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German Pages 377 Year 2016
Bernd Stiegler
DER MONTIERTE MENSCH
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Bild und Text herausgegeben von
GOTTFRIED BOEHM GABRIELE BRANDSTET TER BERND STIEGLER
begründet von
GOTTFRIED BOEHM KARLHEINZ STIERLE
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Bernd Stiegler
DER MONTIERTE MENSCH Eine Figur der Moderne
Wilhelm Fink Bernd Stiegler - 978-3-8467-5976-9 Heruntergeladen von Brill.com04/20/2021 06:23:17AM via Universitat Leipzig
Umschlagabbildung: Der Mensch als Industriepalast (Ausschnitt), Beilage zu Fritz Kahn, Das Leben des Menschen, Stuttgart 1922-31
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für Felix H. in Dankbarkeit & Freundschaft
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
I. TECHNIK UND PSYCHOTECHNIK: DIE TECHNISCHE EINSTELLUNG DES MENSCHEN . . . . . . .
25
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Psychotechnik in Deutschland und Rußland: Der allgemeine Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fritz Giese: Psychotechnik als deutsche Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Frank Bunker Gilbreth: Normalisierung als Lebenskunst . . . . . . . . .
27 41 67 87
II. TECHNIK UND MEDIEN: DIE MEDIALE EINSTELLUNG DES MENSCHEN . . . . . . . . . . . 123 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Film und Montage in Rußland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Dsiga Wertow: Der Film als reflexologisch-politisches Laboratorium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Sergei Eisenstein: Die Macht der Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Technikphotographien: Aufnahmen aus dem Reich der Freiheit und der Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Photomontage: Kalkulierte Explosionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
125 131 132 153 179 223
III. TECHNIK UND ÄSTHETIK: DIE VISUELLE EINSTELLUNG DES MENSCHEN . . . . . . . . . . . 257 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Visuelle Alphabetisierung I: Technische Bildwelten . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Fritz Kahn: Im Inneren der Mensch-Maschine 1.2 Otto Neurath: Gesellschafts- und Aufklärungstechnik . . . . . . . . 1.3 Jan Tschichold: Nach dem Gutenbergzeitalter . . . . . . . . . . . . . . 2. Visuelle Alphabetisierung II: Photographische Alphabetisierung . . . . 3. Die photographische Alphabetisierung des Arbeiters . . . . . . . . . . . .
259 265 276 285 297 323
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INHALT
EPILOG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Die technische Mobilmachung: Ernst Jünger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 DANK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 ABBILDUNGSVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 NAMENREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
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Einleitung
„Handbewegung und Erlebnis, Körperhaltung und Einsatz, Mensch und Maschine, immerfort gleich.“ Egon Erwin Kisch1
Der Begriff „Montage“ hat bekanntlich eine doppelte Bedeutung: Einerseits bezeichnet er als filmisches Verfahren die Bearbeitung des belichteten Materials bzw. in der Photographie die Verwendung von Bildern und visuellen Elementen für eine neue Komposition. Andererseits kennzeichnet er eine industrielle oder zumindest technische Fertigung im Sinne eines Zusammenfügens vorgefertigten Materials. Damit sind zwei sehr unterschiedliche epistemische Felder benannt: die Ästhetik und die Technik. Während das eine bis hinein in die Moderne ein Reich der Freiheit oder zumindest des Widerstands und der Kritik ist, gilt das für das andere nicht: Hier gilt das Gesetz der Zweckrationalität, ohne die das zusammengesetzte Produkt nicht funktionieren würde. In diesem Sinne wurden auch die beiden semantischen Felder des Begriffs „Montage“ zumeist streng voneinander getrennt: die ästhetische wurde als Kritik an der industriellen Montage begriffen, das Prinzip der künstlerischen Montage als jenem der mechanischen diametral entgegenlaufend aufgefaßt: „Montage als industrielle Fertigungstechnik und künstlerisches Verfahren kennzeichnet ein grundlegender Unterschied. Die eine setzt Teile aus gleichartigem Material zu einem funktionalen Ganzen zusammen, während die andere zunächst den Effekt des Dysfunktionalen sucht, indem sie Materialien, die gerade nicht zusammenpassen, aus ihren Herkunfts- und Funktionszusammenhängen reißt, um sie in der künstlerischen Bearbeitung einem neuen Kontext einzufügen, der geeignet ist, gerade auch über den ursprünglichen Zusammenhang eine Aussage zu machen.“2 So lautet die Definition im Katalog einer Marbacher Ausstellung, die so etwas wie den common sense einer traditionellen Montagetheorie resümiert. Doch trifft diese Bestimmung wirklich zu? Lassen sich die beiden Bereiche der Theorie wie auch der Praxis der „Montage“ so scharf trennen, wie man es sich offenkundig wünscht? 1 Egon Erwin Kisch, Paradies Amerika, Berlin/Ost 1948, S. 298. 2 Ulrich Ott (Hg.), Literatur im Industriezeitalter, 2 Bde., Bd. 2, Marbach 1987 (= Ausstellungskatalog Deutsches Literaturarchiv im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar), S. 732.
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EINLEITUNG
Ich möchte versuchen, in diesem Buch eine andere Geschichte der Montage zumindest in Bruchstücken zu rekonstruieren. Sie folgt einem eigentümlichen roten Faden, der sich durch zahlreiche Texte und Dokumente der Zeit zwischen den späten 1910er bis in die 1940er Jahre zieht: der Vision eines neuen, eines montierten Menschen. Dieser sei, so wollen es unisono Psychotechniker und Literaten, Ingenieure und Filmemacher, Architekten und Photographen, Tayloristen und Künstler, technisch neu zu konstruieren. Vor einem Jahrhundert wurde die alte Idee eines Maschinenmenschen wiederbelebt, technologisch aktualisiert und neu ausformuliert und avancierte zur Zentralmetapher von Kulturdiagnosen, Gesellschaftsvisionen und Medientheorien. Anders als bei den Visionen eines La Mettrie und anderen greift nun die Metapher auf die konkrete gesellschaftliche Praxis über. Sie steht im Hintergrund der neu entstandenen Montagepraktiken der russischen Avantgardefilme, der sich nun rasch verbreitenden Arbeitswissenschaft und Psychotechnik, weiter Teile der künstlerischen Strömungen der Zeit und nicht zuletzt auch politischer Theorien zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus. Wenn man verstehen will, welche Bedeutung die Technik für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hat, so gilt es zuallererst diese Leitmetapher des „montierten Menschen“ in den Blick zu nehmen. Es geht um nichts Geringeres als um eine eigentümliche Figur des politischen Imaginären, die mehrere Jahrzehnte lang höchst unterschiedliche Gesellschaften umtreibt. Die Technik bildet dabei eine vermeintlich neutrale Zone, von der aus die eminent politische Agenda einer Umgestaltung der Gesellschaft und des Menschen in Angriff genommen wird. Dies geschieht in bemerkenswerter Weise in höchst unterschiedlichen politischen Lagern, aber auch in einer Fülle sehr heterogener epistemischer Felder. So wurden etwa der Taylorismus und die deutsche Arbeitswissenschaft in Sowjetrußland breit rezipiert und umgesetzt. Doch auch wenn die politischen Systeme stark differierten, träumte man diesseits wie jenseits des Atlantiks vom montierten Menschen. Zwischen den Vereinigten Staaten, Europa und Rußland bildete die Technik eine Art Austauschzone, die ideologische und politische Neutralität garantierte. Wenn wir daher von Montage und dem montierten Menschen sprechen, so haben wir es mit einem nahezu globalen Phänomen zu tun, bei dem systematisch Ästhetik und Technik verschaltet werden. Die Montagepraktiken der Kunst und Ästhetik sind ohne die Montageverfahren der Industrie nicht vorstellbar, wie umgekehrt auch die tayloristischen Rationalisierungsverfahren eines Frank Bunker Gilbreth eine neue, technische Art der Lebenskunst zu entwerfen suchen, die sich keineswegs auf die industrielle Produktionstechnik beschränkt. Und last but not least greifen die filmischen Montageverfahren, die in den 1910er und dann vor allem 1920er Jahren entwickelt werden, auf andere Weise auf Theorien der Rationalisierung, des Taylorismus, aber auch der psychologischen Konditionierung zurück.
