, sei es in Ansehung angeborener Naturrechte oder als verbriefte, durch Vernunft jederzeit einsehbare Grundrechte (Bloch 1961). Das Anliegen des so verstandenen Humanismus geht nicht nur auf den griechischen Humanismus, sondern auch auf seine Umwandlung durch das römische juridische Denken zurück, das die Renaissance, insbesondere Guarino Veronese, Leon Battista Alberti und später Philip Melanchthon und Erasmus von Rotterdam wiederbelebt und neu ausgelegt haben (Burdach 1978; Grassi 1986). Aus ihm sind nicht nur die verschiedenen protestantischen Revisionen christlicher Lehren hervorgegangen, sondern auch die idealistischen Debatten der Aufklärung, besonders die Idee einer universalen Moral, wie sie Immanuel Kant (2011) formuliert hat. Zum Dritten wäre davon nochmals der religiös motivierte, spezifisch jüdische Humanismus abzugrenzen, der auf den anderen Menschen gerichtet ist und von ihm
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her und seinem Leiden denkt.1 Er zielt sowohl auf das Soziale in seiner grundlegenden Bedeutung für den Menschen ab, sofern wir einerseits nichts ohne andere sind, also uns nicht einmal selbst verstehen könnten ohne Bezug auf eine Alterität, als auch andererseits auf die Unverzichtbarkeit eines starken Begriffs von Humanität für jede Konstruktion von Sozialität. Die Besonderheit liegt dabei darin, dass beide – die Humanität wie das Soziale – sich nicht nur korrelativ zueinander verhalten, sondern stets noch messianisch ausstehen. Wir haben es dann mit einer utopischen Figur zu tun, deren Realisierung eine unendliche, nie verwirklichte Ankunft heraufbeschwört, die umgekehrt wie ein Korrektiv, eine regulative Idee wirkt, entlang derer der Zustand des wirklichen Menschen zu einem gegebenen Zeitpunkt gemessen werden kann. Nur nicht hat Karl Marx daraus seinen Gesellschaftsentwurf abgeleitet, vielmehr können diesem Denken ebenfalls die Sozialphilosophien von Maurice Blanchot und Emmanuel Lévinas zugeschlagen werden, denn »[w]as wir dem jüdischen Monotheismus verdanken«, so Blanchot (1991), »ist nicht die Offenbarung eines einzigen Gottes. Es ist die Erschließung der (gesprochenen) Sprache als Ort, wo die Menschen sich in Bezug halten zu dem, was jeden Bezug verweigert: […] das absolut Fremde.« (Ebd.: 266) Schließlich wäre davon wiederum als vierte Variation ein Humanismus im Sinne der Wissenschaften zu trennen, die spätestens seit dem 19. Jahrhundert den Menschen zu ihrem bevorzugten Untersuchungsgegenstand erklärt haben, um seiner Herkunft, seiner Biologie, seiner Psychologie und seiner sozialen Verhaltensweisen auf die Spur zu kommen und sie nachhaltig zu verändern. Mit ihnen korrespondiert eine Biopolitik der Unterwerfung mit den extremen Auswüchsen einer Kontrolle der Sexualität wie ebenso den Programmen einer perfektionierenden Züchtung des neuen Menschen bis hin zu den verschiedenen Anthropometrien und Rasselehren, die vor allem von der biologischen Überlegenheit des weißen, europäischen Menschen erzählten (Weingart/Kroll/Bayertz 1988). In dieser Perspektive hatte Foucault (1987) den Humanismus einer beißenden Kritik unterzogen, um ihn als Projekt eines anhaltenden »Willens zum Wissen« im Namen sowohl einer wissenschaftlichen Durchdringung des Menschen, der Überwachung seiner Triebstrukturen als auch seiner biopolitischen Dressur bis hin zur Bemächtigung seines Verlangens nach Freiheit zu dekuvrieren. Die Beziehung zwischen Technik und Humanität gewinnt daraus ihre tiefgreifende Ambiguität. Denn einerseits rekonstruierte Foucault die politischen Techniken der Disziplinierung, andererseits scheinen gerade die Technologien des Körpers geeignet, dessen Vermögen über die natürlichen Grenzen hinaus auszuweiten. Dann avanciert – über Foucault hinaus und entgegen seiner erklärten Intention – der Posthumanismus zu einem Transhumanismus, der die Sphäre des Menschen verlässt und ihn technisch-kybernetisch
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Besonders Karl Rosenzweig, Martin Buber und Emmanuel Lévinas.
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umzuerfinden sucht – bis hin dazu, seine konstitutive Leiblichkeit überhaupt abzustreifen. Der Geist will digitalisiert werden, bis er durch seine Verwandlung in reine Zeichenketten die Endlichkeit der Zeiten schließlich zu überdauern vermag. Donna Haraways (1995) »Cyborg« bildet dessen ironisches Zerrbild, auch wenn seine kulturwissenschaftliche Vulgarisierung aus ihm das glatte, affirmative Gegenteil gemacht hat. Doch bliebe das Gesamtbild und seine Kartographierung ohne eine weitere – fünfte – Spielart des wissenschaftlichen Posthumanismus unvollständig, der wiederum das Umgekehrte behauptet, nämlich den Rücktritt des Menschen gegenüber der Kreatur und den Dingen, die alle gemeinsam in ein Netzwerk aus Aktanten eingesponnen seien. Es besteht, wie es Bruno Latour (1996a) ausgedrückt hat, aus symmetrischen Relationen, die keinem Element je einen Vorrang über das andere einräumt. Die »Akteur-Netzwerke«, die als ein Begriff zu lesen sind, bilden dann nicht Aggregate aus vorgegebenen Instanzen, die sekundär ins Verhältnis zueinander gesetzt werden, sondern sie existieren allein als heterogene Ensembles, die sich zu kompletten Ökologien formieren. Kategorial treten sie an die Stelle sämtlicher humanozentrischer Imaginationen, zwischen ihnen eine Egalität zu behaupten. Damit einher geht überhaupt die Aufwertung eines Anderen-als-Menschlichen, worin die Zukunft des Menschen im Sinne seiner konsequenten Dezentrierung allererst bevorstünde (Morton 2008).
Humanistischer Antihumanismus und antihumanistischer Humanismus Humanismus, Antihumanismus sowie Posthumanismus und Transhumanismus entspringen also gleichsam einer diskursiven Unordnung, die es ebenso zu durchdringen gilt, wie auf der anderen Seite nach den wechselvollen Beziehungen zwischen ihnen gefragt werden muss. Nicht zwingend führt nämlich eine Kritik menschlicher Selbstermächtigung im Sinne dessen, was wir als Humanozentrismus bezeichnet haben, zu einer Devaluierung jeglichen Verständnisses von Humanität, so wenig wie sie die Rede vom Menschen oder Menschlichen bereits obsolet erscheinen lässt – vielmehr geht es in allen Versuchen im Gegenteil darum, den Menschen um des Menschen willen zu vertiefen. In dieser Hinsicht drängt vielleicht jeder Posthumanismus, recht verstanden, gleichzeitig zu einer Fortsetzung des humanistischen Projekts. Denn die Rede vom Posthumanum hat wiederum nur Sinn in Bezug auf den Menschen, seiner Reflexion und seinem anderen Werden. Man kann dann nicht von einer Humanismuskritik sprechen, ohne den Humanismus zu restituieren, wie gleichermaßen nicht von einem Posthumanismus gesprochen werden kann, ohne durch ihn hindurch ein neues oder weiteres Humanum heraufzubeschwören. Das Ende des Menschen wird den Menschen, um dessen Zweck es ausgerufen wird, nicht los, wie ebenso sehr seine Relativierung und Destituierung
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in den humanen-nonhumanen Netzwerken die Sensibilität für seine Bedingungen nur steigert. Umgekehrt lassen sich die verschiedenen Radikalisierungen des humanistischen Projekts gleichfalls unter das Vorzeichen eines Antihumanismus stellen. So kann Lévinas’ Philosophie der Alterität gleichzeitig als ein antihumanistisches wie humanistisches Projekt aufgefasst werden, sofern unter Humanismus die Idee des Menschen im Sinne der klassischen Metaphysik, d.h. seiner rückhaltlosen Zentrierung verstanden wird, wie sie auf der anderen Seite die Hauptwerke »Totalität und Unendlichkeit« (2002) und »Humanismus des anderen Menschen« (2005) gerade zu überwinden trachteten. Humanismus und Antihumanismus verhalten sich, so gesehen, nicht grundlegend kontradiktorisch zueinander, vielmehr erweisen sie sich aufeinander bezogen. Das gilt im Grunde auch für die verschiedenen Humanismuskritiken der sogenannten Postmoderne. Sie zielten vor allem auf eine Machtkritik – im Falle Foucaults auf die Kritik der Biopolitik oder im Falle Lyotards auf das Inhumanum im Humanum. Das bedeutet, dass auf paradoxe Weise die ethischen Bestimmungen des Humanismus nicht notwendig vor Gewalt schützen, dass vielmehr in deren Namen jedwede Unmenschlichkeit oder Ungerechtigkeit ausgeübt und gerechtfertigt werden kann, dass also die Regime der Humanität den Tod und die Repression nicht nur gebilligt, sondern auch forciert haben, dass, mit einem Wort, die grausamsten Herrschaften ihre äußerste Perfidie daraus bezogen haben, dass sie ihre Repression und genozidale Vernichtungspolitik gerade unter Berufung auf eine angebliche Liebe zum Menschen legitimiert und aufrechterhalten haben. Ähnliches kann von Foucaults »Ordnung der Dinge« gesagt werden. Sie analysierte die »Epoche des Menschen« als Zeitalter seiner wissenschaftlichen Zerlegung und Disziplinierung, um ihn zuletzt, so die berühmte Formulierung, »verschwinden« zu sehen »wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand« (Foucault 1974: 462). Gemeint ist dabei nicht das Ende des Menschen im Sinne seiner letztendlichen Extinktion, sondern eine doppelte Vorstellung von Ende im Sinne einer Auflösung der Idealismen wie auch des Aufhörens hegemonialer Missionen, um schließlich das Wissen über das Humane zu nichts anderem zu verwenden als zu einem Mittel politischer Gouvernementalität. Sie bleibt abermals im eigentlichen Sinne humanozentristisch. Im selben Maße sah auch Jacques Derrida (1999a) in »Fines hominis« die verschiedenen Ordnungen des Menschlichen und seiner Zwecksetzungen zu einem Ende gekommen, nämlich in Gestalt der vielen Enden oder Zwecke, die die Macht über den anderen und die Zurichtung menschlicher Konditionen betreffen, wie auch jenem Zuendekommen einer bestimmten historischen Idee vom Menschen, um sie durch andere Imaginationen zu ersetzen. Traf dies zu einem gewissen Grade ebenfalls schon für Heideggers »Brief über den ›Humanismus‹« zu, sofern dieser den Humanismus im Ganzen als Grundzug der abendländischen Metaphysik überhaupt zu denunzieren suchte – was wieder-
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um nichts anderes bedeutete, als im Gegenzug Metaphysikkritik zu betreiben, die mit der Destruktion bisheriger Philosophie auch die jeweiligen historischen Formen der Menschlichkeit des Menschen destruierte –, so bekommen wir es hier weniger mit der Zurückweisung verschiedener Figurationen des Humanums zu tun, als vielmehr mit einem Prinzip von Philosophie, das die Welt mittels rationaler Aussagen sich anzueignen und zu regieren bestrebte. An ihren Platz rückt bei Heidegger ein Denken, das er im Schlussparagraphen seines Briefes ausdrücklich nicht mehr als Philosophie bezeichnet wissen wollte, sondern als ein »ursprünglicheres Denken« oder »anderen Anfang«, der noch vor den Ursprung der Philosophie bei Platon und Aristoteles zurückgeht und zugleich ein anderes, vorgängiges Verhältnis des Menschen zu Sein und Welt wiederherstellen soll. Es wird, jenseits aller »Machenschaften« der Metaphysik, besonders in den 1989 posthum erschienenen »Beiträgen zur Philosophie« aus einer Dialektik von »Zuspiel« und »Gegenschwung« hergeleitet, das dem »Seyn« als (temporales) »Ereignis« den unbedingten Vorrang von den philosophischen Kategorien der Weltbeschreibung erteilt, dem wiederum ein ihm »ent-sprechender«, d.h. eine Sprache verleihender Mensch zu antworten trachtet (Heidegger 1989). Jenseits des Humanismus instantiierte also Heidegger ein alteritäres Verhältnis, das vom Primat des Seins und einer respondierenden Zueignung das künftige Menschsein in einer ursprünglichen passio gründen sollte. In ähnlicher, aber noch grundsätzlicherer und weit über Heidegger hinausgehender Weise ging es gleichfalls Lévinas um eine Konvertierung dessen, was er seit »Totalität und Unendlichkeit« und in besonderer Weise in der Spätschrift »Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht« als die strukturelle »Egologie« europäischer Philosophie geißelte, der er die Begegnung mit der Andersheit des Anderen als einer genuinen Erfahrung von »Passibilität« gegenüber stellte, die tiefer reicht als jeder Gegensatz von »aktiv« und »passiv« (Lévinas 2011). Insonderheit spricht Lévinas dabei, mit Blanchot, von einer »Arche-Passivität« als dem ursprünglichen Vermögen zu einem nicht mehr intentionalen Empfangen, das von Anfang an ethisch konnotiert ist (u.a. Mayer 2012). Nicht länger bildet dann ein wissenschaftlicher Humanismus die Grundlagen des Denkens, dem ein ethischer als sekundärer willentlicher Entschluss erst nachfolgt, sondern Denken vermag sich überhaupt nur in der Vorgängigkeit des Ethischen als eigentlicher prima philosophia ereignen. Es existiert darum im selben Maße ein antihumanistischer Humanismus wie ein humanistischer Antihumanismus, auch wenn diese Wort-Kombinationen die Zumutungen eines mehrfachen Widerspruchs in sich zu bergen scheinen. Denn etwas wird in der einseitigen Interpretation des Humanismus als einem Humanozentrismus chronisch verfehlt, weshalb seine Kritiken unablässig von vorne beginnen und auf einen anderen Humanismus abzielen müssen, um den Menschen als Akteur, als Machthaber und Souverän auf immer neue und andere Weise zu verwerfen. Aus diesem Grunde hatte Blanchot, ebenfalls mit Blick auf Foucault, in »Le entretien infini« den Bezug zum Menschen, wie ihn die Sprache gibt, als das
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schlechthin »Unzerstörbare« bezeichnet und einschränkend erklärt: »Was also ist der ›Humanismus ‹? […] Es ist möglich, […], da[ss] ›der Mensch vergeht‹.‹ […] Aber vergehend schreit er […]. Der Humanismus ist also nicht zu leugnen, vorausgesetzt, man erkennt ihn da, wo er seinen am wenigsten trügerischen Modus erhält: niemals im Bereich […] der Macht, des Gesetzes, der Ordnung […].« (Blanchot 1991: 266f.)
Posthumanismus, Strukturalismus und Mathematik Der Post- und Antihumanismus wie auch der Transhumanismus der Gegenwart hat also seine Quellen in einem Bündel diverser Theoreme mit unterschiedlicher Tiefenschärfe, zwischen deren sich z.T. widersprechenden Schichten es zu differenzieren gilt. Zu ihnen gehören die Sedimente des Poststrukturalismus und der Dekonstruktion wie gleichermaßen auch der technikorientierten Medientheorie, der Postphänomenologie und Posthermeneutik wie neuerdings auch der New Materialism und die verschiedenen objektorientierten Ontologien. Wo von Posthumanismus (als generellem Oberbegriff) gesprochen wird, wäre folglich präzise zu markieren, von welchem Humanismus sowie von welcher Kritik und welchem Gegenentwurf die Rede ist. Sämtliche der verschiedenen Post- oder Trans-Ismen wurzeln wiederum in Philosophemen, derer sie sich nicht bewusst sind, denn wenn sie sich auch in erster Linie philosophiekritisch gerieren mögen, so beinhaltet ihre Kritik doch meist nur ein Vorurteil von Philosophie, was wiederum umgekehrt genauso vom Begriff des Menschen gesagt werden kann, denn es handelt sich stets nur um eine bestimmte historische Gestalt von Mensch, die abgewiesen wird und überwunden werden soll. Die verschiedenen De-evaluierungen des Humanen bearbeiten also mit unterschiedlichem analytischem Niveau lediglich diese Figurationen, die vor allem Herrschaftskonzepte betreffen: Der Poststrukturalismus und die Dekonstruktion, indem sie der symbolischen Ordnung und der Schrift eine Autonomie gegenüber den Anmaßungen des Subjekts und der menschlichen Souveränität erteilen, die Postphänomenologien, indem sie gegen die Priorisierung des Intentionalen und seines Aktivismus Prinzipien wie die Passivität und Responsivität ins Recht setzen; die Posthermeneutik, indem sie den Widerfahrnissen der Materialität als Gabe eines anderswo Gegebenen den Primat gegenüber den stets menschlich produzierten Verständnissen einräumen; der New Materialism und die objektorientierten Ontologien, indem sie den Gegenständen des Realen den Status autonomer Akteure zusprechen, die dem Menschen tendenziell selbständig gegenübertreten, seine Welt durchkreuzen und sich ihnen zu widersetzen wissen. Letztere sprechen, wo sie plausibel erscheinen (Mersch 2016), vor allem von Resistenzen und Traumata, ohne schon den Dingen selbst die Kraft einer Autonomie zuzusichern, denn zwischen Handlung und Widerstand ist zu trennen.
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Davon gilt es wiederum die sogenannten Transhumanismen zu unterscheiden, die den bisherigen Menschen durch seine technische Extension ebenso zu transzendieren wie zu ersetzen trachten (More/Vita-More 2013; Sun/Kabus 2013). Zugrunde liegt dem die Vorstellung eines Mangels der Natur, sodass es nicht eigentlich um einen Antihumanismus geht, sondern um die Steigerung und Übersteigerung humanistischer Selbstermächtigungen durch Substitution mittels Artefakten im Sinne kybernetischer Kunst-Körper. Liegt darum die Basis der Post- und Antihumanismen in der Kritik von Philosophie als Metaphysik, wie sie sich seit dem frühen 20. Jahrhundert unterwegs befindet, um sich in immer neuen Facetten konsequent weiterzutreiben und den Boden für die neuen Ökologismen zu bereiten, die dem Menschen lediglich einen Platz unter den vielen Plätzen anderer Kreaturen zubilligen, entdecken besonderes ihre ecotechnischen Varianten ihr Heil in einem genetischen, kognitivistischen und informatischen Szientismus, der nicht zögert, die angeblichen Fehlgänge der Schöpfung reparieren zu wollen, um den Menschen insgesamt zu verbessern. Dabei stehen vor allem zwei Korrekturen auf dem Programm: Erstens der Triumph über Krankheit und Tod – oder zumindest die deutliche Verlängerung der Lebenszeit über ihre durchschnittliche Spanne hinaus –, sowie zweitens die Steigerung der Intelligenz zu Super-Hybriden, die selbst in lebensfeindlichen Umgebungen zurechtkommen oder Superkräfte entwickeln, wie die Sciencefiction-Literatur sie schon früh vorausgedacht hat. Transhumanistische Modelle haben sich zudem in den 1980er- und 1990er-Jahren mit zahlreichen anderen Theorieelementen und Technologiepraktiken angereichert, besonders dem Enhancement und der Kryonik, die auf Kybernetik und neue Medizin setzen und die es – in gesteigerter humanistischer Manier – als ihre spezifische Aufgabe im Sinne des Menschen ansehen, in die natürlichen Kreisläufe einzugreifen, um gestützt auf schonungslose technische Konstruktionen ein Anderes-als-Natur zu etablieren. Die technoide Medientheorie, die – wie Friedrich Kittler und seine Nachfolger – in Schaltungen und Steuerungselementen die eigentliche Basis von Intelligenz und Leben erblickten, hat dem weitere Elemente hinzugefügt: besonders die Vorstellung der Unterlegenheit humaner Vermögen gegenüber Maschinen, Medien und ihrer immanenten Operativität (Kittler 1993; Ebeling 2014). In der Tat amalgamieren sich alle diese ursprünglichen kritischen Analysen mit zahlreichen technologischen Visionen, sodass die Rationalitäts- und Subjektkritiken der Postmoderne sich geradezu umkehren und erneut mit Emblemen menschlicher Machtphantasmen versehen, vor allem durch die überschießenden mathematischen Träumereien einer sich akzelerierenden Simulation von Körper, Geist und Welt. Hatte Heidegger nie aufgehört, die technische Denkform als die höchste Ausprägung der abendländischen Metaphysik zu dekuvrieren und damit den humanistischen Programmen selbst zugewiesen (Heidegger 1978), und zwar genau in dem Moment, an dem die Entbergung des Seienden in die äußerste Nacht des Nihilismus umgeschlagen ist, muss man heute einen Schritt weitergehen, denn
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das Technische gebärdet sich als ein Diskurs der Universalisierung, der selbst totalisierende Züge angenommen hat. Jede Problemstellung wird umstandslos ihrer Lösung zugeführt (Mersch 2013a). Der scheinbare Erfolg statistischer ArtificialIntelligence-Projekte, die selbst Kunst und Kreativität unter algorithmische Prozesse zu subsumieren suchen, leistet so unbesehen einer weiteren Hybris des Technologischen Vorschub, welches zuletzt mehr-als-Mensch sei, um am Ende entweder diesen zu dessen willigem Kollaborateur zu degradieren oder seine Sphäre endgültig um einer anderen Zukunft willen zu verlassen. Doch sollte klar sein, dass alle technologische Lösung, vor allem die technologische Kopie und Verdopplung vermeintlich menschlicher Vermögen weder ein Mehr-als-Mensch noch ein Weniger produziert, sondern einzig ein Weder-noch, denn der Roboter ist so wenig Mensch wie Nicht-Mensch: Er ist ein menschlich erzeugtes Nichtwesen, dessen einzige Kategorie der Algorithmus ist, nach dem er (der kein er, sondern ein es ist) funktioniert. Die Anlagen zu dieser Entwicklung lassen sich bereits dem frühen Liebäugeln vieler europäischer und amerikanischer Intellektueller in den 1950er- und 60erJahren mit der Informationstheorie Claude Shannons und Warren Weavers sowie der Kybernetik Norbert Wieners und ihren technischen Modellen entnehmen, wie dieser sie exemplarisch in seinem Buch »Mensch und Menschmaschine« formuliert hatte (Wiener 1958). Zuvor hatte er auf die Homologie zyklischer Kausalitäten und organischen Prozessen bestanden, die die Vermischung zwischen Maschinen und Organismen wahrscheinlich werden ließ (Wiener 2013). Zu solcher Indifferenz tendieren – neben einem eminenten Interesse der Künstler*innen, zu denken ist an die Gruppe Oulipo, an Abraham Moles, Max Bense oder Frieder Nake – ebenfalls die verschiedenen Semiotiken der Zeit sowie die Anfänge des französischen Strukturalismus, indem sie regelmäßig formale Signal- oder Differenzsysteme mit Zeichensystemen verwechselten (Aczel 2006). So findet sich bei Claude Lévi-Strauss, einerseits angeregt durch seine Begegnung mit Roman Jakobson und dessen formalistischer Schule, andererseits durch die strukturale Mathematik Nikolas Bourbakis in Gestalt André Weils, der die wesentlichen Grundlagen zur algebraischen Darstellung sozialer Verwandtschaftsbeziehungen lieferte, eine Affinität zu mathematischen Systemen und ihren abstrakten Ordnungen (Dosse 1996). Sein Interesse galt dabei in erster Linie der Frage, durch welche Systeme sich soziale Institutionen als gleichermaßen abstrakte wie objektive Gestalten rekonstruieren lassen, wobei die Sprache (langue) als unumschränkten Vorbild galt, von der wiederum Ferdinand de Saussure gesagt hat, sie sei mehr eine Form oder ein Register aus Klassifikationen und Gliederungen, das die Praxis der Rede (parole) allererst ermögliche. Ihre symbolische Ordnung wäre folglich als systemische Formation zu beschreiben, ohne auf die Position des Menschen als erzeugendes Subjekt überhaupt noch zurückgreifen zu müssen.
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Allerdings haben wir es vorrangig mit einer Mésantente zu tun, deren theoriegeschichtliches Missverständnis, das im Übrigen auf ähnliche Weise auch in der Medientheorie und in den Kulturwissenschaften Schule gemacht hat, zwar nicht überbewertet werden sollte, das jedoch weitreichende theoriepolitische Folgen hatte. Denn der Fehlgriff beruhte vor allem auf der Faszination für eine neue Theoriesprache, die den Fallen des Cartesianismus entkommen sollte. Dazu gehört auch Gilles Deleuze‹ und Félix Guattaris (1977) Begriff der »Wunschmaschine« als Aggregat unbewusster Ströme, die jeden Anklang an einen möglichen Intentionalismus des Begehrens (desir) vermeiden wollte (ebd.: 11f.). Zwar sah es eine Zeit lang so aus, als suchte die strukturalistische Bewegung in Frankreich ein analoges theoretisches Manöver durchzuführen wie die mathematischen Projekte der Kybernetik oder die analytischen Projekte einer Philosophie der idealen Sprache, die zuletzt die Logik der Algebra auf den unumstößlichen Thron einer absoluten Wahrheit zu stellen trachteten, um den Logos der sogenannten Humanities zu entwerten und der Struktur und der reinen Syntax den Vorzug zu geben (Hörl 2005). Dennoch haben wir es dabei lediglich mit einem Nebenschauplatz zu tun, der erst nach 1970 dazu tendierte, zu einem Hauptschauplatz zu werden, denn wo zwischen beiden Theoriesträngen scheinbar Konvergenzen bestanden, überwogen historisch doch die Divergenzen. Die Nähe zwischen Strukturalismus, Kybernetik und Analystik blieb deshalb allenfalls eine Marginalie, insofern in den mathematischen Systemen weiterhin der Satz der Identität und das Prinzip der Binarität vorherrschten, während in den strukturalen Ansätzen – wie auch später in der Dekonstruktion Derridas – der Grundsatz der Differenz bzw. différance überwog (Derrida 1999b). Tatsächlich ist gegenüber den vorschnellen Tendenzen einer allzu vereinfachenden Theorie-Konvergenz Lévi-Strauss´ Engagement für den Antikolonialismus und Anti-Ethnozentrismus höher zu bewerten. So nahm seine Kritik in manchen Punkten den späteren Postkolonialismus sowie Strategien der Dekolonisierung vorweg – paradigmatisch in seiner berühmten Ansprache vor der UNESCO mit dem Titel »Race and History« von 1952. Kern der Rede war ein Plädoyer für Vervielfältigung und Diversität, das mit einem Denken der Differenz und Inklusion jenseits der Gespenster gewaltsamer Identifizierung und Vereinnahmung einherging. Lévi-Strauss und mit ihm viele Teile des Strukturalismus stehen damit dem ethischen Humanismus Lévinas’ viel näher, als ihre theoretischen Rhetoriken ahnen lassen, und man muss an diese verwickelte Diskursgeschichte erinnern, um Interpretationen späterer kultur- und medienwissenschaftlicher Posthumanismen und deren Übertreibungen richtigzustellen. Denn der klassische Strukturalismus argumentierte im Gegensatz zu seiner heutigen Vereinseitigung stets moralisch und politisch und d.h. menschlich, was auch für Foucault und andere gilt: nämlich als Kritik von Ungleichheit und Abweisung jeder Geste der Überlegenheit westlicher Kulturen und ihres ruinösen Verlangens nach Einheit und Universalisierung wie
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auch als Zurückweisung jedweder Herrschaft sowohl über den Sinn als auch über die symbolischen und materiellen Ordnungen.
Digitaler Posthumanismus und die Kybernetisierung des Menschen Für das Verständnis zeitgenössischer posthumanistischer Übertreibungen scheinen hingegen jene Theorieproduktionen relevanter, wie sie mit der Informatisierung und Digitalisierung aller Lebensbereiche im Zeichen einer Transformation durch die Technologien des Computers spätestens seit den 1970er Jahren verbunden sind. Bezeichnenderweise basieren sie auf einer direkten Vermählung zwischen den technisch-mathematischen Programmen der Kybernetik mit den kritischen Paradigmen des Strukturalismus und Poststrukturalismus – eine vor allem durch die aufkommenden Medienwissenschaften lancierte Verschränkung, die der bereits erwähnten Irreführung erlag, das strukturalistische Primat der Differenz durch binäre 0-1-Reihen zu ersetzen, die allerdings nur funktionieren, wenn sie dem Gesetz der Identität gehorchen. Aus dieser unglücklichen Vermengung ist entsprechend ein unübersichtlicher Eklektizismus aus Informationsbegriffen, Wahrscheinlichkeitstheorien, Digitalismus, Dekonstruktion und Spieltheorie hervorgegangen, der bis heute große Teile kulturwissenschaftlicher und medientheoretischer Begriffsbildung determiniert – und zwar gerade dort, wo diese sich ebenso posthumanistisch wie avantgardistisch gebärden. Die Variationen des Posthumanismus, die seither unter dem Stichwort des Digitalen ins Haus stehen, argumentieren darum, ungeachtet aller Inkompatibilität der theoretischen Modelle, stets zugleich aufklärungskritisch wie transhumanistisch, aber so, dass sie auf seltsame Weise die kritische Vernunft durch ein Apriori von Technologie austauschen. In ihrem Schlüsseltext »How We Became Posthuman« hat N. Katherine Hayles (1999: 33) ihre historische Konstruktion beschrieben, die einen liberalen Subjektbegriff und die Gültigkeit starker Naturkonzepte durch eine gleichberechtigte Koproduktion zwischen humaner und maschineller Intelligenz auf der Basis deontologisierter informationeller Systeme zu substituieren sucht. Verbunden sei damit insbesondere die De-Essentialisierung jeder Unterscheidung zwischen leiblicher Existenz und Computer-Simulation, die zwischen materieller und immaterieller Realität insoweit nicht mehr differenziert, als der Informationsbegriff, der vor allem eine statistische Bedeutung besitzt, sich anschickt, grundlegender und bedeutsamer zu werden als jede auf Stofflichkeit fußende Substantialität (ebd.: 18). Der Anspruch ist usurpatorisch. Dann bedingt der digitale Posthumanismus die konsequente Indifferenz zwischen Denken und Rechnen oder Geist und Computation wie ebenfalls zwischen Sein und Schein bzw. Kopie und Wirklichkeit, ungeachtet dessen, dass beide Seiten immer noch einer materiellen Grundierung bedürfen, denn auch
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Computer besitzen eine Hardware und konsumieren Energie, die ihrerseits auf irreversible Weise die Ressourcen der Erde verbrauchen. Der digitale Posthumanismus argumentierte, wie auch Teile der Medienwissenschaft bis heute, pseudoradikal, denn der Digitalismus rechnet zuvorderst mit Verähnlichungen, deren Kriterium einzig in einem Aussehen-wie liegt, das von Anfang an bereits für einen Vorrang der Simulation als Hyper-Mimetismus votiert hat. Allein, was so erscheint, als ob es sich um ein Reales handelt, was sich so verhält, als hätten wir es mit vernünftigen oder sinnvollen Handlungen zu tun, als verfügten die Maschinen über Wahrnehmung und einen elaborierten ZeichenApparat, mit dem sich kommunizieren ließe, zählt – so, wie auch der Turing-Test nur eine Oberflächen-Unentscheidbarkeit zwischen einem sinnvoll antwortenden Menschen und einem sinnvoll antwortenden Computer unterstellt, und nicht die wesentliche Differenz zwischen Syntax und Semantik oder Verstehen und Formalismus bzw. Leben und Mechanik in Betracht zieht.2 Aus Allergie gegenüber einem vermeintlichen Wesen wird jeder Unterschied zwischen Ununterscheidbarkeit und Unentscheidbarkeit eingeebnet, sodass die »Austreibung des Geistes«, von der insbesondere Kittler (1992) im Rahmen der Geisteswissenschaften gesprochen hat, folglich dem geschuldet ist, dass man sich schon entschieden hat und dem Raum der Maschinen einen größeren Kredit zollt hat als allem, was die traditionelle Philosophie über den Menschen zu sagen wusste. Dabei tritt der Teufel, der exorziert werden soll, mal als Bewusstsein, Sinn oder Kommunikation auf, mal auch in Gestalt des autonomen Subjekts, als sogenannte Seele oder eben als der Mensch im Kollektivsingular, um in jedem Einzelfall ihre Substituierbarkeit durch Algorithmen und ihre Schaltung zu beweisen. Das Argument gegen die klassischen philosophischen Begriffe ist dabei ersichtlich kein kritisches, sondern ein affirmatives, das der Faszination für die technische Welt bereits aufsitzt, ohne zu gewahren, dass diese eo ipso den Exzessen menschlicher Hybris und damit jener Bedeutung von Humanismus entspringt, um deren Perhorreszierung des Heideggerschen Antihumanismus es gerade ging. An dieser Stelle wäre allerdings noch ein weiterer Punkt in Betracht zu ziehen. Denn ihre derzeitige Popularität verdanken die Posthumanismen einer zweideutigen Lage, die ihr Gesicht gleichzeitig entstellt. Dabei sei auf jene, besonders medientheoretische Konjunktur von Informatik, Kybernetik und Computerwissenschaft seit nunmehr drei Dezennien angespielt, die in ihrer Trias nicht nur ein neu-
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Man kann dies nahezu auf sämtliche Gebiete der Computation anwenden: Zwischen Denken und Rechnen wird dann eine »Ununterscheidbarkeit« festgestellt, wenn – wie im Turing-Test – eine Unentscheidbarkeit in Bezug auf die Leistungen vorliegt (Mersch 2013b). Dies gilt auch für andere Grundkategorien der Philosophie, etwa in Bezug auf Sehen, Auge und Blick. Stattdessen wird Sehen z.B. in Rahmen von Gesichtserkennungsprogrammen auf ebenso diskrete wie syntaktisch definierbare Operationen wie die Detektierung von Daten reduziert.
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es Paradigma für eine grundlegende medienhistorische Zäsur erblickt – was man unbesehen konzedieren kann –, sondern auch für eine neue materialistische Kritik. Ihren Ursprung hatte sie in den Gegenkulturen der 1970er-Jahre, die den Geist einer Systemkritik atmete, der sich vor allem am Marxismus und Antikolonialismus orientierte, um gleichzeitig die Chancen einer anderen, radikaleren Demokratisierung der Gesellschaft zu wittern. Die Filiationen sind verworren, doch lässt sich behaupten, dass die Medienwissenschaften kaum ihren beispiellosen Erfolg hätten feiern können, wären sie einzig aus der historischen Analyse der Technisierung von Kommunikation und Visualität seit Beginn des 20. Jahrhunderts hervorgegangen – man denke an die Kinematographie, an Radio und Fernsehen, die bekanntlich die Grundlagen für die erste Runde medientheoretischer Untersuchungen legten, namentlich für Marshall McLuhan und die Kanadische Schule, man denke vor allem aber auch an die Personalisierung des Digitalen seit den 1970er-Jahren als neue Herausforderung. Technologie avanciert damit zum Gradmesser kultureller Entwicklung und damit auch zum Stand von Sozialität und Humanität; doch liegt der entscheidende Punkt nicht in der Digitalisierung selbst, denn die wesentlichen Weichen werden bereits in den 1950er-Jahren gelegt (Dyson 2016), vielmehr schlägt ihr Einfluss erst mit der Miniaturisierung des Computers und seiner Verfügbarmachung für Jedermann durch, um binnen zwei Jahrzehnten zu jenem integralen Dispositiv zu werden, das die verschiedenen medialen Formate ebenso zu bündeln verstand wie es gleichzeitig das Phantasma einer universellen Partizipation nahelegte. Miniaturisierung, heißt es exemplarisch bei Haraway (1995), »ist Macht« (ebd.: 34); sie bildet als subversives Potenzial den Ausgangspunkt für die Untergrabung der aus Militarismus und Kapitalismus geborenen Herrschaft der Großrechner, die letztlich auf der vermeintlichen Möglichkeit subversiver Gegenkontrolle beruhte, deren utopisches Potenzial sich jedoch zunehmend selbst zu zerfressen begann, um in eine nachhaltige Zerstörung der Öffentlichkeit durch Hassrede und Desinformation zu münden. Das bedeutet auch: Die sogenannte Digitalisierung bildet – wie der Humanismus – eine dialektische Gestalt, deren Möglichkeit ihre eigene Unmöglichkeit mit hervorbringt. Ihre Geschichte bildet keine Heilsgeschichte, ihre Verfügbarmachung für alle kein Heilmittel gegen Macht und Gewalt, sondern ihr gleichzeitiges Gegenteil, das die politischen Polarisierungen und die Destruktion des Sozialen nur umso eindringlicher vorantrieb. Hatte Friedrich Kittler (1998) in diesem Sinne den Computer als »Universelle Diskrete Maschine« gefeiert (ebd.: 204), die die maßgebliche Zäsur des Zeitalters setzte und in der Hand der vielen zu einem mächtigen Werkzeug der Schrift und Imagination anwuchs, weil sie Totalität menschlicher Vermögen vom Denken bis zum Träumen ins digitale Milieu zu transformieren vermochte, ging dennoch der eigentliche Impuls von der Simultaneität der Entwicklung einer nur im amerikanischen Kalifornien möglichen politischen Bewegung aus, die mit ihrer charakteristischen Mischung aus sozialem und technischen Utopismus die techno-
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imaginative Revolution erst vorantrieb und zu dem machte, was sie heute ist. Ihre Wurzel besaß sie folglich im antiautoritären Humanismus der späten 1960er und frühen 1970er Jahren. Fred Turner (2006) hat in seinem Buch »From Counterculture to Cyberculture« sowohl dessen Erfolgs- wie Illusionsgeschichte erzählt und damit die ganze Ambivalenz seiner Technomythisierung entlarvt. Denn war die kalifornische Aussteigerbewegung im Wesentlichen zivilisationskritisch orientiert und mit einem Grundverdacht gegen kapitalistische Ökonomie und technologische Macht ausgestattet, wie besonders ihr Emblem »The Whole Earth Catalog« demonstrierte, mutierte sie in weniger als einem Jahrzehnt von einem antitechnischen Romantizismus á la Henry D. Thoreau zur Apotheose des technischen Fortschritts, um im Hypertext und den Cyber-Communities neue Gemeinschaften auf der Grundlage rigoroser Gleichberechtigung zu erträumen (ebd.) – jedoch nicht ohne ihre einstige Herkunft ins genaue Gegenteil zu verkehren. Symptomatisch dafür war unter anderem, dass der Autor und Herausgeber des »Whole Earth Catalog«, Stuart Brand, nur wenige Jahre später den »Whole Earth Software Catalog« gründete und 1985 das Netzwerk »Whole Earth Lectric Link« mit dem Akronym WELL initiierte, das schnell zum Pionier von Online-Communities avancierte. »As it turned out«, schrieb er später, »psychedelic drugs, communes, and Buckminster Fuller domes were a dead end, but computers were an avenue to realms beyond our dreams« (Dery 1996: 27). Zweierlei ist daran auffallend: Erstens bestanden die Idealismen, die von der »großen Verweigerung« Herbert Marcuses (1967) zu den neuen Communities übergingen, um andere Lebensformen zu erproben, im Glauben, der PC könne zu einer Kritik-Maschine par excellence mutieren, über den im Prinzip jeder verfügen konnte, der angeschlossen sei, um ihn auf diese Weise zu einem Agenten der Demaskierung antidemokratischer und autoritärer Politik zu machen. Damit verbunden war die Vorstellung einer alternativen, auf den Werkzeugen der Technologie basierenden Sozialität ohne Hierarchien, die imstande sei, die alten humanistischen, auf sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit aufbauender Gesellschaften abzulösen. Egalität und flexible, regionale Communes, organisiert nach den Prinzipien kommunistischer Zellen, bildeten die Losung des Dezenniums – doch ist in den 2000er-Jahren nichts anderes davon übrig geblieben, als eine Transgression des Kapitalismus auf der Grundlage multinational agierender IT-Unternehmen, die mehr Ressourcen besitzen als das Bruttosozialprodukt ganzer Staaten, um gleichzeitig immer noch Slogans wie Don’t be evil oder Making the World a Better Place zu verbreiten, wie sie dem Pubertismus der Pop-Kultur entsprangen. Cyberculture bedeutete dann die Erfüllung der Counterculture, wie Fred Turner zu Recht ausführt, wie diese gleichzeitig deren kompletten Ruin besorgte, ihren Umschlag ins Gegenteil, der sämtliche wohlmeinenden Visionen bis zum letzten Buchstaben verbrannt hat. Gleiches gilt für die sie begleitenden posthumanistischen Basistheorien, die der Entwicklung in einem doppelten Sinne aufsaßen, als sie sich von ihr ebenso
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leiten wie täuschen ließen. Das impliziert auch: die Vermählung zwischen Humanismuskritik und Technologie scheiterte schon in ihrem Ansatz. Nicht nur bedeutet die Apotheose des Technischen die Steigerung humanistischer Macht, sondern auch die Tilgung des kritischen Potenzials durch die Dynamik eines ebenso akzelerierenden wie alles verschlingenden Fortschritts. Zweitens geschah alles dies im Namen eines anderen Humanums, das den Traum der Menschheit nicht nur von einem besseren Leben, sondern auch von einer umfassenden Geschwisterlichkeit realisieren sollte. In Wirklichkeit ist darum der zeitgenössische Antihumanismus eine Frucht des Humanismus, der die neue Humanität weniger im Zeichen eines gemeinsamen menschlichen Wesens begründen sollte, als vielmehr durch die praktische Operativität von Technologie, die die ausgebliebene Verwirklichung des kommunistischen Traums erfüllen sollte. Gegen Rationalität als übergreifende menschliche Fähigkeit, die ihn allererst zum Menschen macht, obsiegt dann der Praktizismus einer instrumentellen Rationalität, die ausschließlich nach Zweck-Mittel-Relationen, später nach mathematischen Regeln operiert, ohne sich überhaupt noch einer Bestimmung des Menschen und seiner Menschlichkeit zu versichern. Und doch bleibt jede technische Rationalität eine zutiefst menschliche: Statt des Logos, des Sinns oder aufgeklärter Vernunft beschränkt sie sich auf eine halbierte Humanität, die für die ganze stehen soll, indem sie den Zweck-MittelRelationen pragmatischer Optimierungen gehorcht.3 Der technologische Posthumanismus wird, wie immer er sich wenden mag, den Humanismus nicht los, weil er die Technik gegen die Natur ausspielt und für den Menschen einsetzt, um seine Lebensbedingungen, und sei es nur die bloße Qualität seiner Lebensdauer, zu optimieren. Doch offenbart sich ihre Crux darin, dass die Sozialität des Technologischen, dort, wo sie die Verständigungsprozesse zu regieren beginnt, unweigerlich in Asozialität umschlägt.
Technologische Transformation des Menschen Symptom dieser gleichzeitigen Entwertung wie Selbsttäuschung des Posthumanismus ist u.a. das Manöver, im Zuge einer dekonstruktiven Delegitimierung kardinaler metaphysischer Dichotomien auch den Dualismus von Mensch und Maschine zu kassieren. Zum einen wird dabei die technische Maschine selbst in den Rang
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Eine der Grundmythen medienwissenschaftlicher Analysen neuer Technologien besteht in deren angeblicher Überwindung klassischer Zweck-Mittel-Relationen (Hörl 2011). Indessen bleibt an dieser Stelle immer noch Max Horkheimers (2007) »Kritik der instrumentellen Vernunft« gültig: Technik, wie immer sie aussieht, basiert zuvorderst auf instrumentellen Funktionen. Auch Computersysteme agieren nicht autonom, sondern folgen den impliziten Teleologien jener Programme, die sie steuern.
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eines Akteurs gehoben, der dem Menschen als Subjekt gegenübertritt, ungeachtet jeder Differenzierung zwischen Handlung und mechanischer Bewegung, die nicht im eigentlichen Sinne als Handlung zu verstehen ist, sondern auf von außen gegebene Impulse reagiert oder Regeln folgt, während die Eigenart der Handlung darin besteht, mit Konventionen brechen zu können. Im Mechanischen hat zudem die Kreativität des Praktischen keinen angemessenen Platz (Mersch 2019a; 2019b). Daran hat sich zweitens eine ganze neurologische Forschung angeschlossen, die keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Gehirn und Computer sieht, ohne jedoch zu sehen, dass der Computer, als mathematischer Agent, der in Bezug auf seine eigenen Gesetzmäßigkeiten von uns jederzeit prinzipiell durchschaubar ist, auch wenn er praktisch eine black box bildet, auf die die Undurchschaubarkeit des Denkorgans lediglich als sekundäres Modell appliziert wird. Dagegen erweist sich Denken insoweit als immer schon entzogen, als Denken einerseits stets ein Denken des Denkens (als genitivus subjectivus und objectivus) und mithin seine eigene Reflexivität inkludiert wie es andererseits nirgends seine materiellen Bedingungen zu erfassen vermag, die jedoch in jedem einzelnen Denkakt als Voraussetzung bereits mit eingegangen sein müssen, bevor wir uns selbst verstehen. Die angebliche Gleichgültigkeit zwischen Gehirn und Computer – angeführt wird stets eine Homologie von Binarismen, soweit auch Synapsen entweder feuern oder nicht feuern, was allerdings ein empirischer und darum bloß hypothetischer Befund ist – trachtet so das Komplexere vom Einfacheren her zu erschließen und bildet damit bestenfalls eine schwache Projektion, die einen menschlichen Maßstab (die Konstruierbarkeit der Maschine als Modell) auf ein vermeintlich Nichtmenschliches (die Maschine als autonomer Akteur) anwendet. Drittens spielt eine auf Künstliche Intelligenzen aufbauende Robotik seit den 1980er-Jahren massiv mit der Idee vom synthetischen Menschen, sei es als willfähriger Diener, als Gefährte oder Interaktionspartner (Heßler 2012), welche selbst nichts anderes als Figurationen darstellen, worin weiterhin ein imaginiertes Herrschaftsgefälle dominant bleibt. Das trifft gleichermaßen auch auf die dystopischen Szenarien einer Science-FictionLiteratur zu, die nur die Umkehrung stilisiert, sofern die tendenzielle Auflösung der Grenzen sich zu gelinden Horror-Gemälden rebellierender und die Menschheit ausrottender Kunstwesen verselbständigen. In diesen Kontext gehört viertens ebenfalls das schon erwähnte und für die kulturwissenschaftliche Theoriebildung der letzten 20 Jahre wegweisende »Cyborg-Manifesto« Haraways (1995), das die Destituierung klassischer Distinktionen zwischen organisch und artifiziell, Körper und Technik, Wirklichkeit und Fiktion, Materialismus und Idealismus oder Natur und Kultur zum Anlass einer feministischen Kritik der Philosophiegeschichte als Patriachatsgeschichte nahm. Cyborgs bilden dabei »ironische« Mischwesen ohne Ursprung und Genealogie, die nicht so sehr als »kybernetische Organismen« anzusehen sind, wie sie den Populärmedien entstammen, sondern die Haraway als »Mythos« einer Befreiung behandelt wissen wollte, der den Umsturz sämt-
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licher kursierenden theoretischen wie fiktionalen Binarismen antizipieren sollte (ebd.: 37f.). Bezeichnenderweise aber haben ihm die kulturwissenschaftlichen Adaptionen seine manifeste Ironie wieder geraubt und aus ihm ernst gemacht: Seine posthumanistische Mythologie dreht sich dann um die Ventilierung eines Grenzgänger*innentums, das es nach Haraway nicht nur zu »genießen« gilt, sondern für dessen Konstruktion »Verantwortung« zu übernehmen sei (ebd.: 35-36). Aus diesem Grunde heißt es gleich zu Anfang des Manifestes: »Wir sind Cyborgs. Cyborgs sind unsere Ontologie« (ebd.: 34), was bedeutet: der Zustand unserer Gegenwart ist die In-Differenz, das Zwischen, dessen Figurierung eine radikale Umschrift von Wissenschaft, Politik und Zukunft einfordert, zu der wir uns allererst zu verhalten haben, ohne sie als einfache Wahrheit zu akzeptieren. Haraways (2016) posthumanistische Imaginationen, wie sie sie in ihrer jüngsten Publikation »Staying with the Trouble« weiter ausbuchstabiert hat, die den kritischen Begriff des »Anthropozäns« durch die ihrerseits wieder ironisch gemeinte Metapher des »Chthulucene« überbieten will, um das linear-metaphysische Denken des Humanismus durch ein »tentacular thinking« zu ersetzen, können so als hyperkritisch bezeichnet werden, weil nicht mehr zwischen Wissenschaft, Philosophie und Literatur unterschieden wird, sondern alle Weisen des Sprechens gleichermaßen vorkommen und miteinander vermischt werden (ebd.: 30f.). Der Umstand schlägt sich ebenfalls in der Schreibweise nieder, die zwischen Fiktionalisierung, Essayistik und philosophischem Diskurs changiert und dabei bewusst polemisch, anstößig und überzogen verfährt, indem es die Ambiguität der Figuren anerkennt und fortsetzt, um ihre kritische Potenz aus einer Art Umkehrungsstrategie zu beziehen, welche zuletzt die Zentrierung menschlicher Macht mit ihren eigenen Mitteln schlagen soll. Das Anliegen erscheint emanzipatorisch, weshalb alle Figurationen Haraways weder positiv noch negativ zu lesen sind, sondern als riskante Transgressionen, die Übergänge stiften und deren Position die Schwelle ist, nicht die Mitte als Einebnung aller Differenzen. Demgegenüber waren es die zahlreichen Vulgär-Interpretationen, die sich auf Haraway lediglich bezogen, um die Cyborgs in affirmative Visionen einer technischen Hybridisierung umzumünzen und so die Unterscheidungen, die ihre Figuren zu durchbohren und aufzulösen trachten, wieder zu reinstallieren. Ein ähnliches Schicksal traf ebenfalls die für die posthumanistische Diskussion der 1980er- und 1990er-Jahre wichtige Metapher der »Wunschmaschine«, wie sie Deleuze und Guattari bereits 1972 inaugurierten (1974: 7f.). Die »Wunschmaschinen« sind letztlich psychoanalytischen Ursprungs, als Aggregation des Es, das unablässig Begehrens-Kombinationen erzeugt und darin das Subjekt als Nukleus des Willens subvertiert. Man darf sich allerdings nicht durch den Ausdruck Maschine täuschen lassen – es handelt sich um keine technische Apparatur, um keinen kybernetischen Kreislauf, sondern um ein automaton, das die Sprache des Verlangens von seinen intentionalistischen Vorurteilen bereinigen soll. Das Es bezeichnet
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keine fremde oder sich beständig entziehende andere Subjektivität, wie es Jacques Lacan (1975) insinuierte, sondern einen Überschuss, der das Souveränitätsphantasma des überlieferten Humanums desillusionieren und damit die »distinktive[n] Begriffe […] Mensch und Natur« (Deleuze/Guattari 1974: 10) in dem Sinne entstellen sollte, als ihre Hierarchie, ihre Gegenüberstellung schwindet, denn die Natur des Menschen ist das Begehren, das als Natur nicht weniger menschlich ist, wie das Realitätsprinzip und das stets Grenzen setzende Gewissen des Über-Ichs auch. Deswegen die proliferierende Rede des Fließens und der Passivität, worin sich Organströme aneinander anschließen und produktive Synthesen oder Verkopplungen entwickeln (ebd.: 11f.). Deleuze und Guattari machen so deutlich, dass das menschliche Verlangen wie auch seine Imaginationen einer beständigen Wucherung unterliegt, die anarchisch proliferiert und zugleich dafür sorgt, dass die menschliche Produktion nie zum Stillstand kommt. Von Neuem kann von Metaphysik- und Wissenschaftskritik gesprochen werden, die die Gesetze der Logik und der Kausalität unterminiert, welche den Gelüsten einer überschießenden Kreativität beständig eine Grenze zu ziehen sucht, um im Gegenteil das Menschliche in seiner ungeheuren Produktivität, welche nicht nur das Mögliche zu realisieren sucht, sondern das Unmögliche gebiert, zu zelebrieren. Die in den USA sogenannte French Theory teilte in dieser Hinsicht immer noch die Ziele von Aufklärung und Humanität, als es ihr in erster Linie um eine politisch-epistemologische Freiheit ging, die die Multiplikation der Differenzen und die Unerschöpflichkeit des Wunsches in den Dienst eines nirgends zu Ende gelangenden Emanzipationsprozesses stellte. Er gewann so seine Emphase letztlich aus einem Votum für den Humanismus, nicht gegen ihn. Dagegen tauchten mit der medien- und kulturwissenschaftlichen Wende in Deutschland in den 1990erJahren eine Anzahl von Lektüren auf, die die Maschinen-Metapher wörtlich nahmen, um, ohne jede Dialektik, nicht nur die Trennung von Mensch und Natur, sondern überhaupt zwischen Geist und Technik oder Künstlichkeit und Lebendigkeit auszuhebeln und, verführt durch die Versprechungen einer aufs Imaginäre zielenden Digitalisierung, die einstigen Verschwendungen noch zu übertreffen, indem die Freiheit der Lüste durch die angeblich befreienden Energien technischer Simulakra immer wieder neu angestachelt werden.
Die technische Eliminierung des Menschen: Posthumanismus und Technikdeterminismus Um auf ihn zurückzukommen, kann für solche Theoriemanöver vor allem der Technikdeterminismus Friedrich Kittlers angesehen werden. Denn für dessen humanismuskritische Volte gilt, dass sie, wie gleichfalls andere posthumanistische Philosophiekritiken, immer nur ein bestimmtes, nämlich metaphysisch geprägtes Kon-
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zept sowohl von Philosophie als auch vom Menschen in Anschlag bringt, nämlich dasjenige, das sich ganz auf die Souveränitätsfiguren des neuzeitlichen Subjektivismus kapriziert, der gleichwohl in die Idee vollständiger technischer Substitution schon eingegangen ist. Dagegen wird die subjektlose Maschine, das Medium oder die Technik als Transzendenz ausgespielt, die jedoch auf paradoxe Weise den gescholtenen Humanismusanspruch durch ein selbst noch menschlich terminiertes Apriori von Technologie restituiert, sogar dort, wo sie sich verselbständigt und einen scheinbar autonomen Zug gewinnt. Dann begegnet sie zuletzt dem Menschen mit scheinbar eigener Machtförmigkeit, doch ist hier, was faktisch begegnet, allein die humane Machtförmigkeit selbst, die zum Exzess gerät, und zwar als menschlich Unmenschliches, denn das Unmenschliche kann nirgends extremer sein als dort, wo es den Regimen des Menschen und seiner amoralischen Besessenheit entspringt. Fast als eine Identifikation mit dem Aggressor muten deshalb Kittlers unangemessen obsessive Polemiken gegen den »sogenannten Menschen« und die »sogenannte Seele« an, denen das »take-off« der Operatoren entgegengesetzt wird (Kittler 1993: 149-160), um jede Idee von Freiheit und Selbständigkeit zu unterminieren. Dann zählen nicht Botschaften oder Inhalte, sondern, wie es in »Grammophon, Film, Typewriter« heißt, »einzig Schaltungen, dieser Schematismus von Wahrnehmung überhaupt.« (Kittler 1986: 332) Und weiter, in »Draculas Vermächtnis«: »[N]ichts ist, was nicht schaltbar ist« (Kittler 1993: 152) – ein Diktum, das erneut das binäre Denken und damit die »Wut« der Identifizierung, die Theodor W. Adorno als idealistische Zwangsvorstellung entlarvte (Adorno 1996: 17), geradezu absolut setzt. »Was Mensch heißt«, schreibt Kittler, bestimmen »keine Attribute […], sondern technische Standards.« (Kittler 1993: 61-63) Was demnach den Menschen einmal auszuzeichnen schien, seine Bestimmung als zoon logon oder animal rationale, gerät zu einer mathematischen Fiktion, die die Auflösung des Menschen im Rahmen einer fortschreitend technischen Implementierung von Denkmaschinen medienmaterialistisch konkretisiert, ungeachtet dessen, dass die mathematische Fiktion selbst eine Frucht des Menschen als gleichsam rationales Tier darstellt: »Mit der technischen Ausdifferenzierung von Optik, Akustik und Schrift […] ist der sogenannte Mensch machbar geworden. Sein Wesen läuft über zu Apparaturen. Maschinen erobern Funktionen des Zentralnervensystems […]. Und erst damit […] kommt es zur sauberen Trennung von Materie und Information, von Realem und Symbolischem. […] Der sogenannte Mensch zerfällt in Physiologie und Nachrichtentechnik.« (Kittler 1986: 29) Die andere Seite und Entsprechung dieser Passagen ist das, was sich als Kittlers implizite transhumane Mystifizierung beschreiben lässt: »Die Medienrevolution von 1880 hat den Möglichkeitsgrund für Theorien und Praktiken gelegt, die Information nicht mehr mit Geist verwechseln. Anstelle des
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Denkens ist die Schaltalgebra getreten […] Und dass das Symbolische die Welt der Maschine heißt, kassiert den Wahn des sogenannten Menschen, durch eine ›Eigenschaft‹ namens ›Bewusstsein‹ anders und mehr als ›Rechenmaschine‹ zu sein. Denn beide, Leute wie Computer […] laufen nach Programm.« (Ebd.: 30) – ein Resultat, das die gesamte, seit Mitte der 1980er-Jahre virulente ArtificialIntelligenz-Diskussion mit einem Schlag erledigt, indem es der Erfahrung des Unberechenbaren oder Unentscheidbaren – insonderheit der Ethnizität des Passiblen – keinen Raum mehr lässt. Knut Ebeling (2014) hat dies – im Geiste Kittlers – in seinem kleinen Text »›Quote/Unquote‹. Kleine Archäologie der Operatoren« bis zum Äußersten getrieben und zu einer affirmativen Theorie der Operativität ausgearbeitet, die er als das »andere der Sprache« und damit auch als das andere dessen versteht, was seit dem linguistic turn überhaupt der Performativität von Rede und Kommunikation als dasjenige zugeschrieben wurde, was das Menschliche des Menschen mehr noch als seine Vernunft ausmacht: Seine Fähigkeit zur Symbolisierung. Dagegen definieren Operationen Funktionen, die weder etwas repräsentieren noch etwas bedeuten, vielmehr »steuern«, die also nicht »bezeichnen, sondern Bezeichnungen codier(en)« (Eberling 2014: 11, 40 passim), sodass auch der Sinn erledigt wird. Konsequent zielt denn auch Ebeling darauf, aus Operatoren »posthumane« Zeichen zu machen, die allein mit anderen Zeichen kommunizieren, »statt mit Menschen« (ebd.: 17) – eine Verkürzung, die nicht nur das, was Kooperation, Interaktion oder Verständigung heißt, depraviert, sondern die sich auch eins zu eins bei der Shannonschen Informationstheorie als einer »mathematischen Theorie der Kommunikation« (2000) bedienen kann, indem sie den Dialog auf einen »schaltbaren« Austausch von Informationen reduziert. Doch besteht überall die Verwechslung darin, dass man mit den Zeichen, den Operatoren und Programmen als automatisierte Modelle den Menschen gerade nicht loswird, sondern, als animal symbolicum, auf einen absoluten Thron hebt, denn was sind diese anders als humane Konstruktionen, mit denen die Singularität und das Ereignis besiegt werden sollen?
Mehr-als-Mensch: Ökologien jenseits des Anthropozäns Antihumanismus und Posthumanismus sind folglich legitimerweise nur sinnvoll als reflexive Modelle, die Figuren des Humanums selbst einschließen. Sie taugen nicht zur positiven Programmatik, und wo doch, neigen sie zu einer Apotheose des Technischen wie auch eines Anderen-des-Menschen, das wiederum nichts anderes als eine menschliche Kategorie darstellt und nur im Rahmen einer Exposition von Alteritätskonzepten sinnvoll sind, die allein im Sozialen verankert sind. Denn Anderes ist anders nur in Bezug auf uns und unserer Beziehungsweisen, d.h.
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zugleich als Zug und Entzug, und wo nicht, wird wiederum, als eine der vielen Paradoxien gegenwärtiger Diskussion, ein Machtkonzept gegen ein anderes ausgetauscht. Indessen hat sich, als Reaktion auf die Ära der Postmoderne und die theoretische Dominanz französischer Philosophien, in den letzten Jahren vor allem im angelsächsischen Raum ein Ensemble verwandter Philosopheme herausgebildet, das sich bezeichnenderweise auf Deleuze bezieht und unter schillernden Namen wie »Spektulativer Realismus« (Meillassoux 2008), »Agentieller Realismus« (Barad 2012), »Object-Oriented Philosophy« (Harman 2015) oder »New Materialism« (Braidotti 2014) firmiert.4 Sie präsentieren sich so vielfältig wie ihre Titel und halten doch überall auf das Denken eines Anderes-als-Mensch zu. Einerseits vertreten sie technikkritische Positionen, andererseits versuchen sie – in der allgemeinsten Bedeutung – das Nonhumane, die nichtmenschlichen Objekte oder auch das Reale als unabhängige Größen gegen die Hegemonie des Humanen und die Korrelation im Sinne einer immer schon menschlich terminierten Bezugnahme aufzuwerten. Gleichzeitig verbleiben sie innerhalb des Inventars metaphysikkritischer Interventionen, bedienen sich also gerade wieder früherer Philosophiekritiken, die sie zum anderen dadurch zu überbieten trachten, dass sie deren Analysen mit Blick auf ihr implizites »korrelationalistisches« Erbe, wie Quentin Meillassoux sich ausdrückt (Meillassoux 2013: 40-44), noch steigern. Aufgerufen wird so ein nichtrepräsentationalistisches Anderes, erneut ein Absolutes oder Außen, das aber weder Substanz noch Wahrheit bedeutet, sondern sich als Kontingenz oder Unbeherrschbarkeit erweist, dessen Existenz sich gleichwohl mit der katastrophischen Entwicklung der Geschichte der Natur und ihrer Ökosphäre nicht mehr leugnen lässt (Mersch 2016). In diesem Sinne stellte Graham Harman polemisch fest, dass »[a]ll (radical philosophy) say that a full half of reality is nothing more than an illusion generated by the other half (Harman 2011: 24). […] The world is not the world as manifest to humans, to think a reality beyond our thinking is not nonsense, but obligatory« (ebd.: 27). Eine komplette Literatur des posthumanen »Ökologismus« ist so entstanden (Hörl 2013), die eine Autonomie des Environmentalen behauptet und die Sicht auf das zu sensibilisieren sucht, was sich auch als ein Mehr-als-Menschliches apostrophieren lässt. Der Ausdruck sucht immerhin die Paradoxie aufzunehmen, die entsteht, wenn wir menschlich ein Außermenschliches adressieren: Denn etwas geht in den humanen Bezüglichkeiten nicht auf, bleibt stumm oder traumatisch oder widersetzt sich den Zugriffen kategorialer Zuschreibung. Dazu gehört insbesondere das, was Timothy Morton (2013) als »Hyperobjekt« bezeichnet hat. Es lässt sich nicht mehr ohne weiteres als Objekt ausweisen, vielmehr stört es unsere Existenzbedingung, ohne als etwas namhaft zu werden: Ohne eigentliche Gegenständlichkeit oder unabhängige Substanz bricht es, wie der Nuklear Fall-out oder eine Pandemie, ein, um zugleich indifferent, viskos, unsichtbar oder anonym zu bleiben 4
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und uns dennoch auf eine Weise zu infizieren oder affizieren, die nicht verdrängt werden kann. Ihre Dimension sperrt sich jeder begrifflichen Determination und ist doch da (Lacan 1995; Mersch 2010), eindringlich, gewaltsam und unerbittlich, wie die globale Erwärmung oder die Ausrottung der Arten (Marszalek/Mersch 2016). Der Gedanke ist, dass ihre Unheimlichkeit gleichsam eine Spur zu etwas legt, das größer und erhabener ist als das menschlich Fassbare und unsere Konditionen bedingt, ohne umgekehrt durch diese beherrschbar oder veränderbar zu sein. Versucht man indessen die Genealogie dieses »Ökologismus« zu rekonstruieren (Mersch 2018), lassen sich vor allem drei Quellen aufweisen. Erstens die unverneinbaren Tatsachen selbst, die sich aufdrängen, ohne schon durch eine Interpretation fixiert oder gebannt zu sein: Eine Negativität, deren Präsenz sich unleugbar manifestiert, und zwar umso dringlicher, je mehr sie ausgeblendet wird (Mersch 2002). Zweitens die Dematerialisierung des Digitalen, die, psychoanalytisch gesprochen, zu einer Wiederkehr des Verdrängten führt, denn es gibt keine Virtualität ohne Realität, sowenig wie Zahl und Rechnung selbst bestand hätten ohne die Materialität eines Laufwerks (oder Turing-Bandes), auf dem sie operieren. Tatsächlich setzt die Digitalisierung, die nur vermeintlich in Relationen und Algorithmen denkt, in Bezug auf ihre technische Implementierung die Ausbeutung seltener Erden wie auch horrender Mengen an Energien voraus, die die weltweiten Ströme allererst fließen lassen, die aber zuletzt unsere eigenen Lebensbedingungen tangieren. Die dritte Quelle des Ökologismus bilden darüber hinaus Konjunkturen von Theorien, die den Konstruktivismen und Dekonstruktivismen der vergangenen 50 Jahre systematisch zu widersprechen suchen, um durch Alternativen zu den klassischen idealistischen Prätentionen, wie es Adorno (1996) formuliert hat, die Wende zu einem neuen und anderen Materialismus vorzubereiten (u.a. Mersch 2002). So ist seit den frühen 2000er-Jahren im Zuge des material turn und der Rückkehr der Dinge eine Hinwendung zum Eigensinn der Objekte auffällig, wie sie sich besonders mit Latours Actor-Network-Theory und den symmetrischen Netzen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Aktanten beschreiben lassen. Eindringlich hatte Latour seit »Der Berliner Schlüssel« (1996b) und »Wir sind nie modern gewesen« (2008) unseren Glauben an unsere einfache Modernität erschüttert, indem er deutlich machte, dass wir trotz aller vermeintlichen Aufklärung den Dingen weiterhin ihre eigene Magie und Handlungsmacht zuschreiben. Die von ihm stattdessen vorgeschlagene »symmetrische Anthropologie«, die in den »Akteur-Netzwerken« gemischte Relationalitäten im Sinne einer »diagrammatischen« Realität erblicken, hat dabei den Beschränkungen auf Textualität, Semiotik und Hermeneutik von vornherein den Boden entzogen. So rücken gegen die ausschließlich »menschlichen Regime« verteilte oder »dezentrierte Perspektiven« in den Vordergrund, die humane und non-humane oder »anders-als-menschliche« Entitäten gleichwertig nebeneinanderstellen – auch wenn Latour den Menschen bezeichnenderweise als stellvertretenden Anwalt dieser Relationen in einem von ihm zur Diskussion ge-
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stellten »Parlament der Dinge« wieder einsetzt (Latour 2001). In den Netzwerken, der Achse zwischen Mensch und Anders-als-Mensch, kommt ersterem, gleich einem determinativen Pol der Relation, wie Latour erklärt, dennoch ein durchgängig privilegierter Platz zu. Zudem bleibt für Latour der Hinweis auf eine Indirektheit der Aufzeichnungen und Berichte, die von den ethnographisch beobachtbaren Verhältnissen Kunde geben und sie als Schrift oder Diagramm wiedergeben, essenziell (Latour 1996c), denn es gibt nicht im eigentlichen Sinne Menschen und Nichtmenschen als unterscheidbare Einheiten, die gleichsam beschließen, miteinander zu kollaborieren, vielmehr spielt von Anbeginn an das Soziale, Technische, Materielle und Semiotische ineinander, sodass der Bindestrich, der die Netzwerke ebenso verbindet wie trennt, das Und der Konjunktion, die die Ausdrücke human und nonhuman gleichermaßen zusammenschließt wie separiert, eine maßgebliche Rolle. Latours Einsatz ist das Verknüpfungszeichen, dem er gleichzeitig einen vektoriellen Wert zuschreibt, was im selben Maße impliziert, dass an keiner Stelle aus den Netzwerken das Moment des Humanen herauszustreichen ist, wie auch umgekehrt keine menschlichen oder sozialen Tatsachen existieren ohne Bezug auf nicht-menschliche Akteure, die aus dem Menschen wiederum etwas anderes machen als er je war. Latour geht es also in erster Linie um eine Extension des humanen Spektrums und damit bei aller erklärten Kritik am Anthropozentrismus um die Verwandlung des Menschen zu dem hin, was man vorsichtig eine ökologisch fundierte Humanitas nennen könnte. Anders gewendet: Der Anspruch der Akteur-Netzwerk-Theorie bzw. der »Soziologie der Assoziationen« (Latour 2012: 17, 103f.) ist primär negativer Art. Als Anthropologie und Sozialtheorie leugnet er sowohl jegliche Privilegierung des Menschen als auch jede Egalität zwischen Menschen und Nichtmenschen, um stattdessen auf das beharrliche Studium der vielfältigen Verwicklungen zwischen ihnen zu setzen. Daraus sind insbesondere die neuen und spekulativen Realismen bzw. Materialismen hervorgegangen, für die Graham Harmans (2015) und Levy Bryants (2011) Objekt-orientierte Ontologien stehen, denen sich in Teilen auch Timothy Morton (2016) anschließt. Ihre Besonderheit – und Pseudo-Radikalität – liegt darin, die Diagrammatik Latours von ihrem impliziten Relationalismus und seiner latenten Negativität zu befreien und in einem Ontologismus umzumünzen. In den Relationen nehmen dann die Relata, die Akteure, einen besonderen Platz ein. Seither begleiten die kritischen Ökologismus wie ein Schatten den Restbestand einer überwunden geglaubten Metaphysik, ohne ihm gewahr zu werden. Denn das Anliegen sei, wie Harman programmatisch in seinem Aufsatz »Stellvertretende Verursachung« pointiert, »jedes Privileg eines menschlichen Zugangs zur Welt« zurückzuweisen: »Die Frage des menschlichen Bezugs stelle sich dann auf derselben Ebene, wie ein Duell zwischen Kanarienvögeln, Mikroben, Erdbeben, Atomen und Teer.« (Harman 2012: 212) Der Vorstoß etabliert konsequent ein Denken des Nicht-Vorrechts, das der Heteronomie eines radikal Anderen denselben Rang einräumt wie den menschli-
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chen Welt-Verhältnissen, auch wenn wir ihnen keine eigene Bezüglichkeit zumessen können. Wir haben dann das Nicht-Denken eines Vorrangs, denn was diese sind – Kanarienvögeln, Mikroben, Erdbeben – kann nicht ermittelt werden, weil jeder Begriff fehlt, überhaupt etwas zu identifizieren oder anzuzeigen: denn die Natur interessiert sich nicht für Unterscheidungen dieser Art. Was die Welt ist, hängt gewiss nicht von uns ab, sodass inmitten des Seins ein blinder Fleck oder eine dunkle Region aufklafft, die jede anthropomorphe Beschreibung verbietet, doch können wir nicht wissen, was sie sind, schon gar nicht mit unseren Klassifikationssystemen einholen. Sie zu adressieren bedeutet im gleichen Sinne zu untersagen, überhaupt von ihnen zu sprechen, sodass wir es notwendig mit einer konstitutiven Negativität oder Unabgegoltenheit zu tun bekommen, die bereits Adorno allein einer negativen Dialektik zugewiesen hat, die auf die Objektivität der Objekte im selben Maße zeigt wie nicht zeigt. So produktiv die Ansätze auch sein mögen, sie bleiben unterhalb ihrer philosophischen Präzision: Sie wollen buchstäblich zu viel, mehr als sie terminologisch einzulösen vermögen.
Jenseits des Post-, Anti- und Transhumanismus: Die Untilgbarkeit des humanistischen Erbes Dass indessen die andere Seite, die die Obligation zum Negativismus zugunsten eines Positivismus zu transzendieren können meint, zu bizarren Schlussfolgerungen gelangt, demonstrieren Manöver wie Jussi Parikkas (2010) »Insect Media«, ein Text, der ganz ohne Polemik das Social Web und seine angebliche Schwarm-Intelligenz mit Bienen-Stöcken oder Ameisenhaufen als nichtmenschliche Paradigmen vergleicht, um deren vernetztes Dasein als alternative Folie für Vergemeinschaftung zu preisen. Das Politische, das den Bienen und Ameisen fremd ist, feiert auf diese Weise seine fiktive nonhumane Wiedergeburt. Deutlich wird, dass sowohl das Netzwerk-Denken als auch die Objekt-orientierte Ontologie und ihre Ableger der Relationalität einen nicht zu rechtfertigenden Vorzug über das Sein erteilen und damit von Neuem eine Hegemonie installieren. Wir sind sozusagen mit relationalen Ontologien konfrontiert, worin Menschen nur eine Stelle, eine Position unter anderen einnehmen, bei Harman sogar zuweilen gar keine, was aber sowohl einem Missverständnis über den alten Begriff des Seins erliegt als es auch den formalistischen oder mathematischen Kern eines jeden Relationalismus verkennt. Überall bleiben deshalb die Ökologien durch mathematische Graphen kontaminiert, die in der Beschreibung der relationalen Gefüge notorisch offenlassen, um welche Modalitäten von Relationen es sich eigentlich handeln soll und wie sie von der Praxis der Bezugnahme, wie sie dem Menschen eignet, sich abgrenzen. Netzwerke ähneln abstrakten Schemata, deren Algebra allein aus Zuordnungen bestehen, die Knoten mit Kanten verbinden und die für die vielfältigen sozialen Bezugsarten keinen Platz bieten.
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Man muss daher die Begriffe Relation und Beziehung unterscheiden, denn erstere mit letzterer zu verwechseln heißt, an der genuinen Sozialität humaner Bezüge vorbeizugehen. Bilden Relationen tendenziell abstrakte Strukturen, die lediglich formale und damit auch austauschbare Verbindungslinien oder Punktverknüpfungen zwischen distinkten Einheiten ziehen, inkludiert die Praxis der Beziehung eine ganz andere Interdependenz, die vor allem gegenseitige Anerkennung voraussetzt. Zu Dingen, Artefakten oder technischen Gegenständen unterhalten wir daher primär Relationen. Zwar unterliegen wir zuweilen ihrem Charme (Design), der aus ihnen Fetische macht; manchmal belehnen wir sie, besonders in magischen Besetzungen, mit Emotionen und Erinnerungen, doch bedeutet dies bereits, ihre Relationalität von der Vorgängigkeit sozialer Beziehungen her zu denken, nicht umgekehrt. Auf der anderen Seite unterhalten wir nur dort Beziehungen, wo wir auf Andere treffen, die uns berühren, um sie – gemäß einer nur im Deutschen funktionierenden Konnotation – unter die Duplizität von Bezug und Zug zu stellen. Es gibt keine Beziehung, ohne dass uns etwas bereits unter seinen Zug gestellt hat. Deshalb bleibt in aller Bezugnahme eine Affordanz, ein Affekt vorgängig, und zwar vom Anderen her als demjenigen, dem wir uns nicht entziehen können. Zug, Bezug und Entzug gehören mithin zusammen, und wo wir Anderes in der zweifachen Hinsicht eines Anderen und der Anderen, d.h. nonhuman und sozial auffassen, bildet ersteres stets ein Derivat des letzteren. Aus diesem Grunde gilt auch die Behauptung, dass Relationen allererst ihr Modell in Beziehungen finden, die ihren unbedingten Zug aus der Sozialität jener Rätselhaftigkeit erfahren, wie sie Lévinas in der Nacktheit, der Blöße und Ärmlichkeit des Antlitzes – dem wörtlich Gegenblickenden – entdeckt und als ursprüngliches Bild für eine Sozialität des Fremden gezeichnet hat (Lévinas 1987; 2002). Deswegen antizipieren auch die antihumanistischen Humanismen von Heidegger bis Lévinas nicht nur sämtliche gegenwärtigen Posthumanismen; sie gehen nicht nur über die Akteurs-Netzwerke und die kritischen Ökologien bis zu den neuen Objektontologien hinaus, sondern sie vermögen auch ihre Gründe tiefer zu legen und ihre – besonders ethischen – Ansprüche intensiver zu formulieren. Notwendig muss darum ein Posthumanismus, der seinen Namen verdient, bereits im Namen eines Humanismus sprechen, wie umgekehrt den Ökologien, Netzwerktheorien und Ontologien jeder angemessene Begriff eines Sozialen fehlt – zumindest lässt sich nicht ein solcher aus ihnen rekonstruieren. Zwischen humanen und nonhumanen Akteuren keine grundsätzliche Differenz zu ziehen, sie vielmehr indifferent nebeneinander zu stellen, bildet nicht nur eine buchstäbliche Gebärde der Gleichgültigkeit, sondern auch eine postulative Geste, die nicht anders als gewaltsam zu bezeichnen ist, weil sie jegliche Nähe zum Gemeinschaftlichen und folglich auch zum Politischen missen lässt, wie sie besonders in jüngster Zeit Theoretiker wie Giorgio Agamben (2003; 2010) oder Jean-Luc Nancy (2010; 2016) und andere neu zu denken gewagt haben. Vom Sozialen auszugehen, erfordert jedoch, den Begriff des
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Humanums von vornherein zu retten und ihn unter anderen als metaphysischen oder souveränitätstheoretischen Vorzeichen zu stellen. Wie Heidegger in seiner »Destruktion« der abendländischen Philosophie noch einen bestimmten, stets schon philosophisch vorentschiedenen Begriff von Sein voraussetzen musste, um an seine Stelle einen »anderen Anfang« zu setzen (Heidegger 1989: 4f.), und wie Derrida in seiner Kritik der Präsenzmetaphysik ebenfalls einen bestimmten Präsenzbegriff unterstellen musste, um ihm den Primat der »Schrift« entgegenzuhalten (Derrida 1983), so prätendiert auch der Posthumanismus einen bestimmten Begriff vom Menschen, um ihn anschließend durch eine diffuse Aggregation von menschlich-nichtmenschlichen Elementen zu substituieren, die an die Erfahrung des Sozialen, als unabdingbar jedem Menschlichen eingelassen, nicht heranreicht. In allen Kritiken des Humanen und des Humanismus bleibt darum etwas chronisch schief. Sämtlich rühren sie in ihrer Argumentation an eine Zirkularität, die solange nicht getilgt werden kann, wie sie der Verneinung des Menschen eine andere Position gegenüberzustellen trachten, die auf die Erfahrung einer Menschlichkeit verzichtet, die jedoch nicht weniger von einem Engagement für den Menschen zehrt wie dessen Kritik auch. Beide Seiten erweisen sich so vom selben bewegt: Der Antihumanismus, sofern er von einem Menschen träumt, der seine Hybris niedergelegt hat, der Transhumanismus, indem er die Grenzen der Natur durch Technik erweitert und einen neuen Menschen schaffen will, der ökologische Posthumanismus, sofern er versucht, den Menschen im Zeichen des »Anthropozäns« mit seiner eigenen Vernichtung zu konfrontieren, der Ökologismus, um dem Antlitz des Anderen das Gesicht der Kreatur an die Seite zu stellen und für andere, nichtruinöse Lebensformen zu werben. So geschieht die Zurückweisung des Menschen, als dem Menschen der actio, der Begierde und der Macht, stets und überall um des Menschen willen, seiner Verwandlung durch Extension, Passivität und Ausgleich mit seiner ihn stets schon umgebenden Environmentalität – doch bleiben alle diese verschiedenen Versuche insoweit inkonsistent, als sie dieses Umwillen leugnen und solange verfehlen, wie sie unsere besondere Umweltlichkeit, gleichsam das genuin menschliche Milieu, nicht im Sozialen und Ethischen und damit wieder einem spezifischen Sinn des Humanums selbst erblicken. Jeder ernst zu nehmende Anti- oder Posthumanismus erweist sich daher in Wahrheit erneut als ein Humanismus.
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Zur Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit des Menschen Überlegungen der Pädagogischen Anthropologie Jörg Zirfas
Einleitung Der Begriff der Bestimmung (des Menschen) wird im Folgenden in dreifacher Hinsicht verstanden, als: 1. (deskriptive) Abgrenzung nach Inhalt und Umfang von anderen Entitäten; 2. (rekonstruktive) Festlegung durch determinierende Faktoren und 3. (normative) Konstruktion eines Zieles und Zwecks des Daseins. Unter dem Begriff der Bestimmbarkeit wird analog vorausgesetzt, dass eine deskriptive Abgrenzung, eine rekonstruktive Festlegung und eine normative Konstruktion (des Humanen) möglich sind. Der Artikel folgt dieser Dreiteilung: Im Hinblick auf die Abgrenzung werden zwei epistemologische Fragestellungen diskutiert: Pluralismus und Unwesentlichkeit (1); im Hinblick auf die Festlegung werden pädagogische Aspekte der Veränderlichkeit und der Zukunft thematisch (2); und schließlich wird die normative Konstruktion unter den Blickwinkeln der Freiheit und der Selbstbestimmung analysiert (3). Vorbemerkungen: Meine Argumentationen haben eine doppelte Grenze, insofern sie zeitlich in der Neuzeit seit der Renaissance und räumlich im westlichen Diskursraum verortet sind. Sie sind dabei der Argumentation einer historischen Anthropologie verpflichtet, der die doppelte Historizität – des Gegenstandes Mensch und seiner begrifflichen und methodischen Zugänge – immer mitbedenkt (Wulf 1997). Sie konzentrieren sich sozusagen nicht auf naturwissenschaftliche Gegebenheiten in dem Sinne, als dass der Mensch durch seinen Körper bestimmt ist, Nahrung aufzunehmen, zu schlafen etc., sondern auf einen theoretischen Sinn, der die Bestimmbarkeit des Menschen abhängig macht von den Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Bestimmens (Seel 2002).
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Zur Epistemologie von Pluralismus und Unwesentlichkeit: homo absconditus Auf den ersten Blick erscheint die Perspektive einer Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit des Menschen merkwürdig, wenn nicht sogar falsch. Denn der Mensch ist und wird in vielerlei Hinsichten bestimmt. Ganz alltäglich bestimmen wir Menschen als Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene, Gesunde und Kranke, Raucher*in und Nichtraucher*in etc. Und wir wissen aus den Erkenntnissen der Naturwissenschaften, dass der Mensch zur Gattung Homo aus der Familie der Menschenaffen gerechnet wird, die wiederum zur Ordnung der Primaten und damit zu den höheren Säugetieren gehört – woraus sich wiederum eine ganze Reihe anderer Bestimmungen und Bestimmbarkeiten hinsichtlich seiner Entwicklung, seines Körpers, seiner Sozialität und Kulturalität oder auch seiner geistigen Vermögen ableiten lassen. Insofern gerät der Mensch theoretisch, aber auch praktisch zwischen Natur, Kultur und Technik (Bohlken/Thies 2009). Und schließlich finden wir selbst in den Geistes- und Kulturwissenschaften eine Fülle von Bestimmungen und Bestimmbarkeiten des Menschen: Diese reichen vom denkenden, vernünftigen, sprechenden oder auch: geschwätzigen, flüsternden, versprechenden und lügenden Tier über das lachende bzw. weinende, arbeitende, herstellende, handelnde, kochende und sich langweilende Wesen bis hin zum nachahmenden, transzendierenden, unbewussten, autonomen und auf zwei Beinen gehenden Erdenbürger; schließlich finden sich auch Bestimmungen, die den Menschen als tabula rasa, Genpool, Maschine, Mängelwesen oder Ebenbild Gottes verstehen – eine Reihung, die sich ergänzen ließe. Einige dieser Bestimmungen haben in der abendländischen Geschichte der Pädagogik eine lange Tradition (z.B. das Mängelwesen oder das Vernunftwesen), andere sind erst neueren Datums (z.B. der Mensch als Genpool oder Maschine); einige haben eine sehr große Bedeutung für die Pädagogik (z.B. das versprechende und das autonome Wesen), andere wiederum spielen zwar in den diversen anthropologischen Überlegungen, aber kaum in pädagogischen Diskursen eine bedeutsame Rolle (z.B. der lachende oder sich langweilende Mensch). Kurzum, es gibt eine Fülle von Bestimmungen und Bestimmbarkeiten (der Menschlichkeit) des Menschen, wobei deutlich wird, dass es vielleicht zu viele davon gibt. Und diese Diagnose gilt sowohl für den Kollektivsingular Mensch wie für das einzelne menschliche Individuum. Anders formuliert: Es gibt nicht die eine, eindeutige, alle Merkmale umfassende und universelle Definition des Menschen, die zu allen Zeiten und an allen Orten dieser Welt von Bedeutung war. Vielmehr wissen wir, dass jede Bestimmung des Menschen eine menschliche Bestimmung ist, die sich vor einem Horizont des (vorläufig) Unbestimmten und des (vorläufig) Unbestimmbaren abspielt. Der Mensch ist in diesem Sinne immer bestimmt (als Frau, Vernunftwesen, Genpool etc.) und unbestimmt zugleich – weil er immer weiter und immer anders – aus anderen Perspektiven, anderen Begriffen, anderen
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Motivationen etc. – verstanden werden kann: Der Mensch ist »ein Inbegriff dessen, was durch uns oder andere Erkennende erkennbar ist« (Seel 2014: 7, 56; Herv. i.O.). Als erkennbarer Gegenstand kann er immer auch anders erkannt werden. In dieser Hinsicht zeichnet sich eine erste These ab: Der Mensch ist unbestimmt und unbestimmbar, wenn darunter eine universelle, eindeutige und einförmige Definition des Menschen als ein Wesen verstanden wird. Bestimmungslogisch formuliert: Der Mensch ist keine Einheit, sondern eine Vielheit. Seine Bestimmbarkeit liegt darin, dass er im eindeutigen Sinne nicht bestimmbar erscheint. Denn ein Ergebnis anthropologischer Forschungen zeigt sich immer wieder: Der Versuch, die eindeutigen Universalien des Menschen zu bestimmen, führt zur Erkenntnis, dass die einzige Bestimmtheit des Menschen seine vielfältige Bestimmbarkeit ist, die letztlich auf eine Unbestimmbarkeit hinausläuft. Zwar kann man deutlich machen, dass es viele Universalien gibt – z.B. alle Menschen werden geboren, sind sterblich, nehmen Nahrung zu sich, lernen etwas etc. –, doch unterhalb dieser bloß faktischen Feststellungen (die im Einzelnen weniger faktisch und weniger trivial sind, als man glaubt, weil sie mit einer Fülle von symbolischen Bedeutungen aufgeladen sind) zeigen sich zahlreiche bestehende oder mögliche, teils auch widersprechende Bestimmungen dieser Universalien (Antweiler 2009). Diese Unbestimmbarkeit gründet in der Unmöglichkeit aus den vielfältigen Perspektiven auf den Menschen die entscheidende oder fundamentale Bedeutung herauszuarbeiten. Denn nicht nur ein Vergleich zwischen den diversen Perspektiven – die von der Theologie bis hin zur Biologie und von den Kunstwissenschaften bis hin zur Kybernetik reichen – erscheint aus epistemologischen Gründen aussichtslos (wie ließen sich hierbei die tertia comperationis bestimmen und wer bestimmt diese?), noch erscheint die Privilegierung einer Perspektive gegenüber einer anderen aus wissenschaftspolitischen Gründen legitimierbar: Warum sollte die Theologie wichtiger sein als die Biologie (Rathmayer 2013)? Aus dieser Paradoxie, dass der Mensch keine Einheit, sondern eine Vielheit ist, lässt sich schlussfolgern, dass eine Reduktion dieser Vielheit an anthropologischen Perspektiven eine Reduktion des Menschlichen resultiert. Und umgekehrt: Dass der Mensch umso menschlicher (im Sinne von: umso bestimmter) wird, je mehr Perspektiven wir auf ihn entwickeln (Wulf 2006). Aus diesem Erkenntnispluralismus heraus, ließe sich wohl – ohne dies hier darlegen zu können – auch eine Normativität herauslesen: Denn diese fordert einzugehen, dass es ein fundamentales Nichtwissen und Nichtwissenkönnen in Bezug auf die Abgrenzung und die Festlegung des Menschen gibt. Und diese Unbestimmtheit des Bestimmens lässt dem bestimmbaren Menschen wiederum Freiheitspielräume des Unbestimmten und Nicht-Festgelegten. Der Mensch bleibt offen für Bestimmungen – und damit auch für Veränderungen und Entwicklungen. Umgekehrt bedeutet jede Reduktion der Pluralität eine Fi-
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xierung des »nicht-festgestellten Tieres« Mensch (Nietzsche 1999, S. 81) und damit potentiell Gewalt. Insofern kritisieren neuere Ansätze insbesondere die traditionellen Modelle einer Wesensanthropologie, die den Menschen in einer ganz spezifischen, eindeutigen Sicht gefasst hatte. So wurde der Mensch mit seiner Natürlichkeit, seiner Sozialität, seiner Vernunft oder auch seiner Göttlichkeit identifiziert. In der neueren Geschichte des anthropologischen Denkens ist dagegen darauf verwiesen worden, dass das Wesen des Menschen in seiner Un-Wesentlichkeit besteht. Neuere Bemühungen lassen sich daher einer negativen Anthropologie zuordnen, die sich einer anthropologischen Wesensdefinition enthält. Der Mensch wird in dieser Perspektive zu einer nicht lösbaren Frage, zu einer negativen und heuristischen Kategorie, die die Reflexion über anthropologische Grundphänomene historisch, interkulturell, transdisziplinär und selbstreflexiv möglich machen soll. Gerade die paradoxale Fassung der modernen pädagogischen Anthropologie macht die Betonung des fragmentarischen Charakters und der Negativität von Menschenbildern möglich, d.h. die Unabgeschlossenheit, das Nichtwissen, das Nichtwissenkönnen und das Rätselhafte des Humanen (Wulf 2013). Es ist historisch betrachtet kein Zufall, dass Überlegungen zur Bestimmungsproblematik des Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr pointiert in einer Diagnose von Max Scheler (1874-1928) zusammengefasst wurden: »Wir sind in der ungefähr zehntausendjährigen Geschichte das erste Zeitalter, in dem sich der Mensch völlig und restlos problematisch geworden ist: in dem er nicht mehr weiß, was er ist; zugleich aber auch weiß, dass er es nicht weiß.« (Scheler 1927: 162) Dieses Zitat markiert eine Diagnose, die im Grunde bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt Bestand hat und verweist zudem darauf, dass die Bestimmungen und Bestimmbarkeiten des Menschen (in jeder der oben aufgeführten Hinsichten) einen zeitlichen Index haben. Und dieses Zitat wird noch einmal um den Selbstzweifel des eigenen Nichtwissens potenziert, insofern der Mensch – in einer weiteren Definition –auch als dasjenige Wesen verstanden werden kann, das um seine Unwesentlichkeit und Undefinierbarkeit weiß und nicht weiß. »Der Mensch weiß nicht, was er ist, er weiß nicht, was er denkt, er weiß auch nicht, was er weiß. Wie sollte da verwunderlich sein, dass er auch so oft nicht weiß, was er tut? Und weshalb sollte er wissen, was er kann?« (Blumenberg 2006: 882) Insofern sein Wesen die Fraglichkeit ist, bleibt er wesentlich nicht sicht- und verstehbar. Es sind nicht zuletzt die psychoanalytischen Studien von Sigmund Freud (1856-1939), die uns darauf aufmerksam gemacht haben, wie wenig Menschen eigentlich von sich wissen und wie stark sich durch dasjenige beeinflusst sind, dass sie nicht kennen: das Unbewusste (Gödde/Buchholz 2011). Erst der moderne Mensch
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erscheint als ein Lebewesen, das sich nicht selbstverständlich ist, das ungeheuer komplex und vielschichtig ist, das sich in wesentlichen Aspekten – immer noch nicht – vollständig begriffen hat und wohl auch nicht begreifen wird. Das wiederum hängt zudem damit zusammen, dass der Mensch nicht klar und distinkt gegenüber anderen Entitäten – vor allem gegenüber den Tieren – abgegrenzt werden kann (Bilstein/Westphal 2018). Der Mensch erscheint als homo absconditus (Zirfas 2009). Es ist Helmuth Plessner (1892-1985), dem wir in der Anthropologie die Rede vom homo absconditus verdanken. Er definiert 1969 die Abscondität, d.h. die Selbstverborgenheit des Menschen als Kehrseite seiner »Weltoffenheit« (Plessner 1976b). Einerseits ist der Mensch für ihn »schrankenlos«, unendlich flexibel, wandelbar und in diesem Sinne »weltoffen«, weil er sich immer anders zu sich und zur Welt verhalten kann; Weltoffenheit meint in diesem Sinne »Abständigkeit«, »Reflexivität« oder »Exzentrizität«, d.h. die Möglichkeit eines anderen Selbst- und Weltverständnisses und eines anderen Selbst- und Weltverhältnisses. Andererseits kennt der Menschen auch die »Grenzen seiner Schrankenlosigkeit« und weiß sich damit als »unergründlich«, weil er die »Brüchigkeit alles menschlichen Beginnens« ebenso wenig vollständig erklären kann, wie die »Abgründigkeit« seines Wollens: »Die Verborgenheit des Menschen für sich selbst wie für seine Mitmenschen – homo absconditus – ist die Nachtseite seiner Weltoffenheit. Er kann sich nie ganz in seinen Taten erkennen – nur seinen Schatten, der ihm vorausläuft und hinter ihm zurückbleibt, einen Abdruck, einen Fingerzeig auf sich selbst. Deshalb hat er Geschichte. Er macht sie und sie macht ihn. Sein Tun, zu dem er gezwungen ist, weil es ihm erst seine Lebensweise ermöglicht, verrät und verschleiert sich in einem.« (Ebd.:144; Herv. i.O.) Letztlich führt Plessner die anthropologische Weltoffenheit und damit auch die Frage nach der Abscondität zurück auf die Differenz zwischen dem Körper als dinglichem Phänomen einer begreifenden Außenwahrnehmung und dem Leib als Phänomen einer spürenden Innenerfahrung: Den Körper hat man, leiblich ist man. Und in diesem Kontext merkt er an: »›Ich bin, aber ich habe mich nicht‹, charakterisiert die menschliche Situation in ihrem leibhaften Dasein. Sprechen, Handeln, variables Gestalten schließen die Beherrschung des eigenen Körpers ein, die erlernt werden mußte und ständige Kontrolle verlangt. Dieser Abstand in mir und zu mir gibt mir erst die Möglichkeit, ihn zu überwinden. Er bedeutet gerade keine Zerklüftung und Zerspaltung meines im Grunde ungeteilten Selbst, sondern geradezu die Voraussetzung, selbstständig zu sein.« (Plessner 1976a: 56) Weil der Mensch leiblich ist, d.h. seine Körperlichkeit wahrnimmt, fühlt, erfährt und reflektiert oder anders gesagt: weil er sein Erleben noch einmal erlebt und
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weil dieser Bruch zwischen sich (als Leib) und sich (als Körper) nicht geschlossen werden kann, braucht es Lückenbüßer wie die Geschichte, die Mitmenschen oder die Institutionen, die ihm sagen, wer er ist und was er sein kann. Dass sich also jeder »nur im Umweg über andere und anders als Jemand hat« (ebd.: 61), bedingt, dass das Andere bzw. die Anderen konstitutive Bestandteile des Selbst werden – Bestandteile, die der Mensch nicht vollständig aufklären und erklären kann. In der neueren pädagogischen Anthropologie erscheint der Mensch daher als homo absconditus. Diese Form pädagogischer Anthropologie stellt sich nicht mehr die Frage nach dem (Wesen des) Menschen, sondern die Frage nach den je spezifischen, historisch-apriorischen Dimensionen, die für die Erziehungs- und Bildungsprozesse des Menschen als konstitutiv betrachtet werden. Nunmehr geht man davon aus, dass man ohne die Aspekte der menschlichen Entwicklungen und Grenzen, der Zeit- und Räumlichkeit, der Körper- und Leiblichkeit, der Kulturalität und Sozialität sowie der Subjektivität und Individualität den Menschen in der Pädagogik nicht angemessen verstehen kann. Diese Kategorien dienen der Pädagogik nunmehr als Deutungs-, Orientierungs-, Praxis- und Legitimierungshorizonte (Zirfas 2004; Wulf/Zirfas 2014).
Zur Pädagogik der Bildsamkeit und der Zukunft: homo educabilis In der Geschichte der Pädagogik findet sich eine lange und bis heute anhaltende Debatte über die Festlegung des Menschen durch seine Natur (die als Vernunft, Erbsünde oder genetische Ausstattung definiert worden ist) oder durch die Umwelt (in ihrer familiären, gesellschaftlichen oder kulturellen Form). Gegen diese letztlich reduktionistischen Tendenzen, den Menschen etwa als Produkt seiner genetischen Ausstattung oder seiner familiären Herkunft zu verstehen, hat die Pädagogik in der Moderne, namentlich Johann Friedrich Herbart (1776-1841), den Begriff der Bildsamkeit explizit als Grundbegriff der Pädagogik ausgewiesen und diesen mit einem sehr weiten Umfang versehen. Er schreibt in seinem Umriss pädagogischer Vorlesungen (1835/41): »§ 1. Der Grundbegriff der Pädagogik ist die Bildsamkeit des Zöglings. Anmerkung: Der Begriff der Bildsamkeit hat einen viel weitern Umfang. Er erstreckt sich sogar auf die Elemente der Materie. Erfahrungsmäßig läßt er sich verfolgen bis zu denjenigen Elementen, die in den Stoffwechsel der organischen Leiber eingehn. Von der Bildsamkeit des Willens zeigen sich Spuren in den Seelen der edlern (sic!) Tiere. Aber Bildsamkeit des Willens zur Sittlichkeit kennen wir nur beim Menschen.« (Herbart 1982: 165; Herv. i.O.)