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EINLEITUNG
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Der leuchtende Weg Um zu verdeutlich, was hier auf dem Spiel steht, sei zu Beginn ein – allerdings spätes – Beispiel unter vielen herangezogen, da dieses viele Elemente bündelt: Grigori Alexandrows stalinistische Operette SVETLYY PUT, DER LEUCHTENDE WEG aus dem Jahr 1940, dessen Titel eigentlich „Aschenputtel“ oder „Cinderella“ hätte heißen sollen. In der Eingangssequenz des Films ist daher das Gesicht der Protagonistin Tanya, gespielt von Ljubow Orlowa, ganz offensichtlich mit Staub bedeckt, um das Vorbild kenntlich zu machen. Es war Stalin höchstpersönlich, der eine Änderung des Titels gefordert hatte. Auch wenn in solchen vermeintlich seichten Kulturprodukten noch nicht einmal sein Name genannt, geschweige denn sein Bild gezeigt werden durfte, so behielt er sich dennoch die Kontrolle über die Filme vor. Orlowa frequentierte seinerzeit Stalins Trinkempfänge und stand so sehr in seiner Gunst, daß es ihr nicht nur gestattet wurde, das Schicksal ihres ersten Ehemanns zu erfahren, der als oppositioneller Politiker vom KGB verhaftet worden war, sondern ihn sogar im Gefängnis besuchen durfte. Er wurde später, schwer krebskrank, freigelassen und starb im Exil. Orlowa heiratete ihrerseits Grigori Aleksandrov, den Regisseur von DER LEUCHTENDE WEG und setzte so in ihrem eigenen Leben das fort, was auch der Film als idealtypisches Modell vorgesehen hatte: durch Arbeit zum privaten Glück zu finden und so beide Bereiche miteinander zu verbinden. DER LEUCHTENDE WEG assoziiert in vieler Hinsicht auf programmatische Weise Kulturindustrie und Industriekultur. Er erzählt nicht ganz ohne Ironie die Wandlung der Protagonistin Tanya vom häßlichen Entlein zur strahlenden Schönheit und die Überführung einer bereits rationalisierten Hausarbeit in industrialisierte Produktionstechniken, deren Erzeugnisse dann wieder Einzug in die Wohnstuben halten. Tanya erhält am Ende nicht nur die Lenin-Medaille für ihre vorbildliche Entwicklung eines effizienteren Webverfahrens und die so möglich gewordene Steigerung der Produktion (und darf daher in die Stadt der Träume, sprich nach Moskau reisen), sondern auch das Herz von Alexei, der ihren Weg von Anfang an mehrfach gekreuzt hatte. Das ist eine politisch-technische Initiationsgeschichte in ideologischer Absicht. Ljubow Orlowa wurde ihrerseits für ihre schauspielerische Leistung in diesem Film und in WOLGA-WOLGA, einer anderen Operette des Duos, mit dem Stalin-Staatspreis ausgezeichnet. DER LEUCHTENDE WEG verwandelt die Fertigungshalle in ein Paradies und Moskau (und insbesondere die Landwirtschaftsausstellung) in das gelobte Land. Im Film wird aus offenkundigen Traumsequenzen der nur vermeintlich harte Alltag der industriellen Fertigung, der sich als Welt des rhythmischen Gleichklangs technischer Sphärenharmonie erweist – und aus dem Aschenputtel wird die Königin der Webstühle. Was hier operettenhaft auf die Spitze getrieben wird, ist ein Topos des russischen Films: Ähnliche Plots finden wir, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, bei Wertow (etwa in ENTHUSIASM), bei Eisenstein (in DIE GENERALLINIE) oder in den sogenannten Agitprop-Filmen um 1930, die Spielfilmsequenzen mit dokumentarischen verbinden, um so klare Botschaften unter das Volk
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EINLEITUNG
Abb. E-1-2 Grigori Alexandrow, SVETLYY PUT, DER LEUCHTENDE WEG, RUS 1941
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EINLEITUNG
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zu bringen.3 Filmische und industrielle Montage entwerfen gemeinsam eben jenen LEUCHTENDEN WEG, der hier titelgebend war, und der selbst radikal montiert ist: Das Leben ist ein in toto von der Montage durchdrungenes. Es gibt in dieser Geschichte kein Element, das nicht zitierbares Versatzstück wäre, kein Biographem, das nicht vorgestanzt, kein Bild, das nicht bereits geprägt worden wäre. Wenn Tanya das gelobte Land der Montagehalle betritt, so findet sie ihre Heimat: den Ort, der ihrem Leben, ihrem Schicksal und ihrem Weg entspricht. Sie wird nun ihrerseits zum Vorbild werden, um so den Lebensentwürfen der Zuschauer ihr Ziel vorzugeben. Subjekt und Objekt werden eins: So wie sie es schafft, Maschinen zu optimieren, so sollen auch sie und ihr Leben optimiert werden. Und schafft sie eine Steigerung der Produktion, so bleibt auch eine Wendung in ihrem Leben nicht aus: So wie Du montierst, so wirst auch Du montiert werden. Der Film und die Konstruktion eines neuen Menschen Doch mehr noch als solche offenkundige Ideologeme setzt DER LEUCHTENDE WEG eine Traditionslinie fort, die weniger sichtbar ist: Er buchstabiert eben in Gestalt einer Operette und somit als ein Produkt, das von den formalen Errungenschaften des Avantgarde-Films recht weit entfernt ist, eine Funktionsbestimmung des neuen Films in einer neuen Gesellschaft aus, wie sie exemplarisch und mehr oder weniger unisono von Pudowkin, Eisenstein und Wertow programmatisch entwickelt wurde. Sie deuten den Film eben als Möglichkeit der Konstruktion eines neuen Menschen, der, den Zwängen der Natur- und der bürgerlichen Traditionsverbundenheit entkommen, im Reich der Technik angekommen sei. Wertow spricht etwa in expliziter Analogie zur biblischen Schöpfungsgeschichte von einem neuen Adam: „Ich bin Kinoglaz,“ so ruft Wertow im Manifest „Kinoki-Umsturz“ mit der Stimme des absoluten Auges der Filmkamera aus, „ich schaffe einen Menschen, der vollkommener ist als Adam“, einen „elektrischen Jüngling.“4 Und in einem weiteren der frühen Manifeste der Kinoki-Bewegung skizziert er gleich ein ganzes gesellschaftliches Programm der neuen Filmsprache: „Unser Weg – vom sich herumwälzenden Bürger über die Poesie der Maschinen zum vollendeten elektrischen Menschen.“5 Wenn es gelinge, im Film die „Menschen mit der Maschine zu verbinden“,6 könne der neue Mensch erzogen, ja erschaffen werden. Wir sollen also im Film in doppelter Weise der Genese des montierten Menschen beiwohnen: auf der Leinwand und im Kinosessel. Es geht um filmische Verfahren aktiver Konditionierung. Pudowkin widmete Pawlow, dessen Theorie hier Pate steht, gar einen ganzen Film. DIE MECHANIK DES GEHIRNS zeigt Pawlows Versuchsanstalt, seine „physiologische 3 Vgl. dazu Christine Engel (Hg.), Geschichte des sowjetischen und russischen Films, Stuttgart 1999, S. 48f. 4 Dziga Vertov, „Kinoki-Umsturz“, in: ders., Schriften zum Film, München 1973, S. 19. 5 Ders., „Wir“, in: ebd., S. 8. 6 Ebd.
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EINLEITUNG
Abb. E 3 Wsewolod Pudowkin, DIE MECHANIK DES GEHIRNS, RUS 1926 Animation des bedingten Reflexes beim Hund, Reizung zweier Hirnzentren und Gehirn des Hundes von oben, Entfernung eines Teils der linken Hemisphäre
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EINLEITUNG
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Abb. E 3a Psychologie des Speichelflusses
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EINLEITUNG
Fabrik“ in programmatischer Absicht.7 Pudowkin geht es wie Eisenstein und Wertow mit seinen filmischen Arbeiten um eine Mechanik der Montage im Sinne einer aktiven Konditionierung des Zuschauers. So wie die Versuchstiere bedingte Reflexe ausbilden, wenn man sie eben konditioniert, ist es Aufgabe des Films, den Betrachter umzuprogrammieren. Bei ihrer im Wortsinn gesellschaftswissenschaftlichen Auslegung des Films können die russischen Regisseure der Avantgarde auf eine lange Tradition zurückgreifen, die weit in die präkinematographische Zeit zurückreicht: Bereits in den 1870er und 1880er Jahren lernten die Bilder laufen, ja bestand das privilegierte Anwendungsfeld der Momentphotographie gerade aus dem für das Auge unzugänglichen Reich der Bewegungen. Muybridge und dann vor allem Marey dienten die aufgezeichneten Bilder nicht nur dazu, die Gesetze der Bewegung als solche des Lebens in visuelle Kürzel zu überführen, sondern die so gewonnenen Graphen für eine Optimierung der Bewegungsabläufe nutzbar zu machen. So finden wir, wenn wir Mareys Beispiele durchgehen, Aufnahmen von marschierenden Soldaten, aber auch solche von Arbeitern bei alltäglichen manuellen Verrichtungen.8 Bereits in der Chronophotographie, aus der der Film hervorgehen sollte, zielen, wie diese wenigen Beispiele zeigen, die visuelle Reproduktion und die Erschließung des für das menschliche Auge unzugänglichen Bereichs auf eine Optimierung der Produktion, der Produktivität. Bis weit hinein in die Avantgarde und ihre Programmschriften taucht dieses Doppel auf: mediale Reproduktion soll in Produktion umschlagen, ob diese nun manuell, industriell oder auch sinnesphysiologisch gedeutet wird. Während jedoch die Photographie im 19. Jahrhundert noch ein Instrument der Analyse war und somit ihre Beziehung zu ihrem Gegenstand unilateral war, verwandelt sich in den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts diese Konstellation: nun wird die Kamera aktiv, beweglich, zu einem Instrument, das das Subjekt nicht nur in den Blick nimmt, sondern ihm seinen Blick nimmt. Photographie und Film zielen auf die menschliche Wahrnehmung und wollen diese nicht nur beobachten, sondern radikal verändern.
7 Vgl. dazu Torsten Rüting, Pavlov und der Neue Mensch. Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 12), München 2002. Anke Hennig, „faktur und fRaktur. Transformatoren ästhetischer Erfahrung im Film“, in: Sonderforschungsbereich 626 (Hg.): Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit, Berlin 2006. im Netz unter: http://www.sfb626.de/veroeffentlichungen/online/aesth_erfahrung/aufsaetze/hennig.pdf (letzter Zugriff am 29.4.2016), sowie Margarete Vöhringer, Avantgarde und Psychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der frühen Sowjetunion, Göttingen 2007. 8 Vgl. dazu Marta Braun, Picturing Time. The Work of Etienne-Jules Marey, Chicago 1992.
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EINLEITUNG
Abb. E 4 Artikel über Marey in: Scientific American Supplement, 5.2.1887, mit handschriftlichen Kommentaren aus dem Nachlaß von Frank Bunker Gilbreth
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EINLEITUNG
Kunst als Sinnes- und Körpertraining Was bei Moholy-Nagy, in dessen Programmschrift Malerei, Fotografie, Film ein Kapitel mit „Produktion Reproduktion“ überschrieben ist,9 eine rein ästhetische Strategie zu sein scheint, erweist sich so bei genauerem Hinsehen als Versuch, mit den Mitteln der Kunst den Menschen überhaupt erst zeitgemäß zu machen und das heißt seine psychophysischen Möglichkeiten auszureizen. Kunst ist – und das ist zugleich ein Topos der Avantgardetheorie – ein neutrales und ungefährliches Trainingsfeld für den ungleich riskanteren Alltag. Mit den Mitteln der Kunst soll der Mensch fit für die Anforderungen der modernen Wirklichkeit werden. Kunst ist regelrechtes Sinnestraining. „Der fotografische Apparat kann unser optisches Instrument, das Auge, vervollkommnen bzw. ergänzen“,10 schreibt Moholy in Malerei, Fotografie, Film im Sinne der Photographie des „Neuen Sehens“, um sogleich hinzuzufügen, daß die objektive Reproduktion dank des Films und der Photographie auf objektivierbare Veränderungen einer planmäßigen Produktion zielt. Nun verwandelt sich das neutrale Trainingsgelände in eine Montagehalle: „Wir sind – durch hundert Jahre Fotografie und zwei Jahrzehnte Film – […] ungeheuer bereichert worden. Man kann sagen, daß wir die Welt mit vollkommen anderen Augen sehen. Trotzdem ist das Gesamtergebnis bis heute nicht viel mehr als eine visuelle enzyklopädische Leistung. Das genügt uns aber nicht. Wir wollen planmäßig produzieren, da für das Leben das Schaffen neuer Relationen von Wichtigkeit ist.“11 Nun gilt es, die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt neu zu gestalten, neu einzurichten, neu zu programmieren. Und diese Neukonzeption des Menschen im technischen Zeitalter folgt der Logik einer funktionalen industriellen Montage. Das ist auch Zeitgenossen nicht verborgen geblieben: Während etwa Jan Tschichold in der Zwischenkriegszeit zusammen mit Moholy und anderen eine neue Typographie propagierte, die nicht zuletzt durch die Erfordernisse der Aufmerksamkeitsökonomie begründet wurde (in der modernen Welt, so lautet die Argumentationsfigur, ist aufgrund der Beschleunigung sämtlicher Lebensvorgänge eine schnellere Orientierung vonnöten, die aber einzig eine neue Bildschrift, die man auf einen Blick entziffern kann, ermöglichen könne), ist es zwanzig Jahre später derselbe Tschichold, der sich von seiner eigenen Position mit dem Argument distanziert, daß der Funktionalismus der Avantgarde der Industrie in die Hände gespielt hätte.12 Damit knüpft er an die berühmte Kritik Adornos und Horkheimers an, die die Zweckrationalität als Motor der fatalen Dialektik der Aufklärung scharf kritisierten. In den 1920er und 1930er Jahren war jedoch die Technik noch das gelobte Land, das Paradies, aus dem ein neuer Mensch, ein „technischer Adam“ hervorgehen sollte. 9 László Moholy-Nagy, Malerei, Fotografie, Film, Berlin 1986 (Reprint der Ausgabe von 1927), S. 28f. 10 Ebd., S. 26. 11 Ebd., S. 27. 12 Vgl. dazu das Kapitel III.1.3.