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In diesem Sinne wird eine zweite These augenfällig: Der Mensch ist unbestimmt und unbestimmbar, wenn darunter ein unveränderlicher und festgelegter Mensch verstanden wird. In der Pädagogik wird dieser Sachverhalt einer nicht feststellbaren Determiniertheit durch seine Natur oder seine Umwelt einerseits mit dem Titel der Bildsamkeit, andererseits mit dem Begriff der Zukunft diskutiert. Insofern erscheint der Mensch als homo educabilis. Bildsamkeit ist ein zentrales konstitutives Prinzip pädagogischen Denkens und Handelns (Benner 1991: 56f.). Sie ist kein genuin anthropologisches, sondern ein pädagogisch-anthropologisches Prinzip. In diesem Sinne schreibt Dietrich Benner: »Bildsamkeit ist vielmehr ein Prinzip der pädagogischen Interaktion, ein Relationsprinzip, welches sich auf die pädagogische Praxis als eine intergenerationelle Praxis bezieht und jede Reduktion pädagogischen Handelns zum Erfüllungsgehilfen der Vorsehung im Sinne anlagenbestimmter oder umweltbedingter Determinanten negiert.« (Ebd.: 57) Aus diesem Zitat lässt sich entnehmen, dass die häufig geführte Kontroverse, ob und inwieweit der Mensch durch seine Anlagen, seine Begabung oder seine Gene festgelegt ist, oder ob und inwieweit er Produkt (und Opfer) seiner Umwelt ist, müßig ist. Wir können und müssen als Pädagog*innen voraussetzen, dass Menschen sich entwickeln, dass sie Fortschritte machen oder dass sie Kompetenzen erwerben können; wir müssen dabei auch die genetischen oder sozialen Bedingungen reflektieren, und dabei unterstellen, dass sie diese Lernfortschritte oder Entwicklungen zwar limitieren, aber nicht determinieren können. Aus der Bildsamkeit ergeben sich eine negative und eine positive pädagogische Bestimmung: Negativ bedeutet sie, dass wir dem pädagogischen Gegenüber weder bestimmte Anlagen zu- noch absprechen, noch so auf ihn einwirken dürfen, dass wir seine Entwicklungsprozesse begrenzen und festlegen. Eine positive Bestimmung erfährt das pädagogische Handeln dadurch, dass es an der Selbstständigkeit des Anderen orientiert ist. Bildsamkeit ist ein notwendiges, aber kein hinreichendes konstitutives Kriterium der Pädagogik, hierzu braucht es noch die Aufforderung zur Selbstständigkeit (ebd.: 63f.; s.u.). In diesem Sinne könnte man formulieren, dass Menschen die einzigen pädagogischen Lebewesen sind, und zwar nicht nur deshalb, weil sie intersubjektivbildsam sind, sondern auch weil sie zur Bildung der Selbstständigkeit aufgefordert werden müssen und schließlich auch, weil nicht sichergestellt werden kann, dass sie dieser Aufforderung auch nachkommen und ihr Ziel erreichen. Daher hat die neuzeitliche Bildungstheorie immer wieder auf die Veränderungsfähigkeit des Menschen abgehoben; und wenn sie von Bildsamkeit spricht, bedeutet dies, dass jedes Individuum an seiner Bestimmung zu arbeiten habe; und dass es letztlich kein universelles Maß für die Bildsamkeit des Einzelnen gibt, das diesem seine Bestimmung von außen auferlegt. Die Bildsamkeit eines Menschen ist nicht der an-
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thropologische Maßstab, an dem seine Bestimmung zu messen wäre, sondern die pädagogische Aufgabe, die sich aus der Bestimmung ergibt, dass der Mensch sich selbst bilden soll. Insofern ist Bildsamkeit im Kern keine anthropologische, sondern eine pädagogische Bestimmung, die sich auf das Verhältnis der pädagogischen Interaktion und dabei auf die Möglichkeit der Mitwirkung der Zu-Erziehenden an pädagogischen Interaktionen bezieht. Beide konstitutiven Prinzipien sind miteinander verschränkt: Die Bildsamkeit verweist darauf, dass sie sich erst in einer Aufforderung zur Selbsttätigkeit entfalten kann; die Aufforderung zur Selbstständigkeit macht nur dann Sinn, wenn die intersubjektive Vorstellung von Bildsamkeit unterstellt wird (ebd.: 65). Hierbei soll angemerkt werden, dass die Aufforderung zur Selbstständigkeit dort zum Problem wird, wo es zur Entwicklung eines gouvernementalistischen Selbst, das heißt zur Übernahme von Imperativen und Praxen des Selbstmanagements und Selbstoptimierens kommt, die darauf hinauslaufen, dass Menschen sich selbst (freiwillig) an Formen der ökomischen Liberalität anpassen. Bestimmungstheoretisch lässt sich diese Anpassung als eine Seite der Selbständigkeit verstehen, d.h. als die Seite, die die Unbestimmtheit (menschlicher Möglichkeiten) in eine Bestimmtheit (nämlich Selbstmanagement) überführt; sie muss durch die andere Seite, die diese Bestimmtheit auf andere und weitere Bestimmungsmöglichkeiten überprüft und anderes Unbestimmte auslotet, ergänzt werden (Ehrenspeck/Rustemeyer 1996). Folgerichtig konzentriert sich der für die Neuzeit konstitutive Gedanke im Erziehungs- und Bildungskontext auf das Moment, dem pädagogischen Gegenüber diejenigen Möglichkeiten zu gewährleisten, sich selbst am Bildungsgeschehen aktiv und selbstbestimmt beteiligen zu können, ohne festlegen zu können, wie dessen Selbsttätigkeit genau beschaffen sein wird. In diesem Sinne gilt auch nach wie vor Klaus Mollenhauers bezüglich der anthropologischen Bildsamkeit geäußertes Diktum ihrer wissenschaftlichen Unerfassbarkeit: »Ich weiß es nicht [was Bildsamkeit ist, JZ], und ich halte es für unmöglich, es in dem Sinne ›wissen‹ zu können, in dem die Wissenschaft sich bemüht, zuverlässiges Wissen zu erzeugen. Wissenschaftliches Reden über Bildsamkeit ist nichts als die Erläuterung dieser Unmöglichkeit. […] [E]s ist ein Reden über die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren, zwischen Subjektivität und Intersubjektivität.« (Mollenhauer 1994: 80, 86; Herv. i.O.) Wir können dies Bildsamkeit eines Menschen nicht bestimmen und wir sollten es auch nicht tun. Insofern bekommt das pädagogische Handeln die Form einer Hypothese, eines auf die Zukunft des pädagogischen Gegenüber zielenden Experiments, eines offenen Entwurfs, der von den Bildungsbewegungen des anderen immer wieder überholt wird.
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»Ist diese Hypothese aber in der pädagogischen Interaktion nicht beständig für Korrekturen offen, d.h. ist sie derart verfestigt, da[ss] sie keine neuen Erfahrungen mit dem Kinde [gilt aber auch für den Erwachsenen] mehr zuläßt – wird also aus dem offenen Experiment ein geschlossenes Ritual, dann droht auch die Bildsamkeit des Kindes zu erlöschen.« (Ebd.: 104; Herv. i.O.) Dieses Erlöschen lässt sich immer wieder beobachten. Vor allem dort, wo man glaubt, dass Bildsamkeitsunterschiede – die sich ja durchaus empirisch festhalten lassen – mit einer Natur eines Menschen oder auch mit seinem sozialen oder kulturellen Status in Verbindung stehen. Dieses Erlöschen lässt sich aber auch dort festhalten, wo man glaubt, die Zukunft (des Menschen) bestimmen zu können. Seit der Aufklärung kommen vor allem der Wissenschaft, der Politik und der Technik, aber auch der Pädagogik die Aufgaben zu, an der Bildsamkeit und Verbesserung des Menschen bzw. der Menschheit, an der Höherbildung und am Fortschritt des Einzelnen wie der Allgemeinheit mitzuarbeiten. Vor diesem historischen Hintergrund erscheint die Zukunft als zentrale integrale Kategorie, von der alles abhängt. Pädagogisches, politisches und auch medizinisches Handeln wird unter dieser Prämisse ein »prinzipiell riskanter Vorgriff auf Künftiges«, der sich legitimieren muss (Mollenhauer 1981: 67), gerade weil mit dieser Figur eine Fülle von Problematiken verbunden sind (de Haan 2014). Diese Problematiken sind mit der Bestimmung dessen verknüpft, von welcher Zukunft überhaupt die Rede ist (wobei oftmals zwischen einer gegenwärtigen und einer anderen Zukunft unterschieden wird), wie diese Zukunft erreicht werden kann und soll, ob und welche unerwünschten zukünftigen Nebenfolgen zu erwarten bzw. zu befürchten sind. Pädagogisch lassen sich diese Problematiken in Verbindung bringen mit einer permanenten Revision von Wissens- und Könnensbeständen, die zugleich Ausdruck eines futuristischen Nichtwissenkönnens ist (Zirfas 2015). Einen pädagogischen Vorschlag zur Zukunftsbewältigung hat Niklas Luhmann (1927-1998) vorgelegt, der davon ausgeht, dass die unsichere Zukunft insofern Auswirkungen auf den Alltag hat bzw. immer stärker haben wird, als dass der heimliche Lehrplan der Unsicherheit größeres Gewicht bekommt. Eine Chance sieht er darin, diese Ungewissheit und Unsicherheit zum expliziten Lehrplan zu erheben und insofern Menschen ein Risikowissen, eine Offenheitshaltung oder auch eine Gestaltbarkeitskompetenz zu vermitteln. Nicht mehr Prognose und Planung stehen im Mittelpunkt des Zukunftsverständnisses, sondern der Umgang mit Nichtwissen und Unvorhersehbarkeit. Denn die Unsicherheit der Zukunft hängt weitgehend davon ab, ob wir glauben, dass Planung aufgrund einer stabilen Prognose auch sinnvoll ist. Es sollte daher eine Pädagogik entwickelt werden, die »den zu erziehenden Nachwuchs auf eine unbekannt bleibende Zukunft einstellt« (Luhmann 2002: 198). Die unbekannte Zukunft ist hier kein Hindernis, sondern Ermöglichung von Lernen und Bildung, eine Ressource für Entscheidungsprozesse; und
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das Lernen des Wissens sollte dementsprechend umgestellt werden auf ein Lernen des Nichtwissens- und Nichtwissenkönnens im Sinne eines Entscheidungslernens, »das heißt: der Ausnutzung von Nichtwissen« (ebd.). Doch erstens erscheint ein radikales Offenhalten von Zukunft, als potentiell unendliche Steigerung von Wahlmöglichkeiten, durchaus problematisch, da es Selbstbestimmungsmöglichkeiten zu verhindern droht, die ja auch Einklammerungen und Festlegungen von Optionen bedeuten. Kann man sich überhaupt sinnvoll bilden, wenn man sich alle Optionen prinzipiell immer offenhält, wenn es nur Horizonte des Nicht-Wissens – und nicht auch ein paar des Wissens – gibt? Zwar wird alles Wissen von einem »Echo des Nichtwissens« (Hogrebe) durchhallt, doch bleibt dabei immerhin die Orientierung an einem, selbstredend, falliblen Wissen. Oder lauern nicht hinter dieser emphatischen Offenheit die Maximen einer stetigen Anpassung, einer durchgängigen Optimierung, einer adaptiven Beschleunigung und einer umfassenden Verpflichtung – jederzeit neu für alles verfügbar zu sein? Steht mithin die Zukunft dem Autonomieversprechen der Moderne selbst im Weg? Wie verhält man sich gegenüber abstrakten, zielund substanzlosen Wettbewerbs- und Steigerungszwängen, die tautologischen Rechtfertigungsmustern folgen und damit auch kaum kritisier- und revidierbar erscheinen? (Rosa 2009: 42) Auf der anderen Seite kann die Zukunft in einem emphatischen Sinne als radikal offene und neue dann nicht beginnen, wenn sie lediglich als Fortschritt und daher als Raum für die Perfektibilität von Vorhandenem oder dessen Eliminierung gedacht wird (Luhmann 1990). In diesem Sinne verweisen die pädagogischen Konzepte der Zukunft oftmals auf eine gegenwärtige Zukunft, die somit der temporalen Eigenheit der Zukunft als Offenheit nicht gerecht werden, da sie die kommende Zukunft durch die Vergangenheit der Gegenwart determinieren. Diese These gilt auch für die Einführung der sog. Schlüsselqualifikationen und Schlüsselkompetenzen: Menschen erscheinen dann selbstständig, wenn sie das Nicht-Wissen der Zukunft eingeübt haben. Wir wissen, dass wir nicht wissen können, wie die Zukunft beschaffen ist, und versuchen daher Fähigkeiten zu entwickeln, von denen wir unterstellen, dass sie mit dieser unwissbaren Zukunft umgehen können. Unterstellt wird auch in den neueren Schlüsselqualifikationskonzepten, dass die zu erwerbenden Kompetenzen quasi lebenslang und ubiquitär anwendbar erscheinen, mithin, dass sie die Schülerinnen und Schüler auf eine offene Zukunft vorbereiten. Denn die Schlüsselkompetenzen heißen ja nicht nur so, weil sie in alle Lebensschlösser passen, sondern auch so, weil sie immer passen sollen. Schlüsselqualifikationen sind Wetten auf die unsichere Zukunft. Das gilt etwa für die im Sinne einer neuen Didaktik des Nichtwissens entwickelten zukunftsbezogenen Kompetenzen, die Robert Reich schon 1992 für ein Leben unter Bedingungen einer unsicheren Zukunft für sinnvoll hielt, nämlich Systemdenken, Abstraktionsvermögen, eine experimentelle Grundhaltung, Kooperationsfähigkeit,
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kreative Anwendung von Fachwissen, die Fähigkeit unvorhergesehene Probleme zu lösen und Neues lernen zu können. Während Herbart unter Bildsamkeit noch ein »Übergehen von der Unbestimmtheit zur Festigkeit« vor allem des sittlichen Handelns (Herbart 1982: 165) verstehen konnte, wird mit der immer größer werdenden Zukunftsungewissheit der Menschen noch eine zweite Form der Bildsamkeit bedeutsam, nämlich ein Übergehen von Festigkeit in Unbestimmtheit. Weil wir als Pädagog*innen einerseits für die Zukunft erziehen und bilden und anderseits nicht wissen und wissen können, wie diese Zukunft (exakt) aussieht und welche Herausforderungen sie bringt – um also dem pädagogischen Gegenüber und seiner Bildsamkeit in seiner Gegenwart und Zukunft gegenüber angemessen und gerecht bleiben zu können –, müssen vorgeschlagene Kompetenzen und Qualifikationen auch in Frage gestellt werden können. Jean-Jacques Rousseau (1712-1788) hat diese Erkenntnis im Emile (1762) auf den schönen Satz gebracht: »Die einzige Gewohnheit, die ein Kind annehmen darf, ist die, keine anzunehmen.« (Rousseau 1990: 39) Pädagog*innen müssen darauf vertrauen und auch daran arbeiten, dass Unsicherheit und NichtWissen pädagogisch Sinn machen, sie müssen hoffen, dass spezifische Methoden und Inhalte bildungsrelevant sind, sie müssen eine Ahnung dafür entwickeln, wie sich Menschen weiterentwickeln können – und sie müssen von dieser Ahnung abweichen können (Dederich/Zirfas 2020).
Zur normativen Konstruktion von Freiheit und Selbstbestimmung: homo modificans Im Hinblick auf die epistemologischen und die pädagogischen Überlegungen lässt sich festhalten, dass sowohl das (Nicht-)Wissen um das Humane, als auch seine Bildsamkeit und Zukunftsoffenheit, ganz praktische, auch pädagogische Folgen hat. Denn Menschen können sich durch eine andere Art und Weise der Wahrnehmung und des Verstehens, auch verändern, gestalten und entwickeln. Vielleicht ist der Mensch sogar das einzige Lebewesen, dem diese Eigenschaft zukommt: sich durch ein anderes Verständnis seiner selbst bilden zu können (Taylor 1985). Pointiert hat Helmuth Plessner (1892-1985) diesen Sachverhalt auf den Punkt gebracht: »Sich und die Welt anders sehen heißt für den Menschen eben auch anders sein« (1985: 60). In diesem Sinne wird eine dritte These impliziert: Der Mensch ist unbestimmt und unbestimmbar, weil er sich anders verstehen und weil er sich selbst anders bestimmen kann: homo modificans. Dass die Selbstbestimmung die zentrale Aufgabe des Menschen darstellt, zeigt sich schon in der Frühen Neuzeit, etwa bei Giovanni Pico della Mirandola (14631494). Der Mensch wird bei ihm zur Instanz von Frage und Antwort der Selbstbestimmung, er kann die Frage nach dem Menschen nur an sich selbst richten
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und durch sich selbst beantworten. Mit dieser Verschiebung von einer Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung wird weder die Frage nach einer wesenhaften und umfassenden Bestimmbarkeit, noch die Dialektik von Bestimmung und Unbestimmtheit – jede Bestimmung erzeugt Unbestimmheiten; diese sind wiederum nur von dem Horizont von Bestimmheiten zu denken – aufgehoben. Und noch eines wird deutlich: Dass jede Form der Selbstbestimmung immer im Raum von Fremdbestimmungen stattfindet, dass jedes Selbstbestimmen immer auch ein »sich bestimmen lassen« (Seel 2002) darstellt. Pico war wohl einer der ersten, der dieses neuzeitliche Selbstverständnis des Menschen in seinem, nicht nur für die Pädagogik wichtigsten Werk, der erst posthum 1496 veröffentlichten Oratio oder De hominis dignitatis, auf diesen Punkt gebracht hat. Diese Schrift lässt sich daher nicht nur als das anthropologische Manifest des Cinquecentos, sondern auch als das der Moderne verstehen. In ihr umreißt Pico die Stellung des Menschen anhand einer Ansprache Gottes an Adam folgendermaßen: »Wir haben dir keinen bestimmten Wohnsitz noch ein eigenes Gesicht, noch irgendeine bestimmte Gabe verliehen, o Adam, damit du jeden beliebigen Wohnsitz, jedes beliebige Gesicht und alle Gaben, die du dir sicher wünschst, auch nach deinem Willen und nach deiner eigenen Meinung haben und besitzen mögest. Den übrigen Wesen ist ihre Natur durch die von uns vorgeschriebenen Gesetze bestimmt und wird dadurch in Schranken gehalten. Du bist durch keinerlei unüberwindliche Schranken gehemmt, sondern du sollst nach deinem eigenen freien Willen, in dessen Hand ich dein Geschick gelegt habe, sogar jene Natur dir selbst vorherbestimmen. Ich habe dich in die Mitte der Welt gesetzt, damit du von dort bequem um dich schaust, was es alles in dieser Welt gibt. Wir haben dich weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen, weder als einen Sterblichen noch als einen Unsterblichen geschaffen, damit du als dein eigener, vollkommenen frei und ehrenhalber schaltender Bildhauer und Dichter dir selbst die Form bestimmst, in der du zu leben wünschst. Es steht dir frei, in die Unterwelt des Viehes zu entarten. Es steht dir ebenso frei, in die höhere Welt des Göttlichen dich durch den Entschluss deines eigenen Geistes zu erheben.« (Pico 1992: 10f.) An dieser anthropologisch und pädagogisch ungemein bedeutenden Passage lassen sich die grundlegenden anthropologischen Bestimmungen des Humanismus bei Pico verdeutlichen: Die Bild- und Bestimmungslosigkeit des Menschen, dessen gottgewollte Bestimmung darin liegt, sich ein Bild zu machen und sich eine Bestimmung zu geben; die Freiheit als Selbstbestimmungsfähigkeit, als Fundamentalwahl des Willens wie als Bestimmung durch den Willen; die zentrierte Stellung in der Welt, die eine privilegierte kontemplative Position impliziert; die künstlerische Verfertigung seiner selbst, die einer Selbsterschaffung aus einem vorgegebe-
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nen Stoff gleichkommt und schließlich die Möglichkeit der Selbstverfehlung aber auch die Möglichkeit der Selbstverbesserung. Vor diesem Hintergrund ist es nur folgerichtig, dass wir vor allem in den vergangenen Jahrzehnten eine bedeutsame Maxime in der pädagogisch-anthropologischen Forschung immer wieder finden: Du solltest Dir – als Pädagoge, als Pädagogin – kein Bild vom (dir anvertrauten) Menschen machen. Mit dieser Maxime, sich kein Bild des Zöglings zu machen, situiert sich die Pädagogik in einem langen religiösen Denken, das sich ein Bildnis Gottes verbat und damit eine große Tradition jüdisch-christlichen Ikonoklasmus in Gang setzte (Meyer-Drawe 2007). Damit verbunden ist einerseits die Idee, dass Menschen durch Erziehung und Bildung nicht festgelegt, kategorisiert, etikettiert oder sogar stigmatisiert und diskriminiert werden sollen; und andererseits auch die Idee, dass sie Möglichkeiten erhalten sollen, sich selbst bestimmen und verändern zu können (Zirfas 1999). Mit Dietmar Kamper (1973: 26) formuliert, brauchen wir einen »›Begriff‹ vom Menschen, der die Unmöglichkeit eines Begriffs vom Menschen begrifflich nachweist«, um sicher zu stellen, dass Menschen nicht auf einen bestimmten Begriff gebracht, d.h. auf eine spezifische Lebenspraxis und einen speziellen Wertekanon festgelegt werden, sondern sich selbst für diese entscheiden können. Auf der anderen Seite braucht Pädagogik aber ein Menschenbild für ihr pädagogisches Denken und ihr praktisches Handeln. Denn auch eine zu offene Anthropologie erscheint durchaus problematisch. So hält Theodor W. Adorno (1903-1969) fest: »Dass sich nicht sagen lässt, was der Mensch sei, ist keine besonders erhabene Anthropologie [sic!] sondern ein Veto gegen jegliche.« (Adorno 1982: 130) Adorno verweist darauf, dass eine solche Anthropologie der Offenheit keine Möglichkeiten enthalte, die an den Menschen begangenen »Verstümmelungen« und »Entmenschlichungen« kritisierbar zu machen, da sie sich lediglich in »Abstraktionen« verliere (ebd.). In diesem Sinne können Menschen sich zum Wahren, Guten und Schönen (Platon) »bestimmen«, aber auch zum Falschen, Bösen und Hässlichen; sie können sich für Mitleid, aber auch für Grausamkeit entscheiden, sie können Kriege führen und Frieden suchen, sie können »feige und faul sein« (Kant), aber auch mutig und strebsam. Nun ist Adorno selbst bei seiner negativen Bestimmung der Anthropologie nicht stehen geblieben, sondern hat im Sinne einer dialektischen Betrachtungsweise, die aus der Kritik zugleich an diese anschließenden Möglichkeiten skizziert, wie folgt formuliert: »Wir mögen nicht wissen, was der Mensch und was die rechte Gestaltung der menschlichen Dinge sei, aber was er nicht sein soll und welche Gestaltung der menschlichen Dinge falsch ist, das wissen wir, und einzig in diesem bestimmten und konkreten Wissen ist uns das Andere, Positive, offen.« (Adorno 1979: 456)
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Ein Versuch in die Richtung, die den homo modificans mit einer negativen Ethik zusammendenkt, hat Andreas Steffens (1999) unternommen. Er schreibt: »Nur seine Unbegründbarkeit schützt das Menschliche gegen die Eindeutigkeit von Reglementierungen, wie sie aus erlangter Eindeutigkeit seiner Bestimmung folgen müßten. Nur wenn niemandem vorgeschrieben wird, was es für ihn heißt Mensch zu sein, kann ein jeder damit rechnen, in seiner Menschlichkeit nicht elementar verletzt zu werden. Seine Unbestimmtheit ist die einzige mögliche Garantie einer Unversehrtheit.« (Ebd.: 51) Wenn Pädagog*innen einerseits davon ausgehen, dass es kein Wesen des Menschen gibt und kein Modell, das ihn vollständig erklärt, und andererseits wissen, dass er sich durch Bildsamkeit und Zukunftsoffenheit auszeichnet, so können die damit verbundenen Komplexitäten und Unbestimmtheiten durchaus als pädagogischer Gewinn verstanden werden – nicht nur für die Zöglinge, sondern auch und gerade für Pädagog*innen selbst. Denn: »Solange die ›Bilder in unseren Köpfen‹ unfertig, unscharf und nur eine unsichere Grundlage für unser Handeln bieten, solange lernen wir. Sind die Bilder fertig, in allen Zügen ausgemalt, in allen Einzelheiten festgelegt, kommt nichts Neues mehr hinzu. Auf Grund starrer Bilder werden auch die Aktionen des Menschen musterhaft starr.« (Lassahn 1983: 180f.) Die pädagogische Anthropologie hat in diesem Sinne die Aufgabe, »die Unmöglichkeit eines geschlossenen Bildes vom Menschen zu skizzieren« und der Unerschöpflichkeit seiner Perspektiven und der vollen »Bildlosigkeit in bezug auf den Menschen« (Bollnow 1975: 51f., 36f.) gerecht zu werden. Wenn Pädagog*innen aber gleichzeitig davon ausgehen (womit sie nicht vollkommen bilderlos sind), dass Menschen bildsame und selbstbestimmungsfähige Wesen sind, und wenn sie sich als diejenigen verstehen, die Bildsamkeit und Selbstbestimmungsfähigkeit möglich machen sollen, so werden sie Spuren suchen, in denen Menschen sich als Selbstbestimmungsfähige selbst bilden können. Und noch ein Gesichtspunkt wird aus dem Gesagten deutlich: Die Selbstständigkeit der Zöglinge (aber auch der Pädagog*innen) basiert auf der Abscondität. Weil sich die Lücke zwischen sich und sich selbst nicht schließen lässt, weil niemand weiß, was er schon ist, kann er selbstständig und selbstbestimmend werden. Die Selbstbestimmung setzt einen letztlich unüberbrückbaren Abstand im Selbst voraus, den Menschen immer unterschiedlich und nur partiell schließen können. Anders formuliert: Die Möglichkeit, sich bestimmen zu können, setzt ein gewisses Maß an Unbestimmtheit voraus. Der Mensch darf nicht auf ein spezifisches Bild seiner selbst festgelegt werden. »Wer sich selbst zu bestimmen vermag, muss Spielräume haben, dies zu tun, und darf also nicht restlos bestimmt sein. […] Un-
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bestimmtheit ist nicht einfach die Abwesenheit von Bestimmungen, sondern bedeutet Spielräume innerhalb von Bestimmungen.« (Bertram 2018: 33) Der Mensch ist und bleibt in zumindest dreierlei Hinsichten ein unbestimmtes und unbestimmbares Wesen, weil er nach Inhalt und Umfang nicht hinreichend definiert werden kann, weil er bildsam und zukunftsoffen ist und weil seine Bestimmung in der Selbstbestimmung liegt.
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Den Menschen relational denken Versuch einer Standortbestimmung relationaler Anthropologie Theresa Lechner
Einleitung Die folgenden Überlegungen1 greifen das Problem auf, dass der Mensch nicht allgemeingültig bestimmt werden kann. Daher werden seine Relationen zur Welt in den Blick genommen und eine relational-anthropologische Perspektive angeboten, um Menschen aus ihrer Verhältnishaftigkeit heraus relational zu denken. Ausgehend von der dialektischen Grundlegung durch Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1) wird die anthropologische Dimension der Pädagogik (2) und die Kontinuität ihrer vergessenen Zusammenhänge mit der Kultur (3) nachgezeichnet. Die pädagogischen Problemstellungen werden in ihrer Dialektik aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive (nach Klaus Mollenhauer) dargestellt. Am Beispiel der Spannungsverhältnisse von Theorie und Praxis, Pädagogik und Politik, Subjekt und Gemeinschaft, Veränderung und Bewahrung fokussiert der folgende Text die Struktur der Pädagogik; Beziehungen in der pädagogischen Praxis werden in Analogie zur Dialektik der Theorie betrachtet. Der in dieser Perspektive angelegte Entwurf einer relationalen Anthropologie (4) basiert auf dem Verständnis des Menschen als Person, die sich in der Beziehung mit anderen Personen konstituiert, sich verändert und ihr bewegliches Selbst gestaltet. Ihre personale Verhältnishaftigkeit ist den konkreten (sozialen, ökonomischen, kulturellen und ökologischen) Verhältnissen, in denen sich Personen begegnen, vorrangig. Die Grundlegung der Pädagogik im Anschluss an Schleiermacher und ihre kulturwissenschaftliche Weiterentwicklung rahmen den Standort dieses relationalen Menschenbildes. Angeregt durch die revolutionstheoretischen Überlegungen der politischen Theoretikerin und Aktivistin Bini Adamczak wird dieses Verständnis
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Der Beitrag ist ein Teil meines Dissertationsprojektes, in dem der Versuch unternommen wird, ein relationales Verständnis des Pädagogischen aus personalistischen Theorieansätzen herzuleiten.
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des Menschen als relationale Person im letzten Abschnitt als ein unerreichbares pointiert.
Schleiermachers Grundlegung einer wissenschaftlichen Pädagogik Systematische Aspekte für eine relationale Perspektive in der Pädagogik lassen sich aus der historisch-systematischen Grundlegung nach Schleiermacher (17681834) gewinnen. Seine Vorlesungen über die Pädagogik aus den Jahren 1813/14, 1820/21 und 1826 zeichnen paradigmatisch einen dialektischen Argumentationsgang der Pädagogik. Die Schleiermachersche Dialektik wird von Jens Brachmann (2002) als »dialogischer Reflexionsprozess verstanden, in dem die Stichhaltigkeit von Argumenten in der Spannung von These und Gegenthese geprüft wird« (ebd.: 52). Schleiermacher nimmt Antinomien in ihrer Verschiedenheit ernst, begrenzt und relativiert die Pole aber mit der jeweiligen Gegenposition. Durch diese Zuspitzung von Polaritäten werden ihre Verhältnisse bestimmt und er generiert ein argumentativ abgesichertes Wissen (Fuchs 2019). Schleiermacher konzipiert seine pädagogische Theorie als Dialektik zwischen einer »hochkomplexe[n] Theorie individueller Subjektivität« (Winkler 2000: XLVIII) und einer Theorie der Gemeinschaft. Erziehung habe den einzelnen Menschen an vier Formen der Gemeinschaft abzuliefern: an Staat, Kirche, Sprachgemeinschaft und geselliges Leben. Da diese Lebensgemeinschaften jedoch nicht ihrem Idealzustand entsprechen, geht damit eine bewusste Kritik am Bestehenden einher. Mittels der Figur wechselseitiger Durchdringung von Besonderem und Allgemeinem analysiert er die subjekt- und gemeinschaftstheoretischen Dimensionen pädagogischer Praxis: Pädagogik solle »den Menschen bilden für die eigenthümliche [sic!] Beschaffenheit der Lebensgemeinschaft, aber zugleich […] die Kraft der Freiheit in dem Zögling entwickeln, um den verschiedenen Unvollkommenheiten des Moments entgegen zu arbeiten.« (Schleiermacher 2017: 364) Für die Standortbestimmung einer relationalen Anthropologie ist – neben dieser dialektischen Grundstruktur – ein weiterer Aspekt bei Schleiermacher zentral: die Funktion der Pädagogik für diese Gemeinschaft, d.h. für »die Summe aller Menschen zusammen« (ebd.: 548). Für ihn ist Pädagogik ein Teil der Gesamtpraxis und daher sowohl gesellschaftlich strukturiert als auch strukturierend für die Gesellschaft. Die Disziplin zeichne sich aber dadurch aus, dass sie sich auf den einzelnen Menschen konzentriert: »Es lä[ss]t sich was vom Einzelnen zum Einzelnen geschieht unmöglich von dem was im Gesammtleben [sic!] geschieht voneinander trennen« (ebd.: 550). Diese Eingebundenheit des Menschen in das sog. Gesamtleben ist eine wichtige Voraussetzung für seine wissenschaftliche Betrachtung der Pädagogik. Annika Münzel (2020), die das Verhältnis zwischen Politik und Pädagogik bei Schleiermacher systematisch analysiert, begreift die wissenschaftliche
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Grundlegung der Pädagogik nach Schleiermacher als strukturelles System des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs, denn er hebe die »Notwendigkeit einer allgemeinen, den Menschen zu eigenständiger Interpretation und Gestaltung des Zusammenlebens befähigenden politischen Erziehung klar hervor.« (Ebd.: 37). Erziehung müsse den Menschen auf sein »selbstständiges Eintreten in die Gesellschaft« (ebd.: 299) vorbereiten. Doch sie erschöpft sich nicht in der Heranführung der Zu-Erziehenden an die bestehende Ordnung bzw. in der Vermittlung von Inhalten, die zur Erfüllung gesellschaftlicher Anforderungen notwendig sind. In der Nachschrift seiner Pädagogik-Vorlesung von 1820/21 führt er daher zwei Aufgaben an, die an die Pädagogik gestellt werden: »1) den Menschen tüchtig zu machen für die Gemeinschaften, in die er eintreten soll, und 2) seine eigenthümliche [sic!] Natur zu entwickeln« (Schleiermacher 2017: 382). Die einander begrenzenden Hauptaufgaben der Erziehung verweisen auf die Verflechtung der Pädagogik mit der Politik, denn Pädagogik ist nicht darauf beschränkt, dass sie die Adressant*innen von Erziehung und Bildung auf ein selbständiges Eintreten in die Lebensgemeinschaften vorbereitet. Sie reproduziere »niemals allein blind die gegebenen Verhältnisse, sondern weiß auch um Möglichkeit und Notwendigkeit einer Veränderung von Gesellschaft durch den Menschen selbst.« (Münzel 2020: 299) Pädagogik zielt darauf ab, Ungleichheiten entgegen zu wirken und den vielfältigen Erfahrungen von Differenz eine Bildung zu universeller Gleichheit zur Seite zu stellen. Daher sei die Ethik das Fundament der mit der Politik koordinierten Pädagogik, wie Schleiermacher in seinen (einzigen von ihm selbst erhaltenen) Aufzeichnungen zur Pädagogik-Vorlesung von 1813/14 unterstreicht: »So als eine aus der Ethik hervorgehende Disciplin [sic!] mu[ss] sie die Ethik voraussezen [sic!]« (Schleiermacher 2017: 260). Seine Ethik kann als Kulturtheorie aufgefasst werden, in der sich »die Vernunft im Natürlichen« (Fuchs 2019: 135) einschreibe und das Natürliche vernünftig werde. Im dialektischen Spannungsverhältnis zwischen Vernunft und Natur konstituiert sich die je spezifische historisch-kulturelle Ordnung. In dieser ethischen Praxis werden »das Ausbilden der Natur, und das Hineinbilden in das sittliche Leben« (Schleiermacher 2017: 265) realisiert. Angeregt durch das systematische Durchdenken dieser Pole stellt sich Schleiermacher die Frage, wie der Prozess der »Gattungskonstitution in der Einigung von Vernunft und Natur […] unter der Bedingung von historischen Brüchen aufrechterhalten werden kann« (Winkler 2000: LIII). Hier eröffnet sich ihm das spezifisch pädagogische Problem. Die Reproduktion der kulturellen Ordnung, die in der Generationenfolge weitergegeben, erhalten und in Abstimmung mit ethischen Prinzipien verändert wird, ist Gegenstand der Pädagogik. Ihr Fokus liegt auf der Stärkung der individuellen Eigentümlichkeit, denn dort, »abseits einer theoretischen Vorherbestimmung des Allgemeinen kann sich das politisch progressive Potential von Erziehung entfalten« (Münzel 2020: 134).
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Schleiermacher entwickelt diese Systematik der wissenschaftlichen Pädagogik in kritischer Auseinandersetzung mit den damals stattfindenden Veränderungen hin zur bürgerlichen Gesellschaft. Vor dem Hintergrund der Aufklärung und der Französischen Revolution konstatiert er, dass unter den Bedingungen der arbeitsteiligen Gesellschaft ein übergeordneter Sinn im gesellschaftlichen Bewusstsein fragwürdig geworden sei. Dieser Verlust von Transzendenz, d.h. von regulativer Sinnstiftung in der sich zunehmend differenzierenden Welt, werfe den Einzelnen in seiner Aneignung derselben auf sich selbst zurück. Durch den Mangel »an einer konsistenten Erfahrung von Homogenität« (ebd.: 50) wird die eigene Identität als brüchig und widersprüchlich erlebt. Auch die historisch fluide menschliche Gesamtpraxis könne nicht (mehr) in einer übergeordneten Einheit gefasst werden. Deshalb konzipiert er die Pädagogik als selbstbezügliche Wissenschaft, in der der regulative Orientierungspunkt pädagogischen Handelns der reflektierende Mensch selbst ist: »Alle pädagogische Richtigkeit hängt von dem richtigen Sinn und Gefühl für die verschiedenen zu betrachtenden Verhältnisse ab, einen andern Werth als solchen kann auch eine Theorie nicht haben.« (Schleiermacher 2017: 392) Dieses »Gefühl vom Verstand« (Frost 1993: 474) könne aber weder gedanklich eingefangen noch wahrgenommen werden und liege daher als »zeitlose Begleitung« (ebd.: 480) allem gegensätzlichen Denken zugrunde. Die theoretisch geleitete Reflexion pädagogischer Praxis orientiere sich an der Einheit, die notwendig illusorisch bleibt. Das Vertrauen in diese transzendente Gewissheit ist die notwendige Bedingung für das Nachdenken über sich selbst und die Welt. Sie bleibt aber negativ bestimmt, insofern nur »Aussagen über das Endliche in seinem Verhältnis zum Absoluten getroffen werden« (ebd.: 470). Für Ursula Frost ist Schleiermachers Dialektik daher eine »Theorie vom endlichen Bewußtsein und seiner Begrenzung durch das unaussagbare Absolute« (ebd.: 471). In der theoretisch reflektierten Praxis werde die Begrenzung pädagogischen Wissens durch »Vertrauen gemildert und einem durch Gefühle gesteuerten spontanen Handeln überlassen« (Winkler 2000: XXXVIII). Doch erst die Theorie mache begründete Entscheidungen möglich – und damit professionelles Handeln. Bei Schleiermacher ist die Praxis der Theorie vorrangig. Er geht von einer schon kommunikativ vermittelten pädagogischen Realität des Erziehens aus und betont: »Wenn nun die Theorie viel später entsteht nach der Praxis, so ist der Charakter von Anfang der selbe [sic!], aber die Handlung ist bewu[ss]tlos, so lange die Theorie noch fehlt.« (Schleiermacher 2017: 549) Für die pädagogische Praxis habe (die von Schleiermacher vorgenommene gedankliche) Trennung von der Theorie die Folge, dass sie theoretisch eingeholt werden muss, um am »fortgeschrittensten« (Adorno 1969: 176) Erkenntnisstand anzusetzen und an diesem weiterzuschreiben. Die Trennung von Theorie und Praxis könne somit einen Prozess anregen, »der aus der blinden Vorherrschaft materieller Praxis herausführt, potentiell hin auf Freiheit«
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(ebd.: 177f.), auf »Humanität« (ebd.: 178). Mit Theodor W. Adorno2 kann »Theoriefeindschaft [daher als] Schwäche der Praxis« (ebd.: 176) gedeutet werden. Pädagogik hat ausgehend von diesem spezifischen Theorie-Praxis-Verhältnis sowohl mit dem übergeordneten und theoretisch imaginierten Gesamtzusammenhang als auch mit dem konkreten Moment des Handelns zu tun. In den Analysen geht Schleiermacher sowohl auf den gegenwärtigen Moment konkreter Praxis als auch auf ihren Zukunftsbezug ein: »Geben wir uns nun den Kindern hin, so verhelfen wir ihnen zu einer momentanen Befriedigung, zum momentanen Genu[ss] ihres Daseins. Betrachten wir dagegen die absichtlichen Bemühungen der Erziehung, so kommen wir auf das Entgegengesetzte, denn diese haben ihren Gegenstand in der Zukunft.« (Schleiermacher 2017: 388) Gegenwärtiges und Zukünftiges dürfen jedoch nicht füreinander aufgeopfert werden, so Schleiermacher. Ihr dialektisches Verhältnis eröffnet Möglichkeiten für alternative Handlungsweisen jenseits des Bestehenden. Es ist jedoch eine notwendige Beschränkung der pädagogischen Theorie, dass sie niemals selbst über ihre Anwendung und Umsetzung in der Praxis bestimmen kann. Trotzdem ist sie die Bedingung der Möglichkeit für ein reflektiertes Selbstverständnis von pädagogisch Handelnden.
Zur anthropologischen Dimension der Pädagogik Diese dialektische Systematik von pädagogischer Praxis und Theorie setzt neben den ethischen Überlegungen auch ein spezifisches Menschenbild voraus. »So wie wir die Ethik bey [sic!] der Pädagogik voraussetzen so die Anthropologie in so fern [sic!] in ihr die physische Voraussetzung bestimmt seyn [sic!] mu[ss].« (Ebd.: 553) Doch dieser anthropologische Ausgangspunkt lässt sich nicht final bestimmen. Obwohl Schleiermacher in seiner Pädagogik-Vorlesung von 1826 scheinbar »[n]atürliche Anlagen des Menschen« (ebd.) als »das große Feld der menschlichen Verschiedenheiten« (ebd.: 552) bespricht, reflektiert er sie als
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In den »Marginalien zu Theorie und Praxis« (1969) von Adorno wird die Theorie vor ihrer »Denunziation« (ebd.: 173) bewahrt. Die theoretische Analyse »erschöpft sich nicht in der Anpassung« an die vorrangige Praxis und sei deshalb »die Voraussetzung zumindest von politischer Praxis« (ebd.: 175). In der hier vorgeschlagenen wissenschaftstheoretischen Heranführung an die Pädagogik im Verhältnis zur Politik liegt die »Relevanz für das Verhältnis von Theorie und Praxis« daher in den Momenten der Reflexion, »welche über die Situationszwänge hinausführen mögen« (ebd.).
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»[s]treitige Gegenstände […] weil die ersten Zustände des Menschen der Beobachtung entgehen. Ob in dem 1. Lebensanfange alle Menschen in Beziehung auf ihre Entwicklung gleich sind, so da[ss] aus allen alles gemacht werden kann, oder ob jeder Mensch eine natürliche Anlage mitbringe, das wäre die Frage, und diese rein auf dem Gebieth [sic!] der Anthropologie zu entscheiden ist noch nicht gelungen.« (Ebd.: 553) Theorie müsse daran anknüpfen, was sie vorfindet – und das sei anthropologisch nicht zu bestimmen. Derartige Überlegungen machen es notwendig, eine Pädagogik zu begründen, die von der Unentscheidbarkeit anthropologischer Voraussetzungen ausgeht, ohne menschliche Universalien zu negieren. Anthropologische Überlegungen im Anschluss an die wissenschaftliche Systematisierung der Pädagogik nach Schleiermacher stellen daher eine weitere Dimension der hier dargestellten relationalen Perspektive dar. Der Einfluss des Menschenbildes auf pädagogisches Handeln wird ab Mitte des 20. Jahrhunderts verstärkt reflektiert. Pädagogische Anthropologie ist seither ein zentrales Untersuchungsfeld in der erziehungswissenschaftlichen Disziplin. Ihre Aufgabe ist es, »den Menschen von der Erziehung, Bildung und Sozialisation her und diese pädagogischen Bestimmungen vom Menschen her zu verstehen.« (Wulf/Zirfas 2014: 9) Das Verbindende aller historisch spezifischen Menschenbilder ist ihr Einfluss auf menschliche Praxis und das Eröffnen bzw. Versperren von Einblicken in pädagogische Zusammenhänge. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden im Zuge der sogenannten »Anthropologiekritik« (Weiß 2018: 204) (normative) Verkürzungen in den anthropologischen Grundannahmen von pädagogischen Menschenbildern offensichtlich. Die (expliziten oder impliziten) Vorstellungen vom Menschen, die sog. Wesensanthropologien, werden kritisch reflektiert und hinsichtlich ihrer historisch-kulturellen Prägung befragt. Es wird untersucht, aus welcher Perspektive, mit welchem Wissen und in welchem Kontext ein spezifisches Menschenbild entstanden ist. Durch diese kulturelle Einbettung von anthropologischen Erkenntnissen findet eine Neuausrichtung der pädagogischen Anthropologie statt: es werden verstärkt die ideologischen, ahistorischen, normativen, ethnozentrischen und homogenisierenden Tendenzen von Menschenbildern untersucht. Seit dieser Wendung im anthropologischen Denken wird nicht mehr versucht, ein vermeintliches Wesen des Menschen zu ergründen, sondern die Ausprägungen, Varianten und Erscheinungen des Menschen in spezifischen Kontexten zu verstehen. Die von nun an als »Historisch-Pädagogische Anthropologie« (Wulf 2015: 14) bezeichnete Perspektive wird mit den Begriffen der (doppelten) Historizität, der Pluralität, der Kritik und der Selbstreflexivität charakterisiert (Wulf/Zirfas 2014: 10). Da sich die Sichtweise des Menschen auf die Perspektive der Forschenden auswirkt, wird auch ihre historisch-kulturelle Bedingtheit und jene der Problemstel-
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lung eines Forschungsprojektes und des Untersuchungsgegenstandes reflektiert. Die pädagogische Anthropologie wird somit hinsichtlich ihrer doppelten Historizität betrachtet, »insofern sie nicht nur um ihre eigenen historischen Grenzen, sondern auch um die Geschichtlichkeit ihrer Gegenstände weiß« (Zirfas 2004: 23). Diese in der gegenwärtigen Pädagogik (im deutschsprachigen Raum) dominierende Variante der Anthropologie zeichnet sich generell durch ihre Skepsis gegenüber geschlossenen Gesamtsystemen aus. Sie geht von einer einzigen Bestimmbarkeit des Menschen aus: seiner Unbestimmtheit (Wulf/Zirfas 2014: 13). Die Historisch-pädagogische Anthropologie engagiert sich – wie einst Schleiermacher – für einen konstruktiven Umgang mit menschlicher Offenheit. Trotzdem kommt diese Betrachtungsweise nicht ohne die Bezeichnung Mensch aus: Obwohl der Mensch – beispielhaft mit Günther Anders (1984) gesprochen – »unfertig und unbestimmt […] zur Welt kommt, d.h.: für keine bestimmte Welt bestimmt zu sein scheint« (ebd.: XXXII), setzt »der Allgemeinbegriff ›Mensch‹ […] eine Wesensgleichheit jenseits aller Besonderungen […] voraus« (Weiß 2004: 209). Eine positive anthropologische Charakterisierung, bei der es sich notwendig um eine Selbstauslegung des Menschen handelt, changiert daher zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen. Den individuellen Besonderheiten kann mit der »von Adorno eingeklagten Sensibilität für das Nichtidentische3 « (ebd.) Rechnung getragen werden. Das Allgemeine drückt sich als »gattungsspezifische Universalie« (ebd.) aus, die durch die Verwendung des Begriffs Mensch deutlich wird. Der historisch-pädagogischen Anthropologie geht es nicht (mehr) um die Erforschung des Menschen im Sinne eines Wesens, eines Kerns oder einer menschlichen Natur, sondern um Pluralität im menschlichen Sein. »Was der Mensch ist, werden kann oder sein soll, ist historisch und kulturell variabel und insofern nie absolut zu bestimmen. Was ihn ausmacht, findet man nicht hinter, sondern in spezifischen historischen, kulturellen, biographischen Ausprägungen; das Besondere des Menschen besteht in seiner Vielfalt und Potentialität.« (Wulf/Zirfas 2014: 12) Mit der Betonung der »Variabilität lebbarer menschlicher Lebensformen, Generationsbeziehungen und Geschlechtsidentitäten« (Weiß 2018: 206) sei diese pädago3
In der »Negativen Dialektik« (2017) beschreibt Theodor W. Adorno die Figur der Nichtidentität: »Dem Bewußtsein der Scheinhaftigkeit der begrifflichen Totalität ist nichts offen, als den Schein totaler Identität immanent zu durchbrechen: nach ihrem eigenen Maß. Da aber jene Totalität sich gemäß der Logik aufbaut, deren Kern der Satz vom ausgeschlossenen Dritten bildet, so nimmt alles, was ihm nicht sich einfügt, alles qualitativ Verschiedene, die Signatur des Widerspruchs an. Der Widerspruch ist das Nichtidentische unter dem Aspekt der Identität; der Primat des Widerspruchprinzips in der Dialektik mißt das heterogene am Einheitsdenken. Indem es auf seine Grenze aufprallt, übersteigt es sich. Dialektik ist das konsequente Bewußtsein von Nichtidentität.« (Ebd.: 17)
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gisch-anthropologische Denkweise jedoch in »performative Selbstwidersprüche« (ebd.: 207) verstrickt und »politisch-sozial affirmativ« (ebd.), so Edgar Weiß. In der vorliegenden Standortbestimmung wird die anthropologische Dimension in ihrer dialektischen Struktur verstanden. Daher wird weder eine überhistorische Bestimmung in Form einer Wesensanthropologie noch menschliche Offenheit bzw. die Historizität von menschlichen Erscheinungsformen verabsolutiert (ebd.: 206). Vielmehr stellt diese Standortbestimmung den Versuch dar, die doppelte Historizität pädagogischer Menschenbilder in ihrer kulturellen Bedingtheit zu reflektieren und somit die menschliche Relationalität in den Blick zu bekommen.
Zur kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Pädagogik Mit der Erinnerung an »vergessene Zusammenhänge« von Pädagogik und Kultur versucht Klaus Mollenhauer die Vielstimmigkeit pädagogischer Theorien systematisch zu ordnen (Mollenhauer 1991: 16f). Diese Untersuchung wird immer wieder als der Grundstein einer Pädagogik als Kulturwissenschaft angeführt (Brumlik 2006: 63; Seichter 2015: 176f; Aßmann 2020: 266). In den 1960er Jahren weist er mit seinen »Polemischen Skizzen« von »Erziehung und Emanzipation« (Mollenhauer 1977) auf die Komplexität der Pädagogik hin. Er betont, dass pädagogische Akteur*innen von gesellschaftlichen Strukturen geprägt und bestimmt werden und daher nie »rein pädagogisch« handeln: »Das Bewußtsein, das sich und seine Position für rein pädagogisch hält, wird getäuscht, da es die Tatsache, selbst gesellschaftlich vermittelt zu sein, nicht reflektieren kann.« (Ebd.: 58) Mollenhauer betrachtet die pädagogischen Problemstellungen im Kontext der konkreten kulturellen Ordnung; eine die Komplexität von gesellschaftlichen und institutionellen Bildungs- und Erziehungskontexten berücksichtigende Perspektive sei unabdingbar. In »vergessene Zusammenhänge« leitet er diesen Perspektivenwechsel mit der Interpretation von empirischem Material ein. Beispielsweise zeigt er an literarischen Texten – einer »symbolischen Verdichtung« (Brumlik 1999: 156) von biographischen Sozialisations- und Bildungserfahrungen – den Zusammenhang von Erziehung mit der Kultur auf und gelangt an »die geheime Syntax des Erziehungssystems, seine Vermitteltheit von Beziehung und Inhalt, Pädagogik und Autonomie« (ebd.). Er zieht autobiographische Fragmente von Franz Kafka, Thomas Bernhard und Jean-Paul Sartre heran, um pädagogische Erfahrungen im Rahmen ihrer historisch-kulturellen Gegebenheiten zu betrachten. Wenn die Pädagogik »ihre eigenen Problemstellungen wieder stärker in unseren Kulturzusammenhang einfädelt« (Mollenhauer 1991: 19), können die »noch legitimierbaren überlieferten Bestände und deren Zukunftsfähigkeit« (ebd.: 18) ausfindig gemacht werden, so ein Ergebnis seiner Analysen. Die Wahrung der pädagogischen Repräsentationsfunktion sei wichtig, denn wir können »nicht mehr unsere Lebensform und -verhältnisse den
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Kindern gegenüber direkt zur Darstellung bringen, sondern sind auf eine Repräsentation der Präsentation angewiesen: die Welt noch einmal, aber besser, wenigstens für Kinder!« (Ebd.: 76) Als Moment gesellschaftlicher Praxis werden in der pädagogischen Praxis Lebensformen in konkreten Erziehungs- und Bildungsvorgängen zur Darstellung gebracht. In der Form von pädagogischen Präsentationen sichern sie den Fortbestand der Gesellschaft. Werden die Lebensformen in einer abgewandelten Form repräsentiert, können sich die Zu-Erziehenden über gesellschaftlich bestimmte Formationen hinaus entfalten. Mit seiner kulturwissenschaftlich orientierten Perspektive sensibilisiert Mollenhauer pädagogisch Handelnde, ihre Ansprüche an die ihnen anvertrauten Menschen nicht am Bestehenden zu bemessen, sondern nach sinnvollen Entwürfen in der Zukunft zu suchen. Eine Pädagogik, die um ihre kulturelle Eingebundenheit weiß, werde letztlich in die Lage versetzt, auch und vor allem jene kulturellen Bestände weiterzugeben, durch die »das (vielleicht sehr wenige) Gute in meinem Leben« (ebd.: 18) weitergetragen wird. Diese Reproduktionsfunktion pädagogischer Praxis ist an gesellschaftskritische Reflexion gebunden, denn die Negation des Bestehenden sei das Fundament für neue Entwürfe der Zukunft. Die Kritik des Bestehenden dürfe sich jedoch nicht in theoretischen Überlegungen erschöpfen, sondern müsse praktisch werden. Dies ist bereits in der wissenschaftlichen Grundlegung der Pädagogik um 1800 angelegt. Mollenhauer (1977: 26) verweist auf Schleiermacher, bei dem es beispielsweise heißt: »Erziehung soll so eingerichtet werden, da[ss] beydes [sic!] in die möglichste Zusammenstimmung komme, da[ss] die Jugend erzogen werde tüchtig, um in das einzutreten was sie vorfindet, aber auch tüchtig um verbessernd einzuwirken« (Schleiermacher 2017: 565). Die bestehende kulturelle Ordnung wird – im Anschluss an Schleiermacher und Mollenhauer – nicht nur erhalten und (unter anderem) durch Erziehung reproduziert. Vielmehr kommt »der Pädagogik als Praxis wie als Theorie die Aufgabe zu, in der heranwachsenden Generation das Potential gesellschaftlicher Veränderung hervorzubringen.« (Mollenhauer 1977: 66f) Diese »Veränderung ist als eine Veränderung durch die Subjekte nur möglich, solange ein Widerspruch gegen die Faktizität der gegebenen Lage erfolgt, solange ein Vernünftigeres als sie nicht nur denkbar ist, sondern auch ausgesprochen wird und als eine neue Praxis in ihren Zusammenhang eintritt.« (Ebd.: 74) Pädagogik sei daher an der Grenze zwischen dem Bestehenden und dem noch Unbekannten anzusiedeln. Die nachkommende Generation wird zwar durch Erziehung »aus dem Unsagbaren der nur kontingenten Subjektivität in den Bereich von Sprache, Kultur und Konventionen« (Mollenhauer 1991: 89) herübergezogen. Das Unsagbare im Menschen, »eine Quelle unserer Wünsche, Hoffnungen, Phantasien, Utopien« (ebd.), kann jedoch nur in der unmittelbaren Begegnung zwischen Menschen praktisch erfahren werden. Die Möglichkeit der Gestaltung von Zukunft
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lässt sich ohne die bewahrende Funktion der Pädagogik nicht denken. In ihrer Rolle für die Gesellschaft pendelt sie daher zwischen Veränderung und Konservierung von kulturellen Beständen. Dieses Spannungsverhältnis greift auch Hannah Arendt in ihrem Essay zur »Krise in der Erziehung« (1958) auf. Sie sieht in der Bewahrung des Bestehenden einen konstitutiven Bestandteil der Pädagogik. »Das Konservative im Sinne des Konservierenden scheint im Wesen der erzieherischen Tätigkeit selbst zu liegen, deren Aufgabe es immer ist, etwas zu heben und zu schützen – das Kind gegen die Welt, die Welt gegen das Kind, das Neue gegen das Alte und das Alte gegen das Neue.« (Arendt 1958: 20) Doch sie nimmt eine analytische Trennung vor, indem sie die Veränderung – ein dialektischer Gegenpart zur Bewahrung – der Politik zuordnet. In der Sphäre des Politischen sei es notwendig, dass die Menschen eingreifen und sich entschließen, das gesellschaftliche Ganze und seine Teile zu verändern. Im Politischen würde der konservative Erhalt des Bestehenden »nur ins Verderben führen«, weshalb die Pädagogik konservativ sein müsse – »um des Neuen und Revolutionären willen in jedem Kind« (ebd.: 21). Pädagogik und Politik, die Hannah Arendt in ihrem einzigen Essay über die Erziehung separat denkt, sind nach Schleiermacher miteinander koordinierte Wissenschaften. Hier sei nochmal auf die Dialektik seiner subjekt- und gemeinschaftstheoretischen Dimensionen verwiesen. Die pädagogischen Problemfelder eröffnen sich – wie skizziert worden ist – unter anderem in den Spannungsverhältnissen zwischen Subjekt/Gemeinschaft, Theorie/Praxis, Bewahrung/Veränderung und nicht zuletzt in der Dialektik von Pädagogik und Politik. Diese Systematik einer mit der Kultur verflochtenen praktischen Wissenschaft findet ihre Entsprechung in Begegnungen, d.h. in der (pädagogischen) Praxis.
Ein relationales Menschenbild Im Sinne einer Blickverschiebung auf relationale Beziehungen ist es nun möglich, Aspekte wahrzunehmen, zu beurteilen und zu verstehen, »die ohne dieses Deutungsmuster unkenntlich bleiben würden« (Jaeggi 2005: 40). Letztgenannte Perspektive kann beispielsweises im Anschluss an personalistische Theorieansätze konkretisiert werden. Die Person ist in ihrem Sein nicht vorherbestimmt, sondern wird »am Du zum Ich« (Buber 1962: 97). In diesem Zitat des Existenzphilosophen Martin Buber werden relationale Beziehungen in ihrer Dynamik greifbar, in der sich Menschen handelnd und sprechend zeigen, wie sie gegenwärtig sind. In relationalen Beziehungen aktuiert sich in personalistischer Hinsicht der Mensch in seiner Einzigartigkeit, ohne damit jemals an ein Ende zu kommen. Das ist nicht in jeder Beziehung möglich, sondern dann, wenn ein Bezugssystem entsteht, in dem sich Personen direkt aneinander richten und sich gegenseitig ansprechen (Arendt
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2016); wenn sie einander begegnen und einen Dialog führen (Buber 1962). Das heißt nicht, dass diese Beziehungen immer harmonisch ablaufen. Vielmehr sind auch sie von Machtdimensionen durchzogen, die jedoch beweglich bleiben4 . Im personalen Lebensvollzug legt sich die Person trotz möglicher Brüche und Widersprüche eine konsistente Lebensgeschichte zurecht, wie die Sozialphilosophin Rahel Jaeggi in ihrer Untersuchung zur Aktualität des Problems der »Entfremdung« (2005) darlegt. In der historisch-systematischen Rekonstruktion des Entfremdungsbegriffs macht sie einen anti-essentialistischen Begriff der Person stark. Sie entwickelt ein relationales Verständnis vom Menschen, das auf anderen Überlegungen zum Modus des Seins aufbaut. Sie argumentiert relational: »Das ›Selbst‹ ist ein Verhältnis, es entsteht nicht selbstgenügsam ›aus sich heraus‹, sondern ist grundlegend relational verfasst.« (Ebd.: 197) Aus relationaler Perspektive kann daher näher bestimmt werden, wie sich der Mensch im gemeinsamen Handeln selbst hervorbringt und durch seine Beziehungsweisen hervorgebracht wird. Er existiert nicht unabhängig von seinen interpersonalen Handlungsvollzügen, sondern ist von Anfang an in und durch Beziehungen (sozial und weltlich) vermittelt. In der produktiven Aneignung seiner selbst und der ihn bedingenden Welt konstituiert sich das einzigartige Ich als eine relativ stabile Instanz (ebd.: 187). In der Studie »Beziehungsweise Revolution« (2017) bezieht Bini Adamczak das relationale Deutungsmuster auf ein Begehren nach solidarischen Beziehungsweisen. Dieses Begehren strebe nach einer Revolution, in der aus dem kapitalistischen Nebeneinander ein geteiltes Leben realisiert wird. Es sei daher die Voraussetzung, um »nicht vor der Macht des Faktischen zu kapitulieren« (ebd.: 81). In ihrer revolutionstheoretischen Untersuchung analysiert Adamczak die Dialektik von sozialtheoretischen und ethischen Überlegungen und stellt sich die Frage, wie Gesellschaft gestaltet werden könnte: »Vielleicht muss die Utopie in einem bestimmten Sinn konservativ werden. Vielleicht muss das Begehren, alles anders werden zu lassen, an etwas festhalten, das nicht verändert werden soll – und sei es auch nur jenes Moment, das nach dieser Veränderung begehrt.« (Ebd.: 55) Der Entwurf ihrer Utopie basiert auf einem relationalen Verständnis, insofern die Menschen, die etwas anderes begehren, von den Verhältnissen geprägt sind, in denen sie leben. Sie wollen die Ordnung verändern, der sie selbst entstammen und eine utopische Welt realisieren, der sie dann auch selbst angehören können (ebd.: 82). Das Zukünftige wird dann vielleicht nicht perfekt, dafür aber realisierbar.
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Zu Machtdimensionen im Kontext von relationalen Beziehungen siehe meine Masterarbeit »Dimensionen von Macht in den ›Reden über Erziehung‹ von Martin Buber aus pädagogischer Sicht« (2018).
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»Als Ensemble von Beziehungsweisen sollte sich das Utopische so rekonzeptualisieren lassen, dass es zugleich Stabilität wie Beweglichkeit transportiert und die utopische Gesellschaft ebensowenig zum Maßstab der Subjekte macht wie andersrum die gegenwärtigen Subjekte zur absoluten Begrenzung der utopischen Gesellschaft.« (Ebd.: 54) Diese Utopie kann sich in relationalen Beziehungen manifestieren: sie sind beweglich, insofern sie historisch-kulturell vermittelt sind und sie sind Momente der Stabilität, weil sich Personen im Dialog so zeigen (können), wie sie gegenwärtig sind. Im Anschluss an Bini Adamczak schlage ich daher vor, pädagogische Theorie und Praxis am Modus eines relationalen Miteinanders zu orientieren. Dieser Fokus auf Relationalität verleiht nicht nur dem »unartikulierten Begehren« (ebd.: 286) nach relationalen Beziehungen einen Ausdruck. Darüber hinaus erscheinen (auch pädagogische) Verhältnisse »dann nicht mehr als finale Harmonie […], sondern [werden als] Möglichkeiten zu Differenz, zu Widerspruch und Konflikt und als radikale Demokratie auch zu Offenheit und Neuanfängen bereit« (ebd.: 43) gehalten. Entsprechend des relationalen Deutungsmusters wird das personale Selbst als »ergebnisoffener und unabschließbarer« (Jaeggi 2005: 185) Aneignungsprozess betrachtet. Die Unerreichbarkeit dieser dynamischen Beziehungsweisen stellt – mit Bini Adamczak – das emanzipatorische Moment des Entwurfs einer relationalen Anthropologie dar. Relationale Beziehungen lassen sich nicht gänzlich in wissenschaftlichen Kategorien oder Begriffen ablegen. Daher sei abschließend auf das »schweigende Wissen« (Kraus et al. 2018) dieser Betrachtungsweise hingewiesen. Beziehungen sind historisch-kulturell vermittelt und entziehen sich einer finalen Definition. Doch genau deshalb bewahrt eine relationale Perspektive die Pädagogik davor, auf dem Boden von verdinglichenden Verhältnissen stehen zu bleiben (Adamczak 2014: 94). Sie stellt eine Folie dar, durch die (in pädagogischen Situationen) Begegnungen mit anderen Menschen wahrgenommen werden können, um sie in ihrem relationalen Sein anzuerkennen und besser zu verstehen. Beziehungen zwischen Menschen sind nicht starr bzw. statisch; daher lassen sie sich nicht abschließend bestimmen. Die sprachliche Darstellung von relationalen Beziehungsweisen ändert sich je nach theoretischer Belichtung und ist abhängig von den Verhältnissen, innerhalb derer sie stattfinden. Daher entspricht der Standpunkt einer relationalen Anthropologie viel eher einem Gehpunkt (ebd.: 93). Die dynamische Kategorie der Relationalität ist dementsprechend ein »temporäres künstliches Objekt« (ebd.: 97), das in jeder historischen Situation neu formuliert werden muss. Es gibt mehr als einen Abzug des Negativs, in dem der Mensch abgebildet wird. Dieser Versuch einer relationalen Bestimmung ist ein Bild, ihn zu denken und schließt andere Entwürfe aus, insofern Veränderung eine »Produktion von Zukunft« bzw. »Realisierung einer Möglichkeit und damit Schaffung und Ausschließung von Mög-
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lichkeiten« (ebd.: 95) ist. Der primäre Bezugspunkt einer relationalen Anthropologie ist die Beziehung zwischen Menschen – nicht der Mensch an sich.
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II. Performativität und Politik in postfaktischen Zeiten
Die Performativität von Fakes Thari Jungen Just because it’s fake doesn’t mean I don’t feel it. – Girls, Season 3, Episode 3
Abbildung 1
Aus dem Hochzeitsalbum von M. & B., 2015
Einleitung Im untersten Stockwerk eines Swap-Meet in East Los Angeles, befand sich im Oktober 2015 die Galerie Selecto Planta-Baja, in der das Institut für Falsifikate (IFF), ein künstlerisches Kollektiv, ein Büro für Falsifikation eröffnete.1 Umgeben von Nagelstudios, Garküchen und Elektronikshops wurde die Galerie Selecto Planta-Baja 1
Das Institut für Falsifikate ist ein künstlerisches Kollektiv mit ständig wechselnden Mitgliedern, dass ich im Jahr 2015 im Rahmen meiner Dissertation innerhalb des künstlerisch-
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für drei Wochen zum Labor. Ein Labor das Fälschungen und Fakes hinsichtlich des ihnen zugrundeliegenden Wissens praktisch und theoretisch untersucht. Das IFF erforscht an unterschiedlichen Standorten mit divergierenden künstlerischen Forschungssettings wie Fälschungen und Fakes als Täuschungspraktiken funktionieren und in die Gesellschaft hineinwirken.2 Die Intention des IFF ist es, Fakes herzustellen, die aktuelle Debatten aufgreifen und Wahrnehmungsroutinen hinterfragen, das eigene Verstrickt-sein reflektieren und diskursive Narrative durch die Befragung des Status der Objekte anzweifeln. Dahinter steht eine in den Künsten verbreitete Strategie, durch das Ereignis der Ent-täuschung einen Reflexionsprozess über Praktiken, Objekte oder auch institutionalisiertes Wissen anzustoßen (Römer 2001). Fakes werden dabei mit Anthony Grafton (2012) als »Wissensfiguren« verstanden. Wann erscheinen Objekte als echt, original und authentisch? Welches Wissen wird durch seine (ent-)täuschenden Statusveränderungen in den Objekten sichtbar? Im temporären Büro des Institutes für Falsifikate bestellt B., ein 34-jähriger Mann, ein Reenactment seines verloren gegangenen Hochzeitsalbums. Das originale Album war bereits eine Fälschung, die als Beweis ein falsch-positives Zeugnis für eine Fake Marriage, eine Schutzehe erbringen sollte. Die in ihm enthaltenen Fotos (Abb.1) dokumentierten keine lange Beziehungsgeschichte. Sie waren das Ergebnis eines 24-stündigen Fotoshootings, das an verschiedenen Orten in Kalifornien und Nevada stattgefunden hatte. In Kooperation mit dem IFF stellten wir ein Reenactment des verlorengegangenen Albums her, das durch das Logo des IFF als Fake ausgewiesen ist. Dieses Album wurde im temporären Büro des IFF, in der
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wissenschaftlich forschenden Graduiertenkollegs »Performing Citizenship« gegründet habe. Weitere Informationen unter: http://www.institutfuerfalsifikate.net. Der Fokus der künstlerischen Forschungen des IFF liegt nicht auf den spektakulären Fälschungsfällen – im Gegenteil: Im Mittelpunkt der Analyse stehen Alltagspraktiken, die für die kulturelle Praxis von Bürger*innenschaft konstituierend erscheinen. Das IFF spricht aus einer künstlerischen Position, untersucht aber keine Gemäldefälschungen oder andere gefälschte künstlerische Artefakte. Die künstlerische Forschung des IFF beschäftigt sich mit einer Fälschungspraxis, die nicht erst mit fortschreitender Digitalisierung alltäglich geworden ist: Das IFF untersucht Fälschungen und Fakes, die von Bürger*innen hergestellt werden, um in die Politiken der Gesellschaft einzugreifen. Bürger*innenschaft wird hier demnach nicht alleine als ein Mitgliedschaftsstatus betrachtet, sondern als eine Form der Teilhabe betrachtet. Das bedeutet, dass Bürger*innenschaft in verschiedenen Praktiken und Diskursen permanent verhandelt wird und so Praktiken ggf. auch Akte hervorgebracht werden, die die Protokolle der Bürger*innenschaft nachhaltig verändern. Engin Isin (2009) bezeichnet solche Akte als »Acts of Citizenship«, die auch durch ein so- tun-als-ob, ein »Fake it, until you make it« verhandelt werden, wenn Bürger*innen so über Rechte verfügen, als ob sie diese bereits hätten. Das Wirkungsvermögen dieser Praktiken, zeigt Isin etwa am Beispiel von Rosa Parks widerständigem Sitzen-bleiben, das schließlich auch den Montgomery-Bus-Boykott einleitete.
Die Performativität von Fakes
Galerie Selecto Planta Baja ausgestellt und damit zum Kunstobjekt. Heute hat das Album den Status eines Souvenirs. Für B. ist es eine Erinnerung an die Frau, die er geheiratet hat und an das Reenactment, an dem er teilnahm. Dieses Hochzeitsfotoalbum steht im Mittelpunkt dieses Beitrages, nicht, weil es aus sentimentalen oder illegalen Gesichtspunkten besonders interessant oder relevant für einen wissenschaftlichen Beitrag wäre. Sondern weil es ein ungewohntes Licht auf die Statusveränderungen von Fakes wirft, die eng mit seiner Performativität verbunden sind. Im Unterschied zu den immateriellen Phänomenen der Lüge und Imitation können Fakes und Fälschungen als materielle Täuschungsphänomene gelten, mit denen eine intendierte Strategie verfolgt wird. Im Folgenden möchte ich argumentieren, dass Fakes aus der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts heraus als Aneignungspraktiken verstanden werden können, die sich bekannter Zeichen und Narrative bedienen, um deren diskursive Vormachtstellung mittels intendierter Aufdeckung mindestens zu hinterfragen, wenn nicht zu dekodieren und neu zu konnotieren (Römer 2001, Schober 2008). In dieser Rezeptionstradition erscheinen Fakes als dichotome Figuren, die zwischen Wahrem und Falschem, Original und Fälschung, Täuschung und Aufdeckung, Authentizität und Nachahmung kippen. Das Kippmoment entsteht aus einer spezifischen Dramaturgie, die sich auf die Produktion, Zirkulation und Aufdeckung von Fakes konzentriert – Verfahren, mit denen in der Kunst nicht selten subversive Brüche in der Wahrnehmung angestoßen werden sollen. Fakes werden vor diesem Hintergrund vornehmlich als »Diskursphänomene« (Doll 2012) verstanden. Dieser Fokus lässt allerdings unbeachtet, dass Fakes nicht nur an Diskurse geknüpft, sondern auch an spezifische Materialitäten und an Blickregime gebunden sind und deshalb auch komplexe, sich überlagernde Dispositive erzeugen. Vor diesem Hintergrund lautet meine These, dass Fakes über einen prozessualen Charakter verfügen, den ich in diesem Beitrag anhand des Hochzeitsalbums nachzeichnen möchte. An der Objektbiografie des Albums lassen sich zahlreiche Statusveränderungen nachvollziehen, die sich nicht auf emphatische Beschreibungen wie Bruch, Subversion und Reflexion reduzieren lassen. Mit Bezugnahme auf Jaques Derridas Konzept der Iteration (2001) und Linda Zerillis (2005) Lektüre von Judith Butlers Travestiebegriff (1991) möchte ich im Folgenden deshalb darauf aufmerksam machen, dass Fakes über eine Performativität verfügen, die den Intentionen der Autor*innen auch entgegenstehen kann. Um diese These zu verfolgen, gilt es aber zunächst die Funktion von Fakes, als Aneignungsfiguren verstanden, in der Rezeptionsgeschichte des 20. Jh. genauer zu beleuchten. Am Beispiel des Fotoalbums möchte ich schließlich zeigen, dass Fakes jenseits der angesprochenen in-
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tendierten Effekte auch über einen Eigensinn verfügen, der aus Medium, Material und Kontext selbst hervorgeht.3
Intendierte Brüche In ihrer genealogischen Analyse künstlerischer Taktiken und deren Rezeption zeigt Anna Schober (2008), dass die mit Fakes verbundenen künstlerischen Formate Montage, Pastiche oder Collage häufig als subversive Mittel verstanden werden, die in die sie umlagernde Welt eingreifen.4 Mit den dabei genannten künstlerischen Formaten sind auch solche angesprochen, die sich aus dem Archiv existierender Bilder, Symbole und Gesten bedienen, um das vorgefundene Material für ihre Zwecke anzueignen. Diese Form der künstlerischen Aneignung, die auch dem Fake zu Grunde liegt, wird laut Anna Schobers Analyse spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts als probates Mittel rezipiert, um die gesellschaftliche Gegenwart zu reflektieren. Dem geht eine spezifische Definition des Politischen voran, bei der »[…] jene Handlungen, Inszenierungen und Sichtweisen als politisch [verstanden werden (Erg. T.J.)], die den gegenseitigen Austausch nutzen, um strukturelle Prinzipien der Gesellschaft in Frage zu stellen.« (Schober 2008: 5f) Bei dieser Definition des Politischen werden ästhetische Praktiken als ein zentrales Element der Vergesellschaftung verstanden.5 Dass Aneignungspraktiken eine Voraussetzung der künstlerischen Praxis sind, veranschaulicht die Kunsttheoretikerin Isabelle Graw in ihrem Aufsatz »Wo Aneignung ist soll Zueignung werden« (2004). Sie zeichnet eine Linie von den Malerschulen der Renaissance bis zu den künstlerischen Praktiken der Moderne nach, die von der Aneignung »technischer Fertigkeiten« und »künstlerischen Vorbildern« (ebd.: 293) geleitet ist, aus dem sich auch ein Kunstbegriff ableitete, der dem Original verpflichtet war. Spätestens seit Marcel Duchamp das Ready Made in die Kunst eingeführt hat, hat sich die Funktion der künstlerischen Aneignung gewandelt. Der Maßstab der genuinen künstlerischen Schöpfung wurde, nach langer getätigter Ankündigung, – die sich beispielsweise auch an den Collagen von John Heartfield nachvollziehen lässt – verabschiedet. Mit dem Aufkommen der Postmoderne wird 3 4
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An anderer Stelle wäre es sicher lohnenswert, auch mit der Inter-Aktions-Theorie des Neuen Materialismus auf die Widerständigkeit der Fakes zu reagieren (Barad 2005). Die hier bedeutete Ähnlichkeit zwischen Praxis und Phänomen liegt auf zwei Ebenen: Mit dem Begriff »Fake« wird zunächst vor allem die diskursive Täuschungsebene angesprochen, während die Bezeichnungen »Montage«, »Pastiche« und »Collage« auf spezifische materielle Verfahrensweisen und künstlerische Prozesse ansprechen, die allerdings jeweils auch Fakes sein können. Bürger*innenschaft als Subjektposition zu verstehen, schließt an die kritische Begriffsintervention von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau an (Laclau/Mouffe 2014).
Die Performativität von Fakes
der moderne Originalitätsbegriff (Benjamin 1935/2006) durch eine Form der »Zitatkultur« (Jameson 1997) abgelöst. Aneignung besteht nun darin, gesellschaftliche wie politische Phänomene nicht nur durch und mittels Kunst zu analysieren und zu beforschen, sondern auch umzudeuten. Beide Schritte dieses Vorgangs sind in der doppelten Konnotation des Aneignungsbegriffs angelegt: Aneignung bezeichnet zum einen den Prozess des Lernens. Sich etwas anzueignen heißt demnach, etwas zu durchdringen und zu reflektieren. Zum anderen verweist der Aneignungsbegriff auf die Idee von praktischen und theoretischen Übernahmen oder auch Inbesitznahmen – etwa von Dingen, Begriffen oder Theorien. Mit Aufkommen des Genre Appropriation Art in den 1970er Jahren, entstehen in den Künsten Aneignungen vorgefundenen Materials (statt originärer Schöpfungen), die als eine Form des »Einnistens« in die herrschende »kulturelle Grammatik« (Eco 1985) verstanden werden.6 Mit Umberto Ecos Begriff der »kulturellen Grammatik« ist ein omnipräsentes Paradigma der 80er Jahre angesprochen, laut dem kulturelle Prozesse vor allem auf der Zeichenebene wahrgenommen werden. Diese Theoretisierung zeigt sich beispielhaft am Lemma Appropriation Art aus einem Begriffslexikon zur Kunstgeschichte: »Aneignung funktioniert, wenn sie lautlos vor sich geht, die Abwehrkräfte des Körpers wie ein fremder Organismus durchbricht und in ihn eindringt, so als wäre dies natürlich und völlig harmlos.« (Nelson/Shiff 1996: 162 zit.n. Graw 2004: 296). Diese Vorstellung der Infiltrierung eines Zeichenkörpers, spiegelt sich auch in Jean Baudrillards Theorie wider. In seiner eigenen Schreibpraxis führt Baudrillard vor, wie eine Kritik an der Gesellschaft funktionieren könnte: Als »intellektuelles Vexierspiel mit dem Schein und der Illusion, dass die Spirale der Wirklichkeit immer noch ein kleines Stück weiterzudrehen sucht, bis über jenen fiktiven Punkt hinaus, an dem sie ins Unwirkliche kippt« (Strehle 2012: 72f.). Anders gesagt: Eine Kritik an der Gesellschaft kann nur von »innen heraus« (Baudrillard), also, durch die Entwendung ihrer Zeichen erfolgen.7 Mit explizitem Bezug auf Eco und Baudrillard verstehen eine Reihe »linker« Aktivist*innen und Theoretiker*innen der vergangenen zwei Jahrzehnte, Fakes deshalb nicht mehr als »materialisierte Lügen« (Doll 2012: 22), sondern viel mehr als
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»Künstlerisch aneignen heißt […] auswählen und in Besitz nehmen.« (Graw 2004: 295). Die Umdeutung und Nutzung von Referenzketten wird, mit Fredric Jameson (1997: 113) gesprochen, sogar zu einem wesentlichen Erkennungsmerkmal der Postmoderne. Dieser Forderung wurde auch entsprochen, indem Praktiken und Zeichen, die originär von den künstlerischen Praktiken ausgeschlossen wurden, wie etwa die Fälschung, von den Künsten als methodische Werkzeuge integriert wurden. Spezifiziert wird diese Praxis mit dem Begriff des Simulakrum, mit dem ein abstraktes System von Zeichen/Bildern angesprochen ist, »das in einer spezifischen Beziehung zur materiellen Welt steht und ein Konstruktionsmodell von Wirklichkeit bildet, aus dessen Sinnfundus Welt symbolisch erzeugt und gedeutet, abgestützt und reproduziert wird.« (Kraemer 1994: 49)
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»Ent-täuschungsstrategien« (ebd.). Im Unterschied zu Fälschungen, die per definitionem so lange als original, authentisch und wahr anerkannt werden, bis sie akzidentiell entlarvt werden, intendieren Fakes ihre Aufdeckung von Anfang an, wie der Medienwissenschaftler Martin Doll (ebd.) festhält. Fakes machen sich bestimmte Kontexte, Zeichen und Diskurse zu eigen, um im Nachhinein, nach ihrer Aufdeckung, über ihre Täuschungsbedingungen Auskunft zu geben. Dieses Verständnis künstlerisch-politischer Praktiken prägt sowohl die Produktion als auch die Rezeption von Fakes, die auf einer bestimmten Abfolge von Erkenntnis und Ent-täuschung besteht und damit stark an »Form-Wirkung-Konzepten« (ebd.: 188) orientiert ist.8 Bei Fakes handelt es sich demnach um künstlerische Praktiken, die an der Schnittstelle von Kunst und Politik mit einer spezifischen Agenda eingesetzt werden und deren Wirkung einem vorher festgelegten Schema folgen soll. Fakes sollen diskursive Strukturen, wenn nicht zerstören, so doch zumindest aufmischen (autonome a.f.r.i.k.a. gruppe 2012). In einer sich »selbstvergewissernden Wirksamkeit« (Graw 2004: 300) werden Fakes in den Künsten deshalb oft als kritisch oder sogar diskurszersetzend rezipiert. Dass diese visuellen Aneignungstaktiken eben auch apolitisch (im Sinne Rancières) genutzt werden können, hat sich in Fake News Debatten hinreichend gezeigt.9 In dieser Rezeptionstradition werden Fakes in einem dichotomen Verständnis als Phänomene verstanden, die zwischen »Wahrem« und »Falschem« kippen (van Dyk 2017) und durch dieses Moment auf eine bestimmte Weise wirksam werden: Die Aufdeckung soll der Ent-täuschung entspringen, mit der angrenzende Wissensbestände und Praktiken dermaßen in Zweifel gezogen werden, dass sie ins Wanken geraten.10 Dabei ist die Wirksamkeit selten auf sie selbst gerichtet, sondern vielmehr auf die angrenzenden Diskurse und Wissensfelder. Als »kluge Fallen« und als »Stolpersteine« werden sie gefertigt, um in die Gesellschaft einzugreifen, und ihr nach ihrer Aufdeckung Bekenntnisse hervorzubringen, die einen deutlichen Bruch mit den gegenwärtigen Verhältnissen herstellen. Dementsprechend strebt das postmoderne Fake, anders als es noch die modernen Collagen
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Anna Schober (2008: 125f.; 142f.) führt diese Konzepte auf die Moderne zurück. Im Rückgriff auf Benjamins Theorie des »Chocks« zeigt sie, welche Rolle die Vorstellung von Brüchen für die Rezeptionsgeschichte hat. In Anlehnung an Rancières Begriff des Politischen möchte ich jene Fakes als apolitisch bestimmen, mit denen nicht die permanente Ungleichheit der Gesellschaft verhandelt wird oder herausgestellt wird (Rancière 2002: 67f.). In einem anderen Aufsatz habe ich die visuellen Aneignungs- und Umdeutungspraktiken der Alt-Right analysiert und dabei auch auf deren Übernahmen der Cultural Jammer und Kommunikationsguerilleros verwiesen und Ähnlichkeiten der Verfahren herausgestellt: (Jungen 2019) Einen guten Überblick bietet hier Stefan Römer »Fakes als Original – ein Problem für die Kunstkritik« (2001). Beispiele für einen normative Bewertung von Fakes in der Kunst findet sich bei Dirk van Gehlen (2011).
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vermochten, durch die mit ihm verbundenen Brüche nichtmehr den Fortschritt an, sondern die Dekonstruktion der es umgebenden Wissensfelder. So geht etwa die in den 2000er Jahren, entstandene a.f.r.i.k.a. gruppe (2012: 67) davon aus, dass Fakes mit ihrer Auflösung »Reflexionen über den Urheber und den Inhalt der Botschaft auslösen« und stellt damit wieder implizit Verbindungen zur Praxis der Appropriation Art her. Künstlerische Aneignungen gelten in dieser Rezeptionsweise als Garant für die Offenbarungen der Dekonstruktion mittels derer ein »dritter Weg« (Schober 2008: 190) jenseits vorherrschender gesellschaftlicher Hegemonie wahrnehmbar werden soll. Ganz in der genannten Rezeption befangen, bestätigt auch die künstlerisch-aktivistische Bewegung der Cultural Jammer, dass die als subversiv verstandenen Effekte der Fakes der gesellschaftlichen Emanzipation Vorschub leisteten.11 Auch hier werden Aneignungen und Umdeutungen als intentionale Handlungen begriffen, mit denen eine andere »Wirklichkeit« offengelegt werden soll. Aus dieser kurzen Zusammenfassung der Rezeption von Fakes in den Künsten können zwei Punkte abgelesen werden, die für die Rezeption und Produktion von Fakes bis heute von erheblichem Einfluss sind: Erstens, die ästhetische Sprache künstlerischer Fakes, als dekonstruktivistisches Mittel verstanden, wird vor dem Hintergrund einer solchen Rezeption zu einem unbeweglichen, geschlossenen und von Überraschungen befreitem Versuch, Unsicherheit in Sicherheit und Mögliches in Gewissheit zu verwandeln. Zweitens, werden Fakes mit dieser Lesart, vor allem als Eingriffe in die sie von außen strukturierenden Zeichen, Prozesse und Handlungen verstanden, durch die Gesellschaft konstituiert wird. Mit Frederic Jameson könnte man deshalb sagen: Der Poststrukturalismus interessiert sich mehr für die Rahmen der Bilder als für die Bilder selbst (Jameson 1997).
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Im Zusammenhang mit den aktivistisch-künstlerisch Adbuster oder Cultural Jammer werden Fakes oft als Streiche rezipiert, die im englischen Sprachgebrauch als »hoax« oder »practical joke« bezeichnet werden.21 In der Etymologie des »hoax« Begriffes wird der »falsche Zauber« der Fakes von der meist pejorativ gebrauchten Bezeichnung »hocuspocus« abgeleitet, wenn das Phänomen laut Oxford English Dictionary als » […] a humorous or mischievous deception, usually taking the form of a fabrication of something fictitious or erroneous […]« definiert wird. Beide Gruppierungen sind etwa dafür bekannt, dass sie die Zeichen von Corporate Identities und Werbeplakaten subversiv umdeuten. Auf den sich im Netz befindenden Adbusting und Culture Jamming Seiten werden etwa auch Unterschiede zu Fake News Kampagnen diskutiert, zu denen es oft strukturelle Überschneidungen gibt. Siehe etwa: http://artofthepran k.com/, http://www.guerrilla-innovation.com, http://www.konsumpf.de, rebelart.net.
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Die Holprigkeit der Rezension Ausgehend von dieser Rezeptionstradition künstlerisch-politischer Aneignungsphänomene möchte ich im Folgenden mit der Brille der Performativitätstheorie näher untersuchen. Mit der oben dargelegten Annahme, dass Fakes in die Gesellschaft eingreifen können, geht eine bestimmte Idee dekonstruierender Performativität einher, die auf der Sprechakttheorie beruht. Damit ist die Theorie verbunden, dass sich gesellschaftliche und politische Ideen durch den Akt der Bezeichnung (d.h. durch Sprechakte) qua Anrufung konstituieren. In diesem Sinne können auch künstlerische Fakes als Sprechakte verstanden werden, mit denen die Erwartung einhergeht, dass sie durch ihre spielerisch täuschende Zuschreibung in die Wirklichkeit eingreifen und scheinbare Gewissheiten befragen und damit neue Handlungsräume eröffnen. Christoph Wulf und Jörg Zirfas heben in diesem Zusammenhang hervor, dass im »[…] Vollziehen performativer Akte immer auch die Möglichkeit [besteht] im Vollzug selbst die Normen und Regeln außer Kraft zu setzten, sie zu ironisieren, umzucodieren, die Fraglosigkeit in Frage zu stellen.« (Wulf/Zirfas 2007: 17) Damit rekurrieren sie auch auf Judith Butlers Konzeption performativer Akte, die unter bestimmten Umständen über ein widerständiges Potenzial verfügen. Diese These legt Butler in »Das Unbehagen der Geschlechter« (1991: 123f.) näher dar, wenn sie die Parodie zu einer »Strategie« erklärt, mit der die gängigen Anrufungen von Geschlecht unterbrochen und enthüllt werden. Sie geht davon aus, dass die Oberflächen der Körper, die auf scheinbar natürliche Weise als »weiblich« oder »männlich« erscheinen, auch an derselben Oberfläche eine Möglichkeit bieten, eine dissonante, »denaturalisierende« Performance zu nutzen, mit der gezeigt wird, dass Geschlecht stets performativ hergestellt wird. Diese Performance wird also zu einem »dekonstruierenden Performativ«, dass die konstruierende Wiederholung von Geschlecht unterbricht. Damit rekurriert auch Butler auf die oben angesprochenen Wirkungsweisen der Performativität, die durch Verfremdung und Ironie »subversive Effekte« auslösen (ebd.). Wie Anna Schober hervorgehoben hat, »wird die Parodie dadurch [zunächst] nicht einfach zu einer Möglichkeit des Sprechens, die ganz diverse Effekte haben kann – eine momenthafte Unterbrechung, eine Kontrolle von Diskursen oder eine panikgeleitete Wideraufrichtung der irritierten Kategorien – sondern wird mit Subversion und zugleich mit einer politischen, feministischen Position verbunden.« (Schober 2008: 197) Butler (2006) verfeinert deshalb später in »Hass spricht« noch einmal die Gelingensbedingungen performativer Akte. Mit Bezug auf Jaques Derrida (2001: 291f.) legt sie dar, dass sich unser Tun und Sprechen stets unserer Kontrolle entziehe. Derrida weist im Hinblick auf die Performativität von Schrift darauf hin, dass mit ihr zwar eine Operation und das Hervorrufen einer Wirkung impliziert wird, jedoch nicht die Übermittlung von planbaren Bedeutungsinhalten. Solche Akte ha-
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ben ihre Bedeutung außerhalb von sich selbst, vor sich, sich gegenüber und zugleich produzieren und verwandeln sie eine Situation. Durch ihre Wirkung bringen sie unvorhersehbare, manchmal auch überraschende Effekte hervor. Damit macht Derrida darauf aufmerksam, dass etwas schriftlich oder bildlich Dargestelltes, wenn es als solches sichtbar wird, auch über Präsenz und Intention der Autor*in hinauswirkt. Dementsprechend definiert Butler eine geglückte performative Handlung dadurch, dass »ich die Handlung nicht nur ausführe, sondern damit eine bestimmte Kette von Effekten auslöse« (Butler 2006: 83). Sprachlich zu handeln bedeutet nicht zwangsläufig, auch Effekte hervorzurufen, und in diesem Sinne ist ein Sprachakt nicht immer ein effektiver Akt. Überträgt man diese Ausführungen Butlers in Bezug auf Derrida auf das Fake, wird deutlich, dass die von den Fakes intendierten Akte der Revision, Dekonstruktion und Reflexion, die Autor*innen anlegen, nicht so vollständig beherrscht werden können, wie die Rezeptionen und die Künstler*innen selbst glauben machen möchten. Dieses Phänomen wird bei Derrida (2001: 291f.) unter dem Stichwort der »Dissemination« deutlicher. Unter Dissemination versteht Derrida ein Hervorrufen von Wirkung, die sich dann in ganz unterschiedliche Rezeptionsrichtungen weiterverbreitet: Hier muss auch der Kontext betrachtet werden, der stets als eine unbestimmbare Größe bildet, weil auch dieser nicht vollständig beherrschbar sein kann. Linda Zerilli (2005) macht darüber hinaus darauf aufmerksam, dass mit dem Zugriff Butlers außer Acht bliebe, dass »[Bild] Sprache dem Grunde nach, Abweichung darstelle, dass es also keine ›reine‹ Sprache unabhängig von ihrer Anwendung gäbe« (ebd.: 53f.). Mit Bezug zu Wittgenstein verweist sie darauf, dass wir in vielen Situationen verstehen, ohne zu begreifen. Damit betont sie, dass wir in den meisten Situationen handeln, ohne begreifen zu müssen, weil wir uns Handlungsmuster aus der Umgebung ableiteten. Erst in einem zweiten Schritt würden wir zurücktreten und Handlungsmuster und Bedeutungen hinterfragen. Parodisierende oder ironisierende Fakes würden in dieser Lesart auch in herrschende Sprachmuster und Kontexte integriert werden können und damit auch übersehen werden. Ob und wann diese bestimmten Formen der Anrufung wahrgenommen werden, etwa, dass wir es mit einem künstlerischen dekonstruierenden Fake zu tun haben, ist in dieser Lesart unbestimmt. Weiterhin gibt Zerilli zu bedenken, dass das daraufhin intendierte Umschwenken, Umdeuten und Dechiffrieren weder garantiert werden kann, noch an eine spezifische Deutungsweise gebunden ist. Wie Derrida gibt auch Zerilli (ebd.: 84f.) zu bedenken, dass Sprachspiele viel unkalkulierbarer und gewitzter sind, als es die Theorie bisweilen annimmt. Diese theoretische Herangehensweise spiegelt sich auch in der Diskursanalyse wider, mittels derer Martin Doll das Phänomen Fake (2012) in den Blick nimmt. Mit Dolls Analyse werden Fakes vom »diskursiven Feld des Wahren« (ebd.: 49) aus bestimmt. Dieses Feld des Wahren, wie Foucault es definiert, ist nicht von einer »oberen Instanz« (Foucault 1977: 525) geprägt, sondern vielmehr von den »Verfah-
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ren, mit deren Hilfe man zu jedem Zeitpunkt gegenüber jedermann Aussagen machen kann, die als wahr angesehen werden« (ebd.). Dieses Feld ist an Häufungen, Regularien und Ordnungen geknüpft, die eine bestimmte Aussage zu einem bestimmten historischen Moment (im akademischen Diskurs) als wahr oder falsch erscheinen lassen Foucault (1991).12 Mit Foucault interessiert sich Doll für »[…] das Ensemble der Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden und das Wahre mit spezifischen Machtwirkungen ausgestattet wird; da[ss] es nicht um einen Kampf ›für die Wahrheit‹ geht, sondern um einen Kampf um den Status der Wahrheit und um ihre ökonomisch-politische Rolle. Man darf die politischen Probleme der Intellektuellen nicht in den Kategorien ›Wissenschaft/Ideologie‹ angehen, sondern in den Kategorien Wahrheit/Macht.« (Foucault 2003: 53) Doll akzentuiert mit seiner Definition, dass Fakes und Fälschungen ein »prozessualer Charakter« zu kommt, der damit zusammenhängt, dass sie vom AkzeptiertWerden bis hin zum Verworfen-Werden einen dynamischen Prozess durchlaufen. Denn Fakes, die ihre Anerkennung von akzeptierten Praktiken und Ordnungen für einen kurzen Zeitraum leihen, führen mit ihrer Entlarvung die Bedingungen ihrer Glaubhaftigkeit vor (Doll 2012). In diesem Prozess wird auf bestimmte Methoden wie das »Aufrufen von Konzepten«, die »Vergleichbarkeit mit bestimmten Objekten« oder auch das »In-Zirkulation-Bringen an institutionellen Orten« zurückgegriffen (ebd.:14). In Dolls Theorie spiegelt sich demnach auch Foucaults Perspektive auf die Wertigkeit und Geltung von Aussagen, mit der er zeigt, dass Diskurse mehr leisten, als nur Bezeichnungen zu liefern. »Es ist dieses mehr, dass sie irreduzibel auf die Sprache macht. Es ist dieses mehr, dass man sichtbar machen und beschreiben muss.« (Foucault zit.n. Doll 2012: 40) Dementsprechend stellen Aussagen (d.h. bei Foucault alles, was tatsächlich gesagt wird und nicht nur potenziell sagbar und denkbar ist), weit mehr als die Repräsentationen von Wissensverhältnissen dar. Mit Foucault müssen Aussagen vielmehr als Praktiken betrachtet werden, in denen sich spezifische Formen der Macht zeigen. Dolls Perspektive auf das Fake als Diskursphänomen fokussiert solche Diskursformationen, durch deren Analyse dargestellt werden kann, an welche Kriterien die Aufdeckung von Fakes gebunden ist. Mit seinem Handwerkszeug bietet Doll die Chance, die (historischen) diskursiven Erscheinungsbedingungen von Fakes zu reagieren, um so aufzuzeigen, warum bestimmte Artefakte, zu einem bestimmten
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Foucault weist in der »Archäologie des Wissens« (1981) darauf hin, dass das diskursiv verfasste Wissen, das sich durch die Strukturierung des Diskurses herausbildet, einem Wissen in Zirkulation gleicht, sodass der Diskurs mit Siegfried Jäger auch als »Fluss von Wissen […] durch die Zeit« (2001: 298) verstanden werden kann.