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EINLEITUNG
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Tschichold, Moholy-Nagy und anderen ging es daher um eine regelrechte visuelle Alphabetisierung des neuen technischen, montierten Menschen, der sich nicht nur auf die industrielle Moderne einzustellen habe, sondern nachgerade für diese einzustellen sei. Die Vielzahl an Publikationen, die gerade den Konnex von Technik und neuer Lebenswirklichkeit oder, schärfer formuliert, der Technik als neuer Lebenswirklichkeit betonen, buchstabieren den Traum eines montierten Menschen aus, mit dem ein neues Zeitalter beginne. Einstellungen und Reflexe Der neue Mensch feiert seine fröhliche Urständ in der Maschinenhalle. Die bereits erwähnten Reflexologen Pawlow und Bechterew erhalten nun einen weiteren theoretischen Begleiter, der bei Moholy-Nagy noch namenlos bleibt, aber in anderen Texten durchaus Erwähnung findet: Frederick Winslow Taylor, dessen erste Texte zum Scientific Management aus dem Geburtsjahr der Kinematographie stammen. Bereits Meyerhold entwickelt in seiner Theorie der Biomechanik den Versuch, künstlerischen Ausdruck an kalkulierte Bewegungen zu koppeln und durch diese dann auch Emotionen überhaupt erst zu produzieren. Dabei ist für ihn wie auch später für Alexei Gastew Taylor die zentrale Figur.13 Gastew orientierte sich bei den Programmen in dem von ihm in Moskau gegründeten Zentralen Arbeitsinstitut (CIT) an tayloristischen Ideen, um diese für die Ausbildung russischer Fabrikarbeiter zu nutzen.14 Auch diese Verfahren nannte er Biomechanik und der Zentralbegriff seiner Theorie lautet „ustanovka“ – Montage, Aufstellung, Einstellung, technische Anlage. Die Doppelbedeutung des deutschen Wortes „Einstellung“ fehlt hier, doch das ist Teil des Programms, da es Gastew, Pawlow wie auch Bechterew und Meyerhold um sichtbare Reiz-Reaktionsketten und nicht um rein psychische Phänomene geht. Sie wollen Oberflächen-Effekte produzieren, wollen einen neuen Menschen so bauen wie auch Tanya in DER LEUCHTENDE WEG in der Montage ihr Glück findet. Das sind die modernen Märchen, die hier laut und sichtbar geträumt werden. In anderen Kontexten würde man sie Psychotechnik nennen: so etwa, um nun einige hundert Kilometer westwärts nach Mitteleuropa zu gehen, bei Fritz Giese in zahlreichen Publikationen oder, wenn man weiter über den Atlantik reist, bei Hugo Münsterberg, von dem neben seinen Arbeiten zur Psychotechnik der Wirtschaft eben auch eine der ersten wichtigen Studien zum Film stammt: The Photoplay aus dem Jahr 1916, in der sich in Grundzügen bereits die Idee einer „durch die Montage organisierten Aufmerksamkeit des Zuschauers“ findet, die dann bei Kule-
13 Hierzu ausf. Melanie Tatur, Wissenschaftliche Arbeitsorganisation. Arbeitswissenschaften und Arbeitsorganisation in der Sowjetunion 1921-1935, Inaugural-Diss. FU Berlin 1976. 14 Vgl. etwa A. K. Gastev, Wie soll man arbeiten?, München und Berlin 1924. Vgl. dazu das Kapitel I.3.
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EINLEITUNG
schow ausbuchstabiert wird.15 Das ist wohl kaum zufällig, diente doch der Film auch im Kontext des Scientific Management als vielbenutztes Analyseinstrumentarium: Frank Bunker Gilbreth etwa fertigte hunderte von Filmen an, um die Bewegungsabläufe von Arbeitern zu optimieren. Ergänzt man nun noch Ford, so erhält man die Trias der ökonomischen und industriellen Montagetheorien in den Vereinigten Staaten: Taylor · Gilbreth · Ford. Gegenwartsfragen der amerikanischen und europäischen Arbeitswissenschaft lautet etwa der Titel einer kritischen Bestandausaufnahme aus dem Jahre 1924, an deren Ende die Alternative zwischen einer amerikanischen „Entseelung“ und einer geforderten europäischen „Beseelung der Arbeit und des Arbeiters“ steht.16 Modern Times Mit Ford hält das Fließband Einzug in die Montagehalle. Die wohl berühmteste Umsetzung dieses Motivs in der Filmgeschichte ist Chaplins MODERN TIMES – ein Film der Übergangszeit vom Stumm- zum Tonfilm, der seinen fordistischen Gegenstand durch eine nachgerade physiognomische Ähnlichkeit des Fabrikdirektors mit Ford ausstellt. MODERN TIMES ist oft als Kritik am Fordismus und Taylorismus ausgelegt worden – und auch die im Film gezeigte Ford-Werbung macht deutlich, daß es Chaplin in der Tat um Ford ging. Doch worauf zielt seine Kritik? Siegfried Giedion deutet sie in seinem Buch Herrschaft der Mechanisierung als „Revolte gegen die Unterordnung unter die Maschine.“17 Doch bleibt diese eigentümlich alternativen- wie perspektivenlos, da Chaplin keineswegs ein Gegenprogramm entwirft, eine politische Analyse vornimmt oder den Fordismus filmisch seziert, sondern vielmehr als filmische Montage die Logik der industriellen Montage fortsetzt und gerade durch diese konsequente Weiterführung satirisch bricht. Wenn Charlie zum montierenden Satyr mutiert, der überall Schrauben und Muttern entdeckt, und wenn er sich wie Tarzan oder ein von Douglas Fairbanks gespielter Pirat durch die Fertigungshalle schwingt, um Öl zu verspritzen, so tut er in gewisser Weise das, was von ihm gefordert wurde: Er bildet Automatismen aus, wird zu einer Mensch-Maschine, die automatisch diejenigen Bewegungen ausführt, die von ihr gefordert 15 Hugo Münsterberg, Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie [1916] und andere Schriften zum Kino, hg. von Jörg Schweinitz, Wien 1996. Kuleschow hier zit. nach der Einleitung von Jörg Schweinitz, S. 9-26, S. 19. Münsterberg ist in den Studien zur Psychotechnik einer der kanonischen Autoren. 16 I.M. Witte, Taylor · Gilbreth · Ford. Gegenwartsfragen der amerikanischen und europäischen Arbeitswissenschaft, München und Berlin 1924, S. 74. Witte beruft sich dabei auf Willy Hellpach. 17 Siegfried Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, hg. von Henning Ritter, Frankfurt/Main 1987, S. 150. Giedion zitiert eine Rezension des Herald Tribune, New York, vom 7.2.1936 (hier S. 151): „Der mechanisierte Individualist wird verrückt und verwandelt die Fabrik in das Irrenhaus, das sie in Wirklichkeit immer gewesen ist.“
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EINLEITUNG
Abb. E 5 Henry Ford, Philosophie der Arbeit, Dresden o.J., Cover
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EINLEITUNG
Abb. E 6 Charles Chaplin, MODERN TIMES, MODERNE ZEITEN, USA 1936
werden. Auch die Option eines gewerkschaftlichen oder politischen Engagements, die, historisch betrachtet, zur Verfügung gestanden hätte, wird zwar durchdekliniert, aber dann ebenfalls verworfen. Charlie kehrt ja sogar wieder in die Fabrik zurück, bevor diese schließen muß. Im Kontrast zur stalinistischen Operette wird vielleicht deutlicher, welches Bild der Moderne MODERN TIMES zeichnet: Während DER LEUCHTENDE WEG die Versatzstücke, aus denen der Film besteht, zu einem kohärenten Bild zusammenfügt, das wie ein Märchen individuelle und kollektive Geschichte, Aschenputtel und Fabrikarbeiterin, Land- und Stadtleben deckungsgleich übereinanderblendet oder nahtlos ineinander übergehen läßt – oder, um Roland Barthes’ Mythen des Alltags zu zitieren, eine „Welt ohne Widersprüche“, „eine in der Evidenz ausgebreitete Welt“, in der eine „glückliche Klarheit“ herrscht, zeichnet –,18 bleibt bei MODERN TIMES alles Bruchstück, ein Montageteil, dessen Funktion jenseits der Narration ungeklärt ist – denn diese funktioniert ja tadellos, läuft wie eine geschmierte Maschine. MODERN TIMES erzählt, mit anderen Worten, mit den Mitteln der montierten Montage ein anderes Märchen: das eines Mannes ohne Eigenschaften, der sich aus allen Zusammenhängen herauslösen, reine Ober18 Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt/Main 1964, S. 131f.
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fläche bleiben kann und von dem, was ihm zustößt, nicht tangiert wird. Genau so stellen sich Bechterew, Pawlow, aber auch Münsterberg das Subjekt vor. Die folgenden Studien versuchen die Geschichte und das Imaginarium des montierten Menschen zu rekonstruieren. Dies geschieht – ihrem Gegenstand angemessen – in Gestalt einer Montage von Fallstudien, die bei aller Partikularität gleichwohl Exemplarität beanspruchen können und sollen. Auch wenn bei weitem nicht alle Facetten der Vision des montierten Menschen in den Blick genommen werden können und so etwa u.v.a. Kapitel zum Neuen Bauen, zum Futurismus und Konstruktivismus, zum italienischen Faschismus, aber auch zum Radio fehlen, soll gleichwohl das gesamte Spektrum pars pro toto abgedeckt werden. Psychotechnik, Medien und Ästhetik sind die drei Bereiche, die auf jeweils unterschiedliche und dennoch miteinander vernetzte Weise den Traum eines montierten Menschen ausbuchstabieren und ihm eine Gestalt verleihen. Daß dann die Gestalt bei Ernst Jünger den Zentralbegriff seiner Techniktheorie darstellt, in der sich die Träume der Konstruktion eines neuen Menschen in einer neuen Gesellschaft in eine faschistische Kulturdiagnostik verwandeln, gehört notwendig mit zur Geschichte des montierten Menschen. Das ist die dunkle Seite, um die wir im Rückblick bereits wissen, auch wenn wir DER LEUCHTENDE WEG anschauen. Sie aus dem Blick zu verlieren, wäre ebenso fahrlässig wie es umgekehrt zu einfach wäre, den Traum des montierten Menschen auf seine faschistische oder stalinistische Transformation zu reduzieren. Die historische Gemengelage ist, wie wir sehen werden, ungleich komplexer und hält einige Überraschungen bereit.
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I. TECHNIK UND PSYCHOTECHNIK: DIE TECHNISCHE EINSTELLUNG DES MENSCHEN
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Einleitung
„Ein glänzender und grausamer Abschnitt der Geschichte hat begonnen.“ Ilja Ehrenburg1
Will man die gesellschaftliche Bedeutung und die kulturelle Schubkraft der Arbeitswissenschaft und der Psychotechnik, des Taylorismus und Fordismus, um die es in den folgenden drei Studien vor allem geht, beschreiben, so bietet es sich an, nicht gleich die weitgehend recht spröden und technischen Texte in den Blick zu nehmen, sondern erst einmal die Beschreibungen der neuen technischen Welt, auf die auch diese reagieren. Die Fabriken, Büros und Fertigungshallen, auf die sich die neu formierten Arbeitswissenschaften scheinbar beschränken, erweisen sich dann als Laboratorien einer neuen Gesellschaft und eines neuen Menschen. Die Strategien der Rationalisierung, die in den Wissenschaften und der Unternehmensberatung verhandelt werden, beschränken sich keineswegs auf den Raum der industriellen Fertigung, sondern zielen auf eine neue Haltung zur Arbeit, die jene zum Leben notwendig miteinschließt.2 Lillian Moller Gilbreth, die ihren Mann bei seinen Arbeiten mehr als nur unterstützte, publizierte gleich eine ganze Fülle von Ratgebern zur Optimierung des Haushalts.3 Auch dieser ist Arbeit – wie sich ohnehin bei genauerem Hinsehen fast alles als Arbeit erweist. Die Veränderung und Optimierung von Arbeitsprozessen ist eines der Ziele der sich rasch ausbreitenden arbeitswissenschaftlichen Forschungsfelder. Daß Fragen der psychischen Dispositionen ebenfalls Teil ihrer Agenda sind, zeigt sich nicht zuletzt darin, daß sie sich explizit als praktische oder angewandte Psychologie verstehen. Während sie das Innenleben den anderen Bereichen der Psychologie überlassen, kümmern sie sich um Verhaltensweisen, Anwendungen und eben Arbeitsprozesse. Spricht man daher von Einstellungen, so meint man psychische Dispositionen, technische Konstruk1 Ilja Ehrenburg, „Maschine und Kunst“ (1925), in: ders., Über Literatur. Essays, Reden, Aufsätze. Tauwetter, Berlin (Ost) 1986, S. 23-29, hier S. 23. 2 Vgl. dazu ausf. und mit zahlreichen weiteren Hinweisen Florian Hoof, Engel der Effizienz. Eine Mediengeschichte der Unternehmensberatung, Konstanz 2015. 3 Vgl. dazu auch die Übersetzerin der Texte der Gilbreths Irene Witte, Die rationelle Haushaltsführung, Berlin 1922 und der „Klassiker“: Erna Meyer, Der neue Haushalt. Ein Wegweiser zur wirtschaftlichen Haushaltsführung, Stuttgart 1936.
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tionen und modifizierbare Verhaltens- und Arbeitsformen. Und spricht man von Haltungen, so gilt Ähnliches. Die Einstellung ist die Einstellung ist die Einstellung, so könnte man Gertrud Kochs auf den Film gemünzte Formel mit Gertrude Stein, die als Schülerin von William James Experimente zum normal motor automatism durchführte, umformulieren.4 Daß auch Filme Teil der betrieblichen Instruktionen wurden, mag dann vielleicht nicht mehr überraschen. Technik als Natur Ilja Ehrenburg, der, so scheint es, an allen Strömungen der Avantgarde in Westeuropa und Rußland irgendwie beteiligt war, publizierte 1925 einen kurzen Text mit dem Titel „Maschine und Kunst“. Darin kritisiert er zwar die Orientierung der Kunst an der Technik, da dies dazu führe, daß am Ende die industrielle Schönheit obsiege und die industrielle Kunst als banale Kopie dastehe. Daher kehre die Kunst wieder zu ihrem „ureigensten Material zurück, zu dem formlosen Stück Fleisch unter der Lederjacke, das umherirrt, triumphiert und zugrunde geht in epischen Wolken.“5 Doch diese vermeintliche Hinwendung zum Menschen profiliert sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer neuen technischen Welt, die ohnehin der Mimesis der Kunst nicht mehr bedarf, da sie bereits zum Leben und zum Alltag geworden ist. Das Leben ist bereits durch und durch technisch – und dieser Tatsache hat sich dann auch die Kunst zu stellen und nicht länger eine Maschinenästhetik zu kopieren. Die Technik ist, so konstatiert Ehrenburg wie auch hunderte Intellektuelle seiner Zeit, zu einer zweiten Natur geworden. Will man daher die neue Natur des Menschen verstehen, so müsse man erst einmal jene der Maschine verstehen: „Die Maschine steht nicht mehr da als kostenloses Modell. Sie geht jetzt über das menschliche Blut ein in den Rhythmus lyrischer Verse und in die Komposition von Gemälden. Alles in unserem Leben ist mit ihr verbunden: der Gang, die Kleidung, die soziale Ordnung und der Ablauf eines jeden Tages, die Gedanken, die Phantasien, die Liebe. Ein Schritt vom Autobus bis zum Foxtrott, von der Betrachtung der Erde aus dem Flugzeug bis zur Relativitätstheorie, vom Lauf der Treibriemen bis zum nüchternen Wahnwirt der Oktobertaten. Den Menschen, der mit Ziegen, mit der Postkutsche, mit der Gemütlichkeit der Petroleumlampe zu tun hatte, gibt es nicht mehr. Um die Seele seines Nachfolgers zu begreifen, muß man vor allem die Seele der Maschine begreifen.“6
4 Gertrud Koch, Die Einstellung ist die Einstellung. Visuelle Konstruktionen des Judentums, Frankfurt/Main 1992; Gertrude Steins berühmte Sentenz „A rose is a rose is a rose“ findet sich in ihrem Gedicht „Sacred Emily“ (1913). 5 Ehrenburg, „Maschine und Kunst“, S. 27. 6 Ebd., S. 29.