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(historischen) Zeitpunkt sichtbar werden und hinsichtlich der jeweils aktuell herrschenden diskursiven Bedingungen glaubwürdig erscheinen. Mit dieser an Foucault orientierten Lesart gelingt Doll eine historische und epistemische Analyse der Emergenz- und Glaubensbedingungen solcher Fakes, die von den akademischen bzw. medialen Diskursen aufgenommen wurden und in die »gelehrte« Gesellschaft hineinwirken. Nämlich insofern, als dass sie dort durch ihre falsch-positive Virulenz die Formationsregeln der Diskurse überprüfen. So ermöglicht Dolls Theorie, Fakes als Marker dessen zu verstehen, was zu einem bestimmten historischen Moment jeweils gesellschaftlich akzeptiert erscheint.10 Dabei geht er auch davon aus, dass Fakes mit ihrer Aufdeckung ins diskursive Feld des Falschen kippen. Damit wird eine bestimmte Lesart von Fakes angekündigt, die zwar nicht unbedingt darauf beruht, dass Fakes subversive Effekte auslösen, mit denen bestimmte soziale Diskurse aus ihren ›Fesseln‹ der Normativität, ihres Regelkorsetts gelöst werden. Jedoch geht mit dieser Theorie die Vorstellung einher, dass Fakes, die medial besprochen werden, sich innerhalb der akademischen und medialen Diskurse entblößen. Damit bleibt zugleich das vielfach an Foucaults Diskurstheorie herangetragene Defizit bestehen, dass sie sich zu sehr auf die Prozessionen der Macht fokussiere. In der Analyse von diskursiven Formationen bleibt deshalb wenig Raum für unvorhergesehene Herausforderungen, Provokationen, Unterbrechungen und Verkettungen, die erst kontextabhängig erscheinen. Zusammenfassend kann demnach gesagt werden, dass sowohl die diskursive Analyse als auch die performative Lesart des Phänomens Fake auf der Spekulation resultierender Effekte gründen. In dieser Kalkulation wurde jedoch vergessen – wie ich versucht habe zu zeigen – dass auch das Material und die Kontextualisierung des Fakes die Performativität und die Subversivität von Fakes entscheidend mitprägen. Diese Kritik an der performativen und diskursanalytischen Lesart möchte ich nun im Hinblick auf die zahlreichen Statusveränderungen des eingangs beschriebenen Fotoalbums des IFF für den Kontext der Kunsträume überprüfen.
Vom Dokument zur Dokumentation Im Büro für Falsifikation in der Galerie Selecto Planta-Baja liegt das in Auftrag gegebene Reenactment des Albums, das nunmehr den Status eines Fakes hat, auf einem Tisch. Bei der Ausstellungseröffnung treten Betrachter*innen in den kleinen Galerieraum ein. Anders als großflächige Gemälde oder Skulpturen kann das Album nur in Kleinstgruppen angeschaut und umgeblättert werden. Eine intime Situation entsteht, die die Betrachter*innen mit den scheinbar vertrauten Gesten des Paares allein lässt, ihnen Einblicke in Haushalt, Gespräche, Partys und Abendessen gibt. Durch das Label des Institutes für Falsifikate, das an der Tür des Galerieraumes angebracht ist, wird jedoch schon vorher deutlich, dass das im
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Raum positionierte Objekt und die darin eingebetteten Fotografien künstlerische Arbeiten sind. Das Logo des IFF (Abb. 2) ist ein Fake des Logos des Max-PlanckInstitutes, bei dem die drei primären Druckfarben Cyan, Magenta und Yellow, wie in einem Fehldruck, verrutscht sind. Das Logo ist als ironischer Kommentar an das Forschungsmittel zu verstehen, mit dem das IFF hantiert: Fälschungen und Fakes. Auch aus dem Einladungstext geht der Status des Objektes eindeutig hervor. Durch das Reenactment des gefälschten Dokuments, Album, wird das Fotoalbum selbst zu einer Dokumentation, die auf das verlorengegangene Album verweist.
Abbildung 2
Das Logo des Instituts für Falsifikate (IFF), 2016
Das Institut für Falsifikate agiert als eine Try-out-Institution, deren Forschungsprozess durch den Modus des Als-ob bestimmt wird. Institutionen sind Körper des Rechts, die diejenigen, die sie repräsentieren auch konstruieren und zwar dadurch, dass sie in ihrem Namen sprechen: Im Namen der Bürger*innen, im Namen des Volkes, im Namen der Akademie (Peters 2020). Dementsprechend nehmen Institutionen eine doppelte Rolle ein: Sie sind durch die Bürger*innen gestützte Fürsprecher*innen, die gleichzeitig die Konventionen und Protokolle der Bürger*innenschaft durchführen und damit auch konstruieren. Kurz gesagt: Institutionen verfügen über eine performative Macht (ebd.), die das Forschungssetup des Institutes für Falsifikate dazu nutzt, um die aktuellen Konventionen, Regularien und Protokolle der Bürger*innenschaft nicht nur zu reflektieren und zu dokumentieren, sondern auch – im besten Falle – neue Gegenwarten des Bürger*innen Seins mittels künstlerischer Interventionen im Moment der Forschung performativ herzustellen. Der künstlerische Forschungsprozess zeichnet sich – ganz im Gegenteil – vor allem durch die Friktionen und Fiktionen aus, die dabei sinnlich erfahrbar gemacht werden sollen, um über ein sprachlich verfasstes Wissen hinausweisen.
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Der Forschungsprozess, der der Eröffnung vorrausging, beruht auf dem Setting des Büros, in dem (Nicht-)Bürger*innen eingeladen sind, über Fälschungen und Fakes zu diskutieren und in einem kollaborativen Prozess eigene Dokumente und Fakes herzustellen, die ihren Bedürfnissen als (Nicht-)Bürger*innen entsprechen. Dabei handelt sich nicht um einen geradlinigen Prozess, in dem nach einem bestimmten methodologisch festgelegten Schemata Interviews geführt werden, oder es einen spezifischen Versuchsaufbau gibt, der strikt »durchgezogen« wird. Der Prozess ist vielmehr an dieses spezifische Setting im Kontext des Kunstortes geknüpft, in dem Bilder und Fotografien entworfen, Bezeichnungen und Diskurse erprobt werden, die auf die gegenwärtigen Protokolle und Praxis der Bürger*innen verweisen. Das Fotoalbum, das dem beschriebenen Reenactment vorrausgeht, war zunächst nicht als dekonstruktives Fake angelegt, sondern stellte eine Fälschung dar, die B.s und M.s Hochzeit und Beziehung dokumentiert. Als B., ein 34-jähriger amerikanischer Staatsbürger mit marokkanischen Wurzeln bei uns das Hochzeitsalbum in Auftrag gab, war die Hochzeit, aus der das Album resultierte, bereits 8 Jahre her. Sein damaliger Chef, der Inhaber einer Baufirma, bei der er arbeitete, fragte B., ob er dessen Schwägerin heiraten könne. Die Familie von B.s Chef wurde bei einem Unfall schwer verletzt und die Schwägerin von B.s Chef machte sich kurze Zeit später aus Serbien auf den Weg, um ihre Nichte und Schwester zu umsorgen. Zu dem Zeitpunkt als B. von seinem Boss um die Heirat gebeten wurde, lief das Visa der Schwägerin aus. Eine Verlängerung wurde abgelehnt. Nach zehn Minuten Bedenkzeit schlägt B. ein. Für sein Einverständnis erhält er 5000 Dollar. Das Paar heiratet in Las Vegas. Nach der Zeremonie haben beide nur noch sporadisch miteinander Kontakt; sie kennen sich zu diesem Zeitpunkt kaum. Monate später werden sie von der Immigrationsbehörde aufgefordert, Auskunft über die Echtheit ihrer Ehe zu geben. Innerhalb von 24 Stunden erstellten sie ein Hochzeitsalbum, das darauf angelegt war, die Echtheit ihrer Beziehung zu bezeugen. Dieses Album ging später verloren. Heute sind beide nur noch auf Facebook befreundet. Die Fotografien des verlorengegangenen Albums dokumentierten inszenierte Dates, in Cafés, im Park, in Bars und zeigen Bilder von der Hochzeitszeremonie, wie B. uns schilderte. Auch die Fotografien des nachträglich produzierten Albums rufen Codes auf, die mit der Inszenierung von romantischer Liebe und Intimität einhergehen, die schließlich auch durch das Reenactment wieder ausgelöst werden. Sie rekurrieren auf ein implizites Wissen, das auf einem etablierten Repräsentationsverhältnis beruht: Beim Fotoalbum ist das Zu-Sehen-Gegebene stets durch die Anordnung und Auswahl bestimmt. Bezeugen Bilder wie hier den Beginn eines Familienarchivs, nehmen sie auf ein kollektives Bildgedächtnis Bezug, das als »familial gaze« beschrieben werden kann. Der familial gaze »[…] situates human subjects in the ideology, the mythology, of the family as insititution and projects a screen of familial
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myths between the camera and the subject.« (Hirsch 2012: 10f.). In Familienarchiven enthalten deshalb vor allem Bilder von Personen, welche eine kollektive, selbstdarstellende Funktion erfüllen und deren Form und Inhalt sich an etablierten Mustern orientieren. Wie Hirsch schreibt, finden sich in den Bildern, viele »discrete fragments of an adress« (ebd.: 51), die sich etwa Orten, wie Treppen, Türschwellen und Eingängen in Familienalben zeigen. Familienfotos zu lesen, bedeutet deshalb auch auf Teile der visuellen Sprache zurückzugreifen, mit Hilfe derer nicht nur eine Information übermittelt wird, sondern die Fotos können selbst als Werkzeuge verstanden werden, die genutzt werden, um etwas zu tun: zu erinnern, zu manifestieren, zu bezeugen, zu bedeuten. Familienfotos, wie Hochzeitsfotos oder die Fotos von Ausflügen, können deshalb als »Integrationswerkzeuge« verstanden werden, weil sie das Gemeinsame nicht nur bezeugen, sondern auch erzeugen und hier damit auch die Beziehung des Paares (juridisch) bestätigen (Bourdieu 1983). Die beziehungskonstituierende Funktion wird durch das Medium des Fotoalbums unterstrichen. Es verweist doppelt auf die darin angelegte Inszenierung. Als Flickwerke versammeln Alben Fragmente, deren Organisationsform auf Wiederholungen und Vermehrungen beruht (Kramer/Pelz 2013). Roland Barthes hat das Album als ein »[…] uneinheitliches, zerfasertes Gewebe von Kontingenz begriffen, das anders als das Buch nicht gänzlich durchkonstruiert und wohldurchdacht« ist (Barthes zit.n. Kramer/Pelz 2013: 7), sondern vielmehr eine Ansammlung, ein Konglomerat mit lückenhaften »familienähnlichen Verweisstrukturen und transtextuellen Abzweigungen« (ebd.) darstellt. Als konstruierter Beweis einer Beziehungsgeschichte, werden die darin arrangierten Bilder scheinbar zu sprechenden Zeugnissen über eine Abfolge von Treffen, über die Beziehung des Hochzeitspaares zueinander. Sie sind vermeintliche Bezeugungen von Ereignissen mit einer gewissen zeitlichen Abfolge. Diese Bilder werden von unserem Vorwissen, von Fantasien und Leidenschaften mitgeprägt, mit denen wir versuchen, sie zu entziffern, ihnen einen Sinn zu geben. Der Zugriff auf die Dinge, ihre Deutung, ist demnach nicht »neutral unwissend« ist, sondern bezeugt, dass wir als Betrachtende den Dingen, den Artefakten mit einem »Vorwissen« gegenübertreten, »[…] von dem die Arbeit des Auslegens nicht unberührt bleiben kann« (Selle 2012: 132). Aus Perspektive der Visual Studies und der Gender Studies kann darüber hinaus gesagt werden, dass die mit dem Album verbundenen Imaginationen eng mit der Konstituierung der darin abgebildeten Subjekte verknüpft ist. Die fotografierten Darstellungen von Gesten wie Eis essen, Blumen schenken oder gemeinsamen Spaziergängen im Park, lassen sich als überaffirmative Zitate romantischer Hollywoodblockbuster lesen, deren Motive in den Fotos deutlich werden. Durch explizit romantischen Zuschnitt verweisen sie andererseits auch auf ein Dispositiv des Authentischen. Der Kulturwissenschaftler Hillel Schwartz (2000: 301f.) schreibt deshalb in Bezug auf die Fälschung, dass sie auf eine merkwürdige Weise noch viel
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echter sein muss als das Original. Ausgeleuchtet und angestrahlt zeigen sich die Orte und Gesten der Fotos bewusst so, als gäbe es nichts zu verbergen. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Einheiten des Realen und des Fakes nicht trennen, sondern sind aufeinander bezogene, interagierende Teile eines Gefüges. Der darin abgebildete materielle Raum wird von unserem Vorwissen in Verbindung mit Imaginationen, die Vorstellungen und Stimmungen abbilden, mitgeprägt. Dementsprechend ist auch das Album selbst ein komplexes System von Raumanordnungen, Bildinszenierungen und Blickpositionierungen mit denen Wahrnehmung und Verortung der Betrachter*innen bestimmt wird; sie organisieren was sichtbar ist und was unsichtbar bleiben soll, indem sie etwas zu sehen geben.
Fazit Durch das Reenactment des Albums entstehen über die Wiederholung des Wahrgenommenen hinausgehende, performative Interpretationen der originalen Fotografien, in denen durch Abstraktion, Übertreibung, Verfremdung und Dekontextualisierung, Bedeutungen gesteigert und hierdurch sichtbar gemacht und reflektierbar werden. Das Album überwindet dabei seinen ursprünglichen Status einer Fälschung und wird zum Fake. Es stellt nicht mehr ein Dokument dar, sondern wird zur Dokumentation eines Ereignisses, dessen Zeugnis verloren gegangen ist. Für B. hat dieses Reenactment heute den Status eines Souvenirs, einer persönlichen Erinnerung an beide Alben. Die Performativität des Fakes muss demnach auch im Material selbst gesucht werden, wie auch Isabelle Graw in ihrem eingangs zitierten Aufsatz vorschlägt. Denn der These, dass sich Künstler*innen ihr Material aneignen und es dann intentional einsetzten, steht das Material selbst und dessen Widerspenstigkeit entgegen. So zeigt sich an dem immateriellen Datenmaterial der digitalen Zeichen (d.h. Bilder, Texte, Grafiken), dass dieses Material eben gerade nur wegen dieser Eigenschaften so allgegenwärtig sein kann, da es sich um flottierende Zeichen handelt, die ihrerseits widerspenstige (manchmal auch waghalsige) Zitationen und Remixe miteinschließen. Sharing, Reposting und Retweeting sind Beispiele für die Praktiken, die eine Zirkulation der Zeichen in unterschiedlichen Kontexten, auch jenseits der künstlerischen Sphäre zu Alltagspraktiken gemacht haben. Mittels der Praktiken lassen sich virale Einnistungen so konzertieren, dass sich eine Gleichzeitigkeit herstellt, die die Bipolarität des herkömmlichen Verständnisses zwischen Originalität und Fake bereits auf der semiotischen Ebene herausfordert. Beispielhaft kann gesagt werden, dass im Netz zirkulierende Fakes nicht selten gleichzeitig den Status von Original und Fake innehaben. Weiterhin zeigt sich, dass die performativen Effekte, die mit dem Album verbunden sind, sich von den oben beschriebenen Fakes insofern unterscheiden, als
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dass die performative Konstitution nicht mit der Aufdeckung des Fakes beendet ist. Hier führt die Aneignung der originalen Fälschung nicht wie erwartet zu einer Dekonstruktion des Originals, sondern zu einer Dekonstruktion des eingangs beschriebenen intentionalen Fake Begriffs, der den Bruch der Aufdeckung mit Umordnung, Umdeutung und Reflektion gleichsetzt. Aus den Statusveränderungen des Fakes, die die in den Schleifen, Umwegen und Abzweigungen der Fotografien eingeschrieben sind, ergeben sich folglich jenseits des Bruchs (der im angedeuteten Rezeptionsschema mit einer Neuordnung der Zeichen einhergehen soll) auch die Möglichkeit der Affirmation oder Immanenz, »wenn sich das Werk nicht als Nachahmung, Appropriation oder Klischee leerläuft« (Mersch 2015: 164). Dass in Wiederholungen, der Motive, Inhalte, Formate und Themen – wie sie für Fakes üblich sind – auch die »stilbildende ›Unnachahmlichkeit‹ eines Werkes herausgebildet werden kann, die »getreu dem Freud’schen Diktum [funktioniert (Erg.TJ)], dass wir nur das wiederholen, was wir nicht verstehen«, gibt Mirjam Schaub (2016: 322) zusätzlich zu bedenken. Werden die im Album verwendeten Fotografien als Material verstanden, zeigen sich immer neue Bezugspunkte und Deutungsvorschläge, mit denen nicht mehr eine subversive Aufdeckung und Enttäuschung als Bruch in der Wahrnehmung forciert wird, und auch kein Aha Effekt herausgefordert wird, der auf eine andere Wahrheit verweist, sondern – mit Kathrin Busch (2016) gesprochen – auf ein »anderes Wissen«. Mit Hans-Jörg Rheinberger (1992) soll deshalb abschließend darauf verwiesen werden, warum sich Künstler*innen und Rezipient*innen seit geraumer Zeit auf den Experimentbegriff berufen, mit dem künstlerische Objekte als »epistemische Wissensdinge« verstanden werden können, die über die an sie gelegten Praktiken Erfahrungen produzieren, die sich weder durch Wiederholbarkeit noch durch Singularität oder einen »definiten Wahrheitsanspruch« konstituieren.13 Für die künstlerische Forschung ist es, wie Dieter Mersch (2015: 8) herausgestellt hat, dementsprechend vielversprechender sie als »Versuche«, als »Suche, oder auch als Untersuchung« zu konzipieren, »wie ebenfalls die Probe, Prüfung oder Testung sowie die Befragung und Ermittlung und deren vielfältige Heuristiken« (ebd.) zu rekurrieren, vor allem im Hinblick darauf, dass damit keineswegs eine Einheitlichkeit, sondern vielmehr auch sich widersprechende Praktiken zu Tage treten sollen.
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Wider das ästhetische Experiment verbindet nach Mersch das klassische »[…] Nichtwissen mit Wissen auf eine prospektive Weise [verbindet], indem von Theorien bzw. Hypothesen ausgegangen wird, um sie entweder zu bestätigen oder zu widerlegen«. Neben den »Normen der Öffentlichkeit und Veröffentlichung und der Kontrolle der Rahmenbedingungen« gehört wissenschaftstheoretisch zu seinen konstitutiven Bedingungen ebenfalls seine »Wahrheitsdefiniertheit« (Mersch 2015: 8; Herv. i.O.).
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Der Fake als eine analytische Kategorie der Universitäts-, Schul- und Unterrichtsforschung Anja Kraus
Zusammenfassung Universitäre und schulische Bildung gebietet aus anthropologischer Sicht auch dann eine größtmögliche Selbst- und Mitbestimmung der Lernenden, wenn diese nicht widerspruchsfrei modellierbar ist. So besteht bspw. die Möglichkeit, dass sie die Werte, Handlungsmuster, Verhaltensweisen und Leistungen, die von ihnen erwartet werden, nur simulieren. Kann dies als Selbst- und Mitbestimmung aufgefasst werden? Indem der Begriff Fake in diesem Beitrag als eine Kategorie zur Analyse der pädagogischen Zusammenhänge von Personalität, Sozialität, Wissen und Potentialität auseinandergelegt wird, soll er der anthropologischen Universitäts-, Schul- und Unterrichtsforschung zugänglich gemacht werden.
Das gefakte Studium – eine Fallstudie Aus dem Tierreich ist uns die täuschende Nachahmung visueller, auditiver oder olfaktorischer Signale als Mimikry bekannt. In sozialen und pädagogischen Zusammenhängen wird damit die bloße »[…] Anpassung an Vorgegebenes, Erstarrtes, Lebloses« (Wulf 2005: 27) beschrieben. Mimikry unterdrücke die Freiheit im Sinne gestalterischer Mitwirkung als unerlässlichen Moment der Bildung und verhindere so Bildungsmöglichkeiten. (Ebd.) Dies lässt sich anhand einer Fallstudie veranschaulichen, in der die Dozentin Anna Herbert ihre Erfahrungen mit einem Studenten der Psychologie an einer schwedischen Universität beschreibt: »In einer Gruppe von Studierenden im ersten Studienjahr fällt ein junger Mann bei einer mündlichen Prüfung als äußerst eloquent auf. Er ist verhältnismäßig groß, gutaussehend und sein Auftreten sicher. Er wirkt integer. Trotz seiner Wortgewandtheit und im Widerspruch zu seiner Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sind seine Aussagen aber weitgehend ohne Inhalt. Als ihm dieser Eindruck mitgeteilt wird, scheint er erleichtert. Es stellt sich heraus, dass er die
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in den ersten fünf Wochen des Kurses gestellten Aufgaben gar nicht erledigt hat, genauso wie er während seiner Schulzeit im Gymnasium oft in Verzug war. ›Niemand hat es bemerkt, verstehen Sie?‹ Auf die Frage, wie es ihm gelungen sei, die Prüfungen zu bestehen, antwortet er: ›Copy and paste und die Hand heben. In der Schule gibt es immer weniger Prüfungen‹, erklärt er weiter. Wenn er Prüfungen nicht bestanden hätte, sei es ihm gelungen, seine Lehrer*innen und Eltern davon zu überzeugen, dass er sich gesundheitlich angeschlagen gefühlt habe. Hätte es sich bei ihm um einen Einzelfall gehandelt, wäre dazu wohl nicht viel mehr dazu zu sagen gewesen. Mir sind aber im Laufe der Zeit noch ähnliche Verhaltensmuster bei vielen anderen Studierenden begegnet.« (Herbert 2014: 135; eig. Übersetzung; Herv. i.O.) Ein Student wird dabei ertappt, die in einer mündlichen Prüfung abgerufenen Leistungen nur zu mimen anstatt sie zu erbringen. Er wiegt sich offenbar in der Sicherheit, dass die gelungene Täuschung Leistung genug ist. Mit dem Zitat endet die Schilderung des Falles. Es wird also nicht berichtet, wie die Dozentin auf die Aufdeckung des Betrugs reagierte und was die Konsequenzen waren. (Vermutlich ist eine angemessene Reaktion auch kaum möglich, da der Student offenbar bereits in der Schule ähnlich erfolgreich Leistung vorgetäuscht hat.) Eine Verallgemeinerung des Falles auf der Grundlage eigener Erfahrung wird in der weiteren Analyse durch psychologische und gesellschaftstheoretische Überlegungen gestützt. So wird das Verhalten des Studenten damit erklärt, dass heutzutage Studierende in der Universität (wie auch Schüler*innen in der Schule) eine blinde Projektionsfläche für Exzellenz abgäben (ebd.: 135f.). Dem fortwährenden Leistungsdruck entziehe sich der Student im Beispiel durch sein unausgesetztes Streben nach Freizeit. Da ihn aber seine Freizeit wie auch die Lernverweigerung letztlich auf sich selbst zurückwerfe, erlebe er beides im Grunde als bedrohlich (ebd.). So wird seine, so jedenfalls von der Dozentin wahrgenommene, Erleichterung über die Aufdeckung seiner langjährigen wohlüberlegten Machenschaften erklärlich. Nun soll Exzellenz im Bildungssektor bekanntlich akademische Elite schaffen; in Schweden sind da ähnliche Entwicklungen zu beobachten wie in vielen anderen, und nicht nur westlichen Ländern. Dazu schreibt Sharon Rider (2009): »In der Tat hat die Zurückstellung der klassischen akademischen Ideale zugunsten messbarer Outcomes und Ergebnisse (wie Prüfungen und die Zitationsanalyse als Mittel akademischen Rankings) dazu geführt, dass unsere Ambitionen gesenkt werden – und das im Namen der Exzellenz.« (Ebd.: 86; eig. Übersetzung) Riders Diagnose entspricht Reinhard Kreckels (2006: 16) Nachweis, dass Lavieren in puncto Leistung mit der heute vorherrschenden Idee institutioneller Steuerung nicht nur einhergeht, sondern durch sie geradezu nahegelegt wird bzw. zu ihrer Einlösung zu einem gewissen Grad notwendig ist. Der Student im Beispiel mimt
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über Jahre hinweg erfolgreich Exzellenz. Das gelinge ihm, so Herbert (2014), weil er den für Bildungserfolg ausschlaggebenden Habitus mitbringe. Mit seiner gut erprobten, jedoch nur vermeintlich selbstbestimmten Mimikry beraubt er sich selbst, sein soziales Umfeld und die Gesellschaft anderer Optionen. Hier spielt vermutlich auch hinein, was Sighard Neckel (2008: 85) herausstellt, nämlich dass Leistungsdifferenzen heute nicht mehr notwendig an die soziale Position oder an ökonomisches Kapital gekoppelt seien (wodurch vermutlich ebenfalls entsprechende Formen sozialer Mimikry ausgebildet werden). Die Leistungsdifferenzen in westlichen Gesellschaften unserer Zeit, so der Sozialwissenschaftler, seien vielmehr an eine »[…] Beteiligung an der privilegierten Nutzung entsprechender [situativer und struktureller] Gelegenheitsstrukturen« geknüpft; (ebd.) – Gelegenheitsstrukturen sind »[…] Parameter für soziale oder politische Akteure, die ihre Aktionen entweder ermutigen oder entmutigen.« (Tarrow 1991: 651) Um sich eine bestimmte Machtkonstellation und situative Bedingungen des Handelns zu Nutze machen zu können, so Neckel (2008), bedarf es Anpassungsleistungen an soziale Erwartungen und eines sicheren Gespürs für Gewinnoptionen (wie auch bspw. bei kapitalistisch motivierten Finanztransaktionen notwendig). Dabei spiele ethische Verantwortung keine Rolle. Der Student im Beispiel hat sich offenbar lange darin geübt, Gelegenheitsstrukturen erfolgreich auszunutzen. Sicherlich bietet die Anonymität und Bürokratie von Schule und Universitätsbetrieb seiner Vortäuschung akademischer Ambition Tarnung. Anzunehmen ist, dass die Täuschung auch noch durch weitere Parameter begünstigt wird. Jedenfalls kann man am Verhalten des Studenten gewisse gesellschaftliche Tatsachen ablesen. Denn er reproduziert und führt nicht nur auf, was ihm im Rahmen seiner Bildungsbiographie als Sachverstand vorgespiegelt worden sein mag. Sein Verhalten ist in einer leistungsorientierten Institution auch wettbewerbsfunktional. Es spiegelt eine gelungene Performanz wider, die ihm seinen Konkurrent*innen gegenüber Vorteile verschafft. Unter Performanz sind dann möglichst optimierte Anpassungsleistungen zu verstehen, bei denen es um ein möglichst gutes Abschneiden im Leistungsvergleich mit anderen geht, und nicht um die tatsächliche Leistung. Der Student im Beispiel erhält für sein eloquentes und souveränes, in diesem Sinne intellektuelles Auftreten, mit dem er sich zugleich vor seinen Pflichten drückt und nichts als Freizeit intendiert, höchste akademische Weihen. Dies gelingt ihm durch ein Maskenspiel, bei dem er geltende, gesellschaftliche Regeln befolgt. Christoph Wulf & Jörg Zirfas (2007) könnten im Agieren des Studenten vielleicht die »theatrale Komponente von [postmoderner] Identität« erkennen, die sie auf die »[…] Idee der permanenten Identitätsrevolution, die eine Identitätsmimikry ist« (ebd.: 30), zurückführen. Im Spiel mit der eigenen Identität erkennen die beiden Erziehungswissenschaftler prinzipiell die Möglichkeit einer Ich-Bildung. Diese Hypothese stellen sie in den Rahmen ihres Performativitätskonzepts, das sie
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durch Körperlichkeit, Referentialität, Flüchtigkeit, Kreativität, Darstellung Ereignishaftigkeit, Emergenz und (etwas widersprüchlich zur Flüchtigkeit) als Wiederholung/Ritualisierung (ebd.: 17) ausbuchstabieren. Genauer sprechen sie performativen Akten »[…] die Möglichkeit [zu,] im Vollzug selbst die Normen und Regeln auβer Kraft zu setzen, sie zu ironisieren, umzucodieren, die Fraglosigkeit in Frage zu stellen.« (Ebd.) Selbstreferentiellen, selbstidentifizierenden und -exemplikativen performativen Akten kämen dann transformative und sogar analytische Potentiale zu (ebd.). Allerdings stellen Wulf & Zirfas auch heraus: »Wenn vom Performativen des Handelns die Rede ist, dann wird damit ein einmaliges, zeitlich und räumlich begrenztes Ereignis bezeichnet.« (Ebd.: 16f.) Nun könnte seine offenbar gute Kenntnis gesellschaftlich angepasster Maskerade den Studenten im Beispiel durchaus in den Stand setzen, andere einer solchen zu überführen. An spielerischer Listigkeit mag es ihm auch nicht fehlen. Gehen wir davon aus, dass es richtig beschrieben ist, dann entbehrt sein Verhalten jedoch des aufdeckenden Schalks. So wie es charakterisiert in der zitierten Studie wird, stellt es Routinen und Gewohnheiten gerade nicht in Frage, es ironisiert sie auch nicht, und kodiert sie nicht um. Das Handeln des Studenten erscheint hier nicht nur als bewusst hinterlistig und eigennützig. Die offenbar über Jahre hinweg eingeübte Farce könnte auch bereits Teil einer Identität sein, die er zwar selbst geschaffen hat, hinter die er aber wohl schwerlich noch zurückgehen kann. Denn er kann das Versäumte wahrscheinlich nicht mehr einholen; und der Bluff verschafft ihm Vorteile, hinter denen die von ihm erbrachten Leistungen wohl weit zurückstehen. Unter Umständen ist er also längst durch sein Lügengespinst bestimmt. Darin scheint er gefangen zu sein. Es handelt sich also offenbar nicht um ein einmaliges, zeitlich und räumlich begrenztes Ereignis. – Daher kann seine Performanz kaum als performative Ich-Bildung im Sinne von Wulf & Zirfas verstanden werden, die sie auch dadurch näher bestimmen, dass ihre »Inszenierungen nicht-lügnerisch, sondern spielerisch, nicht täuschend, sondern gestaltend und in dem Sinne performativ sind, als sich Menschen ›wirklich‹ machen, indem sie sich in Szene setzen.« (Wulf/Zirfas 2007: 30) Das beschriebene Verhalten des Studenten bestätigt ferner nicht nur geltende Normen und Regeln, es setzt auch deren ethisch-moralische Bedeutung auβer Kraft. Damit werden sie sozusagen indiskutabel und ihre fraglose Gültigkeit wird zementiert. Genau darin erfüllt sich Exzellenz im eigentlichen Begriffssinn, nämlich als die inhaltsleere, in diesem Fall sogar leistungsblinde Ehrung eines gesellschaftlichen Status, hier der des Studenten oder Akademikers. Die Mimikry des Studenten stellt also die mit einem (nicht nur in Schweden) vergleichsweise hohen gesellschaftlichen Status verbundene sinnleere Autorität und Macht zur Schau. Dies geschieht, so die Schilderung, bar jeder Aufrichtigkeit, ohne irgendeine spielerische Umdeutung und in unverblümter Täuschungsabsicht. Hieran sind in die-
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sem Beitrag weniger die gesellschaftlichen als die bildungstheoretischen Implikationen von Interesse. Der Student ist offensichtlich einem Lern-, Kompetenz- bzw. Leistungs- und Bildungsansatz aufgesessen, der von der Idee einer performativen Ich-Bildung weit entfernt ist. Nach diesem Ansatz werden weniger Persönlichkeit und Engagement als, wie oben bereits erwähnt, messbare Outcomes und Ergebnisse als Leistung honoriert; Kompetenzen sind die kognitiven Ressourcen für ein erfolgreiches Bewältigen von in der Hauptsache praktischen Herausforderungen (Weinert 2001; Kraus 2012). Das erfolgreiche Bewältigen ist der Output und wird auch als Performanz bezeichnet. Performanz ist im Unterschied zur performativen IchBildung messbar. Aber was wird hier ausgeblendet und wird dann zum Einfallstor der oben beschriebenen Mimikry? Mit Peter Bieri lässt sich die Dimension, die dem metrisch fundierten Bildungskonzept abgeht, philosophisch-anthropologisch noch näher bestimmen. Der Philosoph lotet sie im Zusammenhang mit seiner Grundfrage nach der Freiheit aus, pädagogisch gewendet geht es dabei um die proaktive Selbst- und Mitbestimmung des Menschen. Bieri (2010) schreibt: »Der Gebildete ist einer, der eine Vorstellung davon hat, was Genauigkeit ist, und dass sie in verschiedenen Provinzen des Wissens ganz Unterschiedliches bedeutet.« Bildung ermögliche es, »[…] sich die Frage vorzulegen: Was weiß und verstehe ich wirklich, und was von den Dingen, die ich und die anderen glauben, steht auf wackligen Füßen?« (Ebd.: 207) Diese Frage auf der Grundlage von Wissen beantworten zu können, »[…] bewahrt uns davor, das Opfer von Aberglauben zu werden« (ebd.). Bildung mache es auch möglich, rhetorische Fassaden und Sektiererei von »richtigen Gedanken« zu unterscheiden (ebd.). Bieri (2003) schreibt weiter: »Weder die Idee einer verständlichen Welt noch die Idee des freien, verantwortlichen Tuns sind Ideen, die wir einfach aufgeben können – nicht einmal, wenn wir gedanklich unter Druck geraten.« (Ebd.: 22) Der pädagogische Auftrag besteht demnach darin, dass die Heranwachsenden lernen, ihre Selbst- und Mitbestimmung auf möglichst genauem Wissen und richtigen Gedanken zu gründen und ihr Handeln (zunehmend) selbst zu verantworten. Wir haben am Fallbeispiel gesehen, dass die Mimikry einen solchen Bildungsprozess inhibiert. Indem der Student gerade nicht mit genauem Wissen und richtigen Gedanken aufwarten kann, geschweige denn entsprechende Verantwortung übernimmt, schmälert dies seine Optionen proaktiver Selbst- und Mitbestimmung. Nun wird der Leistungsbetrug aber im Beispiel aufgedeckt. Genaues Wissen und die Richtigkeit von Gedanken lassen sich auch wissenschaftlich und mittels gediegener Recherche (in gewissem Ausmass) feststellen. Verantwortung kann als Haltung eingeübt werden. Kurz, die mit der Mimikry in unserem Beispiel verbundene Problematik lässt sich (durchaus üblich) durch Wissenschaft und Bildung auf-
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lösen. In pädagogischen Zusammenhängen sind Genauigkeit, Wissen und gedankliche Richtigkeit zunächst gar nichts weiter als Normen, und damit hypothetisch. Die Tatsache, dass sowohl genaues Wissen wie auch richtige Gedanken und Verantwortung erst erlernt werden müssen, verweist also auf die spezifisch pädagogische Herausforderung, die in unserem Beispiel steckt: auf die Mit- und Selbstbestimmung in pädagogischen Kontexten. Im Folgenden liegt der Fokus dabei auf der Schule.
Zur Frage der Selbst- und Mitbestimmung in der Schule und die Entzauberung schulischer Individualisierungsversprechen Ziehen wir in puncto Selbst- und Mitbestimmung (philosophisch Freiheit) zunächst noch einmal Peter Bieri heran. Der Philosoph lehnt jegliche theoretische Verwerfung der menschlichen Freiheit im schlichten Hinweis ab, dass die Vorstellung, keine Wahl zu haben, unmöglich ist: »Das verstieße gegen die Logik der Innenperspektive und widerspräche meiner [unserer] manifesten, unbezweifelbaren Erfahrung der Freiheit.« (Bieri 2003: 19) Diese zunächst bloß introspektive Tatsache ist auch gesetzlich divers verankert. Die Schule betreffend besteht in Deutschland, wie in vielen anderen Ländern etwa auf Landesebene, ein Recht der Schüler*innen, ihre Schule mitzugestalten. Der Mitsprache der Schüler*innen auf Schulebene korrespondieren demokratieund individualisierungstheoretische Begründungen pädagogischer Praktiken im Klassenzimmer. Die Selbst- und Mitbestimmung der Schüler*innen im Unterricht wird bspw. im Sinne einer Öffnung des Unterrichts hin zur Gesellschaft verhandelt. Von einer in einen gröβeren gesellschaftlichen Rahmen gestellte Öffnung des Unterrichts ist heute kaum mehr die Rede. Heute wird in Bezug auf das Klassenzimmer eher von »differenzierendem, individualisierendem Unterricht« (Lipowski/Lotz 2015) gesprochen, der die Schüler*innen nurmehr zur Kontrolle ihrer eigenen Lernprozesse ermächtigen soll. In didaktischer Hinsicht besteht das Individualisierungsversprechen darin, dass die persönlichen Interessen und Lernbedürfnisse der Schüler*innen im differenzierenden Unterricht Berücksichtigung finden. – Warum tut sich die Schule mit der Mit- und Selbstbestimmung der Schüler*innen denn offenbar schwerer als noch vor einigen Jahren (Helsper 2015)? In der nicht nur in Deutschland weithin soziologisch informierten Schulforschung kursiert dazu folgende Grundidee: Das Recht der Mitsprache auf Schulebene und der individualisierte Unterricht sind, wie gesagt, pädagogische Normen. Normen beruhen auf Normalisierungsprozessen, die in einer Gesellschaft wiederum maβgeblich durch Pädagogik vorangetrieben werden. »Normen werden als präexistent und präskriptiv betrachtet; sie dienen sozialen Regulativen und sanktionieren ein spezifisches Handeln.« (Zirfas 2014: 676) Insofern Normen den
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Menschen als maître de la nature fingieren und seine Berechenbarkeit voraussetzen, sind sie zugleich genuin in Verkennungszusammenhänge eingelassen (Zirfas 2014). Folgt man Michel Foucault (1975/1977), so ist dies in Bezug auf die Norm der Selbst- und Mitbestimmung in der Schule besonders augenfällig. Foucault (ebd.) greift Louis Althussers (1977/1969/1970) These auf, nämlich: »[…] das Individuum wird als [freies] Subjekt angerufen, damit es […] (freiwillig) seine Unterwerfung akzeptiert und folglich ganz von allein die Gesten und Handlungen seiner Unterwerfung ›vollzieht‹. Es gibt Subjekte nur durch und für ihre Unterwerfung.« (Ebd.: 148) Eine Person lasse sich demnach gerade dadurch nachhaltig vergegenständlichen und instrumentalisieren, dass sie in ihrer Individualität angesprochen und ihr Selbstkontrolle auferlegt werde. Die These einer »subjektivierende[n] Unterwerfung jener, die als Objekte wahrgenommen werden« zieht Foucault (1975/1977: 238) für seine Kritik an Disziplinarmächten heran, zu denen er wesentlich die Schule zählt. (Der mit Foucault erbrachte Aufschluss könnte eventuell auf den Studenten im Beispiel angewendet werden, zur Prüfung dieser These bedürfte es jedoch weiterer Informationen zum Fall.) Hinwieder wird Foucaults These durch aktuelle Studien aus dem Feld der Schulund Unterrichtsforschung bestätigt, in denen die Mit- und Selbstbestimmung der Schüler*innen der Tendenz nach als ein Mittel der Knechtung im Zusammenhang von Normalisierung ausgelegt werden: So kommen Werner Helsper & Andrea Lingkost (2004) in ihren Studien zum Thema Mitsprache der Schüler*innen auf Schulebene zu dem Ergebnis, dass institutionalisierte Formen gesetzlich geregelter Autonomie u.a. die Mitarbeit in Gremien, heteronom bestimmt werden. Die Entscheidungsfreiheit demokratisch gewählter Repräsentant*innen würde von Schulleiter*innen beschnitten, indem sie ihnen diese verordneten und sie zugleich simulierten. Dies geschehe mit dem Ziel, die Schülervertreter*innen zu instrumentalisieren und sie bspw. zur Kontrolle anderer Schüler*innen (Stichwort Schüler als Lehrerkollaborateure) einsetzen zu können. Die Akteure seien sich ihrer repressiven Praktiken nicht unbedingt bewusst. Die Schulleiter*innen stellten ihre Machenschaften vielmehr in den ihres Erachtens legitimen Rahmen ihrer Aufgabe, den Schulmythos aufrechtzuerhalten. Sie nutzten also das Engagement, die Partizipation und Mitsprache der Schüler*innen letztlich zur Inszenierung der Exzellenz der Schule, der sie vorstehen. Werner Helsper (2014) legt in seinem Konzept vom Schüler*innenhabitus noch weitere unlautere, grobe und feine kulturelle Einpassungen in ein geschöntes Bild von Schule im Modus einer strukturell verankerten Täuschung auseinander. In der aktuellen Unterrichtsforschung wird im Zusammenhang individualisierten Unterrichts darüber hinaus eine breite Palette von Euphemismen, Verkennungen, Verdrehungen aufgedeckt (Rabenstein et al. 2018). Das oben etwas ausführlicher dargelegte Beispiel würde sich da einreihen lassen. Diese Zusammenhänge können hier aber nicht weiter ausgeführt werden. Hier soll nur relevant sein, dass die Konsequenz der Aufdeckung der Mit- und Selbstbestim-
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mung als strukturelle Täuschung in einer breitflächigen Infragestellung individualisierungstheoretischer Argumentationslinien im Zusammenhang von Schule und Unterricht (Helsper 2015) und in der »Entzauberung der Individualisierungsversprechen« (Rabenstein 2018: 15; Herv. i.O.) gesehen wird. Mit einer solchen Pauschalisierung wird jedoch die Unmöglichkeit einer Mitsprache und Selbstbestimmung der Schüler*innen im Unterricht von wissenschaftlicher Seite eher zementiert. – Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich im Rahmen der Schulund Unterrichtsforschung hier zurückgeholt wird, was ihr Jürgen Zinnecker vor 45 Jahren abgesprochen hat. Er hat damals den Schüler*innen die Möglichkeit zuerkannt, dass sie »[…] jenseits makrotheoretischer Bestimmungen der Schule […], der Schule eigensinnige Bedeutungen verleihen, die schulischen Anforderungen umdefinieren und ihre eigenen ›inoffiziellen Weltversionen‹ in Form von Hinterbühne, schulischem Unterleben und subkulturellen Nischen erzeugen.« (Helsper 2000: 663) Damit spielt Zinnecker (1975) nicht nur auf den aufdeckenden Schalk im Rahmen performativer Bildung an, von dem oben die Rede war. Er spricht einem Kind oder einem/einer Jugendlichen prinzipiell auch zu, sich die Frage was weiß und verstehe ich wirklich? vorzulegen und damit über sich selbst zu bestimmen. Die für ein Individuum charakteristischen Denk-, Erlebens- und Verhaltensweisen und insbesondere die kindliche und jugendliche Aneignung und Verarbeitung von Schulwissen weichen ohnehin von den makrotheoretischen Bestimmungen der Schule (Bildungsplan etc.) ab (Morrow/Richards 1996). Ihnen will Zinnecker (1975) Raum geben und damit würde wohl auch Bieri (s.o.) mitgehen. Indem der Fake als Analysekategorie anthropologischer Schul- und Unterrichtsforschung eingeführt wird, soll es möglich werden, den Freiraum für die Schüler*innen begrifflich zu fassen, der heute an die gesellschaftlichen und makrotheoretischen Bestimmungen der Schule verloren gegangen zu sein scheint. Zudem soll damit der Unterschied zwischen bildungsresistenter Mimikry und den eigensinnigen Bedeutungen denkbar werden, die dem Individuum Freiräume für eigenes Verstehen und für Irrtümer eröffnen. Die offenbar variantenreichen Verkennungszusammenhänge in der Schule werden im Folgenden vor der anthropologischen Matrix einer unaufhebbaren Entzogenheit und Selbstfremdheit des Menschen analysiert.
Des Fakes Wunderhorn Fake entstammt dem englischen Slang im kriminellen Milieu und leitet sich möglicherweise vom deutschen fegen, polieren, sauber wischen, oder alternativ aus dem Lateinischen fac, facio (machen) ab (Di Monte 2018). Der Fake ist ein Aus-
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druck mimetischen Gestaltungsvermögens. Das kann eine Fälschung sein, aber das ist nicht immer der Fall. Bspw. ist die Behandlung eines Gegenstands, nach der dieser wieder wie neu aussieht, ein Fake, ohne dass (wie bei der Fälschung) eine Täuschungsabsicht im Spiel sein muss (ebd.). Fake umfasst vielmehr ein sehr breites Spektrum von Bedeutungen, von der vagen Anspielung oder Allusion (wie Periphrase, Metapher, Simulation), bei denen die Bedeutung nicht auf der Hand liegt und den Adressat*innen überlassen bleibt, über Repräsentationen (Kopie, Substitution oder Imitation) bis hin zu Formen gezielter Täuschung (wie Verstellung, Betrug, Irreführung). Der Begriff Fake und seine Rezeption haben eine lange Geschichte, die sich entlang seiner Antonyme wie bspw. Authentizität, Wahrheit, Echtheit, Unikat, Fakt, Richtigkeit skizzieren lieβe. Konnte Gérard Genette (1982) den Fake noch als die Parodie, Travestie, Persiflage oder Pastiche trennscharf vom Original abgrenzen, so ist der Begriff des Originals heute in vielen Zusammenhängen problematisch geworden. Im Zusammenhang der Kunst argumentieren Bruno Latour & Adam Lowe (2012) etwa, dass das fac simile mittlerweile das auratisch Originäre ersetzt habe und nicht mehr nur als ein Derivat, sondern bereits in seiner Originalität erkannt werde. Damit bewegen sich die Soziologen im Fahrwasser Friedrich Nietzsches (1873/2000), der Wahrheit und Lüge unauflöslich ineinander verschränkt: »Die Wahrheiten sind Illusionen, über die man vergessen hat, dass sie welche sind.« (Ebd.: 16) Demzufolge liegt sogar nahe, Illusionen und Fakes die Rolle zuzuerkennen, die einmal dem philosophischen Begriff der Wahrheit zugesprochen wurde. Was hat es mit dieser Umkehrung auf sich? Ist sie statthaft?
Erklärungsmacht des Fake Fakes sind ein integraler Teil unseres Lebens insofern, als wir in eine Welt hineingeboren sind, die wir nicht komplett durchschauen. Irren ist menschlich und wir reproduzieren die Kultur und die Strukturen, in denen wir leben. Der Fake fügt sich integral in die anthropologische Matrix einer unaufhebbaren Entzogenheit und Selbstfremdheit des Menschen ein. Petra T. Kalshoven & Andrew Whitehouse (2010) schreiben: »Die Tatsache, dass wir als Anthropolog*innen an verschiedenen Arten des Kopierens und des Nachspielens interessiert sind [bspw. im Sinne der Lebendigmachung von Vergangenem], hat ihren Grund darin, dass Repräsentationen und Anspielungen zum Kern dessen gehören, was es bedeutet, menschlich zu sein – das meint einerseits die Fähigkeit zu Spiel und Metaphorik und andererseits die gekonnte Manipulation von Dingen.« (Ebd.: 8; eig. Übersetzung)
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Das Zitat kann man in Verbindung mit Lucius A. Senecas (ca. 65, online) Diktum »Irren ist menschlich, aber auf Irrtümern zu bestehen ist teuflisch« (ebd., o.S.), so verstehen, dass wir das, was wir nicht begreifen, durch gegenstandsloses Spiel, unbefangene Metaphorik und in der Bearbeitung der Dinge aussetzen, was uns letztlich davor schützt, uns in Irrtümer zu verrennen. Im Kopieren und Nachspielen, in Repräsentationen und Anspielungen verstehen wir die Welt auch dann, wenn ihr der Fake innewohnt. Denn es handelt sich dabei lediglich um die Vermittlung von Welt und Leib aus zweiter Hand. Martina Leeker (1995) spricht diesbezüglich von Medien, und das Vermögen des Menschen, »[…] Medien zu bilden und mit ihnen umzugehen« (ebd.: 8), bezeichnet sie als Mimesis. Wenn wir unser Wissen in mimetischen Prozessen durch das komplettieren, was wir nicht wissen und darum konstruieren oder nachahmen (müssen), gehen da immer auch Fakes ein. Das muss aber keine Mimikry sein. Solch eine Mimesis kann vielmehr, wie wir oben schon gesehen haben, gerade auch ein Moment der Selbst- und Mitbestimmung, also der Freiheit enthalten. Denn selbst: »Der Schlüssel zur Nachahmung liegt in der Koordination der Aufmerksamkeit des Neulings für andere mit den eigenen Körperbewegungen« (Ingold 2000: 353; eig. Übersetzung). Bringt eine Mimesis solch eine unbezweifelbare Erfahrung der Freiheit mit sich, kann durch sie auch Neues entstehen. Jedoch ist in Hinblick auf die Erklärungsmacht des Fake auch eine Einschränkung notwendig. Leeker (1995) macht uns auf die »Aneignungswut der Mimesis« (in ihrem Verständnis, s.o.) aufmerksam und bezweifelt, dass die Mimesis den alleinigen Maβstab dafür abgeben kann, verantwortungsvoll zu handeln. Sie räumt ein: »Es ist wichtig, zu wissen, dass […] [die] Natur des Menschen sich durch seine Kultur bestimmt. Befriedigt [aber] dieses Erklärungsmodell? Können wir uns damit den Visionen und Fakten einer drohenden Apokalypse stellen? Kinder verbluten in Jugoslawien, Beinchen werden verstümmelt, Gesichter zerfetzt. Der Erde droht der Ökokollaps. Wir sind aufgefordert, verantwortungsvoll zu handeln, müssen einen Maβstab finden, der unser Überleben garantiert.« (Ebd.: 7) Bieri (2003) ermutigt uns, auch wenn wir gedanklich unter Druck geraten, Ideen wie die des freien, verantwortlichen Tuns nicht einfach aufzugeben und uns die Frage zu stellen, was weiß und verstehe ich wirklich, und was von den Dingen, die ich und die anderen glauben, steht auf wackligen Füßen? Kurz, die nicht weiter reduzierbare, singuläre Existenz und Präsenz und die damit verbundenen Herausforderungen stehen auf einem ganz anderen Blatt als der Fake. Der Fake ist vielmehr eine Urteilskategorie. In Hinblick auf seinen epistemologischen Stellenwert halten wir es im Folgenden mit Stefan Römer (1998), der darlegt, »[…] warum Fake kein Phänomen im phänomenologischen Sinne darstellt. Es handelt sich um einen Sowohl-als-auch-Zustand (zwischen Original und Fäl-
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schung), der aus jeder Perspektive anders aussieht.« (Ebd.: 36) Welche Erklärungsmacht kommt also dem Begriff Fake in Bezug auf soziale Geschehen zu?
Der Fake als analytische Kategorie Wir wissen jetzt, dass der Fake eine Form ist, in der Wissen vorliegt. Herausgearbeitet wurde auch, dass im Fake überspielt wird, dass wir die Welt nicht komplett durchschauen und dass der Fake Unerklärliches enthält. Diese Zusammenhänge lassen sich im Kontext von Schule vielfach ausbuchstabieren. – Wir wollen uns auf vier Anwendungsbeispiele des Fake als analytische Kategorie in diesem Kontext beschränken, die oben angeklungen sind, aber hier systematisiert werden sollen: blinde Flecken des Wissens und virtuelle Räume: Im Feld des Wissens wimmelt es von Hypothesen, Fiktionen und Projektionen (Geier 1999: 208f.). Jedes Wissensformat folgt ganz bestimmten Regeln der Wissensreproduktion und hat demgemäβ auch blinde Flecken. Da die Erkenntnis heute vornehmlich mit abstrakten Modellkonstruktionen operiert, ist das Prinzip der Anschaulichkeit und Anschauung weithin ausgesetzt. So zeigt sich heute unter der Führung der exakten Wissenschaften verstärkt die Virulenz des »[…] vernichtenden Kolonialkrieg[s] gegen die Natur« (Chargaff 1984: 213). Dessen Effekte können wir häufig sehen, das komplexe Gefüge seiner Ursachen erschlieβt sich uns aber, vor allem in Hinblick auf seine kulturellen Aspekte, nicht ganz. Ein bisher nicht angesprochenes Beispiel für den Verlust der Anschaulichkeit sind die technologischen Realisierungen der Vision körperlosen Lebens im digitalisierten Cyberspace. Programmzentrierte Simulationsmodelle drängen die Option und Realität reflexiver Selbstvergewisserung zurück, genauso wie sich soziale Geschehen und die soziale Kontrolle zunehmend in die illusionären Echoräume und in epiphänomenale Randzonen verlegen (so facebook, clouds, etc). Diese gaukeln Berechenbarkeit zugleich vor wie sie eine solche als Big Data etc. exquisit und unsichtbar ermöglichen. Damit hat die Schule dann zu tun, wenn sie online geht und persönliche Daten verarbeitet werden. Die Schüler*innen bewegen sich permanent in virtuellen Räumen. Es wäre lohnend, ihre Praktiken und Erfahrungen mit Blick auf Fakes näher zu untersuchen. Das ist ein groβes Feld, auf das hier nur hingewiesen sein soll. Eine »kollaborative Imagination«, so Dietmar Kamper (1997), entstehe durch Irritation und Zweifel, und sie beruhe auf »[…] bewussten Einbildungspraxen, die über sich selbst aufgeklärt sind« (Menrath 2018: o.S.). Durch kollaborative Imagination werden bspw. Parafiktionen herbeigeführt, die von der Kunstwissenschaftlerin Carrie Lambert-Beatty (2009) als Projekte näher bestimmt werden, bei denen sich »[…] reale und/oder imaginäre Persönlichkeiten und Geschichten vermischen mit der Welt, die [tatsächlich] gelebt wird« (ebd.: 54). Parafiktionale, kollaborative Imaginationen zeigen sich an der Schule bspw. in den subkulturellen Nischen oder
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jugendlichen Schwärmereien der Schüler*innen, die den Möglichkeitsraum für ein spielerisches Austesten sozialer Identitäten eröffnen können. Ähnliche Potentiale bergen auch das Spiel oder »Heterotopien« als jene Orte, an denen die zu einer Zeit vorgegebenen Normen nur zum Teil oder nicht vollständig umgesetzt werden oder die nach eigenen Regeln funktionieren (Foucault [1967]1993). Oben wurde das Experimentierfeld auch die Exzellenz als eine Parafiktion im Bildungsbereich angesprochen, sie scheint hauptsächlich Performanz zu befeuern. Die Diskursregeln eines Feldes lassen sich als kollaborative Imagination und als Parafiktionen verdeutlichen. Mit ihrer Dechiffrierung lieβen sich auch die Verkennungen und die Gewalt aufdecken, die bisweilen subkulturelle Nischen, jugendliche Schwärmereien oder gesellschaftliche Visionen (hier Exzellenz) mit sich bringen können. Als ein wieder anders gelagerter Fake dringt die operationale Machbarkeit in den Bereich des Lebendigen ein und/oder spielt eine zentrale Rolle, wenn ein/der Mensch sich bei unabsehbaren Folgen dennoch die (autoritäre) Schöpferrolle anmasst (Geier 1999). Der Fake überdeckt die Schwächen eines autoritären Regimes und kaschiert seine Bruchstellen. Einem so gelagerten Fake wird der Vorteil zuerkannt, mit einem Schlag aufgedeckt werden zu können (Menrath 2018), wie es auch Herbert (2014) aufzeigt. Werde die Aufdeckung systematisch betrieben, so Martin Doll (2012: 413), dann könnten Fakes zeigen, wie »(…) sich Machtbeziehungen in Kommunikationsbeziehungen realisieren.« Anhand unseres Fallbeispiels und in der Zusammenfassung einiger Ergebnisse der Schulforschung konnte der Zusammenhang von Fake, Macht und Verführung im Bildungsbereich schlaglichtartig beleuchtet werden. Ein performativ-analytischer Effekt des Fake zeigt sich in der Eulenspiegelei. Hier spielt jemand einem anderen einen Streich und hält ihm zugleich den Spiegel vor, indem er dessen Anweisungen wörtlich nimmt und ausführt. Die Eulenspiegelei ist mit der strukturalistischen Tätigkeit vergleichbar, die Roland Barthes (1966) wie folgt beschreibt: »Das Ziel jeder strukturalistischen Tätigkeit, sei sie nun reflexiv oder poetisch, besteht darin, ein Objekt derart zu rekonstituieren, da[ss] in dieser Rekonstitution zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert (welches seine Funktionen sind) […], da das imitierte Objekt etwas zum Vorschein bringt, das im natürlichen Objekt unsichtbar oder, wenn man lieber will, unverständlich blieb.« (Ebd.: 191; Herv. i.O.) Statt den Anspruch zu haben, Wahrheit, also ahistorisch-überzeitliche Strukturen offenzulegen, rekonstituiert die strukturalistische Tätigkeit ein Objekt in der Suche nach Funktionsregeln und semantischen Zielen, d.h. sie untersucht, wodurch eine Bedeutung zustande kommt, und zu welchem Preis und auf welchem Wege dies geschieht. Dabei lässt sich auch in der (im Sinne von Barthes strukturalistisch informierten) wissenschaftlichen Tätigkeit das Moment trügerischen Scheins, das
Der Fake als eine analytische Kategorie der Universitäts-, Schul- und Unterrichtsforschung
Simulacrum, nie ganz eliminieren. Die Eulenspiegelei ähnelt, wie oben herausgearbeitet wurde, einer Mimikry in sozialen Kontexten. Und doch sind beide sehr verschieden. Während die Mimikry die Selbst- und Mitbestimmung eines Menschen letztlich den Mechanismen des Fake unterwirft, legt die Eulenspiegelei einen Fake offen. Damit eröffnet sie Freiheitsräume gegenüber praktizierten Machtbeziehungen und für Visionen. In diesem Sinne hat bspw. Anne Zimmermann (2014) aus kunstpädagogischer Perspektive die Bildungspotentiale in der Rezeption von Werken künstlerischer Strategien der Parafiktion untersucht. Das Spektrum an möglichen Fakes, die in der Schule und in der Pädagogik eine Rolle spielen können, ist damit nicht abgedeckt. Bei aller Faszination, die die analytischen Potentiale des Begriffs mit sich bringen können, darf nicht vergessen werden, dass ein Fake immer teilweise unaufgeklärt bleibt.
Resümee Die Untersuchung hat gezeigt, dass es sich bei einem in der Pädagogik relevanten Fake wohl weniger um die Fälschung eines Unikats (wie etwa in der Kunst) als um eine Urteilskategorie handelt. Insofern er kein Outcome und keine erbrachte Leistung im strengen Sinne ist, entzieht sich der Fake der Metrisierung. Der Fake kann aber als eine Kategorie zur Analyse derjenigen Regeln herangezogen werden, nach denen etwas Bestimmtes funktioniert (bspw. welches dessen Funktionen in einem bestimmten Kontext sind). Es lassen sich damit Machtstrukturen aufdecken und im Alltag einfach Hingenommenes auf Irrtum, Fehlerhaftigkeiten und Unzulänglichkeiten hin untersuchen. Die aktuelle Schul- und Unterrichtsforschung bedient sich heute bereits recht breitflächig der Analysekategorien des Widerspruchs und der strukturellen Täuschung. In diesem Beitrag wird argumentiert, dass mit dem Begriff des Fake darüber hinaus auch Möglichkeiten einer Mit- und Selbstbestimmung der Schüler*innen modelliert werden können. Der Fake könnte auch den Schüler*innen als Analysekategorie (sicher altersabhängig) an die Hand gegeben werden. Denn anhand des Fake-Begriffs lassen sich blinde Flecken des Wissens, kollaborative Imaginationen und Parafiktionen sowie Kaschierungen aufdecken. Es konnte auch gezeigt werden, dass in der Imitation in freiheitlicher Mimesis oder in einer Eulenspiegelei etwas zum Vorschein kommen kann, was am natürlichen Objekt unsichtbar oder unverständlich bleibt. In diesem performativ-analytischen Sinne wurde der Fake zudem im Spiel, in unbefangener Metaphorik und in der gekonnten Bearbeitung der Dinge entdeckt, die uns alle davor schützen können, uns in Irrtümer zu verrennen. Anthropologisch betrachtet wird im Fake überspielt, dass wir die Welt nicht komplett durchschauen. Das kann bei Kindern wie auch bei Erwachsenen in ihrer
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Interaktion miteinander eine Rolle spielen. Die Selbst- und Mitbestimmung im sozialen Miteinander wird davon in vielfältiger Weise beeinflusst, beeinträchtigt oder positiv stimuliert. Es ist letztlich das Machtmoment, durch das sich der zu Machtzwecken und autoritär eingesetzte Fake und die (bspw. bildungsresistente) Mimikry von den eigensinnigen Bedeutungen unterscheidet, die dem Individuum Freiräume für eigenes Verstehen und eigene Irrtümer eröffnen. Wir hatten hier die im Zusammenhang der von Bildungsinstitutionen angestrebten Exzellenz eingeforderte messbare Performanz von performativer Ich-Bildung unterschieden. Während gefakte Performanz mit einem Schlag aufgedeckt werden kann, verbleibt hingegen der Fake, der mit dem anthropologischen Faktum einer unaufhebbaren Entzogenheit und Selbstfremdheit des Menschen verbunden ist, teilweise im Dunkeln. Nichtsdestotrotz konnte der Fake im Rahmen dieses Beitrags als eine Analysekategorie dazu herangezogen werden, einige in Universität und Schulunterricht vorfindliche Verkennungen, Verdrehungen, Euphemismen aufzudecken und ausschnitthaft zu systematisieren. Vorgeschlagen wird die noch breiter angelegte, auch empirische Untersuchung dieser möglichen analytischen Kategorie. Ein mehr allgemeines und übergreifendes Ergebnis des vorliegenden Beitrags besteht darin, unter pädagogisch-anthropologischer Perspektive gezeigt zu haben, dass die Freiheit im Sinne gestalterischer Mitwirkung und Selbstbestimmung ein unerlässliches Moment der Bildung ist. Zugleich mag deutlich geworden sein, dass sich die menschliche Freiheit der Vermessung grundlegend entzieht und der Fake ihr in sicherlich auch noch näher zu bestimmender Weise eingelagert zu sein scheint. In dieser Erkenntnis könnte ein wichtiger Beitrag liegen, den die pädagogisch-anthropologische zur eher soziologisch informierten Universitäts-, Schulund Unterrichtsforschung leisten kann.
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Die Digitale Moderne Zur Neuheit von »Faktizität« im »Informationszeitalter« Sara Morais dos Santos Bruss
Einleitung Während es in den letzten Jahrzehnten zunehmend erkenntlich wurde, dass Wissen situiert und autor*innenabhängig produziert wird (Haraway 1995; Harding 1999), verkehrt sich diese Prämisse zu Beginn des 21. Jahrhunderts erneut in ihr Gegenteil. Der kritische und historische Umgang mit Identitäten und gesellschaftlichen Wahrheiten werden auf das Etikett »anything goes« reduziert, dass »GenderIdeologie« und »Multikulturalisten« für den Untergang des Westens (und guter akademischer Praxis in den Geisteswissenschaften) verantwortlich macht (Frey et al. 2014). In dieser Logik werden Fake News Vorwürfe und eine generelle Ablehnung wissenschaftlicher Fakten als gleichwertig legitime Ansprüche auf die eigene Wahrheit auf der Grundlage politischer Neigungen dargestellt, indem ahistorisch die in gesellschaftliche Strukturen eingeschriebenen Privilegien durch einen Ausdruck gefühlter Prekarität vermeintlich nivelliert werden. Als Austragungsort gelten vor allem neue Medien, denen eine Verrohung der Partizipation zugeschrieben wird, oder digitale Netzwerke, in denen nur das Spektakel die Aufmerksamkeitsökonomie sprengt. Dabei wurde lange Zeit überwiegend formalistisch argumentiert; es sei die Form der Medien, die diese Radikalisierung vollzögen – In dieser Logik sind es Filter Bubbles, Echokammern und automatisierte Weiterleitungen, die Faktizität untergraben, nicht die politischen Kontexte, die historisch bestimmte Körper als »wissende« konstruiert haben (Boler/Davis 2018). Wie dieser Beitrag zeigen wird, folgt diese Konstruktion allerdings dem gleichen Paradigma, das von Beginn der Moderne an Rationalität als westlich-weiß und männlich situiert, dabei aber die eigene Situiertheit im Sinne eines Harawayschen »Gottes-Trick« (Haraway 1995) als erhaben und außerhalb der Dinge stehend formuliert. Die Auflösung von Rationalität in Objektivität – wie sie wortwörtlich in der Auslagerung derselben in Objekten geschieht – kann somit nicht nur wie Sandra Harding einst feststellte eine de-politisierende Wirkung haben (Harding 1999), sondern muss zusätzlich dazu auf Tendenzen autoritärer Verschleierung von politischer Situierung, wie auch der ahistorischen Nivellierung verkörperlichter
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Differenz, geprüft werden. Dabei fungiert Rationalität und dessen Externalisierung im Umkehrschluss über die Zuweisung der als Anders konstruierten in den Bereich der Irrationalität und des Affekts. Der Bezug aufs Faktische kann so als ideologische Zuschreibung gedeutet werden, welche ebendiese Teilhabe durch den Umkehrschluss der Irrationalität ausschließt, indem Erzählungen technologischer Innovation wiederkehrend versprechen, den Wunsch nach rationaler und neutraler Faktizität zu erfüllen. Damit ist Digitalität als Produktion westlicher Ratio aber auch eingebunden in politische Prozesse, die Irrationalität, Unwissen und Affektivität auf verkörperlichte und damit »un/an/geeignete«1 Andere externalisiert, um das aufklärerische Menschenbild des westlich-männlichen rationalen Humanismus aufrecht zu erhalten (Minh-Ha 2010; Haraway 1995; Wynter 2003), oder gar (technologisch) zu perfektionieren. Mit Hinblick auf aktuelle Diskurse, die Digitalität, Wissensproduktion und (fehlende) Debattenkultur als neuartiges und miteinander verwobenes Problemnetzwerk des 21. Jahrhunderts begreifen, hinterfragt der Beitrag in Folge sowohl die technoutopistische Perspektive der durch das Internet hervorgebrachten globalen, rationalen und egalitären Informationsgesellschaft, wie auch die radikale Ablehnung von neuen Technologien als Produktionsstätten von Irrationalität, Affekt und Radikalisierung. Dies soll keineswegs die anfangs kritisierte Haltung des anything goes fundieren, sondern eher auf die Historizität von Wissensproduktion und ihre Komplizenschaft mit Macht verweisen – eben um der gefühlten Prekarität und der Individualisierung des Leids etwas entgegenzusetzen. Gleichzeitig soll die ständige Suche nach Neutralität und Rationalität im Informationszeitalter als Reartikulation eines bestimmten (westlich, weißen, bürgerlichen, männlichen) Status Quos verstanden werden. Anhand von drei Narrativen technologischer Innovation werden im Folgenden diese Trennungen als Externalisierung der Ratio im obigen Sinne beschrieben. Damit soll eine Verbindung dieser Projektion von Rationalität auf technische Objekte mit den zeitgleich geschehenden emanzipatorischen Aufbegehren un/an/geeigneter Anderer in Verbindung gesetzt werden, wobei die technologische Rationalität ohne Körperlichkeit zu einer Reartikulation und Normalisierung der vermeintlichuniversellen Rationalität als Partikularität des westlich-weißen Mannes gedeutet werden kann (Wynter 2003). So soll durch eine genealogische Herleitung des Digitalen in diesen Schlüsselmomenten aufgezeigt werden, wie Evidenzen – Faktizität im gesellschaftlichen Sinne – immer schon durch Imaginäre der rationalen
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Die vietnamesisch-amerikanische Feministin und Filmemacherin Trinh T. Minh-Ha nutzt diesen Begriff, um auf die Verwobenheit und Hybridität der nicht-westlich-männlichen Identitäten zu verweisen – sie sind nicht authentisch, unberührt, originell, jedoch ist ihr Verhältnis zum liberal-humanistischen Subjekt des Westens ungeklärt, gebrochen, sie gehen darin nicht ganz auf, sind nicht ganz adressiert, nicht ganz intelligibel.
Die Digitale Moderne
Objektivität als Neutralität konstruiert und in technologische Infrastrukturen eingeschrieben werden. Die unterschiedlichen Framings des Digitalen als Ort des Faktischen müssen also mitsamt ihren verkörperlichten Objekten als Prozesse der Erstellung eines soziotechnischen Imaginär verstanden werden, in der bestimmte hegemonial-konstituierte Normen als Wissen bzw. als Fakten vermittelt werden, was schlussendlich dazu führt, dass selbst kontrafaktische und affektive Sprechakte ihre Legitimität erhalten, soweit sie in entsprechenden Körpern vorgetragen werden. Ich beginne mit der Konstruktion von Digitalität in verschiedenen Variationen. Vom Internet bis zum Digitalcomputer, der in Norbert Wieners Überlegungen die Berechenbarkeit menschlichen Handelns als universelles Paradigma ermöglichte, ist diese Geschichte gewissermaßen bekannt. Jedoch ist dies die Ausgangslage, von der aus in einem zweiten Schritt die dort aufkommende Frage der universellen Rationalität genealogisch hergeleitet wird. Der nächste Moment ist dem ersten zeitlich vorgeordnet, es handelt sich um die aufklärerische Neuverhandlung der gesellschaftlichen Position der mechanicae, den mechanischen Künsten, und damit einhergehend die Festschreibung von Kategorisierungen als Demokratisierung des Wissens durch Diderots Encyclopedie. Der Ursprung des Informationszeitalters kann mit dieser Rahmung auf die Geburt der Aufklärung selbst verschoben werden, bedingt aber folglich auch dessen Schattenseite der humanistischen Trennung in Rational und Irrational, Geist und Körper, Mensch (Kultur/Technik) und Natur, und damit auch die Dualität des westlich-bürgerlichen Menschens als zentrale Iteration des liberalen Subjekts und der Gegenfolie im Format der nichtganz-menschlichen Kolonialbevölkerung. In diesem Sinne ist bereits hier eine Vorstellung von Digitalität angelegt – und zwar als binäre Ausdifferenzierung zweier gegensätzlicher Entitäten (Passig/Scholz 2015). In einem letzten Moment soll die Demokratisierung des Internets um die 1990er Jahre zeigen, wie sich eben diese Logik erneut in zeitgenössische technologische Infrastrukturen einschreibt und somit die Fiktion der universellen Faktizität als reartikulierte Evidenz und »eigene Wahrheit« des weißen Mannes produziert – und damit wegbereitend für ahistorsiche und affektive Ausdrücke der vermeintlichen Präkarisierung, wie sie die neue Rechte vorträgt, fungiert. Die achronologische Erzählung entspricht einer medienwissenschaftlichen Teleologie, die den Digitalcomputer und mit ihm die Geburt der Kybernetik als Ausgangspunkt der Digitalität nimmt. Eben dieser Ausgangspunkt soll aber erweitert werden, um das Widerkehren aufklärerischer Utopien in dem Moment der Demokratisierung des Internets als problematische Reartikulation universalistischer Ansprüche an das Faktische zu situieren.
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Prädiktive Menschen Der Aufstieg des sogenannten Informationszeitalters ist spätestens seit dem neuen Jahrtausend unmittelbar mit der Domestizierung des Internets als symbolischer Platzhalter für den Begriff der Digitalisierung verbunden. Mit Manuel Castells dreiteiliger Publikation »The Information Age« (1996, 1997, 1998) und der damit verbundene »Aufstieg der Netzwerkgesellschaft«, den der erste Band der Serie verkündet, ist der Begriff mit den Hoffnungen einer rationalen und partizipativen Demokratie verknüpft, die sich im 21. Jahrhundert global aufspannen würde2 . Neue technologische Infrastrukturen erlauben demnach nicht nur die endlose Partizipation von zuvor am Weltgeschehen unbeteiligten Bürger*innen unterschiedlichster Verortungen, diese vermeintliche Demokratisierung führe auch zu einer Globalisierung eines einheitlichen und faktischen Wissenskorpus, auf den nicht nur alle zugreifen, sondern zu dem auch alle beitragen können. Wie das Framing des Arabischen Frühlings als »Twitter Revolution« suggerierte, werden Ursprünge rationalisierender und demokratisierender Prozesse auf die mediale Infrastruktur ausgelagert, vor allem, wenn diese zum Sprachrohr nicht-westlicher bzw. nicht-hegemonialer Stimmen wurden. Während zunächst westliche Medienöffentlichkeiten, also ein »mehr« an Demokratisierung durch digitale Wissenskulturen ebenfalls auf die »sozialen« Medien schieben konnten – »Twitter« Revolutionen und »Facebook« Aufstände, die als rationales Aufbegehren gegen irrationale Tyrannei gedeutet wurden – wurde jedoch mit zunehmender Normalisierung des Web 2.0 auch das »soziale« aus den Wissenskulturen des Netzes gestrichen (Chun 2016). Dabei ist zweifelhaft, ob Aufstand oder Barbarei im Netz wirklich folgen des Digitalen selbst sind. Denn die vermeintlich neuen Medien sind nicht neu, und waren es auch zu dem Zeitpunkt nicht, als sie als solche deklariert wurden (Passig/Scholz 2015; Chun 2015). Stattdessen wird die politische Errungenschaft, Wissen als situiert zu erkennen, sowie der Multiplizität von epistemologischen Interessen, durch das Versprechen der Innovation – als Steigerung der Ratio und Faktizität – durch »neue« Medien erneut negiert. Damit wird auch dessen kritisches Potential zugunsten eines positivistischen Verständnisses von Wissen unterlaufen – beispielsweise, wenn Algorithmen als reine Mathematik diskursiv entpolitisiert werden. Die Verschiebung von einer Ökonomie des Wissens zum sogenannten Informationszeitalter begünstigt die erneute Essentialisierung der Ratio, bedenkt man, dass Claude Shannon und Norbert Wiener diese einst als Entität identifizierten, welche sich
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Dabei ist Castells’ Urteil der Netzwerkgesellschaft deutlich ambivalenter, als es die Rezeption vermuten lässt. Das zunächst eher deskriptive Werk wird als utopisches Potential verstanden, was u.a. an der Aneignung einiger seiner Begriffe in linker politischer Theorie liegen könnte. Beispielsweise wird die Multitude vermeintlich wegen der Netzwerkgesellschaft realisiert, wie Hardt und Negri 2005 noch optimistisch deklarieren.
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distinktiv von den Substraten unterscheidet, die sie tragen – Information als Inhalt, ist demnach gleichbleibend, irrelevant von der Erscheinungsform, in der sie vorgetragen wird (Hayles 1999). Dabei verschwinden jedoch immer wieder auch die Zusammenhänge zwischen uneindeutigen, relationalen und situierten Perspektiven und einer vermeintlich neutralen infrastrukturellen oder auch körperlichen Materie, die diese hervorbringt. Der Informatiker Joseph Weizenbaum beschrieb diese Suche nach technologischer Faktenvermittlung als Absurdität: »Die bloße Idee einer linguistischen Botschaft außerhalb jedes Kontextes und ohne jede Absicht ist eine Absurdität. Die Idee, eine Botschaft könne eine Bedeutung haben, ohne da[ss] ein potentieller Empfänger existiere, der sie entschlüsseln kann, ist ebenso absurd«. (Weizenbaum 2001: 38) Es stellt sich also die Frage nach der Verbindung zwischen Körper und Wissen, welche sich historisch als eine zentrale Frage der Kybernetik denken lässt. Die Erzählung der Kybernetik entwickelte in den Nachkriegsjahren Analogien zwischen dem Computer und dem neuronalen Nervensystem, sie beeinflusste Disziplinen wie Mathematik, Psychologie, Biologie, Medizin, Management und Robotik. In den 1940er Jahren prägte Norbert Wiener mit seiner Erfindung des »Anti-AircraftPredictors« den Begriff als Theorie des systematischen und an Informationsprozesse gebundenen Handelns (Wiener 1948). Zunächst war seine Maschine noch situiert: Der AA-Predictor sollte eingesetzt werden, um angreifende Kampfflugzeuge der Deutschen Luftwaffe abzuwehren und sagte in diesem spezifischen Szenario die Bewegungen anfliegender Piloten auf wenige Sekunden voraus. Er bestand aus einer Kalkuliermaschine, die den Zickzackflug eines feindlichen Piloten charakterisieren, seine zukünftige Position berechnen und eine Flugabwehrgranate starten sollte, um das Flugzeug an seinem zukünftigen Ort abzuschießen. Doch nach und nach beschrieben diese geschlossenen Handlungssysteme nicht nur die Kampfmaschinen, sondern fusionierten in Wiener’s Schriften Mensch und Maschine – Wiener externalisierte die Prädiktion von Handlungsrationalitäten auf ein allgemeingültiges psychosoziales Feedbacksystem (Galison 1994). Unter dem Begriff der Kybernetik skalierte Wiener die spezifische Situation des AA-Predictors schnell zu einem universellen Menschenbild hoch. Während er dabei einerseits erkannte, dass sich damit Kontrolle und Macht zentralisiert, setzte Wiener auf das Verstehen dieses Universalmenschens, um Demokratisierungsprozesse voranzutreiben. Wie er selbst schreibt: »As we have seen, there are those who hope that the good of a better understanding of man and society which is offered by this new field of work may anticipate and outweigh the incidental contribution we are making to the concentration of power«. (Wiener 1948: 8)
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Technologische Entwicklungen sollten das Verständnis des Menschlichen verbessern und somit automatisch auch der Machtkonzentration entgegenwirken, da menschliche Prozesse berechenbar und damit auch rationaler werden sollten. Ausgehend von der spezifischen Situation des Zweiten Weltkriegs sieht Wiener seine Maschine als erweiterungsfähiges Modell, welches menschliche Gedankenprozesse als Rückkopplungen innerhalb eines geschlossenen Systems begreift, sie also durch ihre vermeintliche Rationalität als prädiktiv greifbar und logisch errechenbar versteht. Hier zeigt sich das Hoffnungsnarrativ auf maschinelle Speicher- und Rechenmedien, sie sollen als externalisiertes menschliches Gehirn fungieren, und somit vorausschauend dessen Handeln kontrollieren, da sie die Schlüsse, zu denen die menschliche Ratio kommen würde, bereits prädiktiv errechnen können (Galison 1994). Dabei wird menschliche Differenz auf problematische Weise ausgeblendet. Der digitale Computer errechnet nicht nur selbstständig Prozesse aus der Vergangenheit, er kann in dieser Vorstellung auch aus diesen Errechnungen Zukunftsprognosen erstellen3 , die nicht nur in Kriegszeiten gesellschaftliche Planbarkeit und damit Kontrolle ermöglichen, sondern darüber hinaus auch über einen errechenbaren faktischen »Konsens« funktionieren. So legitimiert Wiener seine Systemtheorie, die nicht nur auf der modernen Ratio kompletter Ordnung und Errechenbarkeit zukünftiger Prozesse basierte, sondern damit auch den digitalen Computer als Vollendung des bisher unerfüllten modernen Wissensprojekts situiert. »As the AA predictor came to fruition, Wiener came to see it as the articulated prototype for a new understanding of the human-machine relation, one that made soldier, calculator, and fire- power into a single integrated system. His two thousand-odd dollars would be conceptually stretched to blanket the earth.« (Galison 1994: 235) Galisons Lesart positioniert Wieners Kybernetik als Erklärungsmodell, in welches Wiener seine spezifische Situation – die mit limitierten monetären Mitteln errechnete Prädiktion des Verlaufs eines deutschen Kampfjets im Zweiten Weltkrieg – auf das Verhalten der globalen Gesellschaft an sich hochskaliert. Dabei wird die Menschheit nicht nur vereinheitlicht, sondern auch als unveränderlich wahrgenommen bzw. festgeschrieben. Galison zeichnet Kontinuitäten nach, die sich von
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Solche prädiktiven Medien werden heute nicht nur in der Regulierung von Finanzkapital eingesetzt, sondern fungieren bspw. seit 2016 in Polizeidatenbanken zur präemptiven Identifikation von »Gefährdern«, wobei der Begriff bis 2020 noch explizit auf Islamistischen Terror ausgelegt war und demnach nur muslimische Menschen als Gefahr sah. Damit wurde und wird »racial profiling« automatisiert, da als muslimisch gelesene Menschen auf Verdachtsgrundlage bespitzelt und sogar präventiv in Haft genommen werden konnten – also ohne nachweislich eine Straftat begangen zu haben (Zweig 2019; Bröckling 2019).
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kybernetischen Annahmen in die sogenannten »Behavioural Sciences« einschreiben und in Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft verhandelt werden. Des Weiteren zeigt Galison aber auch, wie Wieners Anspruch kompletter Rationalität begleitet wird von Benzedrin-Exzessen, die Wiener in einen ständigen Rauschzustand versetzen (ebd.). Während also Wiener einerseits Rationalität menschlichen Handelns als Voraussetzung für seine Berechnungen fasst, lässt er die ideologische Situation, wie auch chaotische Ungenauigkeiten, die in die Entwicklung dieser Technologien einfließen, außen vor. Wiener’s Externalisierung der Ratio auf den Digitalcomputer muss als Teil eines Prozesses im Laufe des 20. Jahrhunderts gesehen werden, in der die Vereinigten Staaten zur technologischen Weltmacht avancieren und daher mit dieser Zuschreibung auch kulturell als Epizentrum des modernen Menschen produziert werden kann. Diese Verschiebung ist nicht nur von nationalpolitischer Relevanz, sondern reartikuliert gewissermaßen die Legitimation eines Rationalitäts- und damit Technikverständnisses, das mit historischen Gewordenheiten bricht, indem es sich als innovativ präsentiert (Arnold 2005). Die Verschiebung des Innovationsnarrativs in die USA fällt zeitlich mit einem globalen Aufbegehren der ehemaligen Kolonien zusammen, die sich im Zuge einer globalen Dekolonialisierungsbewegung gegen die historische und zeitgenössische Dominanz Europas wenden und Reparationen für Kolonialverbrechen fordern. Wie die Medienwissenschaftlerin Tara McPhersons beschreibt, entsprechen diese Szenen lentikularen Kippbildern, welche mühsam separiert wurden, und nun nur schwer zusammengedacht werden können, obwohl sie einen epistemologischen Kern teilen und somit stark voneinander abhängig sind (McPherson 2010). Zusammen gelesen rütteln diese Ereignisse an dem Selbstbild Europas als fortschrittliches Zentrum rationaler Episteme, das Bild, welches in den Jahrhunderten zuvor auch die Kolonialisierung als Zivilisierungsmission gestalten konnte. Dies mag zunächst nach einer für Europa unglücklichen Entwicklung aussehen, hat aber zumindest mit Hinblick auf die sich langsam formierenden Forderungen nach Dekolonialisierung einen stabilisierenden Effekt. Hatte zuvor Europa sich mit modernen Innovationen wie Eisenbahnen und Gaitlin-Geschützen gerühmt, konnte es sich im Zuge des antikolonialen Aufbegehrens zur Mitte des Jahrhunderts von der problematischen Zwangsarbeit distanzieren, die ebendiese auf Kosten der menschlichen und umweltlichen Ressourcen der ehemaligen Kolonien hervorgebracht hatte; zumindest wird der Kolonialismus zeitgleich und bis zur Jahrtausendwende hin zunehmend als mit all seinen Konsequenzen beendetes Projekt artikuliert (Lentin/Titley 2011). Als nun nicht mehr primär treibende Kraft der Innovation, lagen nun auch die gewaltsamen Praktiken der kolonialen Zwangsarbeit, die diese Innovationen erst ermöglichten (Yusoff 2018), vermeintlich der Vergangenheit an. Währenddessen können die technologischen Innovationen Nordamerikas als neu und ahistorisch produziert werden, also ebenfalls neutral oder gar unschul-
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dig und eben nicht auf kolonialen Zwangsverhältnissen aufbauend – gewinnt doch nicht ohne Grund der Begriff des amerikanischen Exzeptionalismus zu dieser Zeit an Geläufigkeit (Cross 1995). Mit der Digitalisierung des Computers geht also einher, was selten zusammengedacht wird – die Vereinigten Staaten Amerikas situieren sich als andersartig gegenüber anderer Siedlungskolonialismen, indem Europa als Modernisierungsantrieb in die Vergangenheit versetzt wird. Während Europa also als das alte Zentrum eines untergegangenen Imperialismus gilt, kann dieser Bruch auch eine Zäsur in die Kontinuität technischer Imaginäre einführen: die USA kann sich durch neue technische Errungenschaften – eingesetzt zunächst u.a. gegen den Nationalsozialismus als Anführer der sogenannten freien Welt etablieren. Da der Computer als Technik im Einsatz gegen den Nazi-Feind bekannt wird, sich als emanzipatorische Maschine materialisiert, gewinnt er gemeinsam mit weiteren technischen Innovationen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis auf wenige Ausnahmen utopische Zuschreibungen, die sie vermeintlich durch partizipatorische aber auch rationale und informative Funktionen erfüllen sollen4 . Dabei rekurrieren die als kybernetisch zu lesenden Hoffnungen auf den vorhergehenden aufklärerischen Elementen der Trennung von Körper und Geist und lokalisieren eben diesen Geist innerhalb der geschlossenen mechanischen Systeme. Nicht der Körper wird von kybernetischen Systemen reproduziert, sondern der Geist dessen, was den Menschen ausmachen soll (Weizenbaum 2001). Hier zeigt sich auch die Differenz zu einem kritischen Posthumanismus, der eine Resituierung des Körpers durch Technologien erfährt und auf veränderte Materie verweist, welche verändertes Bewusstsein mitgestalten könne (Haraway 1985). Im Gegensatz dazu wird durch die Kybernetik eine Entkörperlichung vollzogen, welche suggeriert, dass Wissen sprecher*innenunabhängig und universell dargelegt werden kann, dass also nicht der Container des Wissens zählt, sondern der Inhalt selbst unabhängig von dem verkörperlichten Träger gleichbleibend ist. Dass dabei erneut die westlich-männlich-bourgeoise Spezifizität dieser Mathematiker in die fortan als »Behavioural Sciences« benannten kognitiven Universalismen eingeschrieben wird, kehrt später wie selbstverständlich in die vermeintliche Körperlosigkeit des Internets ein. Bevor es aber zu einer Aktualisierung dieses soziotechnischen Moments kommt, soll die Gleichzeitigkeit der antikolonialen Aufstände und die Aufrufe zur Rationalität, die sich
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Beispielsweise weist Berthold Brecht auf das emanzipatorische Potential des Radios hin, Hans Magnus Enzensberger baut sich einen theoretischen Baukasten zur emanzipatorischen Mediennutzung durch Partizipation und Marshall McLuhan sieht die Printmedien als Technik, durch die die Welt näher zusammenrückt. Dabei werden die Existenz widersprüchlicher und hierarchischer Wissensordnungen ignoriert, die in ebendiesen kommunikativen Medienökologien entweder einfließen oder durch weiße, männliche, bürgerliche Gatekeeperschaft ausgeschlossen und als Wissen diskreditiert werden.
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in die Errechenbarkeit allgemeingültiger Handlungsprozesse einschreiben, in der Ideologie der Aufklärung verankert werden. Ein Blick auf das »Einleitungskapitel der [französischen] Revolution« (Robespierre zit.n. Weibel 2005) – auf Denis Diderot’s Encyclopedie, gelesen als technisches Artefakt seiner Zeit, zeigt nicht nur die Kontingenz des Narrativs der Demokratisierung durch Externalisierung (und damit Festschreibung) von Wissen, sondern auch wie solche Entwicklungen sich in eine moderne Vorstellung rationalem und faktischem Wissens einschreiben, die über die Externalisierung der Barbarei in die Körper un/an/geeigneter Anderen funktioniert.
Eine Digitale Moderne? Der Zusammenhang zwischen Kategorisierung und Hierarchisierung ergibt sich über den Begriff der Digitalität, welcher sich etymologisch aus der eindeutigen und binären Produktion von Unterschieden speist, und somit bereits als in der Aufklärung begründete Ideologie der Verkürzung und Kategorisierung verstanden werden muss. Denn etymologisch gesehen bedeutet digital nicht mehr, als eine Serie aus Werten, die die Vervielfachung einer diskreten Einheit bedeuten, der Zahl 1. Kathrin Passig und Aleks Scholz erklären sich den Unterschied zwischen digital und analog anhand von der Unterbrechung eines fließenden (sprich: analogen) Signals. Digitalität beschreibt dann das Erkennen von Mustern und das Unterteilen von Kontinuitäten in diskrete Einheiten. Sie nutzen dafür das Beispiel einer Hand. Die Hand hat fünf Finger, jeder Finger repräsentiert einen digitalen Wert. Dazwischen ist nichts – Digitalität, das bedeutet entweder 0, 1, oder dessen Variation – also 2, 3, 8, 10 usw. Während die analoge Welt aus Spektren und Varianzen besteht, reduziert Digitalität diese in kompakte Kategorien, zwischen denen es keine Überschneidungen gibt (Passig/Scholz 2015). Begreift man Digitalität also in der ursprünglichen Funktion der Kategorisierung (zwischen Wert und Nicht-Wert, aber auch zwischen Wert und dessen Variation), gliedert sich der Begriff in die Ideologie der Moderne ein, und dessen Produktion eines Informationskatalogs über menschliche Unterschiede. Die Aufklärung war maßgebend für einen binären Kategorisierungsprozess, welcher vitale Materie in menschliche und nicht-menschliche, also in Mensch und Tier, in Geist und Körper, und auch in Rationalität und Irrationalität verzweigte. Damit ist auch Digitalität, als System der binären Kategorisierung von Beginn an in den modernen Staatsapparat, der die Macht nach Gottes Gnaden ablöst, eingebunden. Allen Feldman (2016) fasst diesen Prozess anhand von Thomas Hobbes »Leviathan« als bereits technisch-digital auf. Das Titelbild, eine Darstellung von Leviathan als monströser Souverän, wird bei Feldman zum Interface: Der darauf abgebildete Souverän ist ein Kompositwerk, das den Souverän aus vielen einzelnen anonymisierten Kör-
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pern zusammensetzt. Während Individuen also einerseits präsent und identifizierbar sind, als Einzelteile des totalitären Konstrukts Staat sind sie im Leviathan nur als Skizze des Menschlichen sichtbar. Die Multitude, so unterschiedlich sie sich in Theorie auch zusammensetzt, wird in Feldman’s Lesart nur durch den Souverän sprachfähig, und jegliche Differenzen in einem Monohumanismus nivelliert, beschreibt doch Hobbes selbst Leviathan als »artificial man«, als »automaton«, einem mechanischen Apparat (Feldman 2016). Die Artifizialität des Leviathans beschützt den Menschen vor seinem vermeintlich barbarischen Naturzustand, aber auch vor denen, die als Anders identifiziert der Barbarei (der Nähe zu eben diesem Naturzustand) zugeordnet werden. Dabei wird Leviathan als Notwendigkeit entworfen, um auf die zeitgleich geschehenden Aufstände gegen das Kolonialregime zu antworten – der von Hobbes beschriebene »Naturzustand« der Barbarei entsteht aus der prekären Situation der Sklav*innen und Kolonialisierten (Därmann 2020). So in etwa beschreibt auch Edward Said die koloniale Rechtfertigung der Gewalt gegen nicht-weiße und kolonisierte Bevölkerungsgruppen, indem sie als Gegenfolie den westlich-weißen Bürger erst hervorbringen, weil sie alles symbolisieren, was er vermeintlich hinter sich gelassen hat (Said 1978). Die Reduktion menschlicher Vielfalt zu einem monohumanistischen Ideal des Leviathans deckt sich demnach nicht nur mit orientalistischer Ideologie, sondern auch mit einer Einordnung des menschlichen nach Praktiken und Handlungen, die nach binärem Modell biologisiert und damit essentialisiert werden5 . Die Analyse Feldmans überzeugt vor allem, wenn sie auf ein weiteres fundamentales Werk der Aufklärung angewendet wird, auf Denis Diderots Encyclopedie. Mit Peter Weibel muss diese umso mehr als technisches Werk verstanden werden, denn ihr Ziel ist es, machinae, die mechanischen Künste zu einer Produktionsstätte der Faktizität, wie sie zuvor nur der Philosophie zugesprochen wurde, zu erheben: »Diderot suchte nach einem systematischen Verständnis der mechanischen Künste und verlangte eine Diffusion der Künste, die Integration der mechanischen Künste mit den freien Künsten und der Wissenschaft […] Die Veränderung und Verbesserung der Gesellschaft erhofft er sich vorallem [sic!] durch verbreitete Kenntnisse der mechanischen Künste […] Die Kenntnisse der mechanischen Künste würden zu einer rationalen und gerechten Gesellschaft führen, so wie wir heute hoffen, sie in modernen Medienkünsten und Medientechnologien wie dem Internet zu finden.« (Weibel 2005: 9)
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Dies entspricht im hohen Maße den heute eingesetzten digitalen Empfehlungssystemen, welche über algorithmische Identifikation die virtuellen Präferenzen einzelner Nutzer*innern in sogenannte digitale Nachbarschaften gruppiert, wobei wie Wendy Chun (2016) zeigt, diese Nachbarschaften nicht mehr als die Reifizierung von Kategorien von Rasse, Klasse und Geschlecht bedeuten.
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Dabei agiert die Encyclopedie gewissermaßen performativ, sie ist selbst eine Systematisierung und Kategorisierung von Wissen nach binärer Logik und somit Teil der machinae. Die »mechanischen Künste« (ebd.) werden an dieser Stelle also unmittelbar sowohl mit Wissensproduktion, wie auch mit einem Emanzipations- und Fortschrittsglauben verknüpft. Die Encyclopedie als Nachschlagewerk, in dem Wissen kategorisch festgeschrieben, also gewissermaßen als eindeutig essentialisiert wird, zirkuliert dieses Wissen mit großem Erfolg in der bürgerlichen Gesellschaft. Was von Weibel mit Robespierre als »Einleitungskapitel der Revolution« und »bedeutendste[s] publizistisches Unternehmen der französischen Aufklärung« (ebd.) beschrieben wird, führt auch zur Festschreibung der westlichen Dominanz und der Hierarchisierung nach Rasse, Klasse und Geschlecht6 als objektives Wissen in den Metropolen, wie auch den Kolonien, wo Nummerierung, Kategorisierung und Identifizierung von Kolonisierten explizit als Herrschaftssystem fungieren (Appadurai 1993; Bayly 1996; Zimmerer 2001). Gerade das botanische und Darwinistische Prinzip der Unterscheidung der Arten wird hier auf Menschen übertragen und in der Encyclopedie festgehalten. Durch ihre Festschreibung bestimmter Kategorisierungen wird die Hierarchisierung von Menschen als Fakt in die Gesellschaft getragen und als Wissen reproduziert. Mit Weibels Perspektive sind diese Praktiken selbst als techno-soziale Prozesse des Wissens zu deuten, welche in die Entwicklung neuer technologischer Objekte eingeschrieben wird. Die Entwicklung mechanischen Wissens und somit neuer Technologien ist so mit einem Wissen über Körper, als performatives »making up of people« (Hacking 1986) eng verwoben. Dabei wird den kolonisierten Bevölkerungen eben dieser Prozess der »Rationalisierung« abgesprochen, werden sie doch aktiv von den Kategorisierungsvorhaben als Deutende ausgeschlossen und tauchen fortan nur als zu kategorisierende »Objekte« in einer hierarchischen Skala des Menschlichen auf (Zimmerer 2001; Mosse 2006). Folglich wird auch dem Körperlichen an sich die Fähigkeit zum Wissen abgesprochen, während »Wissende« fortan hinter der Encyclopedie entkörperlicht werden. Wichtig ist dabei, dass die jeweiligen technologischen Objekte die dokumentierten Körper nicht nur beschreiben, sondern ihre Realität produzieren und durch eine Auslagerung dieser produzierten Informationen objektifizieren: indem es wortwörtlich in die Objekte eingeschrieben wird, vermittelt das dokumentierte Wissen über Körper Objektivität, da es materiell festgeschrieben über das Leben des Körperlichen hinaus zirkulieren kann. Gleichzeitig wird Wissen so von der fleischlichen Körperlichkeit
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Darüber hinaus wird, wie Kathrin Yusoff (2018) beschreibt, die materielle Grundlage für die Revolution de facto von der Sklavenarbeit selbst geschaffen. Ohne die Zwangsarbeit wäre ihres Erachtens weder die industrielle Revolution noch die materiellen Voraussetzungen des bürgerlichen Aufbegehrens möglich gewesen.
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abgetrennt, und der Dualismus zwischen Körper und Geist wird zur fundierten Prämisse der modernen Wissensökologie.