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Abb. 1-1 Umschlag von A.I. Woinowa, Industriewerk Ural, Leipzig 1933
Sachliche Romantik der Technik: Industrieromane Zahlreiche Romane buchstabieren diese neue, zweite, technische Natur des Menschen aus und bilden im Wortsinn eine neue Gattung: den Industrieroman. „Arbeit, Arbeit, überall Arbeit“, heißt es in Gladkows Zement,7 dem wohl bekanntesten unter ihnen, und gibt damit den Gegenstand vor, an dem sich dann so unterschiedliche Texte wie A. I. Woinowas Industriewerk Ural, Willi Bredels Maschinenfabrik N&K, Richard Euringers Metallarbeiter Vonholt oder die Romane Upton Sinclairs, um nur einige wenige und zudem politisch stark differierende anzuführen, abarbeiten.8 Verhandelt wird eine neue gesellschaftliche Natur des Menschen, die auf Arbeit und Technik gründet, aber sehr unterschiedlich akzentuiert werden kann. Während in der westlichen Publizistik die Kritik an den kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen dominiert, gilt das evidenterweise für die Romane der Sowjetunion nicht. Hier kommt es vielmehr darauf an, die Leserinnen und Leser auf das neue kollektive Arbeitsleben mitsamt seinen Opfern einzustellen. Daß Opfer gebracht werden müssen, wird nicht zuletzt dadurch deutlich, daß in den 7 Fjodor Gladkow, Zement, Berlin 1927, S. 175. 8 A. I. Woinowa, Industriewerk Ural, Leipzig 1933; Willi Bredel, „Maschinenfabrik N&K“, in: ders., Ges. Werke in Einzelausgaben, Bd. 1, Berlin 1982, S. 13-172; Richard Euringer, Metallarbeiter Vonholt, München 1930; zu Upton Sinclair vgl. Edmund Schulz, Upton Sinclair. Bibliografie seiner Werke in deutscher Sprache, Hannover 2007.
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meisten Romanen Menschen im Dienste der großen gemeinsamen Arbeitsaufgabe zu Tode kommen.9 In den Industrieromanen regiert die technische Welt. Natur ist ein historischer Altbestand, den es abzuwerfen gilt. Das schließt auch die triebhafte Natur des Menschen ein, die zu kontrollieren ist. Bei Gladkow und Woinowa findet sich dann auch das gesamte Ensemble der ideologischen und theoretischen Versatzstücke, aus denen der montierte Mensch konstruiert werden soll: Lenins Empiriokritizismus-Buch, Physiologie und Reflexologie („da hast du deine bedingten Reflexe“),10 tayloristische Vorstellungen, Rationalisierung und Maschinenmenschen. Wenn es dann bei Gladkow heißt, daß es darauf ankomme, „auf neue Ströme umzuschalten“, um zu „erreichen, daß man sich der Welt gegenüber in ein neues Verhältnis stellt,“ wird deutlich, worum es in diesen Büchern geht: um eine Neueinstellung des Menschen.11 Daher heißt es dann, obwohl zumeist anderes behauptet wird, auch ganz explizit: „Maschinen und Menschen – sind eins.“12 Die sozial- und kapitalismuskritische Literatur in Westeuropa und den Vereinigten Staaten tut sich hingegen ungleich schwerer mit der neuen technischen Natur des Menschen, die zwar auf der einen Seite fortwährend konstatiert und beschworen wird, um sie dann aber auf der anderen wieder zu kritisieren. Die durchaus ambivalente Haltung der Arbeiterschaft und der Gewerkschaften gegenüber dem Taylorismus, die in der Weimarer Republik zu beobachten ist, schlägt sich auch in der Literatur nieder.13 Das kann man an einem prominenten Beispiel verdeutlichen: Upton Sinclairs Roman Der Sumpf, der 1928 in deutscher Übersetzung mit einem Umschlag John Heartfields erschien. Er schildert die grausame Geschichte des litauischen Arbeiters Jurgis, der im Sumpf der Chicagoer Schlachthäuser versinkt, erst seine Arbeit und dann seine Familie verliert, um – in dezidierter Agitprop-Manier – am Ende zum Sozialisten zu konvertieren und eine neue, nun politische Familie zu finden. Eine Art politische Initiationsgeschichte also, die vor allem drastisch die schlimmen Mißstände in den diversen Fabriken, die Jurgis und seine Familie im Laufe des Romans durchlaufen, anprangert. Wenn es nun aber ans Beschreiben der Stahlwerke geht, in denen Jurgis zwischenzeitlich Arbeit findet, produziert der Text einen eigentümlichen rhetorischen Überschuß. 9 Vgl. dazu Schamma Schahadat, „Baustellen und Bauopfer in der Kultur des Stalinismus“, in: Die Welt der Slaven. Internationale Halbjahresschrift für Slavistik, Bd. LIX, Heft 1, 2014, S. 137-153. 10 Woinowa, Industriewerk Ural, S. 455. 11 Gladkow, Zement, S. 341. 12 Ebd., S. 451. 13 Zum Taylorismus in der Weimarer Republik vgl. expl. Irene Raehlmann, Interdisziplinäre Arbeitswissenschaft in der Weimarer Republik. Eine wissenschaftssoziologische Arbeit, Opladen 1988 und zu Taylorismus allg. Charles S. Maier, „Between Taylorism and Technocracy: European Ideologies and the Vision of Industrial Productivity in the 1920s“, in: Journal of Contemporary History, Bd. 5, Nr. 2, April 1970, 27-61; zum Fordismus: „Gesellschaft am Fließband“. Fordistische Produktion und Herrschaftspraxis in Deutschland, Zeithistorische Forschungen, Heft 2, 2009, online unter: http://www.zeithistorische-forschungen.de/22009/id%3D4509. (letzter Zugriff: 25.4.2016)
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Abb. 1-2 Heartfield-Umschlag von Upton Sinclair, Der Sumpf, Berlin 1928
„Jurgis wurde zu den Bessemer-Schmelzöfen geführt, einem domartigen Gebäude, wo Stahlplatten angefertigt wurden. Er stand auf der Galerie, blickte hinab, sah drei Riesenkessel, so groß daß alle Höllenteufel darin ihren Brei kochen könnten; in den Kesseln spritzte, brodelte, brüllte wie ein Vulkan etwas blendend Weißes. Flüssiges Feuer schäumte aus den Kesseln auf, platzte unten gleich Bomben nach allen Seiten auseinander, und dort unten arbeiteten Menschen, dem Anschein nach völlig achtlos; – Jurgis’ Atem setzte vor Schreck aus. Eine Pfeife schrillte, eine kleine Lokomotive prustete herbei, schleppte etwas, das in die Kessel geworfen wurde, die Lokomotive fuhr zurück, und nun schoß jählings aus den Kesseln Feuer hoch, der Kessel schwankte und kippte, spie sprühende, brüllende Flammen aus. Eine weiße, gleißende Flammensäule stürzte herab, blendete wie Sonnenlicht, rauschte wie ein mächtiger gefällter Baum im Sturz. Funken flogen durch den ganzen Raum, aus dem Kessel strömte ein weißer, augenfressender, blendender Wasserfall. Über ihm schwebten Regenbogen; blaue, rote, goldene Lichter umspielten ihn, der glühende Strom jedoch war von unsäglicher Weiße. Strömte aus Wunderländern, war der Fluß des Lebens selbst; aufjuchzte die Seele bei seinem Anblick, floh auf den Strom zurück zu den fernen Landen, wo Schönheit und Angst herrschten.“14 Später ist noch die Rede von einer „feurigen Riesenschlange, die aus dem Fegefeuer entflohen ist“.15 14 Sinclair, Der Sumpf, Berlin 1928, S. 165f. 15 Ebd., S. 166.