Digitale Epistemologien: Das Ende der Materialität? Es ist diese moderne Wissensökologie, die sich in Projektionen auf das Internet als Neuheit reartikuliert. Im Jahr 1996 schreibt John Perry Barlow, Gründer der Electronic Frontier Foundation und bis heute gerühmter Internetaktivist sein Manifest gegen die zunehmende Regulierung des Internets, gegen den US Telecommunications Act. Die »Declaration of Independence of Cyberspace« wurde in dieser Zeit ubiquitär verbreitet und galt fortan als grundlegendes Manifest der Internet-Boheme, vermutlich bis zu den Technikutopist*innen von heute. Barlows Streitschrift stellt sich grundlegend gegen nationalstaatliche Regulation und präsentiert das Internet als neuen, ahistorischen Raum, der nach rational-demokratischen Regeln »natürlich« Teilhabe ermöglicht: »Governments of the Industrial World, you weary giants of flesh and steel, I come from Cyberspace, the new home of Mind. On behalf of the future, I ask you of the past to leave us alone. You are not welcome among us. You have no sovereignty where we gather […] Our identities have no bodies, so, unlike you, we cannot obtain order by physical coercion. We believe that from ethics, enlightened self-interest, and the commonwealth, our governance will emerge.« (Barlow 1996 o.S.) Bei dem Versuch, die »Fremdherrschaft« des Internets durch staatliche Regulierung zu vereiteln (»You wary giants of flesh and steel«), stellt Barlow die Hacker der neunziger Jahre als radikalen Widerstand gegen Regierungen dar, die die Zustimmung zu übergriffigen Regulierungen »weder erbeten noch erhalten« (ebd.; eig. Übersetzung) haben. Die verwendeten Sinnbilder des »Final Frontiers« als absolut neuem Ort, der sich als Heimat für den Geist anbietet, ist in einer dekolonialen Lesart eine problematische Aneignung und Umdeutung historischer Gewordenheiten (ebd.). Zunächst scheint es so, als würde Barlow mit dem Stereotyp der zu erobernden Materie durch den Geist im Sinne der kolonialen Zivilisierungsmission brechen, sind die »indigenen« dieses neuen Ortes schließlich selbst lediglich Geist und die alte Staatsmacht das müde Fleisch, der unbiegsame Stahl. Damit stilisiert Barlow jedoch die weiße, männliche Hackerkultur des Silicon Valley der 1990er Jahre zu denjenigen, die sich vor der staatlichen (und in dieser Lesart imperialistischen) Übernahme wehren. Das heutige Silicon Valley – als zentraler Ort der materiellen Internetinfrastruktur – liegt jedoch auf dem Gebiet der Ohlone, die ab 1840 dem Amerikanischen Siedlungskolonialismus zum Opfer fielen, der laut Keith Spencer die Bay Area zum »Schauplatz einer der niederträchtigsten und brutalsten Menschenjagd
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der Zivilisation machte« (Spencer 2018: 33; eig. Übersetzung). Durch die vermeintlich immaterielle Infrastruktur des World Wide Webs kann Barlow die materielle Geschichte der Kolonisierung der San Francisco Bay Area und damit einhergehenden Enteignung nordamerikanischer Ureinwohner*innen ausblenden. Barlows Plädoyer für Souveränität und Selbstverwaltung gilt demnach selektiv den (weißen und männlichen) Subjekten, die nach dieser Gewaltgeschichte ab den 1950er Jahren das Silicon Valley zur materiellen Verortung des vermeintlich gewaltfreien Internets machten.7 Barlow erhebt das Internetsubjekt zu dem entkörperlichten Symbol eines universellen und rationalen Freiheitsbestrebens, während gleichzeitig die weiße und männliche Hackeridentität des Silicon Valley mit dem Schicksal der gewaltsam unterjochten, gefolterten und getöteten kolonisierten Bevölkerung diskursiv gleichgesetzt wird. Darüber hinaus hat die Darstellung des Internets als Raum ohne Materie auch für die zeitgenössischen Subjekte, die darin verkehren, verheerende Effekte. Durch die Fokussierung auf eine Kommunikation »von Geist zu Geist« (Barlow 1996) wird Körperlichkeit im Allgemeinen erneut abgewertet: Das Internet wird durch die vermeintliche Immaterialität zum Ort, wo körperliche Diskriminierung verschwindet, weil Körper verschwinden und Menschen rational und ohne die »Behinderung« körperlicher Fehlerhaftigkeit kommunizieren können. Somit ist auch die historische Gewordenheit von Ungleichheiten sprachlich nivelliert, Barlow setzt voraus, dass Gewalt verschwindet, wenn sichtbare Unterschiede, bzw. die Container des hier als geistig gefassten Subjekts verschwinden. Der Ursprung von Rassismus, Sexismus usw. wird sprachlich in der materiellen Körperlichkeit verortet, nicht in der historischen Gewalt, die sich ideologisch in rassistischen und sexistischen Individuen manifestiert. Diskriminierung, so die Logik, erfährt man, weil man anders ist (aus einem Körper spricht), nicht weil es Rassisten und Sexisten gibt, oder eine historisch gewordene Hierarchisierung von Körpern. Anders gesagt: Das Problem der Diskriminierung wird im Sinne einer Opferbeschuldigung umgekehrt – die Präsenz oder Sichtbarkeit schwarzer/weiblicher Körper, eben der un/an/geeigneten Anderen ist das Problem, nicht die Rassisten und Sexisten, die diesen gewaltsam 7
Ebenfalls verweist z.B. Donna Haraway bereits 1985 darauf, dass die elektronischen Infrastrukturen überwiegend durch die prekäre Arbeit indigener und nicht-weißer Frauen entstehen. Wie auch Lisa Nakamura mit Hinblick auf die Texte von Haraway und anderen schreibt: »the ›nimble fingers‹ phrase was applied to Latino women working in maquiladoras for RCA and other electronics firms, including Fairchild. According to Karen Hossfeld, by the eighties in Silicon Valley, electronic assembly had become not just women’s work but women of color’s work« (Nakamura 2014: 920). Nakamura’s Analyse ist sogar noch schärfer, indem sie suggeriert, dass der Aufbau der Internet Infrastrukturen in den 60er Jahren durch indigene Frauen als »colonialism in reverse« (ebd.: 931) verstanden wurde, da die Erbauung elektronischer Netzwerke als verlängerter und technologisierter Arm traditioneller Webpraktiken verstanden wurde.
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wie epistemisch ausgrenzen. In seinem Aufbegehren gegen staatliche Regulierungen verklärt Barlow nicht nur die Gewalt des Kolonialismus, sondern wiederholt die moderne Annahme der westlichen Abkehr von der Barbarei durch eine Zuwendung zum Geistigen, die Immanuel Kant erstmals beschworen hatte: dass der Mensch als rationales Wesen eine besondere Fähigkeit zu Moral und Intelligenz besitze und daher geneigt sei, so zu handeln, dass – wie Kant es ausdrückt – die Maximen dieser Handlungen zum universellen Gesetz werden können. Dies spiegelt sich in Barlows »Goldene Regel« (Barlow 1996), nach der keine Regulierung des Internets notwendig wäre, weil alle so miteinander umgingen, wie sie selbst gerne behandelt würden. Dabei vernachlässigt Barlow, wie auch vor ihm Wiener, Hobbes, oder Kant, dass diese menschlichen Fähigkeiten eben nur weißen, westlichen Männern (als entkörperlichter Geist) zugesprochen wurden und eben nicht für die von vornerein als Andersartige konstruierten gilt, sie also sowohl als rational Handelnde, wie auch Opfer von westlicher (»rationaler«) Gewalt von diesen propagierten Regeln ausgeschlossen sind und auf diesen Ausschluss potentiell reagieren (Därmann 2020; Wynter 2003). In der Tat lassen sich trotz vermeintlicher Rationalität und Aufgeklärtheit der Nutzer*innen bereits vor 1996 rassistische und sexistische Übergriffe im Internet feststellen. Prominentestes Beispiel dafür ist die erste dokumentierte Vergewaltigung im Cyberspace, welche der Journalist Julian Dibbel 1993 für die »Außenwelt« nacherzählend dokumentierte. Wie sich später herausstellte, war es ein weißer NYU College Student, der gezielt als weiblich oder queer und indigen markierte Avatare angegriffen und sie durch einen Hack gezwungen hatte, sexuelle und erniedrigende Handlungen aneinander auszuführen. Dass dieser Artikel Dibbel zu einer Position an der Stanford Law School verhalf (Gelman 2002) ist ein Indiz dafür, dass auch Barlow von diesen und anderen Vorkommnissen hätte hören können. Doch der Verstoß gegen die »Golden Rule«, der bereits vor der Publikation des Manifests bekannt wurde, findet in Barlows Überlegungen nicht statt. In dieser Perspektive erschließt sich Chuns (2016) Erläuterung, dass sich Barlows Position nicht mit Naivität oder gar als aktivistische Gegenposition zu aufkommenden Geschäftsmodellen des Internets erklären lässt. Wie Chun mit einer frühen Werbung des Internetanbieters MCI belegt, positioniert sich Barlow dem Geschäftsmodell gegenüber nicht oppositionell, sondern vielmehr in Übereinstimmung mit dessen libertärer Marktlogik. Die Unabhängigkeitserklärung des Internets ist somit keineswegs auf soziale Gerechtigkeit oder Rationalität ausgelegt, sondern propagiert vielmehr die Produktion von Wissen als eine neoliberale Durchdringung des Marktes durch die Globalisierung von Konsumangeboten.
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Schluss: Das Immergleiche des Faktischen? Die drei beschriebenen Momente sind selbstverständlich nicht nahtlos kontingent, und doch sind sie insofern in Beziehung zu setzen, dass sich die lentikulare Logik, die Rationalität auslagert mit dem Effekt, politische Begehren zu delegitimieren, in technologische Umbruchsituationen wiederholt einschreibt. So ist wiederkehrend zu beobachten, wie Objektivität und Rationalität, und folglich auch Faktizität, als Evidenz in technologisch-mechanische Objekte eingeschrieben, gar vorausgesetzt wird. Dabei werden emotionale, subjektive oder auch verkörperlichte Zustände und Ansprüche in einer binären Logik dem Irrationalen zugeschrieben und als Wissensformationen delegitimiert, allerdings nur, wenn sie bei als Anders gelesenen Körpern auftreten. Dem Faktischen ist also das Subjekt gewissermaßen vorrangig, auch wenn es sich in Universalität auflöst. Während die eigentliche Irrationalität, beispielsweise von Verschwörungstheoretiker*innen und konservativ bis rechter Medien behutsam ausdiskutiert wird, besetzt öffentliche Kritik nicht-weißer, nicht-heterosexueller oder nicht-männlicher Menschen in der Lesart der Mehrheitsgesellschaft schnell das Feld der subjektiven Unvernunft. Gleichzeitig werden ähnlich irrationale Sprechakte aus hegemonialer Position auf sozialen Medien nicht nur weniger geahndet, sondern auch noch schneller reproduziert, da sie von automatisierten Algorithmen als common sense erlernt werden (Angwin 2017). Dabei wird wieder das moderne Subjekt in monohumanistischem Verständnis angesprochen, als rational, bürgerlich, westlich, weiß – und Wissen bereits durch diese vermeintlich neutrale Subjektposition präemptiv legitimiert. Affektive, irrationale, emotionale Tendenzen in diesen normativen Sprechakten werden ignoriert, oder als harmlos abgetan, als missgeleiteter Ausdruck einer schlussendlich ernstzunehmenden Sorge. Doch mit der hier aufgeführten Politisierung dieser Trennungen zwischen Ratio und Irrationalität, und damit einhergehende historische Dichotomien von Körper/Geist, Frau/Mann, Evidenz/Uneindeutigkeit lassen sich ebendiese auch in Frage stellen. So lässt sich auf die heutige Situation in den sozialen Netzwerken die Frage stellen, ob diese tatsächlich zu einer affektiven Emotionalisierung führen, oder ob sie nicht ebendiese als schon immer treibend für politische Diskurse und Aushandlungen von Wissen und Macht offenbaren – der politische Diskurs selbst also die Omnipräsenz von Affektivität und Situiertheit anerkennen sollte. Dabei werden Identitäten, Körper, Subjekte ebenfalls nicht als »rein« oder »erhaben« hochstilisiert, sondern können sich im Sinne eines kritischen Posthumanismus als fehlerhaft und in soziotechnische Systeme eingebunden erfahren (Haraway 1985). Dabei spielen Medienökologien, innerhalb derer »Wissen« produziert wird für die Situierung dieses Wissens, eine Rolle, aber eben nicht als komplett abgetrennt von körperlichen Bedingtheiten, sondern von diesen koproduziert. So würden nicht nur subjektive und als strukturell anerkannte Erfahrungen marginalisierter un/an/ge-
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eigneter Anderer politische Legitimität erfahren, die unmarkierte, aber ebenso affektive Position westlich-weißer Ratio würde in ihrer Situiertheit keinen alleinigen Anspruch auf das Faktische mehr haben, noch könnte die neue Rechte durch die Verzerrung und Enthistorisierung von Identitätspolitik autoritäre gefühlte Wahrheiten als Ansprüche geltend machen. Die zeitgenössischen Debatten um Desinformation durch digitale Infrastrukturen lassen sich demnach als Kampf um Deutungshoheit in einem rekalibrierten Feld mit verschiedenen Wissensakteuren formulieren – reaktionäre weiße Männer wehren sich gegen die Destabilisierung ihrer historisch gewordenen Hegemonie. Wahrheiten ergeben sich so aus Lesarten, Interpretationen und rhetorischen Situierungen, die durch Macht legitimiert sind, in digitalen Umgebungen genauso wie in vorhergehenden Infrastrukturen der Wissensproduktion. Es gilt, ebendiese Situiertheit immer wieder erkenntlich zu machen, sodass die vermeintliche Krise der Faktizität nicht als Neuheit, sondern als oftmals reaktionäres Aufbegehren gegen die Partizipation un/an/geeigneter Anderer am Wissensdiskurs begriffen werden kann. Dabei ist eindeutig zwischen historisch gewordenen und materiell bedingten Subjekterfahrungen der Unterdrückung und reaktionärer, ahistorischer Affektivität, die sich als Universalzustand (das Ende der Meinungsfreiheit, die absolute Subjektivierung, Genderwahn) ausgibt, zu unterscheiden.
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Körperbilder als politisches Steuerungsmittel? Kritische Re-/Lektüre cyberfeministischer Konzepte aus pädagogisch-anthropologischer Perspektive Ann-Kathrin Stoltenhoff
Einleitung Das Wesen des Menschen stand zu allen Zeiten und immer wieder neu zur Debatte – und mit diesem die Bilder und Beschreibungen, die das genuin Menschliche zum Ausdruck und, als Vor- oder Zerrbild, zur Anschauung bringen sollten. Wirft man einen Blick auf die westliche Populär- und Hochkultur, so wird diese seit Jahrhunderten von menschenähnlichen Wesen bevölkert. Dazu gehören die Doppelgänger aus E.T.A. Hoffmanns Erzählungen, Vampire und andere Untote, mit Krankheiten infizierte oder von Geistern besessene Menschen aber auch Hybride aus MenschTier, Mensch-Maschine oder vollständig künstlich hergestellte menschenähnliche Wesen wie androide Roboter.1 Insbesondere die Genres Horror (Wells 2000), Fantasy und Science-Fiction zeugen davon. Mehr oder weniger menschliche Gestalten aus Kunst, Literatur und Film – inspiriert durch Mythen, Märchen und religiöse Erzählungen – bilden also »[…] immer schon einen Teil des kollektiven Gedächtnisses« (Schenk/Karcher 2018: 11). Sie prägen unsere Wahrnehmung von Anderen und uns selbst. Zu diesem Reigen von Figuren gehören der Golem der jüdischen Mythologie oder die Galathea aus Ovids Metamorphosen. Der Mythos von Pygmalion und Galathea erzählt die Geschichte des von Frauen enttäuschten Künstlers Pygmalion, der sich in die von ihm selbst geschaffene Skulptur einer Frau verliebt, die durch die Macht der Göttin Venus lebendig wird. Das Motiv wurde zu einem zentralen Gegenstand der Literatur und der Kunst. Es ist außerdem die Vorlage für das Musical »My fair Lady« und inspirierte den Roman »Galatea 2.2« (Powers 1995). Darin entwickeln ein Kybernetiker und ein Schriftsteller einen Supercomputer, welcher Methoden der literarischen Interpretation erlernen soll. Powers Texte widmen sich 1
Dies umfasst auch Aliens also außerirdische Lebensformen, die in der Populärkultur ähnliche Funktionen erfüllen wie Androiden oder abjekte Wesen: in der Begegnung mit ihnen wird über das Wesen des Menschen, Menschlichkeit und die Menschheit als solche verhandelt.
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stets Fragen der menschlichen Identität im Kontext von Kybernetik, Robotik, Genforschung oder Reproduktionsmedizin. Sie stehen für eine kritische Auseinandersetzung mit den Ideen des Transhumanismus. Viele der unheimlichen Doppelgänger oder Gegenbilder des Menschen können als dessen eigene, abjekte Version identifiziert werden, die all jene Anteile verkörpert, die das rationale Subjekt der Aufklärung im Zuge seiner Ich-Bildung abgespalten hat.2 Fragen nach dem Wesen des Menschen, die in Pädagogik und Erziehungswissenschaft und insbesondere der pädagogischen Anthropologie von zentraler Bedeutung sind, müssen deshalb nicht erst im Anschluss an postmoderne Kränkungen des autonomen Subjekts durch Vertreter*innen des Poststrukturalismus (Derrida, Kristeva, Foucault, Lyotard u.a.) neu oder anders gestellt werden. Wie Wimmer u.a. gezeigt haben, begann die Erosion des neuhumanistischen Subjekts, das für die deutsche Pädagogik noch immer ein zentraler Bezugspunkt ist, lange vor der Jahrhundertwende 1900 (Wimmer 2014, 2018). Wimmer verdeutlicht, dass das autonome Subjekt der neuhumanistischen Pädagogik nicht erst seit dem Tod des Subjekts gefährdet ist, in seine Einzelteile zu zerfallen oder sich zu verflüssigen. Von Wimmer und anderen wird darauf hingewiesen, dass die Stellung des Subjekts als Zentrum seines eigenen Universums – kunsthistorisch entspricht dies der Zentralperspektive – bereits lange vor der Postmoderne ein Projekt war, dessen Erfolgsgeschichte nicht ganz so linear verlief, wie sie gemäß der heute gängigen erziehungswissenschaftlichen Lesart rückblickend erscheinen mag (Wrana 2018). Nichtsdestotrotz seien hier als weitere existenzielle Kränkungen der vielzitierte Tod Gottes (Nietzsche) erwähnt sowie der Verlust der beiden großen Erzählungen der Moderne (Lyotard): »die Emanzipation des Menschen (Immanuel Kant) und die Entfaltung des Wissens als spekulativer Geist (Alexander von Humboldt, G.W. Friedrich Hegel)« (Kubsch 2004: 5). Zusammen mit den Einsichten der modernen Naturwissenschaften durch Mikroskope und Röntgenstrahlen und den Erkenntnissen der Psychoanalyse (Freud) haben diese Positionen in der Rückschau zu einer Entwicklung beigetragen, die heute, im so genannten post-faktischen Zeitalter, als wegweisend erscheinen. Man könnte das autonome Subjekt im Anschluss an Nonhoffs Operationalisierung der Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe (1985) als »hegemoniales Projekt« (Nonhoff 2006: 138f.) verstehen, das zwar im Zuge der Aufklärung zunehmend an Macht und Einfluss gewonnen, jedoch nie den Status einer dauerhaften Hegemonie erreicht hat. Das hegemoniale Projekt autonomes Subjekt – welches u.a. von pädagogischer Praxis und Erziehungswissenschaft unterstützt wurde und wird – hatte immer schon mit Gegenpositionen und Gegenbildern zu kämpfen, von denen
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Zum Konzept des Abjekts/der Abjektion Kristeva 1980; zu abjekten Körperbildern im Film Williams 1991.
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einige dem Cyberfeminismus sowie dem Post- und dem Transhumanismus entstammen. Berücksichtigend, dass dem sich selbst, seinen Körper und seine Umwelt gestaltenden Subjekt stets Gegenbilder und Gegenspieler*innen wie die eingangs genannten Figuren zur Seite gestellt waren, müssen Positionen aus der pädagogischen Anthropologie, die in poststrukturalistischen und daran anschließenden queer- und technofeministischen Positionen (Barad, Butler, Braidotti, Haraway) die primären Auslöser eines veränderten Menschenbildes sehen, kritisch betrachtet werden. In diesem Beitrag gehe ich vor dem Hintergrund einer sich seit den 1990er Jahren selbstkritisch als historisch-kulturell definierenden pädagogischen Anthropologie (Wulf 1994) auf einige dieser Gegenbilder näher ein, die u.a. im Kontext der überaus heterogeneren Bewegung des Cyberfeminismus (siehe Kapitel 3 dieses Beitrags) entstanden sind. Meine Ausführungen zu den wissenschaftlichen und künstlerischen Menschenbildern, die in cyberfeministischen Arbeiten entworfen werden, sind geleitet von folgenden Fragen: Wenn das Wesen des Menschen als genuin unbestimmt erscheint und Menschen gerade deshalb – durch Bildung und Erziehung – erst zum Mensch werden müssen (Wimmer 2014), welche Funktion erfüllen dann Versuche, das Wesen des Menschen zu bestimmen und mit pädagogischen Praktiken zu erzielen? Welche Funktion erfüllen Bilder von menschlichen und menschen(un)ähnlichen Körpern für die Bestimmung des menschlichen Wesens? Sind solche Bilder als Vorbilder möglicherweise wichtige Agentinnen im Diskurskampf zwischen dem Projekt ›autonomes‹ Subjekt vs. ›nomadisches, fluides‹ »Subjekt im Prozess« (Kristeva 1977)? Eine Annäherung an diese Fragen erfolgt im ersten Schritt über die zusammenfassende Darstellung zentraler Positionen des Post- und des Transhumanismus (PuTH) bzw. erziehungswissenschaftlich und insbesondere bildungstheoretisch inspirierter Lesarten des PuTH auf Basis ausgewählter Texte, auf die im erziehungswissenschaftlichen Diskurs häufig verwiesen wird (Kluge et al. 2014, Schenk/Karcher 2018, Wimmer 2014 2018)3 . Die Zusammenfassung integriert die Kritik an insbesondere transhumanistischen Konzeptualisierungen des Menschen, die teils als von der Eugenik inspirierte Menschenzüchtung, teils als durch Medien- und Informationstechnologien forcierte neoliberale Optimierungs- und Steuerungsphantasien gewertet werden (Pongratz 2018).
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Diese Vorgehensweise ist inspiriert von Amos’ »Rezeption des Transhumanismus in der wissenschaftlichen Pädagogik bzw. der Erziehungswissenschaft« (Amos 2018: 217).
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Post- und Transhumanismus aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive Während der Transhumanismus darauf abziele, biologische Grenzen (der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit) eines sich selbst als unvollkommen und unzulänglich empfindenden Menschen mit Hilfe von Technologien zu überwinden (Herbert/Damberger 2017: 45), gehe es dem Posthumanismus eher darum, »vereinfachende Dualismen zu problematisieren« (Schenk/Karcher 2018: 12) – Dualismen, wie sie dem neuhumanistischen Subjekt zugerechnet werden, das in einer Welt binärer Differenzkategorien handelt und denkt, die durch die modernen Naturwissenschaften (allen voran die Medizin) naturalistisch-essenzialistisch untermauert werden. Der Mensch (als Gattungswesen) und dessen Körper, wird denn auch seit Mitte des 18. Jahrhunderts verstärkt wissenschaftlich bearbeitet und gemäß der Logik Mann/Frau, Geist/Körper, Natur/Kultur, gesund/krank, alt/jung, normal/verrückt usw. eingeordnet.4 Ähnlich argumentiert Amos: »Während der Post-Humanismus (Braidotti 2014, Haraway 2016, Barad 2007) das aufgeklärte abendländische Menschenbild dekonstruiert und die Ausschluss produzierenden und destruktiven Wirkungen eines auf Individualität, Autonomie und Vernunftbegabung gründenden (männlichen) Subjekts in den Blick nimmt – eines Subjekts, das die Trennungen in Körper und Geist, Natur und Kultur, vernünftig und unvernünftig allererst hervorbringt, kann der Transhumanismus auch die Form eines Hyperhumanismus annehmen; eines gesteigerten Humanismus, weil der Mensch mittels technischer oder pharmakologischer Interventionen den alten Traum der Vervollkommnung endlich erreicht.« (2018: 219) Bemerkenswert ist, dass Amos dieser Unterscheidung etwas voranstellt, nämlich die Feststellung einer Gemeinsamkeit von Post-Humanismus, Transhumanismus und Anti-Humanismus, die in der von allen geäußerten »Kritik am traditionellen Humanismus und am Anthropozentrismus« bestehe (ebd.). Dem entgegen seien gemäß Schenk und Karcher Vertreter*innen des Transhumanismus eher dazu geneigt, »an humanistischen Deutungen des Menschen festzuhalten«; Technik würde von Tranhumanist*innen als ultimative Steigerungsmöglichkeit, Erweiterung
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Hier setzen Foucaults Konzept der Biopolitik und sein Begriff der Biomacht an (u.a. Foucault 1977). Biopolitik beschreibt »einen Modus der Politik, dessen Zielscheiben das Leben der Bevölkerung sowie der menschliche Individualkörper sind« (Folkers/Rüdel 2015: 1). Herrschaftsbzw. Machverhältnisse werden demnach wesentlich über die Art und Weise hergestellt und aufrechterhalten, in der Körper mittels verschiedener Praktiken u.a. der Humanmedizin und der Sexualerziehung behandelt und beschrieben werden (ausführlicher: Folkers/Rödel 2015).
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oder Aufwertung des Menschen verstanden (Schenk/Karcher 2018: 12), als Möglichkeit der Verbesserung durch die Verschmelzung von Mensch und Maschine im Sinne von Kybernetik, Kryonik, Neuro-Enhancement5 sowie Gen- und Reproduktionstechnologie. Gerade Letztgenanntes rückt transhumanistische Konzepte in die Nähe der Eugenik und stellt zugleich die Frage nach dem Wesen des Menschen neu: Wenn es die Gene seien, die uns zu Menschen machten, dann seien die Praktiken einer liberalen Eugenik »sinnvoller als eine pädagogische Einflussnahme« (Damberger 2012: 2f.). Die Eugenik – also die darwinistisch und rassenideologisch inspirierte Gestaltung eines idealen Menschen durch Auslese unerwünschter Individuen und/oder Eigenschaften – bildet in der Geschichte der (Reform-)Pädagogik ein ›dunkles‹ Kapitel, das in Einführungen in die Erziehungswissenschaft häufig unterbelichtet bleibt. Den Auseinandersetzungen mit Trans- und Post-Humanismus (v.a. Damberger 2012, Kluge et al. 2014 und Schenk/Karcher 2018) ist es zu verdanken, dass diesem Kapitel mehr Aufmerksamkeit bekommt und erneut über Bildung, Erziehung, Leistung und Auslese diskutiert wird. Das ist auch deshalb relevant, weil vor dem Hintergrund der erziehungswissenschaftlichen Debatten über ein inklusives Bildungssystem in Zeiten zunehmender Digitalisierung (kritisch dazu: Stoltenhoff 2019: 214-220) immer häufiger die Rede von technischen Medien (zumeist i.S.v. Geräten) ist, die zur Steigerung der Leistung und Verbesserung des Lernens im Unterricht eingesetzt werden sollen – im Fokus stehen dabei auch Menschen, die mit Behinderungen leben, beispielsweise im Rahmen des Forschungsprojekts »Digitalisierung und Inklusion« (EuropaUniversität Flensburg und Humboldt-Universität zu Berlin 2019-21). Was in der medientechnologisch ausgerichteten empirischen Bildungsforschung nur selten kritisiert wird, sind systemimmanente Aspekte, die zu Ungleichheit und Exklusion beitragen (Pfahl et al. 2017). In diesem Zusammenhang interessant ist die Feststellung von Lohmann, dass die Rede von der »Verbesserung des Menschen« bereits in den 1750er und 1760er Jahren auftauchte (Lohmann 2014: 18). Pongratz’ Diagnose, wonach die aktuelle Debatte um Inklusion von einer neoliberalen Logik der Leistungssteigerung geprägt sei, die sich mit Resten einer bildungstechnologischen Pädagogik der 1950er Jahre verbinde (Pongratz 2018), muss also überdacht werden. Wimmer vermutet, dass die harsche Kritik am Transhumanismus aus den Reihen der Erziehungswissenschaft dem Umstand geschuldet sei, dass die Pädagogik insgeheim »ein wenig peinlich berührt ist, weil uns der Transhumanismus als Übersteigerungsbewegung mit unseren bildungstheoretischen Traditionen wie mit einem Zerrspiegel konfrontiert« (2014: 228). Lohmann et al. stützen diese Sicht: »Das Programm des Transhumanismus, durch Technologie den Menschen zu optimieren und den homo sapiens zu überwinden« werfe die Frage auf, »wie sich im 5
Zu Neuro-Enhancement im Kontext der erziehungswissenschaftlichen Debatte um Menschenverbesserung siehe z.B. Damberger 2012: 238f.
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Vergleich damit das klassische moderne Programm einer Verbesserung des Menschen […] durch Erziehung rückblickend darstellt« (2014: 12).
Cyberfeminismus6 – posthumanistische Bilder von neuen Menschen? Die als Cyberfeminismus bezeichnete Bewegung steht heute für eine (noch) nicht eingelöste Hoffnung des ausgehenden 20. Jahrhunderts, wonach innovative Medientechnologien zu einer (geschlechter-)gerechteren Gesellschaft beitragen sollten, in der Frauen und Männer gleichermaßen mediale Räume entwerfen, technisch umsetzen und nutzen können. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Vorstellung von einem neuen Menschen, dessen Geschlechtszugehörigkeit zugunsten einer Cyborg-Identität transformiert wird, wodurch Grenzen zwischen den Geschlechtern ebenso aufgelöst werden, wie die zwischen Mensch und Maschine. Programmatisch für diese Vorstellung – aus Sicht eines poststrukturalistisch inspirierten (Queer-)Feminismus eine positive Utopie – ist Donna Haraways »Manifest für Cyborgs«, ein zentraler Text des Cyberfeminismus wie auch des Posthumanismus (Orig. 1985; deutsch: 1995). Seit den späten 1980er Jahren etabliert sich im Laufe der 1990er Jahre mit Arbeiten aus verschiedenen Bereichen der Kunst und der Wissenschaft der sogenannte Cyberfeminismus. Vor dem Hintergrund neuer, informationstechnologischer Entwicklungen und medialer Räume tritt er als eine heterogene Bewegung in Erscheinung, die eine utopische Perspektive auf Möglichkeiten einer durch Technik erweiterten und veränderten Körperlichkeit und Geschlechtsidentität eröffnet. Vertreter*innen des Cyberfeminismus wie Braidotti (1998a; 1998b; 2014) nähren und pflegen den Mythos einer mannigfaltigen nomadischen Identität, die auch in Arbeiten von Deleuze und Guattari7 eine Entsprechung findet. Grundlegend für das (Selbst-)Verständnis des Cyberfeminismus ist nach Draude (2001) die immanente Widersprüchlichkeit, einen «-ismus« zu konstituieren, der sich zugleich der Definition entziehen will: so werde versucht, den Signifikanten Cyberfeminismus so offen wie möglich zu halten, um jener ausschließenden Signifikation entgegenzuwirken, die mit feststehenden Bedeutungen einhergehe (Peter 2001). Statt immer neue Fixierungen vorzunehmen, soll der Begriff im Status »under construction« bzw. »under reconstruction« verbleiben (Peter 2001: 1). Dies wird auch an den »100 Anti-Theses« (old boys network 1997) deutlich, die im Rahmen der ersten cyberfeministischen Konferenz formuliert wurden und die – zum Teil auf ironisch gebrochene Weise – nur das festhalten, was Cyberfeminismus gerade nicht ist. Dem 6 7
Dieser Abschnitt orientiert sich in Teilen an Stoltenhoff & Raudonat 2000: 122f. Zur Arbeit von Deleuze und Guattari im Kontext poststrukturalistischer Theorien siehe z.B. Hillebrandt 2014: 48f.
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Cyberfeminismus zugerechnete Autorinnen wie Braidotti, Plant oder Paterson definieren Cyberfeminismus denn auch sehr unterschiedlich. Sich selbst und ihre Arbeit verstehen sie als Vertreter*innen eines digitaltechnologisch inspirierten Feminismus »ganz im Geist der Neunziger – bewusst und mit Lust als Teil einer sehr heterogenen Bewegung, in der (identitätslogische) Definitionen eher als problematisch eingeschätzt werden« (Weber 2001: o. S.). Vor diesem Hintergrund kann der Cyberfeminismus als kritische Praxis beschrieben werden, die die differenztheoretischen Debatten in und um den Feminismus der vorangegangenen Jahrzehnte berücksichtigt, wobei die benannte Heterogenität auf das Spannungsverhältnis verweist, in dem Cyberfeminist*innen agieren (Draude 2001). So finden sich hier auch kritische Positionen im Hinblick auf die Festschreibung dessen wieder, was Feminismus ist (u.a. Wilding 1997). Eine differenzierte Wahrnehmung soll an die Stelle der unangemessenen Homogenisierung beispielsweise »der Frau« als Subjekt feministischer Bestrebungen treten (Draude 2001). Auf dieser heterogenen Basis stellt sich der Cyberfeminismus Veränderungen, die mit den sich seit den 1990er Jahren zunehmend verbreitenden, digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien einhergehen (Peter 2001). Dabei wendet sich Cyberfeminismus gegen die scheinbare Zwangsläufigkeit der Einschreibung (einseitiger) kultureller, politischer und geschlechtlicher Stereotype in die Gestaltung und Verwendung neuer Technologien (Paterson o.J.). Cyberfeminismus will politisch verstanden werden, denn »it is not an excuse for inaction in the real world, and it is inclusive and respectful of the many cultures that women inhabit« (Hawthorne/Klein 1999: 2). Der Fokus cyberfeministischer Aktivität liegt auf dem medial erzeugten Sinnhorizont des Cyberspace, womit die Lebenswelt Internet (Draude 2001) überschrieben wird. Als eine der einflussreichsten Theoretiker_innen des Cyberfeminismus gilt Donna Haraway und deren Essay »A Cyborg Manifesto« (1991), das 1983 erstmals veröffentlicht wurde. Es stellt eine sozialistisch-feministische Analyse der Situation von Frauen in einer postmodernen, technologisch fortgeschrittenen Welt dar, personalisiert im Konzept der/des Cyborg. Diese hybride Lebensform, deren Existenz weder ausschließlich dem Konzept der Natur noch dem der Kultur zugeordnet werden kann, dient Haraway als Basis einer grundsätzlichen Kritik an jenen dualistischen Denkweisen, die mit dichotomen Kategorien wie Natur/Kultur oder weiblich/männlich verbunden und für die westlich geprägte Kultur und deren Menschenbild bestimmend sind. Haraways Manifest wendet sich gegen ein ausschlussorientiertes Denken und gegen differenztheoretische Positionen, die zur Re-/Konstruktion von Dualismen beitragen. Mit Hilfe der Cyborg-Metaphorik formuliert sie eine gesellschaftliche Utopie, in der heteronormative Konzepte überwunden sein werden. In dieser Utopie wird anerkannt, dass soziale Beziehungen durch die »gesellschaftlichen Wissenschafts- und Technologieverhältnisse strukturiert werden« (Haraway 1995: 48) und dass Menschen für diese Verhältnisse verantwortlich sind, indem sie die Begrenzungen ihres
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alltäglichen Lebens in der (medialen) Kommunikation rekonstruierten. Das erinnert an die Medienphilosophie Günther Anders’, wonach die Natur des Menschen Künstlichkeit und dessen Wesen Unbeständigkeit sei (Filk/Freytag 2021: 155). Aus Haraways Manifest spricht der Wunsch, sowohl tradierte Stereotype und Rollenbilder als auch (Re-)Produktionsprozesse von Machtstrukturen aufzulösen, die auf tradierten Differenzkategorien basieren. Mit der zunehmenden Verbreitung des Internet wurden Vorstellungen von geschlechtslosen, geschlechtsneutralen bzw. Geschlecht transformierenden Interaktionsräumen in unterschiedlichen Kontexten formuliert. Hoffnungen auf deren Realisierung haben sich – bisher und zumeist – als Wunsch- oder Schreckensbild erwiesen. Wilding (1997) konstatiert, dass neue Medien immer schon etablierte soziale Strukturen aufweisen: Sexismus, Rassismus und andere dominante Differenzkategorien sind allen neuen Medien eingeschrieben. Dies referenziert u.a. auf Positionen des poststrukturalistisch inspirierten Feminismus (Butler 1991), in der die »historische, soziokulturelle Gewordenheit jeglicher Kategorien – von Geschlecht und Natur genauso wie von Technik« (Weber 2001: o.S.) – im Anschluss an die diskurstheoretischen Arbeiten von Foucault betont wird. Empowerment als Ziel cyberfeministischer Aktivitäten im Kontext einer neuen, digital geprägten Medialität wird in cyberfeministischen Texten immer wieder betont (Paterson o.J.; Peter 2001), könne aber nur auf Basis der Entmystifizierung von und dem Zugang zu Technologie stattfinden. Bereits ohne einen Blick auf cyberfeministische künstlerische Aktivitäten geworfen zu haben, kann hier festgehalten werden, dass Cyberfeminismus keine einheitliche Bewegung ist, sondern ein überaus heterogenes Feld wissenschaftlicher sowie künstlerischer und zugleich politischer Praktiken, die auf die Aneignung und Entmystifizierung des Cyberspace abzielen und Einfluss auf die diskursive Produktion von Subjekten, Gemeinschaften und Machtverhältnissen abzielen (Peter 2001; Braidotti 1998a; Braidotti 1998b).
Die Kunst des Cyberfeminismus Als künstlerisch einflussreich und wegweisend für nachfolgende Kunstschaffende gelten die Arbeiten des Kunstkollektivs VNS Matrix, das seit den frühen 1990er Jahren aktiv ist. Mit dem 1991 publizierten »Cyberfeminist Manifesto for the 21st Century« (Abbildung 1, S. 164 unten rechts) greift VNS Matrix eine künstlerische Strategie der Avantgarden der Moderne auf. Die am Kollektiv beteiligten Künstlerinnen gelten wohl auch deshalb als Mitbegründerinnen der cyberfeministischen Bewegung. Ein Mitglied der cyberfeministisch inspirierten Gruppe cybertwee erläutert im Jahr 2015, was die Arbeiten von VNS Matrix auszeichnet: »The feminine body is highly politicized when it’s placed online, and VNS Matrix directly affronted this in a way that really resonates with the goals of cybertwee […]« (zit.n. Sisley 2015). Die
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künstlerischen Strategien des Cyberfeminismus werden im Folgenden beispielhaft an einer multimedialen mehrteiligen Arbeit des Kunstkollektivs VNS Matrix aus den frühen 1990er Jahren illustriert. Dafür erfolgt zunächst eine Beschreibung der Arbeit und dann eine Analyse im Hinblick auf die damit hervorgebrachten Körperbilder. Die Ästhetik der digitalen Arbeit ALL NEW GEN (VNS Matrix 1992-1993) entspricht der von digitalen Spielen der 1990er. Den Hintergrund des Bildgeschehens bildet häufig ein nicht näher bestimmter, grenzenlos erscheinender Raum (Weltall oder Cyberspace), teils durchzogen von gitterartigen Strukturen, die an die wolkenkratzerdominierten Städte dystopischer Science-Fiktion-Filme erinnern (die Filme der Matrix-Reihe von den Wachowski-Geschwistern waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht erschienen). Von der frühen Digital-Games-Ästhetik abweichend, zeigt »Cortex Crones« (Abbildung 1, S. 164, oben rechts) sechs zweireihig angeordnete rosarote Kugeln, die an die mikroskopischen Aufnahmen von Viren erinnern. Laut den Textelementen, die sich in der oberen linken und der unteren rechten Ecke des Bildes befinden, handelt es sich bei »CORTEX CRONES« um »brain matter of the matrix«, »guardians of the digi cryst«. Der Digi Cryst selbst wird in der oberen linken Ecke als dreieckige, kristalline, violette Form gezeigt. Sucht man im Internet nach »digi cryst«, so verlinkt der erste Eintrag (bei der Suche über Google am 31.08.2020) auf eine Seite von VNS Matrix (1992), die das Foto eines zweiseitigen, digitalisierten Stücks Papier zeigt, das zerknittert, vergilbt und von Flecken übersäht ist. Die unterstrichene Überschrift auf der ersten Seite oben lautet »The Legend of the Digi-cryst«. Darunter folgen sieben kurze Absätze Text, in denen man erfährt, dass es sich bei Digy-cryst um den Schwachpunkt von BDM (»Big Daddy Mainframe; a transplanetery military-industrial-imperial Data environment«; Abbildung 1, S. 164, oben links) handelt. Der Text erzählt in der Art eines Märchens, das ins informationstechnische Zeitalter verlegt wurde, die Geschichte von Gen, die dazu auserwählt ist, BDM zu entmachten, um die Zukunft der Matrix zu sichern. Text und Bilder verweisen aufeinander. Inhaltlich und ästhetisch wird mit tradierten Rollenbildern und Elementen klassischer Erzählungen gespielt: Anstatt eines Drachen muss mit BDM hier jedoch eine Figur bekämpft werden, die als gesichtsloser Anzugträger dargestellt wird – in Begleitung von »Circuit Boy, A dangerous technobimbo«, einem muskulösen männlichen Korpus mit erigiertem Penis (Abbildung 1, S. 164, oben links). Die nicht mehr als menschliches Individuum identifizierbare, mit klischeehaften männlichen Attributen ausgestattete Figur BDM wird in der Erzählung zu einem Feind der besiegt bzw. zu einer Aufgabe, die gelöst werden muss. Die Körperbilder, die der Cyberfeminismus produziert – sei es in künstlerischen Arbeiten oder wissenschaftlichen Beiträgen – stellen das (männliche) Subjekt, welches sich und die Welt gestaltet, radikal in Frage. Nicht, weil es – wie im Transhumanismus – mit der Maschine verschmilzt und sich der homo sapiens in
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Abbildung 1: Cyberfeminist Manifesto for the 21st Century
Abbildung 1 zeigt das »Cyberfeminist Manifesto for the 21st Century« (VNS Matrix 1991) sowie drei von zahlreichen Bildern der digitalen Arbeit »ALL NEW GEN«: »Big Daddy and Circuit Boy« (oben links), »Cortex Crones« (oben rechts) und »the future is unmanned« (unten links) (alle Courtesy VNS Matrix 1992-1993, https://vnsmatrix .net/projects/all-new-gen).
der vermeintlich unfehlbaren Maschine auflöst, sondern weil der Körper auf eine Weise gezeigt wird, die eine Alternative bildet zu jenem Subjekt, das sich selbst – wie zuerst im Spiegelstadium (Lacan) – als machtvolles und identisches imaginiert. Die cyberfeministischen Körperbilder sind eindeutig poststrukturalistisch-feministisch inspiriert, zugleich aber – als Medien der Steuerung von Gesellschaft und Mensch – beinhalten sie ein neoliberales Element insofern sie die Um-/Gestaltung von Machtverhältnissen an die Um-/Gestaltung, Verbesserung und Optimierung eines als unzulänglich verstandenen menschlichen Körpers knüpfen, dessen naturhafte Basis zugunsten einer digitalen Cyberidentität überwunden werden soll. Da, wo der neoliberale Diskurs Humanressourcen benötigt, die ihren Körper mittels Praktiken der Selbstsorge freiwillig steuern, ist der poststrukturalistisch-feministische Diskurs auf Körper angewiesen, die sich selbst dahingehend gestalten, dass sie nicht mehr als traditionelle Subjekte identifiziert werden können. Eine radikale Verabschiedung von Geschlechterrollenklischees oder geschlechtlich konnotierten
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Körperteilen unternimmt der Cyberfeminismus dabei nur bedingt. So werden in den Bildern der Arbeit »ALL NEW GEN« und im Cyberfeministischen Manifest weibliche Körper(-teile) dahingehend symbolisch aufgeladen, dass sie mit Revolution, Widerstand, Sabotage und Neuerung konnotiert werden: laut Zeile neun des Manifests sei die Klitoris »a direct line to the matrix« (Abb. 1, unten rechts). Männliche Körper(-teile) stehen dagegen für eine alte überkommene Weltordnung militärischer, industrieller und imperialer Prägung (Abbildung 1, oben links: »Big Daddy and Circuit Boy«).
Fazit »[D]er Mensch ist frei, der Mensch ist die Freiheit. […] Der Mensch ist verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, anderweit aber dennoch frei, da er, einmal in die Welt geworfen, für alles verantwortlich ist, was er tut.« (Sartre 1973: 16) Wollen wir an der Idee von Freiheit und deren Bedingung, einem nicht-essenzialistisch fixierten, im Kern unbestimmbaren Wesen des Menschen festhalten, dann ist mit der Bildsamkeit des Menschen zugleich die Freiheit, Notwendigkeit und Akzeptenz all jener Praktiken verbunden, die wir als pädagogisch bezeichnen und die zuweilen als inhuman empfunden werden. Dazu zählen nicht nur Praktiken und deren Materialisierungen, die als Doing Gender (West/Zimmerman 1987) gefasst werden können. Vielmehr sollten wir pädagogische Praktiken der Bildung immer auch als »Doing In_Human« fassen; als ein Schwanken, Fließen und manchmal auch Ziehen zwischen alten, neuen, hegemonialen, marginalen und sich stets transformierenden Welt- und Selbstverhältnissen (Koller 2012). Wer dabei behauptet, Subjekte würden sich wahlweise zwischen leistungsorientierter Optimierung als Humanressource, neuhumanistischem Bildungsideal und queerfeministischer Cyborg entscheiden können, hat die Ideen des Poststrukturalismus missverstanden. Mensch kann sich nicht jeden Morgen neu erfinden. Das, was Menschen im Zeitalter des Post-Faktischen vielmehr auszumachen scheint, ist im Kern das, was insbesondere queerfeministische Poststrukturalist*innen im Sinn hatten: eine Abkehr von der Vorstellung, dass es eine Essenz gäbe, die man nur (er-)kennen müsse, um zu wissen, was der Mensch sei und wie er leben und lieben solle. Vielmehr geht es darum zu verstehen, dass und wie die Bedeutung des Menschseins ebenso wie alle anderen Bedeutungen in Kämpfen um Deutungsmacht hergestellt werden müssen. Wenn wir an der Freiheit einer nicht-festgeschriebenen humanoiden Lebensform festhalten wollen und wenn wir »Doing In_Human« einer auf kybernetische oder biologistische Notwendigkeiten reduzierten Subjektivität vorziehen, dann müssen wir einsehen, dass Diskurskämpfe unsere gesellschaftliche Realität
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in der Vergangenheit bestimmt haben, gegenwärtig bestimmen und auch zukünftig bestimmen werden. Diese Kämpfe gehen nicht immer zugunsten einer sich selbst als aufgeklärt und liberal definierenden Gruppe aus. Auseinandersetzungen um eine (geschlechter-)gerechte, nicht diskriminierende Gestaltung von Sprache, Bildungsplänen (Stoltenhoff 2021) oder Bildungssystemen können als Zeugnisse eines solchen Diskurskampfes gelesen werden. Sie sind aber auch Zeugnisse jener Freiheit, die es uns erlaubt, Mensch-Sein auf unterschiedliche Weise zu praktizieren. Wer wollte auf diese Freiheit zugunsten einer Welt vermeintlicher Fakten verzichten?
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Einleitung »Das frische Jahrtausend hatte eine Überschrift. Sie hieß. ADHS. Kursiv darunter stand: Wir ordnen den Scheiß jetzt neu. Es war die Zeit, in der Facebook groß wurde. In der viele ältere Leute dachten, das Internet bestünde nur aus dieser Idiotenplattform. Es war die Zeit der massenhaften Falschmeldungsverbreitung, der Massenmanipulation. Die Menschen wurden unglaublich schnell süchtig nach den Likes ihrer Unbekannten. Die Jugendlichen wurden noch schneller abhängig von einer Erregung, die aus der Mischung von Mobbing, Gewalt, Sex und Bullshit entstand. Es war die Zeit, in der zur realen Grausamkeit der Menschen noch die virtuelle hinzugefügt wurde. In der die Sehnsucht nach Verständnis zu einer Wut der Unwissenden wurde. Nie gab es so viele durch das Netz befeuerte Verschwörungstheorien. Der Vatikan, die Koch-Brüder, die Hayek-Gesellschaft, der Club of Rome, die Reptiloiden, die flache Erde – mit der täglich immer komplizierter scheinenden Weltlage wuchs der Wunsch der Bevölkerung nach einem Donnergott. Es war die Zeit vor irgendwas. Es war ja immer die Zeit vor irgendwas.« (Berg 2019: 6) In ihrem 2019 erschienen Roman »GRM. Brainfuck« beschreibt Sibylle Berg das Leben von vier Jugendlichen im englischen Rochdale in naher Zukunft. Was sich über weite Passagen düster und dystopisch liest, liefert jedoch zahlreiche scharfe Beschreibungen gesellschaftlicher Krisenerscheinungen. Eine davon ist die Sorge um die menschliche Aufmerksamkeit im digitalen Zeitalter. Diesem Beitrag liegt die These zugrunde, dass aktuelle gesellschaftliche Transformationen über deren Folgen für die menschliche Aufmerksamkeit und das Phänomen der Aufmerksamkeit über den Umweg über gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen verstanden werden können. Aufmerksamkeit kommt somit eine entscheidende Rolle in Bezug auf das menschliche Selbst- und Weltverhältnis zu. Aufmerksamkeit wird im Folgenden zunächst als eingenommene Aufmerksamkeit untersucht. Entgegen einer verbreiteten Lesart des Phänomens, die die Aufmerksamkeit als Disposition eines souveränen Subjekts immer schon voraus-
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setzt1 , soll hier nach den Auswirkungen einer sich wandelnden Lebenswelt auf menschliche Aufmerksamkeit gefragt werden. Es werden erstens unbeabsichtigte Wechselwirkungen gesellschaftlichen Wandels, wie Technisierung, Digitalisierung und die Transformation der Arbeitsorganisation, mit dem Phänomen der Aufmerksamkeit dargestellt. Im Anschluss daran sollen unter der Gegenwartsdiagnose des Postfaktischen auch intendierte politische und ökonomische Vereinnahmungsstrategien von Aufmerksamkeit in den Blick genommen werden. Es folgt zweitens eine Analyse des Beitrags der Wissenschaft selbst zu dem im aktuellen politischen Diskurs häufig konstatierten Vertrauensverlust weiter Teile der Bevölkerung in Fakten. Zuletzt soll drittens die Frage aufgeworfen werden, wie menschliche Aufmerksamkeit unter den gegenwärtigen Bedingungen anders gedacht werden könnte und worin ihr kritisches Potenzial liegt.
Die eingenommene Aufmerksamkeit Das Phänomen der Aufmerksamkeit soll gegenwartsanalytisch aus zwei Blickwinkeln betrachtet werden: Zunächst werden Forschungsergebnisse dargestellt, die gegenwärtig von einer Überforderung menschlicher Aufmerksamkeit ausgehen. In einem weiteren Schritt wird Aufmerksamkeit als menschliche Fähigkeit untersucht, die politischen und ökonomischen Vereinnahmungen ausgesetzt ist. Zuletzt wird die Rolle eingenommener Aufmerksamkeit für die »Krise der Faktizität« (van Dyk 2017) expliziert. Die Klage über die Auswirkungen einer veränderten Lebenswelt auf die menschliche Aufmerksamkeitsleistung wird häufig in Verbindung mit einer radikalen Kritik an Technik und Digitalisierung vorgetragen. Christoph Türcke beispielsweise diagnostiziert eine »Aufmerksamkeitsdefizitkultur« (Türcke 2012) und argumentiert, dass bereits das Medium Film einen »Bildschock«2 in Form einer umfassenden Reizüberflutung erzeugt habe. Diese führe zu einer stetigen Abnahme der menschlichen Aufmerksamkeitsfähigkeit und verhindere eine langfristige Konzentration auf einen, analog gedachten, Bildungsgegenstand (Türcke 2016: 104f.). 1 2
Hier wäre beispielsweise der gegenwärtige Mainstream des kognitionswissenschaftlichen Diskurses zu nennen (Wentura/Frings 2013). Bei der Diagnose eines »Bildschocks« bezieht sich Christoph Türcke auf Walter Benjamins »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (1936). Dieser weist jedoch bereits zu Beginn des Textes darauf hin, dass Kunst schon immer reproduzierbar war. Benjamins Kritik richtet sich gegen deren massenkulturelle Verbreitung und die damit einhergehende Veränderung der kollektiven Wahrnehmung. Sein Urteil über das Medium Film fällt hier durchaus differenziert aus und auch die Zerstreuung nimmt im Text eine ambivalente Position ein (u.a. Crary 2002: 47f.).
Zum kritischen Potential der Aufmerksamkeit in postfaktischen Zeiten
Der zugrundeliegende Technikskeptizismus greift jedoch aus mehreren Gründen zu kurz. Erstens verbleibt die Argumentation in analogen Metaphern, was einer angemessenen Beschreibung des Phänomens der Digitalisierung im Weg steht. So stellt der Autor dem Medium Film die Dampfmaschine gegenüber und resümiert: »Die Dampfmaschine übernahm Bewegungsabläufe. Die Bildmaschine übernahm Wahrnehmungsabläufe.« (Ebd.: 103) Hierdurch geraten einerseits die nicht hardware-basierten Phänomene der Digitalisierung nicht in den Blick, andererseits werden auch zentrale Charakteristika des Digitalen wie etwa die Musterbildung (Nassehi 2019) übersehen. Diese Verkürzung spielt zweitens einer generellen Ablehnung digitaler Medien zu, wie sie auch im pädagogischen Diskurs zu finden ist. Käte Meyer-Drawe (2016) merkt im Kontext ihrer Arbeit zum Technikbegriff bei Hans Blumenberg an, »dass wir es bis heute, vor allem auf dem pädagogischen Feld, mit einer Dämonisierung der Technik zu tun haben, die das Ursprüngliche zu kennen scheint und es herbeisehnt.« (Ebd.: 183) Dieser verlorengegangene Idealzustand geht bei Christoph Türcke (2016) drittens mit einer stark romantisierten Vorstellung von Aufmerksamkeit einher. Aufmerksamkeit wird hier auf meditative Kontemplation verkürzt: »Kinder in dem übertragenen Sinne gebetsfähig zu machen, fähig, sich derart in eine Sache zu versenken, dass sie sich selbst dabei vergessen, aber gerade so eine Ahnung davon bekommen, was erfüllte Zeit wäre: das ist vielleicht die vordringlichste Bildungsaufgabe unserer Epoche.« (Ebd.: 113) Den beschriebenen Zustand sieht der Autor beispielsweise im Auswendiglernen von Gedichten, Proben von Theaterstücken und im Abschreiben von Tafelanschriften verwirklicht, jedoch nicht in einer konzentrierten und interessierten Beschäftigung mit Bildungsgegenständen über das Medium Computer (ebd.: 112). Letztere wertet er im Anschluss an den Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten Wolfgang Bergmann als potentiell pathologisch und Symptom eines »traumatischen Widerholungszwanges« nach der mutmaßlichen Maxime »Was mir Zuwendung raubt, dem wende ich mich zu. Was mich haltlos macht, daran suche ich Halt« (ebd.: 107). Im Folgenden wird dem technikskeptischen Diskurs eine alternative Deutung des gegenwärtigen Ringens um Aufmerksamkeit gegenübergestellt. Zuerst soll die Frage nach dem Einfluss gesellschaftlicher Transformationen auf das Verhältnis des Menschen zur eigenen Aufmerksamkeit näher beleuchtet und daran anschließend, die prinzipielle Möglichkeit, Aufmerksamkeit für politische oder ökonomische Zwecke zu vereinnahmen, untersucht werden.
Die überforderte Aufmerksamkeit Jonathan Crary (2002) weist in seinen kunsthistorischen Analysen »Aufmerksamkeit – Wahrnehmung und moderne Kultur« zwar ebenfalls darauf hin, dass sich die
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gesellschaftlichen Wahrnehmungsgewohnheiten bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts signifikant verändert haben. Allerdings betont er die historische Genese des Ideals konzentrierter Aufmerksamkeit und untersucht das Phänomen auf der Schnittstelle zwischen Organisationsweisen von Arbeit, Erziehung sowie Massenkonsum (Crary 2002: 13). Crary diagnostiziert gegenwärtig ebenso eine Krise der Aufmerksamkeit. Er deutet diese jedoch als einen konstitutiven Aspekt der Moderne, »insofern die wechselnden Konfigurationen des Kapitalismus, mit ihrer endlosen Abfolge von neuen Produkten, Reizquellen und Informationsströmen, Aufmerksamkeit und Zerstreuung ständig über neue Grenzen und Schwellen zwingen und dann mit neuen Methoden des Managements und der Regulierung von Aufmerksamkeit reagieren.« (Ebd.: 23) Allerdings widersteht Crary der Versuchung, die neuen Anforderungen an menschliche Aufmerksamkeit und die veränderten Wahrnehmungsgewohnheiten monokausal mit dem erstarkenden Kapitalismus und dessen technischen Errungenschaften zu erklären. Es geht ihm vielmehr um die Untersuchung des Wechselspiels zwischen Praktiken der Aufmerksamkeit, sich verändernder gesellschaftlicher Ordnung und bestimmten Subjektivierungsweisen. So schließt das oben genannte Zitat mit dem Ausblick auf eine subversive, »zerstreute« Form der Subjektivierung: »Gleichzeitig aber ist die Aufmerksamkeit als historisches Problem nicht auf die Strategien der sozialen Disziplin reduzierbar. Ich werde zeigen, da[ss] die Artikulation eines Subjekts über das Vermögen der Aufmerksamkeit zugleich ein Subjekt aufdeckte, das sich solchen disziplinären Imperativen entzog.« (Ebd.: 23) Zerstreuung fasst der Autor in Abgrenzung zu Walter Benjamin nicht als Gegenteil von Aufmerksamkeit im Sinne einer Unkonzentriertheit, sondern weist darauf hin, dass beide Subjektivierungsweisen sich gegenseitig bedingen3 (ebd.: 48). Im Anschluss an Crary wird Aufmerksamkeit somit in ihrer gesellschaftlichen und historischen Genese sichtbar. Wenn Aufmerksamkeit bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch Aspekte gesellschaftlichen Wandels beeinflusst wurde, gibt es Grund zur Annahme, dass dies auch gegenwärtig noch zutrifft. Im Folgenden wird die Frage aufgeworfen, welche Transformationserscheinungen sich aktuell auf die menschliche Aufmerksamkeit auswirken.
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»Ich behaupte dagegen, da[ss] Aufmerksamkeit und Zerstreuung nicht außerhalb eines Kontinuums gedacht werden können, in dem beide als Teile eines sozialen Feldes, in dem dieselben Imperative und Kräfte wie jene stimulieren, unablässig ineinander übergehen.« (Ebd.: 48)
Zum kritischen Potential der Aufmerksamkeit in postfaktischen Zeiten
Das von Georg Franck 1998 im gleichnamigen Buch beschriebene Phänomen der »Ökonomie der Aufmerksamkeit« geht davon aus, dass Aufmerksamkeit zwar eine relativ gleich verteilte jedoch grundsätzlich beschränkte Ressource darstellt, die im Informationszeitalter als Währung dient. Die stetig sinkenden Kosten für die Informationsbeschaffung führten zu einem Überangebot an Information und einem Mangel an Aufmerksamkeit, wodurch Aufmerksamkeit selbst zum umkämpften Gut werde. In seinem 2003 erschienen Aufsatz »Mentaler Kapitalismus« macht Franck vor allem die Werbung dafür verantwortlich, dass Aufmerksamkeit knapp zu werden scheint. Er beschreibt die Privatisierung des kollektiven Erlebnisraumes und die Entstehung neuer Märkte in denen Informationen gegen Aufmerksamkeit getauscht werden (Franck 1998/2003). Auch Isabell Lorey und Klaus Neundlinger (2012) beschreiben den Einfluss der sich wandelnden Arbeitsorganisation auf die menschliche Aufmerksamkeit. Die Autor*innen gehen zunächst von einer Transformation der Industrie- in eine Wissensgesellschaft aus. Die gegenwärtige postfordistische Arbeitsorganisation zeichne sich vor allem durch veränderte Anforderungen an die Arbeitenden aus. Diese ökonomisch und sozialen Veränderungen fassen Lorey und Neundlinger unter den Begriff des kognitiven Kapitalismus zusammen. Gemäß des Paradigmas gouvernementaler Regierungspraxis richte sich dieser vornehmlich an die Selbststeuerungsund Selbstoptimierungsfähigkeit des Menschen. »Der ›kognitive Kapitalismus‹ bezeichnet jenes Paradigma des Wirtschaftens, innerhalb dessen die Horizonte des potenziellen Wachstums, die Möglichkeiten, ökonomischen Wert zu generieren immer mehr von der Fähigkeit der Arbeitenden abhängen, ihr ›subjektives Engagement‹ einzubringen, sich beständig neu zu orientieren, zu lernen, Erfahrungen in Form von reflektierten kommunikativen Akten zum Ausdruck zu bringen; kurz, ein nicht vorhersehbares Geschehen zu lenken.« (Lorey/Neundlinger 2012: 11) Die Schaffung nicht-materiellen Wertes in Form der Lenkung menschlicher Aufmerksamkeit werde somit zu einem der charakteristischen Merkmale postfordistischer Konsum- und Produktionsweisen. Herbert Andrew Simon hat für seine Forschung zu Entscheidungsprozessen in Unternehmen 1978 den Wirtschaftsnobelpreis erhalten. Im Zuge seiner Studien beschreibt er die Verknappung menschlicher Aufmerksamkeit folgendermaßen: »[…] in an information-rich world, the wealth of information means a dearth of something else: a scarcity of whatever it is that information consumes. What information consumes is rather obvious: it consumes the attention of its recipients. Hence a wealth of information creates a poverty of attention, and a need to allocate that attention efficiently among the overabundance of information sources that might consume it.« (Simon 1971: 40f.)
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Festzuhalten sind also zwei zentrale Punkte: Die gegenwärtige Form des Wirtschaftens setzt erstens eine erhöhte Selbstregulationsfähigkeit der Aufmerksamkeit der Arbeitenden voraus. Zweitens wächst, je inflationärer das Angebot an Informationen wird, die Notwendigkeit diese zu selektieren und somit steigen die Anforderungen an die Aufmerksamkeitsleistung des Menschen. Der Grund für die subjektiv wahrgenommene Informationsflut liegt jedoch nicht nur in den technischen Möglichkeiten durch digitale Medien, sondern in der steigenden gesellschaftlichen Komplexität selbst. Anschlussfähig ist hier auch Armin Nassehis (2019) »Theorie der digitalen Gesellschaft«. Der Soziologe versteht Digitalität als Mustererkennung im Sinne einer Antwort auf die Anforderungen steigender gesellschaftlicher Komplexität. Probleme des sinn- bzw. musterstiftenden Umgangs mit Informationen wären somit nicht die Folge, sondern die Ursache für Digitalisierung. Die Anforderungen an menschliche Aufmerksamkeit steigen also zum einen durch zunehmende Komplexität von Entscheidungsprozessen in Folge einer stetig größer werdenden Menge an verfügbaren Informationen und zum anderen aufgrund der zunehmenden Anforderung an die mentale Selbststeuerungsfähigkeit der Arbeitenden im Kontext postfordistischen Wirtschaftens. Hieraus können Empfindungen der Überforderung und eine Diskrepanz zwischen erbrachter und gesellschaftlich erwarteter Aufmerksamkeitsleistung entstehen, wie sie in zahlreichen gegenwärtigen Beschreibungen des Menschen diagnostiziert wird.4 Diese macht das menschliche Aufmerksamkeitsvermögen wiederum anfällig für politisch oder ökonomisch motivierte Vereinnahmungsstrategien, welche im folgenden zweiten Argumentationsschritt dargestellt werden sollen.
Die vereinnahmte Aufmerksamkeit Hendricks und Verstergaard (2018) vertreten in »Postfaktisch« die These, dass es durch die digitale Informationsflut möglich geworden sei, mit Aufmerksamkeit zu spekulieren. Dies könne langfristig die Demokratie gefährden. Die Medienphilosophen gehen davon aus, dass die ökonomische Nutzung menschlicher Aufmerksamkeit in Form von Klicks, Traffic und Werbemöglichkeiten im Internet unabhängig vom
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Das Scheitern an den ökonomischen Anforderungen an die Aufmerksamkeit liest sich im Spiegel zeitgenössischer Beschreibung des Menschen wie die Chronik eines ambitionierte aber erfolglosen Versuchs des sozialen Aufstieges: Der »Arbeitskraftunternehmer« (Voß/Pongratz 1998) bzw. das »Unternehmerische Selbst« (Bröckling 2007) wurde nach einer kurzen und rasanten Karriere – man vergleiche hier die entsprechenden Thesen zur Beschleunigung (Rosa 2016; Han 2010) – zum »erschöpften« (Ehrenberg 2008), »ermüdeten« (Han 2010; Crary 2014) und »überforderten« (Fuchs 2019) Selbst.
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Wahrheitsgehalt der entsprechenden Quellen lukrativ sei und somit ein Informationsmilieu entstehen könne, dass durch Blasenbildung, Bullshit und Fake News den demokratischen Entscheidungsprozess unterlaufe. Zum einen werde die Aufmerksamkeit der Bürger*innen in postfaktischen Informationsmilieus mit irrelevanten Informationen eingenommen und gebunden, sodass demokratische Entscheidungsprozesse nicht mehr auf Basis sachlicher Informationen, sondern aufgrund von Meinungen oder Gefühlen getroffen werden (ebd.). Zum anderen geschieht dies aber auch durch bewusste politische Einflussnahme wie beispielsweise durch die Analyse von Nutzer*innendaten sozialer Medien und die entsprechenden zielgruppenspezifischen digitalen Kampagnen.5 Dies könne nach Hendricks und Vestergaard langfristig zu einem postfaktischen Zustand der Demokratie führen, in der aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen nicht mehr erkenn- und benennbar seien. Die Autoren definieren diesen wie folgt: »Eine Demokratie befindet sich in einem postfaktischen Zustand, wenn politisch opportune, aber faktisch irreführende Narrative statt Fakten als Grundlage für die politische Debatte, Meinungsbildung und Gesetzgebung dienen.« (Ebd.: 17) Das signifikant Neue der gegenwärtigen Situation ist jedoch nicht der Wettstreit um die Aufmerksamkeit der Konsument*innen, Wähler*innen oder Zuschauer*innen und auch nicht der Gebrauch von Lügen im Kontext politischer Propaganda, sondern das zunehmende Verwischen der Grenzen zwischen Lüge und Wahrheit selbst. Die beiden Medienphilosophen schlagen zur genaueren Differenzierung eine dreistufige Skala zur Informationsqualität vor (ebd.: 100f.): Während die erste Zone verifizierte Fakten beinhaltet, finden sich in der zweiten Zone verzerrte und unbelegte Aussagen. Für diesen Kontext besonders relevant ist die dritte Zone, die zwischen falschen Aussagen, Lügen, Bullshit und Fake News unterscheidet. Falschaussausagen umfassen nach Hendricks und Verstergaard entweder das falsche Wiedergeben von Fakten oder Aussagen, die im Widerspruch zu Fakten stehen. Dementsprechend sind Lügen bewusste Falschaussagen. Hiervon grenzen die Autoren »Bullshit« als »Falschwiedergabe eigener Motive und Ziele, Verstellung, Fingieren, Aufhebung der Trennung zwischen wahr und falsch« (ebd.) und Fake News als »[f]ingierte Nachrichten, Falschwiedergabe von Motiven und Zielen mit Simulation von Journalismus und damit Wahrhaftigkeit« (ebd.), ab. Den beiden Phänomenen ist also gemein, dass sowohl beim Verbreiten von Bullshit als auch von Fake News, das Verdrehen der Wahrheit billigend in Kauf genommen wird. Während es beim Bullshit nicht ausschlaggebend ist, ob die kommunizierten Inhalte wahr oder gelogen sind, da das Ziel die Verschleierung eigener Motive durch Ablenkung 5
Das prominenteste Beispiel ist hier das ehemalige Datenanalyse-Unternehmen Cambridge Analytica und dessen Rolle im amerikanischen Wahlkampf 2016 sowie in der Kampagne für den Austritt Englands aus der Europäischen Union.
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ist, wird bei Fake News die Verdrehung der Wahrheit bewusst und gewinnbringend eingesetzt. Bei beiden Formen gehe es nach Hendricks und Vestergaard um die Auflösung des Dualismus von wahr und falsch an sich, was sie gefährlicher als herkömmliche Formen der Lüge mache (ebd.: 108). Im Fall des Bullshits geschieht dies indem Ablenkungsmanöver eingesetzt werden und im Falle von Fake News in Form von als Journalismus getarnte »Nachrichten«, die nicht darauf abzielen Informationen zu transportieren, sondern Traffic zu generieren oder abzulenken. Ergänzend ist hier auch das Darstellen von »Meinungen« als populistisches Mittel zu nennen (Dyk 2017: 351f.), die die oder der Sprechende angeblich irgendwo gehört habe und somit auf einen imaginären Diskurs referiert: Dies soll im Folgenden knapp umrissen werden.
Aufmerksamkeit und die Krise der Faktizität In Anschluss an Hannah Arendts Arbeiten zum Verhältnis von Lüge und Politik beschreibt Silke van Dyk das problematische Verhältnis von Meinungen und Fakten im öffentlichen Diskurs. Nach Arendt bestünde der Unterschied zwischen klassischer und moderner Lüge darin, dass moderne Lügen die Unterscheidung zwischen wahr und falsch an sich unterliefen.6 Während die klassische Lüge die Wahrheit nur verberge, vernichte die moderne Lüge diese langfristig7 (Arendt 2003 zit.n. van Dyk 2017: 351). Auf der anderen Seite neige auch die faktenbasierte Wahrheit dazu, sich zu verabsolutieren indem sie an die Stelle der Politik trete (ebd.). Die Argumentation mit scheinbaren Sachzwängen und deren expertokratische Legitimation im politischen Diskurs zerstöre somit politisches Handeln, da gesellschaftliche Entscheidungen nicht mehr demokratisch verhandelt werden können. Allerdings folge nach van Dyk im Anschluss an Arendt daraus keine Gleichwertigkeit der Meinungen als scheinbare Alternative zu Fakten und diesen selbst. Arendt verweise lediglich darauf, dass aus Fakten keinerlei politische Handlungsempfehlung abzuleiten sei, sondern dass diese immer politisch verhandelnd werden müssen (ebd.: 352). Das Verhältnis zwischen Fakten und Meinungen wird im nächsten Kapitel genauer beleuchtet. Abschließend kann somit festgehalten werden, dass gegenwärtig gemäß der Überforderungsthese menschlicher Aufmerksamkeit davon ausgegangen werden
6 7
Hier bestehen Parallelen zu den von Hendricks und Vestergaard beschriebenen Phänomenen auf der letzten Stufe der Informationsqualität (Hendricks/Vestergaard 2018: 100f.) Hannah Arendt sehe beispielsweise die gezielte Desinformationskampagne der amerikanischen Regierung im Vietnamkrieg, die durch die Veröffentlichung der »Pentagon Papers« offenkundig wurde, als Beispiel für eine moderne Lüge (ebd.).
Zum kritischen Potential der Aufmerksamkeit in postfaktischen Zeiten
kann, dass durch eine Zunahme an Informationen, einem Wandel der Arbeitsorganisation sowie der steigenden Komplexität gesellschaftlicher Prozesse auch die gesellschaftlichen Anforderungen an die Aufmerksamkeitsleistung größer geworden sind. Zusätzlich ist gemäß der Vereinnahmungshypothese darauf hinzuweisen, dass Aufmerksamkeit aktuell zum Objekt politischer und ökonomischer Spekulation und direkter Manipulation geworden ist. Beide Entwicklungen verhindern langfristig, dass gesellschaftliche Herausforderungen als solche erkannt und politisch gelöst werden können. Silke van Dyk konstatiert in diesem Zusammenhang eine Krise der Faktizität (van Dyk 2017), während Hendricks und Vestergaard (2017; 2018) von einer Demokratie im postfaktischen Zustand sprechen. Diese stelle eine ernstzunehmende Gefährdung des Projekts der Aufklärung im digitalen Zeitalter dar (Hendricks/Vestergaard 2018: 8).
Verstrickungen: Postfaktizität und Wissenschaft »Vielleicht nehme ich die Verschwörungstheorien zu ernst, aber es bereitet mir Kopfzerbrechen, wenn ich in diesen verrückten Mischungen aus reflexhaftem Unglauben, pedantischem Bestehen auf Beweisen und freiem Gebrauch kraftvoller Erklärungsmuster aus dem sozialen Nirgendwo viele Waffen der sozialen Kritik wiederfinde.« (Latour 2007: 16) Das Phänomen postfaktischer Informationsmilieus steht, wie bereits dargestellt, im Zusammenhang mit der erhöhten Anforderung an die menschliche Aufmerksamkeit als nicht intendierter Nebeneffekt gesellschaftlicher Transformationen sowie durch bewusst eingesetzte, politisch oder ökonomische Manipulationsstrategien. Allerdings unterschlägt die bisherige Analyse den Beitrag, den Wissenschaft und Forschung selbst zu deren Entwicklung geleistet hat. »Postfaktisch« wurde 2016 medienwirksam zum »Wort des Jahres« durch die Gesellschaft für deutsche Sprache gewählt (Schaal/Fleuß/Dumm 2017). Sie begründete ihren Entschluss mit der Analyse, dass gegenwärtig politische Entscheidungen zunehmend emotional statt faktenbasiert getroffen würden. Diese Entwicklung stünde mit der Hinwendung immer größerer Teile der Bevölkerung zu populistischen Akteur*innen in Verbindung, häufig als bewusstes Zeichen gegen etablierte politische Akteur*innen8 : 8
Hier ließen sich neben politischen Akteur*innen wie beispielsweise Donald Trump und anderen Populist*innen vor allem die Demonstrationen gegen die staatlichen Präventionsmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie anführen, deren Teilnehmende sich unter Berufung auf die Meinungsfreiheit scheinbar irrational über jegliches wissenschaftliches Faktenwissen hinweg, gegen eine diffuse ökonomisch-staatliche Elite zu Wehr setzen und nicht selten krude Verschwörungstheorien teilen.
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»Immer größere Bevölkerungsschichten sind in ihrem Widerwillen gegen ›die da oben‹ bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen bereitwillig zu akzeptieren. Nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern das Aussprechen der ›gefühlten Wahrheit‹ führt im ›postfaktischen Zeitalter‹ zum Erfolg […].« (GfdS 2016) Zurückkommend auf das eingangs erwähnte Zitat von Sibylle Berg, könnte diese Hinwendung zum Populismus gemäß der Überforderunghypothese menschlicher Aufmerksamkeit als Sehnsucht »nach einem Donnergott« (Berg 2019: 6), nach einfachen Lösungen und starken Führungspersönlichkeiten in einer immer komplexer wirkenden Welt interpretiert werden. Allerdings greift diese Argumentation zu kurz, da sie politische Ursachen, die das Phänomen mitverursacht haben, übersieht. Silke van Dyk (2017: 358) und Frieder Vogelmann deuten den postfaktischen Zustand der Demokratie auch als Folge einer (neo-)liberalen Politik der scheinbaren Alternativlosigkeit: »Wurde ›alternativlos‹ 2010 auch dank Angela Merkels exzessiven Gebrauchs zum Unwort des Jahres gewählt, krönt die öffentliche Debatte heute ›postfaktisch‹ zum Wort des Jahres – und inthronisiert damit eben auch die wahrheitsfundierte Politik der Alternativlosigkeit als unvermeidliche Kehrseite der Diagnose eines »postfaktischen« Zeitalters.« (Vogelmann 2016, o.S.) Hier liegt die Annahme zugrunde, dass den Zeiten postfaktischer Politik eine »faktische Postpolitik« (Vogelmann 2016) im Sinne einer (neo-)liberalen Technokratie vorausgegangen sei, in der politische Entscheidungen als Sachzwänge des Marktes behandelt und somit der öffentlichen Aushandlung entzogen wurden. Wie bereits in Anschluss an van Dyk dargestellt, geht auch Hannah Arendt davon aus, dass der Raum der politischen Verhandlung nicht mit dem Verweis auf Tatsachen geschlossen werden kann, ohne das Politische an sich zu zerstören (Arendt 2003 zit.n. van Dyk 2017: 352). Des weiteren tragen auch problematische Entwicklungen der Wissenschaft selbst zur Skepsis gegenüber wissenschaftlichen Fakten bei. In der Geschichte kritischer Wissenschaft wurde die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis (Kant 1781/2011) sowie der Vertrauenswürdigkeit eigener Ergebnisse (Popper 1934/2005) oder der Vernunft selbst (Horkheimer/Adorno 1944/2008) gestellt. Ein unhinterfragter Glaube an wissenschaftliche Tatsachen scheint also mit einem kritischen wissenschaftlichen Selbstverständnis unvereinbar. Allerdings macht dies Teile des kritischen Instrumentariums somit anfällig dafür, durch eine postfaktische Argumentation vereinnahmt zu werden. Im Folgenden soll die kritische Selbstbefragung zweier in poststrukturalistischer Tradition stehender Autor*innen dargestellt werden, um exemplarisch auf die
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Verstrickung der Wissenschaft selbst in eine Entwicklung vom faktenskeptischen zum postfaktischen Denken hinzuweisen. Das Verdienst postmoderner Wissenschafts- und Erkenntnistheorien liegt nach van Dyk gerade im machtkritischen Hinterfragen scheinbar objektiver Erkenntnisse. Sie grenzt sich deutlich von einer Reduktion der heterogenen postmodernen Forschungslandschaft auf die Rolle einer Wegbereiterin des postfaktischen Zeitalters ab. Dennoch sieht van Dyk auch Grund zur (Selbst-)Kritik. Sie nennt hier zum einen die implizite Normativität postmoderner Wissenschaftstheorie: Die Verbindung von Dekonstruktion und progressiver Haltungen verstünde sich nicht von selbst und werde kaum expliziert (van Dyk 2017: 362). Zum anderen kritisiert die Soziologin, dass im postmodernen Diskurs ebenfalls selten geklärt werde, was jenseits der Dekonstruktion noch »wahr« sein könnte. (Ebd.: 364) Bruno Latour beschreibt in seinem 2007 erschienen Aufsatz »Das Elend der Kritik« die Suche nach zeitgemäßen Instrumenten wissenschaftlicher Kritik. Seine Analyse postmoderner Erkenntnisinstrumente erwächst zum einen aus der Sorge über ein zunehmendes gesellschaftliches Misstrauen gegenüber wissenschaftlichen Fakten: »Ich habe früher selbst einige Zeit mit dem Versuch verbracht, den ›Mangel an wissenschaftlicher Gewi[ss]heit‹ aufzuzeigen, der der Konstruktion von Tatsachen inhärent ist. […] Müssen wir, während wir jahrelang versucht haben, die wirklichen Vorurteile hinter dem Anschein von objektiven Feststellungen aufzudecken, jetzt die wirklich objektiven und unbestreitbaren Fakten aufdecken, die hinter der Illusion von Vorurteilen verborgen sind?« (Latour 2007: 10f.) Latour weist im einleitenden Zitat dieses Kapitels darauf hin, dass sich Denkfiguren kritischer Wissenschaft auch in der Argumentation populistischer Verschwörungsideolog*innen wiederfinden. Diese Vereinnahmung versucht er in seinem Aufsatz erkenntnistheoretisch aufzuklären. Nach Latour stehen sich aktuell zwei konträre wissenschaftlich Positionen gegenüber, die fact position und die fairy position. Während die Erstgenannte sich auf Faktenwissen berufe, nehme die andere die Gegenposition ein und enttarne Fakten als Fetisch. Das kritische Denken der fairy position arbeite nach Latour mit zwei Argumentationslinien: Zum einen werde auf die Fetischisierung des Forschungsobjekts verwiesen, das angeblich nur eine Projektionsfläche individueller und gesellschaftlicher Wünsche und Machtverhältnisse sei und auf der anderen Seite werden objektive Strukturen (z.B. Ökonomie, Diskurs, Gesellschaft etc.), die unbewusst auf Menschen einwirken würden, herausgestellt. Die Kritik Latours richtet sich vor allem dagegen, dass es zwischen den beiden Positionen keinerlei Überschneidungen gebe:
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»Der ganze, ziemlich billige Trick, der die Kritik in Gang hält, besteht darin […], da[ss] zwischen den Objekten in der fact position und denen in der fairy position niemals irgendein Crossover stattfindet. Darum kann man zugleich, und ohne den Widerspruch auch nur zu spüren, (1) bei allem, woran man nicht glaubt, ein Antifetischist sein; […] (2) ein verstockter Positivist bei allen Wissenschaften, an die man glaubt […]; und (3) ein kerngesunder, standfester Realist bei allem, woran einem wirklich liegt – das kann natürlich die Kritik selbst sein […].« (Ebd.: 42) Kritik in der beschriebenen Form immunisiert. Wer kritisch ist, hat Recht. Das kritische Instrumentarium trägt somit aktuell selbst zur Abschaffung des Vertrauens in Tatsachen bei, obwohl die ursprüngliche Intention seit Kant eine Aufklärung über ihre Bedingungen war.9 Die Abkehr von den Tatsachen könne aber nach Bruno Latour nicht im Interesse einer kritischen Wissenschaft sein.
Auf der Suche nach einer anderen Aufmerksamkeit »Der Kritiker ist nicht derjenige, der entlarvt, sondern der, der versammelt.« (Latour 2007: 55) Wissenschaftliche Kritik selbst scheint also problematisch geworden zu sein und droht von falschen Freund*innen eingenommen zu werden. Wie ist ein kritisches Verständnis des Problems menschlicher Aufmerksamkeit zu denken, dass sich nicht in die oben dargestellten Fallen postmoderner Kritik verstrickt? Bruno Latour schlägt hierzu vor, aus dem Dualismus von fact und fairy position auszubrechen und so den Dingen, die uns etwas angehen, näher zu kommen. »Ich will hier die Ansicht vertreten, da[ss] der kritische Geist […], in der Kultivierung einer […] unbeirrt realistischen Haltung zu finden ist, in einem Realismus allerdings, der es auf das abgesehen hat, was ich matters of concern, Dinge, die uns angehen oder Dinge von Belang, nicht matters of fact, Tatsachen, nennen will.« (Ebd.: 21) Die Beschäftigung mit matters of concern ist für Latour durch einen bestimmten Zugang zum Gegenstand gekennzeichnet, den er in Anlehnung an Heidegger als 9
An dieser Stelle lässt sich auch die Attraktivität der Protestbewegung gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen erahnen: Sie fungiert als erkenntnistheoretisches Selbstermächtigungsinstrument mit dem nicht nur die Unsicherheit und Komplexität der gegenwärtigen weltpolitischen Lage reduziert wird, sondern auch Gemeinschaft durch geteilte Feindbilder und Narrative gestiftet wird. Zusätzlich immunisiert sie sich über den kritischen Habitus der fairy position und mit der postfaktischen Substitution von Fakten durch Meinungen. Allerdings lassen sich diese Tendenzen auch in politisch etablierten kritischen Positionen finden.
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Versammeln bezeichnet. Versammeln bedeutet für Latour keinen Reduktionismus auf Fakten und eben so wenig Konstruktion oder Dekonstruktion des Gegenstandes, sondern die Beantwortung der Frage, wie viele »Teilnehmer« (Latour 2007: 54) in einer Sache von Belang enthalten sind, um als solche zu existieren und ihre Existenz aufrecht zu halten. Was ihm vorschwebt ist eine interdisziplinäre Arbeit am Gegenstand unter der Fragestellung, was ihn zu einem Ding von Belang macht (ebd.: 53). Was kann es also heißen aus der menschlichen Aufmerksamkeit ein matter of concern zu machen? Wenn einerseits die Anforderungen an Aufmerksamkeit durch die größere Verfügbarkeit von Informationen und durch einen Wandel der Arbeitswelt steigen und andererseits Aufmerksamkeit durch digitale Medien leichter zu vereinnahmen ist, kann gelingende Aufmerksamkeit pädagogisch nicht mehr ohne Weiteres vorausgesetzt werden. Um Phänomene des scheinbaren Scheiterns an Aufmerksamkeit pädagogisch anders deuten zu können, wird ein Aufmerksamkeitsbegriff notwendig, der Aufmerksamkeit nicht auf eine potenziell immer verfügbare und gegenstandsunabhängige Disposition des Menschen reduziert (Wentura/Frings 2013). Es soll nun der Versuch unternommen werden in Anschluss an das bisher Dargestellte, relevante Aspekte, in Latours Terminologie Teilnehmer*innen, für einen anderen Begriff der Aufmerksamkeit zu versammeln. Jochen Kade plädiert für ein kritisches Verständnis von Aufmerksamkeit und verweist auf die ökonomische Instrumentalisierung eine verkürzten Aufmerksamkeitsbegriffes: »Gegenüber diesem an der Idee leistungsorientierter und steuerbarer Subjektivität orientierten psychologischen Aufmerksamkeitsbegriff steht in der Philosophie ein Begriff von Aufmerksamkeit im Mittelpunkt, der sich […] vor allem von kapitalistisch-ökonomischen Machbarkeitsvisionen ab [-setzt], die die Psychologie noch einmal verstärkt. In dieser Sicht ist Aufmerksamkeit ein kritischer Begriff, der gegen Prozesse der gesellschaftlichen Vereinnahmung von Subjektivität im Zeichen wachsender ökonomischer Strategien der Disziplinierung gerichtet ist.« (Kade 2011: 80) Zur Explikation eins kritischen Verständnisses des Gegenstandes können phänomenologische Arbeiten zur Aufmerksamkeit beitragen. Nach Maurice MerleauPonty ist Aufmerksamkeit immer leiblich situiert und somit per se eingeschränkt verfügbar. Aufmerksamkeit nimmt in der »Phänomenologie der Wahrnehmung« (1966) eine zentrale Funktion für die menschliche Fähigkeit, Sinn erschließen zu können, ein. Der menschliche Zugang zu den Erscheinungen der Welt ist weder beliebig konstruierbar, noch vorgegeben, sondern wird durch die wechselseitige Beschaffenheit des wahrnehmenden Bewusstseins und des wahrgenommenen Gegenstands begrenzt.
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»Die erste Leistung der Aufmerksamkeit ist also die Schaffung eines ›überschaubaren‹ – perzeptiven oder geistigen – Feldes, innerhalb dessen Bewegungen des erkundenden Organs und gedankliche Entfaltungen möglich sind, ohne da[ss] das Bewußtsein immer aufs neue seine Erwerbe einbüßte und sich in den von ihm selbst hervorgerufenen Wandlungen der Situation verlöre.« (Merleau-Ponty 1966: 55) Aufmerksamkeit wäre im Diskurs phänomenologischer Philosophie also als leiblich vermittelte Bewusstseinsfunktion zur Sinngebung zu deuten. Diese ist weder unbegrenzt verfügbar, noch wird sie unabhängig von den wahrgenommenen Gegenständen verständlich. Pädagogische Anschlüsse finden sich hier auch in Arbeiten von Malte Brinkmann (2019) und Käte Meyer-Drawe (2015). In Rückblick an oben Dargestelltes kann der phänomenologische Blickwinkel um den gesellschaftsanalytischen Aspekt steigender Überforderung und Vereinnahmung menschlicher Aufmerksamkeit ergänzt werden. Diese Perspektive ermöglicht es beispielsweise bei Phänomenen der Nicht-Aufmerksamkeit zunächst als fehlende Übereinstimmung der Aufmerksamkeitsleitung des Subjekts und den gesellschaftlichen Aufmerksamkeitsanforderungen zu bestimmen. Phänomene des bewussten Entzuges fokussierter Aufmerksamkeit im Sinne von Zerstreuung werden somit auch als subversiver Akt des Individuums interpretierbar. Hier können beispielsweise als pathologisch beschriebene Phänomene wie der exzessive Gebrauch digitaler Medien oder das Abschirmen der Aufmerksamkeit durch sogenanntes weißes Rauschen, also eine im Hintergrund zur Beruhigung ablaufende Geräuschkulisse anders gedeutet werden. Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass Zerstreuung kein Sonderphänomen der Aufmerksamkeit ist, sondern Aufmerksamkeit viel mehr ein Kontinuum darstellt (Crary 2002: 48). Hans Blumenberg weist darauf hin, dass Aufmerksamkeit immer auch ein subversives Moment innewohnt, das vor allem in ihren Entzug sichtbar wird. »Aufmerksamkeit ist geradezu eine Form von Freiheit. Sie ist die Fähigkeit der Verfügung über das Wahrnehmungsvermögen hinsichtlich seiner Intensität, seines gezielten Aufgebots an Energie. Belehren läßt sich ohne Einbußen von Autonomie keiner, aufmerksam machen jeder.« (Blumenberg 2007: 183) Verkürzt ausgedrückt könnte man festhalten: Aufmerksamkeit ist nicht steuer-, sondern nur verführbar. Dies bedeutet nicht nur, dass menschliche Aufmerksamkeit immer vereinnahmt werden kann, sondern es begrenzt auch falsche Vorstellungen pädagogischer Einflussnahme auf menschliche Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit ist nach Blumenberg immer an Sinn und Interesse gebunden und kann somit durch das wahrnehmende Subjekt auch immer verweigert werden. Vom kritischen Potential der Aufmerksamkeit zu sprechen, könnte also zweierlei bedeuten: Zum einen, dass sich Aufmerksamkeit gegenwärtig gesellschaftlich insofern an einem kritischen Punkt befindet, als dass die Anforderungen an
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menschliche Aufmerksamkeit stetig steigen und die Möglichkeit ihrer politischen und ökonomischen Vereinnahmung in einer (post-)digitalen Lebenswelt (Jörissen 2019) zunimmt. Zum anderen kann kritisches Potential der Aufmerksamkeit auch als Anforderung an die Pädagogik gedeutet werden, Phänomene des scheinbaren Scheiterns der Anforderung an gerichteter Aufmerksamkeit auf ihr widerständiges Potential hin zu befragen.
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Problem- und Zeitdiagnose Unsere Welt ist in Aufruhr und sie steht wieder einmal auf dem Prüfstand, darin scheint kein Zweifel zu bestehen. Angesichts der Corona Pandemie und der schrecklichen Tötung des Schwarzen George Floyd durch vier weiße Polizisten, entstand (abermals) ein Aufbegehren gegen die zumeist patriarchalen Strukturen systematischer Diskriminierung von Schwarzen in den USA. Denn auch die Pandemie bringt zum Vorschein, dass es den USA 56 Jahre nach der Apartheit in Wahrheit nie gelungen ist, den strukturellen Rassismus zu überwinden: »Corona trifft die Ärmsten am härtesten, und die gehören wiederum überdurchschnittlich häufig zu rassistisch diskriminierten Minderheiten. Schwarze (und Latinos) infizieren sich dreimal so häufig mit dem Virus wie Weiße.« (Brinkbäumer/Lau 2020: 3) Zudem wurde nach dem Tod der feministischen Ikone Ruth Bader Ginsburg, eine strengkonservative Abtreibungsgegnerin für den Supreme Court von Trump nominiert und im Schnellverfahren eingesetzt. Parallel dazu werden in den Kultur- und Geisteswissenschaften überlieferte Gewissheiten und Rechte hinterfragt sowie postkoloniale Strukturen offengelegt, die demokratische Selbstverständnisse »westlicher Gesellschaften« berühren. Betrachtet man die diversen Diskurse in Amerika aber auch in Deutschland bzgl. Polizeigewalt, internationaler Wirkungsmacht oder die ungerechte Verteilung von Wissensbeständen bis hin zu diversen Diskursen über kulturelle Bestände in west-europäischen Museen, so zeugen diese Debatten von einer zunehmenden Kritik an faktischen Zuständen, die gesellschaftliche Grabenkämpfe unterschiedlicher politischer Couleur zur Folge haben. Es geht in den politischen Auseinandersetzungen nicht nur um Identitäten und Ressourcen, sondern vor allem auch um die Frage, unter welchen Bedingungen Zugehörigkeit gewilligt oder verwehrt wird. Aus soziologischer Perspektive befinden wir uns somit in einer Zeit tiefgreifender Transformationen, Konflikte, Brüche und (Dauer-)Krisen, denn chronologisch betrachtet durchlebt der Mensch im 21. Jahrhundert bereits die Finanz-, Flüchtlings-, Demokratie-, und Umweltkrise. Es wirkt daher nicht
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abwegig zu wünschen, dass eine große gesellschaftspolitische Veränderung den anhaltenden Krisenmodus umkehren sollte. Blickt man auf die Performativität revolutionärer Bewegungen so symbolisiert die gen Himmel gestreckte Faust Widerstand, eine Geste, die den Körper als politisches Instrument des Protests nutzt, um zu zeigen, dass es meist der Körper ist, der stigmatisiert und verletzt wird. Die performativ inszenierte Faust fordert den Umsturz des bestehenden Systems und symbolisiert Freiheit, die hart erkämpft werden muss – dies verdeutlichten u.a. die black panther und später black power Bewegung in den siebziger Jahren, welche gegen eine sichtbare Unsichtbarkeit afro-amerikanischer Bürger*innen in den USA protestierten, indem sie der Gesellschaft etwas über die inneren Spannungen aufgrund ihrer Minderheitsposition erzählten und den rassistischen Zuständen einen politischen Ausdruck verliehen. Die Geschichte von Rosa Parks bestätigt als weiteres Beispiel die Kraft der Gesten als performativer politischer Akt. Das aktuelle flammende Aufbegehren gegen den systematischen Rassismus gipfelte im Juni 2020 in Bristol, als Demonstrierende das Denkmal des Sklavenhändlers Edward Colston durch die Stadt rollten und am Ende im Hafenbecken versenkten. Ähnliche Aktionen folgten in Brüssel, Boston und anderen Städten, in denen die Demontage vergleichbarer Denkmäler, Straßennamen oder Städtenamen diskutiert wurden. Angesichts der Zustände wurde das Gefühl erzeugt, es sei eine Revolution der Unterdrückten im Gange. Auffallend sind die Umsturzfantasien patriarchaler Ordnungen und Systeme, da nicht zum ersten Mal weiße europäische Männer im Fokus der Schuldfrage stehen und zur Rechenschaft herangezogen werden. In den postkolonialen Wissenschaftsstudien oder der feministischen Wissenschaftstheorie wird diese doch sehr umstrittene Dialektik u.a. deutlich: Der Aufklärer Immanuel Kant, jener der auf der einen Seite das moderne Ziel der Erziehung prägte, indem er zu Vernunft und Verstand aufrief und damit als Wegbereiter der französischen Revolution gelten kann, wird u.a. in der postkolonialen Theorie gebrandmarkt, eine rassistische Ordnung etabliert zu haben, wie u.a. der indische Historiker Dipesh Chakrabarty1 zu verstehen gibt: »Es war das Europa der frühen Neuzeit und der Aufklärung, das der Welt zwar viele der zentralen politischen Ideen der Moderne schenkte […], aber diese Ideen gleichzeitig zur Rechtfertigung der Unterdrückung anderer benutzte.« (von Thadden 2020: 42)
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Der indische Historiker Dipesh Chakrabarty wurde 2014 mit dem renommierten ToynbeePreis ausgezeichnet und ist ein engagierter Forscher zur Geschichte des menschengemachten Zeitalters: dem Anthropozän. Laut seinen Feststellungen könnte »der Mensch die erste Spezies in der Geschichte des Planeten [sein], die sich selbst auslöscht«. (Chakrabarty 2019: o.S.)
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Diese These ist durchaus umstritten, denn ein wesentlicher aufklärerischer Gedanke gilt der Überzeugung, dass der Mensch gleich seiner Hautfarbe und Herkunft die Möglichkeit hat, in der jeweiligen Gesellschaft durch Leistung die eigene Position zu verbessern und zu halten. Mit den aktuellen Erscheinungen des bröckelnden Prinzips der Meritokratie, wirken die Ideale der Aufklärung im Sinne der Gerechtigkeit und Gleichheit für alle Menschen erschüttert. Diese skizzierten zeitdiagnostischen Überlegungen sozialer Phänomene führen zu der Annahme, das sog. »Widerstandsherde« (Foucault 2019) neue Techniken der Macht an den Tag legen sowie neue Denk- und Verhaltensweisen im Alltag prägen können, die das gesellschaftliche Leben hinterfragen und die darin verhandelten Diskurse umwälzen; auch und gerade im Umgang mit Fakten im PostFaktischen Zeitalter. Aber wie kann eine solche Zukunft von übermorgen aussehen, die den natürlichen Lebensgrundlagen gerecht wird, im Sinne gleicher Menschenrechte für alle, hinsichtlich der aufgebrauchten ökologischen Ressourcen oder angesichts der politischen Kontrollverluste aufgrund eines autoritären Kapitalismus im Anthropozän oder Kapitalozän? Im Folgenden möchte ich also den Versuch unternehmen, eine Suchbewegung nach dem Anfang einer Transformation mit der Frage zu verbinden: Was braucht es zur Revolution? Gibt es anthropologische und sozialtheoretische Konzepte, die gesellschaftliche Schieflagen neu ordnen, geradebiegen oder umwälzen, gar revolutionieren? Und wenn ja, welche praktischen Bezugspunkte für (erkenntnis-)politische Widerstände gibt es im Zeitalter der postfaktischen Verunsicherung über gesellschaftliche Grundfragen? Welche Vorstellungen von zukünftiger Gemeinschaft besitzen wir angesichts der sozialen Verfasstheit von Menschen und wie können wir unser Handeln in der größten Krise unserer Zeit verändern, damit wir den Bedingungen für eine nachhaltige Welt gerecht werden? Ein erster Gedanke führt zu neuen Formen der Kooperation und Solidarität, die der »Vielfalt menschlicher Würde« (Bieri 2013) entsprechen.