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TECHNIK UND PSYCHOTECHNIK
Abb. 1-3 Umschlag von Rudolf Schwarz, Wegweisung der Technik, Potsdam 1929
Binnen weniger Zeilen unternimmt der Text eine bemerkenswerte tour de force von der Hölle zum Paradies und zurück. In der Betrachtung des technischen Schauspiels verwandelt sich der Kessel in einen Höllenschlund, der dem Betrachter jede Distanz nimmt und ihn zum Teil eines Schauspiels macht, das aus Stahl den Fluß des Lebens macht, in den Jurgis visuell eintaucht und sich dann einem nun Sprache gewordenen Strom übereignet, der Wunderländer, Farbenspiele und Regenbögen für einen Moment aufblitzen läßt. Von der Galerie aus eröffnet sich ein Reich, das erst wie Dantes Inferno beschrieben wird, dann aber umschlägt in Visionen des Himmels: vom Purgatorium zum Paradies in wenigen Sätzen – das ist der rhetorische Überschuß dieses kurzen Ausschnitts. Dieser ist charakteristisch für eine Technikrhetorik der 1920er Jahre. In Rudolf Schwarz’ Buch Wegweisung der Technik, das mit nüchtern komponierten Aufnahmen des neusachlichen Photographen Albert Renger-Patzsch illustriert ist, finden sich, um nur ein Beispiel anzuführen, viele Metaphern dieses Typs: er spricht etwa von „kalter Hochglut“ oder der „heißesten Inbrunst des Geistes und [der] eisigsten Kälte des Weltraums“, die die Technik umfasse.16 Die Technik im allgemeinen und das Stahlwerk im besonderen sind der Ort einer nachgerade rauschhaften Erfah16 Rudolf Schwarz und Albert Renger-Patzsch, Wegweisung der Technik, Potsdam 1928, Reprint Köln 2008. Vgl. auch: Albert Renger-Patzsch, Die Freude am Gegenstand, München 2010 sowie Rudolf Schwarz, Wegweisung der Technik und andere Schriften zum Neuen Bauen 1926-1961, Braunschweig und Wiesbaden 1979.
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rung, die zwischen den Extremen pendelt, diese dabei assoziiert und übereinanderblendet. Hier geht zusammen, was eigentlich nicht zusammengehen kann.17 Hier wird nicht nur Stahl geschmolzen, sondern werden Bildreiche verschmolzen.18 Es wird deutlich, daß die Metapher des technischen, des montierten Menschen, um dessen Konstruktion es hier geht, in eigentümlicher Weise Gegensätze überwindet, ja konsequent übereinanderblendet. Auch wenn der zitierte Abschnitt aus Sinclairs Sumpf für den gesamten Roman relativ untypisch ist, da dieser ansonsten fast durchweg konsequent kritische Distanz zu den „Folterinstrumenten“ der Kapitalisten hält, ist er gleichwohl prototypisch für eine maschinelle Form der écriture automatique, die automatenhafte Maschinen in imaginäre Wesen und Maschinenhallen in Traumreiche verwandelt. Selbst in zahlreichen in nüchterner Sprache verfaßten Büchern linker wie rechter Provenienz finden sich fast durchweg Passagen dieses Typs. Philosophie der Technik Betrachtet man die Philosophie der Technik der 1920er und frühen 1930er Jahre, die über Plessner, Dessauer19 und Cassirer bis hin zu Spengler und Ernst Jünger reicht,20 so wird man bei allen evidenten und auch tiefgreifenden Unterschieden eine Übereinstimmung festhalten können: Die Technik wird als neue dominante wie prägende Weltordnung angesehen, deren Tragweite die Texte auszuloten suchen. Dabei geht es nicht zuletzt auch um die Frage, welche Konsequenzen diese Veränderungen für das Subjekt haben oder, mit anderen Worten, wie sich die Ordnung des Subjekts und jene der Technik zueinander verhalten. Dies kann in unterschiedlicher Weise geschehen: Oswald Spenglers kleines Buch Der Mensch und die Technik schließt mit einem Bild, das die Maschinenwelt mit der Eruption des Vesuv kurzschließt, um zugleich eine vermeintlich ethische Haltung 17 Jürgen Link hätte das vielleicht Katachresenmäander genannt und die besondere Funktion der Literatur und Kunst betont, die genau solche Überblendungen generiere und rhetorischperformativ plausibilisiere. Ergänzend sei hinzugefügt, daß bis hinein ins moderne ActionKino dieser Ort nichts von seiner nachgerade mythopoetischen Faszination verloren hat. Im Finale von Terminator II von James Cameron rettet der von Arnold Schwarzenegger gespielte Cyborg die Menschheit, indem er in den flüssigen Stahl eintaucht und sich dort auflöst. Auch hier sind wir mitten im Reich der Mythen der Erlösung qua Auflösung. 18 Auch der oft zitierte programmatische Roman des sozialistischen Realismus, Ostrowskis Wie der Stahl gehärtet wurde, der zwischen 1932 und 1934 in Moskau und in deutscher Übersetzung dann 1937 erschien, trägt bereits die Zentralmetapher im Titel. 19 Friedrich Dessauer, Philosophie der Technik, Bonn 1927. 20 Ich denke hier vor allem an den Arbeiter sowie an: „Die totale Mobilmachung“ (1930), in: ders., Blätter und Steine, Hamburg 1934, S. 125-156. Man wird hier Martin Heidegger vermissen, dessen technikkritischen Texte allerdings zumeist später entstanden sind. Zur Philosophie der Technik vgl. den kommentierten Reader: Peter Fischer (Hg.), Technikphilosophie, Leipzig 1996, dort findet sich auch der wichtige Aufsatz von Cassirer.
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des Menschen in ein Bild zu bringen: Er solle gleich dem Soldaten, dessen Ablösung vergessen wurde, auf seinem Posten bleiben, auch wenn die Katastrophe hereinbreche. Es bleibe ihm ohnehin nichts anderes übrig, da, so Spengler fatalistisch wie schicksalsgläubig, sein Weg eben nun sein Weg sei. Auch hier ist die Alternativenlosigkeit des technischen Zeitalters Programm. Auch Plessner spricht, fast so als wolle er die Moloch-Maschine aus Fritz Langs Film METROPOLIS begrifflich fassen, vom „fressenden Dämon der Technik“21 und beobachtet eine systematische Veränderung der „Kraftquellen der Existenz“, kommt aber zu einem anderen Schluß als Spengler. Plessner zielt auf eine Kritik der Lebensphilosophie und der Jugendbewegung samt ihrem Aufstand gegen die Zivilisation, die in seiner Schrift „Grenzen der Gemeinschaft“22 neusachliches Programm geworden ist. Daher versucht er die Technik dergestalt gegen die postromantische wie reaktionäre Lebensphilosophie zu wenden, daß er die Maschine gleich mit dem Subjekt verschränkt. Der „Eintritt in das positive Zeitalter“ bedeutet auch den Eingang der Maschine ins Leben, in den Verhaltens-, Wahrnehmungs- und Denkapparat des Menschen. Wenn Plessner bei der Technik etwas verklausuliert die Durchdringung des natürlichen mit dem menschlichen Energiekreislauf und eine systematische Veränderung der Kraftquellen der Existenz durch den Menschen diagnostiziert,23 so kommt es ihm auf eine historische, strukturelle wie systematische Durchdringung von Menschen und Maschinen an: „Mit rätselhafter Gewalt sind sie in uns, wir in ihnen.“24 Und dieser Lage habe man sich zu stellen. Dementsprechend sei der Weg bis an die Grenze zu treiben, bis dahin, wo die Grenzen der Naturbeherrschung zu beobachten seien. Es gelte, anders formuliert, mit den Maschinen so weit in der Hoffnung mitzugehen, daß sich eine Grenze ihrer Herrschaft und der Natur- wie Subjektbeherrschung zeige, so als ob sich eine Grenze der Herrschaft der Mechanisierung automatisch irgendwann einstellen würde. Eine „wirkliche Besinnung auf das Problem der Maschine, eine schlichte, phrasenlose Gegenüberstellung zur Technik“25 müsse, so Plessner, der Situation Rechnung tragen, daß die Maschine längst die Menschen antreibe. Dieser „Zwang zum Fortschritt“ zwinge daher auch den Menschen zum Vorwärts im Rhythmus der Maschinen. „Es gibt kein Zurück, nur ein Vorwärts nach dem Gesetz der in ihrem Gestänge, Kolben donnernden Rhythmus Wirklichkeit werdenden Utopie.“26 Diese Conclusio als Plädoyer für eine Technik, die die Lebenswelt nicht nur prägt, sondern zu dieser wird, ist bereits eine Entscheidung zugunsten einer Option und gegen eine 21 Helmuth Plessner, „Die Utopie in der Maschine“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10, Schriften zur Soziologie und Sozialphilosophie, Frankfurt/Main 1985, S. 31-40, S. 32. 22 Vgl. Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, Frankfurt/Main 2001; dazu Wolfgang Eßbach, Joachim Fischer und Helmuth Lethen (Hg.), Plessners ‚Grenzen der Gemeinschaft‘. Eine Debatte, Frankfurt/Main 2001. 23 Vgl. Plessner, „Die Utopie in der Maschine“, S. 37. 24 Ebd., S. 38. 25 Ebd., S. 39. 26 Ebd.