Soziologische und psychologische Einbettung Seit den Anfängen der Soziologie, die man als »Wissenschaft von den Beziehungsformen der Menschen untereinander« (Simmel 1987: 46) kennzeichnen kann, sind Debatten über gesellschaftliche Teilhabe und Integration zentrale Themen bei der Herstellung einer sozialen Ordnung in den jeweiligen politischen Systemen. Dabei waren Formen der Solidarität (Durkheim 1897/1990), klassische Ansätze zur Integration kraft legitimer Ordnung und Herrschaft (Weber 1922/1976) oder neuere Konzepte um den Inklusionsbegriff (Booth/Ainscow 2003), wegweisend für ein Verständnis von sozialer Verbundenheit. Zentral für das menschliche Miteinander steht die Wahrung und der Schutz der Würde des Menschen sowie deren (Rück-)Erlangung durch Selbstachtung und Anteilnahme am Anderen. Soziale Verbunden-
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heit läuft dann über den Weg der Begegnung und des sozialen Engagements, dessen Spektrum von unserem Wahrnehmungs- und Einfühlungsvermögen bis zu unserer sozialen Phantasie reicht. »Wir werden auf das, was wir uns am fremden Erleben vergegenwärtigt haben, im eigenen Erleben und Tun antworten, und diese Antwort wird im anderen fortwirken. Nun sind wir in das Leben des anderen verwickelt. Die Beziehung ist geworden, was ich eine engagierte Begegnung genannt habe, eine Beziehung, in der es eine Hitze der Wechselseitigkeit gibt.« (Bieri 2013: 267f.; Herv. i.O.) In unserer westlich-europäischen Hemisphäre der Beziehungsgestaltung geht man mittlerweile von heterogenen Gesellschaftsschichten aus, in denen Möglichkeiten und Strukturen der Teilhabe geschaffen sind, Gleichberechtigung jedoch erkämpft werden muss.2 Zum anderen erinnern aktuelle Debatten über Un-/Zugehörigkeit (Rieger-Ladich/Casale/Thompson 2020) daran, dass es Mechanismen und Praktiken gibt, die Differenzen markieren und Grenzen setzen, von denen immer auch Gruppen der herrschenden Ordnung profitieren und Andere eben diskriminiert werden. Auf diese Weise werden »Regime der Normalität« konstruiert und Lebensentwürfe »nobilitiert« oder »delegitimiert« (Rieger-Ladich 2020: 15). Man kann prinzipiell zwei Theoriestränge differenzieren, die sich der gesellschaftlichen Integrationsdynamik widmen, wenn auch mit unterschiedlichen analytischen, empirischen und erklärenden Ansätzen. Einerseits geht es z.B. im Kommunitarismus um wertbezogene Theorien, andererseits um zum Kampf auffordernde Konflikt- und Anerkennungstheorien wie es bei Coser bis hin zu Honneth zu lesen ist. Dabei wird immer wieder das Verhältnis des ökonomischen zum politischen System relevant, worin sich am Ende Personen in »wutgetränkter Apathie« (Heitmeyer 2018: 186) wiederspiegeln und von »politischer Entfremdung« (ebd.) oder »demokratischer Entleerung« (ebd.) sprechen. Ein Gefühl der Machtlosigkeit und Isolation von politischer Entscheidungsfindung verschleiert die faktische demokratische Ordnung. Die sozialen Lebensprozesse stehen in einem Spannungsverhältnis mit normativen Zwängen, welche »die Individuen zur schrittweisen Entschränkung des Gehaltes der wechselseitigen Anerkennung nötigt, weil sie nur dadurch den stets nachwachsenden Ansprüchen ihrer Subjektivität gesellschaftlich Ausdruck zu verleihen vermögen« (Honneth 1994: 149).
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Eine neue und wegweisende Publikation zur Sorgebedürftigkeit und Diversität übt berechtigte Kritik aus an der Forderung nach Kampf um Anerkennung. Zu empfehlende Literatur der politischen Philosophin Lorey, Isabell (2020): Demokratie im Präsenz, erschienen im Suhrkamp Verlag.
Takt – Resonanz – Widerstand oder »Was braucht es zur Revolution«?!
Fehlende Anerkennungspraktiken bergen die Gefahr einer posthumanen Verdinglichung, in denen Individuen austauschbar und bedürfnislos erscheinen. Die Vision eines nicht-entfremdeten Körpers, die im Sinne von Herbert Marcuse völlig frei von Macht wäre und nur bei sich selbst erscheint, birgt für Michel Foucault keine lustvolle Utopie. Mit Foucault sind Machtverhältnisse immer schon in pädagogischen Beziehungsprozessen eingeschrieben, was sich an prominenter Stelle zeigt und als ein roter Faden in der Menschheitsgeschichte zu wiederholen scheint: »Die Disziplinen des Körpers und die Regulierungen der Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum Leben organisiert« (Foucault 2019: 135). Diese alltäglichen regulierenden Kontrollen der Bevölkerung, die mit Durchschnittswerten, Normalverteilungen und Statistiken von Individualisierungsstrategien oder »Praktiken der Singularisierung« (Reckwitz 2017) hervorbringen, nennt Foucault »BioMacht« oder »Gouvernementalität«. Dabei wird auf das Verhältnis von Machtmechanismen und Subjektivierungsprozessen in zahlreichen pädagogischen Handlungsfeldern seit dem 17. Jahrhundert hingewiesen, was u.a. das Ineinandergreifen von Totalisierungs- und Individualisierungsstrategien im Sinne einer Normalisierungsmacht beschreibt. Die Verstrickung des menschlichen Körpers in un-sichtbaren Machtbeziehungen lässt aus genealogischer Perspektive keine Rückschlüsse auf einen Menschen, der macht-freien Körperlichkeit zu. »Zuerst scheint sich der Pol gebildet zu haben, der um den Körper als Maschine zentriert ist. Seine Dressur, die Steigerung seiner Fähigkeiten, die Ausnutzung seiner Kräfte, das parallele Anwachsen seiner Nützlichkeit und seiner Gelehrigkeit, seine Integration in wirksame und ökonomische Kontrollsysteme.« (Foucault 2019: 134f.) Die Pole der Disziplinen bilden die »politische Anatomie des menschlichen Körpers« und die regulierenden Kontrollen die »Bio-Politik der Bevölkerung« (ebd.: 135). Beide Pole sind in Zwischenbeziehungen zu einem Bündel der »Bio-Macht« verschlungen. »Der zweite Pol, der sich etwas später – um die Mitte des 18. Jahrhunderts – gebildet hat, hat sich um den Gattungskörper zentriert, der von der Mechanik des Lebenden durchkreuzt wird und den biologischen Prozessen zugrunde liegt.« (Ebd.) Im Laufe des Zivilisationsprozesses entstand eine Macht der »Technologien des Selbst«, die die vielfältigsten Bereiche wie die »Fortpflanzung, die Geburten- und die Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit allen ihren Variationsbedingungen […]« (ebd.) etc. umfasst und die einer sorgfältigen Verwaltung unterliegen, in der sich die Souveränität des Staates von nun an materialisierte.
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Mit Judith Butler gesprochen bringt das in Machtverhältnisse verstrickte Subjekt die Selbstverantwortung in der politischen Teilhabe zum Ausdruck. Das Private ist auch bei Butler nicht vom Politischen zu trennen. Die Erscheinung der Körper geht mit einem performativen Überschuss einher. Im besten Fall agiert das gebildete Subjekt gegen soziale Ungleichheit, diskriminierende Missstände oder gegen sichtbare Unsichtbarkeit, was die Disziplinierung der Gesten und eine sinngemäße Verknüpfung mit einem Sprechakt als performativer Akt3 impliziert. In einer performativen Theorie der Versammlung versteht Butler Widerstand als verkörperten, sinnlich-ästhetischen Protest, der sich gegen die gespannten Kräfteverhältnisse formiert. »Kein einzelner Körper stellt den Erscheinungsraum her; sondern diese Handlung, diese performative Geltendmachung findet nur zwischen Körpern statt, in einem Raum, der die Lücke zwischen meinem eigenen Körper und dem eines oder einer anderen konstituiert. Somit handelt mein Körper nicht allein, wenn er politisch handelt.« (Butler 2018: 105) Liest man Michel Foucault, bringt das Subjekt seine Selbstverantwortung in der Verstrickung zum politischen Regime zum Ausdruck. Macht ist auch Widerstand, aber die Freiheit, die bei dem späten Foucault gedacht wird, ist eine Hermeneutik des Subjekts, also eine Selbstauslegung. Inwieweit sich Butler und Foucault unterscheiden, obliegt ggf. der Frage nach dem Grad des aktiven Begehrens zum Widerstand. Für beide scheint Widerstand kein Ausstieg aus der Macht, sondern ein Versuch zur taktischen Umkehrung der lokalen Machtverhältnisse. »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht. Soll man nun sagen, da[ss] man notwendig ›innerhalb‹ der Macht ist, da[ss] man ihr nicht ›entrinnt‹, da[ss] es kein absolutes Aussen zu ihr gibt, weil man dem Gesetz unvermeidlich unterworfen ist?« (Foucault 2019: 96) Diese vielfältigen Arten von Widerstand, seien es -punkte, -knoten oder -herde, so Foucault weiter, können nur aufgrund des strategischen Feldes der Machtbeziehungen existieren.
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Die Perspektive des Performativen rückt den Inszenierungs- und Aufführungscharakter sozialer Praktiken bzw. das pädagogische Handeln im sozialen Geschehen in den Vordergrund. In der Art und Weise, wie wir in Gestik und Mimik, in Blicken, Körperhaltungen, Körperpositionen und Körperbewegungen auf unser Gegenüber antworten, manifestiert sich ein Weltausschnitt, der uns mit leiblicher Kommunikation im Dazwischen interagieren lässt. Diese Art der Körperhaltung sagt uns etwas über die inkorporierten Welthaltungen (kollektiver Takt) und über unseren individuellen Takt.
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»Wie das Netz der Machtbeziehungen ein dichtes Gewebe bildet, das die Apparate und Institutionen durchzieht, ohne an sie gebunden zu sein, so streut sich die Aussaat der Widerstandspunkte quer durch die gesellschaftlichen Schichtungen und individuellen Einheiten.« (Ebd.: 97) Im Rahmen seiner Professur an der Sorbonne Université Paris war Foucault immer auch Teil der Arbeiterbewegung und setzte sich für die Befreiung von Sexualität ein, die zunehmend mit Formen des Kapitalismus einherging. Mit Slogans wie Nehmt eure Wünsche für Wirklichkeit und Lasst uns hemmungslos genießen, fühlte er sich stärker verbunden mit der Arbeiterklasse als mit dem universitären classement, zu dem er ein ambivalentes Verhältnis pflegte. Die kleineren politischen Versammlungen auf den Straßen von Paris oder San Francisco galten dem verstaubten, steifen und bürgerlichen Establishment, in denen er sich öffentlich als Grenzgänger den institutionellen Ordnungen des Staates sichtbar widersetzte. In der öffentlichen Rede nutzte er die diskursive Dialektik des Nicht-/Sagbaren bzw. Tabuisierten. »Ein Hauch von Revolte, vom Versprechen der Freiheit und vom nahen Zeitalter eines anderen Gesetzes schwingt mit im Diskurs über die Unterdrückung des Sexes. […] [D]ie Revolution und das Glück oder die Revolution und ein anderer, ein jüngerer, ein schönerer Körper oder auch die Revolution und die Lust.« (Ebd.:14) Foucault sah in der Auslebung der Sexualität sowie im geforderten Maß der Selbstbeherrschung und des Zwangs den Körper im Zentrum der Disziplinierungsprozesse, auf den ein gleichmäßiger und beständiger, normativer, wohl auch produktiver Druck ausgeübt wurde. »Die Codes für das Rohe, Obszöne oder Unanständige waren recht locker, verglichen mit denen des 19. Jahrhunderts.« (Ebd.:11) Diese freimütige Perspektive auf den Menschen, wie Foucault sie in seinem ersten Band zu »Sexualität und Wahrheit« (1983/2019) beschreibt, sollte sich im Laufe der Industrialisierung bis zur Postmoderne grundlegend verändern. In den weiteren Sozialforschungen werden Abbilder eines Gesellschafts- und Persönlichkeitstypus sichtbar, die sich besonders auf psychologisch-medizinische Aspekte beziehen, um beispielsweise anhand von Praktiken der Impuls- und Affektregulation, Transformationen von Aussenzwängen (Fremdbestimmung) zu Innenzwängen (Selbstkontrolle) darzustellen. Ähnlich wie Michel Foucault beschreibt Norbert Elias die Zivilisation als eine gemeinsame Übereinkunft für die Notwendigkeit des Erlernens individueller Selbstregulierungen im Zusammenleben mit anderen Menschen (Elias 1969). Der Zivilisationsprozess verläuft auf der Ebene des sozialen Verhaltens als strukturierte Veränderung des psychischen Apparats. Auf diese Weise strukturierten die Konzepte Takt und Scham die Gepflogenheiten Anfang des 17. Jahrhundert, nicht zuletzt, wie man über Sex zu sprechen habe, bis ins späte 19. Jahrhundert hinein. Die Triebregulierung wird zum Selbstzwang als richtiges Verhalten in das Bewusstsein des modernen Menschen eingeschrie-
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ben, anhand einer Reihe kultureller Praktiken des modernen Individuums im fortschreitenden Zivilisationsprozess als Teil der Identität des Menschen formiert, und schließlich anhand der historisch entstandenen sozialen Strukturen habitualisiert. Der Mensch ist von dieser kafkaesken Prägeapparatur erst zu einem »zivilisierten Wesen« geworden, in dem die Fremdzwänge in Selbstzwänge verwandelt und im Sinne eines fortgeschrittenen Zivilisationsprozesses modelliert wurden. Mit Hilfe der Distinktion sozialer Praktiken beleuchtet der Taktbegriff in all seinen vielschichtigen Dimensionen die »Interdependenzketten« (ebd.) innerhalb der Gesellschaftsteilnehmer*innen und wirkt als Bindeglied zwischen den sozialstrukturellen Transformationen und den Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur. In vielen ethnographischen und theoretischen Annäherungen an ein Konzept des pädagogischen Takts (Gödde/Zirfas 2012; Burghardt/Krinninger/Seichter 2015; Burghardt/Zirfas 2019; Friesen/Senkbeil 2022) wird im Folgenden davon ausgegangen, dass die Dimensionen des Raumes mit denen des Körpers über Grenzbeziehungen miteinander verflochten sind. »Jeder begegnet dem anderen gemäß einer »Zeit«, einer Skandierung, einer Haltung, die je unterschiedlich sind. Und in einer Begegnung tauschen sich diese Zeiten aus oder sie vermischen sich.« (Meister/Nancy 2021: 32)
Pädagogisch-anthropologische Bedeutung von Takt Die anthropologischen Reflexionen zu Disziplinierungs- und Erziehungspraxen fokussieren sich auf die Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels und den damit einhergehenden Transformationsprozessen des Subjekts. Die Diskurse zu den Auswirkungen der Vertaktung der Gesellschaft skizzieren eine kulturell bedingte Dialektik zwischen Formen der Leistungssteigerung und »Unverfügbarkeit« (Rosa 2019) des Menschen. Die Absichten bei jeglichen soziologischen Werken waren meist von gleicher Natur: Es ging um die Sichtbarmachung der Folgen der Ökonomisierung, Optimierung und letztlich Normierung des Menschen mit einem simultanen Appell zur kritischen Reflexion des eigenen Verhaltens mit der Absicht der Verbesserung der Lebensverhältnisse aller Menschen. Genauso vertritt MeyerDrawe (1990) das Ziel der Emanzipation und bezieht die Machttheorie Foucaults in ihre Überlegungen ein, wenn sie schreibt: »Das Aufbegehren gegen Herrschaft, die aufgrund ihrer subtilen Institutionalisierungen und ihrer Verlagerung von körperlicher Tortur zu zivilisierter Disziplinierung immer unsichtbarer und damit undurchschaubarer und damit schließlich auch durchgreifender wird, ist weiterhin Aufgabe des kritischen Denkens.« (Ebd.: 41)
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Dabei geht es um den Modus der Vergesellschaftung in Gemeinschaften und Beziehungen, um Formen der Intersubjektivität sowie um die Perspektive, was einen Menschen ausmacht, was er sei und was ihn ob seiner charakteristischen Wesensbestimmungen im Zuge innerpsychischer Ambivalenzen eint. Im Zuge seiner »historischen Stunde« (Adorno) erscheint der Takt als »Kompensation für die mit der modernen Welt einhergehenden Verlust- und Wandlungserfahrungen von Konventionen und Werten, von moralischen Haltungen und sozialen Anstandsformen« (Gödde/Zirfas 2012: 12) und zielt auf genuin interaktionistische, soziologische und anthropologische Dimensionen konvergierend, die zugleich die praktischen Vorgaben der Pädagogik konstituieren. Zu erwähnen ist die phänomenologische Erziehungswissenschaft, die u.a. kulturelle Phänomene wie Leiblichkeit, Körperlichkeit und Emotionen in pädagogischen Räumen (und deren Wirklichkeitskonstruktionen) untersucht (Brinkmann 2019) und zudem der Frage nachgeht, wie sich soziale Verbundenheit konstruieren und aufrechterhalten lässt. Auch zeigen leibphilosophische Analysen, dass Menschen nicht nur selbstbestimmte Individuen, sondern immer auch existentiell miteinander verbundene Wesen sind, die auf der Suche nach Gemeinschaft und Solidarität in emanzipatorische Kämpfe verwickelt sind (Böhme 2019). Aus pädagogisch-anthropologischer Perspektive sind Phänomene wie Endlichkeit, Fragilität und Vulnerabilität dem Menschen inhärent und erfordern einen präventiven Grundzug menschlichen Handelns. Für eine Anthropologie der Sorge bedeutet dies zudem eine schützende, pflegende und sorgende Haltung einzunehmen. Takt impliziert die reziproke Anerkennung der Interaktionsteilnehmer*innen, als Grundlage für das Verstehen sozialer und politischer Zusammenhänge und strebt einen Modus an, des sich zur Welt in Beziehung setzens (Honneth 1994; Vogelsang 2020). Im Zusammenhang von Gemeinschaftsbildung, Körperlichkeit und Vulnerabilität verweist der Takt auf eine spontane, kreative, feinfühlige und responsive Handlungspraxis, die das phänomenologische Moment des Sich-Anfühlens als Art ästhetisches Messinstrument operationalisiert. Die Vorrangigkeit des Anderen spielt bei der Entwicklung der Subjektbildung die entscheidende Fokussierungsebene performativer sozialer Prozesse, die sich im interaktionistischen Setting habituell formen und Selbstwirksamkeit erfahrbar machen. »Was meine Geste für den Anderen bedeutet, kann ich mir dadurch zu Bewu[ss]tsein bringen, da[ss] ich mein Antwortverhalten gleichzeitig in mir Selbst erzeuge.« (Honneth 1994: 118) Aus dieser Perspektive erscheint der Takt als ein Gemeinschaftsphänomen, als sozialer Schwarm, dass auf eine internalisierte Grenzerfahrung zielt, doch gleichzeitig an eine Gruppe von Individuen gebunden ist und aus dem Kollektiv emergiert. Diese psychoanalytische Komponente des Takts kann als ein zurückgeworfen-Sein auf sich selbst im Rahmen von Fremdheitserfahrungen verstanden werden. Die Beschreibbarkeit des Taktphänomens, welches in seiner »Fragilität« (Senkbeil 2020), im Zwischenraum von Ordnung und Unordnung, und in seiner Abhängigkeit von
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der Reziprozität seiner Teilnehmer*innen vermutet wird, zeugt aus philosophischer Perspektive (einer Nicht-Notwendigkeit alles Bestehenden) von der Unverfügbarkeit menschlichen Handelns. »[G]erade die Unbestimmtheit der Verhaltensmöglichkeiten sei nämlich dem Umweltverhältnis von Menschen wesentlich, erst auf dieser Grundlage würde die spezifisch menschliche Form der Vergesellschaftung plausibel« (Lindemann 2009: 42). Dieses unsichtbare Gesellschaftsband des Takts impliziert ethisch-moralische sowie soziale Anerkennungsbeziehungen, die zwar unverfügbar, doch aber faktisch real erscheinen, wenn es sich um Formen der Ausgrenzung wie Zugehörigkeit handelt. Mit den Gedanken Johann Friedrich Herbarts zum unüberwindbaren Übersetzungsproblem zwischen Theorie und Praxis prägen weitestgehend die Themen Sittlichkeit, Bildsamkeit und die Kunst der Erziehung die letzten 200 Jahre der Erziehungswissenschaft. Für ihn trat der Takt als unmittelbarer »Regent der Praxis« (Herbart 1802) in Erscheinung, der die Leerstellen des Pädagogischen stetig neu verhandelt. Die Theorie wächst erkenntnistheoretisch mit der Praxis. Die Erziehung oder kulturelle Überformung des Leibes, die dem Menschen sozial vorgegebene Haltungen, Manieren und Benehmen vermittelt, wird als gewohnheitsmäßiger Habitus selbst zur zweiten Natur und symbolisiert eine Welthaltung. Als konstitutiv für pädagogisch-anthropologisches Denken und Handeln galt für Herbart eben jenes Prinzip der Bildsamkeit, welches sich einerseits generiert aus einer (empirischen) Bildungsfähigkeit, im Sinne entwicklungspsychologischer und erfahrungsbasierter Ereignisse im Leben des Individuums, zum anderen aus einer gesellschaftlich-normativen Grundbedingung, als eine Erfahrung der Unmittelbarkeit von Erkenntnis und Handeln. Das Konzept des pädagogischen Takts versteht sich als ein praktisches Umgehen mit potentiellen Verletzungen, Widersprüchen, Konflikten oder atmosphärischen Merkwürdigkeiten sowie Unklarheiten, die sich nur schwer einer absoluten Gewissheit zuschreiben lassen. Die einführend beschriebenen zeitgenössischen Konflikte markieren eine mindestens doppelte Vulnerabilität der Betroffenen, aufgrund der gegebenen Intersektionalität von people of colour. »Darüber hinaus betont das Verständnis von Vulnerabilität als Potentialität deren Relativität und Relationalität. Vulnerabilität existiert nicht ›an sich‹, sie ist nicht einfach da, sondern lässt sich nur in spezifischen (pädagogischen) Zusammenhängen, die mit Leiblichkeit, Sozialität und Kulturalität verknüpft sind, wahrnehmen und begreifen.« (Burghardt/Zirfas 2019: 77) Im Hinblick auf das Fremde oder Andere aber auch auf die eigene Wirklichkeit in phänomenologischen Erscheinungen, bedarf es einem Maß an »Fingerspitzengefühl für die besonderen (habituellen) Wertigkeiten des Fremden. Dieses Gefühl entwickelt sich erst in einem längeren, kognitiven wie leiblichen Erfahrungs- und Lernprozess mit dem jeweiligen Fremden« (Zirfas 2015: 36). Das Erkennen des An-
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deren oder Fremden bildet die Anerkennung seiner oder ihrer Differenzen und mündet gleichzeitig in eine Beziehungspraxis der Förderung und Formung von inklusiven Standards in der Vermittlung und im Umgang mit Heterogenität in der konkreten pädagogischen Praxis. Die Wissenschaft liefert dabei noch keine allgemeingültigen Begriffe und Sätze, denn »ihre Unbestimmtheit, die unmittelbar aus der Allgemeinheit folgt, treffen nicht die konkrete Kunst der Erziehung, die immer vielfältiger und aspektreicher ist, als jede Theorie je sein kann« (Schubert 2015: 145). Aufgrund der reziproken Eigenschaft des Takts gibt es eine Unterscheidung bzgl. des individuellen und kollektiven Takts. Das Leben kann daher aus dem (kollektiven) Takt geraten, auch wenn der Mensch seinem inneren Takt folgt. Vielmehr zeigt sich Takt als kritische Haltung zur blinden Konformität aber Bereitschaft, für die richtigen Werte im Leben aktiv einzustehen.
Resonanz als Selbst- und Weltverhältnis Anknüpfend an Formen gesellschaftlicher Identität und Zugehörigkeit bilden die diversen Publikationen von Hartmut Rosa wie »Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne« (2005), »Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung« (2016) oder seine jüngste Erscheinung »Unverfügbarkeit« (2019), einen produktiven Referenzpunkt für zeitgenössische Gesellschaftsdiagnosen. Rosa attestiert der spätkapitalistischen Gesellschaft eine kulturelle Beschleunigung, in der das Subjekt permanent der Gefahr unterläuft, an Depression, Burn-Out zu erkranken oder an einer Lebenskrise, Beziehungskrise, bis hin zu Demokratie- oder Umweltkrisen zu scheitern, die letztlich die eigenen dysfunktionalen Formen der Verbundenheit mit der Gesellschaft bestätigen. Das Subjekt wird getrieben von einem Resonanzbegehren, vor allem außerhalb der analogen Welt, was zu einer Desynchronisation bis hin zur Entfremdung führen kann, wenn die gewünschte Fremdresonanz wegfällt oder ausbleibt. Da die Moderne strukturell auf Wachstum ausgerichtet ist, und der Mensch sich in permanenten dynamischen Stabilisierungsprozessen wiederfindet, sowie seine Kreativität und Innovation trotz schrumpfender Räume vergrößern möchte oder muss, um die eigene Welt verfügbar zu gestalten, gerät der Mensch ins Stocken. Aufgrund der schleichenden Modernisierungsprozesse bilden sich »Widerstände« oder »Aggressionspunkte«, wie es Rosa nennt, die ein reibungsloses Agieren in der Welt erschweren. »Dahinter verbirgt sich ein schleichender Umbau unseres Weltverhältnisses, der historisch-kulturell und ökonomisch-institutionell weit zurückreicht, im 21. Jahrhundert aber nicht zuletzt durch die technischen Möglichkeiten der Digitalisierung und durch die polit-ökonomischen Steigerungs- und Optimierungszwänge
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des Finanzmarktkapitalismus und des entfesselten Wettbewerbs eine neue Radikalität erreicht.« (Rosa 2019: 12) Um diese Schritte genauer nachvollziehen zu können, muss man sich vergegenwärtigen, was Rosa unter der Resonanztheorie versteht. Rosas zentrale Absicht, die Welt als Resonanzpunkt zu verstehen, verweist zunächst auf die phänomenologischen Erscheinungen in der Beziehung zwischen dem Einzelnen und dem Anderen, zu sich, zum Allgemeinen und zu einer Welt, in die wir hineinsozialisiert werden. Der Mensch orientiert sich in jeweiliger Wechselwirkung mit der Welt an einer ressourcenorientierten Lebensführung. Er ist aufgrund verschiedener Wettbewerbsfaktoren einem gesellschaftlichen Konzept der Beschleunigung unterworfen, welches die Akteure geradezu zwingt, taktvoll zu handeln und nach Resonanz zu streben. Für Rosa (2019) strukturiert sich Resonanz anhand vier verschiedener Merkmale, die den Beziehungsmodus des Menschen metaphorisch bestimmen: 1. 2. 3. 4.
Das Moment der Berührung (Affizierung) Das Moment der Selbstwirksamkeit (Antwort) Das Moment der Anverwandlung (Transformation) Das Moment der Unverfügbarkeit.
Rosas analytische Überlegungen zeigen auf, wie die Subjekte oberflächliche Beziehungen der Beziehungslosigkeit führen und in ihrer Lebensführung nicht mehr in der Lage sind, mitschwingende und verbundene Relationen mit anderen Menschen zu führen. Sie sind in verschiedenen Dimensionen ihres Lebens zunehmend negativ beeinflusst und leiden unter psychischen Störungen aufgrund zunehmender Optimierungszwänge. Den Zustand der »beziehungslosen Beziehung, in der sich Subjekt und Welt innerlich unverbunden, gleichgültig oder sogar feindlich gegenüberstehen« (ebd.: 37) nennt Rosa Entfremdung. Eine solche fehlende Form des Weltverhältnis geht auf die Kulturleistung der Moderne zurück, die aufgrund der Digitalisierung für das Schmelzen globaler Distanzen die Formen der Erreichbarkeit und Responsivität völlig neu justierte. »Responsivität oder eben Resonanzfähigkeit wird so gleichsam zur Essenz nicht nur des menschlichen Daseins, sondern aller möglichen Weltbeziehungen; sie geht dem Vermögen, Welt auf Distanz zu bringen und verfügbar zu machen, unaufhebbar voraus.« (Ebd.: 38) Aufgrund seiner technischen Möglichkeiten ist es dem Menschen gegeben, seine Distanz zur Welt so zu manipulieren, dass die erwünschte Reichweite zur nächsten Person digital über verschiedene Chatportale oder Messenger Dienste herbeigechattet oder auf aggressive Weise weggewischt werden kann, blickt man auf Flirtportale wie Tinder oder Instagram. Rosa nennt diese Form der Weltbeziehung
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distanzierend-aggressiv. Sie kann als Voraussetzung des »exzentrisch positionierten« Lebewesens Mensch gedeutet werden, der »in der Lage und gezwungen ist, zu sich selbst und zu seinem Weltverhältnis auf Abstand zu gehen, sich also gleichsam von außen zu betrachten« (Rosa 2019: 37). Die Lösung sei nicht Entschleunigung, sondern Resonanz, »was als positiver Zielwert mit einem Überwinden von Entfremdung erreicht ist« (Rosa 2016: 19). In diesem Sinne sind resonante Weltbeziehungen auch taktvolle Weltbeziehungen: sie implizieren eine Wechselwirkung zwischen den in Verbindung stehenden Subjekten und führen zu einem gelingenden Leben. Taktlose Weltbeziehungen beschreiben entfremdete Weltbeziehungen, dessen Folge ein misslingendes Leben sei. Stellen wir uns ein Individuum hinsichtlich seiner Körper-Leib-Differenzierung vor, so liegt eine Berührung an der Grenze der Individuen auf bzw. vor der Haut, als Resonanzorgan. Bei den Konzepten Takt wie Resonanz handelt es sich um eine Haltung gegenüber der Welt, die ein gutes Leben bedingt und gelingende menschliche Weltbeziehungen in den Vordergrund stellt. Die Qualität des Lebens spiegelt sich in der Qualität der Weltaneignung wider. In seiner wechselseitigen Bezogenheit sei das Subjekt in einem Selbst- und Weltverhältnis, sprich in seiner Haltung zur Welt, den Menschen, Dingen und der ökologischen Vielfalt, als ein »ecological being« (Morton 2018) konstituiert. Diese Erfahrungen lassen sich nicht trennen vom Subjekt, welches diesen begegnet und sie inkorporiert. Selbst- und Weltverhältnis gehen kongruent einher mit dem Moment der Selbstwirksamkeit, sprich des autonomen Vermögens, mit der Welt aktiv in Beziehung zu treten und auf dieses Affiziert-Werden zu antworten. Dies sei laut Rosa der »Grundmodus lebendigen menschlichen Daseins« (Rosa 2019: 38). Für ihn wird die Resonanzfähigkeit zur Essenz aller möglichen Weltbeziehungen. Wie sich der Mensch mit Hilfe seiner Responsivität positioniert, die Welt auf Distanz hält oder verfügbar macht, geht dieser Fähigkeit voraus. »[D]iese Angewiesenheit auf Resonanz – ist konstitutiv nicht nur für die menschliche Psyche und Sozialität, sondern ebenso schon für die reine Leiblichkeit des Menschen, d.h. für die Art und Weise, wie er mit der Welt taktil und stoffwechselnd, fühlend und dann denkend in Austausch tritt.« (Ebd.) Folgt man Rosa, so können Momente der Resonanz und der Beziehung zu stabilen Resonanzachsen dissoziativen Zuständen der Entfremdung entgegengewirken, was in etwa einem gelingenden Leben durch taktvolle Weltbeziehungen gleichkommt. Resonanzerfahrungen können enaktiver sowie passiver Art sein, indem Menschen in einer offenen Weltbeziehung von der Welt affiziert und intrinsisch erregt werden. Thiemo Breyer & Alexander Gerner (2017) beleuchten den Resonanzbegriff aus einer philosophischen Perspektive. Dies lässt eine Vielfalt von Erscheinungsformen der Resonanz hervortreten, womit performative Erfahrungsräume des Takts aus soziologischer Sicht gemeint sind.
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»Resonanz spielt nicht nur als mechanisches und quantifizierbares Phänomen der homogenisierenden Übertragung, An- und Abgleichung von Schwingung, Oszillation, Vibration und Rhythmus zwischen physischen Körpern eine Rolle, sondern zeigt sich ebenso auf der Ebene der komplexen sozialen Interaktion zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt.« (Ebd.: 34) Aus physikalischer Betrachtung entsteht eine spezifische Beziehung durch die Schwingungen des Körpers und dessen Eigenfrequenz in Bezug auf unser Antwortverhalten, welches sich in Wechselseitigkeit des Anderen stimuliert. Erschwerend in der eigenen Bedürfniswahl und Zielverfolgung scheint die Schwierigkeit gelegen, dass uns zwar die Gesellschaft vermittelt, man könne alles erreichen solange man nur hart an sich arbeitet, doch scheint diese meritokratische Logik oftmals an den unterschiedlichen extrinsischen Rahmenbedingungen (ökonomische, gesundheitliche, biographische etc.) und intrinsischen Voraussetzungen (Belastbarkeit, Intelligenz, Imaginationsfähigkeit etc.) zu scheitern oder wirkt aufgrund der drohenden Leistungsdiktatur demokratiezersetzend. Entfremdung bezeichnet somit den Gegenbegriff einer oftmals einseitigen Kommunikation, bei der das Subjekt lediglich für sich selbst schwingt und keine positive, sondern negative oder keine Resonanz erfährt. »Ohne Liebe, Achtung und Wertschätzung bleibt der Draht zur Welt – bleiben die Resonanzachsen – starr und stumm« (Rosa 2016: 25). Bildsamkeit wird daher als relationaler Prozess der Entstehung und Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen verstanden, welcher in seiner mimetischen Verbindung zur Außenwelt als ein gelungener Prozess performativ und verkörpert zur Geltung kommt. Das Gelingen dieser Resonanzerfahrungen wird durch die jeweilige Konstitution der Inklusion in der Gesellschaft beeinflusst, wie eingangs beschrieben wurde. Rosa unterscheidet zwischen kurzen (und intensiven) Momenten der Resonanzerfahrung und dauerhaften Resonanzbeziehungen, die eine stabile und verlässliche Basis für solche (wiederholbaren) Erfahrungen bilden, und welche er in drei verschiedene Resonanzachsen unterteilt. Solche Resonanzachsen verbinden den Menschen zu seiner Umwelt, verknüpfen sein Selbst mit der Welt und sind abhängig von der jeweiligen, inhärenten Kultur. Gesellschaftliche Werte und Normen konstruieren dabei die notwendigen Bedingungen seines Austauschs, die sich in der Intensität der Schwingung der Körper und des Leibs unterscheiden und zum Teil mit den verschiedenen Welt-Begriffen Mitwelt, Außenwelt, Innenwelt von Helmuth Plessner (1924) verknüpft werden können. Die horizontale Resonanzachse bezieht sich auf die soziale Welt und betrifft Resonanzbeziehungen mit Familie und Freunden, aber auch zur Politik. Die »Strukturen des kollektiv geteilten Lebens zum Sprechen zu bringen, bzw. responsiv zu machen, bildet ein Kernstück« (ebd.: 73) der horizontalen Resonanzsphäre. Die diagonale Resonanzachse beschreibt die Resonanzbeziehungen zu Objekten oder Tätigkeiten wie Arbeit, Bildung, Sport und Konsum, ebenso wie die
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Beziehungen zu Kollektivsingularen, als die Beziehung des Körpers zur Ressourcenorientierung in der materiellen Dingwelt, was im Wesentlichen die objektive Außenwelt betrifft. »In vertikalen Resonanzerfahrungen erhält gewissermaßen die Welt selbst eine Stimme.« (Ebd.: 75) Darunter vereint Rosa die Beziehung zu Natur, Geschichte, Kunst und Religion. Sie ist subjektiv und betrifft das Dasein und das Leben als Ganzes und damit hauptsächlich die Innenwelt. Für ihn gilt Resonanz weniger als akustische Modellierung, sondern er geht von einer »umfassenden Musikalisierung der Welt seit dem 20. Jahrhundert als ein möglicherweise unverzichtbares, weil in seiner Wirkung komplementäres Korrelat zu einer wachsenden Verdinglichung unserer doppelseitigen körperlichen Weltbeziehung« (ebd.: 164; Herv. i.O.) aus. Offene, schwingende und atmende Resonanzachsen führen dazu, dass sich der Mensch im Leben aufgehoben und von der Welt getragen fühlt. Sind die Resonanzachsen hingegen starr, taub und stumm, fühlt sich der Mensch verloren, in die Welt geworfen und sich ihr hilflos ausgesetzt. Rosa geht davon aus, dass alle Subjekte im Laufe ihres Lebens konstitutive Resonanzerfahrungen machen, bei denen der Draht zur Welt intensiv zu vibrieren, ihr Weltverhältnis zu atmen beginnt. Das Zusammenbrechen der Resonanzachsen, kann sowohl Ursache als auch Folge der Entfremdung sein (ebd.). Die Entfremdung vom eigenen Körper verweist auf die »[…] zahllosen medizinischen, gymnastischen, oft auch esoterischen Praktiken oder Ratgeber, welche uns versprechen, den eigenen Körper wieder spüren (und antworten) zu lassen […]« (ebd.: 71). Auf das Verlangen, sich selbst spüren zu wollen, rät Hartmut Rosa, dass für (die Stabilisierung von) Resonanzerfahrungen in erster Linie eine erhöhte Sensibilität, Momente des Innehaltens und der aktiven Suche wichtig sind. Sich Zeit zu nehmen, um die Achtsamkeit auf die eigenen Wahrnehmungsrezeptoren zu richten ermöglicht sich selbst zu spüren, was für das Erleben von Resonanz elementar wichtig ist. Welterfahrung geschieht immer durch eine Verschmelzung von Körper und Sinn. Da aber körperliche Weltbeziehungen der Ausgangspunkt für die Überlegungen sind, rückt die Beziehung zum Leib als kulturell-seelisches Phänomen in den Blickpunkt späterer Betrachtungen. Takt und Resonanz können als handlungsund einstellungsleitende Prinzipien konzipiert werden, dessen Bedeutung sich aus der Bewältigung lebenspraktischer Aufgaben ergeben und größtenteils dem Paradigma einer Lebenstechnik verhaftet sind. Resonanz versucht, ähnlich wie Takt, Kontingenz und Kontinuität im Dialog mitzudenken, wie es Boris Previšič (2020: 53) beschreibt und sich dabei auf die ästhetische Theorie Diderots bezieht. Entscheidend für Selbstsorge und Lebenskunst ist die ästhetische Dimension, der eine hohe Bedeutung zugesprochen wird, da sie mit Antinomien und Widerständen spielerisch und gewaltfrei umgeht, ohne das »Feld der Macht« (Foucault 2019) zu verlassen.
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Fazit und Ausblick Veranschaulichen wir uns anhand eines Banners die revolutionäre Veränderung der Gesellschaft, wie es noch vor 231 Jahren hieß: Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit, so könnte heute Takt, Resonanz und Widerstand ein solches Banner füllen. Die Metaphorik zu Takt und Resonanz hatte in den vergangenen Jahren in der Erziehungswissenschaft ebenso wie in den Kultur- und Sozialwissenschaften insofern eine Konjunktur erfahren, als dass man sich stärker auf die Interaktionszusammenhänge pädagogischer Bemühungen konzentriert. Dabei erweist sich der Takt wie gezeigt werden sollte, als ethische-moralische Orientierungsgröße und das Konzept der Resonanz als Gradmesser für leibliche Empfindlichkeiten. Außerdem wurden die Konzepte auch außerhalb des universitären Kontextes rezipiert, so zum Beispiel in der Sozialen Arbeit oder in der Psychotherapie. Beide Konzepte, Takt und Resonanz, entspringen einer kritischen Haltung als Emanzipationsform gegenüber hyper-kapitalistischen Gesellschaftsformen, die auf der Suche nach Optimierung und Effizienzsteigerung die Konsequenzen für die Menschheit außer Acht lassen. Sie folgen der kritischen Theorie und suchen nach einer Art Lebenskunst oder Anleitung für das richtige Leben, welches im genuin falschen nicht so leicht zu finden ist. Für Theodor W. Adorno (2017) wäre ein Erfolg die Flucht oder der Verzicht auf instrumentelle Verhältnisse der Verdinglichung. Die Versöhnung mit sich und die Willensbildung des Einzelnen können als Maxime der Demokratie gelten, zu denen die Pädagogik befähigen soll. Man kann auf diese Weise die Verschränkung von Politik und Pädagogik kaum negieren, denn zielt die Pädagogik u.a. darauf ab, Ungleichheiten entgegen zu wirken und den vielfältigen Erfahrungen von Differenz eine Bildung zu universeller Gleichheit zur Seite zu stellen. Der Takt als Differenzbegriff nimmt diese Verstandesleistung auf, da der Taktvolle um die bestehenden Abweichungen weiß. Für Foucault (1977/2019) galt in »Der Wille zum Wissen« die konkrete situierte Praxis als Ausgangspunkt für etwaige gesellschaftliche Transformationen. Statt einer Revolution als Brennpunkt aller Rebellionen gab es für ihn einzelne Widerstände. Der Mensch ist eben nicht nur Mensch, er hat die Fähigkeit, über sich hinaus zu wachsen, wenn die Situation dies erfordert. Die Widerstandskraft des Menschen kommt dann einer gewissen Robustheit oder Resilienz gleich. Um die kämpferisch formulierte Frage: Was braucht es zur Revolution? erneut aufzugreifen, so kann festgehalten werden, dass der Mensch sich in einer existenziellen Krise befindet, die auf wirtschaftspolitischer Ebene grundlegende Veränderungen bspw. in der Energieproduktion und im -verbrauch fordert, aber auch gesellschaftspolitische Fragen des sozialen Zusammenlebens berührt und auf Formen der Transformation drängt. Der Mensch könnte gar ethisch und moralisch dazu verpflichtet sein, die eigenen Verhaltensweisen zu ändern, wenn er sich und die gesamte Spezies nicht ausrotten möchte, angesichts der als sehr dringlich gegebenen ökologischen Ka-
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tastrophen. Jede Trägheit oder Negierung verschiedener Revolutionssemantiken würde diese humane Verantwortung aufgrund wissenschaftlicher Faktizität als obsolet erscheinen lassen. Der Sozialphilosoph Axel Honneth nimmt die existenzielle Krise zum Anlass und erinnert an die praktischen Bestrebungen der frühen Sozialisten, deren Ziel der Schaffung distributiver Gerechtigkeit weit hinausging. Sie forderten: »durch eine Reform oder revolutionäre Überwindung der kapitalistischen Marktwirtschaft soziale Verhältnisse zu schaffen, in denen die Zielsetzungen der Französischen Revolution dadurch realisierbar wären, da[ss] Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in ein Verhältnis der wechselseitigen Ermöglichung gebracht werden.« (Honneth 2015: 51) Dementsprechend lässt sich die Entfremdung des Menschen als ein Entstehungs-, Reflexions-, und nicht zuletzt als Suchprozess verstehen, teilweise aber auch als Kampf, auf der Grundlage normativer Auflagen zur Erlangung der »Sozialen Freiheit« (ebd.). Diese zumeist intuitive oder ästhetische Urteilsfähigkeit basiert auf Techniken und Praktiken eines interpersonellen Bemühens im Umgang mit krisenbesetzten oder existenziellen Situationen, eingebunden in gesellschaftliche Strukturen. Ein radikaler Bruch mit dem Gegebenen ist in diesem Konzept nicht vorgesehen. Wie der Soziologie Armin Nassehi in seinem Gastbeitrag zur »unerträglichen Trägheit des Seins« in der Zeit feststellt, ist der Mensch in seinen alltäglichen Routinen ein*e Gefangene*r seiner selbst, trotz des Wissens darüber, dass sie*er ihr*sein Verhalten ändern könnte. Selbst wenn die betreffende Person sich oder die Gesellschaft zu verändern wünscht, ist es enorm schwierig, Selbständerungsabsichten revolutionär, das heißt plötzlich und radikal, zu ändern. »Die normative, noch mehr aber die praktische Kraft des Faktischen ist sehr stark. Selbständerungen sind schwieriger als ihre Ankündigungen.« (Nassehi 2020: 5) Obwohl die Menschen erkennen, dass ihr Handeln in eine noch stärkere Krise führt, werden die politischen und ökonomischen Bedingungen zur Verbesserung der Situation nicht sofort umgesetzt, wie wir an der Verfehlung der Klimaziele und deren Politisierung weltweit erkennen können. Das Politische scheint zu einer lästigen Störung für die Große Transformation geworden zu sein (Beiler 2021 i.d. Bd.). »Wer jedoch gleich eine Revolution als Veränderungsbedingung in Anschlag bringt, ist nicht besser als diejenigen, die bei jeder notwendigen Forderung nach ökologischen Standards ›Ökodiktatur‹ oder ›Verbot‹ rufen.« (Nassehi 2020: 5) Worin besteht also die zentrale politische Forderung für den Menschen, wenn wir davon ausgehen, dass in gewisser Hinsicht alles politisch ist? Gehen wir davon aus, dass der Mensch de facto seinen relationalen Zustand im Rahmen historisch-gesellschaftlicher Verhältnisse und pädagogischer Beziehungsmuster permanent aufs Neue suchen und erkämpfen muss, denn er gilt als ein Wesen, »das es nur durch und in den Verhältnissen gibt, in denen er zu anderen Menschen steht. Wenn man ihn aus diesen
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Verhältnissen herauslöst, dann gibt es ihn nicht (mehr)« (Bertram 2018: 26). Unbestimmtheit gilt dann als Grundlage der menschlichen Existenz. Für Sicherheit in unsicheren Zeiten und zur Überwindung von Entfremdung kann die Performativität des pädagogischen Takts gelten, die in dieser sozialpolitischen Form (bedingt durch seine sozialen Implikationen) eher als revolutionärer Takt auftritt und in der Lage ist, trotz sozialer Ungleichheiten, politischer Diskriminierung, fehlender Anerkennung etc. dennoch soziale, politische oder moralische Anschlüsse in Situationen herzustellen. Man könnte eine solche Revolution der Weltverhältnisse auch als große Transformationen benennen, die ebenso wünschenswert sind wie Bildung oder kritisches Denken, die aber – das wäre meine These hier – nicht erzwungen oder angeordnet werden können, wie wir auch in der Teilbedingung der Resonanztheorie gesehen haben. Denkt man den Begriff der Revolution neu, so scheint es heute primär einen radikalen sozialen Wandel des Zusammenlebens zu benötigen, der primär stetig, vernünftig und prozessual verläuft, anders als der blutig und schnell verlaufende Sturm auf die Bastille 1789. Ähnlich wie die Erfindung der Dampfmaschine oder die Digitalisierung der Welt, würden wir Zeuge werden eines revolutionären, sozialen Wandels, dessen Ziel nichts weniger als die Rettung der Welt im Anthropozän oder Kapitalozän gleichkommen würde, in deren Zentrum die gesellschaftlichen Verhältnisse stünden, die zur Produktion naturzerstörender Technik führten (Flatschart 2017). Die Revolution wäre der Weg, der am weitesten reicht (von Redecker 2018). Die Maximalerwartung, bspw. der global agierenden, basisdemokratischen Umweltbewegung »Extinction Rebellion« käme dieses Streben gleich, deren Wunsch es ist, dass es dieser Zivilisation irgendwie gelingt, »auf vernünftige Weise, radikal und rasch, in unvorhergesehener Weise und rechtzeitig [die Welt] zu transformieren« (Beiler 2021 i.d. Bd.), um dem Kollaps zu entgehen. Die Suche nach dem Neuen führt dann zu gesellschaftlichen Zwischenräumen und demokratischen Orten des Austauschs, die mit Gesten der Anerkennung, Sorge und Wertschätzung die eigene Suche des Ichs in der Begegnung des Anderen beleuchten. Anhand aktiver Techniken und Praktiken zur Erzeugung von Resonanzräumen entstehen Orte mit Beziehungsqualität, die auf uns selbst positiv zurückwirken. »Aber im Moment der Begegnung handelt es sich um eine komplexere Art der Resonanz, wie mir scheint, so wie diejenige zwischen unterschiedlichen Instrumenten, etwa Flöte und Klavier…gewiss in einem gemeinsamen Takt.« (Meister/Nancy 2021: 32) Immanuel Kant sprach von einem »logischen Takt« und angesichts der beschriebenen Dramatik könnte der »revolutionäre Takt« in dessen Anwendung eines ästhetisch-ethischen Urteils oder der Kunst des Denkens gleichen. Im Hinblick auf die Herausforderungen des Lebens und der krisenhaften Zustände zielt sein aufklärerischer Leitspruch Sapere aude auf Mut und Zuversicht im Regime der Normalität. Wohlgemerkt sind das keine neueren Forderungen, sondern im Zuge der Postmoderne praktische Bestrebungen, die weit über eine Vorstellung distributiver Ge-
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rechtigkeit hinausgehen. Wir sind prekäre, fragile, vulnerable Körper, die in ihrer Existenz abhängig sind von ihrer Umwelt. Diese Abhängigkeit ist dem Menschen durch Sorgebeziehung und soziale Verbundenheit inhärent und impliziert im Sinne der Singularität eine individuelle Beziehung zu anderen und zur Umwelt in einer intakten Demokratie der Gesellschaft. Die Schlagwörter wie Prekarität, Fragilität, Unsicherheit und Vulnerabilität scheinen einer »Risikogesellschaft« (Beck 1986) entlehnt zu sein, die sich in eine psychiatrisch bedeutsame Signatur einer Zeitdiagnose der reflexiven Moderne transformieren lässt: »Nämlich, dass die Postmoderne bzw. die postindustrielle Gesellschaft mitsamt ihrer selbstverursachten Katastrophen zu einer Veränderung der Moderne selbst geführt hat. […] Hier die Risikogesellschaft, dort die Risikobiographie.« (Burghardt 2020: 61) Die Verschränkung einer archaischen und futuristischen Zeit zugleich führte zu einem historischen Umdenken in der Wahrnehmung von Vulnerabilität, welches mit dem Satz I can´t breathe zu einem Symbol der rassistischen Unterdrückung Schwarzer weltweit wurde, so bringt es der Kulturanthropologe Achille Mbembe in seinem Essay »Über das Allgemeine Recht zu atmen« im Rahmen des Zürcher Theaterspektakels auf den Punkt: »Die Pandemie hat nicht nur die Komplexität und Zerbrechlichkeit der Struktur und des Inhalts menschlicher Zivilisationen offenbart, sondern auch die Verletzlichkeit des Lebens selbst, in all seiner Anarchie und Vielfalt – von den Körpern, in denen es wohnt, und dem Atem, der es verbreitet, bis hin zur Nahrung, ohne die es verkümmern würde.« (Mbembe 2020: o.S.) Beide historischen Ereignisse kulminierten diesen Sommer zu einem Hyperobjekt des gesellschaftlichen Widerstands gegen die gegebenen ökonomischen, ökologischen, gesellschaftspolitischen Zustände. In ihnen werden Formen der ungleichen Verteilung von Verletzlichkeit gekennzeichnet, die ihrerseits definiert sind durch Gewaltformen, die über Chancen und Potentiale der individuellen Resilienz zu bestimmen scheinen. »Resilienzfähigkeit im Sinne seelischer Widerstandskraft bedeutet, dass man auch bei großem Leid seines Gegenübers bei sich selbst und seiner eigenen Wahrnehmung bleibt und empathisch abgegrenzt mitschwingt, nicht in einer Gefühlsansteckung reflexhaft die Gefühle des anderen übernimmt.« (Titze 2017: 446) Eine Revolution im etymologischen Sinne re-volvere, also zurückrollen, zurückdrehen oder neu erzählen, würde eine Rückkehr zu einem Ursprung bedeuten. Es geht also weniger um einen radikalen Wandel oder eine Zeitenwende, sondern vielmehr um eine vollständige, anders geartete Revolution der »sozialen Freiheit« (Honneth 2015), verstanden als Rückkehr zu einem aristotelischen Naturzustand. Dem revolutionären Takt sind einerseits anthropologische, andererseits rechtliche und ethische Sachverhalte vorgelagert, d.h., das Recht zu atmen wird nicht durch
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den Takt, sondern durch rechtlich-moralische Grundlagen legitimiert. Wer gegen dieses Recht verstößt, handelt nicht taktlos, sondern illegitim und gewalttätig. Andererseits werden diese vorgelagerten Ebenen durch den Takt auch zum Ausdruck gebracht und ggf. durch Bewegungen modifiziert. Man sollte darüber nachdenken, statt nur von Rechten auch von Pflichten des Menschen zu sprechen, die bspw. durch Normen und Werte getragen werden und die für alle Menschen Gültigkeit haben sollten, was mit der Habitualisierung des Takts impliziert ist (Friesen/Senkbeil 2022). Solche gesellschaftlichen Bewegungen kreieren Resonanzräume und Lernorte, die soziale wie auch politische oder moralische Anschlüsse in Situationen herzustellen in der Lage sind, trotz großer Ungleichheiten, politischer Diskriminierung oder fehlender Anerkennung. Innerhalb dieser pädagogischen Räume benötigt der Mensch ein Gefühl für Takt, um aufgrund gegebener Vulnerabilitäten nicht der Gefahr zu unterlaufen, diese Räume für Utopie zu zerstören. Der Mensch benötigt eine grundlegende wertschätzende Haltung zu sich und zur Welt, in der er weniger auf Funktionalität und Optimierung aus ist, sondern im Einklang mit der Natur bemüht ist, eine Hoffnung auf eine bessere Welt als etwas noch nicht Erfülltes aktiv anzustreben. Diese Hoffnung kann als Kern aller revolutionärer Hoffnung in der (Post-)Moderne gelten. Die Freiheit des Subjekts darf nicht vollständig von der Macht bestimmt sein, wie Foucault es noch in »Überwachen und Strafen« behauptete, sondern es bedarf laut Foucault der späteren Jahre, der Erfahrung einer »politischen Spiritualität« sowie »Technologien des Selbst«, die es einem erlauben, »Kritik zu üben« und ein Leben in Freiheit zu führen, die Wahrheit frei zu sagen, ohne Sanktionen der Macht befürchten zu müssen (Foucault zit.n. Fuchs 2021: 16). »Humanismus im ethischen Sinn bedeutet daher Widerstand gegen die Herrschaft technokratischer Systeme und Sachzwänge ebenso wie gegen die Selbstverdinglichung und Technisierung des Menschen.« (Ebd.) Ein einheitliches Bild von Wahrheit und Faktizität ist geprägt von Differenz, Varianz und Variabilität, in einem dynamischen historisch-kulturellen Raum. Ein humanistischer Ursprung menschlicher Zivilisation würde dann bedeuten, dass alle Menschen gleiche Rechte haben und dass dieser Ursprung zu erkämpfen sei, wenn diese existentielle Form der Humanität bedroht ist: »Diese grundlegende Verletzlichkeit ist das eigentliche Wesen der Menschheit. Und doch wird sie von allen Lebewesen auf diesem Planeten in unterschiedlichem Masse geteilt – einem Planeten, den mächtige Kräfte für die Mehrheit der Lebewesen unwirtlich, wenn nicht sogar unbewohnbar zu machen drohen.« (Mbembe 2020: o.S.) Was wir also brauchen ist das konsequente und starke Eintreten für die uns gegebenen und erkämpften demokratischen Prinzipien, der Gewaltenteilung oder der Einhaltung wissenschaftlicher Standards, genauer gesagt, die Anerkennung von
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Fakten, die von Populisten und Verschwörungstheoretikern attackiert werden. Im Sinne der Deliberation, dem Anhören anderer Meinungen und mit Hilfe des konsequenten Eintretens »im Sinne von Widerhall und Widerstand, der dem sprachlichen Zeichen in seiner visuell-auditiven Dopplung inhärent ist. Denn gerade die Rückkopplung und der Rückverweis auf das jeweils andere Medium generieren den Raum theoretischer (Selbst-)Reflexion als Kontinuum innerer Reflexivität.« (Previšić 2020: 55) Der revolutionäre Takt erfordert daher Offenheit für Pluralität als Grundvoraussetzung. Machtmissbrauch oder Taktlosigkeit können wir nur dann erkennen, wenn es sich um intersubjektive Grenzverletzungen oder Grenzüberschreitungen handelt. Erst durch eine Rückbesinnung auf die Vulnerabilität des Menschen in der Welt werden Aspekte der ökologischen und ökonomischen Nachhaltigkeit in der sog. Post-Wachstumsgesellschaft (Rosa 2019) denkbar. Auf der Suche nach effizienteren und friedlicheren internationalen Beziehungen oder substanzielleren, zwischenmenschlichen Begegnungen zeigt sich nur ansatzweise, welche politische Tragweite die ethisch-moralische Dimension eines sozialen, »revolutionären Takts« besitzt, der in seiner Performativität bei jedem Einzelnen beginnt. Der Schwerpunkt der Deutung von Phänomenen wie der existentiellen Verbundenheit, die sich durch Konzepte wie Care, Takt und Resonanz vermitteln lassen, obliegen der zwischenleiblichen, geistigen sowie körperlichen Verbundenheit und ihren darin transportierten sozialen Implikationen und gesellschaftlichen Kodifizierungen. Es sind diese zeitgenössischen gesellschaftlichen Befindlichkeiten, die sich auf eine leibliche und körperliche Faktizität berufen, und die kulminierend das Gefühl erzeugen, man müsse in diesem Sommer 2020 tatsächlich eine so lang ersehnte Revolution herbeiführen: Gegen das white men establishment – gegen Diskriminierung, Segregation und Unterdrückung, der bekannten (Protest-)Bewegung: Black lives matter!
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Fakt und Fiktion in der faschistischen Rhetorik Ein Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke Salomé Meier
Einleitung Als am 8. Januar 2016, 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, eine kritische Neuauflage von Adolf Hitlers »Mein Kampf« vom Institut für Zeitgeschichte erschien, ging ein Raunen durch die deutsche Medienlandschaft. Die Unkenrufe galten der Gefahr dieser berühmt-berüchtigten Programmschrift, welche seinerzeit, so wurde angenommen, ganze Menschenmassen verführen konnte. Bis zu diesem Zeitpunkt war jegliche Neuauflage untersagt. Für den Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke ist Hitlers wirre Hetzschrift weniger eine Gefahr für die (ohnehin schon brüchige) Demokratie, als die Dokumentation eines gleitenden Übergangs zwischen Fakt und Fiktion. Als Adolf Hitler seine Programmschrift »Mein Kampf« 1924 nach seinem ersten missglückten Putschversuch im Gefängnis in Landsberg am Lech schrieb, ahnte er womöglich selbst nicht, wie bald schon seine düsteren Phantasien einer neuen, zuvor abwegigen und in vielerlei Hinsicht utopischen Staats- und Gesellschaftsordnung real werden würden. Doch welchen Anteil hat »Mein Kampf« tatsächlich an der unmittelbaren Zukunft seiner Gegenwart? Mit welchen sprachlichen Mitteln verwischt der Text Fakt und Fiktion? Und worin unterscheidet sich die faschistische Rhetorik damit von anderen politischen Visionen und Ideologien? Ein Interviewgespräch mit Albrecht Koschorke geht diesen Fragen auf den Grund und behält implizit immer auch unsere Gegenwart im Blick. Denn auch heute ist wieder vermehrt von Faschismus die Rede. Und das nicht nur, wenn es um den völkisch-nationalistischen AfD-Politiker Björn Höcke geht, der nach richterlicher Entscheidung Faschist genannt werden darf. Zum Paradox unserer Zeit gehört es, dass in ein und demselben Medium sowohl ein rechtspopulistischer Präsident wie Trump (Brockschmidt 2020) als auch die Umsetzung strikter Corona-Massnahmen von unterschiedlichen Seiten und aus unterschiedlichen Gründen als »faschistisch« beurteilt werden können (Lill 2020).
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In der Forschung ist wiederholt versucht worden, Faschismus zu definieren. Eine eindeutige Definition ist bis heute ausgeblieben und wird auch im Folgenden nicht gelingen können. In ihrem Buch »Faschismus. Eine Warnung« (2018) spricht die amerikanische Politikwissenschaftlerin Madeleine Albright jedoch davon, dass es die antidemokratischen Mittel seien, die eine Bewegung faschistisch mache, und nicht ihre Ziele. Zu den Mitteln gehören nebst den oft genannten Riten und Symbolen vor allem auch die Sprache. Im folgenden Artikel auf Grundlage des Interviews mit Albrecht Koschorke interessiert weniger das konkrete Sprachmaterial bzw. die Verwendung eines bestimmten Vokabulars, anhand dessen jemand als Faschist*in entlarvt werden könnte – denn der Wortschatz unterliegt immer schon historischen Veränderungen – sondern vielmehr die Art und Weise der Argumentation. Albrecht Koschorkes literarische Analyse von Hitlers »Mein Kampf« zielt letztlich genau darauf: Die spezifischen Erzählstrategien des Faschismus zu eruieren bzw. die Mechanik hinter »dem gleitenden Übergang zwischen Fakt und Fiktion« nachzuvollziehen, dient im besten Falle dazu, faschistische Rede heute und in Zukunft zu erkennen und die Gefahr jener vielfach beschworenen »Wiederkehr des Faschismus« (NZZ 2020) angemessener zu beurteilen.
Fakt und Fiktion Dass die politische Rede über die Verfassung einer Nation immer schon ein narratives Konstrukt ist, ist keineswegs eine neue Feststellung. Das gilt für das gesamte politische Spektrum und ist historisch und kulturell verallgemeinerbar. Als Umschlagspunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft kommt der wahrgenommenen Wirklichkeit der Gegenwart, so schreibt der Historiker Reinhart Koselleck (1979) dadurch ein fiktiver Charakter zu, da sie durch Erinnerung und Erwartung durchwirkt ist. Zwar lässt sich nur schwer bestreiten, dass es so etwas wie unverrückbare historische Fakten gibt, doch bildeten diese, mit Koselleck gesprochen, nur das schiere Skelett, während die Geschichte mit und um diese Daten herum zur Fiktion gehöre. Das Unterscheidungsproblem zwischen Fakt und Fiktion ist damit jedoch nicht gelöst, sondern verschiebt die Frage nur dahingehend, was denn nun zum faktischen Gerüst gehöre und was zum beweglichen »Gewebe« der Geschichte. In seiner Monographie »Wahrheit und Erfindung« spricht Albrecht Koschorke (2017) deshalb von »Machtfragen«. Der Begriff verdeutlicht, dass die Frage »[w]as ein historisches Ereignis ist und wie es sich in die Kette der anderen Ereignisse fügt, […] von der Deutungsmacht dessen ab[hängt], der Geschichte schreibt« (Koschorke 2017: 227). Das könne im Grenzfall so weit führen, dass zweifelsfrei belegbare Fakten verleugnet und revidiert werden.
Fakt und Fiktion in der faschistischen Rhetorik
Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche ist diese retrospektive Gestaltungsmacht fühlbar: so etwa in der Demolierung kultureller Denkmäler. Zuletzt wurde diesen Sommer in Bristol die Statue des englischen Sklavenhändlers Edward Colston gestürzt (Richter 2020). Gerade nach dem Mord an George Floyd in den USA nahm die Demolierung von Statuen, die mit kolonialen Projekten in Zusammenhang stehen, noch einmal zu. Bei derartigen Protesten würden wir weniger von einer Verleugnung der Geschichte sprechen, als vom Bedürfnis nach einer anders-gewichteten Erzählung von Vergangenheit. Auf eindrückliche Weise wird somit über die Bilder gestürzter, geschleifter und besprühter Statuen in den Medien eine hegemoniale Verschiebung sichtbar: In einer aus ethisch-politischer Sicht veränderten Gegenwart wird auch die Vergangenheit neu bewertet und gegebenenfalls überschrieben.
Zukunftsfiktionen Interessanterweise äussert sich die Erschütterung eines gegenwärtigen Selbstverständnisses in Zeiten der Krise jedoch nicht nur in der Revidierung der Geschichte, sondern auch in einer Reihe künstlerischer und politischer Zukunftsfiktionen. Nebst den literarischen Fiktionen und den Sozialfiktionen1 beschreibt Albrecht Koschorke die Zukunftsfiktionen als jene dritte Gruppe von Fiktionen, die einer Gesellschaft dazu dienen, ein Bild ihrer selbst zu erzeugen, sowie der Ungewissheit einen Ort im kollektiven Imaginären zu geben. Dieser Bezug auf die Zukunft sichere die soziale Integration einer Gesellschaft. Nicht zufällig häufen sich utopische bis apokalyptische Zukunftsvisionen somit in Zeiten, in denen besonders viele Unsicherheiten und Ängste die Gegenwart beherrschen. Die Klima-Bewegung Fridays for Future ist da keine Ausnahme. Als imaginärer Fluchtpunkt bietet die Zukunftsvision Aussicht »auf Linderung, Ausgleich und Gerechtigkeit […]. Mit Zukunftsversprechen lassen sich Versagungen kompensieren, Konflikte und Gewaltzyklen abschwächen oder soziale Energien freisetzen […]« (Koschorke 2017: 230). Für Christian Geulen hängt die Orientierung an imaginären Zukunftszuständen aber auch deutlich mit dem gegenwärtigen Erfolg des verschwörungstheoretischen Denkens zusammen – zumal dort, wo es von rechts politisch mobilisiert wird. Ohne Rechtspopulismus mit Faschismus gleichsetzen zu wollen, ähnelt sich doch deren Strategie,
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Als literarische Fiktion definiert Albrecht Koschorke jene Erfindung einer »zweiten, alternativen Welt mit freier Beziehung auf die gegebene Wirklichkeit«, während die Sozialfiktionen jene »vorgestellten Gemeinschaften« (imagined communities) meinen, über die sich Gesellschaften selbst definieren und verstehen (Koschorke 2017: 229).
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»die hergebrachten Grundbegriffe und Eckpfeiler moderner Staatsordnungen – Demokratie, Nation, Volk, Gesellschaft, Kultur – zu einer von allen Regeln, Vorgaben, Institutionen und Traditionen losgelösten Neubestimmung und Neubesetzung auszurufen. Sein Hang zu Fake und Fiktion«, so Geulen, »ist nur Ausdruck dieser Grundbotschaft, dass nichts mehr Geltung hat, dass alles ganz anders gedacht werden kann, darf und soll.« (Geulen 2020 o.S.) Gerade in diesem Versprechen einer Zukunft, die von jenen bestimmt werden soll, die sich heute von ihr ausgeschlossen fühlen, gleichen heutige Verschwörungstheorien den Zukunftsfiktionen der 1920er Jahre. Ab 1918 gewann bezeichnenderweise der »Futurismus«, eine auf den italienischen Schriftsteller und faschistischen Politiker Filippo Tommaso Marinetti zurückgehende Kunstbewegung an Bedeutung. In dessen »erstes futuristisches Manifest« von 1909 forderte Marinetti seine Leser dazu auf, Bibliotheken, Museen und Akademien zu zerstören, um so einer grundlegend neuen Kultur und einer neuen nationalen Geschichte Bahn zu brechen.
Konfliktnarrative Neben den Zukunftsfiktionen sind es die Konfliktnarrative, welche in Hitlers »Mein Kampf« geschickt und gezielt eingesetzt wurden. Um die Wirkungsmacht dieser Schrift zu verstehen, ist es unerlässlich sich dessen historischen, politischen und diskursiven Kontext zu vergegenwärtigen: Einerseits beherrschten komplexe, politische Spannungen und Konflikte die kurze Zeit der Weimarer Republik, andererseits existierte ein Vakuum einer annehmbaren, »kollektiven Erzählung« (Koselleck), die die gesellschaftliche Integrität hätte wahren können. Beides, die Komplexität der Konfliktlage als auch die fehlende gemeinsame Erzählung bereiteten den Boden für den Erfolg einer Erzählung, die politische Orientierung und Stabilität versprach, wo in Wahrheit keine war. Eine solche »grenzverwischende Erzählung« bedient sich gemäss Koschorke u.a. an Techniken, »die mit dem Modus der Abduktion arbeiten, das heisst vom Einzelfall her vermutungsweise auf das Ganze zu schliessen […]. So lassen sich leicht Bilder eines verallgemeinerten Feindes wie eines verallgemeinerten Freundes erzeugen, die bei hinreichender Dichte durch Gegenevidenzen kaum noch erschütterbar sind.« (Koschorke 2017: 238) Diese Technik der Abduktion findet auch in Hitlers »Mein Kampf« Anwendung: Erzählt Hitler zu Beginn aus seiner eigenen »Biographie« vom Nachteil einer Begegnung mit einem Kaftanjuden, so gipfelt diese Episode im Kapitel »Volk und Rasse« schliesslich in einer rassistisch-antisemitischen Überlegenheitstheorie. Hitler
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bedient sich dabei an einem seinerzeit bestehenden Diskurs über Antisemitismus, um ihn in einer unübersichtlichen Konfliktlage als einfache und »plausible Lösung« zu präsentieren, und die Last der faktischen Schuld auf den Anderen zu überschreiben.2
Interview mit Albrecht Koschorke Das folgende Interview wurde im März 2020, wenige Tage vor dem ersten CoronaLockdown, für die Hintergrundsendung »Kontext« des Radiosenders SRF 2 Kultur in Zürich aufgenommen. Kurz nach dem Interview nahmen in Online-Foren und auf Protesten die Stimmen zu, welche die Corona-Massnahmen als faschistisch und antidemokratisch beurteilten, gleichzeitig machten mehr und mehr Verschwörungstheorien die Runde. Rückblickend gewann das Gespräch um ein angemessenes Verständnis des Begriffs Faschismus im Kontext von Fakt und Fiktion damit erneut an Brisanz: Jenseits eines pauschalisierenden Kampfbegriffs kreist das Gespräch auf der einen Seite darum, die terminologische Unschärfe des Begriffs zu thematisieren (Faschismus lässt sich gerade nicht pauschalisieren bzw. instrumentalisieren), auf der anderen Seite werden die konkreten und komplexen narrativen Strategien des Faschismus analysiert, die mittels Sprache Glaubwürdigkeit und Vertrauen in herkömmliche Institutionen wie Medien oder Regierung unterminieren, um andererseits gleichwohl Macht über und Gewalt an andere(n) gleichsam vorzubereiten wie auszuüben. Salomé Meier: Herr Koschorke, Sie haben sich 2016 kurz nach der Publikation der historischen Neuauflage mit Hitlers »Mein Kampf« beschäftigt. Noch im selben Jahr erschien Ihre Studie Zur Poetik des Nationalsozialismus. Was interessierte einen Literaturwissenschaftler wie Sie an diesem vielfach als »politisch wirr« und »peinlich geifernd« verurteilten Buch? Albrecht Koschorke: Es gab zwei Gründe dafür. Der eine bestand darin, dass das Buch ja doch eine enorme Wirkung hat und gerade in der Auseinandersetzung um
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Dass im Faschismus solche fiktiven Differenzierungen und faktenverwischenden Erzählungen nicht nur angewendet, sondern als Erzählstrategie selbst reflektiert und an Gleichgesinnte weitergegeben werden, davon zeugt gerade der zweite Teil von »Mein Kampf«. Im Kapitel »Bedeutung der Rede« beschäftigt sich Hitler mit der Konstruktion von Fakten und der Glaubwürdigkeit (politischer) Erzählungen: So sei es z.B. zweckmässig, schreibt Hitler, mögliche Einwände »selbst immer sofort anzuführen und ihre Haltlosigkeit zu beweisen«, so würde der Zuhörer »durch die vorweggenommene Erledigung der in seinem Gedächtnis eingeprägten Bedenken leichter gewonnen (Hitler, Mein Kampf, S. 59f.).
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die Neuedition von »Mein Kampf«3 die Frage diskutiert wurde: Wie toxisch ist das Buch heute noch? Da ist die Auskunft der Intellektuellen in den Talkshows, dass sie mit dem Buch nichts anfangen können, nicht repräsentativ. Sie sind offensichtlich auch nicht die Zielgruppe dieses Buches. Also muss man sich fragen, was macht den Faszinationskern dieser Schrift aus? Das Zweite war die Frage, warum eigentlich so viele Diktaturen des 20. Jahrhunderts sehr stark buchreligiösen Charakter haben. Hitlers »Mein Kampf« ist ja Modell gewesen für das Rote Buch von Mao und das Grüne Buch von Gaddafi und das interessiert einen natürlich als Literaturwissenschaftler: Warum gibt es so viel Schreiben in diesem Zusammenhang und durchaus auch Schreiben mit künstlerischer Ambition? Das geht vom Programmschreiben bis hin zum Verfassen von Romanen. Was macht eigentlich Diktatoren zu Künstlern bzw. was macht Künstler zu Diktatoren? Das war eine dahinterliegende Frage. Salomé Meier: In Ihrem Buch zitieren Sie u.a. Joseph Goebbels, den Propagandaminister und einer der engsten Vertrauten Hitlers, der schreibt, dass der »Staatsmann immer auch ein Künstler« sei, »der aus einer Masse Volk und aus Volk Staat form«4 . Was ist das für eine Metapher und kommt so etwas auch bei Hitler vor? Albrecht Koschorke: Ja, Hitler hat ähnliche Metaphern verwendet, er war ja auch ein Künstler, ein verhinderter Künstler bzw. Kunstmaler und später hat er sich als Staatsarchitekt wahrgenommen. Es steckt etwas Bohèmienhaftes in diesen Figuren: Sie kommen sozusagen aus dem Künstlertum und es gibt durchaus ein Nachwirken der literarischen oder künstlerischen Avantgarde in den totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts. In manchen Fällen ist das ganz offensichtlich, z.B. im Fall des Futurismus in seiner Verwandtschaft zum Faschismus, aber auch in Sowjetrussland. In Deutschland ist das etwas verdeckter, da sich der Nationalsozialismus ausgesprochen anti-avantgardistisch und anti-modernistisch gegeben hat. Aber diese Idee einer totalen Kunst, eines totalen Kunstwerks ist durchaus eine politisch virulente Idee. Hitler selbst war bekanntlich ein begeisterter Fan von Richard Wagner. Da gibt es also offenbar eine Linie vom Gesamtkunstwerk zum totalitären Staat. Staat als Kunstwerk – das ist ein Topos, den Hitler sich sicher rhetorisch zu Eigen gemacht hat, der ihn aber auch beflügelt hat. Salomé Meier: Für mich klingt in diesen Zeilen auch ganz klar der Mythos des Prometheus an: Die Sage einer menschenähnlichen Gottheit, die sich mit dem Göttervater Zeus zerwirft
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Nach Ablauf des Urheberrechts erschien am 8. Januar 2016 in Deutschland eine wissenschaftlich kommentierte Neuedition von Hitlers »Mein Kampf«. Joseph Goebbels: Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern. München 1942, S. 21.
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und sich als Beschützer und Vater der irdischen Menschen wahrnimmt, welche er nach seinem Bilde formt… Albrecht Koschorke: Ja, natürlich. Das hängt auch mit der besonderen Position dieser Diktatoren zusammen: Die kommen ja nicht aus den herkömmlichen Rekrutierungen der Elite oder aus regulären Verfahren. Sie kommen aus dem Nichts, sind Selfmademen und produzieren sich in gewisser Weise selber. Das Staatswesen, welches sie schaffen, ist eines, das aus Disruption hervorgeht, welches nicht in einem geordneten Gang und in bestimmten Routinebahnen verläuft, sondern einen stark erfinderischen Charakter hat. Im Fall des Nationalsozialismus ist das durch die Mythologie gegeben. Betrachtet man andere Diktatoren des 20. Jahrhunderts, sieht man, dass sie politischen Formationen, die es noch gar nicht gibt, erst zur Existenz bringen müssen. Und da sind eben nicht die Bürokraten gefragt, – die werden in diesen Regimes ja eher verachtet –, auch nicht die Routiniers und die Institutionenspezialisten, sondern da sind diejenigen gefragt, die etwas kreieren, die etwas neu schaffen – die in gewisser Weise Fantasie haben. Das ist die Stunde der grossen Mythologen, der Mythopoeten, wie ich sie nenne. Salomé Meier: Die Frage danach, ob man anhand einer bestimmten Sprache, eines bestimmten Vokabulars feststellen kann, ob jemand seiner Gesinnung nach faschistisch ist oder nicht, wurde im Herbst 2019 in Deutschland wieder heftig diskutiert. Der Fernsehsender ZDF konfrontierte den AfD-Politiker Björn Höcke in einem Interview damit, dass seine Parteikollegen nicht unterscheiden konnten, ob die ihnen vorgelegte Passage aus Hitlers oder aus Höckes Buch stammte… Albrecht Koschorke: Erst mal muss man sagen: Ein System wie der Nationalsozialismus hat extrem unscharfe Ränder, d.h. man kann sich sehr leicht im Grenzbereich bewegen und kann provokativ die Nähe suchen, aber dann auch wieder behaupten, dass man nicht dazugehört. Das ist natürlich auch ein Spiel der Neuen Rechten, die Anklänge produziert, um Aufmerksamkeit zu erregen und aber auch die entsprechenden Reflexe der Linksliberalen zu provozieren. Mit Sprache kokettieren, das haben übrigens auch schon die Nazis in der Frühzeit getan: Einen Schritt weitergehen und einen Schritt zurückweichen. Das ist ein Spiel, das die andere Seite in gewisser Weise machtlos macht. Entweder fällt sie darauf herein skandalisiert zu sein oder man betrachtet das Ganze mit Gleichgültigkeit und man ignoriert es und dann verschiebt sich die Grenze des Sagbaren – und das ist ja Björn Höcke und der AfD schon mit grossem Erfolg gelungen. Salomé Meier: Björn Höcke reagierte im Interview ja ziemlich gelassen auf die Vorwürfe. Die NS-Sprache sei ohnehin nicht identifizierbar, weil es keine allgemeingültige Definition
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gebe. Ist denn damit alles gesagt: Gibt es keine allgemeingültige Definition von NS-Sprache oder lässt sich da eben doch etwas feststellen? Albrecht Koschorke: Ich würde das vielleicht eher in der Metapher von Verdichtung und Ausdünnung beschreiben. Natürlich gibt es bestimmte Begriffe, die man ganz klar dem Nationalsozialismus zurechnet, aber andere Begriffe sind unschärfer, sodass sie angeblich harmloser verwendet werden können. Der Begriff »Entartung« ist so ein Begriff, den die Nazis natürlich verwendet haben, der aber durchaus in konservativen Kreisen der 1950er Jahre noch gebraucht werden konnte. So lange man nicht explizit antisemitisch ist und explizit den Holocaust leugnet, glaube ich, kann man viel tun und immer noch sagen, dass man nicht wirklich dazugehört. Das ist ein Vokabular, das in gewisser Weise aus vielen Umgebungen lebt und das entsprechend partiell verwendet oder nicht verwendet werden kann. Ich würde mich nicht trauen, eine Analyse zu geben, ab wann eine Sprache nationalsozialistisch ist und ab wann nicht mehr. Das hängt von den Kontexten ab. Und es hat immer auch etwas mit dem Appell zu tun. Natürlich wissen diejenigen, die so reden, was für Assoziationen sie wecken und das hat eine doppelte Funktion: Einerseits ist es eine Verständigung im inneren Kreis: »Schaut mal, ich gehe weiter, ich bin radikaler und ich sag’s jetzt endlich mal«, andererseits hat es auch etwas von Häme, dass man so reden und die andern damit fürchterlich aufregen kann – und die regen sich ja dann auch immer ganz brav fürchterlich auf… Salomé Meier: … Sie regen sich auf und im Falle von Höcke wurde das Interview ja tatsächlich abgebrochen. Nach zehn Minuten griff der Pressesprecher von Höcke ein und liess das Interview beenden. Wie bewertet man diesen Abbruch? Albrecht Koschorke: Der gehört auch zum Spiel: Der Abbruch von Kommunikation und die beleidigte Reaktion, man sei da falsch verstanden worden. Es gibt ja dieses interessante Wechselspiel von Provokation einerseits und jenem merkwürdigen Selbstmitleid andererseits, man werde nicht gehört, man werde immer falsch verstanden, die Medienmacht würde einem keinen Respekt entgegenbringen und dergleichen. Das sind gewisserweise zwei Identitäten und die hängen miteinander zusammen. Da hängt etwas zusammen: Ein Gefühl von Unterlegenheit und Ausgrenzung zusammen mit dem Wunsch das System umzukehren. Unter genau diesen Vorzeichen beginnt Adolf Hitler 1924 seine Arbeit an »Mein Kampf«. Aufgrund eines gescheiterten Putschversuchs sitzt er in der Landsberger Haftanstalt und tippt wie wild auf seine Schreibmaschine. Die Blätter, die er nach und nach seinem Sekretär Rudolf Hess gibt, enthalten bereits jene Programmschrift, die das System umkrempeln und die ihn später zum Wortführer prädestinieren soll. Gerade der Anfang der Schrift hat es in ge-
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wisser Weise in sich, weil Hitler hier eine Art Autobiographie wiedergibt. Dass es sich dabei um eine Art der Autobiographie handelt, das betont Albrecht Koschorke nachdrücklich. Albrecht Koschorke: Hitler schreibt seine Autobiographie ja recht frei, teilweise entlang der biographischen Daten, teilweise unter Zurecht-rückung von bestimmten Dingen. Und damit bringt er sich erstmal als Person ins Spiel. Das Buch heisst ja nicht umsonst »Mein Kampf«. Diese personalisierende Tendenz zu Beginn des Buches ist sehr wirkungsvoll, ich glaube das sind auch die Teile, die tatsächlich gelesen wurden. Hitler inszeniert sich hier als jemand, der aus einfachen Verhältnissen stammt, der einen Vater-Sohn-Konflikt hinter sich hat, der auf keinen Fall den Weg des Vaters beschreiten will, der dann Not und Elend kennenlernt – und als solcher als Vertreter des Volkes gelten kann –, der sich aber dann als Autodidakt heranbildet und seinen Weg geht und seine Erfahrungen macht. Und diese Erfahrungen teilt er in einer Weise mit, dass man mit ihm mitgehen kann. Er macht nebenher – das macht das Buch literaturwissenschaftlich interessant – Gebrauch von bestimmten Formen und Topoi. Hitler schreibt hier in gewisser Weise einen Künstlerroman, wobei das ja eine verhinderte Künstlerschaft ist. Es hat Züge von einem Bildungsroman und beruht sehr stark auf der Unterscheidung zwischen dem philiströsen Dasein, das sein Vater als niederer Beamte für ihn vorzeichnet und dem Künstlertum, das er in sich selber verkörpert sehen will. Ein Motiv, das noch aus der Literatur der Romantik kommt. Salomé Meier: Was erzählt er nicht von sich oder was erzählt er anders, als sie in Wirklichkeit passiert ist? Also wo ist die Biographie nachbearbeitet? Wo ist sie verfälscht? Albrecht Koschorke: Also manches ist, so könnte man sagen, erstaunlich freimütig, auch wenn er das natürlich mythisiert. Zum Beispiel beschreibt er die Tatsache, dass er in Wien im Elend gelebt hat in erster Linie, um Glaubwürdigkeit zu erwerben. Falsch und lügenhaft ist die Geschichte, die sich angeblich auf der Baustelle zugetragen haben soll, wo er von sozialdemokratischen Arbeitern, Gewerkschaftlern ausgegrenzt und gemobbt worden sei. Aber die viel wichtigere Fälschung ist die Tatsache, dass Hitler seine Erweckung zum Antisemiten in die Wiener Zeit verlegt und auf eine bestimmte Begegnung mit einem Kaftanjuden zurückführt. Die Forschung hat inzwischen ganz klar dargestellt, dass Hitler eigentlich erst in der Münchner Zeit auf das Ticket des Antisemitismus umbucht und zwar als Spitzel und Agent der Reichswehr, im Auftrag der Reichswehr, ideologisch von ihr vorgeformt. D.h. bis zu dieser Zeit ist er eigentlich ein politischer Opportunist, doch das kann er natürlich nicht erzählen. Er erzählt ja die Geschichte seiner Selbstwerdung und wie er zu seinen Überzeugungen gelangt und da kann er natürlich nicht erzählen, dass er ein unbeschriebenes Blatt gewesen sei, später ein Unterkommen als
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verabschiedeter Wehrmachtssoldat gefunden habe, bei dem man sein rhetorisches Talent entdeckt habe, welches er dann in ihren Diensten ausgebildet habe. Salomé Meier: Nach dieser »Autobiographie« folgt das politische Programm, das Programm der Hetze gegen die Juden und ihrer Elimination. Hier wechselt plötzlich die Rhetorik. Wie fügen sich denn diese Autobiographie und die weiteren Kapitel, die danach ziemlich deutlich und auch ziemlich krass geschrieben sind, aneinander? Albrecht Koschorke: Über eine Serie von Erweckungen, die dann den manischen Leser, Denker und einsamen Strassenwanderer Hitler dazu bringen, seine politischen Anschauungen zu formen. Wie er das darstellt, ist aus sprachlicher Hinsicht interessant, denn er arbeitet gerne mit Metaphern des Granitenen und des Felsenfesten. Damit gibt es darin zwei gegenstrebige Elemente: Einerseits beschreibt und inszeniert er eine Entwicklung, andererseits ist immer alles schon ganz klar, ganz fest und unwiderrückbar. Das Politische kommt da ins Spiel, wo Hitler wahrnimmt: Er nimmt wahr, dass es im Österreich und Wien seiner Zeit eine politische Spaltung gibt – eine Spaltung zwischen der sozialen Frage einerseits und der nationalen Frage andererseits. Was Hitler dann macht, ist die soziale Frage zu usurpieren. Vieles von dem, was er über das soziale Elend schreibt, über die dunklen unbeheizten Wohnungen der Arbeiterschaft, die Trunksucht, die schlechten Bedingungen unter denen die Kinder dort aufwachsen, klingt im Grunde sehr sozialdemokratisch und sehr reformerisch. Aber das muss er der Sozialdemokratie in gewisser Weise aus der Hand nehmen. Und das ist das Erfolgsgeheimnis auch heutiger rechter Bewegungen, die immer dann einen grossen Zulauf gewinnen, wenn sie das Nationale, den Appeal, das Ansprechen von Ehre und Zugehörigkeit mit einem letztlich sozialdemokratischen Programm verbinden. Das also tut er da und dazu muss er allerdings die Sozialdemokraten aus dem Feld rücken und dazu braucht er den Juden, die Figur des Juden. Salomé Meier: Wir kommen gleich noch auf die Figur des Juden zurück, doch lassen Sie uns vorher noch über die Rezeption sprechen: 1936 erhielten viele deutsche Brautpaare »Mein Kampf« anstatt der Bibel von den Standesämtern geschenkt. Wurde das Buch aber tatsächlich auch gelesen oder weitergelesen als vielleicht nur die Autobiographie? Albrecht Koschorke: Es ist sehr schwer, darüber Auskunft zu erhalten, denn es gibt ganz wenig Lesetagebücher aus denen das hervorgehen könnte. Man weiss natürlich, dass »Mein Kampf« in den NS- und SS-Schulungen verwendet wurden. Das Buch musste also in gewisser Weise gekannt sein. Aber wie es häufig ist mit heiligen Büchern – und letztlich handelt es sich ja um ein sakrales System um dieses Buch –, wer kennt sie schon? Wer, der sich Christ nennt, hat die Bibel nun wirklich
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gelesen und kennt nicht nur kleine Auszüge daraus? So ähnlich wird es mit Hitlers »Mein Kampf« gewesen sein. Ich glaube die Zahl der Leser, die das Buch durchgearbeitet haben ist gering und das hängt eben damit zusammen, dass die späteren Teile z.T. so ein Gestrüpp von politischen Erwägungen sind, die sich auf die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg beziehen und danach ziemlich schnell nicht mehr relevant waren. Dass die Anfangsteile gelesen worden sind, glaube ich hingegen schon. Hier hat Hitler auch auf ein breiteres Publikum spekuliert, z.B. wenn er sein Weg zum Antisemitismus als ein Weg der Überwindung beschreibt, der Überwindung von Skrupeln. Er beschreibt, wie er eigentlich ein vorurteilsloser Mensch gewesen sei, dem die Hetze in der Presse nicht gefallen habe und da holt er natürlich in gewisser Weise die Leute ab, wo sie vielleicht auch stehen und bringt sie zu der Bedenkenlosigkeit, die das Kennzeichen des Nationalsozialismus gewesen ist. Salomé Meier: …er zielt an dieser Stelle also auf ein identifikatorisches Lesen? Albrecht Koschorke: Genau, da gibt es Passagen, die identifikatorisch gelesen werden können oder die jedenfalls erlauben, Hitler als Mentor der eigenen Sache wahrzunehmen und dazu gehört natürlich auch die Rede von sich als jemand, der das Leid der Armen kennengelernt hat und der anders spricht als die, die immer nur der Elite angehört haben und diese falsche herablassende Fürsorglichkeit walten lassen, die er dann wiederum den Sozialdemokraten ankreidet. Salomé Meier: In den hinteren Teilen von Hitlers »Mein Kampf« kommt aber dann das Wort »Volk« vor allem in der dritten Person Plural vor. An wen, wenn nicht an die Bevölkerung richtet sich das Buch dann? Albrecht Koschorke: Wenn Hitler programmatisch wird, wird deutlich, dass er sich nicht an die Bevölkerung richtet, sondern, – und das steht auch schon in der Widmung –, an die Mitkämpfer und an die Auserwählten. Der Nationalsozialismus hatte ja eine ganze Staffelung von Eingeweihtheitsgraden. Er möchte also diejenigen, die der Bewegung schon angehören, ansprechen und diese »Eingeweihten« verständigen sich in gewisser Weise über Herrschaftstechniken. Manches an diesem Buch ist dann ein Art Gebrauchsanweisung: Wie zieht man wirkungsvoll Wirtshausreden auf? Was braucht man dazu? Dazu braucht man natürlich einen Saal, man braucht Gedränge, man braucht Saalordner, man braucht aber auch die Schläger, die dafür sorgen, dass irgendwelche Roten, die sich im Saal eingefunden haben, rausgeprügelt werden. All das wird sehr genau beschrieben bis hin zur Frage zu welchen Tageszeiten Reden wirksam sind: Der Abend sei z.B. günstiger als der Vormittag. Diese Beschreibungen haben etwas von einem Rezeptbuch, was wiederum verdeutlicht, dass man sich jetzt an diejenigen adressiert, die einge-
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weiht sein wollen und die auch wissen wollen, wie die Taktik ist und nicht an die breite Bevölkerung. Von der ist dann tatsächlich in der dritten Person die Rede und zwar durchaus herablassend. Die Rede ist nun von der Masse, die weiblich sei und die geführt werden müsse, von den vielen, die keine Bücher lesen. Spätestens da, wo man in einem Buch von Leuten liest, die keine Bücher lesen, weiss man, dass man dem Eingeweihtenkreis angehört. Andererseits ist es so, dass die nationalsozialistische Ideologie im engeren Sinn durchaus verachtet werden konnte von den Karrieristen des NS-Regimes, insbesondere von den Eliten. Es gibt gute und sehr profunde Studien darüber, dass gerade die SS-Elite Leute wie Hitler eigentlich degoutant fanden. Der Nationalsozialismus hatte also durchaus auch Raum für eine aristokratische Haltung inklusive der Tatsache, dass man Rassismus oder Antisemitismus eigentlich geschmacklos finden konnte. Man hat ein falsches Bild vom Nationalsozialismus, wenn man ihn für eine hermetische, geschlossene ideologische Formation hält. Der Nationalsozialismus bestand aus lauter Dissidenten. Und diese Dissidenten konnten sich dann nachher auch so darstellen: Bei den Nürnberger Prozessen oder in der Adenauer Ära in Deutschland, wo es dann darum ging, dass man eigentlich nicht dazugehörte. Salomé Meier: Aber an was für Lüste schlossen dann eigentlich diese Menschen an, die weder eine Anleitung darin gelesen haben, noch sich mit Hitler identifizierten und damit den Hass auf Juden übernahmen? Albrecht Koschorke: Man kann Hitler natürlich so lesen, in der Art seiner Reden, dass Juden »Ungeziefer« seien, das »Fäulnis im Fleisch des Deutschen Volkes« und dergleichen. Da ist ja alles da, selbst die exterminatorische Absicht ist schon vergleichsweise klar artikuliert. Im Rückblick ist erschreckend, wie blind die frühen Leser von »Mein Kampf« demgegenüber waren. Man kann ihn aber auch anders lesen und zwar durchaus als Gebrauchsanweisung zur Selbstermächtigung durch das Wort. Und das ist etwas, das man nur aus dem Text selbst erschliessen kann. Dass Hitler ein Problem mit der Sozialdemokratie hat, sagt er ja nicht explizit, aber es wird doch ziemlich deutlich, er kommt dann auf die Idee, die Sozialdemokraten als Juden zu charakterisieren. Dann gibt es ein kleines logisches Problem: Einerseits sind die Juden ja die Kapitalisten, andererseits sind sie aber auch die Gewerkschaftler und die linken Agitatoren. Also irgendwie sind die Juden auf beiden Seiten des Klassenkampfes. Was macht Hitler mit diesem Problem? Er bezeichnet den Klassenkampf selbst als jüdisch. Das deutsche Volk will keinen Klassenkampf. Da wird etwas gezeigt, eine Redeweise, die nicht beschreibend ist, sondern in gewisser Weise erzeugt wovon sie redet. Das ist eine machtbewährte Redeweise. Ich mache die andern zu dem, die für alles verantwortlich sind und schaut mir
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zu, wie ich das mache. Dieser Sprechakt funktioniert. Dieser Sprechakt erzeugt auch eine Art von Mächtigkeit, so ein Lustkitzel, weil ich kann plötzlich Welten schaffen aus dem heraus nicht was ich tue, sondern was ich sage. Und irgendwann ist es dann auch so: Das ganze System hat ja einen hochgradig phantasmatischen Charakter dahingehend, dass irgendwann aus dem, was irgendwelche Leute sich zusammenfantasiert haben, die brutalsten Realitäten der Menschheitsgeschichte werden. Salomé Meier: Das ist also eine Sprache, die hochgradig performativ ist und die sozusagen die Gewalt, die sie vorschlägt, auch schon vorbereitet. Wenn man nun Autoren, die dem Nationalsozialismus nahestanden – Ernst Jünger oder Gottfried Benn – liest, dann kommt da auch immer wieder diese Tat vor. Also eine Sprache, die abbricht und dann kommt die Tat. Ist das auch etwas was man bei Hitler findet? Albrecht Koschorke: Ja, unbedingt; diese Faszination mit der sprachlichen Tat verbindet ihn zeitweise oder auch ganz mit diesen Figuren. Dieses Magische der Sprache ist ja nicht nur auf den Nationalsozialismus gebucht, sondern spielt auch schon in den Avantgarden eine grosse Rolle. Gemeint ist eine Sprache, die nicht einfach nur etwas beschreibt, etwas nacherzählt oder abbildet, sondern tatsächlich, wie Sie sagen, performativ ist, dass sie Sachen herstellt, dass sie wie ein magischer Sprechakt funktioniert. Und das ist erstmal, könnte man sagen, eine Dichterphantasie. Denn Dichter erzeugen ja solche Welten, Romanwelten und dergleichen und träumen dann auch davon irgendwie Weltherrscher zu sein. Es gab unglaublich viele Zeugnisse in den Avantgarden von solchen grandiosen Phantasien der Weltbemächtigung, in denen sich Leute zu Herrschern des Universums aufgeworfen haben. Das ist, wenn man so will, ein spielerischer Narzissmus. Eine natürlich sehr männliche Angelegenheit; aber als solche auch erstmal harmlos, denn nicht aus jedem Dichter, der sich für einen Weltenschöpfer hält, wird ein Diktator. Aber offenbar gibt es unter bestimmten Bedingungen eine Spur, die von dieser Art von Dichtung und dieser Art von Sprachauffassung in die politische Praxis führt.
Fazit: Ermächtigung durch das Wort Im vorangehenden Interview wurde deutlich, wie Fakt und Fiktion in der politischen Rede immer schon untereinander durchlässig sind. Zwischen blosser »Dichtung« und »politischer Praxis« liegt für Albrecht Koschorke die Ermächtigung durch das Wort. Das ist nicht nur bei Diktatoren der Fall. Gefährlich wird die Idee des »Staatsmannes als Künstler« jedoch dann, wenn ein jener die Bevölkerung als formbare Masse betrachtet, deren Gefühle sich narrativ mobilisieren und manipulieren lassen. Das geschieht auf mehreren Ebenen: Durch die Schilde-
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rung gesellschaftlicher Missstände, durch die Verlockung, sich an der Jagd auf ihre angeblichen Verursacher zu beteiligen und durch das Angebot, »aus der Unbedeutendheit und Vereinzelung herauszutreten und Glied einer sich selbstbewusst formierenden Gesellschaft zu werden« (Koschorke 2016: 78). Das größte Versprechen aber sieht Albrecht Koschorke in der Ermächtigung, d.h. in der Kreation von Realität durch Sprache selbst. Denn diese Art der Ermächtigung ist nicht nur dem Wortführer vorbehalten, sondern sie steht auch jedem einzelnen Anhänger zur Verfügung. Wer sich die Sprache der Ermächtigung zueignet, kann sich selbst am Rausch der Macht beteiligen. Weder ein Wortführer, noch seine Anhänger, so wurde im zweiten Teil des Gesprächs am Beispiel des Eingeweihten-Zirkels deutlich, muss dabei zwingend daran glauben, was er sagt. Vielmehr geht es um das Selbstverständnis einer Gemeinschaft, die sich durch extreme Aussagen und Provokation an sich selbst berauschen und Aussenstehende auf triumphierende Weise verstören. Als Beispiel dafür wurde das ZDF-Interview mit Björn Höcke diskutiert; in jüngster Vergangenheit beweisen jedoch auch die Proteste gegen Corona-Massnahmen jene Lust an Provokation, indem sie die Einschränkungen zur Eindämmung der Pandemie mit dem Faschismus gleichsetzten. Dahinter steht eine Strategie der Provokation, die bewusst mit der erwartbaren Empörung kalkuliert. Sie eröffnet ein Dilemma, weil jede Gegenrede – ob empört, ironisch, aufklärerisch oder trotzig – immer auch die öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt. In einer komplizierten und teilweise mühsamen Realität, wie wir sie gegenwärtig erleben, haben Halbwahrheiten deshalb Konjunktur, weil sie sich geschmeidiger einsetzen lassen. Ihre Glaubwürdigkeit ziehen sie einerseits aus der Vereinfachung – sie sind schlicht einfacher zu verstehen, weil sie Ambivalenzen tilgen und kognitiven Dissonanzen aufheben –, andererseits aus der »Wiederholung und der rituellen Verfestigung« (Koschorke 2016: 79), durch die selbst glatte Lügen irgendwann zu Überzeugungen solidieren. Wir tun Recht daran, wenn wir uns fragen, ob der Faschismus gegenwärtig wieder aufglimmt. Und zwar nicht, weil man den Rufen der Corona-Gegner Glauben schenken muss, sondern, weil man sie ernst nehmen muss: Wenn Bewegungen entstehen, die eigene erlittene Enttäuschungen und Frustrationen auf eindeutig bestimmbare »Andere« zurückführen, dann ist das der Nährboden auf dem die Bereitschaft zur Gewalt gedeiht. Im Verständnis davon, dass es die eine Wahrheit nicht gibt, lassen sich Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten eher aushalten, anstatt plausible Halbwahrheiten zu akzeptieren. Und schliesslich gilt es Gespräche und Verhandlungen aufrecht zu erhalten, anstatt sich einer Seite zu verpflichten und der anderen Seite den Dialog aufzukündigen; nur so kann Demokratie (auch) in Zukunft funktionieren.
Fakt und Fiktion in der faschistischen Rhetorik
Literaturverzeichnis Baumgarth, Christa (1966): Geschichte des Futurismus, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Brockschmidt, Annika (2020): »Trumpismus. Er will nicht gehen«, in: Zeit Online vom 13.11.2021. Siehe: https://www.zeit.de/kultur/2020-11/trumpismus-donal d-trump-faschismus-staatsstreich-demokratie Geulen, Christian (2020): For Future. Zum Problem des vorauseilenden Denkens, Siehe: https://geschichtedergegenwart.ch/for-future-zum-problem-des-vorau seilenden-denkens/ Goebbels, Joseph (1942): Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern, München: Franz-Eher-Verlag. Hitler, Adolf (1942): Mein Kampf, München: Franz-Eher-Verlag. Koschorke, Albrecht (2016): Hitlers »Mein Kampf«. Zur Poetik des Nationalsozialismus, Berlin: Matthes & Seitz. Koschorke, Albrecht (2017): Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeine Erzähltheorie, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag. Koselleck, Reinhart (1979): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Berlin: Suhrkamp. Lill, Felix (2020): »Japan. Hass auf die Regelbrecher«, in: Zeit Online vom 09.06.2020. Siehe: https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-06/japan-corona virus-faschismus-rassismus Richter, Hedwig (2020): Sklavenhändler vom Sockel: Müssen wir Denkmäler neu betrachten? Siehe: https://www.br.de/nachrichten/kultur/historikerin-hedwig -richter-zur-politik-des-denkmals-statue-sklavenhaendler-edward-colston-b ristol,S1P7mig Strenger, Carlo (2020): »Vor einer Wiederkehr des Faschismus?«, in: NZZ vom 01.06.2020. Siehe: https://www.nzz.ch/meinung/kolumnen/robert-kagan-ueb er-trump-vor-einer-wiederkehr-des-faschismus-ld.85794?reduced=true
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Der Streit um die Zukunft Anthropozän und Nachhaltigkeit als Herausforderung Christoph Wulf
Einleitung Was sind Fakten? Umgangssprachlich scheint es leicht, diese Frage zu beantworten. In einer bekannten Talkshow wird z.B. ein Faktencheck als Lösung strittiger Fragen angeboten. Doch ist er dazu wirklich in der Lage? Was verstehen wir unter Fakten und unter Faktizität? Schaut man genauer hin, so wird deutlich, dass diese Fragen keineswegs einfach zu beantworten sind. In der philosophischen Anthropologie ging man davon aus, dass Tiere lediglich in der Lage sind, eine durch ihre Instinkte bestimmte, von Art zu Art unterschiedliche »Umwelt« zu erfassen. Aufgrund der Frühgeburt und ihrer residualen Instinktausstattung seien Menschen in der Lage, »Welt« zu erfassen (Wulf 2009). Inzwischen ist man sich jedoch darüber im Klaren, dass auch das Begreifen der »Welt« anthropomorph bzw. artspezifisch ist. Dieses wird nicht nur durch die physiologischen Bedingungen des Körpers, sondern auch durch Geschichte und Kultur bestimmt, die für die menschliche Wahrnehmung konstitutiv sind. Wie die seiner Wahrnehmung und seinem Weltverständnis vorausgehende »Wirklichkeit« aussieht, weiß auch der Mensch nicht. Für das menschliche Natur-, Welt- und Selbstverständnis ist diese unhintergehbare Einsicht von zentraler Bedeutung. Wie wir mit den Herausforderungen des Anthropozäns umgehen und welche Formen der Nachhaltigkeit wir als Antworten finden, ist an die anthropogenen, historisch und kulturell geprägten Möglichkeiten unserer Wahrnehmung und Verarbeitung der vorgängigen Wirklichkeit gebunden. In den deshalb auch im Hinblick auf das Anthropozän unvermeidlichen Auseinandersetzungen über differente Wahrnehmung und Interpretation geht es darum, wie wir die dazu gewonnenen wissenschaftlichen Fakten einschätzen und welche Handlungskonsequenzen wir daraus ziehen. Wie begreifen wir die Situation des Menschen und welchen Wert billigen wir den mit wissenschaftlichen Methoden erhobenen Daten, Fakten und Argumenten zu, diese zu erfassen (Michaels/Wulf 2020)? Das Spektrum der Auseinandersetzung reicht von der Datenerhebung über die Konstruktion von Fakten zu wissenschaftlich begründeten Argumenten und deren reflexiver Über-
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prüfung und Kritik. Der Wert dieser Bemühungen kann auch vollständig negiert werden und nur Anlass bieten zu einer populistischen, verleumderischen Rhetorik mit Wut- und Hasstiraden, in der es keinen Bezug zu wissenschaftlichen Erkenntnissen gibt. Angesichts dieser mit der Globalisierung und dem Anthropozän gegebenen Situation der Menschheit sind neue Formen transdisziplinären und transkulturellen Wissens erforderlich, für dessen Erzeugung Rückgriffe auf bekanntes und Vorgriffe auf unbekanntes Wissen erforderlich sind. Am Beispiel des Begriffs Faktizität lässt sich zeigen, wie weit gespannt das Bedeutungsspektrum von Begriffen ist und wie wichtig es ist, die Bedeutung der gebrauchten Begriffe zu präzisieren. Was als Faktizität bezeichnet wird, kann durch verschiedene Elemente, Werte und Sichtweisen bestimmt werden, so dass der Begriff unterschiedliche Bedeutungen hat. Im alltäglichen Gebrauch bezeichnet Faktizität »Tatsächlichkeit«, »Nachweisbarkeit«, »Gegebenheit eines Dinges oder eines Sachverhalts«. In einer philosophischen, an den Existenzialismus Heideggers (1949) und Sartres (1993) anschließenden Interpretation kann Faktizität auch das In-die-Welt-Geworfen-Sein als Faktum bzw. Grundbedingung menschlicher Existenz bezeichnen, aus der heraus erst alles Weitere entsteht. In dieser Perspektive werden die Schutzlosigkeit und die Ohnmacht des Menschen betont und eine Perspektive entwickelt, die für das Verständnis des Anthropozäns wichtig ist. Aus Sicht der historischen Anthropologie und der Kulturanthropologie bedarf es notwendiger Ergänzungen. Diese bestehen in einer Konkretisierung der existentiellen Situation durch eine Analyse und Interpretation der jeweiligen historischen und kulturellen Bedingungen. Deren Spektrum reicht von allgemeinen, für eine Epoche oder Kultur charakteristischen Bedingungen bis zu den singulären Merkmalen, die jeden Menschen von jedem anderen unterscheiden (Reckwitz 2017; Gebauer/Rücker 2019). Neben der existentiellen Situation des In-die-Welt-GeworfenSeins gehören dazu auch die für unsere Situation heute charakteristischen Strukturen der Globalisierung und die Auswirkungen des Anthropozäns.
Fakten als Indikatoren für Wahrheit Im Allgemeinen gelten Fakten als Mittel zur Überprüfung des Wahrheitsgehalts von Aussagen. Sie werden als gesichertes Wissen angesehen, das in strittigen Fragen die Entscheidung darüber erleichtern soll, welche Sichtweise oder Deutung richtig ist. Doch so einfach ist es nicht. Das Wort »Fakt« leitet sich vom lateinischen facere her, das Machen bzw. Herstellen bedeutet. Was in diesem Zusammenhang als sicheres Wissen gilt, ist ein von Menschen geschaffenes Produkt, das keineswegs die unterstellte Gewissheit bietet. Fakten sind Produkte menschlicher Geschichte und Kultur und unterscheiden sich nach den historischen und kulturellen Zusammenhängen, in denen sie entstehen. Sie sind anthropomorph, also Produkte des
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Menschen, die nach Art des Menschen erzeugt worden sind. Bei der Erzeugung von Fakten spielen Weltanschauung, Sprache, Imagination und Performativität eine zentrale Rolle (Hüppauf/Wulf 2006; Wulf 2013b; 2014). Vom Menschen hervorgebracht, sind Fakten relativ, kritisierbar und veränderbar. Im Positivismus-Streit der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts spielte die Frage, was ein Faktum ausmacht, eine wichtige Rolle (Adorno 1978; Wulf 1977; Wiggershaus 1986). Die Vertreter*innen des Positivismus und des Kritischen Rationalismus betonten die Möglichkeit, durch Basissätze und ihre relative Wertfreiheit den Wahrheitsgehalt sozialer Fakten erfassen zu können. Nach ihrer Auffassung bestand ein enger Zusammenhang zwischen dem Informationsgehalt und der Überprüfbarkeit sowie der Erklärungskraft und der faktischen Bewährung. Je häufiger Theorien und Fakten durch Wiederholung bestätigt werden, desto mehr bewähren sie sich und können Geltung beanspruchen. Von dieser Annahme unterscheidet sich die Auffassung des Kritischen Rationalismus, in dessen Rahmen Theorien mittlerer Reichweite nur solange gelten, wie sie nicht falsifiziert werden können. Theorien werden also als gültig angesehen, solange Versuche scheitern, sie zu falsifizieren. Die Frage, wie Theorien, Fakten und Wissen entstehen, wie sich die dabei gemachten Voraussetzungen auf die Erzeugung der Fakten auswirken, wird vom Positivismus und vom Kritischen Rationalismus nicht als Teil der Wissenschaft angesehen, sondern als außerwissenschaftlich zurückgewiesen. Dadurch wird Wissenschaft weitgehend auf Methodologie reduziert. Im Unterschied dazu bestehen die Vertreter*innen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule auf der Bedeutung des Entstehungs- und Verwertungszusammenhangs für die Qualität und das Verständnis von Theorien und der mit ihrer Hilfe konstruierten Fakten. Sie betonen die Bedeutung dieser Zusammenhänge für die Entwicklung von Theorien und begreifen diese Kenntnisse als Teil der Wissenschaft. Um deren Gültigkeit zu sichern, schlug Niklas Luhmann (2001) vor, die Gültigkeit wissenschaftlichen Wissens nicht nur durch die Qualität der Argumente, sondern auch durch die Legitimität des Verfahrens zu sichern. Im Positivismus-Streit wird deutlich: Je nach Voraussetzungen sind unterschiedliche Vorstellungen von dem möglich, was als wissenschaftlich gesicherte Fakten gilt. Dies zeigt sich auch bei der Globalisierung im Anthropozän. Je nach kulturellen, sozialen und politischen Voraussetzungen kommt es zu unterschiedlichen Einschätzungen von Fakten, Theorien und Argumenten. Dies zu akzeptieren und im Streit über die Gültigkeit von Erkenntnissen in Bezug auf Globalisierung und Anthropozän zu berücksichtigen, ist Ausdruck wissenschaftlicher Redlichkeit (Resina/Wulf 2019; Michaels/Wulf 2020). Im Weiteren wird gezeigt, wie die Deutungssysteme Anthropozän und Nachhaltigkeit unter Einbeziehung umfangreicher Forschungen Geltung beanspruchen. In diesen Zusammenhang gehören auch Reflexion und Kritik einzelner Fakten und der Realisierbarkeit nach-
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haltiger Entwicklung. Diese kritisch-konstruktiven Reflexionen unterscheiden sich grundsätzlich von den Hass- und Wuttiraden derer, die die gegenwärtigen Fehlentwicklungen nicht wahrhaben wollen. Deren Rhetorik zielt nicht auf eine Korrektur von Fakten, sondern lediglich auf die Reduktion komplexer, nur schwer durchschaubarer Zusammenhänge, auf Abwehr und Feindschaft.
Globalisierung Ein zentrales Merkmal der Globalisierung ist die Gleichzeitigkeit des Ungleichen. In den Gesellschaften der nördlichen Halbkugel befinden sich viele Menschen im Wohlstand, in den Regionen der südlichen Halbkugel jedoch in Armut und Not. Die Menschen der Gegenwart leben in unterschiedlichen historischen Zeiten und Kulturen und in aufeinanderstoßenden Ungleichheiten. Sie nehmen an globalen Prozessen Teil, in denen sich Angleichung und Differenzierung, Differenzierung und Entdifferenzierung, Anpassung und Widerstand gleichzeitig vollziehen und in denen die Annäherung der Lebenschancen unter Beibehaltung der kulturellen Vielfalt die Aufgabe ist (Wulf 2009; 2013b; 2020a). Was als Globalisierung bezeichnet wird, wird durch das Zusammenwirken multidimensionaler Faktoren und der sich aus ihnen ergebenden Komplexität bestimmt (Wulf/Merkel 2003; Wulf/Weigand 2011; Wulf 2013a). Diese kommt dadurch zustande, dass als Globalisierung einmal Entwicklungen bezeichnet werden, die seit langem die Strukturen des internationalen Systems bestimmen. Zum anderen werden so auch Veränderungen bezeichnet, die sich heute mit großer Intensität vollziehen und Erwartungen für die Zukunft ausdrücken, deren Realisierung möglich, jedoch nicht sicher ist. Die Prozesse der Globalisierung basieren auf der Grundlage von Strukturen, die sich in langen historischen Prozessen herausgebildet haben, die bis heute manche Entwicklungen begünstigen, andere erschweren oder sogar unmöglich machen. Zu diesen Strukturen gehören: die Eroberung Amerikas, Afrikas, Australiens und großer Teile Asiens durch die Europäer, die Kolonialisierung dieser Kontinente, die Ausbreitung des Imperialismus im Namen von Nationalismus und Kapitalismus, die Aufteilung des internationalen Systems in eine erste, zweite, dritte und vierte Welt. Nach der Phase des nationalliberalen Kapitalismus bilden sich in den europäischen Ländern heraus: parlamentarische Demokratien, ein die Auswüchse des Kapitalismus zügelndes Sozialsystem einschließlich wachsender Bildungsmöglichkeiten für immer mehr Menschen. Diese Entwicklungen vollziehen sich nicht linear; sie sind vielfältig gebrochen und produzieren widersprüchliche Ergebnisse. Sie sind netzwerkartig organisiert, wie Rhizome mit unterschiedlichen Zielsetzungen und Entscheidungsstrukturen; sie verlaufen nicht zeit- und raumgleich und unterliegen heterogenen Dynamiken (Latour 2007; Wulf 2016). Sie sind multidimensional und multiregional, nehmen
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jedoch ihren Ausgangspunkt in den Zentren des neoliberalen Kapitalismus. Viele dieser Entwicklungen produzieren für das Anthropozän charakteristische destruktive Wirkungen (Wulf 2020a). Zu den negativen Entwicklungen gehören z.B. der Klimawandel, die Zerstörung der Biodiversität, die Vernichtung der nicht-erneuerbaren Energien, doch auch die Einschränkung von Rechtssicherheit, die Ausbreitung neuer Formen der Armut, der Kriminalität und der Not. Die entscheidende Frage lautet: Welche Formen und Prozesse der Globalisierung sind destruktiv und welche sind positiv und wünschenswert, d.h. nachhaltig und wie kann es gelingen, zu deren Realisierung beizutragen? Globalisierung wird als ein ambivalenter, prinzipiell zukunftsoffener Prozess begriffen, an dessen Entwicklung viele Menschen mitwirken. Da die Differenz zwischen den Prozessen der Globalisierung und den Prozessen der Gestaltung lokaler Lebenswelten unterschiedliche Handlungskompetenzen erfordert, ist eine Mitgestaltung dieser Prozesse durch viele unterschiedliche Menschen erforderlich. Bildung soll die Menschen dazu befähigen, mit diesen Konfliktformationen umzugehen und an einer gemeinsamen nachhaltigen Zukunft der Menschheit mitzuarbeiten. Obwohl sich Bildung den Anforderungen zu stellen hat, die sich aus den gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Entwicklungen ergeben, darf sie nicht auf die Erfüllung dieser Ansprüche reduziert werden. Sie muss als Wert an sich und als lebenslanger Prozess begriffen werden. Sie muss flexibel sein und die Diversität und Heterogenität der Welt und ihrer Regionen berücksichtigen (Wulf 2016, 2020a). Erforderlich ist die Entwicklung einer Gesellschaft, in der lebenslanges Lernen für alle Menschen, jedoch in unterschiedlicher Form stattfindet. Lernen soll sich auf das menschliche Zusammenleben beziehen und dazu beitragen, dieses konstruktiv und im Geiste des Friedens zu gestalten. Gegenseitiges Verständnis soll gefördert und die Fähigkeit zu produktiver Lebensgestaltung entwickelt werden. Im Rahmen von Global Citizenship Education werden Rassismus, Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Menschenrechtsverletzungen bekämpft (Wintersteiner/Wulf 2017; Bernecker/Grätz 2017).
Anthropozän oder das Zeitalter des Menschen Man kann die Globalisierung als den Motor des Anthropozäns begreifen. Sie beschleunigt und intensiviert alle kritisierten Entwicklungen. Zugleich bietet das Anthropozän die für die Globalisierung erforderlichen Voraussetzungen (Wulf 2020a; 2020b; Wallenhorst 2019; Federau 2017). Was sind nun die wichtigsten Charakteristika des Anthropozäns? Vier Phasen lassen sich unterscheiden: die erste Phase mit ihrem Beginn vor etwa 12.000 Jahren, in der die Menschen sesshaft werden und Tierzucht und Ackerbau entwickeln; die zweite Phase, die durch die Erfindung der
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Dampfmaschine durch James Watt 1769 und die Industrialisierung bestimmt wird; die dritte Phase, die bis in die Gegenwart reicht und die gekennzeichnet ist durch: • • • • •
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die Klimaerwärmung, die Entdeckung der Atomenergie und die Herstellung von ca. 15.000 Atomund Wasserstoffbomben, die Digitalisierung – mit Internet, Robotik und Künstlicher Intelligenz, die Verschränkung zwischen menschlichem Körper und Maschine (Cyborg), die Genforschung – mit der Entdeckung der DNA, dem Klonen und der Stammzellenforschung, die neuerdings menschliche Körperteile in den Körpern von Tieren zu erzeugen versucht, die Umweltverschmutzung und -zerstörung, die jährliche Erzeugung von 350 Millionen Tonnen Plastik, die Erfindung von hunderttausend künstlichen Materialien, die Zerstörung der Biodiversität, die Vernichtung nichterneuerbarer Energien.
Nach einem Bericht der UNO für die Jahrtausendwende sind zwölf Prozent der Vogelarten, 23 Prozent der Säugetiere, 25 Prozent der Nadelbäume, 32 Prozent der Amphibien gefährdet (Millenium Ecosystem Assessment 2005, S. 35). Nach Unterlagen des WWF hat sich die Population der Meerestiere zwischen 1970 und 2012 um 49 Prozent verringert (Tanzer u.a. 2015: 16). Die vierte Phase des Anthropozäns ist dadurch gekennzeichnet, dass die Weltgemeinschaft versucht, ihren destruktiven Bedingungen entgegenzuwirken. Auf der Generalversammlung der UN in New York haben die Repräsentanten der Weltgemeinschaft 2015 die Ziele nachhaltiger Entwicklung verabschiedet, an deren Verwirklichung die Menschheit arbeiten muss, um die negative Situation des Anthropozäns zu überwinden. Die Agenda 2030 betont die Interdependenzen zwischen den Zielen und den durch fünf p gekennzeichneten zentralen Bereichen der Entwicklung: people (Armut und Hunger, Leben in Würde, Gleichheit, gesunde Umwelt), planet (Schutz der Ökosysteme), peace (Inklusion, Frieden, Gerechtigkeit), prosperity (Wohlergehen aller Menschen durch wirtschaftliche und technische Entwicklung) partnership (Kooperation). Die Realisierung dieser Aufgaben soll sich an
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den Prinzipien Universalität, Unteilbarkeit, Inklusion, Rechenschaftspflicht und Partnerschaftlichkeit orientieren.1
Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie 2021 In dieser Situation trägt die detaillierte Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung zur Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung bei. Mit ihr wird eine Dekade des Handelns auf allen Ebenen vorgelegt. Im Unterschied zu den bisherigen Bemühungen wird hier eine umfassende mehrdimensionale Strategie entwickelt, die viele der bisher erreichten Ergebnisse mitberücksichtigt. Nachhaltige Entwicklung wird als eine zentrale Aufgabe der deutschen Politik begriffen, die es im Rahmen der Europäischen Union und der globalen Staatengemeinschaft zu erfüllen gilt. Dazu werden im ersten Kapitel folgende Transformationsbereiche dargestellt: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Energiewende und Klimaschutz, Kreislaufwirtschaft, nachhaltiges Bauen und Verkehrswende, Nachhaltige Agrar- und Ernährungssysteme, schadstofffreie Umwelt, menschliches Wohlbefinden und Fähigkeiten, soziale Gerechtigkeit.
Um hier erfolgreich zu sein, sollen weiterentwickelt werden: die Überwindung des sektoralen Denkens, die Einbeziehung der gesellschaftlichen Akteure, die Kanalisierung der Finanzströme, die Förderung von Forschung, die Innovation und Digitalisierung sowie die internationale Verantwortung und Kooperation. Im zweiten Kapitel wird die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie präzisiert. Genannt werden: die zentralen Institutionen, die Strukturen und Zuständigkeiten, die Grundzüge einer Nachhaltigkeits-Governance mit Prinzipien und Indikatoren der Nachhaltigkeit und die Verfahren des Monitoring, das Maßnahmenprogramm zur 1
The Future is Now: Science for Achieving Sustainable Development, der erste Global Sustainable Development Report, der von der Independent Group of Scientists vorbereitet wurde, die der Generalsekretär der Vereinten Nationen eingesetzt hat. Dieser Global Sustainable Development Report (GSDR) von 2019 ist das »Assessment of Assessments« durch die Zusammenfassung aller Berichte in diesem Bereich. Er hat folgende Zugangspunkte: 1. Menschliche Wohlfahrt; 2. Nachhaltige und gerechte Wirtschaft; 3. Nahrung und Ernährung; 4. Städtische Entwicklung; 5. Zugang zu Energie und Dekarbonisierung; 6. Sicherung der globalen Güter. Werkzeuge der Transformation sind: 1. Governance; 2. Wirtschaft und Finanzen; 3. Individualverhalten und gemeinsames Handeln; 4. Wissenschaft und Technologie.
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Nachhaltigkeit, die Bund-Länder-Zusammenarbeit, die Kooperation mit der kommunalen Ebene, die Einbindung gesellschaftlicher Akteure. Ziel ist die Schaffung eines Gemeinschaftswerks Nachhaltigkeit. Im dritten Kapitel wird der deutsche Beitrag zur Erreichung der siebzehn Ziele nachhaltiger Entwicklung dargestellt: 1. Armut in allen ihren Formen und überall beenden; 2. Den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern; 3. Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern; 4. Inklusive, gerechte, hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten lebenslangen Lernens für alle fördern; 5. Geschlechtergleichstellung erreichen und alle Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung befähigen; 6. Verfügbarkeit und nachhaltige Bewirtschaftung von Wasser und Sanitärversorgung für alle gewährleisten; 7. Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und moderner Energie für alle sichern; 8. Dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdiges Arbeiten für alle fördern; 9. Eine widerstandsfähige Infrastruktur aufbauen, breitenwirksame und nachhaltige Industrialisierung fördern und Innovationen unterstützen; 10. Ungleichheit in und zwischen Ländern verringern; 11. Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig gestalten; 12. Nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sicherstellen; 13. Umgehend Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen ergreifen; 14. Ozeane, Meere und Meeresressourcen im Sinne nachhaltiger Entwicklung erhalten und nachhaltig nutzen; 15. Landökosysteme schützen, wiederherstellen und ihre nachhaltige Nutzung fördern, Wälder nachhaltig bewirtschaften, Wüstenbildungen bekämpfen, Bodendegradation beenden und umkehren und dem Verlust der Biodiversität ein Ende setzen; 16. Friedliche und inklusive Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung fördern, allen Menschen Zugang zur Justiz ermöglichen und leistungsfähige, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen aufbauen; 17. Umsetzungsmittel stärken und die Globale Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung mit neuem Leben füllen.
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Bildung für nachhaltige Entwicklung Bei der Realisierung dieser Wende in der lokalen, regionalen und globalen Entwicklung spielen Erziehung, Bildung und Sozialisation eine zentrale Rolle. Alle 17 Ziele benötigen für ihre Akzeptanz in der nachwachsenden Generation und ihre Realisierung der Unterstützung durch Erziehung und Bildung. Bleibt diese aus, ist eine Verwirklichung der Ziele kaum möglich. Das vierte Ziel verlangt ausdrücklich eine inklusive, gleichberechtigte, hochwertige und lebenslange Bildung. In inhaltlicher Hinsicht besteht das Ziel darin, junge Menschen dabei zu fördern, zukunftsfähiges Denken und Handeln zu entwickeln. Erforderlich ist die Fähigkeit, mit Risiken und Unsicherheit umzugehen, sozial und ethisch kompetent zu handeln, reflexiv und kritisch zu denken, verantwortungsbewusst und solidarisch zu sein. Bildung für nachhaltige Entwicklung sieht den Aufbau eines zwölfjährigen öffentlichen Schulsystems vor. Die Schulpflicht soll neun Jahre dauern und einen kostenfreien und qualitativ hochwertigen Unterricht in der Primarstufe und in der Sekundarstufe umfassen. Inklusiv meint hier nicht nur die Inklusion behinderter, sondern auch marginalisierter Kinder und Jugendlicher. Gleichberechtigung im Zugang und in der Behandlung im Bildungswesen sind notwendige Konsequenzen. Besonders für Mädchen und Frauen ist in vielen Regionen der Welt noch einiges zu tun. Um das Wissen und die Kreativität der Kinder und Jugendlichen zu fördern, muss die Qualität von Erziehung und Bildung verbessert werden u.a. durch eine veränderte Lehrerausbildung und Curriculum-Entwicklung. Schließlich gilt es die Förderung von Erziehung und Bildung nicht nur auf das Schulwesen zu begrenzen. Berufsbildung und lebenslanges Lernen sollen entwickelt und informale und non-formale Bildung gefördert werden. Vier bis fünf Prozent des Bruttoinlandprodukts oder 15-20 Prozent der öffentlichen Ausgaben sollen für Bildung aufgebracht werden. Infolge der Corona-Krise ist der weltweit erforderliche Finanzbedarf dazu auf 200 Milliarden Dollar gestiegen. Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie 2021 entwickelt die Maßnahmen für Deutschland weiter, die bereits im Nationalen Aktionsplan entworfen wurden, der von der Nationalen Plattform Bildung für nachhaltige Entwicklung 2017 beschlossen wurde. Der Nationale Aktionsplan wurde von mehr als 300 Vertreterinnen und Vertreter von Bund, Ländern, Kommunen, Zivilgesellschaft und Wissenschaft gemeinsam entwickelt und umfasst 130 kurz-, mittel- und langfristige Ziele, an deren Verwirklichung gearbeitet wird. Mit der KMK zusammen führt das BMZ zahlreiche Projekte in Schule, Hochschule und in der Berufsbildung durch. Auf diese Arbeiten bauen die neuen Maßnahmen auf, die die Nachhaltigkeitsstrategie für Deutschland von 2021 entwickelt. Ein zentrales Arbeitsfeld in Deutschland ist die Bildung, Erziehung und Betreuung in der frühen Kindheit. Hier stellt die Bundesregierung bis 2022 den Ländern und Kommunen 5,5 Milliarden Euro zur Verfügung, mit denen mehr als 450 000
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zusätzliche Betreuungsplätze geschaffen werden. Für die Jahre 2020 und 2021 werden weitere 90 000 neue Betreuungsplätze in Kitas eingerichtet. Ein weiteres Arbeitsfeld liegt im Bereich Bildung und Betreuung in der Schule. Hier werden mehr als fünf Milliarden Euro für den Ausbau der Digitalisierung bereitgestellt. Auch der Bereich der Berufsbildung wird nachhaltig gefördert, zum Beispiel mit dem ESF-Programm »Berufsbildung für nachhaltige Entwicklung«. Ebenfalls wichtige Bereiche der Bildung für nachhaltige Entwicklung sind die Hochschulbildung, die Weiterbildung, die non-formale und informelle Bildung, die inklusive Bildung und die technologiespezifische Kompetenzentwicklung (incl. der Mint-Fächer). Ein zweiter Schwerpunkt liegt in den Maßnahmen durch Deutschland. Genannt werden hier u.a. das Weltaktionsprogramm Bildung für nachhaltige Entwicklung und das neue UNESCO Programm für »Education for Sustainable Development for 2030«. Der dritte Schwerpunkt besteht in den Maßnahmen mit Deutschland. Auf der Grundlage der 2015 veröffentlichten Bildungsstrategie des BMZ »Gerechte Chancen auf hochwertige Bildung schaffen« wird die Bedeutung der Berufsbildung für die Bildung für nachhaltige Entwicklung deutlich gemacht, in der Deutschland der international wichtigste Geber ist. Hier ist Afrika der regionale Schwerpunkt. Besonders gefördert wird die Chancengerechtigkeit. Dazu unterstützt das BMZ den Ausbau der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), digitale Bildungsangebote und Entwicklung von Kompetenzen für den digitalen Wandel. Auch die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik orientiert sich an dem auf Bildung bezogenen Ziel der SDG. Zu erwähnen sind hier u.a. die Netzwerke der Partnerschulinitiative PASCH »Schulen; Partner der Zukunft«, die UNESCO-Projektschulen, der Freiwilligendienst »kulturweit«, die umfangreichen Stipendienprogramme des DAAD und der politischen Stiftungen. Beachtenswert ist auch die weltweite Zusammenarbeit mit Schulen im Hochschulbereich, einschließlich der Förderung geflüchteter und gefährdeter Wissenschaftler*innen.
Nachhaltigkeit als »große Erzählung« So notwendig diese Bemühungen sind, die bedrohliche Situation des Anthropozäns durch systematisches strategisches Handeln zu verbessern, so sehr sind Zweifel angebracht, ob es gelingen wird, die erforderlichen Veränderungen zu verwirklichen. Ist nicht die Vision einer nachhaltigen Entwicklung und einer entsprechenden Bildung für Nachhaltigkeit eine »große Erzählung« im Sinne François Lyotards, deren Funktion es ist, darüber hinwegzutäuschen, dass sich die erforderlichen Veränderungen nicht verwirklichen lassen (Lyotard 2012)? Eine solche Vision bietet bereits ein gewisses Maß an »Befriedigung«. Sie suggeriert, man habe mit dem Aktionsprogramm 2030 und der Nachhaltigkeitsstrategie von 2021 etwas ver-
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bessert, wisse man doch nun genauer was zu tun sei und beginne entsprechend zu handeln. Möglicherweise entlastet bereits diese Einsicht viele Menschen davon, wirklich nachhaltig zu handeln. Zwar versucht die Nachhaltigkeitsstrategie die »große Narration« in eine Transformation der Gesellschaft zu überführen und deren Verwirklichung zu evaluieren. Dennoch bleibt die Frage offen, inwieweit dies angesichts der umfangreichen gesellschaftlichen Widerstände im erforderlichen Ausmaß geschehen wird.
Nachhaltige Entwicklung als Utopie Für eine Einschätzung, ob die Zielvorstellungen einer nachhaltigen Entwicklung und einer darauf bezogenen Bildung realisierbar sind, kann eine Analyse der großen Utopien der europäischen Geschichte hilfreich sein: Platons Politeia (Staat) (Platon 1958), Campanellas Sonnenstaat (Campanella 2008), Thomas Morus’ Utopia (Morus 2013). Die Reihe ließe sich fortsetzen. In den genannten Utopien steht jeweils die Vorstellung eines idealen Gemeinwesens im Mittelpunkt. Sie zeigt, was möglich wäre, wenn die Menschen nicht so wären wie sie sind und sich Utopien ohne unvorhergesehene Nebenwirkungen verwirklichen ließen. Alle Utopien haben eine Tendenz, die Vielfalt und Widersprüchlichkeit menschlichen Lebens zugunsten einer als gut eingeschätzten gesellschaftlichen Ordnung einzuschränken. Zwar ist die angestrebte Utopie einer nachhaltigen Entwicklung vielförmiger als alle bisherigen Utopien. Doch würde ihre Verwirklichung nicht auch zu problematischen Einschränkungen individueller Grundrechte führen? Selbst wenn sich solche Einschränkungen durch die destruktiven, die Zukunft der Menschheit gefährdenden Bedingungen des Anthropozäns begründen ließen, erhebt sich die Frage, bis zu welchem Ausmaß solche Einschränkungen noch mit den Menschenrechten vereinbar sind. Wären solche Reformversuche nicht in Gefahr, wie es Horkheimer und Adorno in Bezug auf die »Dialektik der Aufklärung« deutlich gemacht haben, in das Gegenteil ihrer Intention »umzuschlagen« (Horkheimer/Adorno 1971).
Populismus und Hasssprache Zweifel an der Realisierbarkeit der Narration Nachhaltigkeit und an den ungewollten Nebenwirkungen dieser Utopie, die die menschliche Vielfalt und Freiheit einschränken, sind wichtige Momente eines kritischen Umgangs mit dem Anthropozän und den Versuchen, seine negativen Wirkungen zu erforschen, einzuordnen und zu reduzieren. Neben diesen reflexiven Argumenten und kritischen Einschätzungen begegnet man heute vermehrt Äußerungen einer Wut- und HassRhetorik, die die negativen Auswirkungen des menschlichen Verhaltens im Anthro-
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pozän leugnet. An die Stelle einer die Zukunft des Planeten und der Menschheit gefährdenden Bearbeitung der Probleme richten sich Wut und Hass gegen Menschen, die diese destruktiven Entwicklungen durch Forschungen, Argumente und politisches Handeln angehen. Vielfältig bestätigte Erkenntnisse werden mit kruden Verschwörungstheorien abgewertet. Oft werden die Wissenschaftler, Politiker und Aktivisten sogar als Personen zur Zielscheibe des Hasses. In vielen populistischen Gruppen kommt es zu einer starken Zunahme der Aggression. Wahrheit spielt als regulative Idee keine Rolle. An ihre Stelle tritt eine mit politischen Intentionen verbundene, auf Stimmungen basierende Rhetorik, mit deren Hilfe versucht wird, die Unterstützung möglichst vieler Menschen zu erlangen. Einfluss und Macht zu gewinnen, ist das Ziel. Häufig wird dazu ein Gegensatz zwischen Eliten und Volk geschaffen, bei dem die Populisten für sich in Anspruch nehmen, die Stimme des Volkes zu sein und dessen wahre Interessen zu vertreten. Oft gehen damit einher die Reduzierung komplexer Zusammenhänge auf schlagwortartige Begriffe, die Berufung auf den »gesunden Menschenverstand« und ein Anti-Intellektualismus. Angesichts der global steigenden Verunsicherung werden simple Problemlösungen mit diffamierenden Schuldzuweisungen propagiert. Besonders deutlich sind diese Äußerungen in den Bereichen des Klimawandels und der Migration. Unabhängig von Fakten und Erkenntnissen wird eine grundlose Abwehrhaltung propagiert, die Eindeutigkeit und Eingängigkeit durch Vereinfachung und bewusste Verfälschung ersetzt. In den sozialen Medien nimmt die Hasssprache ein beunruhigendes Ausmaß an. Diese Zunahme führt dazu, dass viele Menschen, die sich durch die Bedingungen des Anthropozäns bedroht fühlen, die ihnen in diesen Medien prinzipiell gegebenen Möglichkeiten des Austauschs politischer Meinungen nicht (mehr) wahrnehmen. Bei Hate Speech und Shitstorm im Netz geht es nicht um die Vermittlung unterschiedlicher Auffassungen und Meinungen. Ziel ist die Abwertung und Beschimpfung von Menschen mit anderen Auffassungen.2 Feindliche Gefühle, Diffamierungen und Bedrohungen gegen die Kritiker der negativen Auswirkungen des Anthropozäns und die Befürworter nachhaltiger Entwicklung werden von fiktiven Positionen aus hervorgebracht. Hass und Wut werden dadurch erzeugt, dass man hemmungslos gegen Fakten und Argumente ist. Der Wahrheitsgehalt der Einwände und Kritiken spielt keine Rolle. Groß ist der Gewinn, einen Feind auszumachen, dessen Argumente und Einstellungen verunsichern. Ihn gilt es »niederzumachen« und dabei die Möglichkeit zu haben, sich in einer Gruppe Gleichgesinnter zusammenzufinden und sich zu bestärken. Fakten,
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Zu den Bereichen, bei denen die Ausdrucksformen des Hasses besonders verbreitet sind, gehören: LGBT (eine aus dem englischen Sprachraum übernommene Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender), Muslime, Juden und Frauen.
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Argumente, fundierte Erkenntnisse spielen für die Intensität der eigenen Gefühle keine Rolle.
Ausblick Bei den anstehenden Transformationen heutiger Gesellschaften in nachhaltige Gesellschaften ergeben sich zahlreiche Probleme. Ausgangspunkt sind die gefährlichen Auswirkungen der Industrialisierung und der Modernisierung. Um die Zerstörung der Lebensgrundlagen im Anthropozän zu vermeiden, bedarf es eines alle Lebensbereiche umfassenden, tiefgreifenden gesellschaftlichen und kulturellen Wandels. Um zu wissen, wie dieser vollzogen werden kann, sind u.a. umfangreiche Forschungen und Erkenntnisse erforderlich, deren Verlässlichkeit eine wichtige Rolle spielt (Michael/Wulf 2020). Je offener und vielgestaltiger die globale Welt wird, desto schwieriger ist es zu bestimmen, welche Fakten wichtig sind und welche Konsequenzen sich aus ihnen für das menschliche Handeln gewinnen lassen. Wissenschaftlich gewonnene Fakten erfordert die Bereitschaft zu überprüfen, welches ihre Voraussetzungen sind und wie angesichts ihrer mit Nicht-Wissen umgegangen werden muss. Fakten sind Konstruktionen, deren Gültigkeit kontinuierlich überprüft werden muss. Dies gilt für empirisches Wissen genauso wie für theoretische Konstruktionen. Wissenschaftliches Wissen entsteht in einem historischen und kulturellen Kontext, der sich wandelt und dessen Veränderungen zur kritischen Reflexion herausfordern. Nachhaltigkeit und Bildung für nachhaltige Entwicklung sind Antworten auf die Gefährdung der Zukunft des Planeten durch den Menschen. Inwieweit es allerdings gelingen wird, die erforderlichen radikalen Veränderungen zu realisieren, ist eine offene Frage.
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»Bauen nach Katastrophen« Theater und Anthropozän am Beispiel einer Performancekunst mit Kindern Kristin Westphal Die Erde ist uns fremd. Wir leben auf ihr und von ihr, aber wir verstehen sie nicht. – Ulrike Haß 2020
Einleitung Zukunft Es wachsen keine Pflanzen mehr, die trocknen alle aus. Der Nordpol wird schmelzen. Vielleicht in 20 Jahren. Die Inuits sterben und dann kommt da noch ganz viel Wasser. Es wird viele Überschwemmungen geben. Die Seite vom Ostbahnhof, also Mitte, wird zum Meer. Also ich werde dann am Strand wohnen. (Aussage eines Kindes in: Bauen nach Katastrophen, Berlin Hau 1 Hebbeltheater 2011)
Transformationen des Menschenbildes zu verhandeln ist seit jeher dem Theater und damit meine ich das westliche, europäische Theater originär zu eigen. Die Entwicklung auf den »Anthropos als einziger Akteur von Geschichte wie Theater« wird mit dem Zeitalter des Anthropozän in Frage gestellt (Raddatz 2018: 73). Unsere Vorstellungen von Natur – z.B. als Gegensatz von Kultur – sind überholt. Der Mensch formt die Natur, dessen Ausmaße heute globale Auswirkungen erreicht
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haben, die nicht nur die eigene Existenz gefährden. Das ist der Kern einer These, die disziplinübergreifend einen Paradigmenwechsel ankündigt. In anthropologischer Perspektive stellen sich auch Kunst und Bildung der Herausforderung, das Verhältnis von Kunst und Natur, Wissen und Nichtwissen, Kreation und Destruktion zu befragen und neu zu denken (Wulf 2020). Hans-Thies Lehmann spricht von einem post-anthropozentrischen Theater als eine u.a. bedeutende Gestalt: »Wenn die Menschenkörper, gleichberechtigt mit Sachen, Tieren und Energielinien in eine einzige Wirklichkeit sich fügen (wie es auch im Zirkus der Fall zu sein scheint – daher die Tiefe des Vergnügens daran), macht Theater eine andere Realität als die naturbeherrschenden Menschen vorstellbar.« (Lehmann 1999: 138). So sind bereits seit den 1980er-Jahren verstärkt zeitgenössische Praktiken im Theater und insbesondere in den Performancekünsten zu beobachten, auch Live Arts genannt, die sich einer anthropogen ausgerichteten Gegenwart und Zukunft widmen. Landschaften wie das Meer, Gestein, Wasser, die Wüste oder der Wald sind dann nicht nur als Hintergrund und Spielraum für Performances zu sehen, sondern als Kräfte anderer Formen des Lebens, von denen das Menschliche selbst existenziell abhängig ist. Die Künste bekommen angesichts der klimatischen Veränderungen und den Katastrophen, sei es von Menschenhand oder durch die Natur bedingt, für Fragen unserer Zukunft, für unser Überleben einen bedeutsamen Akzent, indem sie unser Selbstverständnis des Verhältnisses von Selbst und Welt neu zu ergründen suchen. Es rührt in ethischer Hinsicht an die Verantwortung für die kommenden Generationen. So ist die Verantwortungsübernahme der Gegenwart für die Zukunft aktuell ein zentraler gesellschaftlicher Aushandlungsort mit geradezu tektonischen Verschiebungen. Denn das Zukunftsversprechen der Aufklärung (Honig 2009) ist angesichts ökologischer, ökonomischer, politischer, technologischer, demografischer und gesundheitlicher Krisen nachhaltig gebrochen. Damit erodiert der Kern von Erziehung in der Moderne und das generationale Verhältnis droht, seine Konturen zu verlieren. Das zeigt sich z.B. Raddatz zu Folge an einer ökologischen Pädagogik: Statt einschneidende Konflikte aufzuzeigen, beruhige sie unser Gewissen, indem sie einen schonenden Umgang mit Ressourcen und ein nachhaltiges Wirtschaften nahelege (Raddatz 2018: 71).1 Denn, auch wenn die nachkommende Generation schon absehbar mit einer schweren Hypothek belastet
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Siehe Driemeyers Recherchereise zur Frage, wie Theaterschaffende mit dem Klimawandel und seinen Folgen in Produktionen in besonders betroffenen Ländern auseinandersetzen und wie die Theater sich zum anthropogenen Klimawandel ins Verhältnis setzen. Auffällig ist u.a. ein Befund: So werden Geschichten häufig in »fiktive, fast Science-Fiction-Realitäten verlegt und somit in eine weit entfernte Zukunft« (2020: 21).
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ist, steht ihr Schicksal in den Sternen. Ihre Zukunft ist ungewiss, wie uns die Diskurse in der Erziehungswissenschaft und in den Anfängen mit Schleiermacher u.a. schon ausweisen (Westphal 2009; Bilstein/Winzen/Zirfas 2020). Anlass über diese Fragen nachzudenken ist das Langzeitprojekt Bauen nach Katastrophen und Cooking catastrophes sowie Von Menschen gemacht, dem das einführende Zitat entnommen ist. Es ist ein Performancemodell, mit dem Eva Meyer-Keller und Sybille Müller über zehn Jahre mit Kindern an Orten in verschiedenen Ländern eine gleichsam global vergleichende künstlerische Feldstudie durchgeführt haben. Es zeigt sich als eine performative Praxis, die über eine experimentelle Arbeit mit Kindern im Umgang mit alltäglichen Gegenständen, Video, Ton und Text neue Aufführungs- und Kommunikationsformate entwickelt. Dabei wird entlang eines brisanten Themas eine übergreifende Frage berührt: Wie vermag unsere heranwachsende Generation mit den gesellschaftlichen Konflikten und Krisen von Klimaveränderungen und Katastrophen im experimentellen Umgang mit Dingen/Objekten und Medien, ihre Vorstellungen vom zukünftigen Leben auf diesem Planeten, beim Bauen von Katastrophenmodellen, zur Sprache bringen? Welche Tabus werden angerührt? Wie begegnen die Künstlerinnen den Kindern? Wie geht das in die Handlungen, in die Performancearbeit ein? In welchem Verhältnis steht Destruktion und Kreation? Was hat die Lust nach Zerstörung im spielerischen Vorgehen, wie es einerseits Kindern und andererseits den Künsten zu eigen ist, um etwas Neues zu schaffen, mit dem Thema Katastrophen gemeinsam? Wie kommen diese Momente in einer Performance mit und von Kindern zusammen?
Überlegungen zum Theater und Anthropozän Das Verhältnis des Menschen zur Natur ist eng verknüpft mit einer der ältesten Künste, dem Theater, dessen Hervorbringung Jean-Luc Nancy zu Folge aus dem Kult erwachsen ist, dessen Wirkmächtigkeit bis heute das Theater als Ritual bestimmt, indem es »das kultische Dispositiv bis heute vollständig bewahrt« (Nancy 2014: 93). So feierte man mit Tanz und Gesang auf einem Tanzplatz (Chorus) nächtelang Feste, führte Rituale durch und brachte Opfer, die Dionysos, dem Gott der Wiedergeburt, aber auch Zerstörung, des Weines und Theaters, geweiht waren, damit die Erde nach jedem langen Winter wiedergeboren werde. Auch damals gab es schon Erdbeben, Überflutungen, Dürre, Ernteausfälle etc. Die Erde hat ihre eigene Geschichte, die den archaischen Gesellschaften in ihrer Unergründlichkeit zutiefst fremd gewesen sein musste und von daher als heilig angesehen wurde: »Heiligmachen heißt, dass etwas unzugänglich ist. Es ist unberührbar, kein Mensch langt dahin« (Haß 2020: 21). Die Ursprünge dessen finden sich noch im Theater der Antike, indem das Theater als Kultträger das große »Andere« nicht nur durch den Chor, sondern auch durch eine große Offenheit der freien Bühne in die Landschaft
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hinein deutlich wurde und – choreografisch gesehen – der Chor aus dieser Landschaft heraustritt. Hans-Thies Lehmann (1991) macht darauf aufmerksam, dass der Chor nicht als Individuen oder aus sich heraus agierende Helden verstanden werden könne. Die Geburt des modernen Subjekts beschreibt er als eine schmerzhafte Trennung dieser vormals symbiotischen Beziehung, die für den Menschen mit Zugehörigkeit und Schutz einherging. In der Fassung des Performancekollektivs LIGNA von Ödipus der Tyrann. Eine Befreiungsphantasie (2011 Uraufführung Kampnagel) heißt es in der Hörperformance an einer Stelle: »Der Diener: Die Bühne ist verwaist. Alle Helden sind gegangen. Von den Göttern redet schon lange niemand mehr. Wen sollte ihr Unglück auch kümmern, heute. Und doch – Schauen Sie sich um: Kein Schicksal mehr. Sie sind allein miteinander, ein von Helden und Göttern verlassenes Publikum. Chor: Was soll ich singen?« (Westphal 2015: 206) Die Fragen, von woher wir kommen, wer wir sind, haben sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte in einem nie da gewesenen Ausmaß verschoben, verkehrt und in der Theaterarchitektur sichtbar umgestülpt, indem sich die Menschen von den Göttern abwandten, um sich selbst mit Hilfe der Wissenschaften als Herrscher*in und Baumeister*in des Seins, seiner inneren wie äußeren Natur, aufzuschwingen und sich in der Folge mit einer schwer berechenbaren Erde konfrontiert zu sehen. Die fatale Verkennung der Natur als eine Art ontologischer Invariante führt uns Frank M. Raddatz am Beispiel des antiken Ödipus vor Augen. »Verhielt sich die Geschichte blind gegenüber der Natur, wird der Mensch des Anthropozäns wie einst Ödipus begreifen müssen, dass er selbst jene Transformationen zu verantworten hat, die ihm bislang als äußeres meteorologisches Geschehen gegenübertraten. Wie der antike Ödipus unwissentlich den eigenen Vater erschlug, hätte der heutige Mensch zu erkennen, dass er fahrlässig das alte Klimaregime zu Fall gebracht hat, ohne zu ahnen, in welchem existentiellen Verhältnis er zu ihm stand.« (Raddatz 2018: 69) Für den Philosophen Michel Serres (1994) ist das Novum, dass die globale Geschichte in die Natur eintritt und die globale Natur in die Geschichte. Diese Äußerung geht zurück auf die Erkenntnis, dass wir es mit einer erstmaligen Kreuzung von Erd- und Menschheitsgeschichte zu tun haben, die mit der ersten Industrialisierung und den einhergehenden Erfindungen wie die Dampfmaschine datiert wird, mit der bis heute global wahrnehmbare Veränderungen zu beobachten und zu messen sind (Wulf 2020: 191f.). Der Begriff ist auf Eugene F. Stoermer und dem niederländischen Meteorologen Paul Crutzen zurückzuführen. Er kündigt einen Paradigmenwechsel nicht nur in den Naturwissenschaften an, sondern darüber hinaus in Kultur, Politik, Alltag etc. Raddatz hebt in seinem umfassenden Beitrag Bühne und Anthropozän auf einen paradoxen Effekt ab, der mit der Perspektivierung
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durch den Begriff bewirkt werde: Zum einen erfahre die Stellung des Menschen eine Erhöhung. Indem das Großnarrativ Anthropozän ihn als geologischen Faktor definiere, der dem Erdzeitalter mit seiner Einwirkung auf das Klima seinen Stempel aufdrücke, werde sein In-der-Welt-Sein um die erdgeschichtliche Tiefenzeit verlängert. Auf der anderen Seite erodiere das anthropozentrische Weltbild irreversibel, schrumpft doch die 200 000 Jahre bestehende Existenz des Menschen – mit ihren Vorläufen auf zwei Millionen Jahre auszudehnen – zu einer Nebenfigur, angesichts einer sich über eine unvorstellbare Tiefenzeit erstreckende Geschichte des Planeten selbst (Raddatz 2018: 72), der vor rund 4,5 Milliarden Jahren entstand und vor ca. 2,3 Milliarden Jahre einzigartig durch die Photosynthese bedingt Leben ermöglichte (ebd.: 70). Raddatz’ Argumentation folgend wäre von da aus ein »revidierter Prometheus« zu denken, der das Menschengeschlecht nicht von den Zwängen der Natur, sondern von »seiner artspezifischen Arroganz« befreit: denn so Margulis, »die Erde ist nicht menschlich, und sie gehört den Menschen auch nicht. […] der Mensch ist nicht Mittelpunkt des Lebens, ebenso wenig wie eine andere Spezies. Der Mensch ist für das Leben noch nicht einmal wichtig. Wir sind ein ganz neuer, schnell wachsender Teil eines riesengroßen, uralten Ganzen.« (Margulis zit.n. ebd.: 73) Deutlich wird mit dieser Aussage, dass es nicht mehr um ein Zurück gehen kann, sondern – so lese ich Raddatz’ Thesen – mit der Ablösung des Referenzpunkts Mensch durch den Referenzpunkt Erde im Sinne, dass der Menschheit nur diese eine Erde zur Verfügung steht, das abgerissene Band einer Kommunikation mit der Natur auf eine neue und andere Weise zu suchen ist. Die Herausforderungen für eine lebbare Zukunft der kommenden Generationen liegen dann darin, das Verhältnis Mensch und Natur zu überdenken und dabei den Zusammenhang mit nichtmenschlichen Kräften neu zu konzipieren. Anknüpfungspunkte finden sich in bereits bestehenden Diskursen des Anderen, in dem es z.B. um die Fremdheit des Menschen sich selbst und anderen gegenüber, um sie unter diesen hier genannten Vorzeichen weiterzuentwickeln, Diskurse wie sie z.B. in der Psychoanalyse, historischen Anthropologie und Phänomenologie und den Wissenschaften der Künste zunehmend Eingang finden. Mit Burkhardt Liebsch z.B. gilt es zu »bedenken, dass sich die heute so überaus kritisch zu bewertenden ökologischen und politischen Aussichten eines wirklich lebbaren Lebens auf Andere beziehen, die in absolut unvorhersehbarer Art und Weise ihr eigenes Leben leben werden – und darauf einen originären Anspruch haben.« (Liebsch 2017: 152; Herv. i.O.) Über die Frage des Generationsverhältnisses hinausgehend liegt die Herausforderung darin, wie das Verhältnis von Mensch und Natur vom Anderen her und zum Anderen hin eines gelebten Lebens zu denken ist.
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Anknüpfungspunkte finden wir auch in künstlerischen Arbeiten – mit prominenten Namen wie Julian Charrière, Jan Fabre oder Carsten Höller, Agrarwissenschaftler und Künstler (Soma 2011 Hamburger Bahnhof) verbunden –, die sich zwischen Kunst und Natur/Wissenschaft bewegen und die »Grenzen zwischen Kunst als wissenschaftliches Experiment und Wissenschaft als Fiktion verschieben« (Westphal 2018: 58; Böhme 2018). Dem Theater als ein Möglichkeitsraum kommt eine bedeutsame Rolle zu, zumal es als ein Ort zu verstehen ist, an dem es entlang seiner eigenen Entwicklung mit den Mitteln des Theaters selbst zu reflektieren vermag, wie sich die tiefen Risse des Verhältnisses des Menschen zur Natur zeigen, aus der er selbst hervorgegangen ist und seine Existenz zu verdanken hat. Nikolaus Müller-Schöll (2019) spricht von einem Theater, das sich im Sinne von Derrida »der Erfahrung der Möglichkeit eines Anderen« aussetzt (ebd.: 72). Ein Theater, das riskiert, sich selbst zur Disposition zu stellen, dürfte dabei auch ein Theater sein, dass sich den Kommenden, der nachfolgenden Generation für ein solidarisches Miteinander und Füreinander (Handeln) widmet, die nachkommende Generation einbindet, ihr Raum gibt, sich in der Öffentlichkeit zu artikulieren: Das kann ein Theater als Versammlungsort zwischen den Generationen sein, ein Theater, in dem Dinge, Objekte, Maschinen oder Tiere gleichberechtigte Mitspieler sind (Westphal/Althans et al. 2022). Meine besondere Aufmerksamkeit liegt seit längerem auf Theater- und Performancemodellen, die sich seit etwa 2000 mit der Eröffnung einer anderen Sichtweise auf Kinder und Erwachsene einhergehend mit demokratischen Spiel- und Produktionsweisen befasst. Eine Besonderheit zeichnet diese Arbeiten neben der formalen in der inhaltlichen Ausrichtung aus. So fällt auf, dass sich viele der Arbeiten mit Themen befassen, die man normalerweise von Kindern eher fernhält. Dabei gelangt das Verhältnis zwischen den Generationen selbst zum Thema, um über Rhetoriken und Muster von Erwachsenen- und Kindsein szenisch nachzudenken und Motive zu Tage treten wie Kontrolle, Fürsorge, Formen von Gewalt, Tod, Verletzbarkeit, Vereinnahmung oder Selbstermächtigung (Westphal 2015: 2019). Dazu gehören auch Themen, die meist in Verbindung mit den Krisen stehen. So nahm das Forschungstheater FUNDUS THEATER in Hamburg die Finanzkrise zum Anlass, eine Kinderbank im Stadtteil Altona zu begründen, um sich mit Geld und Konsum auseinanderzusetzen. Auch sei auf die Akademie der Zerstörung. KAPUTT hingewiesen, die im Rahmen des Festivals Dangerous Minds transgenerationelle Öffentlichkeiten, die in Hamburg auf Kampnagel und am FUNDUS THEATER vom 24. bis 27.05.2018 einen Rahmen für Kinder und Erwachsene anbot, sich einem gesellschaftlich eher tabuisierten Phänomen wie dem der Zerstörung in seinen alltäglichen, künstlerischen oder politischen Dimensionen durch experimentelle Anordnungen zu nähern. Sechs Kinder im Grundschulalter und sechs erwachsene Künstler*innen als gleichberechtigte Mitglieder luden dazu ein, sich an La-
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borsessions und anderen Formaten zu beteiligen. Daraus ist eine Videomanifest der kreativen Zerstörung hervorgegangen. Die Klimakrise, wie sie sich gerade in den letzten Jahren zugespitzt hat, war 2018 wiederum Anlass für das FELD Theater in Berlin, eine altersübergreifende Performance ZUSAMMEN BAUEN (Dramaturgie: Gabi dan Droste; Choreografie: Martin Nachbar) zu entwickeln. Mit dem Theaterrevier (Zeche eins) hat das Schauspiel Bochum 2020 eine neue Spielstätte für ein junges Publikum unter der Leitung von Cathrin Rose eröffnen können. In einer ersten Produktion von Mammalian Diving Reflex und Darren O‘Donnell The Last Minutes Before Mars (Regie: Darren O‘Donnell/Jana Eiting) – eine Mischung aus Live-Performance und 360-Grad-Video-Technik – halten Jugendliche aus dem Ruhrgebiet Orte, Dinge, Menschen aus den letzten 24 Stunden fest, die ihnen mit dem Abflug auf den Mars am meisten fehlen würden. Das Besondere dieser neuen Theatermodelle für und von Kindern und Jugendlichen ist, dass ihnen das Theater als Versammlungs- und Verhandlungsort einen Raum gibt, in einen intergenerationalen Austausch zu gehen. Die Ausgestaltung eines Generationsverhältnisses im Theater zu erproben, dürfte als ein zukunftsweisendes Projekt zu sehen sein. Dabei geht es nicht darum, das grundlegend asymmetrisch bestimmte Verhältnis zu nivellieren, sondern ganz im Gegenteil in seiner gesellschaftlichen und sozialen Dimension sichtbar zu machen in all seinen Ambivalenzen und Widersprüchen. Diese zeigt sich eben auch an jenen Überforderungen, denen sich Kinder und Jugendliche in einer neoliberalen bzw. postfaktischen Gesellschaftsordnung gegenüber den politischen, ökonomischen und ökologischen Aussichten derzeit mehr denn je beunruhigend wahrnehmbar ausgesetzt sehen. Auf eine Arbeit möchte ich vor dem Hintergrund dieser Überlegungen im Folgenden genauer eingehen.
Performancekunst mit Kindern. Ein Langzeitprojekt von Eva Meyer-Keller und Sybille Müller Als ich 2006 auf einem internationalen europäischen Kongress – von Hans-Thies Lehmann an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. ausgerufen – in einer AG zu neuen Formen des Kinder- und Jugendtheaters Eva Meyer-Keller und Sybille Müller kennen gelernt habe, war ich verblüfft, ja beeindruckt, wie sie ihre Idee für ein Konzept zu »Bauen nach Katastrophen« zur Diskussion stellten. Damals konnten die beiden Künstlerinnen noch nicht voraussehen, dass ihre Arbeit auf ein anhaltendes und nachhaltiges Interesse stoßen wird. Sichtbar wurde jedoch schon damals, was ihre Performancekunst auch heute noch auszeichnet: Sie bewegen sich stets in einer Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften wie in diesem Fall mit Potsdamer Klimaforschern neben anderen Disziplinen wie der Koch/Kunst/Bild-
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hauerei gepaart mit der Offenheit und Neugier gegenüber den verschiedenen Kindern, denen sie an verschiedenen Orten und in verschiedenen Umgebungen in Norwegen/Lofoten, Deutschland, Schweden, Island, Afrika, Südamerika etc. in ihren Workshops meist an Theaterstätten angebunden begegnet sind.2 Was wir zu sehen bekommen, ist ein Prozess mit vielen Versuchen, der immer wieder zu neuen Ausgestaltungen geführt hat: ein Prozess des Weiterschreibens, immer wieder anders Schreibens, jeweils in Anpassung an andere Kinder und andere Gegebenheiten in den verschiedenen Ländern an den verschiedenen Orten. Mit den Performances geht dabei ein höchst konstruktiv-produktiver und sinnlich-ästhetischer Zugang einher, der einen starken Kontrast zu dem gewählten Thema, ja Dauerthema: Klima- und Katastrophenforschung, der vornehmlich aus Zahlen und Fakten besteht, herstellt. Jede Arbeit und Vorstellung stellt sich durch ein bestimmtes Setting ein: z.B. mit Sammelbildern, eine Zusammenstellung von Fotografien, wie Katastrophen in den gegenwärtigen Medien dargestellt und nach den verschiedenen Arten von Katastrophen geordnet werden. Menschen sind darin nicht zu sehen. Sie zeigen sich vielmehr in einer höchst ästhetisierenden Ausdrucksform und Materialität und äußerst faszinierenden Bildgewalt und dienen als Einstieg in eine Auseinandersetzung für das »Bauen nach Katastrophen«. Eva Meyer-Keller antwortet uns auf die Frage, wie sie und Sybille Müller mit Kindern arbeiten, in einem Gespräch folgendermaßen: »Wir fangen immer mit einem SET UP an, der an eine Ästhetik und Form gebunden ist und diese lassen wir erst einmal stehen. Und diese kreiert eigentlich so was wie ein Vakuum und saugt dann die Geschichten und den Inhalt ein. Und das, was wir machen, ist eigentlich nur aufmerksam zu sein und zuzuhören und zu bemerken, was da kommt.« (Koblenz 2015)
Bauen nach Katastrophen (2007 – 2011) Die Konzeption sieht vor, dass Kinder mit Unterstützung der Künstlerinnen für die Performance »Bauen nach Katastrophen« mit Hilfe von alltäglichen Gegenständen wie Streichhölzer, Zuckerstücke, Mehl, Pudding, Wasser, Föhn, Mixer, Zange und Papier entlang dieser Bilder in quasi Versuchsanordnungen Katastrophenmodelle in meist drei-wöchigen Workshops erarbeiten, die zusätzlich mit den Mitteln der Kamera, die die Kinder selber bedienen, und von einem Sounddesigner (Jeff
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Auch in der aktuellen Performance von Eva Meyer-Keller: Living Matters (Premiere 2019 Pact Zollverein) liegt eine Recherche und Auseinandersetzung mit Naturwissenschaften zu Grunde. Sie verfolgt die Frage der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit in der Natur und im Theater, eine Arbeit über die Struktur des Lebendigen. https://vimeo.com/371865015 (zuletzt zugegriffen am: 7.7.2020)
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McGrory) begleitet werden. Konstitutiv für dieses Projekt ist der praktisch orientierte, werkstatttypische Produktionsprozess der Kinder, bei dem die Wiederholung und die Zerlegung von Naturkatastrophen wie Sturmflut, Erdrutsch, Überschwemmung, Vulkan oder Hagelschlag usf. sowohl in der Verkleinerung (das Modell beschränkt sich auf die Größe eines Serviertabletts) als auch in der Vergrößerung (mit den Mitteln der Kamera erscheint das Modell in der Nahaufnahme vergrößert) und Vertonung (mittels Alltagsmaterialien wie Papier, Styropor und dergleichen mehr werden Geräusche hervorgebracht, verfremdet, übertragen und nachträglich in Verbindung mit dem Bild gebracht) für die Zuschauer*innen in einer zeitlichen Verschiebung mitvollziehbar werden (Meyer-Keller/Müller 2009: 193f.). Durch die Inszenierung wird sicht- und hörbar, was in der alltäglichen Realität der Verbreitungs- und Massenmedien übergangen, abgedrängt und vergessen wird, nämlich ein Be-greifen der kulturell und medial vermittelten Mitteilung des Gesehenen und/oder Gehörten von katastrophalen Ereignissen, wie sie sich stofflich und akustisch als Faltungen, Einschlägen, Überwerfungen, Verschiebungen, Prasseln, Quellungen, Sog und Druck, Brand und Wind, Blitz und Donner etc. – also Widrigkeiten bzw. einem Aus-gesetzt-sein gegenüber übergeordneten Gewalten und Kräften – hier nun minimalistisch auf ein Modell reduziert und verfremdet – verhalten. In Bann gehalten wird man als Publikum durch die Möglichkeit, Einsicht nehmen zu können in den Vorgang, wie die Modelle hergestellt und mit Hilfe von Projektionen transformiert werden.
Vom Menschen gemacht (2010) Das Projekt hat sich in einem weiteren Stadium dahingehend entwickelt, dass Eva Meyer-Keller und Sybille Müller begonnen haben, auch mit Texten zu arbeiten. Diese Texte sind während der Proben durch Gespräche mit den Kindern in Stams/Norwegen und Berlin entstanden. Die Vorstellungen mit den Texten dazu fanden 2009 im Theater Hebbel Hau am Ufer 3 in Berlin statt. Auf der Basis von Dokumentationsmaterial der Performance entstand 2010 in der Folge der Film »Vom Menschen gemacht«, der die Interaktionen der Kinder während der Performance hervorhebt. Über Kopfhörer hörten die Kinder den Text und sprachen sie dann in ein Mikrofon. Dabei sind drei verschiedene Schwerpunkte entstanden. So geht es zunächst um Texte, die Katastrophenmodelle beschreiben, dann geht es um Texte, die fantastische Modelle beschreiben vor dem Hintergrund der Frage, welche Modelle sie gebaut hätten, wenn alles möglich gewesen wäre und zuletzt geht es um Texte, die die Frage behandelt, wie die Kinder die Zukunft sehen und ob sie Angst davor haben. Das einfache Beschreiben der Vorgänge und Wirkweisen der vorgeführten Modelle verstärkt, was im experimentierenden Tun schon angesichts der Thematik einen starken Bruch hervorruft: Die Ernsthaftigkeit, mit der die Kinder ihre Modelle
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nicht nur in Teamarbeit und mit einer hohen Aufmerksamkeit für die genauen technischen Abstimmungen vorführend zeigen, sondern auch mit Sprache begleiten, lässt uns erwachsene Zuschauer*innen nachdenklich, betroffen oder fasziniert zurück, angesichts einer Thematik, die wir selbst kaum in seiner ganzen Dimension zu erfassen vermögen. Manch eine*r der Zuschauer*in ist aber auch zutiefst erschrocken angesichts der a/moralischen und a/sozialen, ja zerstörerischen Fantasien, die die Kinder uns vorzutragen haben über die Zukunft, über sich selbst, über die Konsequenzen, die sie für die Zukunft sehen. Es werden Dinge gesagt, die an Tabus Erwachsener rühren und Erwachsene nicht unbedingt von Kindern hören wollen (Bogerts 2018).3 Eine Zuschauerin äußert: »Was ich eben auch gut finde, so als Umgang mit einem Thema, was man vielleicht mehr so als Tabuthema empfindet ist. Dass ich als Betrachter hin und her switche zwischen: Ist das Reis? Oder ach, das sind ja Zuckerwürfel. Und gar nicht die ganze Zeit die Katastrophe sehe, sondern auch wie es gemacht ist sehe. Dadurch habe ich eine bestimmte Distanz dazu und gleichzeitig gibt es auch so ein Faszinationsmoment. Das switcht hin und her zwischen Begreifen, wie es gemacht ist und ich lasse mich auf das Bild ein, was entsteht, oder auf den Sound, der entsteht und das macht es ja irgendwie lustig auch. Und dieses Lustige finde ich aber in dem Falle als keine Verharmlosung von dem Ganzen, sondern eigentlich eher so eine Möglichkeit umzugehen: Wann und warum lachen wir über etwas? Und eigentlich lacht man ja auch über Dinge, mit denen man nicht so richtig umgehen kann, über Dinge, die furchterregend und schrecklich sind.« (Koblenz 2015)
Cooking with Catastrophes (2015) Eine Weiterführung dieser vorgestellten Konzeption, die Eva Meyer-Keller und Sybille Müller mit Kindern realisiert haben, ist die Performance »Cooking Catastrophes«: eine essbare Vorstellung, bei der man den Untergang der Welt zu schmecken bekommt. Umgesetzt wird diese Performance mit Erwachsenen aus der Koch- und Videokunst und Bildhauerei sowie zwei jugendlichen Performern (Sprechgesang). Angeknüpft wird an die Erfahrung der vorherigen Projekte, indem die von den Kindern entwickelten Texte zu ihren Zukunftsvisionen aufgegriffen und mit den jugendlichen Akteuren weitergeschrieben werden. Auch wird in dieser Performance ausschließlich mit Essen gebaut und dem Publikum am Ende zum Aufessen anerboten. Ein Menü mit elf Gängen erwartet das Publikum. Zwischen den einzelnen 3
Siehe meine Ausführungen zu dieser Frage im Theater von Milo Raus Five Easy Pieces, der an einem anderen Thema (den Hintergründen des Falls um den Kindermörder Marc Dutroux) die Frage nach den Grenzen aufwirft, was Kinder wissen, fühlen und tun dürfen (Westphal 2019).
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Gängen sprechen die beiden Jugendlichen von ihren Zukunftsvisionen, die Sprechweise ist stark rhythmisiert und trägt auch auf inhaltlicher Ebene dazu bei, Zäsuren zu setzen. Die vielen sinnlichen und medialen Eindrücke affizieren und provozieren das Publikum, der durch den Widerspruch der Thematik und dessen Ästhetisierung hervorgerufen wird. Szene Wir betreten eine Halle im E-Werk, das für ein Theater in Erlangen umgebaut wurde, die mit ihrem schwarz-weiß gekachelten Boden an ein Restaurant erinnert, wie man es in Frankreich manchmal findet; die Tische für die Bereitung der Katastrophengänge sind im Raum verteilt; Zuschauerstühle sind um die Tische locker herumgruppiert. Wir suchen uns einen Platz in der Nähe eines dieser Tische. In der Mitte des Raumes ist eine große Leinwand gespannt, auf die später für alle Zuschauer*innen Videoausschnitte eingespielt werden und von zwei Seiten einsehbar sind. An einer Wand steht ein langer Tisch, auf dem alle Zutaten für die Zubereitung des Menüs bereitet sind. An zwei anderen Wänden kann man sich eine große Bildersammlung von Katastrophen anschauen. Während wir zunächst den Raum erkunden und auf uns wirken lassen, die anderen Zuschauer*innen wahrnehmen, sind die Köche bereits mit der Vorbereitung des ersten Menüs beschäftigt. Geschäftig eilen sie an uns vorbei, auf ihren Tabletts holen sie sich die vorbereiteten Vorspeisen, die sie benötigen, um mit Crudités mit Humus, Tapenad, Curryapfel, Gribiche die Umrisse der Weltkarte nachzugestalten, die später mit einem Meteoriteneinschlag zerstört wird. Zwischen den einzelnen Gängen – als nächstes folgt ein Vulkanausbruch qua Misosuppe serviert mit Garnelen, Seidentofu und Koriander – sprechen die beiden Jugendlichen von ihren Zukunftsvisionen, die im Kontrast zu den sinnlich ästhetischen Vorgängen der Zubereitung der Katastrophengänge stehen. (J.1): Wenn Krieg ist, ist es auch gut, weil dann nicht mehr so viele Menschen da sind, das ist gut. Sonst laufen wir über, und wir brauchen ja alles. Alles wird massenproduziert. (J.2): Ja, und die Welt wird leider nicht massenproduziert, sonst hätte jeder einen eigenen Planeten für sich. (J.1): Welchen würdest Du nehmen? (J.2): Ich glaube, ich würde die Venus nehmen. (J.1): Ich nehme die Sonne. (J.2): Ganz schön heiß Baby. (Sprechgesang von zwei jugendlichen Performern Erlangen 2015) Neben den visuellen und akustischen Eindrücken, dem Geschehen mal ganz nah, mal von Weitem oder auf dem Video ganz groß einsehen zu können, entfalten sich bei der Vorbereitung eines Gangs starke wundersame Gerüche, die sich im ganzen Raum ausbreiten und überlagern. Auch werden zwischendrin eine Suppe (aus einer Überschwemmung) oder Häppchen mit Surströmming Canapee gereicht. »Das
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ist eine Spezialität aus Schweden, die durch Säuerung konserviert ist. Es ist eine Konservierungsmethode, bei der Fisch fermentiert und anschließend luftdicht verpackt wird.« (aus dem Programm 2015 Erlangen) Sie schmeckt entsprechend salzig und fischig! Durch elf Gänge lässt man sich von einem Gang zum nächsten (ver-)führen und durchläuft dabei ein Wechselbad von Gefühlen. Zum einen ist man fasziniert und affiziert angesichts der sinnlichen und ästhetischen Eindrücke, zum anderen werden diese jedoch stets unterbrochen: So schiebt sich immer wieder ein Gefühl des Unbehagens angesichts der Ungeheuerlichkeit der Thematik dazwischen. Die Performance steuert mit der letzten Katastrophe der Nachstellung eines Erdbebens (Indien hat zu diesem Zeitpunkt gerade ein schweres Beben erleben müssen) mit einem Schokoladendreiklang mit Steinfrüchten; Baiser und Schlehensirup, dramatisch begleitet von einer starken Musik (Das Lied von der Erde von Gustav Mahler) zuletzt auf eine Wendung zu, dergestalt die Zuschauer*innen nun aufgefordert werden, selbst aktiv zu werden. Die Performer*innen laden ein, sich die Katastrophengänge im wahrsten Sinne einzuverleiben: zu essen. Inwiefern manch einem*r Besucher*in der Bissen im Halse stecken geblieben sein mag, sei dahingestellt. Nicht jede*r Zuschauer*in ist nur begeistert über diese Arbeit, so sie doch Tabus anrührt wie z.B. mit Essen spielt man nicht, und schon gar nicht angesichts dieser Thematik. Runterspülen lässt sich das Gefühl mit einem zuletzt gereichten Drink: Weißer Rum mit Limette, Minze und Rohrzucker. Dabei kommt zugleich das Publikum ins Gespräch. Erfahren wird ein Theater, das nicht nur zum gedanklichen Aufnehmen anregt, sondern auch ein Festmahl bedeutet – aller befremdlichen Gefühle zum Trotze. Auch wenn die Aufführung Berührung mit dem realen Leben hat oder sucht, bleibt sie doch von diesem unterschieden. Es scheint ein Spielraum auf, der mit Matthias Warstat (2020) »die Materialität eines nicht mehr anthropozentrischen, eines eher dinghaften oder virtuellen Theaters« zur Disposition stellt, dessen Erkenntniswert darin liegen könne, »wenn neu aufkommende Formen menschlicher Erfahrung und deren Reflexion in den Künsten untersucht werden sollen« (ebd.: 200). In den Diskursen werde diskutiert, dass dieser Spielraum eine theatrale Dimension der menschlichen Existenz fördere, in der es »um Mimesis und Darstellung, um das allfällige Sich-Zeigen und Wahrgenommen-Werden geht, ohne das menschliches Leben und Zusammenleben nicht denkbar scheint« (ebd.: 189). Für eine historisch ausgerichtete Theater/Anthropologie schlägt Warstat vor, das Verhältnis von Performativität und Virtualität im Gegenwartstheater zu untersuchen und danach zu fragen, inwieweit sich im posthumanen Theater ein sich veränderndes Menschen- und Gesellschaftsbild bzw. ein Wandel sinnlicher Erfahrungen für die menschlichen Akteure und eine Verlagerung von rituellen auf technologische Transformationen des Menschlichen aufscheint.
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Theater zwischen den Generationen Mit unserem Beispiel zeichnet sich eine neue Qualität im Generationenverhältnis und der Entwicklung einer Vorstellung von einem Theater zwischen den Generationen ab, die sich abgrenzt von einer Art Idealisierung von Kindern, Kinder etwa als Hoffnungsträger zu verstehen (Hentschel 2014). Die Haltung der Künstlerinnen gegenüber den Kindern in unserem Beispiel zeigt sich darin, dass es nicht um ein falsch und richtig geht, eher um die Frage des sich Trauens und dem nachzugehen, was uns Kinder zu sagen haben. Darin drückt sich strukturell eine Spielweise aus, die mit dem »Einbruch des Realen« (ein von Hans-Thies Lehmann geprägter Begriff für postdramatische Spielweisen) an die Erfahrungswelten und Spielweisen der Kinder anzuknüpfen und Theater/Performance als Situation zu begreifen weiß. Sie kommen mit Patrick Primavesi (2014) formuliert »oft eher unpathetisch und wenig spektakulär, ohne den Zwang zur großen Geste und häufig mit dem Gestus der Untersuchung und des Experiments« einher (ebd.: 28). Augenfällig ist im Weiteren in den neueren Produktionsweisen, in denen mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet wird, dass sie mit elementaren Formen des Spiels selbst einhergehen. Aufgegriffen wird die Art und Weise, wie Kinder die von Erwachsenen bestimmten Ordnungen und Spielregeln deregulieren, spielerisch außer Kraft setzen, Neues erfinden oder wie bei Eva Meyer-Keller und Sybille Müller etwas bauen, um es gleich wieder lustvoll zu zerstören oder gar einzuverleiben. Eine Spielweise, die mit dem künstlerischen Tun vergleichbar ist. Auch in künstlerischen Schaffensprozessen wird mit Ordnungen gespielt, die neue Sichtweisen eröffnen und potenziell zu etwas Anderem (ver-)führen können. Sie verschreiben sich so gesehen in der Struktur dem Ereignis, in dem Sinn entsteht, aus dem Un/Sinn im Tun hervorgeht. Das kindliche Spiel hat mit unserer Welt zu tun und schafft dennoch eine eigene Welt, wenn sich die Perspektive der Kinder auf die vorgefundene erwachsene Welt richtet. Es rührt uns (Erwachsene) an und unterbricht uns in den Gewohnheiten, Welt zu sehen bzw. zu deuten. Das Potenzial des Theaterspiels – wie aber auch das des kindlichen Spiels – haben so gesehen eines gemeinsam: Aus etwas, das Teil einer Bedeutungs- und Darstellungseinheit war, lassen beide etwas Anderes entstehen. Dieses Andere entzieht sich der Eindeutigkeit zugunsten einer Mehrdeutigkeit und Mehrperspektivität bis hin zu einem Entzug von Bedeutung und schafft mit Maurice Merleau-Ponty gesprochen einen Überschuss. Künstlerisches Arbeiten setzt uns jedoch im Unterschied zum kindlichen Spiel bewusst neuen Ordnungen auf dem schwankenden Boden unserer Wahrnehmung und damit unseres Urteilens aus. Kindern einen Weg zu einer künstlerischen Arbeit zu bahnen, erfüllt so gesehen ein Doppeltes. Die Erwachsenen zeigen ihnen, wie sie mit performativen Setzungen arbeiten, und gleichzeitig besteht die Chance, den Kindern darin zu begegnen, was ihnen schon durch ihr
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Spielvermögen und besonders im Spiel mit Dingen4 gegeben ist: Die Welt und sich selbst zu finden und zu erfinden (Westphal 2009: 171). Eva Meyer-Keller und Sybille Müller führen sie dabei mit ihrem sinnlichästhetischen, provokativen und performativen Zugang zu einer Problematik, die »empfindsam macht für die Kontingenzen, die Fragilität und Verletztlichkeit unserer Welt, in der wir leben, bevor wir sie denken oder bedenken. Vielleicht kommt dadurch das Selbst zur Anschauung der Welt und öffnet seinen Blick dafür, dass wir unter Umständen in einer Frist existieren, welche ein Umdenken und ein anderes Handeln verlangt.« (Meyer-Drawe 2018: 42) In der zeitgenössischen US-amerikanischen Ökologie spricht Timothy Morton von strange strangers (2016), um auf die Fremdheit und die für menschliches Wissen und Können undurchdringlichen Zusammenhänge hinzuweisen, die in derart komplexe Phänomene wie etwa die Erderwärmung eingehen. Ulrike Haß legt das wie folgt aus: »Diese ganz und gar fremde Fremdheit spielt nicht in ›unserer Welt‹, sondern für sich, unter sich. Gleichwohl gibt es eine Erfahrung von ihr bzw. eine Erfahrung, dass es so ist, dass unsere Menschenwelt nicht die einzige ist und mehr noch, dass diese sich nur am Rand sehr viel größerer transhumaner Räume und Prozesse abspielt.« (Haß 2020: 55) Unsere Beispiele könnte man abtun im Sinne einer Verharmlosung angesichts dieser hier angesprochenen tiefen und komplexen Dimension, die uns Erwachsene schon an die Grenzen des Verstehens als Nicht-zu-verstehendes führt. Die nachhaltige Nachfrage dieser Arbeit bezeugt jedoch das Gegenteil. Im Spiel mit Dingen und Objekten wird nicht nur ein Versuch unternommen, Kinder und Jugendliche für einen anderen Umgang des Menschen mit Natur, anderen transhumanen Lebensformen zu sensibilisieren, sondern sie zu allererst etwas zur Sprache bringen, was wir Erwachsene uns nicht trauen würden oder worauf wir in dieser Radikalität nicht kommen würden und was uns zugleich vor Augen führt, was wir sonst ausblenden würden. Kritisch ließe sich auch einwenden, dass die Kinder als Ingenieure ihrer Versuchsanordnungen inszeniert werden. Jedoch ist dem zu entgegnen, dass diese an der Reibung mit dem Material hervorgetrieben werden und nicht von dem Gedanken der Beherrschung von Natur bestimmt sind. So gesehen ist die Vorgehensweise vielleicht als ein Mobilisierungsraum zu verstehen, der das Kräfteverhältnis von Natur und Mensch neu zu bedenken gibt. Ein Zusammenspiel von 4
Siehe Engel (2019), die auf den Modus der Begegnung mit den Dingen aufmerksam macht, »der sich nicht unmittelbar auf das richtet, was etwas bedeutet, sondern darauf, wie es uns begegnet und wie wir es erfahren« (ebd.: 220; Herv. i.O.).
»Bauen nach Katastrophen«
Bildung, Wissenschaft, Kunst eröffnet dabei ein vielversprechendes Feld, bei dem wir die Kinder nicht auslassen dürfen (Brecht 1997; Eisler 1955) angesichts der Erkenntnis, dass es etwas gibt, was sich uns Menschen und seinem Wissen in ungeahnter Weise entzieht.
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»Bauen nach Katastrophen«
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Am Schauspiel einen Anhalt finden Faktizität und Natur der Leiblichkeit im Verhältnis zur frühkindlichen Erfahrung bei Merleau-Ponty Claus Stieve
Einleitung »Wir sehen die Sachen selbst, die Welt ist das, was wir sehen« – mit diesem Satz drückt Maurice Merleau-Ponty (1986: 17) die alltägliche Selbstverständlichkeit einer Wirklichkeit aus, in die wir unweigerlich zurückkehren, auch wenn wir philosophisch oder wissenschaftlich denken, und die er in seiner Phänomenologie der Leiblichkeit »zu beschreiben«, nicht »zu konstruieren oder zu konstituieren« sucht (Merleau-Ponty 1966: 6). »Zurückzugehen auf die ›Sachen selbst‹ heißt zurückgehen auf diese aller Erkenntnis vorausliegende Welt, von der alle Erkenntnis spricht und bezüglich deren alle Bestimmung der Wissenschaft notwendig abstrakt, signitiv, sekundär bleibt, so wie Geographie gegenüber der Landschaft, in der wir allererst lernten, was dergleichen wie Wald, Wiese und Fluss überhaupt ist.« (Merleau-Ponty 1966: 5, Herv. i.O.) Auffällig bildet die Faktizität einen zentralen Begriff in der Phänomenologie Merleau-Pontys. Sie zeigt sich in seiner Philosophie auf mehrere Ebenen – als eine gesuchte in einzelnen Wahrnehmungsakten, als eine der Leiblichkeit und schließlich als eine unserer natürlichen Verflechtung mit der Welt (Merleau-Ponty 1986: 199). Faktizität und Natur stehen bei Merleau-Ponty in einem engen, auf ganz eigene Weise konturierten Zusammenhang. Für die natürliche Verflechtung mit einer in der Erfahrung faktisch gegebenen Sinneswelt spielt für ihn die Ontogenese unserer Wahrnehmung und damit die Erfahrung von Kindern, die erst »lernen«, was »dergleichen wie Wald, Wiese und Fluss überhaupt sind« (Merleau-Ponty 1966: 5), eine zentrale Rolle. In dieser Studie soll den Begriffen der Faktizität und Natur bei Merleau-Ponty im Kontext der kindlichen Erfahrung nachgegangen werden. Gerade seine Bezüge zur Entwicklung des Kindes interessieren mich vor dem Hintergrund einer Post-
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Claus Stieve
faktizität differenter konstruktivistischer, poststrukturalistischer oder praxeologischer Denkweisen. Ihnen kann hier nicht nachgegangen werden, sie machen aber in Figuren wie der sozialen oder radikal-subjektivistischen Konstruktion oder der kulturell-gesellschaftlichen Herstellung von Wirklichkeit immer schwerer möglich, Natur und Faktizität in der Erfahrung überhaupt noch zu denken – auch was die Natur einer Erfahrung von Kindern betrifft. Bei Merleau-Ponty wie bei anderen Phänomenolog*innen wird dagegen die erfahrene »Lebenswelt«, zu seiner Zeit in Kritik an einer naturwissenschaftlichen Fassung von Natur, durchaus noch als ein »natürlicher Weltbegriff« (ebd.: 3, mit Bezug auf Heidegger) oder als »natürliche Welt« (ex. Patočka 1990) gefasst. Was meint in diesem Kontext die Faktizität einer leiblichen Erfahrung bei Merleau-Ponty? Wie zeigt sie sich in der frühen Kindheit? In welcher Weise ist diese Faktizität für ihn Hinweis auf eine Natur und in welchem Verhältnis steht diese Natur zu einer Kultur der Erfahrung? Um in diese Fragen einzusteigen, greife ich zunächst eine videographierte Szene aus einem Forschungsprojekt an der TH Köln auf (1), die im Sinne einer Phänomenologie am Beispiel (Lippitz 2003: 44-47) immer wieder einen Bezugspunkt für die folgenden Überlegungen bilden wird. Zudem knüpfe ich an Rousseau an (2): Exemplarische Szenen aus seinem Roman »Emil« (1971) lassen die Frage konkretisieren, ob und wie sich überhaupt Faktizität als natürliche vom Kinde her denken lässt. Von dort aus gehe ich vergleichbaren, sehr konkreten Beschreibungen von Wahrnehmungsmomenten bei Merleau-Ponty nach (3). Darauf aufbauend wird das Verständnis von Faktizität in der Leiblichkeitsphilosophie Merleau-Pontys genauer gefasst (4), um auf dieser Grundlage nach der Bedeutung der kindlichen Erfahrung in dieser Phänomenologie zu fragen (5). Hieraus ergeben sich Überlegungen zum Verhältnis von Natur und Kultur (6). Pädagogische Folgerungen schließen die Arbeit ab.
Eine Natur-Erfahrung im Kindergarten1 Die Studie beginnt mit einem Beispiel, das für die weiteren Überlegungen immer wieder einen Bezugsrahmen bilden kann: In einer videographierten Szene im Garten einer Kindertagesstätte2 sucht eine wechselnde Gruppe von Kindern im Gebüsch mit einer Erzieherin nach Insekten. 1
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Der Begriff Natur wird im folgenden Teilkapitel kursiv gesetzt, um ihn hier nicht als gegebene Natur vorauszusetzen, sondern als diskursive Bezeichnung zu übernehmen und zunächst in Distanz zu bringen. Die folgende Szene stammt aus dem BMBF-Verbundprojekt RaumQualitäten der TH Köln und der Universität zu Köln, Leitung Ursula Stenger und Claus Stieve, Quelle: Video, 01_vid_200701_11-50. Nähere Informationen zum Projekt: http://www.th-koeln.de/angewan
Am Schauspiel einen Anhalt finden
Sie entdecken eine Spinne. »Vielleicht ist das die Verwandlungsspinne«, sagt ein Junge. Als die Fachkraft versucht, die Spinne auf ihre Hand zu nehmen, seilt sich das kleine Tier gleich wieder ab. Die Fachkraft wie die heraneilenden Kinder erzählen sich einen Moment fasziniert und eingenommen von dem Faden, den das Tier von der Hand gesponnen hat. Ein Mädchen von ca. 5 Jahren erzählt, dass es zuhause zwei weiße Spinnen hätte, eine sei ihr einmal auf den Kopf »gespinnt«, als es schlief – es schüttelt den Kopf und tippt mit seinem Finger mehrfach auf sein Haar, »die war so groß, dass…«. Einen Moment später findet das Mädchen im Gebüsch einen »schwarzen« Käfer, die Fachkraft streckt ihre Hand auch zu diesem Tier aus und zuckt ein wenig: »Ich wollte ihn überreden, auf meine Hand zu kommen, da ist der einfach rübergesprungen! Weißt du, wir kucken nochmal.« Als das Mädchen das Insekt wieder entdeckt, nähert es sich ihm mit einem Eimer, als wäre er ein Kescher. Die Fachkraft bittet mit ruhiger doch bestimmter Stimme: »Nimm mal deinen Eimer weg. Vielleicht hat er ja Angst vor deinem Eimer.« Als der Käfer auf die Hand der Fachkraft gekrabbelt ist, schlägt sie vor: »Schau mal! Jetzt könntest du deine Hand vorsichtig auf meine legen, dann könnte er rüber krabbeln« – das Mädchen aber bleibt auf Abstand. Es wendet seinen Blick von der Hand mit dem Käfer ab, drückt den Kopf weg und sagt: »Ich mag das lieber nicht bei Käfern, ich mag nur wenn Ameisen auf meiner Hand sind«. Die Erzieherin äußert ein erstauntes »Achso!«, sieht sich den Käfer genau an und sagt: »Ich hab jetzt meine Brille nicht auf, […] kuck mal, hat dieser Käfer zusätzlich Flügel?« Das Mädchen nähert sich wieder. Sie betrachtet den Käfer – nein, der habe keine Flügel, »der hat nur solche Stacheln«. »Ach Stacheln«, antwortet die Fachkraft – in ihrer Stimme schwingt Ungläubigkeit mit, aber sie widerspricht nicht. Sie erzählt, dass der Käfer auf ihrer Hand »kribbelt […] wie Ameisen« – da geht das Mädchen wieder auf Distanz. Die kleine Szene beschreibt eine alltägliche Situation in einer Kindertagesstätte. Kinder und Erzieherin sind mit Tieren beschäftigt, die die Neugier wecken. Pädagogisch könnte es um die Begegnung mit Natur gehen, die sich in einer ganz selbstverständlichen faktischen Gegebenheit der im Busch vorfindlichen Tierwelt äußert. Auffällig ist die Neugier der Kinder, die kleine Sensation, die das Spinnen des Fadens, das Springen des Käfers oder das Tier auf der Hand der Fachkraft auslösen. Kein Moment wirkt wie ein sachlich distanziertes Interesse an einem Tier und seinem Lebensraum im Busch – sondern dauernd ereignet sich etwas und verbindet sich mit der eigenen Körperlichkeit: Von der Hand spinnt sich der Faden, auf den Kopf fiel die Spinne ins Haar – und das Kribbeln mag das Kind nicht auf
dte-sozialwissenschaften/raumqualitaeten--eine-topographie-des-paedagogischen-raumsin-kindertageseinrichtungen_64235.php (28.01.2021).
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seiner Haut spüren, der Käfer hat »Stacheln«. Auch das Insekt hat in den Worten der Fachkraft eine sich körperlich ausdrückende »Angst«, es flüchtet. Die Szene erzählt nicht nur von einer Natur-Begegnung von Kindern, die sich diesen Tieren annähern, mal aufgeregt angezogen, mal auf Distanz gebracht, sondern auch von der Fachkraft, die sich auf dieses Empfinden einstellt. Körperlich und sprachlich, zeigend und zuhörend regt sie dazu an, sich gleichermaßen auf die körperliche Erfahrung wie auf die sachliche Betrachtung der Tiere einzulassen. Die Situation könnte man pädagogisch leichterdings in typische frühpädagogische Bildungsbereiche einordnen und z.B. als naturwissenschaftliche oder auch als ökologische Bildung deklarieren, denen beide in der Konzeption der Einrichtung eine besondere Bedeutung zukommt.3 Wie aber kommen Natur und Faktizität in dieser Szene zum Ausdruck?
Rousseau – Notwendigkeit und Faktizität Rousseaus Emil lässt sich als ein zweiter Bezugspunkt aufgreifen. Seine berühmte Formel »Haltet das Kind von den Dingen abhängig und ihr werdet es naturgemäß erziehen« (Rousseau 1971: 63), bezeichnet eine Erziehung anhand der »Notwendigkeit« der Dinge, die sich im Sinne einer Faktizität äußert (ebd.: 71). Durch einen vielfältigen Umgang mit natürlichen Phänomenen erfahre das Kind eine Lehre, die frei von Täuschungen sei (ebd.: 41; Stieve 2008: 43-47). »Mit dem Band der Notwendigkeit bindet, treibt oder hält man es [das Kind] zurück, ohne dass es murrt« (Rousseau 1971: 71). Bei Rousseau macht sich dies an sehr einfachen Prozessen fest. Beispielsweise verzerre die Nacht die Größe der Dinge und führe bei Kindern zu irrationalen Phantasien. Die Angst vor Spukgestalten sei nicht allein ein Phänomen menschlicher Einbildung, denn z.B. das Auge könne im Dunkeln die Konturen und Größen der Umgebung nicht einschätzen. Also komme es darauf an, dass ein Kind Dinge in der Nacht erfahre. Übermächtig erscheinende Schatten oder Geräusche, wie das Knacken eines Astes, verlören dann ihre ängstigende Gewalt, denn »Gewöhnung lässt in allen Dingen die Phantasie verdorren; nur neue Objekte
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Der Begriff Bildungsbereich kennzeichnet die zunehmende Aufteilung von Bildungsprozessen in der frühen Kindheit in einzelne Förderungsbereiche, wie ex. der sprachlichen, der mathematischen, der künstlerisch ästhetischen oder eben der naturwissenschaftlichen Bildung. Diese verschiedentlich konturierte Aufteilung lässt sich als eine Operationalisierung frühkindlicher Bildung durch die Einführung von Bildungsplänen in allen deutschen Bundesländern seit der Jahrtausendwende lesen. Sie verband sich von Beginn an mit der Sorge um eine scholarisierende Fächerorientierung und, damit verbunden, eine anhaltende Diskussion über die Spannung zwischen eigenwilligen Bildungswegen von Kindern und curricular geäußerten Erziehungszielen (Diskowski 2008).
Am Schauspiel einen Anhalt finden
regen sie wieder an. Mit den Gegenständen des Alltags hat nicht mehr die Einbildung, sondern das Gedächtnis zu tun.« (ebd.: 122) Ein weiteres Beispiel bildet ein Stock in einem See – halb ins Wasser getaucht erweckt er den Eindruck, als sei er gebrochen. Dass ein Kind diese Wahrnehmung benennt, erscheint Rousseau nachvollziehbar, auch wenn der unsichere Eindruck dazu anregt, die Ursache zu ergründen. Indem das Kind um den Stock herumläuft oder ins Wasser greift, stellt sich in der Erfahrung die Tatsache ein, dass der Stock nicht gebrochen ist, sondern die Spiegelung eine Täuschung verursacht (ebd.: 204). Zwar inszeniert Rousseau mit seinem Roman solche Szenen, unweigerlich beschreibt er aber alltäglich nachvollziehbare Phänomene der Erfahrung. Wer einen nächtlichen Wald gewohnt ist, den ängstigt es weniger, die Größe eines Busches oder Baumes nicht unmittelbar einschätzen zu können. Wer die Erfahrung der täuschenden Spiegelungen verinnerlicht hat, weiß um dieses Phänomen, es hat sich in die eigene Erfahrungsstruktur übersetzt. Eine Vielzahl solcher alltäglichen Erfahrungen ist denkbar. In der anfänglichen Szene aus der Kindertagesstätte deutet sich ein damit verbundener Gewöhnungsprozess an. Der Käfer ängstigt noch, obwohl er, wie die Fachkraft weiß, ungefährlich ist – also regt sie zur Überwindung der Furcht an, die sich in der phantasievollen Charakterisierung »der hat Stacheln« äußern könnte. Die Phänomene des Schattens oder des Krabbelns, die durch die Gewöhnung nicht mehr schrecken können, oder des Käfers, der als ungefährlich charakterisiert ist – all das sind Erfahrungen, die sich in die eigene Leiblichkeit übersetzen. Sie weisen, könnte man deuten, auf ein leibliches Wissen hin, wie die Dinge sind. In diesen Erfahrungen äußert sich, dass jemand mit etwas zu tun hat, das in der Annäherung bezweifelbar sein mag – man kann sich täuschen – aber evident wird, wenn sich eine Annahme erfüllt. Unsere Verwiesenheit auf solche Erfahrungen, so ein Ausgangsgedanke für die weiteren Überlegungen, könnte mit einer übersprungenen Natur des Weltverhältnisses zu tun haben, denn sie wollen sich nicht allein als kulturelle Tätigkeit lesen lassen. Die übersprungene Natur äußert sich darin, dass etwas jemandem geschieht, sich in der eigenen Leiblichkeit äußert, wie z.B. im Staunen oder Zurückweichen, und damit zuallererst ein kulturelles Antworten herausfordert. Erfahrungen bilden in ihrem leiblichen Charakter ein Ausgangsmoment dafür, erkennend, sprachlich, kulturell mit etwas umzugehen. Wir stellen ihre Faktizität nicht einfach her, sondern sind in sich einstellenden Orientierungen unabdingbar auf sie ausgerichtet. Dass Rousseau nun aber die Phantasie ins Spiel bringt, ist ein für die frühe Kindheit relevanter Gedanke. Die ihm nachvollziehbar erscheinende Phantasie macht darauf aufmerksam, dass die Gewissheit einer Erfahrung immer eine Gesuchte und gerade keine selbstverständlich schon Gegebene ist. Die Phantasie bildet für Rousseau ein nachvollziehbares Übergangsmoment zwischen Anmutung, Irritation und Klärung eines Sachverhalts. Sie äußert sich nicht allein als sprachliches oder spielerisches Phänomen, sondern auch als leibliches Empfinden.
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Wahrnehmungsmomente in der Phänomenologie Merleau-Pontys Prozesse, in denen sich (wie in den genannten Beispielen aus der Kindertagesstätte oder in Rousseaus Emil) eine Wahrnehmung erst einstellt, bilden für Merleau-Ponty einen Ausgangsmoment seiner Phänomenologie der Leiblichkeit. Immer wieder greift er auf einfache Beispiele zurück, in denen sich auf ähnliche Weise die Frage einer Faktizität stellt. So beschreibt Merleau-Ponty Situationen alltäglicher Wahrnehmung zwischen Täuschung und Orientierung: Ich sehe z.B. am Rande meines Gesichtsfeldes in einiger Entfernung einen Schatten auf mich zukommen, wende einen Moment unsicher den Kopf in die Richtung – »und alsbald schrumpft das Phantasma zusammen und zieht sich auf einen Platz zurück: es war nur eine Fliege nahe meinem Auge.« (Merleau-Ponty 1966: 345) Beschrieben ist mit diesem alltäglichen Moment ein Wahrnehmungsprozess, ähnlich dem der Spinne im Haar, an die sich das Mädchen in der anfänglichen Szene erinnert. Die leichte Irritation löst sich in einer Faktizität auf, die Merleau-Ponty bewusst mit dem deutschen Wort »Wahr-Nehmung« bezeichnet (ebd.). Im Moment der Täuschung des vermeintlich größeren Schattens ist in gewisser Weise schon die Klärung angefragt, sprich die Suche, dass sich ein Sinn für das nicht einschätzbare Phänomen einstellt. Ich kann mich irren, aber dem Irrtum liegt zugrunde, was Merleau-Ponty weitläufig als ein »ich vertraue der Welt« beschreibt (ebd.: 345). Wahrnehmen bedeutet, dass in jedem Phänomen, auch wenn ich mich täuschen kann, ein Sinn zu vermuten ist, und sich darin eine in sich evidente Lebenswelt äußert. Es stellt sich eine Faktizität ein, die nicht gleichzusetzen ist mit einer naturwissenschaftlichen Objektivität, sondern die die Wirklichkeit eines in sich sinnvollen Erfahrungsfeldes ausmacht. Diese Faktizität äußert sich bei Merleau-Ponty nicht im Sinne einer statischen Gegebenheit oder äußeren Realität, der ich wahrnehmend nachkomme, sondern als Prozess, in dem sich dieser jeweilige Sinn einstellt: »Glaube ich in einem Hohlweg von fern einen großen platten Stein auf dem Boden zu sehen, der in Wirklichkeit nur ein Sonnenfleck ist, so kann ich nicht sagen, je den platten Stein in dem Sinne gesehen zu haben, in dem ich näherkommend den Lichtfleck sehe. Der platte Stein erscheint, wie alles Ferne in einem nur verworren strukturierten Feld, in dem die Zusammenhänge noch nicht deutlich sich artikulieren.« (Merleau-Ponty 1966: 344f.) Während dem scheinbaren Stein in diesem Beispiel durch das verstreute Licht noch eine Diffusität zukommt, in der das eigene Sehen keine Orientierung finden mag, erweist sich der Lichtfleck als ein sich einstellender Sinn, der genau diesen festen Anhalt bietet. Zunächst aber täuschte der Sinneseindruck wie in vielen Wahrnehmungsprozessen, denn
Am Schauspiel einen Anhalt finden
»Jede Empfindung geht schon schwanger mit einem Sinne, fügt sich schon einer verworrenen oder klaren Konfiguration ein; […] Ich sehe den illusionären Stein insofern, als mein ganzes Wahrnehmungs- und Bewegungsfeld dem hellen Flecken den Sinn ›Stein auf dem Weg‹ gibt. Und schon bin ich gewärtig, seine glatte, feste Oberfläche unter meinem Fuß zu fühlen.« (Merleau-Ponty 1966: 345) Merleau-Ponty nennt den Prozess solcher Irritationen ein »Schauspiel«, in dem die Wahrnehmung sich als Suche nach einem »Anhalt« äußert: »Dass ich richtig wahrnehme, sage ich, wenn mein Leib am Schauspiel einen genauen Anhalt findet, doch das will nicht heißen, dass mein Anhalt je ein vollständiger wäre.« (Ebd.) Mit solchen Szenen macht Merleau-Ponty jene Momente, die Rousseau exemplarisch für eine vernünftige Erziehung durch die Dinge einsetzt, in ihrer Prozesshaftigkeit zum Thema. Die Faktizität ist hier kein einfaches äußeres Faktum, sondern offenbart eine Suchbewegung. Diese suchende Orientierung ist auf eine Welt ausgerichtet, die in Erfahrung und Gewöhnung sinnvoll »Anhalt« gibt (ebd.), sonst wüssten wir uns nicht zu orientieren. Sie gewinnt Faktizität, scheint aber nie völlig in sich stimmig, sie ist immer von unsicheren Momenten, Täuschungen, Irrtümern und damit auch Phantasien mitbestimmt.
Leiblichkeit als Faktizität Es ist insbesondere die Leiblichkeit als bekannter Schlüssel in der Phänomenologie Merleau-Pontys, die sich bei ihm mit dem Begriff der Faktizität verbindet. In allen genannten Szenen kommt der Leiblichkeit eine besondere Bedeutung zu, seien es der Finger des Mädchens und das Schütteln seines Kopfes, mit dem es den taktilen Eindruck der Spinne im Haar wieder aufführt, sei es das abgewehrte Krabbeln auf der Hand, seien es das am Sehen gehinderte Auge, das ängstliche Lauschen in der Nacht oder der irritierte Blick zu der Fliege. Aus seiner Phänomenologie der Leiblichkeit heraus zielt Merleau-Pontys Denken weder auf objektivistische, naturalistische oder positivistische Sichtweisen, die wie von außen alltägliche Phänomene der Erfahrung erklären und bei einer faktischen »Natur an sich« enden, noch auf einen Subjektivismus, mit dem sich alle Phänomene nur von innen erschließen ließen (Waldenfels 1987: 149, Herv. i.O.). Beides kennzeichnet für ihn Reste eines Cartesianismus (Waldenfels 2017: 21f.), sprich einer Trennung von Subjekt und Welt. Faktizität meint für Merleau-Ponty dagegen, dass wir uns immer schon in einer leiblichen Beziehung oder noch weitergehend, einer Verflechtung mit der Welt, vorfinden. Der Leib bezeichnet gleichermaßen einen Körper mit seiner Materialität als die leibliche Ausrichtung auf und die Empfänglichkeit von der Welt. Orientierung und die Suche nach Anhalt sind Prozesse eines leiblichen, sprich z.B. sichtbaren und sehenden, berührbaren und fühlenden
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Wesens. Weder Dinge an sich noch gedachte oder vorgestellte, sondern die leiblich erfahrenen Dinge und Phänomene des Alltags bilden in Merleau-Pontys Phänomenologie den Boden der Faktizität. Das Sehen, Tasten, Hören gründet in einer Verflechtung mit seinen Sinnesfeldern. An die Stelle einer nur zu registrierenden, äußerlich objektiven Faktizität oder eines konstituierenden Denkens tritt die Faktizität des sich immer schon vollziehenden leiblichen Zur-Welt-Seins. Ich kann zu sehen glauben oder zu sehen denken, doch dies setzt die Faktizität eines Vollzugs des Sehens schon voraus, in der »die Gewissheit des Dinges eingeschlossen war« – es muss uns schon ein »Sehen in Wirklichkeit« gegeben sein (Merleau-Ponty 1966: 428).4 Dass wir uns immer schon in einem leiblichen Zur-Welt-Sein vorfinden, bezeichnet Merleau-Ponty als eine Natur: »[…] faktische Situationen können mich nur betreffen, da ich je schon von solcher Natur bin, dass es faktische Situation[sic!] überhaupt für mich gibt« (ebd.: 116). Der Leib ist so nicht einfach Körper im Raum, auch kein Instrument, dessen sich ein Denken bedient, sondern er ist das sinnliche und wahrnehmende Ausgerichtet-Sein auf die Welt und die Empfänglichkeit von ihr her. Seine Verflechtung mit der Welt drückt sich besonders dann aus, wenn die Momente einer sinnlichen Erfahrung eine Äquivalenz finden und unablösbar im Sinne einer Faktizität aufeinander verweisen. Diese sich einstellende Faktizität bezeichnet Merleau-Ponty als den Kern einer sich uns als faktisch präsentierenden Welt – als »Kern der Realität selbst«: »Ein Ding ist ein Ding, weil es, was immer es uns sagt, dies einzig uns sagt durch die Organisation seiner sinnlichen Aspekte. Das ›Reale‹ ist jener Bereich, in dem jedes Moment nicht allein von allen anderen unablösbar, sondern gleichsam deren Synonym ist, in dem die ›Aspekte‹ in absoluter Äquivalenz einander wechselseitig bedeuten.« (Merleau-Ponty 1966: 373) Ein Beispiel bildet der Käfer: Seine Form und seine Farbe oder die Besonderheit seiner Flügel ließen sich nicht beschreiben, ohne zu klären, dass sie die eines Käfers sind, dem zugleich ein bestimmtes taktiles Empfinden zukommt. In dieser »Äquivalenz« äußert sich, was Farbe, Form, Besonderheiten sind (ebd.: 373). Ähnlich zeigt sich der Ast, der nur gebrochen erscheint, als Ast im Wasser mit allen taktilen und visuellen Eindrücken, die sich mit seiner Spiegelung darin verknüpfen. Merleau-Ponty definiert diese leibliche Wahrnehmung als »Kommunikation mit der Welt« und als »Koexistenz« mit den Dingen, die allem objektivierenden Denken zugrunde liegt (ebd.: 117f.). Die Beispiele könnten zeigen, dass es dabei
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Merleau-Ponty nennt diese Wirklichkeit in der Phänomenologie der Wahrnehmung noch eine »Natur der Akte des Ich, sich selbst zu übersteigen« (Merleau-Ponty 1966: 429), sprich zur Welt zu sein. In seinen Spätwerken wird dieser Rest einer Husserlschen Intentionalitätslehre u.a. unter dem Einfluss von de Saussure abgelöst von »Strukturen«, von denen sich ein »Ich« zuallererst empfängt (Waldenfels 1987: 198f.).
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um kleine elementare Momente dessen geht, was unsere Wahrnehmung in vielerlei Gestalt bedingt, und was uns von fast jedem Phänomen in einem jeweiligen Raum nicht nur eine Vorstellung, sondern ein wahrnehmendes Empfinden vermittelt, wie das des Krabbelns eines Käfers auf der Hand, das der Dunkelheit in einem Wald oder das der verzerrten Spiegelung des Wassers, mittels derer der Stock sich in Rousseaus Beispiel zeigt. Merleau-Ponty nennt dies eine »Empfindung als ursprüngliche Seinsberührung«, die »ein Milieu der Koexistenz konstituiert, d.h. aber: einen Raum« (ebd.: 259). Die Koexistenz beschreibt eine »Zwischenleiblichkeit«, weil Dinge und Andere immer schon auf die eigene Leiblichkeit übergreifen (Waldenfels 1992: 60). Sie bilden ein Milieu, auf das alle Bewegungen, alles Verhalten und alle Sinnlichkeit ausgerichtet sind.
Die synkretische Erfahrung von Kindern Wenn Merleau-Ponty eine Faktizität des Zur-Welt-Seins beschreibt, so meint er damit kein statisches Verhältnis, sondern eine Genealogie. Die Erfahrung von Kindern gewinnt aus dem genetischen Grundzug dieser Philosophie ihre besondere Bedeutung. Merleau-Ponty interessiert sich nicht für die Erfahrung von Kindern aus Gründen ihrer Förderung oder Erziehung heraus, sondern weil sie ein notwendiges Moment seiner Phänomenologie der Leiblichkeit bildet. Das leibliche Zur-Welt-Sein äußert sich als eine ständige Wiederaufnahme der eigenen Erfahrungsgeschichte, die mit der Kindheit anhebt: »Der Raum wie die Wahrnehmung überhaupt markieren im Innersten des Subjekts das Faktum seiner Geburt, den beständigen Beitrag seiner Leiblichkeit, einer Kommunikation mit der Welt, die älter ist als alles Denken.« (Merleau-Ponty 1966: 296) Ein Subjekt tritt demnach aus einer erfahrenen Welt hervor, der es mit den und dem Anderen leiblich zugehörig war, bevor es sie reflektiert. Gerade in diesem Sinne wird die kindliche Erfahrung für eine Philosophie der menschlichen Leiblichkeit ein zentraler Gesichtspunkt. In seinem zweiten, unvollendet gebliebenen Hauptwerk »Das Sichtbare und das Unsichtbare« versucht Merleau-Ponty, noch bestehende bewusstseins- und subjektbezogene Aspekte seiner Phänomenologie der Wahrnehmung aufzubrechen (Waldenfels 1992: 62). Die leiblichen Strukturen des Denkens und der Wahrnehmung erscheinen ihm »weniger und weniger als subjektive Leistungen«, sie werden, wie Waldenfels (1987: 198) schreibt, »in das Sein verlegt, und die Strukturierung nimmt die Form einer Ontogenese an«. Einfluss hierauf hatte bekanntlich auch Merleau-Pontys intensive und kritische Auseinandersetzung mit Piaget (Meyer-Drawe 1986). So hebt Merleau-Ponty die Erfahrung des Kindes als eine anfängliche Wahrnehmung und »genetische Tatsache« hervor, die die Philosophie nicht ignorieren dürfe:
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»Aufgrund ihres inneren Sinnes und ihrer inneren Struktur ist die sinnliche Welt ›früher‹ als das Universum des Denkens, denn erstere ist sichtbar und relativ kontinuierlich, während das unsichtbare und lückenhafte Reich der Gedanken nur auf den ersten Blick ein Ganzes bildet und zu seiner Wahrheit nur kommt, sofern es sich auf die altbewährten Gestalten der sinnlichen Welt stützt.« (MerleauPonty 1986: 28) Von der Vorgängigkeit einer sinnlichen Welt her wird die Erfahrung des Kindes als synkretische gefasst: »Dass ein Kind wahrnimmt, noch bevor es zu denken beginnt, dass es am Anfang seine Träume in die Dinge, seine Gedanken in […] die Anderen verlegt und mit diesen gleichsam einen gemeinsamen Lebensblock bildet, innerhalb dessen die verschiedenen Perspektiven sich noch nicht unterscheiden, – diese genetischen Tatsachen darf die Philosophie nicht einfach ignorieren […].« (MerleauPonty 1986: 28) Synkretismus im Sinne eines »gemeinsamen Lebensblocks« bezeichnet in MerleauPontys Phänomenologie eine gewisse »Nicht-Unterschiedenheit zwischen eigener Person und den Dingen bzw. zwischen eigener und fremder Person« (Waldenfels 1994: 11). »Das Kind weiß ebenso wenig von einer autonomen Objektwelt wie von einem selbstbewussten Subjekt«. (Meyer-Drawe 1986: 266) Die Unterscheidung von eigener Person und Welt vollzieht sich erst aus einem zwischenleiblichen Sinnesfeld heraus. In diesem Sinne ließe sich die Szene, in der die Kinder und das Mädchen den Käfern und Spinnen begegnen, zunächst als ein Ausdrucksgeschehen deuten, in dem die Gesten des Tieres, die der anderen Menschen und die eigenen ineinander übergehen. Augen, Hände und Gegenstände wie der Eimer sind von einem Geschehen eingenommen. Das Krabbeln des Käfers wird zunächst leiblich erfahren – hier noch ängstlich, ausweichend. Das Tier lässt sich in der Szene nicht einfach als ein Anschauungsobjekt begreifen, sondern als »Ausdrucksgestalt« haftet ihm, wie dem eigenen auf sein Krabbeln ausgerichteten Leib, eine Art »Expressivität« an (ebd.: 272). Diese Expressivität wird vom Kind nicht ohne Sinn phantasiert, denn »Dinge existieren im Umgang mit ihnen. Nur deshalb bewahren sie eine flexible Identität, und es verwundert nicht, wenn Kinder ihre Dingwelt auf so viele Weisen organisieren können. Die barocke Welt von Kindern ist eben nicht bar jeder Rationalität […]. Das kindliche Milieu folgt anderen Organisationsprinzipien, es ist belangvoll auf konkretes Agieren und nicht in bezug [sic] auf eine immune Rationalität einer eindeutigen Welt.« (Meyer-Drawe 1986: 272) Weil die Erfahrung der Spinne und des Käfers unmittelbar auf die eigene Leiblichkeit übergreifen, kann die Spinne noch nachträglich im eigenen Haar gespürt
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oder können dem Käfer Stacheln zugesprochen werden, ebenso wie das Insekt in der sensiblen Wahrnehmung der Fachkraft »Angst« auszudrücken vermag. Denkbar wäre ohne weiteres, dass ein Kind im Spiel selbst Käfer würde, oder dass es die Bewegung eines Phänomens unmittelbar in seiner Leiblichkeit fortführt: Dann übersetzt sich z.B. das Drehen der »Verwandlungsspinne« an ihrem Faden in eine körperliche Bewegung, in der das Kind sich um sich selbst dreht. »[D]ass Tiere sprechen, verwundert nicht angesichts einer physiognomisch so reichen Welt.« (Gurwitsch 1977: 87; Meyer-Drawe 1986: 272) Der Synkretismus bedeutet demnach eine »diffuse Sozialität«, in der sich Eigenes und Fremdes miteinander verflechten (Waldenfels 1994: 14). Er wird von Merleau-Ponty nicht einfach als eine Entwicklungsstufe verstanden, sondern er beschreibt in seiner Phänomenologie die präreflexive menschliche Faktizität einer Verflochtenheit mit der Welt, die das kleine Kind in besonderer Weise zum Ausdruck bringt.5 Die Beispiele, wie der nächtlich übermächtige Wald bei Rousseau, die Spinne, die sich im Haar verfängt, oder das Krabbeln des kleinen Käfers, den sich das Kind nicht traut, auf die Hand zu nehmen, weisen mit Waldenfels daraufhin, dass Dinge und Tiere geradezu widerfahren. Der Wald kann auch dem Erwachsenen in der Dunkelheit unheimlich und beängstigend erscheinen. Rousseau schreibt, die Nacht »erschreckt natürlicherweise den Menschen und bisweilen sogar die Tiere. Vernunft, Kenntnisse, Geist und Mut befreien nur wenige von dieser Schwäche.« (Rousseau 1971: 122) Der kleine Käfer, das will die Fachkraft vermitteln, tut dem Kind nichts, es darf sich trauen, ihn auf die Hand zu nehmen – aber dennoch zögert es. Die Einladung der Erzieherin zielt darauf, eine Erfahrung zu machen, eine Gewohnheit auszubilden, denn der Käfer ist ungefährlich. Die Scheu des Kindes aber bringt zum Ausdruck – er widerfährt als fremd und ihm nicht geheuer. In solchen Erfahrungen kommt eine Verletzlichkeit zum Ausdruck. In der Szene koexistiert sie mit der Verletzlichkeit des Käfers, der »Angst« haben könnte. Dieses »vorgängige Getroffensein« (Waldenfels 2002: 54), das als Widerfahrnis schon den eigenen Leib erfasst hat, bevor er darauf antwortet (ebd.: 54-63), ist jenes Motiv, das der Synkretismus besonders zum Ausdruck bringt. In dem Sinne überträgt ein Kind nicht einfach anthropomorph sein Empfinden auf den Käfer, sondern es empfängt sich in seinen leiblichen Erfahrungen geradezu aus dem, was diese herausfordernde Gestalt mit ihm tut. »Unsere leibliche Sphäre tritt zutage, wenn uns etwas angeht und zum Hinhören, Hinsehen und Anfassen auffordert und wir demgemäß mit dem Hinhören, Hinsehen oder Anfassen eine Erfahrung machen.« (Stöhr 2019: 152) Der Leib antwortet immer schon auf etwas, was ihm widerfährt, in diesem Antworten ist er 5
Den Synkretismus und das wechselseitige Übergreifen von Person und Dingen bzw. eigener und fremder Person bringt Waldenfels z.B. unmittelbar mit der Figur des Chiasmus und der Reversibilität des späten Merleau-Ponty in Verbindung (Waldenfels 1994: 11).
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responsiv, sprich aufgefordert von seinem Sinnesfeld zu re-agieren. Seine Aktivität ist von einer Passivität durch ein »Getroffensein (Pathos)« hervorgerufen (ebd.). Dass sich dieses Geschehen immer auch an der Grenze von Irritationen oder Verletzungen bewegen kann, äußert die Scheu: Ameisen kann das Mädchen im anfänglichen Beispiel scheinbar schon einschätzen (obwohl sie wehtun können, wenn sie beißen), aber der Käfer in seiner Fremdheit und Unbekanntheit schreckt. Waldenfels unterscheidet für Stöhr zwei Formen der Verletzlichkeit, die eine nennt er eine »reflexive Verletzlichkeit« (ebd.: 157), sie meint die Interpretation einer Verletzlichkeit, z.B. als Stich einer Wespe, als ein stacheliger oder eben ungefährlicher Käfer, den man betrachten kann. Diese Verletzlichkeit beschreibt ein kulturelles Ordnen: »Die Rede von Verletzlichkeit ruft eine cultura, eine Bearbeitung auf den Plan, die darauf aus ist, solche Verletzungen zu bearbeiten oder sogar zu verhindern«. (ebd., Herv. i.O.) Die zweite Form meint eine »präreflexive Verletzlichkeit«. Hier ist die Verletzlichkeit zu denken, »in Ausgang von der Tatsache, dass wir überhaupt irgend etwas erfahren«, und damit »zu interpretieren, zu reflektieren, zu ordnen haben« (ebd.: 158, Herv. i.O.). Kinder könnten nun gerade diese präreflexive Form des Widerfahrnisses besonders zum Ausdruck bringen, weil ihre Erfahrung ständig von Ereignissen durchkreuzt wird, die Orientierungen und Ordnungen brüchig und fragide sein lassen. Sie weisen hin auf ein »Getroffensein, das jeder Reaktion zukommt«, indem wir auf etwas antworten, das uns schon getroffen hat (Waldenfels 2002: 62). Dass Stöhr (2019: 157) von einer »Tatsache« spricht, könnte man als eine Faktizität dieser Erfahrung beschreiben, in der sich Kinder mit den Phänomenen und deren Aufforderungen verflochten erfahren. Die Erfahrung der eigenen wie der Verletzlichkeit des Tieres in der anfänglichen Szene bilden ein expressives Milieu. Die Szene veranschaulicht dieses Milieu gerade im Kontext der pädagogischen Gesten der Fachkraft, die diese Expressivität in ihren Antworten auf die Kinder immer wieder aufnimmt, aber auch eine sachliche Beobachtung des differenzierten Anschauens und Beschreibens einzuführen versucht, als Beginn einer eigenen rational-erkennenden kulturellen Tätigkeit.
Abschluss – Der Leib als Umschlagstelle von Natur und Kultur Die Faktizität, der sich in dieser Studie anzunähern versucht wurde, ergibt sich nicht aus einer »naturalistischen Einstellung« (Waldenfels 2000: 248), in der Tiere, Dinge, Andere und der eigene Körper als ein Gegenstand betrachtet werden, der bestimmte Zustände aufweist oder auf bestimmte Weise zu charakterisieren wäre. Waldenfels kennzeichnet eine solche »Naturalisierung« als Abstraktion unserer Erfahrung, die zunächst durch eine »personalistische Einstellung« bestimmt ist, in der sich jemand in der Welt bzw. der »Mitwelt« erlebt (ebd.). Die naturalistische Einstellung, in der eine äußere Natur von einer inneren Geisteswelt oder eine
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Natur von einer Kultur unterschieden wird, setzt die eines leiblichen Fungierens voraus, durch das wir uns immer schon in der Welt erfahren. Zurückkommend auf die anfängliche Frage dieser Studie, inwieweit diese Faktizität Hinweis auf eine Natur sein könnte und in welchem Verhältnis diese Natur zu einer Kultur der Erfahrung steht, meint leibliche Faktizität hier nicht eine naturwissenschaftlich bestimmte Natur und genauso wenig eine von Kultur abgegrenzte Natur der nicht vom Menschen hergestellten Dinge (wie z.B. – vermeintlich – Wald und Fluss und Wildtier). Natur von Kultur abzugrenzen, ist für Waldenfels schon eine kulturelle Tätigkeit, die von situativen Lebensbedeutsamkeiten absieht. Selbst die Natur der Naturwissenschaften ergibt sich aus einem methodischen Zusammenhang heraus, einem: »unter bestimmten kulturellen Bedingungen entstandenen Verfahren. Die Naturwissenschaften sind selbst ein kulturelles Produkt […].« (Ebd.: 253) Die Faktizität einer leiblichen Verflechtung macht dagegen auf eine andere Natur aufmerksam. Waldenfels erinnert an Husserl, der den Leib als »Umschlagstelle zwischen Kultur und Natur« charakterisiert, »in dem Sinne, dass er weder der einen noch der anderen eindeutig zuzuordnen ist. […] Die Natur fungiert innerhalb der Kultur.« (Ebd.: 253, Herv. i.O.) Mit der Charakterisierung eines synkretischen Raumes, mit dem das Kind in seiner Leiblichkeit unmittelbar verflochten ist, und aus dessen Affizierungen es sich allererst erfahren kann, wird eine Erfahrung angesprochen, die immer auch kulturell bestimmt ist. Dies zeigen die Szenen aus der Kindertagesstätte oder die Beispiele von Rousseau, die ja pädagogische Kulturen zum Ausdruck bringen. Doch das Kulturelle lässt sich zugleich als eine Responsivität darauf beschreiben, wovon Kinder getroffen sind, es bewegt sich in einem Raum, der in dem Getroffenwerden über die jeweilige Kulturalität hinausgeht, sie als Antworten überhaupt erst motiviert. Die Faktizität der Leiblichkeit könnte in dieser Umschlagstelle liegen zwischen dem, dass ein Kind von etwas angezogen, abgestoßen und getroffen wird, was nicht in den kulturellen Formen aufgeht, den Umgang damit aber herausfordert. Leiblichkeit äußert sich in diesem Verständnis immer als Natur und Kultur zugleich. Dass etwas zu einem Gegenstand der naturwissenschaftlichen Betrachtung, der ökologischen Naturerziehung, der pädagogisch anzuregenden Sinnes-Erziehung wird, setzt die leibliche Faktizität einer natürlichen Verflechtung mit der Sinneswelt voraus, die das kulturelle Antworten provoziert, ohne darin aufzugehen. Das Belebtsein des eigenen Körpers besteht für Merleau-Ponty in dieser Verbindung – der Körper ist Leib, wenn »es zwischen Sehendem und Sichtbarem, zwischen Berührendem und Berührtem, zwischen einem Auge und dem anderen, zwischen einer Hand und der anderen zu einer Art Begegnung kommt, wenn der Funke des Empfindend-Empfundenen sich entzündet.« (Merleau-Ponty 1967: 17) Deshalb spricht Merleau-Ponty davon, dass der Körper der Dinge wie der eigene »aus dem gleichen Stoff gemacht sind« (ebd.). Diese Verbundenheit ist es, was
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Merleau-Ponty eine »Natur« nennt (ebd.). Sie äußert sich darin, dass Phänomene wie Schatten, Spiegelung oder Licht, in denen sich allererst etwas zeigt, gleichermaßen ein zwischenleibliches Medium bilden, das Wahrnehmung und Wahrgenommenes vermittelt, zu einem Stoff werden lässt und die Charakteristik eines jeweiligen Sinnesfeldes bestimmt (ebd.: 20f.; 42). Aus einer solchen Phänomenologie ließe sich eine pädagogische Schlussfolgerung ableiten, die hier nur ausblickend angedeutet werden kann. Sie könnte darin liegen, einem Empfinden von Kindern zu seinem Recht zu verhelfen, das eine eigene Faktizität, eine Natur diesseits der Entgegensetzung von Kultur und Natur offenbart. Dieses Empfinden äußert sich als ein Getroffen-Werden von der Welt, als eine Verflochtenheit in eine widerfahrende Sinneswelt. Darum dürfen sich in der anfänglichen Szene die Angst des Käfers und die des Kindes aufeinander beziehen, denn die Fachkraft spricht eine Art gemeinsamer Kreatürlichkeit und Verletzlichkeit zwischen Käfer und Kind an. Die Verflochtenheit ist der gemeinsame Stoff, aus dem die Erfahrung entsteht. Die Bezogenheit aufeinander, d.h. noch nicht getrennt zu sein von einer Welt, die in dieser Trennung Objekt, Konstruktion, Herstellung bedeutet, bringen Kinder in dieser Deutung zum Ausdruck. Diese Bezogenheit zeugt von einer Natur, die in der Kultur fungiert, die zugleich aber auch deren Grenzen andeutet.
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Ein ökologisches Leben leben Bildungsphilosophische Suchbewegungen zu einer Postwachstumsgesellschaft Frank Beiler
Einführung: Das Ende der Zivilisation1 Der Philosoph, Parlamentsabgeordnete und Fürsprecher der umstrittenen Graswurzelbewegung Extinction Rebellion2 Rupert Read und der Umweltökonom Samuel Alexander kommen in ihrem Gespräch »Diese Zivilisation ist gescheitert« (2020) zu der Einschätzung, dass die industriell-wachstumsbasierte Zivilisation die Pariser Klimaziele mit aller Wahrscheinlichkeit nicht erreichen wird, was unweigerlich zu einer Erderwärmung von drei bis vier Grad führen wird »– und das ist nicht mit der Zivilisation vereinbar, die wir kennen« (ebd.: 10). Daraus leiten sie drei mögliche Zukunftsszenarien ab: 1. Diese Zivilisation könnte gänzlich und endgültig zusammenbrechen, in Folge klimatischer Instabilität (die zum Beispiel zu katastrophalem Nahrungsmangel im Zusammenhang mit dem Kollaps führen würde) oder vielleicht rascher durch einen Nuklearkrieg, Pandemien oder einen Zusammenbruch des Finanzsystems, der einen umfassenden Niedergang des zivilgesellschaftlichen Lebens zur Folge hätte.
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Der Beitrag verdankt zentrale Überlegungen einem Austausch mit Heike Hübner vom Hessisches Landesamt für Naturschutz, Umwelt und Geologie Fachzentrum, Klimawandel und Anpassung. Extinction Rebellion wurde 2019 von der britischen Anti-Terror Polizeiorganisation (Counter Terrorism Policing) als nationale Bedrohung mit extremistischen, ideologischen Inhalten eingestuft. Nach massivem öffentlichem Druck wurde diese Einstufung widerrufen und offiziell als ein Fehlurteil klassifiziert (Dodd; Grierson 2020). Extinction Rebellion ist eine basisdemokratische globale Umweltbewegung, die auf die Bedrohungen der Klimatransformation und des Artensterbens durch gewaltlose Formen des zivilen Ungehorsams aufmerksam machen möchte.
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Frank Beiler 2. Dieser Zivilisation (uns) gelingt es, den Keim für (eine) zukünftige NachfolgeZivilisation(en) zu legen, wenn sie zusammenbricht. Oder 3. Dieser Zivilisation gelingt es irgendwie, sich auf vernünftige Weise, radikal und rasch, in unvorhergesehener Weise und rechtzeitig zu transformieren, um dem Zusammenbruch zu entgehen. (Ebd.: 11)
Während Szenario (1) und (2) »mit Leid und Tod in unvorhersehbarem Ausmaß verbunden sein werden«, ist das wünschenswerte Szenario (3) das »bei weitem am unwahrscheinlichste« (ebd.). Das dritte Szenario ist auch aus umweltsoziologischer Perspektive unwahrscheinlich, weil trotz aller Protestbewegungen und Reformbemühungen ein entschiedenes Festhalten an der Nicht-Nachhaltigkeit erkennbar ist (Blühdorn 2020a). »Die Aussage und das Bekenntnis, dass ein Weiter-So für moderne Gesellschaften angesichts natürlicher Grenzen schlicht keine Option mehr sei, und ein radikaler Wandel, eine sozial-ökologische Transformation, unbedingt vollzogen werden müsse, fällt also in sonderbarer Weise zusammen damit, dass jenseits von Protestbewegungen und Reformprojekten genau dieses Weiter-So faktisch offenbar nicht nur eine Option ist, sondern das demokratisch legitimierte Prioritätsprojekt moderner Konsumgesellschaften – ganz egal, ob das so offen artikuliert wird oder nicht.« (Blühdorn 2020b: 15) Der ökologische Fußabdruck der meisten Volkswirtschaften ist aus Sicht des Global Footprint Network im Vergleich zu den vorhandenen Biokapazitäten des Ökosystems »at least critical« (Wackernagel, Beyers 2019: 7). Die planetaren Ökosysteme gelangen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit (Steffen et al. 2015; Guo et al. 2017) und bringen je nach eintretendem Grad der Erderwärmung abrupte und massive Ereignisse für alle Spezies mit sich (Trisos/Merow/Pigot 2020).3 Der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber bezweifelt in einem Interview im Januar 2020, dass es noch möglich sei, das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Abkommens zu erreichen; er räumt jedoch ein, dass es mit erheblichen gesellschaftlichen Veränderungen noch möglich sei, das 2-Grad-Ziel zu erreichen – und merkt an, dass ab 2 Grad bereits Tipping-Points erreicht werden, die zu Dominoeffekten und dadurch auch schnell zum 4-Grad-Szenario führen können (Schellnhuber 2020). Auch der Klimaforscher Will Steffen spricht in einem Interview (2020) davon, dass wir uns »already deep into the trajectory towards collapse« (Steffen 2020) befinden. Steffens Aussagen basieren unter anderem auf einer Studie, die 2018 medial unter 3
In einem (noch) relativ unwahrscheinlichen Szenario einer 4 Grad Erwärmung wären weltweit aus einer Untersuchungsklasse von 30.000 marinen und landbewohnenden Spezies 15 Prozent abrupten Ereignissen mit massiven und unbekannten Auswirkungen ausgesetzt (ebd.).
Ein ökologisches Leben leben
dem Schlagwort »Hothouse Earth Paper« bekannt wurde. In dem Paper wird von einem interdisziplinären Team darauf aufmerksam gemacht, dass es signifikante Belege dafür gibt, dass selbstverstärkende Feedbackschleifen das planetare System nach dem Überschreiten bestimmter Tipping-Points in ein »Hothouse Earth« verwandeln könnten und dass zur Vorbeugung eine »deep transformation based on a fundamental reorientation of human values, equity, behavior, institutions, economies, and technologies« (Steffen et al. 2018: 8285) erforderlich ist. Nach einer kurzen Skizze zur Problemlage, die sich nachweislich aus der Lebensweise der Menschen aus privilegierten Ländern konstituiert, wird nach den Maßstäben und Rahmenbedingungen für ein ökologisches Leben gesucht. Damit stellt sich zugleich auch die Frage nach den Möglichkeiten einer politischen Handlungsfähigkeit innerhalb der Problemlage. Nachdem auf mögliche Fallstricke zwischen einer Dezentrierung und Hyperzentrierung von Menschenbildern eingegangen wird, soll eine multiperspektivische Skalierung und eine Verschiebung epistemologischer Rahmen als ein Ausweg diskutiert werden.
Lifestyle und Überkonsum 2018 reichte der Nachhaltigkeitsforscher Jem Bendell den umstrittenen und im Peer-Review-Verfahren abgelehnten Beitrag »Deep Adaptation: A Map for Navigating Climate Tragedy« (Bendell 2018) ein, den er nach der Ablehnung auf der Institutsseite seines Arbeitsbereichs der University of Cumbria veröffentlichte und der Ende 2019 bereits über eine halbe Million Downloads erreichte. Bendell spitzt die Ergebnisse des »Hothouse Earth Papers« und anderen Studien weiter zu und verleiht ihnen durch Vereinfachung eine gewisse Dramatik. Das hat ihm den Ruf eines »climate doomers« (Hunter 2020) eingebracht. Deep Adaptation ist mittlerweile ein Teil des Handbuchs der »Extinction Rebellion« (Kaufmann/Timmermann/Botzki 2019, Kap. 1.11) und scheint trotz seiner Drastik, Zuspitzung und Vereinfachung zwei Jahre nach seiner Veröffentlichung weiter an Relevanz gewonnen zu haben. Darin fasst Bendell zusammen, dass die Antworten der westlich orientierten Länder auf Umweltfragen seit den 1970er Jahren durch die Alternativlosigkeit der neoliberalen Ökonomie gekennzeichnet sind und dass die einzigen Ansätze, die zur Verfügung stehen würden, hyperindividualistisch, marktfundamentalistisch, inkrementell und atomistisch seien (Bendell 2018: 24). Neuere Studien belegen, dass der Überkonsum und der Lifestyle der wohlhabenden zehn Prozent der Menschheit »by far the strongest determinant and the strongest accelerator of increases of global environmental and social impacts« (Wiedmann et al. 2020: 1) sind. Dort wird weiter geschlossen, dass der technische Fortschritt und die Entwicklung erneuerbarer Energien mit dem Wohlstandwachs-
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tum der letzten 40 Jahre nicht Schritt halten können. Lenzen, der Co-Autor der Studie, schließt in einem Interview: »It’s hardly ever acknowledged, but any transition towards sustainability can only be effective if technological advancements are complemented by far-reaching lifestyle changes.« (Lenzen 2020, o.S.) Das Ergebnis, dass »the affluent citizens of the world are responsible for most environmental impacts« (Wiedmann et al. 2020: 1), dürfte kaum überraschen. Diese Entwicklungen sind spätestens seit den 1980er Jahren bekannt und wurden bereits zu der Zeit bewusst ignoriert, so der Autor und Essayist Nathaniel Rich in seiner Rekonstruktion der Klimapolitik von 1979 bis 1989 »Losing Earth« (Rich 2019). Aus diesem Grund spricht Blühdorn auch von einer »nachhaltigen NichtNachhaltigkeit« (Blühdorn 2020c: 30), die mit einer entpolitisierten, neoliberalen Postdemokratie einhergeht und aufrecht erhalten wird.4 Das bedeutet, dass privilegierte Teile einer demokratischen Gesellschaft emanzipatorische Wertorientierungen (Freiheit und Selbstbestimmung) dazu nutzen, die eigenen Privilegien gegenüber allen anderen, zumeist prekär lebenden, Teilen der Gesellschaft dauerhaft und systemisch abzusichern und dadurch einer »emanzipatorischen Entdemokratisierung der Demokratie« (Blühdorn 2020d: 306) Vorschub leisten.
Transformationspolitik Vor diesem Hintergrund und im Ausgang des vierten Berichtes des Weltklimarates (IPCC) 2007 und der Finanzkrise 2008 konnte der Transformationsbegriff unter Klimawissenschaftler*innen und Umweltakteur*innen seine Schlagkraft entfalten, weil er auf das gegebene multiple Krisengeschehen mit einer aktiven, zielgerichteten, langzeitorientierten Beeinflussung grundlegender gesellschaftlicher Verhältnisse und deren zentraler Elemente und Strukturen reagiert (Brand 2018: 483). Der Transformationsbegriff soll gewissermaßen einer nachhaltigen
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Eine Postdemokratie ist eine Verfallsform der Demokratie, die von Badiou und Rancière in Texten für eine Vorlesungsreihe 1992/1993 in Ljubljana diagnostiziert und ausgearbeitet wird (Badiou/Rancière 1996/2010: 119) und die von Colin Crouch erneut aufgegriffen wird (Crouch 2008). In einer Postdemokratie steht die Verwaltung ökonomischer Notwendigkeiten auf Grundlage von wissenschaftlicher Erkenntnis oder rechtlicher Rahmen im Vordergrund. Das bedeutet, dass in einer Abwesenheit des politischen Widerstreits der Zwang zum Konsens regiert. Aus dieser Perspektive ist (beinahe) das gesamte gesellschaftspolitische Handlungsfeld von einer Verwaltungsstruktur ökonomischer Notwendigkeiten durchzogen, die von Expertenwissen und Expertenmeinungen reglementiert wird und keine konkurrierende Akteure mehr zulässt oder demokratischen Streit ermöglicht.
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Nicht-Nachhaltigkeit entgegentreten, um das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung der 90er Jahre ökologisch zu radikalisieren und kapitalismuskritisch zu revitalisieren. Er wird in den 2015 von der UN verabschiedeten »Sustainable Development Goals« aufgegriffen und findet sich auch im UN-Programm »Transforming our World – The 2030 Agenda for Sustainable Development« (Vereinte Nationen 2015), beim Bundesministerium für Umwelt (BMUB 2016) und in der staatlich geförderte Transformationsforschung (Schneidewind 2015) wieder. Im Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderung (WGBU 2011) wird festgehalten, dass eine Transformation erforderlich ist, die »hinsichtlich der Eingriffstiefe vergleichbar [ist] mit den beiden fundamentalen Transformationen der Weltgeschichte: der Neolithischen Revolution, also der Erfindung und Verbreitung von Ackerbau und Viehzucht, sowie der Industriellen Revolution« (ebd.: 5). Gleich im nächsten Abschnitt wird festgehalten, dass diese Transformation »auf Grundlage wissenschaftlicher Risikoanalysen« erfolgen muss, dass sie in erster Linie »wissensbasiert« (ebd.: 6) ist, auf »Pioniere des Wandels« (ebd.) und einen »gestaltenden Staat« (ebd.) angewiesen ist. Die Transformationsforschung beobachtet und beschreibt nicht nur, sie stößt sie auch an und tritt als Akteur auf die gesellschaftliche Bühne (Boddenberg 2018). Dazu bemerkt Strohschneider – derzeit Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft – das Transformationsforschung das »Risiko einer Politik der De-Politisierung« (Strohschneider 2014: 176) birgt, weil politische Legitimität in einem demokratischen Verfassungsstaat nicht an Wahrheitsansprüche, sondern an Geltungs- und Befolgungsansprüche gebunden sind. Wahrheitsansprüche können zwar jederzeit erhoben werden, sie müssen jedoch kaum befolgt werden, wie beispielsweise die Trump-Regierung angesichts der Coronakrise oder der Black Lives Matter Bewegung immer wieder unter Beweis stellt. Daraus folgt, »dass Wert- oder Normkonflikte wissenschaftlich unentscheidbar sind« (ebd.: 186; Herv. i.O.). Die Transformationsforschung kann das Politische5 nicht durch einen entpolitisieren Klimaschutz überwinden, sondern nur vereinnahmen und in die Wissenschaft – in einen Streit der Gutachter*innen und Expert*innen – verlegen. Das Politische wird dann jedoch zu einer lästigen Störung für die Große Transformation.6 5
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Das Politische kann in einer vereinfachten Bestimmung als die Potentialität des gemeinsamen Handelns verstanden werden. Politik ist demgegenüber der legitimierte Ausdruck der Steuerung gemeinsamer Belange (Bedorf 2010: 17; hierzu auch Rancières Unterscheidung zwischen Politik und Polizei in Rancière 2002: 24). Anthony Giddens plädiert in »The Politics of Climate Change« (2009) dafür, dass die Umweltpolitik um den Gegensatz von Links und Rechts bereinigt werden müsse: »Climate change should be lifted out of a right-left context, where it has no place. lt is normal and acceptable for political parties to clairn that they, rather than their opponents, are the ones to turn
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Blühdorn spitzt in der Kritik an der Transformationsforschung weiter zu und diagnostiziert eine »normative Transformationsliteratur« (Blühdorn 2020d: 289), die es sich zur Aufgabe macht, öko-emanzipatorische Bekenntnisse fernab empirisch beobachtbarer gesellschaftlicher Parameter und Dynamiken in modernen Demokratien zu formulieren. Hausknost schließt im gleichen Band: »Die normative Verpflichtung auf das Ideal der Nachhaltigkeit scheint unverzichtbar, seine systemische Verwirklichung innerhalb der Konturen der Moderne hingegen unmöglich.« (Hausknost 2020: 157) Auch für Brand führt der eingeschlagene Weg in eine Sackgasse: »Die von engagierten Klimawissenschaftler[*innen] geschürte Hoffnung auf eine – auf wissenschaftliche Analysen gestützte, in kürzester Zeit zu gestaltende – Große Transformation ist illusorisch.« (Brand 2017: 145)
Krisenerfahrungen Die Hoffnung, dass ein wissenschaftlich legitimiertes Top-Down Programm für gesellschaftliche Transformationen staatlich aktiv gestaltet und von Expert*innen international synchronisiert implementierbar wäre (u.a. Lenton 2020; Otto et al. 2020), erscheint nicht nur trügerisch, sondern bringt die Probleme einer unterstellten Unmündigkeit und einer De-Politisierung mit sich. Zugleich steht die Evidenz der Ergebnisse aus der Klimaforschung und die damit einhergehende Verpflichtung und Verantwortung im Anthropozän gegenüber allen jetzigen und künftigen Lebensformen auf der Erde außer Frage. Eine Ignoranz gegenüber der Verpflichtung und Verantwortung führt aller Wahrscheinlichkeit nach zu den oben mit Read und Alexander skizzierten Szenarien (1) oder (2), die beide keine rational argumentierbaren Optionen sind. Das dritte Szenario bringt jedoch die Problematik der Verschränkung von einer entpolitisierten Klimapolitik und einer nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit mit sich. , Im bereits erwähnten Beitrag »Scientists warning on affluence« (Wiedmann et al. 2020) wird von Klimaforscher*innen in der »Nature« die Schlussfolgerung gezogen, dass »far-reaching lifestyle changes« (ebd.: 1) erforderlich sind, um die essentiellen und lebenserhaltenden Funktionen des Planeten Erde aufrecht zu erhalten. Um die tiefgreifenden Veränderungen der Lebensweise einer wachstums- und konsumorientierten Welt zu verdeutlichen, stellen sie den reformistischen und an grünem wachstumsorientierten Denkansätzen die radikalen Alternativen gegenüber: Eco-Sozialismus und Eco-Anarchismus.7 Die beiden dort skizzierten Ansät-
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to for firm action on global warming. Yet beyond a certain area, and beyond the rhetoric of immediate party politics, there has to be agreement that the issue is so important and allencompassing that the usual party conflicts should be suspended or muted« (ebd.: 114). Dem Eco-Sozialismus werden die Arbeiten von Samuel Alexander – auf den eingangs Bezug genommen wird (Read/Alexander 2020) –, Giorgos Kallis, Vasilis Kostakis, Steffen Lan-
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ze, die als »approaches for sustainable prosperity« (ebd.: 6) angeführt werden, sind denkbar (und mit dem ökologischen Fußabdruck auch messbar) weit von den Lebensweisen der westlichen Welt entfernt. Unter den »key principles« für das Erreichen einer nachhaltigen Lebensweise wird in beiden Fällen tabellarisch vermerkt: »Necessary changes are most likely not compatible with capitalism« (ebd.). Eine viel zitierte Phrase besagt, dass es einfacher ist, sich das Ende der Welt vorzustellen als eine Lebensweise, die das Ende des Kapitalismus mit sich bringen würde.8 Gesellschaftliche Transformationen diesen Ausmaßes erfordern einen Glauben daran, dass andere Welten möglich sind und sie erfordern Vorstellungskraft, um sich dieses Andere überhaupt vorstellen zu können. Die Ankündigung einer anderen Welt und ihr Erscheinen sind in erster Linie ästhetische Angelegenheiten. Ästhetische Angelegenheiten sind die Grundvoraussetzung jeder politischen Subjektivierung (Rancière 2001: 85). Der Mangel an Glauben und Vorstellungskraft einer anderen möglichen Welt kann mit Wolfgang Klafki als »epochaltypisches Schlüsselproblem« verstanden werden. Schlüsselprobleme dieser Tragweite erfordern ein »geschichtlich vermitteltes Bewusstsein von zentralen Problemen der Gegenwart und – soweit voraussehbar – der Zukunft« (Klafki 1991: 56f.). Die Konstitution eines geschichtlich vermittelten Bewusstseins und die Einsicht in die Mitverantwortlichkeit nennt Klafki Bildung. Bildung geht in diesem Zusammenhang über Lern- oder Kompetenzbegriffe hinaus. Tiefgreifende Veränderungen der Lebensweisen erfordern Transformationen, die von der Hamburger Bildungsprozesstheorie auch als Transformationen des Welt-, Anderen- und Selbstverhältnisses beschrieben werden (bspw. Koller 2018). Transformationen dieser Art sind Bildungsprozesse, die sich von Lernprozessen dahingehend unterscheiden, dass nicht nur neues Wissen angeeignet wird, sondern dass eine grundlegende Re-Strukturierung des gesamten Welt-, Anderenund Selbstverhältnisses stattfindet (Marotzki 1990, Kokemohr 2007). In der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse wird Bildung jedoch nicht als ein Heilsversprechen verstanden, sondern »wird selbst als ein kritischer Theorietypus gedacht, in dem Fragen von Macht und Herrschaft verhandelt werden müssen« (Thompson 2020: 109). Kokemohr fasst zusammen:
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ge, Barbara Muraca, Susan Paulson und Matthias Schmelzer zugeordnet (Kallis et al. 2018; Muraca 2015a/2015b/2010). Auf den Eco-Anarchismus wird – in Überschneidung zum EcoSozialismus – erneut auf Samuel Alexander verwiesen (Alexander/Rutherford 2020), sowie auf Ted Trainer, Anitra Nelson und Frans Timmerman (Nelson/Timmerman 2011). Ein Verweis auf die Umweltaktivistin und Begründerin der Local Futures Helena Norberg-Hodge (Norberg-Hodge/Merrifield/Gorelick 2002; Norberg-Hodge/Read 2016) oder den Vordenker und Wegbereiter des Eco-Anarchismus Murray Bookchin (1990/1994/1996) fehlt. Mark Fisher benennt das erste Kapitel seines Buchs »Kapitalistischer Realismus« (Fisher 2013) nach dieser Phrase und bemerkt auf Seite zwei, dass sie Fredric Jameson und Slavoj Žižek zugeschrieben werden kann.
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»Von Bildung zu sprechen sehe ich dann als gerechtfertigt an, wenn der Prozess der Be- oder Verarbeitung subsumtionsresistenter Erfahrung eine Veränderung von grundlegenden Figuren meines je gegebenen Welt- und Selbstentwurfs einschließt.« (Kokemohr 2006: 21) Bildungsprozesse werden durch widerständige Erfahrungen ausgelöst, die darin bestehen, dass Menschen auf Probleme stoßen, für deren Bearbeitung die etablierten Figuren ihres Welt-, Anderen- und Selbstverhältnisses nicht ausreichen. Die subsumtionsresistenten Erfahrungen sind Erfahrungen von Fremdem, das in ein gegebenes und vertrautes Welt-, Anderen- und Selbstverhältnis einbricht. Der Einbruch kann zu einer Re-Konfiguration der je vorhandenen Grundfiguren führen. Er muss jedoch nicht zwangsläufig zu einer Transformation führen, denn Bildung lässt sich – anders als Lernprozesse – nicht erzwingen; sie ist eine Möglichkeitskategorie (Schäfer 2009). Die Klimatransformation und die damit einhergehenden Transformationen – wie beispielsweise auch die »Vernichtung der Arten« (Glaubrecht 2019) im sechsten Massenaussterben (Ceballos/Ehrlich 2018) – haben trotz überwältigender wissenschaftlicher Befunde, die seit Jahrzehnten vorliegen, außerhalb von Protestbewegungen nicht zu transformatorischen Bildungsprozessen geführt. Es geht entsprechend des kritischen Impetus der transformativen Bildungstheorie darum, danach zu fragen, wodurch sich die gegenwärtige De-Subjektivierung9 auszeichnet und wie eine (mögliche) politische Subjektivierung10 gestärkt werden kann.
Dezentrierung, Hyperzentrierung und politische Subjektivierung Im Folgenden wird genauer untersucht, wie die Verschränkungen zwischen einer nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit und einer entpolitisierte Klimapolitik über-
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Jeder Subjektivierungsprozess ist auch durch Desubjektivierungen gekennzeichnet (Agamben 2008). Für Agamben steht die Desubjektivierung mit dem uns gegebenen »Stadium des Kapitalismus« in Verbindung. Er veranschaulicht wie folgt: »In der Unwahrheit des Subjekts steht keineswegs mehr seine Wahrheit auf dem Spiel. Wer sich vom Dispositiv ›Mobiltelefon‹ gefangen nehmen lä[ss]t, wie intensiv auch immer das Verlangen, das ihn dazu getrieben hat, gewesen sein mag, erwirbt deshalb keine neue Subjektivität, sondern lediglich eine Nummer, mittels derer er gegebenenfalls kontrolliert werden kann; d[ie] Zuschauer[*in], d[ie ihre] Abende vor dem Fernseher verbringt, erhält im Tausch für [ihre] Desubjektivierung nichts als die frustrierende Maske des zappeur oder die Einbeziehung in die Berechnung der Einschaltquote.« (Agamben 2008: 37; Herv. i.O.). Rancière versteht die politische Subjektivierung als Prozess einer »Ent-Identifizierung« (Rancière 2002: 48), d.h. »eine Reihe von Handlungen […], die eine Instanz und eine Fähigkeit zur Aussage erzeugen, die nicht in einem gegebenen Erfahrungsfeld identifizierbar waren, deren Identifizierung also mit der Neuordnung des Erfahrungsfeldes einhergeht.« (ebd.: 47)
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wunden werden können, um dem Ziel einer »hochwertigen Bildung« (SDG’s 4; BMZ 2017) gerecht werden zu können. Ziel ist dementsprechend, mögliche Rahmenbedingungen für »hochwertige Bildung« zu skizzieren. These ist hierbei, dass die Voraussetzungen, die eine nachhaltige Entwicklung verhindern, die vorherrschende Wissensproduktion der Wissenschaftsbetriebe und die Theoriearbeit – in Latours Formulierung: »die gebräuchliche Epistemologie« (Latour 2019: 78) – selbst betreffen. Eine Skizze anhand eines Problemknotens kann zudem dazu beitragen, Einsatzpunkte zu finden, die zu einer politischen Subjektivierung und dadurch zu einer Transformation führen können. Die Klimatransformation und das Klima selbst sind Gegenstände des Wissens und sie sind als solche durch Modellierung und Berechnung konstituiert, die der Erfahrung entzogen sind. Dass wir uns bereits im globalen 1-Grad-Szenario befinden (Trisos et al. 2020), entgeht jeder unmittelbaren Wahrnehmung. Das Klima ist kein aisthetisches Objekt einer leiblichen Erfahrung (Schneider 2018: 22f.). Es ist ein Objekt, das aus Messungen, Beobachtungen und Daten mittels Instrumenten »im Kreuzpunkt globaler, messtechnischer Netzwerke« (ebd.) als Abstraktum generiert wird. Anders als für Alexander von Humboldt ist das Klima hier kein Gegenstand der Sinne mehr. Das Klima ist für Humboldt, wie in »Kosmos« festgehalten, »auch für die Gefühle und ganze Seelenstimmung der Menschen« (Humboldt 2004: 340) zuständig (Schneider 2018: 23). In den großen Verkettungen von Ursache und Wirkung darf für Humboldt kein Stoff, keine Tätigkeit isoliert betrachtet werden, denn sie gehören zu einem »Netz des Lebens« (Wulf 2016: 24). Humboldt prägte den Naturbegriff, wie wir ihn heute kennen und verstehen, der als ein »transzendentales Prinzip« (Morton 2016: 12) funktioniert und der eine Trennlinie zwischen Innen und Außen, zwischen Natur und Kultur zieht. Mit der Konstitution des Naturbegriffs geht die Konstitution eines Welt-, Anderen- und Selbstverhältnisses einher, das Latour in »Wir sind nie modern gewesen« (2008) wie folgt zusammenfasst: »Erst mit dem Kantianismus erhält unsere Verfassung ihre wahrhaft kanonische Formulierung. Was bloße Unterscheidung war, wird hier zu totalen Trennung, zu einer kopernikanischen Revolution. Die Dinge an sich werden unzugänglich, während das transzendentale Subjekt sich symmetrisch dazu unendlich von der Welt entfernt.« (Ebd.: 77) Für Morton durchzieht das Problem der Trennung unser Denken von Natur als Umwelt, denn »stets fällt sie [die Natur] entweder der Subjektivität oder der Objektivität zu« (Morton 2016: 67). Natur ist einerseits der Baum, den wir in einem Nationalpark in strömendem Regen berühren können und sie ist andererseits auch das ganze Ökosystem zu dem der Baum und der Park gehören. Sie ist »sowohl der Kasten als auch sein Inhalt« (ebd.: 32). Natur liegt dann in einer mittleren Ebene zwischen Subjekt und Objekt – ohne je die exakte Mitte treffen zu können –, auf
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der ihr durch Romantisierung und Ästhetisierung eine beinahe »übernatürlicher« Status (Essenz) zugeschrieben werden kann und auf der sie auch radikal materialistisch in reiner Materie (Substanz) aufgelöst werden kann. Der Status der Natur in diesem »sowohl als auch« und »weder noch« ist durch den Korrelationismus zwischen Denken und Sein bedingt, der als Grundfigur die westliche Philosophie seit der Aufklärung bestimmt.11 Eine Vereinseitigung des Naturbegriffs zu Gunsten einer romantischen Essentialisierung (Spiritualismus) oder einer materialistischen Substantialisierung (Physikalismus) geht mit einer Hierarchisierung einher, weil Natur stets auf der einen oder anderen Seite landet. Eine Hierarchie des Sinns über das Sinnliche, des Geistes über den Körper, hat in der äußersten Konsequenz einen Ästhetizismus einer übernatürlichen Natur zur Folge (naiver Realismus) und eine Hierarchisierung des Sinnlichen über den Sinn, der Materie über den Geist, einen Szientismus (strenger Naturalismus). Auch wenn diese Randpositionen kaum vertreten werden, bleibt das Problem erhalten, dass der Naturbegriff in dieser korrelationistischen Dialektik zirkuliert und sich (fast) immer ein Gravitationszentrum auf der einen oder anderen Seite bildet (Morton 2019: 62f.). Der Korrelationismus spiegelt letztlich auch die Unterscheidung von Natur und Kultur wieder und bindet das menschliche Leben und die menschliche Erfahrung (der westlichen Welt) – ob man sie nun überbewertet oder entwertet – an einen Anthropozentrismus, dem man kaum entkommen kann; erst recht nicht mit einem Antikorrelationismus12 (Danowski/Viveiros de Castro 2019: 48). Es ist eben dieser Anthropozentrismus, der mit dem Zeitalter des Anthropozäns13 in Frage gestellt wird und der ironischerweise zugleich eine Objektivierung der Korrelation manifestiert. Das Zeitalter des anthropos ist eine Kränkung (s)eines Welt-, Anderen- und Selbstverhältnis und der zugehörigen Maßstäbe, weil dem Menschen seine Maßlosigkeit von einem aufbegehrenden globalen Biosystem in einem Klimaregime vor
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Meillassoux definiert in seiner viel diskutierten Arbeit »Nach der Endlichkeit« (2008) die Korrelation wie folgt: »Unter ›Korrelation‹ verstehen wir die Idee, derzufolge wir Zugang nur zu einer Korrelation von Denken und Sein haben, und nie gesondert zu einem der beiden Begriffe. Daher nennen wir von jetzt an Korrelationismus jede Denkrichtung, welche den unüberschreitbaren Charakter der so verstandenen Korrelation vertritt. […] Der Korrelationismus besteht in der Zurückweisung aller Versuche, die Sphäre der Subjektivität und der Objektivität unabhängig voneinander zu denken« (ebd.:18; Herv. i.O.; dazu auch Gabriel 2017: 394f.). Sich der Materie jenseits einer Korrelation zuzuwenden, wie Meillassoux (2008) und andere – wie beispielsweise MacCormack (2020) – vorschlagen, und für einen buchstäblichen Posthumanismus in einer »Welt-ohne-Menschen« zu argumentieren, führt für Danowski und Viveiros de Castro den menschlichen Exeptionalismus erneut ein statt ihm zu entkommen und »erweist sich schlussendlich als vom menschlichen Standpunkt geradezu besessen« (Danowski/Viveiros de Castro 2019: 47). Für einen Überblick zum Anthropozän in den Geisteswissenschaften (jagodzinski 2018).
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Augen geführt wird. Das Anthropozän kennzeichnet dadurch auch den Verlust eines bestimmten Subjektstatus14 und zeigt auf, »dass unsere Welt aufhört, kantianisch zu sein« (ebd.:15) und – wie sich mit Morton hinzufügen lässt –, »dass wir ein Trauma durchmachen« (Morton 2019: 23). »Früher konnte man noch sagen, dass die Menschen ›auf der Erde‹ leben oder ›in der Natur‹, dass sie sich ›in der Neuzeit‹ befinden und als ›Menschen‹ mehr oder minder ›für ihre Taten verantwortliche‹ sind. Es ließ sich eine ›physische‹ und eine ›Humangeographie‹ unterscheiden, als handelte es sich um zwei übereinandergelagerte Schichten. Aber wie kann angegeben werden, wo wir uns befinden, wenn dieses Etwas, ›auf‹ oder ›in‹ dem wir sitzen, auf unsere Handlungen zu reagieren beginnt, zu uns zurückkommt, uns umschließt, uns beherrscht, etwas von uns verlangt und uns in seinem Lauf mitreißt?« (Latour 2019: 52; Herv. i.O.) Das Zerfallen mehrerer metaphysischen Maßstäbe, die mit einem homo faber Weltbildner einhergehen und an ihn gebunden sind (Bajhor 2020), bringt die Frage mit sich, welche Maßstäbe für ein ökologisches Leben erforderlich sind oder sein können; d.h. ein Leben, das nicht durch seinen Energieverbrauch und Ressourcenkonsum mehrere Erdplaneten erfordern würde (Global Footprint Network), sondern das Nachhaltigkeit als eine artenübergreifende und biosystemische Angelegenheit versteht und sich zugleich davon distanziert, Nachhaltigkeit als eine Zukunftsinvestition für eine Input/Output Strategie menschlicher Angelegenheiten anzusehen. Die erforderlichen Maßstäbe können kaum durch euklidische, chronologische und transzendentale Figurationen gekennzeichnet sein, denn derlei Maßstäbe gehören einer entpolitisierten Klimapolitik an, die mit ihren technizistischen Fortschritts- und Wachstumslogiken des globalen Geo-Engeneering oder der »Grünen« Revolution eine »Hyperzentrierung des Humanen« (Block 2020: 18) implementieren. Die neuen Maßstäbe können jedoch ebenso wenig durch eine anthropozäne Desubjektivierung konstituiert werden, weil sie sonst einer traumatische Fortschreibung der nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit und deren Zementierung als einer »Dezentrierung des Humanen« (ebd.) Vorschub leisten. Für eine politische Subjektivierung, die dazu beiträgt, Szenario (1) und (2) zu vermeiden, sind Bildungsprozesse erforderlich, die sowohl einer Hyperzentrierung 14
Nach Lovelocks und Margulis’ Gaia Theorie formen die lebenden und unbelebten Teile der Erde ein komplexes, interagierendes System, welches sich über ein Netzwerk aus Rückkopplungsschleifen reguliert und in einem Zustand der Homöostasis erhält (Lovelock/Margulis 1974). Der Planet Erde (Gaia) kann demnach als einzelner Organismus, als ein Lebewesen betrachtet werden. In einer kritischen Studie konnten zwei der sechs von Lovelock und Margulis angenommenen Gaia Hypthesen verifiziert werden (Tyrell 2013: 208), d.h. eine starke Gaia, in der die Biota regulativen Einfluss auf die Biosphäre nimmt, ist nicht haltbar; eine schwache Gaia, in der die Biota co-evolutiven Einfluss auf die Biosphäre nimmt, ist jedoch plausibel.
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als auch einer Dezentrierung entgegen wirken können.15 Chakrabarty schlägt zur Orientierung vor, an drei Menschenbilder anzuknüpfen, um einen Handlungsrahmen aufrecht erhalten zu können, der den erforderlichen Maßstäben gerecht werden kann (Chakrabarty 2012: 1f.): der Mensch als das Subjekt der Aufklärung, das auf die Menschenrechte zugreifen und sie aufrechterhalten kann; der Mensch als das postkoloniale postmoderne Subjekt, das durch die »differences of class, sexuality, gender, history, and so on« (ebd.: 2) gekennzeichnet ist; der Mensch als das Subjekt des Anthropozän, das als eine geologische Macht agiert und das planetare Klima für Jahrtausende ändert. Die multiperspektivische Skalierung der drei Menschenbilder ermöglicht es, die ersten beiden Bilder mit dem anthropos des Anthropozän in ein Verhältnis zu setzen, um trotz der erfahrungsfernen Daten, Berechnungen und Klimamodellen an Verantwortungsträger*innen und deren Handlungsmöglichkeiten festhalten zu können, um einer Dezentrierung entgegen zu wirken. Zugleich kann mittels der ersten beiden Menschenbilder auch eine technizistische Hyperzentrierung des Menschen kritisch hinterfragt werden. Die drei Menschenbilder sind aufeinander angewiesen, um Wirkmacht entfalten zu können.
Ontologien des Sinnlichen Eine Skalierung der Menschenbilder bringt drei Formen von Subjektivität mit sich, die vor scheinbar unlösbare Spannungen und Differenzen gestellt sind. Dennoch lässt sich durch sie ein Rahmen für mögliche Bildungsprozesse konstituieren, der in erster Linie dadurch gekennzeichnet ist, dass er unterschiedliche Formen von Subjektivität fassen kann. Es muss ein Rahmen sein, der es möglich macht, Formen der politischen Subjektivierungen abseits von De- und Hyperzentrierung zu denken. Die Subjekte der Aufklärung, der Postmoderne und des Anthropozän sind an unterschiedliche Modi der Existenz (Foucault 2005a: 882; 2005b: 905) und unterschiedliche Ordnungen von »Erfahrungsfeldern« (Rancière 2002: 48) gebunden. Aus den Modi der Existenz und den Erfahrungsfeldern lassen sich Seinsund Wahrnehmungsweisen ableiten, die alle Lebensformen betreffen und nicht ausschließlich an Subjekte gebunden sind.16 Seins- und Wahrnehmungsweisen 15
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Bajohr (2020) konstatiert eine nachvollziehbare Nähe zur Negativen Anthropologie des zwanzigsten Jahrhunderts: »Systematisch bezeichnet Negative Anthropologie jeden Ansatz, der es ablehnt, den Menschen über ihm wesentlich zukommende Merkmale zu definieren, ihn aber dennoch zum Zentrum des Interesses macht. Das unterscheidet ihn vom kritischen Posthumanismus – wo dieser sich den Menschen ganz vom Leibe halten will, hält ihn die Negative Anthropologie noch als Variable fest, die sich zwar nicht auflösen, aber auch nicht aus der Gleichung herausstreichen lässt.« (Ebd.: 11) Deleuze und Guattari verwenden in diesem Zusammenhang den präziseren Begriff des Anomals (Deleuze/Guattari 1992: 332). Ein Anomal ist mannigfaltig agierende Körpereinheit, die
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sind qualitative Modalitäten der Existenz und der Erfahrung, die nicht von den Verhältnissen der Welt, des Selbst und der Anderen abhängig sind17 , sondern einer Ontologie des Sinnlichen angehören, wie sie beispielsweise im ontologischen Realismus von Coccia (2020a, 2020b) oder Gabriel (2017) ausgearbeitet wird.18 Welt-, Anderen- und Selbstverhältnisse sind an einen problematischen Weltbegriff (Gabriel 2013), an ein Identitäts- und Differenzdenken des Anderen und an ein Subjekt gebunden. Diese Begriffe und dieses Denken sind mit dem problematischen Spannungsfeld von Dezentrierung und Hyperzentrierung verbunden. Seins- und Wahrnehmungsweisen sind umfassendere Modi. Subjekt, Geist oder die kognitive Realität sind lediglich besondere Modi von Seins- und Wahrnehmungsweisen. Seins- und Wahrnehmungsweisen sind nicht an eine bestimmte Spezies gebunden oder einer bestimmten Lebensform zugehörig. Die Modi der Existenz und Erfahrung werden als lokal gebundene unmittelbare
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keiner Ordnung angehört. Die Anormalität ist die Abweichung von einer Norm. Die Anomalie ist eine Abweichung als Abweichung. Als Abweichung bergen Anomale Potentialität. Ein Anomal ist weder auf eine bestimmte Spezies beschränkt noch einer bestimmten Lebensform zugehörig. Seins- und Wahrnehmungsweisen sind als qualitative Modalitäten auch durch qualitativ empirische Zugänge erfassbar. Ein möglicher Zugang ist die Kartografie (Beiler 2021). Coccia und Gabriel entwickeln in ganz unterschiedlichen Herangehensweisen Ontologien, die es ermöglichen, einen Korrelationismus zu verabschieden, der die gegenseitige Abhängigkeit der Sphären der Subjektivität und der Objektivität voraussetzt. Für Coccia erzeugen alle Lebewesen unentwegt Sinnliches. Der Ausganspunkt seiner Ontologie des Sinnlichen ist das Sinnenleben, das darauf beruht, dass sich Leben in Bildern – bzw. genauer: in Bilderströmen – zeigt. Das Sinnliche geht auf das Sein der Bilder zurück, die eine eigene Seinsgattung bilden (Coccia 2020a: 51). Es gibt ein Sinnenleben im Universum, weil es Bilder gibt, »die sich von jener [Gattung] der Dinge und der Seelen, des Psychischen und des Materiellen« (ebd.) unterscheiden. In gewisser Weise kehrt Coccia die Hierarchie zwischen Geist und Körper, zwischen Sinn und Sinnlichem um, ohne hierfür auf eine simple Dialektik zurückzugreifen (ebd.: 52). Er ist in dieser Hinsicht ganz Deleuzianer. Auch Gabriels »Sinnfeldontologien« (Gabriel 2017: 60) gehören zu einem Realismus, der kein allgemeines Prinzip in Anspruch nimmt, das alles organisiert (hierzu auch Gabriel 2013). Gabriel bindet das ›Sein‹ bzw. ›Existenz‹ an den Sinn, d.i. die Art und Weise, wie ein Gegenstand erscheint. Alles existiert dementsprechend nur, weil es in einem Sinnfeld erscheint. Sinnfelder sind Orte, an denen überhaupt etwas erscheinen kann. Die Sinnfeldontologie behauptet demnach, dass es nur dann etwas und nicht nichts gibt, wenn es ein Sinnfeld gibt, in dem etwas erscheint. So gibt es beispielsweise im Sinnfeld der ›Zeichentrickfilmwelt‹ Das letzte Einhorn (1981) ein Einhorn. Das Einhorn existiert nicht bloß aufgrund unserer Einbildungskraft oder nur so lange, wie Menschen sich das Einhorn einbilden: »Dass es ein solches Einhorn gibt, ist eine von unseren Einbildungen und Überzeugungen unabhängige Tatsache, wenn diese Tatsache auch damit zusammenhängt, dass es Kunstwerke gibt und damit Gegenstände, die wir produziert haben« (Gabriel 2017: 206). Sinnfelder und Bilderströme ›existieren‹ außerhalb der Sphären des Subjektiven und des Objektiven. Dieses (ortlose) Außen wird ausschließlich von unendlich vielen weiteren Sinnfeldern bzw. Bildern bevölkert.
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Beziehungen zu den Dingen und der eigenen Existenz verstanden. Dadurch sind die unterschiedlichen Lebensformen voneinander nicht durch wesenhafte Brüche oder Sprünge, sondern durch graduelle Übergänge der Intensität gekennzeichnet. Ontologien des Sinnlichen untersuchen den Existenzmodus des Sinnlichen, d.h. die Art und Weise, in der von allen Lebewesen unentwegt Sinnliches konstituiert und transformiert wird. Untersuchungen dieser Art setzen einen »epistemologischen Pluralismus« (Gabriel 2017: 439) voraus, der sich reduktionistischen Tendenzen eines mentalen Repräsentationalismus entgegenstellt. Es geht darum, »das Sein des Sinnlichen als unabhängig vom Sein des Subjekts, der Seele, zu begreifen« (Coccia 2020a: 52), jedoch nicht um einer Dezentrierung Vorschub zu leisten, sondern um eine Verbundenheit mit anderen Lebensformen und deren Produktionsformen des Sinnlichen Verbindungen zu ermöglichen. Um die Verbundenheit verinnerlichen und leben zu können, sind andere Seins- und Wahrnehmungsweisen erforderlich. Andere Seins- und Wahrnehmungsweisen erfordern Bildungsprozesse, die sich fremden Modi der Existenz und der Erfahrung öffnen. Der in cartesianischer Tradition fortbestehende Weigerung dem Sinnlichen Autonomie zuzuerkennen, ist auch die moderne Trennung von Natur und Kultur zu verdanken. Im Rückgriff auf Aristoteles argumentiert Coccia weiter: »Denn Natur bezeichnete weder das, was der Aktivität der menschlichen Vernunft vorausging, noch das Gegenteil von Kultur, sondern das, was alles Entstehen und Werden ermöglicht, das Prinzip und die Kraft, die verantwortlich sind für Genese und Transformation jeglichen Gegenstands, jeglicher Entität und Idee, die je existiert hat und existieren wird. […] Näher betrachtet ist die Natur das, was das Sein in der Welt ermöglicht, und umgekehrt ist alles, was ein Ding mit der Welt verbindet, Teil seiner Natur.« (Coccia 2020b: 31f.; Herv. i.O.) Natur (physis) ist in diesem Sinne eine Entstehungsweise und zugleich die Kraft, die dieser Entstehungsweise innewohnt. Sie ist kein losgelöstes Prinzip, sondern das, »was sich in allem, was ist, Ausdruck verschafft« (ebd.: 32). Das Sinnliche ist ein solcher Ausdruck, der im Zwischenraum (zwischen Subjekt und Objekt) konstituiert wird. Durch das Primat des Sinnlichen, d.h. »das Primat des Empfindbaren über die Empfindung, des Wahrgenommenen über die Wahrnehmung« (Coccia 2020a: 52), wird eine Umkehrung vorgenommen, die die Hyperzentrierung des Humanen außer Kraft setzen kann, um Kollaborationen mit anderen Lebensformen einzugehen. Formen der politischen Subjektivierung, die dem Primat des Sinnlichen gerecht werden können, arbeiten Haraway in Unruhig bleiben: die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän (2018) oder Tsing und andere in Arts of living on a damaged planet: Ghosts and monsters of the Anthropocene (2017) aus. Die kollaborative Praxis des »sich verwandt machen« (making kin) (ebd.: 9) sucht nach den Möglichkeiten, wie eine »multispecies ecojustice« (Haraway 2015: 161) etabliert werden kann und zielt
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aus diesem Grund auch weniger auf eine Kollektivierung, sondern mehr darauf, »eine Praxis des Lernens zu entwickeln, die es uns ermöglicht, in einer dichten Gegenwart und miteinander gut zu leben und zu sterben« (Haraway 2018: 9). Despret gibt in Was würden Tiere sagen, würden wir die richtigen Fragen stellen? (2019) einen Einblick, wie »sich verwandt machen« im Tierreich beginnen kann. Ein ökologisches Leben leben, das sich als eine artenübergreifende und biosystemische Angelegenheit versteht, muss sich auf die Suche nach Möglichkeiten der Kollaboration mit anderen Lebensformen in anderen Lebensräumen begeben, ohne den Menschen als das Maß aller Dinge zu verstehen. Das erfordert auch epistemologische Rahmenbedingungen, die eine von allen Lebensformen geteilte sinnliche Lebenswelt voraussetzen. Politische Subjektivierungen müssen sich dementsprechend auf Formen der kollaborativen Lebenspraxis ausrichten. Solche Neuausrichtungen stellen die gebräuchlichen Epistemologien in Frage und erfordern Bildungsprozesse, d.h. Transformationen der Seins- und Wahrnehmungsweise.
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Eine pädagogische Exploration zu Ethiken der Mensch-Tier-Beziehung im Anthropozän Oktay Bilgi
Einleitung Heidegger zu Folge hat jede Epoche (nur) eine Differenz zu bedenken (Irigaray 1991). In der geochronologischen Epoche des Anthropozäns, dem Zeitalter des Menschen, ist das unbestreitbar die ökologische Differenz. Folgt man Braidotti, dann leben wir in einer geochronologischen Epoche, die »durch die (negativen) Auswirkungen des menschlichen Handelns auf das Ökosystem der Erde gekennzeichnet ist. […] Die technologisch vermittelte Macht unserer Spezies und ihre tödlichen Folgen« (Braidotti 2016: 33) haben zu dauerhaften Veränderungen im Ökosystem geführt. Der Begriff des Anthropozän reflektiert dabei nicht nur die Auswirkungen der technologischen Evolution auf das Erdsystem. Er bietet ebenfalls ein sozialwissenschaftlich relevantes Konzept, um tradierte Geschichten des Menschen und seiner Bildung neu zu diskutieren (u.a. Taylor/Pacini-Ketchabaw 2019). Das Anthropozän evoziert epistemische Bruchstellen, die neue Narrationen der NaturMensch-Beziehung verlangen sowie unsere Verantwortung gegenüber der mehr als menschlichen Welt neu ordnen. Wie verändern diese Narrationen unser Verständnis von pädagogischer Geschichte und welche möglichen zukünftigen Entwicklungslinien können wir daraus ableiten? Der folgende Beitrag leistet mögliche Annährungen an diese Fragen. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht die Frage nach Möglichkeiten einer posthumanistischer Ethik. Wie können wir, nicht nur gut begründet, sondern wie Hans Jonas (1989) bereits forderte, die Menschen aufrüttelnd uns darüber verständigen, wer wir in Zukunft sein wollen und wie wir in Solidarität und Mitgefühl in einer mehr als menschlichen Welt leben möchten? Dazu wird in einem ersten Schritt (1) der Frage nachgegangen, was eigentlich damit gemeint ist, wenn im pädagogischen Diskurs von Natur die Rede ist. Problematisiert werden die anthropozentrischen Verengungen pädagogischer Naturkonzepte, die die Dualität von Kultur und Natur fortschreiben. Der zweite Teil (2) des Beitrags widmet sich pädagogisch-didaktischen Ansätzen zur Natur-Mensch-Beziehung, wie sie im kanadisch-australischen Forschungsnetzwerk des Common Worlds Research Collective im Kontext
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der frühen Kindheit entwickelt und erforscht werden. Wie kann das Menschliche am Schnittpunkt kulturell-natürlicher Welten neu verortet und der ethische Status des bisher Nicht-Menschlichem in pädagogischen Begegnungen ausgelotet werden? Ausgehend von exemplarischen Geschichten der Mensch-Tier-Beziehung werden so epistemologische, ontologische und ethische Bruchlinien markiert, die auf die Notwendigkeit eines posthumanistischen Verständnisses von Lernen hinweisen. Auf der Grundlage neomaterialistischer sowie phänomenologischer Perspektiven wird (3) ein abschließendes Verständnis frühkindlicher Bildung konturiert, in dessen Zentrum die ethische Frage nach einem guten Multispezies-Leben steht. Wie kann ein gedeihliches und gutes Leben für alle Arten in einer zunehmend komplexen, vernetzten, aber auch gefährdeten und beschädigten Welt aussehen? Welche Fähigkeiten und Tugenden sind zu entwickeln, damit neue Weisen des Sorgens-um und Lebens-mit in den Ruinen des Anthropozäns möglich werden können? (Haraway 2018: 55)
Natur als pädagogischer Topos Die Geschichte der Pädagogik, so Christoph Wulf, kann als eine Reihe kontinuierlicher Versuche begriffen werden, den Menschen zu vervollkommnen (Wulf 2020: 21). Für die Frage der Bildsamkeit des Menschen ist der Dual von Natur und Kultur konstitutiv. Der nachfolgende Abschnitt thematisiert aus einer historischen Perspektive pädagogische Rezeptionsweisen der Mensch-Natur-Beziehung, wie sie sich insbesondere in neuzeitlichen Konstellationen einer Pädagogik der Aufklärung (18 Jh.) sowie der pädagogischen Romantik (19. Jh.) herausgebildet haben. Gefragt wird nach der Verhältnisbestimmung von Natur und Kultur, die auf engste mit der Frage nach der Natur des Kindes (innere Natur) sowie zur Natur als Umwelt (äußere Natur) verbunden ist. Von Interesse sind vor allem die normativen sowie anthropologischen Bedeutungszuschreibungen, die den jeweiligen Verhältnisbestimmungen zugrunde gelegt sind.
Anthropozentrisch-instrumentelle Naturkonzepte (Kant) Folgt man Treml (2005), dann lassen sich in der Ideengeschichte der Pädagogik zwei dominante Rezeptionsweisen von Natur ausmachen, die entweder »Weg von der Natur« oder »Zurück zur Natur« bedeuten können (ebd.: 254). In der ersten Rezeptionslinie wird Natur zwar als »basale Voraussetzung« menschlichen Lebens gesehen, doch gilt sie gleichzeitig als wild und roh. Komplementär zur wissenschaftlich-technischen Beherrschung der äußeren Natur soll auch die innere Natur des Menschen mittels planvoller Erziehung kultiviert werden (ebd.). So entwirft etwa Kant die Vorstellung einer stufenförmigen Erziehung, die eine Überformung der
Eine pädagogische Exploration zu Ethiken der Mensch-Tier-Beziehung im Anthropozän
kindlichen Natur bewirken soll. Über die Erziehung schreibt Kant, dass diese selbst über viele »Generationen vervollkommnet« werden müsse. Denn jede »Generation, versehen mit den Kenntnissen der vorhergehenden, kann immer mehr eine Erziehung zu Stande bringen, die alle Naturanlagen des Menschen proportionierlich und zweckmäßig entwickelt, und so die ganze Menschengattung zu ihrer Bestimmung führt.« (Kant 1803/1997: 13) Während die anfängliche Wildheit und Rohheit des Kindes durch Disziplinierung unterdrückt, kanalisiert und überwunden werden soll, soll die Verfeinerung der Sitten, die Entfaltung der Vernunft und Moralität positiv bewirkt werden. Dabei bleibt die Verhältnisbestimmung von Natur und Kultur hoch ambivalent. Die (innere) Natur selbst strebt nach seiner Selbsttranszendenz auf die Kultur hin. Dem Menschen ist die Möglichkeit einer stufenförmigen Ausbildung und Entfaltung aller Anlagen zum willentlichen und freiheitlichen Gebrauch seiner Vernunft mitgegeben. Es ist also die naturgemäße Aufgabe des Menschen mittels Erziehung seine Bestimmung in der Geschichte selbst zu realisieren (Kant 1784/2004: 24). Erziehung wird zur Schneide, die die Sphäre des Menschlichen vom Nicht-menschlichen trennt Während Tiere ihre Kräfte schon immer richtig gebrauchten, sei der Mensch, so Kant, »das einzige Geschöpf, das erzogen werden mu[ss].« (Kant 1803/1997: 3) Die diesem Erziehungsverständnis zugrunde gelegte anthropologische Vorstellung des Menschen als zur Sprache und Vernunft fähiges Wesen begründet wiederum den Ausschluss von nicht-menschlichen Anderen aus dem sogenannten Sittengesetz. So spricht sich Kant zwar gegen das unnötige Quälen von Tieren aus, aber nicht weil er ihnen einen eigenen ethischen Wert zuschreibt, sondern allein deswegen, weil der Mensch ansonsten in moralischer Hinsicht verrohe. Der ethische Wert, der den Tieren zugebilligt wird, ist daher rein anthropozentrisch-instrumenteller Art, da er »immer nur Pflicht des Menschen gegen sich selbst« (Kant 1785/2016: 578) zum Ausdruck bringe. Laut Kant schulden wir den Tieren weder Achtung noch Pflichten, sie sind kein Zweck an sich, sondern nur Mittel für menschliche Zwecke.
Anthropozentrisch-eudämonische Naturkonzepte (Rousseau) Eine pädagogische Aufwertung des Naturbegriffs findet sich in Rousseaus Entwurf einer Naturkindheit. Der Rousseausche Naturbegriff funktioniert im Wesentlichen als Anti-These zum Fortschrittsglauben: dem Künstlichen der Kultur wird das Natürliche, dem Schein die Authentizität entgegengestellt. Das Kind wird durch »drei Arten von Lehrmeistern gebildet«, heißt es bei Rousseau (1762/2004: 109), und zwar von der »Natur oder den Menschen oder den Dingen« (ebd.). Soll Erziehung gelingen, soll der Mensch für sich selbst erzogen werden und nicht für andere, dann hat die Erziehung primär der Natur zu folgen. In der Erziehung nicht zu intellektualisieren, sondern am Beispiel konkreter sinnlicher Naturerfahrungen zu lernen, wird eine der maßgeblichen Aufgaben einer an der Natur des Kindes orientierten Erzie-
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hung. Die Vorstellung eines harmonischen Zusammenspiels zwischen der inneren und äußeren Natur bildet dabei den anthropologischen Ausgangspunkt der Rousseauschen Erziehungslehre. Als innere Natur des Menschen kennzeichnet Natur die Möglichkeit des Affiziert-Werdens, die sinnlich-konkreten Erfahrungen, das, was Rousseau als die »Neigungen […] aus der Natur« (ebd.: 354) benennt. Die äußere Natur hingegen stellt den »idealen Gegenstandsbereich kindlicher Anschauung« (Ewers 2016: 15) dar, da sie die natürliche Wahrnehmungsweise des Kindes vor jeder kulturellen Einwirkung nüchtern und realitätsnah anspreche. Nur am Beispiel der Natur als der großen Lehrmeisterin, so Rousseau, könne sich das Glück des Lebens verwirklichen. Indem die kindliche Anschauung sinnlich bei den natürlichen Phänomenen verbleibt, wird erzieherisch der Weg zu einem glücklichen, d.h. zu einem freien und genügsamen Leben vorbereitet, in dem der Mensch jenseits künstlicher Entfremdung sich ein Ganzes sein kann (Rousseau 1762/2004: 112). Zur Genügsamkeit zählt für Rousseau insbesondere der moralisch angemessene Umgang mit Tieren, den er in einer Erziehung zur vegetarischen Ernährungsweise und dem Tötungsverzicht von Tieren verwirklicht sieht. »Einer der Beweise dafür, da[ss] der Geschmack des Fleisches dem Menschen nicht natürlich ist, ist die Gleichgültigkeit der Kinder Fleischgerichten gegenüber und ihre Vorliebe für Nahrung pflanzlichen Ursprungs, wie zum Beispiel Milchspeisen, Gebäck, Obst usw. Es ist vor allem wichtig, diesen natürlichen Geschmack nicht zu verderben und die Kinder nicht vorzeitig zu Fleischessern zu machen, denn wie man auch diese Erfahrung erklären mag, es ist sicher, da[ss] große Fleischesser im allgemeinen grausamer und blutrünstiger sind als andere Menschen.« (Ebd.: 331) Die pädagogische Aufwertung des Naturbegriffs sowie Rousseaus Berücksichtigung der Leidensfähigkeit nicht-menschlicher Anderer sollte jedoch nicht über die anthropozentrischen Relikte hinwegtäuschen, die Rousseaus pädagogische Anthropologie durchziehen. Wie Rousseau in seiner »Abhandlung über die Ungleichheit« deutlich macht, kann der Mensch nur in Abgrenzung zum Tier gedacht werden. Während das Tier unfrei in die Anforderungen der Natur gestellt sei und nur seinen Instinkten folge, komme dem Menschen die Freiheit zu (Perfektibilität), seine Natur in der Geschichte zu vervollkommnen (Rousseau 1755/2008: 45). Auch hier fungiert Erziehung als die anthropologische Schneide, die das Menschliche vom Nicht-Menschlichen abtrennt und somit die Sonderstellung des Menschen gegenüber der Natur behauptet. Die Vorstellung einer naturgemäßen Erziehung räumt zwar der Natur und nicht-menschlichen Anderen einen besonderen Stellenwert ein, sie bleibt aber in wesentlichen Punkten an eine anthropozentrische Deutung des menschlichen Glücks rückgebunden.
Eine pädagogische Exploration zu Ethiken der Mensch-Tier-Beziehung im Anthropozän
Anthropozentrisch-theozentrische Naturkonzepte (Fröbel) Rousseaus Vorstellung einer Naturkindheit war wegweisend für romantische wie auch für reformpädagogische Vorstellungen einer Erziehung vom Kinde aus. Exemplarisch kann hier Fröbels Konzept einer sphärischen Lebenseinigung genannt werden. Ausgangpunkt bildet dabei die Annahme, der Gesamtheit aller Naturphänomene sei ein geistiges Prinzip, eine göttliche Kraft zugrunde gelegt. Schon in den ersten Worten der »Menschenerziehung« kommt Fröbels sphärisches Gesetz zum Ausdruck: »In allem ruht, wirkt und herrscht ein ewiges Gesetz« (Fröbel 1826/2011: 13). Alles strebt danach, das Innere äußerlich zu machen, das heißt sein göttliches Wesen darstellend zu entwickeln, aber auch die äußere Natur als jeweilige Äußerung Gottes zu erkennen.« (Fröbel 1826/2011: 13) Die (Wieder-)Herstellung der »Lebenseinigung« von Mensch, Natur und Gott soll durch die naturnahe Erziehung des Kindes möglich werden (ebd.: 507). Die sphärenphilosophische Auffassung der Mensch-Natur-Beziehung floss direkt in Fröbels Konzeption des Kindergartens ein. »Wie in einem Garten unter Gottes Schutz«, so Fröbel, sollen die »edelsten Gewächse – Menschen, Kinder – […] in Übereinstimmung mit sich, mit Gott und Natur« unter der »Sorgfalt erfahrener, einsichtiger Gärtner[*innen] im Einklang mit der Natur« (Fröbel 1840/1982: 155) gepflegt und erzogen werden. Ein wesentliches Lern- und Erfahrungsfeld stellt dabei die Gartenarbeit dar. Durch die gemeinsame Gartenpflege sollen Kinder die allgemeinen biologischen Gesetzmäßigkeiten sowie die Einheit von Mensch und Natur lernen (Berger 2000: 19). Auch wenn in diesen Konzeptionen der Natur vermittelt über ihren scheinbar göttlichen Ursprung, ein eigener Wert zugesprochen wird, kommt auch diese Deutung nicht ohne anthropozentrische Vorurteile aus. Wie Richter zur historischen Genese romantischer Kindheitsbilder feststellt, wird auch in diesen nur eine »in spezifischer Weise gestutzte« Vorstellung von Natur präferiert, und zwar »die edle, gepflegte Natur […]. Die Romantik beharrt, gegen die Zivilisation, auf Natürlichkeit, die sie bestimmt, indem sie die Unnatur ausgrenzt.« (Richter 1987: 259) Die pädagogische Bedeutung der Natur liegt allein in Veredlung des Menschen als oberstem Zweck der Schöpfung.
Mensch-Natur-Beziehung revisited! Die hier diskutierten pädagogischen Ansätze skizzieren in exemplarischer Weise historische Konstellationen der Mensch-Natur-Beziehung, wie sie sich insbesondere seit dem 18. Jahrhundert entwickeln, im 20. Jahrhundert in reformpädagogische Ansätze eingeflossen und bis heute in umwelt- und naturbezogenen Ansätzen wirkmächtig geblieben sind. Dabei bleibt die Bezugnahme auf das Verhältnis
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von Kultur und Natur ambivalent. Pädagogische Geschichten der Mensch-NaturBeziehung sind Geschichten eines beinahe gottähnlichen Anthropos. Auch da, wo es scheinbar um die Natur geht, sind die anthropozentrischen Interessenbekundungen offenbar. So wird Natur entweder unter der Devise ihrer Mach- und Verwertbarkeit durch den Menschen betrachtet oder als Unnatur aus der Sphäre des Menschlichen ausgegrenzt. Bereits Bollnow kritisierte in den 1980er Jahren, dass es weder in der Geschichte noch in den aktuellen Diskussionen der Pädagogik überzeugende pädagogische Ansätze gäbe, die jenseits anthropozentrischer Verengungen den Eigenwert der Natur fokussiert hätten (Bollnow 1988: 65). Wie jüngst Wulf eindringlich betont, ist die Frage, wie »wir den Menschen und seine Bildung am Beginn des Anthropozän verstehen, […] eine historisch und kulturell neue Frage«, die bisher keineswegs geklärt ist, aber »von deren Beantwortung die Zukunft des Menschen und des Planeten abhängt«. (Wulf 2020: 9) Autor*innen im Kontext des New Materialism, wie Haraway (2016), Barad (2017) oder Braidotti (2018) haben versucht, Begrifflichkeiten zu entwickeln, um Antworten auf diese neuen Herausforderungen zu finden. Die gemeinsame Ausgangsbasis dieser unterschiedlichen und nicht abgeschlossenen Theorieversuche lässt sich in einer grundlegenden Kritik gegenüber sozialkonstruktivistischen, repräsentationalistischen, linguistischen, semiotischen, kulturellen und praxistheoretischen Ansätzen und ihrer epistemologischen und subjektzentrierten Vereinseitigung auf wissenschaftstheoretischer Ebene ausmachen (Folkers 2013: 18f.). Ansätze des New Materialism bemühen sich um post-anthropozentrische Verhältnisbestimmungen von epistemologischen Begrifflichkeiten, ontologischen Reflexionen sowie ethischen Orientierungspunkten. Dazu werden disziplinäre (Natur- und Geisteswissenschaften) sowie epistemologische Grenzen (Realismus und Konstruktivismus) gezielt mit Blick auf eine Neukonfiguration dualistischer Konzepte (Mensch vs. Tier/Natur vs. Kultur) überschritten. Folgt man etwa Latour (2007), dann können gemeinsame Wirklichkeiten als (Tat-)Sache von Belang (matters of concern) betrachtet werden. Wie kann die Vielfalt von Beziehungen und Orten des gemeinsamen Werdens jenseits von Faktizitätsunterstellungen (matters of fact) und (de-)konstruktivistischen Relativierungen (Latour 2007: 35) zum Gegenstand mehr als menschlicher Sorge werden (matters of care) (De la Bellacasa 2017)? Was hier als Faktizität begriffen wird, ist nicht die Unterstellung einer essentialistischen Substanzialität, sondern ein posthumanes Verständnis von weltlicher Verwobenheit sowie eines relationalen Werdens. Dabei werden die Grundprämissen differenztheoretischer sowie poststrukturalistischer Ansätze anerkannt und zugleich mit Blick auf die Beziehung von Mensch, Ding, Materie und Körper weitergedacht. Demnach bieten Ansätze des New Materialism ebenso produktive Anschlussmöglichkeiten für eine systematische Schärfung und Neuinterpretation pädagogisch-anthropologischer Begriffe wie Vitalität, Verletzlichkeit, Angewiesenheit oder Sorge.
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Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen steht die Frage, ob sich tradierte Relikte anthropozentrischer Denkstrukturen so verändern lassen, dass wir erfinderische Weisen des gemeinsamen Lebens und Lernens (matters of concern) entwickeln können, durch die wir zu mehr als menschlichen Geschichten von kollaborativen Leben-mit und Sorgen-um (matters of care) in gefährdeten und zerstörten Welten kommen. Wie Haraway es formuliert, gilt es eine »Praxis des Lernens zu entwickeln, die es uns ermöglicht, in einer dichten Gegenwart und miteinander gut zu leben und zu sterben« (Haraway 2018: 9). Gefragt wird nach neuen Formen von Beziehungen und Kollaborationen, nach Praktiken des Verwandtmachens und ethischer Fürsorge jenseits anthropozentrischer Dualismen von Natur und Kultur sowie vom Menschlichen und Nicht-Menschlichen.
Common Worlds Research Collective In dem kanadisch-australischen Forschungsnetzwerk »Common Worlds Research Collective« (https://commonworlds.net) werden diese Impulse zum Anlass genommen, um neue Möglichkeiten der Mensch-Natur-Beziehung forscherisch und konzeptionell für eine Pädagogik im Anthropozän auszuloten (Taylor/PaciniKetchabaw 2019). Mit der Verschiebung der Perspektive von humanistischen Annahmen eines sich selbstbildenden oder ko-konstruierenden Kindes hin zu mehr als menschlichen Kollaborationen wird auch ein pädagogischer Wandel in der Konzeption des Lernens vorausgesetzt. Es geht nicht darum, allein ein Wissen über die Natur zu gewinnen, genauso wenig, wie es lediglich um ästhetische oder spielerische Naturerfahrungen geht. Common-Worlds-Ansätze nehmen ein Lernen innerhalb miteinander verwobenen Lebenswelten in den Blick, ein Lernen mit neuen ethischen Möglichkeiten durch das, was in diesen Welten bereits geschieht (Taylor/Blaise/Giugni 2012). Diese miteinanderverbundenen Orte des Lernens werden nicht künstlich hergestellt, nach ihren förderlichen Qualitäten oder Nutzen für Kinderausgewählt, wie Moss (2019) anmerkt, sondern sie werden einbezogen, weil es sich um Orte des gemeinsamen Werdens handelt (ebd.: 182). Diese Orte sind nicht die romantisierten Enklaven eines Rousseaus. Sie sind keine Orte der Unschuld und Reinheit, sondern gefährdete und geschädigte Orte, die durch Macht, Abhängigkeit, Tod, aber ebenso durch geteilte Verletzbarkeit, Mitgefühl und Engagement gekennzeichnet sind. Wie können diese Orte Gegenstand der Sorge werden und welche Fähigkeiten und Dispositionen brauchen wir, um diese Orte zu schützen, sie zu responsablen Orten für ein gedeihliches Multi-Spezies-Leben zu machen? Machen meint hier nicht die heroische Tat des Menschen, sondern die beständige Suche nach und die Responsibilität gegenüber unfertigen »Lebenslinien« und verbindenden »Praktiken« für ein verwickeltes Leben in Zeiten der Zerstörung und des Aussterbens (Haraway 2018: 56).
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Common-World-Pädagogik Im Folgenden werden zwei pädagogisch-didaktische Ansätze im Kontext der Common-World-Diskussionen vorgestellt. Die geläufige Vorstellung eines autonomen und wissbegierigen Kindes wird dabei in Richtung eines vielschichtigen und komplexen Lernens zwischen Erwachsenen, Kindern, Tieren und Pflanzen überschritten. Es geht darum zu verstehen, welche bedeutsamen Wirklichkeiten in diesen Begegnungen hervorgebracht werden, welche ethischen Aufgaben sich stellen und wie ein Lernen in einer mehr als menschlichen Welt pädagogisch gestaltet werden kann.
Companion Species Curriculum Als erstes Beispiel kann hier das »Companion Species Curriculum« genannt werden, wie es von der australischen Kindheitsforscherin Miriam Giugni exemplarisch an einer Kindertagesrichtung in Sydney illustriert wird. Anlass für die Entwicklung dieses Curriculums waren die Auseinandersetzungen der Erzieher*innen und Kinder mit Problemen, die sich aus dem Zusammentreffen mit Hühnern in der Einrichtung ergaben. Es wird zunächst von der gängigen Praxis des Hühnerverleihs für die Umsetzung von Umweltlehrplänen in frühkindlichen Bildungseinrichtungen berichtet (Tayler/Blaise/Giugni 2012: 9). Als die Hühner schließlich in Käfigen in der Einrichtung eintrafen, entzündete sich unter den Beteiligten eine rege Diskussion darüber, ob die Hühner weiterhin eingesperrt bleiben sollten oder ob es nicht das Recht der Hühner sei, frei in der Einrichtung herumzulaufen. So wurde beschlossen, sich auf eine experimentelle Praxis des gemeinsamen Verwandtmachens einzulassen, um zu verstehen, wie eine Pädagogik und Ethik der »Hühner-Kind-Beziehung« erforscht und gestaltet werden kann. Probleme, die sich aus dem Zusammenleben mit Hühnern ergaben (so nisteten sich die Hühner u.a. in die Taschen/Kisten der Kinder ein und hinterließen überall ihren Kot), wurden zum Anlass genommen, die Möglichkeiten des Lernens mit anderen zu erschließen (ebd.: 11). Das »Companion Species Curriculum« hebt die Möglichkeit hervor, nicht-menschliche Andere als Gefährt*innen zu betrachten, mit denen wir in erfinderischer Weise gemeinsam leben und lernen. Nicht nur waren Erwachsene und Kinder aufgefordert, angemessene Antworten auf die Herausforderungen des Zusammenlebens mit den Hühnern zu finden, sondern auch die Hühner mussten Wege finden, auf die Routinen, Räumlichkeiten, den Menschen und Pflanzen in der Tageseinrichtung zu antworten und leisteten damit einen wichtigen Beitrag zum Entstehen von Orten der Mensch-Huhn-Beziehungen. Das Beispiel des »Companion Species Curriculum« erzählt uns eine pädagogisch bedeutsame Geschichte über »Beziehungen in signifikanter Andersartigkeit«, wie »wir als Gefährt*innen […] mit vielen Spezies gut zusammenleben« und lernen können (Haraway 2016:
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31). Wie die Wissenschaftsphilosophin Despret (2016) sagen würde, geht es dabei nicht darum, zu lernen, wie eine andere Spezies die Welt sieht. Vielmehr geht es um die Achtsamkeit dafür, welche Welten durch den Anderen ausgedrückt werden und welche bedeutsamen Lebenslinien entstehen (ebd.: 170).
Pädagogik des Ortes: Becoming-frog In einem weiteren Beispiel, das Margaret Somerville (2011) als Pädagogik des Frosch-Werdens bezeichnet, wird über Grundschulkinder in Latrobe Valley berichtet, die in einem Bergbaugebiet in Australien in nahegelegenen hochindustriellen Feuchtgebieten (Morwell River Wetlands) vielfältige Beziehungen zu Fröschen entwickelten. Neben einer forscherischen Erkundung des Ortes im Rahmen eines Wasserschutzprogramms (Waterwatch Victoria), entwickelten die Kinder durch die unmittelbare Begegnung mit den Fröschen eine verkörperte Beziehung zu ihnen, die mit Somerville als ein Eintauchen in die Froschwelt verstanden werden kann (Somerville 2011: 69). Der pädagogische Ort des Froschwerdens umfasst das Feuchtgebiet, die Laute der Frösche, das Mondlicht sowie die Körper der Kinder und Erwachsenen, die den Ort des Froschwerdens bewohnten. Ausgehend von diesen Erfahrungen inszenierten die Kinder später im Klassenzimmer ein Musikstück, das ausschließlich aus Froschlauten und -tänzen bestand. Somerville fasst ihre Beobachtungen wie folgt zusammen: »There on the interactive screen, the children came to life as frogs, dancing their frog dance to music made entirely of frog calls. The children get to know the frogs in the wetlands. They learn how frogs live and move, and the sounds of the distinctive calls of each species. The classroom, cleared of clutter becomes the space of the wetlands. Children dance to frog calls, moving frog limbs, fingers splayed, jumping, leap frogging, becoming-frog to frog music.« (Ebd: 67) Somerville betont, dass Kinder nicht bloß die Bewegungen oder Geräusche der Frösche nachahmen, sondern sie spricht von einer spürbaren Ausdehnung des Selbst-ins-Andere (ebd.: 78), die durch die verkörperten Erfahrungen mit dem Ort und den Fröschen getragen wird. »It is only through knowing a place in those thousands of intimate moments that we can learn to love a place and have the knowledge to be able to take care of it.« (Ebd.: 75) Erst im Phänomen der gegenseitigen Berührung von Körpern, konstituieren sich Körper als Teile anderer, mehr als menschlicher Körper. Durch die Berührung des Anderen werden wir andere, wir bewegen unsere Körper anders, bekommen eine andere Aufmerksamkeit, denken bestimmte Gedanken, fühlen bestimmte Gefühle. Wir müssen in gewisser Weise zu Fröschen, zu Hühnern, zu Teichen und Orten werden, um durch das Andere Menschen zu werden. Wir müssen, um zu verstehen, was Bildung, Erziehung und Sorge in den Ruinen des Anthropozäns bedeuten kann, die Vorstellung von Sub-
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jektivität und Gemeinschaft in diesen größeren Kreislauf des Lebendigen stellen (Bennett 2020). Die vorgestellten pädagogischen Ansätze beschreiben experimentelle Praktiken, um neue Formen des Lernens und Menschseins im Anthropozän zu erproben. Dem (sozial-)konstruktivistischen Paradigma eines sich selbstbildenden oder ko-konstruktiven Kindes wird das Bild eines untrennbaren, verwobenen Lebens und Handelns gegenübergestellt. Damit geht aber auch die Erkenntnis einher, dass mehr als menschliche Welten durch Ungleichheiten, Machtgefälle und Verletzbarkeiten gekennzeichnet sind. Wie kann sichergestellt werden, dass symbiotisches Verwandtmachen nichts anderes ist als ein verkappter Anthropozentrismus, der lediglich um Partikularinteressen des Menschen kreist? Für wen und auf wessen Kosten können Formen des Verwandtmachens verwirklicht werden? Und wem gegenüber sind wir dabei inwiefern verantwortlich? Eine Pädagogik des gemeinsamen Werdens ist voller Dilemmata und ohne die beständige Suche nach ethischen Wegen eines gedeihlichen Zusammenlebens nicht zu haben. Verwandtmachen heißt das nicht entscheidende Differenzen zu nivellieren, sich das Andere anzueignen, sondern das Besondere eines Lebens versuchen zu verstehen, nachzuvollziehen, ihm nachzuspüren. Verwandtmachen heißt, Sorge für »Arten-alsGefüge« und nicht alleine für eine bestimmte Spezies zu tragen (Haraway 2018: 142).
Welche Ethik(en) für das Anthropozän? Abschließend möchte ich einige Gedanken zu einer möglichen pädagogischen Ethik der weltlichen Verwobenheit diskutieren (Hoppe 2017). Im Zentrum steht eine posthumanistische »Reformulierung des Verantwortungsbegriffs«, die weder den Menschen als souveränes Subjekt noch abstrakte moralische Prinzipien voraussetzt (ebd.:12). Verantwortung heißt dann eben nicht bestimmte vordefinierte Normen zu übernehmen und diese zum Maßstab unseres Denkens, Fühlens und Handelns zu machen. Vielmehr stellt sich die Frage, was es heißt, auf die vielfältigen Anforderungen der Welt zu antworten, auf das, was noch im Werden ist. Können uns nicht-menschliche Wesen zum Mitgefühl auffordern und verlangen sie eine Antwort von uns, indem sie die Grenzen unseres anthropozentrischen Welt- und Selbstverständnisses aufzeigen? Dies sind zentrale Fragen, die in neomaterialistischen Ansätzen mit Blick auf relationale und prozesshafte Ontologien weitergedacht werden. Die Tatsache, dass wir immer schon mit anderen in Beziehung stehen, heißt auch, teilzuhaben an der Rekonfiguration einer gemeinsamen Welt, die stets im Begriff ist sich zu erneuern. Zu jedem Zeitpunkt gibt es Einschnitte in das, was möglich ist, wirklich zu werden und Bedeutung zu erlangen, und in jedem Augenblick sind wir als Teil dieses Werden aufgefordert,
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eine ethische Antwort auf das Neuentstehende zu finden und Verantwortung ihm gegenüber wahrzunehmen (Barad 2017). Haraway kreiert hierzu den Begriff des »Chthuluzän«, ein »Zeitort des Lernens«, des Anfangens, der »voller Erbschaften […], voller Erinnerungen, aber auch voll mit Kommendem [ist], mit der Förderung dessen, was noch sein könnte.« (Haraway 2018: 10) Das Chthuluzän erfordert Orte des ethischen Experimentierens, des Kompostierens von Geschichten, Werten und Begriffen, um offen zu bleiben für Fragen, was ein post-anthropozentrisches, gutes Leben auszeichnet. Neo-Materialistische Analysen zur ethischen Neukonzeptionalisierung des Menschlichen überschneiden sich in wesentlichen Punkten mit der Kritik der feministischen Care-Debatte sowie dem recht jungen Forschungsfeld der HumanAnimal Studies, die ebenfalls die »Geringschätzung der Gefühle und Körperlichkeit« (Sezgin 2016: 431) zu Gunsten einer abstrakten Vorstellung einer intelligiblen Art von Rationalität in moralphilosophischen Bestimmungen des Menschlichen anprangern. Gerade diese körperlich-affektive Faktizität alles Lebenden und Sterbenden bietet den fruchtbaren Boden, um uns über ethische Praxen zu verständigen, die tradierte Grenzen zwischen dem Menschlichen und dem NichtMenschlichen relativieren. Eine solche artenübergreifende ethische Praxis sieht Sezgin in der Fürsorge: »Wir können Fürsorge geben oder bedürfen ihrer. Ebenso wie wir Menschenkinder werden auch die allermeisten Tierkinder erst durch Fürsorge befähigt, zu leben und aufzuwachsen; und bei fast allen Tierarten verrichten (viele) erwachsene Tiere das, was auch (viele) menschliche Eltern tun. Unzählige verhaltensbiologische Befunde belegen, dass auch andere Spezies Empathie empfinden und ›Altruismus‹ beweisen.« (Ebd.: 449) Auch Nodding fordert, dass eine Ethik der Fürsorge unsere Beziehungen zu Tieren miteinbeziehen muss. Eine Ethik der Fürsorge ist für Nodding vor allem im Gefühl verankert. So können wir etwa im Mitgefühl für das Leiden von nicht-menschlichen Anderen die Grenzen zwischen den Arten überschreiten und die moralische Verpflichtung eingehen, uns gegen das Leiden des Anderen zu engagieren (Nodding 2013: 150). In artenübergreifenden Begegnungen erleben wir Gefühle, die uns aus unseren ethischen Erfahrungen vertraut sind. Welche Bedeutung wir diesen Gefühlen zuweisen und welche Haltung wir ihnen gegenüber einnehmen kann stark variieren. In-Beziehung-Sein ist eine ontologische Ausgangssituation, aus der zunächst keine ethische Notwendigkeit abgeleitet werden kann. Josephine Donovan (2019) betont in ihrer care-ethischen Erweiterung der klassischen Mitleidethik, dass die Erfahrung des Mitgefühls sowohl eine emotionale als auch eine intellektuelle Leistung darstellt (ebd.: 106). Eine Ethik des Mitgefühls, die einen allgemeinen Anspruch erhebt, tendiert daher zu einer Form der Tugendethik (Wolf 2019: 18). Können wir Mitgefühl und Fürsorge als Tugenden auffassen, die der ethi-
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schen Aufgabe gewachsen sind, in den Ruinen des Anthropozäns vielfältige und erfinderische Lebenslinien aufzuspüren? Eine mögliche Antwort auf diese Frage scheint mir Alasdair MacIntyre in seinem tugendethischen Spätwerk zu bieten. Nach MacInytre ist die moralphilosophische Grenzziehung zwischen dem Menschen als freies, rationales Wesen und dem instinktgesteuerten Tier nicht haltbar. Denn auch Tiere sind, wie MacIntytre das am Beispiel von Delfinen und Schimpansen deutlich macht, durchaus in der Lage, rationale Leistungen der Handlungsbegründung zu vollziehen (MacIntyre 2001: 73). Zugleich bleibt auch der Mensch ein Leben lang in grundlegender Weise durch seine Körperlichkeit und Verletzlichkeit (Säugling, Krankheit, Alter) auf die Fürsorge anderer angewiesen (ebd.: 114). Delfine, Schimpansen und Menschen teilen sich die Geschichte eines tierischen Werdens. Eine Geschichte der Verflechtungen und Beziehungen, des Gedeihens mit Hilfe von Anderen. In dem wir an menschlich-tierischen Netzwerken des »Gebens und Nehmens« teilnehmen, können wir wichtige Güter des Gedeihens (körperliche Unversehrtheit, Nahrung, Freundschaft, Vertrauen und Glück) in Gemeinschaft und Zusammenarbeit realisieren (ebd.: 74). Durchaus hat ein Mensch andere Bedingungen um zu gedeihen, als ein Delfin, ein Vogel oder eine Pflanze, aber in Netzwerken des gegenseitigen, aber nicht immer reziproken Gebens und Nehmens können wir in Ko-Existenz Bedingungen und Voraussetzungen einer gedeihlichen Umwelt für eine Vielzahl von Arten schaffen. Muster des Gebens und Nehmens brauchen nicht nur kalkulierende Analysen, nicht nur Aushandlung und Maßhaltung, sondern auch ein Engagement des Herzens. Wie Reichenbach betont, verbinden uns Gefühle viel stärker »mit der Welt und drücken aus, was wir an und in ihr als bedeutsam und wichtig […] erachten.« (Reichenbach 2018: 148) Gefühle, wie etwa das Mitgefühl an dem Leid oder der Freude des Anderen, sind profunde Weisen uns mit Anderen verwandt zu machen. Wie die hier vorgestellten Ansätze einer Common-World-Pädagogik deutlich machen, kommt es im Wesentlichen darauf an, relationale Dispositionen und Fähigkeiten zu entwickeln, um dem Lebensstrom des Anderen nachzuspüren und Gefühle der Verbundenheit und Zusammengehörigkeit zu stiften. Es geht hier nicht um bloße Sentimentalität. »Gefühl, das nicht von Vernunft geleitet ist, wird zur Sentimentalität, und das ist ein Anzeichen für moralisches Versagen« (MacIntyre 2001: 142). Aufmerksamkeit und Responsibilität zu kultivieren heißt nicht, sich seinen persönlichen Gefühlen hinzugeben, sondern entgegen der
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»alltäglichen Gedankenlosigkeit«1 (Haraway 2018: 55) Bedingungen zu schaffen, damit die Welt(en) selbst zum Gegenstand der Sorge werden kann. Im Anschluss an Thomas von Aquin plädiert MacIntyre für eine Tugend der misericordia, eine umfassende Fürsorge und gefühlsvolle Teilnahme an Leid und Freud des anderen über die Grenzen der eigenen Gemeinschaft hinaus. »Die Tugend der misericordia auf andere zu richten, bedeutet, seine Gemeinschaftsbeziehungen so auszuweiten, da[ss] sie jene anderen mit in die Beziehung hineinzieht. Von nun an stehen wir unter dem Gebot, uns um sie zu kümmern und uns Gedanken über das für sie Gute zu machen, wie wir es schon für andere innerhalb unserer Gemeinschaft tun«. (MacIntyre 2001: 149; Herv.. i.O.) Auf dem Weg zu einer mehr als menschlichen Welt braucht es etwas, was als kosmopolitische Bildung von Herzenstugenden bezeichnet werden kann. Sie kann mit aktuellen Ansätzen einer konstruktivistischen und kompetenzorientierten Bildung nicht angemessen erfasst werden. Vielmehr gleicht sie einer engagierten »Sorge und Anstrengung […], einer Suche nach dem jeweiligen angemessenen Ausdruck und der richtigen Haltung« (Reichenbach 2018: 189). Bildung hätte dann vor allem einen ethischen Auftrag, und zwar gegenwärtige und zukünftige Generationen zu befähigen, überhaupt dieses Herz in Namen eines mehr als menschlichen Lebens zu suchen, in einem Leben dichter Gegenwart, in der wir gut miteinander leben und sterben. Dies scheint mir der treffende Punkt der konzeptionellen und ethischen Herausforderungen einer Pädagogik im Anthropozän zu sein.
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So bleiben doch die wesentlichen Ursachen und Folgen der Umweltzerstörung, des Leidens und Sterbens vieler Arten für eine Vielzahl von Menschen unsichtbar. Dem jährlichen Schlachten von 65 Milliarden nicht-menschlichen Wesen (sogenannte Nutztiere) weltweit und den Folgen der Massentierhaltung auf das gesamte Ökosystem wird kaum öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt. Das Leiden und Sterben finden in abgelegenen Orten der Unsichtbarkeit statt, in hochtechnisierten Anlagen der Tötung, die verhindern, dass wir ein Mitgefühl für das Leiden und Sterben anderer entwickeln können. Welchen Preis müssen andere und wir für unsere Gedankenlosigkeit bezahlen? Was heißt Verantwortung übernehmen in einer Situation, die durch Praxen des Unsichtbarmachens von Leid, Tod und Zerstörung gekennzeichnet ist?
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Oktay Bilgi
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Menschlichkeit heißt Fruchtbarkeit Eine Revision des Naturzustandes Andreas Weber
Einleitung1 Unsere Epoche hört auf den modischen Namen Anthropozän. Damit meinen viele, dass im gegenwärtigen Zeitalter des Menschen die Spuren der Kultur jedes Stück Natur durchdrungen und verformt haben. Die alten Trennungen gelten nicht mehr. Vielleicht, weil der Mensch deren Prinzipien respektlos zerstört hat. Vielleicht aber auch, weil sie nie stimmten. Natur dort, Mensch hier – diese Gegenüberstellung erscheint zunehmend absurd. Damit stehen auch andere liebgewordene Aufteilungen in Frage: Der technisierte Mensch als Zerstörer, den es im Zaum zu halten gilt, hier, dort der naturverbundene Mensch als Bewahrer einer selbstorganiserenden Harmonie. Was davon ist wahr? Vieles ist in unseren Zeiten ins Rutschen gekommen. Eins allein wird im derzeitigen Wirrwarr immer deutlicher: Die Welt sortiert sich anders, als die Mehrheit der gängigen Meinungen es bislang angenommen hat. Sowohl die Natur der Natur als auch die des Menschen sind etwas, das wir noch zu entdecken haben.
Jenseits der natürlichen Harmonie Wer sich auf die Suche machen möchte, fängt am Besten mit der Natur an. Nicht, um dort die ewigen Gesetze ökologischer Ordnung und evolutionärer Effizienz zu finden. Sondern um eine unbändige Lust an Anarchie und Egalität zu entdecken, die wir Menschen uns mit Verweis auf die Natur gern aberziehen. Aber Natur ist nicht das, was letztgültige Ordnungen produziert, ewige Gleichgewichte, die wir bewahren sollten. Sie ist das, was nach gegenseitiger Durchdringung begehrt, de-
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Ich danke Oktay Bilgi für Geduld und Ansporn bei der Entstehung des Textes. Einige der Gedanken dieses Kapitels erschienen in verwandter Form bereits in der Zeitschrift OYA sowie in meinen Büchern Indigenialität, Sharing Life und Essbar sein.
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ren Ergebnis stets ungewiss ist, und die nicht einem Ziel, sondern immer nur einem Bedürfnis folgt: tiefere Fruchtbarkeit in Gegenseitigkeit. Um das zu studieren, reicht eine kleine Wanderung in einem bescheidenen Berliner Wäldchen. Der Schanzenwald im Westen Charlottenburgs war lange dem Zugriff der pflegenden Forstbehörden entzogen. Zwischen den überwachsenen Erdwällen übten einst Soldaten das Schießen. Bis vor wenigen Jahren trainierten im mehrere Hektar großen innerstädtischen Sperrgebiet Polizisten den Waffengebrauch. Keine Förster*in kontrollierte, was hier anwuchs. Obstgehölze und Kiefern vermitteln Gartenanmutung und einen Hauch von Urwald zugleich. Dazwischen im Frühjahr eine Explosion weißer Blüten: Neben Kastanienkronen die duftenden Wellen der Akaziendolden, die parfümierten Kerzen der Traubenkirsche. Beide Baumarten, die zu Beginn der Vegetationsperiode den Wald mit ihren Blüten dominieren, sind in den letzten hundert Jahren nach Deutschland eingewandert. Die Gehölzspezies sind eigentlich auf der anderen Seite des Atlantiks heimisch. Die blühenden Bäume verströmen einen Duft, den es in Deutschland noch nicht zu riechen gab, als die Dichter Goethe und Mörike ihre Frühlingslyrik schrieben. Im Schanzenwald hat sich eine neue Wildnis zusammengesetzt, die keinem Plan von Biolog*innen oder Naturschützer*innen entspricht, und die doch die anderen Berliner Wälder im Hinblick auf Vielfalt vielerorts übertrifft. Jede geographische Region habe ihre typische »Klimax-Gesellschaft«, hatte der US-Ökologe Eugene Odum (1959) behauptet und damit die Denkrichtung des Faches für die folgenden Dekaden geprägt. Als Klimax-Typen gelten für die jeweiligen Witterungs- und Bodenverhältnisse optimale Artengesellschaften. Nach dieser Auffassung gibt es »die richtige« Natur mit ihrem genau richtigen Besatz an Pflanzen, Pflanzenfressern und Raubtieren. Umweltschützer versuchen seitdem, diesen vorgeblichen Gleichgewichtszustand je nach geographischer Lage zu bewahren: Den Buchenwald in Deutschland, die Bisonsavanne in Nordamerika. Heute, in der Zeit des Anthropozän, beginnt sich freilich zu zeigen: Es könnte an jedem Standort unzählige Typen von guter Wildnis geben. Sie organisieren sich selbst aus dem, was da ist. Ökosysteme streben offenbar gar nicht so geradlinig auf Gleichgewichte zu, wie der ökologische Mainstream im Gefolge von Odum für gesichert hielt. Vielmehr sind sie darauf aus, immer neue Rezepte des Zusammenlebens auszuprobieren. Die Biosphäre macht wie eine kreative Köchin das Beste aus dem, was sie vorfindet. Es zeigt sich, dass die Ordnung der Biosphäre mehr mit Glück und Zufall zu tun hat als mit Passung und Optimierung. Natur ist in vieler Hinsicht experimentierfreudiger als der Mensch, der sie bewahren will. Die Ordnung, die der Mensch über die Biosphäre legt, wird von dieser immer wieder gesprengt. Und gerade diese Unbotmäßigkeit könnte eine zentrale Naturkraft sein (Pearce 2015). Radikal innovativ und traditionell muss dabei kein Widerspruch sein. Im mittelamerikanischen Puerto Rico, das bis vor wenigen Jahrzehnten fast voll-
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ständig entwaldet war, bestehen die neu gewachsenen Sekundärforste zu mehr als sechzig Prozent aus botanischen Migranten. Aber unter deren schützendem Blätterdach, so beobachten Forscher, keimen die Bewohner der einstigen PrimärBaumbestände. Das Neue und das Ursprüngliche gehen eine Mischung ein, die keine Pfleger*in vorhersehen konnte (Marris 2013). Wie wir heute wissen, versorgen sich diese Bäume häufig gegenseitig. Verbunden über das wood wide web der Pilzmycelien im Boden, tauschen die Pflanzen Nachrichten und Nahrungsstoffe aus. Der Klimax-Zustand bedeutet also keine definierte Artengemeinschaft, quasi einen ökologischen Nationaltypus, aus dem Naturschützer die Fremden (die eingeschleppten Arten) entfernen müssen. Sondern Klimax heißt im Gegenteil maximiertes Miteinander. »Neuartige Ökosysteme« nennen Forscher*innen (Hobbs et al. 2009), was die Natur heute erschafft, wenn der Mensch nichts dagegen tut. Melting Pots der Spezies, die niemand geplant hat. Griffe hier der Mensch nicht ständig als Gärtner*in ein, würden sich selbst in Schutzgebieten die Natur mit der Gewalt eines Erdrutsches wandeln. Wo keiner aufpasst, wie im Berliner Schanzenwald, tut sie es längst. Die Lektion, die wir daraus lernen können, besteht wieder einmal im Umsturz unserer menschlichen Bilder vom Sein anderer Wesen. Natur ist nicht harmonisch, sondern fruchtbar. Und fruchtbar, das heißt: Sie schließt keine Mitspieler aus, sondern verwandelt die Beiträge aller in ein großes Gemeingut. Das ist allerdings nicht auf eine feste, lokal typische Zahl von Teilnehmer*innen festgelegt. Und es behandelt diese auch nicht wie eine mutmaßlich perfekte Mutter mit unbegrenzter Fürsorge: Am (früher oder später eintretenden) Ende seines Lebens muss sich jeder wieder als Beitrag an die Fruchtbarkeit des Ganzen hingeben. Notieren wir diesen kurzen ökologischen Zwischenstand, bevor wir uns der spezifischen Rolle des Menschen zuwenden. Denn was die Natur, also der Zusammenhang des Lebens auf dieser Erde, dem Wesen nach ist, spielt eine zentrale Rolle bei der nächsten Frage: Der nach unserem eigenen Wesen. Halten wir also fest: Es könnte sein, dass das Leben auf diese Erde nicht in erster Linie rot an Zahn und Klaue ist, aber auch nicht die prinzipiell heimatvoll geordnete gute Mutter. Eher ließe sich sagen: Die Ökologie, also die Gemeinschaft des Lebens, ist die gemeinsame Verwirklichung eines tiefen Begehrens nach Fruchtbarkeit in Gegenseitigkeit. Der Raison der Natur liegt keine schützende Harmonie zugrunde und keine fundamentale Erbarmunglosigkeit, sondern das Begehren nach der Vermischung mit dem anderen, aus dem Fülle und Neuheit sprießen. Diese Art von Harmonie ist möglicherweise nicht das, was romantisches Denken sich vorgestellt hat. Sie ist nur bedingt bewahrend, und dafür sehr stark transformierend. Die Natur selbst ist somit keine Naturschützerin. Das Aussterben von Spezies ist für sie nicht Problem, wie Richard Powers (2005: o.S.) anmerkt, sondern Gestaltungsmittel. Aber das Gegenteil eben auch: das ständige Hervorbringen von
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Neuem. Neue Arten, neue Verhaltensweisen, neue Nischen, neuer Sinn, neue Erfahrungen, neue Poesie. Als natürlich kann demnach gelten, dass alles seinen Raum erhält, alles das gleiche Recht, dass alles in den Reigen der Gegenseitigkeit einbezogen wird, mit Haaren und Haut und Kutikula. Ökologie ist erotisch, sie ist kreativ, sie ist egalitär, und sie drückt all das mit Leib und Seele, mit Gesang und Blätterwispern, mit Regenprasseln und den Ockertönen der Wüste aus.
Jenseits des Naturzustandes Die Überlegungen des vorangegangenen Abschnittes zeigen: Immer schwerer fügt die Natur sich den beiden großen Denkströmungen, die unsere abendländische Geschichte geprägt haben: der romantischen und der technokratischen. Die Natur ist keine Idylle, sie ist aber auch keine erbarmungslose Maschine. Sie ist weder die verzeihende Mutter noch der gestrenge Vater eines abhängigen Kindes; sie ist erwachsen und fordert Erwachsenheit, was beim Menschen sowohl die Fähigkeit zu empfangen als auch die Bereitschaft zu geben voraussetzt. Diese Feststellung hat weitreichende Auswirkungen auf die Meinung über uns selbst. So wie die Natur keine zärtliche Amme ist, aber auch kein gefährliches Jammertal, dem man den Kampf ansagen muss, um es technologisch zu kontrollieren, könnte sich auch der Mensch seiner Natur nach als zweideutig erweisen: Möglicherweise ist er weder eine gesetzlose Egoist*in (wie die Konservativen glauben, law and order!) noch eine zutiefst egalitär orientierte Architekt*in von Gemeinschaften (was die Progressiven meinen: Vertrauen in die Freiheit!). Sowohl Rousseau (der Mensch ist gut) als auch Hobbes (der Mensch ist böse) liegen womöglich falsch. Was aber sind wir dann? Der marxistische Soziolge David Graeber und der Archäologe David Wengrow (2018) kritisieren: Unser Denken kreise immer noch um die Positionen, die man auch in Schottland oder Frankreich im Jahre 1760 haben konnte (ebd.: o.S.). Damals kamen die zwei Versionen des sogenannten Naturzustandes auf, in dem sich die menschlichen Gesellschaften vor dem Beginn der Zivilisation und ihrer Institutionen befunden haben sollten. Der französische Aufklärungsdenker Rousseau (2008) sagte: Der Mensch ist ursprünglich ein »guter Wilder«, auf Gleichheit bedacht, und im Gleichgewicht mit der ihn tragenden Erde (Naturzustand 1) (Putschert 2012: 875). Der britische Philosoph Thomas Hobbes (1984: 131f.) hingegen sah im Naturzustand den »Leviathan«, das Ungeheuer des brutalen Krieges aller gegen alle, einen blutigen Wettstreit, in dem die Teilnehmer*innen wenig Freude hatten und viel Grund, sich einer zentralen Macht unterzuordnen, die per Staatsgewalt für Frieden zwischen ihnen sorgte (Naturzustand 2).
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Naturzustand 2 steht in der Geburtsakte aller modernen Staaten. Er legalisiert das Hohnlächeln gegenüber rückwärtsgewandten Natur-Freaks. Er ist seit Jahrhunderten der Mega-Mainstream: Zivilisation bringt uns die Segnungen, ohne die niemand leben wollte (Dentalanästhesie, Eierkocher, Vintage-Hifi, Spotify). Naturzustand 1 hingegen ist die Version der Idealist*innen, die glauben, oder wenigstens hoffen, der Mensch sei von Natur aus gut – oder er habe das natürliche Bedürfnis zu geben, wie der Psychologe und Erfinder der »gewaltfreien Kommunikation« Marshall Rosenberg (2000) formulierte. Entsprechend diesen beiden Denkrichtungen gibt es zwei fundamental unterschiedliche Narrative, wie die Geschichte der Menschheit bis zu unserer Zivilisation verlaufen sei. Den einen kennen wir alle aus dem Schulunterricht: Er macht die »neolithische Revolution« (Gronenborn/Terberger 2014), die Erfindung des Ackerbaus, zur Wiege der Zivilisation. Der Mensch verwandelte sich vom Wilden zum Hüter der selbstgeschaffenen Ordnung. Er lernte es, Pflanzen und Tiere für sich arbeiten zu lassen, er war in der Lage, Vorräte zu hüten, und konnte so Zeit gewinnen für die Kultur, die Schrift, die Mathematik und Wissenschaft – für alles Höhere mithin. Nach diesem Narrativ, der sich auf den Naturzustand 2 stützt, ist unsere Geschichte eine der Ausfädelung aus der Natur. Die Kultur begann, als der Mensch es gelernt hatte, das Wilde im Zaum zu halten – so der Tenor der Erzählung. Sie passt spiegelbildlich zum traditionellen Bild der Natur (Naturzustand 2) als blutiges und brutales Schlachtfeld, das gezähmt gehört. Der Aufstieg des Menschen geht einher mit seiner Befreiung von der restlichen Welt. Immer noch bestimmt diese Haltung zu guten Teilen unser konventionelles Selbstverständnis. Seit der neolithischen Revolution war die Welt latent zweigeteilt: In unsere Sphäre, die es zu schützen gilt, und die Wildnis, die uns bedroht. Der Dualismus war geboren. Und wer die Zivilisation will, muss ihn verteidigen. »Agrilogistik«, nennt der britische Philosoph Timothy Morton (2017: 17) eine solche Haltung abwertend. Doch schon seit einer Weile bleibt diese Sicht nicht mehr unwidersprochen. Denn immer mehr archäologische Befunde zeigen, dass die neolithische Revolution kein Triumph war, sondern eine Katastrophe. Das Leben in der vermeintlichen Versorgtheit war entbehrungsreich: Skelettfunde belegen, dass die Bauern der frühen Steinzeit weniger groß wurden und schlechtere Zähne hatten als ihre freiliebenden Genossen. Weil sie dicht mit Tieren zusammenlebten, entstanden aus deren Erregern neue Krankheiten wie Masern und Grippe, die uns heute noch plagen (Wolfe/Dunavan/Diamond 2007). Die so stolz Revolution genannte Umbruchszeit, vermuten heute immer mehr Autoren, war in Wahrheit nicht der Beginn des zivilisatorischen Wohlstandes, sondern das Gegenteil: Der »größte Fehler der Menschheitsgeschichte«, so der Historiker Jared Diamond (1999), der Beginn einer Versklavung, an deren Ende unsere Leistungsgesellschaft mit ihren massiven Ungleichheiten steht, die Kolonialisie-
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rung der die Erde bewohnenden Subsistenzvölker seit dem späten Mittelalter, und die Zerstörung der Lebensgrundlagen. Schon in den 1960er Jahren hatte der US-Anthropologe Marschall Sahlins (1972) in seinem Buch »Steinzeit-Ökonomie« von der »ursprünglichen Überflussgesellschaft« der nomadischen Kulturen gesprochen (u.a. Sahlins 1968). Er zeigte, dass ein Angehöriger des Volkes der namibischen Ju/’hoansi-Buschleute in der Woche 17 Stunden damit beschäftigt war, seinen Lebensunterhalt zu sichern, und sich 19 Stunden mit Arbeiten für die Familie und die Unterkunft beschäftigte. Durchschnittliche Amerikaner*innen arbeiteten dagegen 40 Stunden für den Lohn und 36 im Haushalt. Die Agrilogistiker*innen, so die derzeit viel Zustimmung findende Kurzversion, haben die egalitären Jäger*innen- und Sammler*innen-Gruppen unterjocht und versklavt. Damit begann die Zerstörung der Gemeingüter und der ökologischen Gegenseitigkeit, die sich bis heute, immer schneller zunehmend, fortsetzt. Der Yale-Historiker James Scott (2017) ist der Überzeugung, dass die Sesshaftwerdung kein freiwilliger Prozess war. Die ersten Bäuer*innen liefen nicht begeistert zum Landbau über, sondern wurden zur Ackerbaurevolution gezwungen. Sie war die erste große globale Kolonialisierungswelle. Und weil sich die Versklavten wehrten, ging der Prozess nicht zügig vonstatten, sondern versandete immer wieder. Über 4000 Jahre in der Jungsteinzeit tauchen immer mal wieder Kulturen mit Feldbau auf und verschwinden. Landbau war eine Option, keine Lösung. Solche Befunde revolutionieren den Blick auf unsere Geschichte: Was seit Jahrhunderten als Errungenschaft gilt, entlarvt sich plötzlich als der über Generationen weitergetragene Narrativ einer Selbstunterdrückung. Der Anthropologe James Suzman (2017a: o.S.), der viele Jahre bei den namibischen Buschleuten lebte, folgert: Je mehr Überschuss eine Gesellschaft produziere, desto größer sei in ihr die Ungleichheit. Heute, im Jahr 2021, bedeutet diese Ungleichheit, dass auf der Welt eine Handvoll Einzelpersonen mehr materiellen Besitz ihr Eigen nennt als die ärmere Hälfte der Menschheit zusammen. Und dieses unvorstellbare Gefälle erstreckt sich in unserer Zivilisation weit über den Menschen hinaus: Es manifestiert sich auch darin, dass eine einzige Spezies (unsere) gerade dabei ist, die meisten anderen zu vernichten, in einer Aussterbewelle, die dem letzten Meteoriteneinschlag, der den Großteil des irdischen Lebens auslöschte, um nichts nachsteht. Man könnte sich fragen, ob die oben genannten wenigen Allerreichsten nicht auch einen hälftigen Anteil an dieser Vernichtungsmacht haben und entsprechend über ihr Handeln besonders Rechenschaft ablegen müssten. Heißt all das demnach, dass eine soziale und naturverträgliche Gesellschaft einzig mit der Lebensform der Jäger*innen- und Sammler*innenvölker möglich ist? Dass wir als Agrar- und Industriegesellschaften also nicht nur das Paradies unwiderruflich verloren haben, sondern es sogar systematisch zerstören müssen?
Menschlichkeit heißt Fruchtbarkeit
Und dass die einzige Hoffnung einer gerechten und nicht zerstörerischen Zivilisation im Aufgeben der Kontrolle über die Natur, die anderen Wesen, liegt? Sollten wir also mit aller Kraft versuchen, unsere Zeitgenoss*innen zu überzeugen, von der Agrilogistik abzuschwören, um den heilen Kern unserer sozialen Fähigkeiten wieder zutage treten zu lassen? Anders gefragt: Stimmt der Narrativ der ökologischProgressiven, dass es unser ursprünglicher Abschied aus der Harmonie der guten Mutter Natur war, der alles verdarb? Gibt es tatsächlich keinen anderen Weg als zurück? Dieser Schluss ist verführerisch. Er bietet die Hoffnung, dass es doch einen guten Naturzustand (Naturzustand 1) gibt, dem man vertrauen kann, ein Paradies, in dem die Harmonie des Lebens sich von alleine einstellt, wenn wir es finden. Rousseau hat noch eine Chance. Und zumindest bleibt der Trost (heimlich von manchen ersehnt), dass selbst wenn sich in unserer zerstörerischen Zivilisation nichts ändert, nach einem künftigen Kollaps vermutlich zwangsläufig der gute Naturzustand 1 die Oberhand gewinnen wird. Es ist verlockend, der Agrilogistik-These zu folgen. Dann gäbe es eine zentral falsche Weichenstellung in der Zivilisationsgeschichte, die für alle weiteren Fehler verantwortlich ist. Wer die Natur für seine Zwecke einspannt, muss sie sich automatisch zum Gegner machen, den es zu bezwingen gilt. Von den ersten Feldsklaven ist es ein direkter Weg zu Descartes’ Sortierung der Welt in menschlichen Geist und tote Materie. Es würde vieles vereinfachen, wenn wir die falsche Mär vom brutalen und kriminellen Naturzustand durch den schönen neuen Narrativ von der guten Prähistorie ersetzen könnten. Vielleicht könnte ein solcher Wandel Anhaltspunkte einer anderen Politik liefern. Doch vermutlich ist es nicht so einfach. Denn die Vorgeschichte und was von ihr übrig blieb, ist nicht linear, sondern vielfach widersprüchlich. Den tiefsten Dorn im Fleisch des Traums von der egalitär-friedlichen Jäger*innen- und Sammler*innennatur des Menschen bildet der Befund, dass auf jedem Kontinent, den der Mensch nach seinem Auszug aus Afrika neu besiedelte, die urtümlichen großen Säugetiere ausgerottet wurden (nur ausgerechnet in der Heimat von Homo sapiens, in Afrika, nicht). Wo der Mensch auftauchte, veränderte er die Natur radikal. Vieles spricht dafür, dass es die Native Americans waren, oft für ihr Leben im Einklang mit der Schöpfung gerühmt, die die Megafauna Nordamerikas, elefantenähnliche Mastodonten und gewaltige Faultiere, haben verschwinden lassen. Damit wären auch die Ureinwohner Amerikas, die oft als Beispiele für die Möglichkeiten perfekter Harmonie mit der Natur herhalten müssen, Nachfahren eines ersten Aktes ökologischer Dominanz, einer brutalen Grenzziehung zwischen dem, was dem Menschen nützt, und dem, was das Ganze reicher macht. Die ökologisch folgenreichste Technologie, die oft nicht in Betracht gezogen wird, war das Feuer. Schon der Homo erectus kochte mit dessen Hitze vor sechshun-
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derttausend Jahren seine Nahrung. Vor allem aber legte er Ökosysteme in Asche. Er brannte Wälder ab, um auf der offenen Steppe besser jagen zu können – und vielleicht auch, um auf den nährstoffreichen Holzkohleresten erste Gärten zu kultivieren. Der Mensch der Vorzeit schuf somit bereits neuartige Ökosysteme. Der Geograph Erle Ellis von der University of Maryland in Baltimore glaubt: Dass sich Büffelherden im Mittleren Westen verbreiten konnten, sei überhaupt erst die Folge massiver indigener Brandrodungen. Die heute als verschwundene Wildnis betrauerte Buffalo-Savanna sei eine ökologische Nische, die vom Menschen geschaffen wurde. Sogar im Amazonaswald, beobachtet der Geograph, herrschte keine Jungfräulichkeit, seit der Unruhestifter Mensch einmal eingerückt war. Mit Holzkohle vermischte fruchtbare Erde tief im Dschungel des Amazonas und die Konzentration von Früchte tragenden Baumarten Tausende von Kilometern tief im Wald zeigten seiner Meinung nach: Der Dschungel ist teils von Menschenhand gemacht (Ellis et al. 2013: 7981). Unberührte Natur – ein Mythos, der nie gestimmt hat, sowenig wie der vom Paradies. Die Erde zu verändern, meint Ellis, sei nichts Neues, sondern arttypisch: Homo sapiens ist jene Spezies, welche den Planeten umbaut. Sie ist eine ÖkosystemIngenieur*in, ähnlich wie der Biber, auf dessen Konto ganze Feuchtgebiete gehen können, mit der entsprechenden Artenvielfalt. Seit es den Menschen gebe, provoziere er ökologische Revolutionen. Wir lebten schon immer auf einem »used planet« – einer Gebrauchterde (Ellis et al. 2013: 7978). Das aber sollte uns nicht verleiten, frustriert den vorgeblichen Naturzustand (Naturzustand 1) zu verdammen und ihn mit Hilfe von Kultur (also durch technologische Dominanz) einzudämmen. Es sollte vielmehr dazu inspirieren, zu erkennen, dass Ökologie die »Ordnung des Vergänglichen« (Snyder 1990: 5) ist, und dass unser Anteil an der Ökologie, auch Kultur genannt, nichts anderes zu sein vermag. Es kann darum keine perfekte Antwort auf die ökologische Krise geben, so wenig wie es eine perfekte Gesellschaftsform geben kann. Aber wir vermögen einen fruchtbaren Umgang mit der Imperfektion zu finden. Das ist, was wir brauchen. Leben ist das, was sich als das imaginiert, was noch nicht ist, aber sein soll (Weber/Varela 2002: 97). Das Natürliche ist das Unvollständige (Deacon 2011) – und es erschafft so die Bewegungen, die sich formen, den Mangel das Neue antizipierend auszufüllen (Weber 2016b). Die Haltung, es gebe keine perfekte Gesellschaftsform, die aus sich selbst heraus Gewalt und Ungerechtigkeit unterdrücke, und schon gar nicht eine, die gewaltfrei aus ihrem Einklang mit der Natur sei, nehmen auch Graeber und Wengrow (2018: o.S.) ein. Damit sprengen sie das neu gewonnene romantische Paradigma der Anthropologie gleich wieder: Für den Soziologen und den Archäologen gibt es keine eindeutige Verbindung zwischen Ackerbau und Gewalt und dem gegenüberstehend zwischen Jagen und Fairness.
Menschlichkeit heißt Fruchtbarkeit
Graeber/Wengrow (2018: o.S.) meinen: »Wir können den Landbau nicht als Beginn einer Kolonialisierung dessen sehen, was eigentlich allen gehört«. Zu oft sei die Bestellung von Feldern von andern Formen gemeinschaftlicher Kultur nicht getrennt gewesen. Was zähle, sei somit nicht die Produktionsform, sondern ihre soziale Einbettung. Es gebe zudem gewalttätige Stammeskulturen und egalitäre Agrargesellschaften. Für diese Auffassung sprechen manche archäologischen Details. So kam es in der Geschichte immer wieder zu Bewegungen gegen die vorgebliche agrilogistischen Fortschrittsrichtung Hochkulturen, die zunächst auf der hochorganisierten landwirtschaftlichen Ausbeutung von Mais oder Getreide beruhten, verwandelten sich später in lockerere Zusammenschlüssen von Menschengruppen, die eine Gartenlandschaft gemeinsam bewirtschafteten. Das geschah etwa um 200 vor Christus im heutigen Südamerika, als sich die Stadt Teotihuacan für die nächsten 400 Jahre in eine Ansammlung von einzelnen Villen mit waldartigen Gärten (ebd.) Archäologen haben mittlerweile gefunden, dass Ackerbau und Nomadentum über Jahrtausende (und vielleicht sogar noch länger) koexistierten. In manchen paläolithischen Wäldern wurden rund um Obstbäume Lichtungen geschlagen. Vieles spricht dafür, dass solches Waldgärtnern – also das behutsame Verbessern der Lebensbedingungen der genutzten Spezies in einem natürlichen Ökosystem – uralt ist. Menschen haben möglicherweise weit vor der Zeit um zehntausend vor Christi Geburt, in der offiziell die Erfindung der Landwirtschaft verortet wird, hier und dort gejätet, niedergebrannt und geschnitten, damit beliebte Pflanzen es leichter hatten; sie haben mal einen Keimling an eine günstigere Stelle gesetzt oder ein paar Samen verstreut. Ähnlich ist es mit der Verbindung zu Haustieren: Die ersten wilden Schweine kamen, wie vermutet wird, von allein zu den Lagern der Menschen, weil es dort zu essen gab und man sich gut miteinander verstand. Auch der Wolf könnte sich auf diese Weise den Menschen angeschlossen haben. Möglicherweise sehr früh standen hier und dort auch ein paar Streifen Getreide, damit man die Getränke brauen konnte, die es leicht machen, die Geister zu rufen. Die Landwirtschaft begann, folgt man diesem Bild, für das viele archäologische Befunde sprechen, als Gartenkultur – und deren Übergänge zum Jagen und Sammeln waren fließend. Dann wäre es umgekehrt: Despotische Regime entstanden nicht aufgrund eines vorgeblich neuen bäuerlichen Mindsets, sondern Machthaber zwangen zuvor halbnomadische Waldgärtner*innen zur Ausbeutung des Landes, um ihren Herrschaftsapparat zu versorgen. Das findet heute noch statt; wir nennen es jetzt Landgrabbing. Wir sehen also: Nicht die verzerrte Welt erzeugte das verzerrte Bild, sondern die gestörte Sicht verbog das Gefüge des Lebens.
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Fruchtbarkeit als Kultur So wie die Ökologie gerade auf den Kopf gestellt wird (siehe zweiter Abschnitt), so durchmischt sich derzeit auch die Anthropologie. Folgt man den Einsichten von Graeber und Wengrow (2018), gibt es keine kausalen Beziehungen zwischen gesellschaftlicher Organisationsform und Gerechtigkeit gegenüber anderen Menschen und anderen Wesen, nur bessere und schlechtere Weisen, dem schlimmsten Erbe der menschlichen Primatenvergangenheit Herr zu werden, dem Neid, dem Alphamännchentum. Das heißt dann auch: Es gibt keinen Naturzustand. Nicht einmal in der Natur gibt es einen Naturzustand. Es gibt nur ein dynamisches Regime von Änderungen aufgrund der Interessen der Einzelnen, fruchtbar zu werden, aufgrund des intrinsischen Intreresses von allem, in Kontakt zu treten und darin lebensstiftende Verbindungen zu erfahren. Dieses intrinsische Interesse fruchtbar zu werden ergibt in seiner Mannigfaltigkeit – Tsing (2017) sagt dazu »Multitude« – die Stabilität von Ökosystemen. In letzter Konsequenz ist die ökologische Stabilität ein physisch niedergelegter Pakt zur Machtbegrenzung und zur gegenseitigen Domestikation. Teilnehmen an der Sphäre des Lebens heißt Veränderung: Nehmen und Geben. Teilnehmen heißt keine prästabilisierte Harmonie bewahren, sondern dynamischen Wandel verursachen (Weber 2016a). Die Stabilität der Ökosysteme beruht nicht auf der Abwesenheit von Veränderung – es gibt keine Klimax-Lebensräume –, sondern auf dem Ausbalancieren der Dynamik: Ein negatives Feedback durch die Gegenwart einer Vielzahl von anderen Dynamiken. Das Ökosystem setzt der Dynamik des einzelnen Wesens keine Barriere entgegen, es stellt diese auch nicht, einmal im Klimax-Zustand angekommen, ab. Es bremst aber davongaloppierende Dynamik, weil die gebündelten Dynamiken der Gesamtheit schnelle und einseitige Wechsel erschweren und so im Kollektiv Zähigkeit und Resilienz ermöglichen. Das ökologische Gefüge ist somit ein Gesellschaftsvertrag avant la lettre. Dieser besagt freilich nicht wie der von Hobbes vorgeschlagene, sich einer Obrigkeit unterzuordnen, sondern er verlangt, sein eigenes Ego stets der Notwendigkeit allgemeiner Essbarkeit zu opfern. Es gibt keinen Naturzustand, nur ein Ausgreifen auf den Anderen, das diesen einverleibt, und zugleich in voller Abgrenzung nötig macht: eine Dialektik des Ich-bin-durch-Dich. Diese spielt sich in den verschiedensten Formen aus. Die ökologische Stabilität ist nur eine Weise, wie dieses Paradox gelöst wurde. Egalitäre Kultur ist eine andere.
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Tabelle 1: Zwei Weisen der Wildnis Wild als Naturzustand gemäß Hobbes
Wild als Beziehungsgefüge
Regellos
Auf Regeln gegründet
Egoistisch
Der Gegenseitigkeit verpflichtet
Mit dem Tode drohend
Lebensspendend
Dem Menschen gegenüber stehend
Den Menschen umfassend
Emotional distanziert
Von Fühlen erfüllt
Erhaben
Ernährend
Fremde
Familie
Dem menschlichen Verstehen unzugänglich
Transparent für Denken, Spüren, Fühlen und Intuition
Besser gestellt ohne Menschen
Des Menschen bedürftig
Bedarf der Kontrolle
Bedarf der Dankbarkeit
Weber 2020
Die pleistozänen Ökozide, auch die Ausrottungen der fantastischen Großfauna durch die Native Americans, sind ein Indiz, dass auch die frühesten Gesellschaften nicht zwangsläufig den ökologischen Ist-Zustand stützten, sondern dessen Balance verfehlen konnten. Daraus lassen sich zwei Schlüsse ziehen. Der eine, der uns wohlbekannt vorkommt, lautet: Es kommt darauf an, der Stärkere zu sein, der im kriegerischen Chaos siegt. Der zweite, an den wir uns erst herantasten müssen, heißt: Wir können das Chaos fruchtbar machen, nicht durch Sieg, sondern durch Bescheidenheit. Diese kann im Prinzip das Zentrum gleich welcher Kulturform sein. Nur unsere sperrt sich dagegen denn ihre Anführer*innen halten an der Behauptung fest, dass der individuelle Egoismus – die Kriegführung als individuelles Telos – das kollektive Glück erzeugt. Die Frage, warum der Mensch das Paradies, in dem er lebte, gegen die Sklaverei seiner bewussten Trennung aus den lebenden Zusammenhängen eintauschte, bleibt ein Rätsel – außer, man stellt sie gar nicht erst, weil man wie Graeber und Wengrow (2018: o.S.) davon ausgeht, dass der Mensch nie im Paradies gelebt hat. Nicht weil er schlecht ist (Naturzustand 2), sondern weil diese Welt nirgendwo Paradies ist (also auch nicht dem Naturzustand 1 gehorcht), sondern stets ein schöpferischer Prozess, gegenseitige Durchdringung wie eine sommerliche Blumenwiese, deren Kehrseite der Humus ist, deren Licht und deren Duft dem Umstand geschuldet sind, dass alles auf ihr essbar ist und gegenseitig gegessen wird. Der Abschied von der Idee, dass alles gut sein könnte, wenn man nur die richtige Perspektive auf die heile Ordnung der Dinge einzunehmen vermöchte, er fällt schwer. Aber vielleicht ist der Versuch, die Welt weder als Tränental noch als Eden zu denken, sondern als Begehren nach Verwandlung, das unserer Unterstützung
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bedarf, damit es Fruchtbarkeit hervorbringt, interessanter. Dann gölte nicht die tödliche Alternative aus Wirklichkeit als Krieg oder Wirklichkeit als verkanntes Idyll, sondern dann läge es in unserer Hand, mit der unstillbaren Kreativität so umzugehen, dass sie fruchtbar bleibt. Man sagt immer wieder: Der Mensch ist das Tier, das weiß, dass es sterben wird. Vermutlich wissen das die anderen Tiere in verschiedenem Maße auch (sie versuchen ihren Tod zu vermeiden), schicken sich aber in diese Erkenntnis und akzeptieren, dass es den Tod gibt. Das macht ihre Größe aus und ihre Friedlichkeit, selbst wenn sie riesige Zähne haben. Der Mensch aber ist das Tier, das einen Ausweg dafür sucht, dass es sterblich ist. Es versucht der Gegenseitigkeit, deren tiefste Ausprägung die Komplementarität von Geburt und Sterben ist, zu entgehen, indem es seine Umwelt so stark wie möglich kontrolliert. Das, scheinen die neuesten anthropologischen und archäologischen Befunde darzulegen, ist nicht eine Folge von bestimmten kulturellen Setzungen, sondern liegt im Kern unseres Wesens. Vielleicht kann man es so fassen: Der Mensch bläht sein Ego auf als Bollwerk gegen den Tod. Die ökologische Besonderheit des Menschen besteht darin, dass er sich gegen das Sterben wehrt. Nicht wie ein Hase in der Feldflur, der dem Fuchs ein Schnippchen schlägt, um zu entkommen. Sondern als Gefangener der Besessenheit, dass die eigene Individualität überdauern müsse, dass sie größer sei als die Fruchtbarkeit der Welt, die doch jedes Ich verschlingt, um neue Selbste zu gebären. Der Mensch weigert sich zu sterben. Genauer: Er weigert sich, essbar zu sein. Das ist seine ökologische Besonderheit – und das ist seine ökologische Bestialität. Der Plastikmüll, der sich in gigantischen schwimmenden Teppichen in den Zentren der großen Ozeane um sich selbst dreht und noch viele tausende Jahre drehen wird, erfasst somit den menschlichen Charakter am Besten. Unsere derzeitige Kultur gründet auf der Behinderung der gegenseitigen Verwandlung, die durch den Tod möglich wird. Nichts ist unökologischer als Unsterblichlichkeit. Nichts ist weniger egalitär in einer Welt der Sterblichen, in einer Welt, die davon zehrt, dass sie essbar ist und nur so sich jeden Tag neu gebären kann. Das eigene Ego in den Vordergrund zu stellen heißt Anspruch auf Unvergänglichkeit zu erheben. Das ist die ökologische Todsünde. Und hier liegt ein interessanter Punkt. Schauen wir auf archaische Gesellschaften, so finden wir etwas, das dem romantischen Blick – der Idee von Freiheit aus sich selbst heraus und ohne Verletzung – extrem widerstrebt. In diesen Gesellschaften sind die Rechte des Egos extrem reguliert. Die sozialen Regeln – wenn man heiraten darf, mit wem man die Jagdbeute teilt, was man von seinem Besitz hergeben muss, wie sehr man sich als Führer hervortun kann – sind alle darauf ausgerichtet, das Ego zu brechen. Kein Stolz – das ist die Konsequenz der strengen Prinzipien der ersten Völker. Das beobachtet der Anthropologe Suzman (2017a) eindringlich bei den indigenen Völkern Namibias. Er beschreibt, wie die Dorfbewohner die Beute der Jäger
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herabsetzen, wenn diese mit Fleisch nach Hause kommen. Statt den besonders guten Jäger über den grünen Klee zu loben – und ihn vielleicht zu einem besonders mächtigen Mann zu erheben – machen sich die anderen über ihn lustig. Dabei erwarten sie einen Anteil der Beute – denn das Jagdwild wird bei den Ju/’hoansi Buschleuten unter allen Mitgliedern des Dorfes verteilt. Der Anthropologe Richard B. Lee ließ sich den Sinn dieser »Fleischbeleidigung« erklären: »Wenn ein junger Mann eine große Beute macht, dann hält er sich selbst für einen Anführer oder einen großen Mann – und den Rest von uns für seine Diener oder Untergebene. Darum tun wir stets so, als wäre seine Beute wertlos. Auf diese Weise kühlen wir sein Herz und machen ihn sanft.« (Suzman 2017b: o.S.) Wer sich aufschwingt, wird in einem solchen Volk auf den Boden zurück geholt. Um den gleichen Anspruch aller auf Beteiligtsein aufrecht zu erhalten, gibt es dort Regeln, die uns fast brutal erscheinen. Solche Regeln könnten unter den Völkern der Vorzeit weit verbreitet gewesen sein – denn sehr viele von ihnen hatten keine formale Regierung und schon gar keine Häuptlinge. »Die Ju/’hoansi der Kalahari waren immer streng egalitär. Sie hassen Ungleichheit und Angeberei, und sie lehnen hierarchische Institutionen ab. Gerade das hat sie zur erflogreichsten nachhaltigen menschlichen Zivilisation gemacht«, sagt Suzman (2017b: o.S.). Seit 160000 Jahren leben die Ju/’hoansi in der Halbwüste. Von ihnen führt eine direkte Linie zum Ursprung unserer Art in Afrika. Auch von den australischen Aborigines nimmt man inzwischen an, dass sie seit Zehntausenden von Jahren ihren Kontinent besiedeln. Ihre Regeln sind ähnlich streng. So ist das Heiraten nur außerhalb der eigenen sozialen Hälfte gestattet – ganz gleich, wohin die Liebe fällt. Symbolisch-rituell bewahren solche strikten Regeln den ewigen Kosmos. Praktisch verhindern sie, dass sich einzelne zu Machhaber*innen aufschwingen. Sie setzen soziale Gleichheit durch, die letztlich auf ökologische Gerechtigkeit hinausläuft. Weil die Menschen, von uralten Regelsystemen im Zaum gehalten, nichts besitzen können, nehmen sie niemals zu viel. Dieses Gleichgewicht ist kein Naturzustand, den man finden oder wiederfinden könnte. Es muss immer wieder neu angestrebt werden. Das ökologische Auffangen der Dynamik, das in der Sphäre des Lebens durch das Netz der Wesen und die Kreisläufe der Atmosphäre realisiert ist, muss sich der Mensch als Kultur neu geben. Das ökologische Auffangen der Dynamik ist kulturell die in Kultur festgelegte Gemeinschaftlichkeit und Bescheidenheit: Das systematische Brechen des Egos wie bei den Ju/’hoansi . Alte Kulturen zeichnen sich durch die Übung dieser Egalität aus. Es ist gesellschaftliche Gepflogenheit, Egoismus nicht zu dulden. Sie wird zur rituellen Feier, indem Opfer gebracht werden. Besitzlosigkeit ist ein ökologisches Prinzip. Die statische Welt der Kosmen der ersten Völker, über die sich der moderne Philosoph kopfschüttelnd amüsiert (»Ich möchte in einer Welt leben, in der Verän-
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derung zum Besseren möglich ist! »), sie beruht auf der Erniedrigung des aufgeblähten Egos. Wenn diese Welt ewige Fruchtbarkeit schenkt, wenn sie Individualität gebiert, auch die eigene, um diese Fruchtbarkeit zu hüten und zu nähren, was kann dann an ihr verbessert werden? Jede Änderung ist in dieser Perspektive nur eine Verzerrung, ein Verbiegen der vollkommenen Welt zum eigenen Nutzen. Und das muss unterbunden werden. Das vielzitierte Prinzip des Laotse bildet diese Sicht ab. Anders als die westlicher Religionen reichen die Wurzeln des Taoismus, den Laotse im 6. vorchristlichen Jahrhundert lehrte, tief in die ursprüngliche kosmische Spiritualität. Laotse sagt: »Das Universum ist vollkommen. Es kann nicht verbessert werden. Wer es verändern will, verdirbt es. Wer es besitzen will, verliert es.« (Lao-Tse 2012: o.S.) Zwischen der Haltung, dass der Einklang mit den anderen (Menschen und allen Lebewesen) durch die Befreiung (und Heilung) des in der Tiefe guten eigenen Egos (Naturzustand 1) geschehen müsse, und der Demut, ja der Ego-Feindlichkeit in vielen egalitären Gesellschaften, die auch in Latotses Einsicht zum Ausdruck kommt, liegen freilich Welten. Eine Politik zu erahnen, die diese vereint, ist die wahre Herausforderung der Zukunft. Aber werden wir ihr jemals gewachsen sein? Und ist sie überhaupt sinnvoll? Vielleicht schenkt nur das Unvollkommene Fruchtbarkeit. Diese Fruchtbarkeit lässt sich nicht lehren. Sie lässt sich aber leben – und in der Gestalt des eigenen, gelebten, erwachsenen Lebens – an andere schenken.
Pädagogik als Sein-Lassen Wenn die Kultur dem Wilden folgt, welches das Unvollkommene ist, das sich in Gegenseitigkeit immer neu als ganz imaginiert und daran immer wieder scheitern muss, muss sich auch Pädagogik neu orientieren. Pädagogik ist das angeleitete Einüben einer bestimmten Kultur. Derzeit trainieren wir unsere Kinder, dem angeborenen Bedürfnis nach Kooperation (Tomasello 2009) zu entsagen und Bestrafung genießen zu lernen (Rosenberg 2000). Wie lässt dagegen eine Kultur der Gegenseitigkeit üben? Lässt sie sich überhaupt lehren? Oder gilt es vielmehr, sie zu beschützen? Die zugrundeliegende Idee lautet, dass wir als Teilnehmer*innen der lebendigen Wirklichkeit bereits mit den richtigen Organen ausgestattet sind, zu dieser Wirklichkeit auf eine fruchtbare Weise beizutragen. Wir sind keine Fremden, und was wir wissen müssen, ist uns schon durch unsere Teilhabe an der Existenz gegeben. »Die Erde lügt nicht«, sagt der US-amerikanische Aktivist und Journalist Tiokasin Ghosthorse (2020), Angehöriger des Volkes der Lakota. Es geht also darum, diese Erde zu hören – und auf sie zu horchen. Denn eine ihrer Wahrheiten besteht darin, dass alles von anderen geschenkt ist und wir somit auch uns selbst an andere schenken müssen, um teilzuhaben.
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In Wahrheit setzt jede Pädagogik eine Anthropologie voraus; jeder Plan für Erziehung eine Idee vom Menschen. Und jede Idee vom Menschen ist um eine Vorstellung davon herumgebaut, was es heißt, am Leben zu sein. Auch wenn wir uns seit Jahrhunderten hartnäckig bemühen, diese großen Fragen auszuklammern und durch die Untersuchung von Elementarteilchen zu ersetzen, sie stehlen sich immer wieder durch die Hintertür herein. Und das heißt in unserem Fall: Es kann keine Pädagogik geben, ohne dass wir uns darüber Gedanken machen, was wir unter unserer Lebendigkeit verstehen (Weber 2011). Derzeit aber bestimmt eine lebensvgergessene Perspektive auch die Bildung. Kinder lernen eben gerade nicht fürs Leben, sondern sie erfahren sich selbst und ihre eigene Lebendigkeit als Störfaktoren einer Welt der Verdinglichung und Verzweckung, gegründet auf Hobbes’ Idee des Naturzustandes (Naturzustand 2). Diese Haltung reicht bis tief in die Reformpädagogik hinein. Denn auch sie bleibt an einen pädagogischen Anthropozentrismus rückgebunden, da Bildung und Erziehung über die Sonderstellung des Menschen in der Natur begründet werden. Entsprechend werden in der heute immer stärker für Kinder gewünschten Naturerfahrung, offiziell als BNE (Bildung für nachhaltige Entwicklung) bezeichnet, die Kinder als »kleine Wissenschaftler*innen« verstanden, deren Spielen sich für eine effizientere Vermittlung unseres rationalen Weltsystems nutzen lässt (z.B. »Haus der kleinen Forscher« https://www.haus-der-kleinen-forscher.de). Jenseits der Mythen des Naturzustandes liegt die Erfahrung eines zutiefst poetischen und empfindsamen Universums, eines Universums, in dem die menschlichen Subjekte nicht den anderen Organismen als Objekten gegenüber stehen und diese manipulieren müssen, sondern in dem alle gemeinsam ein Netz des Lebens hervorbringen, das »Fleisch der Welt« (Merleau-Ponty 2006: 171), das sich vielleicht am besten im künstlerischen Ausdruck erfassen lässt, als ein schöpferisches Spiel2 . Von dieser Warte erhält Pädagogik eine andere Perspektive, weil auch sie nur dann erfolgreich – nämlich fruchtbar – sein kann, wenn sie die Lebendigkeit der Kinder – und ihrer Bezugspersonen – steigert. Wir müssen als Pädagog*innen also danach suchen, wie Lebendigkeit eigentlich gedacht – aber eben auch mit allen Sinnen ausgekostet – werden könnte. Etwa so: Ein fühlender Körper unter anderen fühlenden Körpern zu sein, ein Körper, der wachsen, sich entfalten, der geben und empfangen, der frei und verbunden sein möchte, der eine Identität als verantwortliches Individuum und als anerkannter Teil eines großen Ganzen mit dessen gemeinsamen Geschichte gleichermaßen anstrebt.
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Interessant hierzu die Feststellung von Tiokasin Ghosthorse (2020), in der Lakota-Kultur gebe es keinen expliziten Begriff für Kunst, weil alles Kunst sei, weil das ganze menschliche Verhältnis zum Kosmos und Verhalten im Kosmos mythisch-poetisch sei und als solches gelebt werde.
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Lebendig zu sein heißt, dieses schöpferische und nach Existenz begehrende Universum im Brennpunkt einer schicksalhaften Individualität noch einmal zu entfalten, es zu spiegeln und ihm zu antworten. Es heißt, diese Antwort auf die gleiche Weise zu geben, wie alles sich verwirklicht, nämlich als Poesie. Poesie ist der Fokus auf das Ganze in einem beliebig kleinen Fragment (Weber 2016b), schöpferisch, spielerisch, kooperierend und konkurrierend, immer neu und doch in der Verbindung zu den uralten und universellen Bedürfnissen lebender Wesen, die nur gemeinsam miteinander existieren können. Erziehung müsste demnach vor allem dem Ziel folgen, diese dem Sein eigene Lebendigkeit nicht zu behindern. Das stellt jede pädagogische Agenda auf den Kopf: Nicht länger wäre Erziehung nötig, um die natürlich vorhandenen schädlichen oder egoistischen Tendenzen unseres wilden Erbes in uns auszuschalten und durch die kulturellen Regeln von Kooperativität und Zahmheit zu ersetzen. Sondern vielmehr hieße gute Erziehung, Wildheit zuzulassen, weil diese in sich selbst eine gesunde Vorstellung davon mitbringt, was ausgewogene Bedürfnisse sind. Im Erfahrungsraum der Kinder ist Fühlen noch nicht ausgeschaltet wie bei den im Sinne des Gesellschaftsvertrages erzogenen Erwachsenen und somit bleibt Lebendigkeit für sie direkt spürbar. Das ist auch die pädagogische Grundidee Alice Millers: Ein jedes Kind in seiner Lebendigkeit bedingungslos annehmen und Grenzen einzig dort setzen, wo die eigene Lebendigkeit oder die der Umwelt geschmälert wird (Miller 1980: 119). Die Aufgabe der Pädagogik läge demnach darin, vermittelnd bei der größten Paradoxie – der Erfahrung der unhintergehbaren Wildheit – unserer Existenz zu wirken: dem Bedürfnis, gleichermaßen ganz autonom zu sein und ganz zugehörig. Dieses Bedürfnis ist eine der Erscheinungsformen der lebendigen Wirklichkeit in uns. Es ist die Gestalt des Lebens, das nur in Individualität sein kann, und für diese zugleich die Hilfe der anderen benötigt. Ganz autonom und ganz zugehörig zu sein ist die Erscheinungsform des Prinzips, dass alles geschenkt ist. Ist alles geschenkt, gehört mir alles und mir gehört nichts. Die je nachdem gelungene oder missratene Mediation zwischen den Bedürfnissen nach Verbundenheit und denen nach Unabhängigkeit stellt den Grundkonflikt dar, der sich durch unsere Seelen zieht, und sie ist zugleich der Keim ihrer Fruchtbarkeit. Das Empfinden der Lebendigkeit im gelebten Moment bezeugt den gelungenen Ausgleich für einen kurzen Augenblick im Verlauf der Zeit. Das Empfinden von Lebendigkeit ist somit die innere Erfahrung, in einer geteilten Welt leben zu können. Es ist das, was sich einstellt, wenn Kooperation, also das, worauf wir angelegt sind, gelingt. Es ist damit die Stimme des Ganzen, das einen Weg zur Fruchtbarkeit kennt, in uns. Pädagogik als Erziehung in eine Kultur ist darum kein Einüben von Kulturtechniken, sondern eine Rückerinnerung an ökologische Gegenseitigkeit. Das Handeln im Widerspiel mit Anderen und Anderem und die Erfahrung
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seiner Stimmigkeit muss nicht als etwas Neues gelehrt werden: Wir haben diese Einsichten immer schon, denn sie bilden die Grunderfahrung des Lebendigseins. Menschen ist ein subjektives Bedürfnis zu eigen, das zu tun, was der objektiven, ökologischen Notwendigkeit der Gegenseitigkeit entspricht. Kooperation mache uns zum Menschen, sagt Michael Tomasello (2009). Wir sind am glücklichsten, wenn wir sowohl die eigenen Ziele als auch die anderer erfüllen. Das ist freilich, wie sich unschwer erkennen lässt, nicht trivial, sondern erfordert eine Kultur – und womöglich sogar eine Kosmologie – die als Vermittlung des Individuellen mit dem Ganzen gedacht wird (Weber 2016a: 135f.). Kooperation ist vertrackt, und sie bedeutet immer wieder die Rückstellung des Egos – und zugleich ist sie das, was Menschen die Erfahrung von Stimmigkeit gibt. Wir sind nicht gut (Naturzustand 1) und nicht böse (Naturzustand 2), sondern zutiefst vom Bedürfnis nach Kooperation erfüllt – so wie das Leben selbst. Dieses Bedürfnis kann nicht erzeugt, sondern nur zerstört werden. Die Tragödie der Pädagogik in einer Welt des Leviathan ist, dieses intrinsische Bedürfnis immer wieder und so lange mit Füßen zu treten, bis seine Traumatisierung zum Gegenteil führt: Dem subjektiven Wunsch, das zerstörerische Bild, das zum Trauma geführt hat, in der Welt selbst durch Zerstörung zu verwirklichen. Was in der Pädagogik des Wilden und ihrer Idee des Unlearning nicht gepflegt wird, ist die gängige Immunisierung gegen Verlust und Scheitern jeder Art (Sei auf keinen Fall eine Loser*in!). Wir haben schon gelesen, dass eine Kultur des Wilden kein Zuckerschlecken ist und kein Rousseausches Südseeparadies (Naturzustand 1), sondern in vieler Hinsicht ein Einhegen der menschlichen Dominanz- und Rettungsphantasien, um die Fruchtbarkeit des Ganzen (der menschlichen Gemeinschaft und der mehr-als-menschlichen Welt) nicht zu gefährden. Eine Pädagogik der Lebendigkeit ist also eine, welche nicht gegen das Scheitern wappnen will, sondern welche die Freiheit lässt, damit zu spielen, nicht anders als ein Ökosystem mit seinem Scheitern spielt, indem es eine Katastrophe in einen neuen Zustand transformiert (Weber 2019). Diese Einstellung kann keine konkreten Bildungsziele formulieren. Sie ist frei. Sie ist offen, auch darum, weil jedes feste Ziel die fruchtbaren Momente des Scheiterns auslöschen müsste. Sie vermag entsprechend auch nicht dem Staat oder der Wirtschaft die dort gewünschten reibungslos funktionierenden Wirtschaftsteilnehmer zu liefern. Sie ist offen wie die Naturgeschichte, in der sich aus einer unendlichen Verkettung prekärer Lebensentwürfe und existentieller Problematiken das Wunder der lebenden Vielfalt gebildet hat. Offen wie ein im Entstehen begriffenes Kunstwerk, das mit knappen Mitteln ein Problem nicht löst, sondern darauf mit einer schönen Komplikation antwortet. Sie produziert im besten Fall Individuen, die ein natürliches Bedürfnis haben, mit ihrer Lebendigkeit andere anzustecken.
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Wild sein heißt echt sein Das wahre Selbst ist die Erfahrung des Ganzen in einer verletzlichen Individualität. Es ist kein souveräner Herrscher, hinter einem Panzer sicher in seinem persönlichen Paradies verbarrikadiert. Das wahre Selbst ist fruchtbar durch Fruchtbarkeit der anderen, es ist bedingungsloses Geschenk um der Fruchtbarkeit willen. Darum heißt in Verbindung mit dem wahren Selbst zu sein den eigenen Tod als Bedingung des Fruchtbarseins in Kauf zu nehmen. Das Selbst ist die Kultur des Realen. Das Selbst ist eine schöpferische Verwandlung des Realen. Das Reale ist in uns, aber es ist größer als wir. Sich an der Gegenseitigkeit der Wildnis zu orientieren bietet darum keine Abkürzung zu einer heilen Welt. Es heißt vielmehr hinnehmen, dass diese Welt nur heil werden kann, wenn ich mich bedingungslos für sie engagiere, wenn ich es als meine eigene Zuständigkeit sehe, die Regeln der Gegenseitigkeit, aus denen Fruchtbarkeit aufgeht, immer wieder zu stärken und neu hervorzubringen. Diese Prinzipien können uns leiten, die Grundlagen einer neuen Kultur zu finden. Eine solche Kultur versteht sich dann nicht mehr als der Natur gegenübergestellt, sondern als Kultur des Lebendigen. Lebendig sein heißt von innen, sich gemäß notwendigen Bedürfnissen, zu entfalten. Eine entsprechende Kultur greift die Notwendigkeit auf, Fruchtbarkeit aus gegenseitigem Schenken zu erschaffen, und orientiert sich daran. Sie ist ökologisch, weil sie die Prinzipien, nach denen der Kosmos fruchtbar wird, nicht verletzt, sondern zu ihren Leitlinien macht. Es ist in seiner Wichtigkeit für uns nicht zu unterschätzen, dass die animistischen Kulturen, die Menschen seit hunderttausenden von Jahren auf der Erde entfaltet haben, genau diese Perspektive bieten. Mit Recht sucht anthropologisches Denken heute daher nach Inspiration bei den Indigenen und versucht einen »non-human turn« (Grusin 2015). Tabelle 2: Kultur des Westens und Kultur der Wildnis Glaubenssätze westlicher Kultur
Glaubenssätze einer Kultur der Wildnis
1. Wir sind des anderen Feind: »Ich bin, weil du nicht bist.«
1. Wir wollen kooperieren: »Ich bin, weil du bist.«
2. Wettkampf ist das Herz unseres Wesens.
2. Wir begehren Gegenseitigkeit.
3. Die Wirklichkeit ist nicht lebendig.
3. Alles hat Leben und Innerlichkeit.
4. Wir können die Wirklichkeit nur durch Zählen und Messen verstehen.
4. Wir können die Wirklichkeit durch Teilnahme in ihrer Lebendigkeit verstehen.
5. Es gilt unseren eigenen Tod zu vermeiden.
5. Es gilt die Welt fruchtbar zu halten.
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Die Leitlinien einer Kosmologie der Gegenseitigkeit bedeuten nicht, dass wir uns einem starren Regelsystem unterwerfen müssen. Die Leitlinien sind Grundsätze der Fruchtbarkeit, nicht solche der Herrschaft. Wenn Kultur ökologisch ist, so ist sie das im selben Sinne wie der Kosmos: nämlich dadurch, dass die Freiheit des Einzelnen sich aus der Notwendigkeit speist, den anderen in seiner eigenen Freiheit zu ehren und zu beschenken. Die Umsetzung dieser Notwendigkeit ist schöpferisch, ein Akt der Poesie. Kultur verwandelt damit eine fundamentale ökologische, ja kosmische Notwendigkeit in Selbstbestimmung. Die Bereitschaft, Notwendigkeit in Freiheit zu denken und nicht als Sachzwang, ist das, was unserer Zivilisation am meisten nottut. Wir können uns diesem Projekt aber erst widmen, wenn wir die Blockade überwinden, die in unserem Denken besteht und die uns souffliert, dass ökologisches Handeln nicht anders sein könne als determiniert und kausalmechanisch. Diese Blockade rührt von den Glaubenssätzen des Abendlandes her. Es gilt somit zuerst diese Glaubenssätze in Frage zu stellen. Es gilt, das Risiko einzugehen, sich der Unmittelbarkeit des eigenen Seins auszusetzen. Es gilt, sich selbst zu glauben und am eigenen Leibe zu spüren, dass die totale Trennung nicht real ist, dass ich vertrauen muss, dass ich vertrauen kann. Das Wilde in uns selbst ist das Echte. Erst unter dieser Perspektive hört es auf, eine knappe Ressource zu sein, und wird etwas, das man mit anderen teilt, indem man es ganz in Besitz nimmt. Aber es ist wichtig, dass wir dieses Echte nicht mit dem Ich mache, was ich will der Selbstverwirklichung verwechseln und nicht die aufglimmende Idee von Echtheit und der für sie nötigen Arbeit mit dem Hedonismus das Ego tragisch verwechseln. Diese Perspektive erinnert ein wenig an Schillers paradoxale Wendung, dass Notwendigkeit in Freiheit, Schönheit – und mithin echte Lebendigkeit sei. Es gibt eine Wirklichkeit, und wir haben keine Wahl, als diese voll und ganz zu akzeptieren. Wie wir aber diese Akzeptanz gestalten, ist frei – fruchtbar, schöpferisch. Es ist Kultur. Das gilt für alle Wesen – nicht nur für den Menschen. Kultur ist nicht nur unser Drama, sie ist das Drama alles Lebendigen, denn alles, was lebt, muss seine Beziehungen gestalten. Wildheit gebiert ihre eigene Kultur, und diese Kultur benötigt spezifische Tugenden. Sie sind den Glaubenssätzen des Westens, die wir im dritten Abschnitt betrachtet haben, entgegengesetzt. Es sind Tugenden nicht nur gelingender symbolischer Formen, sondern ebenso der verkörperten Formen: Jene Haltungen, die Fruchtbarkeit stiften, indem sie den Einzelnen so gedeihen lassen, dass das Ganze reicher wird. So, wie sich die Glaubenssätze des Westens in der Furcht, tot zu sein, bündeln, ist die zentrale Tugend der Wildnis das unumschränkte Vertrauen in die immer wieder neue und in ihrer Kraft unzerstörbare Erneuerung der Lebendigkeit. Dieser Tugend zu gehorchen heißt, dem Prinzip zu folgen, das die Wirklichkeit in ihrem
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innersten Mittelpunkt treibt: Handle so, dass Lebendigkeit sei. So wirst du selbst zur Wirklichkeit. Schenke Leben.
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Filmverzeichnis Rosenberg, Marshall (2000): The Basics of Nonviolent Communication. San Francisco Lecture Workshop. Siehe: https://www.youtube.com/watch?v=NH1MKA dxUpQ
»How to become Andy Kassier« Andy Kassier
Künstlerischer Lebenslauf Der Konzeptkünstler Andy Kassier (*1989) lebt und arbeitet in Berlin. Sein Werk umfasst Installationen, Performances, Fotografie, Videos, Skulpturen und Malerei. 2018 schloss er das Studium der Medialen Künste mit Auszeichnung an der Kunsthochschule Köln ab, an der er unter anderem bei Mischa Kuball und Johannes Wohnseifer lernte. Im Jahr 2013 erschuf er sein Alter Ego Andy Kassier, der ironisch das Narrativ von Reichtum und Glück in der spätkapitalistischen Gesellschaft bricht. Auf Instagram und in internationalen Einzel- und Gruppenausstellungen entwickelt er die Langzeitperformance kontinuierlich weiter. Kassier beobachtet diverse Phänomene zu den Themen Inszenierung virtueller Identitäten in den sozialen Medien und vor allem die Entwicklung digitaler Bildkulturen. Basierend auf seinen Erkenntnissen sucht er in seiner künstlerischen Arbeit nach Antworten auf aktuell gesellschaftlich relevante Fragen: • • • • •
Was ist Glück? (»the science of happiness«, Pop; 68, Köln, 2016) Wie werde ich erfolgreich? (»On the Internet, Nobody Knows You’re a Performance Artist. Andy Kassier und Signe Pierce«, NRW-Forum Düsseldorf, 2018) Wie wird Männlichkeit dargestellt? (»How To Take A Selfie«, Goethe-Zentrum Baku, Aserbaidschan, 2019) Wie akzeptiere ich mich selbst? (»Link in Bio. Kunst nach den sozialen Medien«, Museum der bildenden Künste Leipzig, 2019/2020) Was ist die Rolle des Künstlers im digitalen Zeitalter? (»palm down«, HANZ.studio, Gallery Weekend Berlin, 2020)
ARTWORK Mit seiner Ausstellung HOW TO TAKE A SELFIE, die der Künstler als Teil einer Gruppenausstellung für das Goethe Institut in Baku, Aserbaidschan realisierte,
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Andy Kassier
passt Andy Kassier perfekt in den Kontext praktischer Anwendung unseres Herausgeberbandes: Der Mensch als Faktizität. Pädagogisch-Anthropologische Zugänge. Denn der Künstler greift damit die Verschränkung von Virtualität und Performativität in Zeiten des Postfaktischen gekonnt auf und ironisiert mediale Identitäten auf künstlerische Weise. Sein Leitsatz könnte gelten: Fake it till you´ll make it, denn er hat es tatsächlich geschafft: als Influencer in der Kunstszene bespielt er Galerien und Kunstmuseen. Fragt man ihn, ob er sich darüber freut, streitet er seinen eigenen Kampf um mediale Anerkennung ab. Vielmehr stellt er sich in seinen Arbeiten die Frage, ob Fakten nicht einfach beliebige Konstruktionen oder bloße Imaginationen seien? Denn das Spiel der Kunst war es seit je her, mit gegebenen Tatsachen zu spielen oder der Realität durch Reproduktion so nah wie möglich zu kommen. Der Künstler speicherte in seiner Recherche über 1.000 Postings. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: 60 inszenierte Fotos in der Reihe »How to Take a Selfie« was sich als intermezzo aus einer Sammlung von re-inszenierten Statusmeldungen darstellt. Kassier präsentiert die Vielzahl von Männerbildern, wie er sie online gefunden hat. »Die Demonstration von Stärke, Macht und Potenz prägen im Zeitalter der Selbstoptimierung das Männerbild«, sagt Kassier, »Männer repräsentieren körperliche Schönheit und Macht«. (MONOPOL Annika Meier, 25.3.2019) In seiner Reihe succes is just a smile away zeigt er die teilweise als toxisch interpretierbare Suche nach dem neuen Mann in Medien und Werbung: Männer wollen stark sein, zeigen daher keine Schwäche und inszenieren sich als antifragile Menschen, gefühllos, kalt und cool. Eine Auswahl aus seiner Serie success is just a smile away gibt es in diesem Band. Andy Kassiers Suche nach der perfekten Inszenierung eines Ideals, welches er durch Hashtags (#male, #boy), Geotags (Berlin, New York, London, Paris) dokumentiert, bildet eine virtuelle Reise durch Instagram-Profile ab, immer unter folgenden Gesichtspunkten: »Wollen Männer heute als stark, weich, erfolgreich oder emotional gesehen werden? Braucht ein Mann Muskeln, um als männlich wahrgenommen zu werden? Welches Outfit verhilft einem Mann zu sozialer Anerkennung?« (Andy Kassier 2019 in Köln) Den Zuschauer*innen auf Instagram wurde »Faktizität« vorgespielt, die es zunächst nur stringent zu interpretieren galt, der Erfolg und Reichtum waren von Beginn an vorgetäuscht. In seinen Arbeiten konzentrierte Andy Kassier sich auf Motive und Statussymbole, die ihm repetitiv medial und im Alltag begegnet sind: Muskeln, Autos, Essen, Freunde, Partys, Locations (Hotel, Strand, Natur). In einem weiteren Bearbeitungsprozess wurden Überschneidungen aussortiert und Beispiele herausgesucht, die statt toxischer (vielleicht auch nur unbewusst) eher eine fragile Männlichkeit repräsentieren. Es ergibt sich eine Vielfalt digitaler (männlicher) Identitäten, die vom Naturjungen, über den erfolgreichen Geschäftsmann bis zum
»How to become Andy Kassier«
Hipster auf dem Tennisplatz immer mit der Dialektik zwischen Erfolg und Niederlage, Gewinn und Verlust, Fragilität und Stärke spielen. Man(n) darf gespannt sein auf Andy´s weitere Schaffenskraft.
Text aus dem Katalog der Ausstellung LINK IN BIO von Anika Meier »Success is just a smile away« Künstler*innen verfolgen den Zeitgeist auf Instagram, ihre Konzepte und ihre Kritik ändern sich mit den gesellschaftlichen Entwicklungen, die sie reflektieren. Unter dem programmatischen Titel »success is just a smile away« erzählt der deutsche Konzeptkünstler Andy Kassier in einer Langzeitperformance auf Instagram die Geschichte eines von Erfolg und Geld getriebenen Selfmademan. Er ist immer dort, wo die Sonne scheint und es Geld regnet. Seine Haare sitzen, er trägt ein Lächeln im Gesicht, seine Schuhe und seine Autos glänzen. Nie ist er um einen Motivationsspruch verlegen, der zu Reichtum und Glück verhelfen soll. »Taking risks and succeeding makes you a winning player. Never forget that you could have become a tree instead of a human, so be happy in every second of your life. Just be yourself.« Kassier ist die Personifikation des falschen Versprechens: Geld, Macht und Sorglosigkeit sind für alle erreichbar. Er kombiniert Kritik und Verständnis für eine Generation, die immer weiter, schneller und höher will, deren Mantra #nevernotworking lautet, deren Berufe aber nur schwer greifbar sind. Kassier derweil hat sich überarbeitet. Im Frühjahr 2019 hat ihn ein Burnout ins Meer getrieben, er ist ein halbes Jahr lang abgetaucht, jetzt frönt er Selbstpflege und Selbstliebe. Kassier ist nicht mehr auf der Überholspur unterwegs, sondern schaukelt – natürlich immer noch hoch oben – in der Natur. »Ein fester Job ist ein Zeichen von Schwäche«, sagte er einst. Heute findet er durch Yoga und Meditation zu sich selbst. Mit Hilfe von alternativen Heilmethoden will er sein Gleichgewicht finden, er nimmt sich Zeit zum Nachdenken und Innehalten. Sein Spiegel erinnert ihn daran: »Time to reflect.« Kassier lebt im Hier und Jetzt, in der Kunst findet er einen Ausgleich. Aktuell lebt er in Südafrika und widmet sich nun der Malerei. Wir können hoffentlich noch viele Ausstellungen des Künstlers erwarten. Weitere Gruppenausstellungen: u.a. »From Selfie to Self-Expression« (2017), Saatchi Gallery, London; »sunny side up« (2018), EIGEN + ART Lab, Berlin; »Situations/PORN« (2019), Fotomuseum Winterthur; »Schaulust« (2019), Photoforum Pasquart, Biel; »Staging Identity. Zwischen Maskerade, Körperinszenierung und Rollenspiel« (2020), Mathildenhöhe Darmstadt
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Andy Kassier
Publikation: Mitherausgeber der Anthologie »Mindstate Malibu. Kritik ist auch nur eine Form von Eskapismus« (2018), Beiträge u.a. von Rafael Horzon, Clemens J. Setz, Leif Randt, Signe Pierce und Anika Meier Meier, Anika (2019): »Über Fotografie 2.0«, in: Monopol. Magazin für Kunst und Leben, vom 25.3.2019. Siehe: https://www.monopol-magazin.de/kuenstler-reinsz eniert-selbstportraets-von-maennern-sozialen-netzwerken Es folgt eine Bildstrecke aus den Arbeiten: »success is just a smile away« (2013-2019)
Andy Kassier – acupuncture, 2019
»How to become Andy Kassier«
Andy Kassier – just swinging, 2019
Andy Kassier – stairways, 2018
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Andy Kassier
Andy Kassier – africa high (convertible), 2015
Andy Kassier – big business as usual, 2017
»How to become Andy Kassier«
Andy Kassier – naked snow, 2014
Andy Kassier – work out, 2018
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Andy Kassier
Andy Kassier – africa high (tennis), 2015
Andy Kassier – white horse, 2017
»How to become Andy Kassier«
Andy Kassier – untitled vice #1, 2013
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Autor_innenverzeichnis
Beiler, Frank, Dr. phil., lehrt Allgemeine Erziehungswissenschaft mit den Schwerpunkten Erziehungs- und Bildungsphilosophie an der Helmut-SchmidtUniversität/Universität der Bundeswehr Hamburg; [email protected]. Bilgi, Oktay, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt frühe Kindheit im Department Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Theoriebildung in der Pädagogik der frühen Kindheit, Pädagogische Ethik, Human-Animal Studies, Pädagogische Anthropologie und Bildungsphilosophie; [email protected]. Jungen, Thari, MA, ist Doktorandin im Graduiertenkolleg »Performing Citizenship. Sie ist Gründerin des Instituts für Falsifikate (IFF) und freischaffende Medienkünstlerin. Arbeitsschwerpunkte: Kritische Theorie, künstlerische Forschung, ästheti-sche Theorie und Kunstwissenschaften; [email protected]. Kraus, Anja, Dr.in phil., Professorin für Kunst- und Kulturpädagogik an der Universität Stockholm. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftstheorie und pädagogische Normativität, Pädagogische Lerntheorien, Körperlichkeit in der Schule, Integration künstlerischer Positionen in die empirische Erziehungswissenschaft, Heterogenität in der Schule, anthropologische Fragen, schweigendes Wissen; [email protected]. Lechner, Theresa, MA, ist Doktorandin und Universitätsassistentin am Fachbereich Erziehungswissenschaft an der Paris-Lodron-Universität Salzburg. Arbeitsschwerpunkte: (Allgemein-)Pädagogische Grundprobleme, Feministische Gesellschafts- und Wissenschaftskritik, Relationale Theorien der Erziehung und Bildung; [email protected]. Meier, Salomé, MA, ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich. Daneben
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Der Mensch als Faktizität
freie Literaturredakteurin bei SRF 2 Kultur und Mitherausgeberin der Variations, der komparatistischen Literaturzeitschrift der Universität Zürich. Arbeitsschwerpunkte: Virtualität und Weiblichkeit, Literatur und Psychoanalyse, Erinnerung und Gedächtnis im Werk von W.G. Sebald; [email protected]. Mersch, Dieter, Dr. phil., Professor em. War bis 2021 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts, der Medienphilosophie, Ästhetik und Kunsttheorie sowie der Semiotik, Hermeneutik, des Poststrukturalismus und der Philosophie des Bildes, der Musik und der Sprache; [email protected]. Morais dos Santos Bruss, Sara, Dr.in phil., ist Kultur- und Medienwissenschaftlerin. In Ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit vergeschlechtlichten und rassifizierten Dimensionen technologischer Imaginäre und wie diese die Gesellschaft prägen. Neben ihren universitären Tätigkeiten in Forschung und Lehre ist Sara Mitglied bei kritisch-lesen.de, diffrakt. Zentrum für theoretische Peripherie und Assoziierte des neugegründeten Data Politics Lab; [email protected]. Senkbeil, Thomas, Dr. phil., ist diplomierter Sozialpädagoge auf einer JugendAkutstation und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Pädagogischen Anthropologie, Sozialpädagogik und psychoanalytischen Pädagogik; [email protected]. Stieve, Claus, Dr. phil., ist Professor für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Frühe Kindheit an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften, Technische Hochschule Köln. Arbeitsschwerpunkte: Erziehungswissenschaftliche Phänomenologie, insbesondere zu frühkindlicher Erfahrung; Frühpädagogische Bildungstheorie; Gegenstandstheorie der Pädagogik der frühen Kindheit; Didaktik in Kindertageseinrichtungen (insbesondere pädagogische Räume); [email protected]. Stoltenhoff, Ann-Kathrin, Dr.in, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaften der Europa-Universität Flensburg. Arbeitsschwerpunkte: Diskursforschung, Educational Governance Forschung, rekonstruktive Heterogenitäts-, Inklusions- und Geschlechterforschung, Kultur- und Medienbildung, Digital Culture Studies, Qualitative Bildungsforschung, Forschungsdatenmanagement; [email protected]. Weber, Andreas, Dr. phil., ist Schriftsteller, Philosoph und Biologe, Lehrbeauftagter an der Universität der Künste Berlin, Visiting Professor an der UNISG Pollen-
Autor_innenverzeichnis
zo, Italien und Adjunct Professor am IIT, Guwahati, Indien. Arbeitsschwerpunkte: Ökophilosophie, Philosophische Anthropologie, Biosemiotik, Kunstphilosophie, Animismus, Nature Writing; [email protected]. Westphal, Kristin, Dr.in phil., ist Professorin em. an der Universität Koblenz Fachbereich 1 Bildungswissenschaften. Gründungsmitglied des Zentrums für zeitgenössisches Theater/Studiengang Darstellendes Spiel. Arbeitsschwerpunkte: Pädagogische Anthropologie und Phänomenologie; Ästhetik und Bildung. Erziehen und Bilden in der Kindheit; [email protected]. Wulf, Christoph, Dr. phil., ist Professor für Anthropologie und Erziehung und Mitglied des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie an der Freien Universität Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Historische Anthropologie, Pädagogische Anthropologie, Interkulturelle Bildung, Mimesis- und Imaginationsforschung, Performativitäts- und Ritualforschung, ästhetische und interkulturelle Erziehung; [email protected]. Zirfas, Jörg, Dr. phil., ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Pädagogische Anthropologie im Department Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln. Arbeits-schwerpunkte: Pädagogische und Historische Anthropologie, Bildungsphilosophie und Psychoanalyse, Kultur-pädagogik und Ästhetische Bildung, Qualitative Bildungs- und Sozialforschung; [email protected].
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Kulturwissenschaft Michael Thompson
Mülltheorie Über die Schaffung und Vernichtung von Werten April 2021, 324 S., kart., Dispersionsbindung, 57 SW-Abbildungen 27,00 € (DE), 978-3-8376-5224-6 E-Book: PDF: 23,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5224-0 EPUB: 23,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5224-6
Erika Fischer-Lichte
Performativität Eine kulturwissenschaftliche Einführung April 2021, 274 S., kart., 3 SW-Abbildungen 22,00 € (DE), 978-3-8376-5377-9 E-Book: PDF: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5377-3
Stephan Günzel
Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung 2020, 192 S., kart. 20,00 € (DE), 978-3-8376-5217-8 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5217-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan
Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung 2020, 384 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5218-5 E-Book: PDF: 22,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5218-9
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)
POP Kultur und Kritik (Jg. 10, 2/2021) September 2021, 176 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-5394-6 E-Book: PDF: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-5394-0
Marcus Hahn, Frederic Ponten (Hg.)
Deutschland-Analysen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2020 2020, 240 S., kart., Dispersionsbindung, 23 Farbabbildungen 14,99 € (DE), 978-3-8376-4954-3 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4954-7
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