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andere, die er vorher noch in Erwägung gezogen hatte: „Also bleibt,“ so hieß es nach einer längeren historisch-diagnostischen Skizze, „um dem Druck zu entweichen, nur: grandiose Zerstörung der Maschinen oder Entfaltung ihrer inneren Arbeitsprinzipien zu qualitativ höheren Maschinentypen, die mehr Menschen freigeben, weil ersetzen, und dem gebunden Rest größere Übersicht und Verantwortung bei ihrer Bedienung überlassen.“27 Der Rhythmus der Maschinen und Menschen Plessners Formel des unausweichlich vorantreibenden Rhythmus der Maschinen ist eine der zentralen rhetorischen Pathosformeln dieser Zeit. Wenn davon die Rede ist, geht es durchweg um eine Assoziation von Mensch und Maschine. Zudem nimmt die Metapher den Topos der Beschleunigung auf, der seinerseits eine der kulturdiagnostischen Konstanten darstellt. Wenn man nun von Geschwindigkeit und Rhythmus in den 1920er Jahren spricht, so ruft man mindestens zwei Register auf: Auf der einen Seite eben diesen Topos der Beschleunigung und der Geschwindigkeit, der, so zahlreiche Stimmen unisono, nicht zuletzt in den Großstädten zu neuen Wahrnehmungsbedingungen und auch -anforderungen geführt habe. Der Mensch habe sich diesen neuen Anforderungen zu stellen, mit denen aber im Gegenzug auch eine neue Ordnung der Welt ersichtlich wird. Schwindel und Klarheit, Rausch und Ordnung gehen hier nicht selten Hand in Hand. Schwindel erzeugt der Blick aus dem Auto oder dem Flugzeug, eröffnet aber zugleich auch eine neue Ordnung der Wirklichkeit, die im Vergleich zur überkommenen in vieler Hinsicht als klarer, strukturierter und sachlicher in Szene gesetzt wird. In den 1920er und 1930er Jahren entstehen zahlreiche Bildbände, die aus Aufsichten – etwa durch Aufnahmen aus dem Flugzeug – und aus Strukturen Einsichten in eine neue Ordnung der Welt zu gewinnen versuchen. In keiner der einschlägigen Avantgarde-Bildanthologien von Moholy-Nagys Malerei, Fotografie, Film, über Rohs und Tschicholds foto-auge bis hin zu Richters Es kommt der neue Fotograf! dürfen solche Aufnahmen fehlen, und Eugen Diesel publiziert gleich mehrere Bände zum Auto und zum von ihm so genannten Land der Deutschen aus der Vogelperspektive des Flugzeugs.28 Und noch in dem von Ernst Jünger mitverantworteten Bildband Die veränderte Welt findet sich diese Figur in aller Deutlichkeit und suggestiver Bild-
27 Ebd., S. 36f. 28 Eugen Diesel war Sohn des berühmten Automobilbauers, über den er noch 1949 bei Reclam das Buch Jahrhundertwende. Gesehen im Schicksal meines Vaters, schreibt – nicht zuletzt um sich aus „dem Bannkreis Rudolf Diesels und seines Motors“ zu befreien (S. 5). In der Zwischenkriegszeit verfaßte er zahlreiche Bücher und Bildbände, die durchweg um die historische Bedeutung der Technik kreisen. Die meisten der Aufnahmen stammen von Robert Petschow.
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TECHNIK UND PSYCHOTECHNIK
Abb. 1-4 Eugen Diesel, Das Land der Deutschen, Leipzig 1933, S. 159
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Abb. 1-5 Eugen Diesel, Das Land der Deutschen, Leipzig 1933, S. 174
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kontrastierung.29 Es scheint so, als sei der Weg durch die rauschhafte Geschwindigkeit hindurch zugleich jener hin zu einer Ordnung der Welt, die erst so ihre visuelle Gestalt gewinnt. Mit dem Rausch der Geschwindigkeit und aus der Vogelschau des Flugzeugs entledigt man sich des alten Wahrnehmungsapparats, um nun fortan neu und mit anderen Augen zu sehen. Sieht man aber erst einmal mit neuen Augen, so hat die Welt unter der Hand eine andere Gestalt angenommen, eine neue Ordnung ausgebildet. Der Ordnungsrausch der neuen Wahrnehmung ist dabei durchweg technikinduziert. Der Modernisierungsprozeß läuft gleichsam in extremer Abbreviatur ab, wenn ein Auto oder Flugzeug beschleunigt und so den perzeptiven wie intellektuellen Apparat des Passagiers über seine Grenzen treibt: Das ist die diskursive Figur des technischen Geschwindigkeitsrauschs in der Zwischenkriegszeit. In einem Wahrnehmungsakt konzentriert sich die Geschichte der Moderne und läßt am Ende Subjekt wie Objekt verändert zurück. Aus der offenkundigen und vielfach konstatierten Überforderung der Sinne und des Intellekts wird dann auf die Erfordernis einer Neukonzeption geschlossen, die beide Bereiche zugleich umfaßt. Die Technik ist die Signatur der neuen Ordnung, nach der sich auch die Sinne neu zu ordnen und neu auszurichten haben. Auf der anderen Seite greift die Geschwindigkeit direkt in die Produktionsabläufe ein, ergreift den Menschen, um ihn produktiver zu machen. Hier geht der Weg von abstrakten analytischen Verfahren, die in physische Abläufe intervenieren, um diese zu verändern, hin zu individuellen und konkreten Arbeitsumfeldern. Eine zweckrationale Organisation soll in Abläufe umgesetzt werden, die sich erst einmal recht beharrlich einer solchen Revolution der Arbeitskraft widersetzen. Die Rede ist von den bereits mehrfach angeführten tayloristischen und fordistischen Verfahren, die von den Vereinigten Staaten bis hin nach Rußland weite Verbreitung finden und dies – zumindest was Taylor anbetrifft – in bemerkenswerter Weise vermutlich sogar mehr in der Theorie als in der Praxis, da sich nur recht wenige Betriebe den neuen Verfahren verschreiben. Dem Medienerfolg tut das keinen Abbruch. In Rußland plädierte bereits Lenin für die Übernahme dieser Theorien, die dann durch Gastew und andere höchst praktisch in die Tat umgesetzt wurden.30 Auf beiden Seiten des Atlantiks geht es um „speed work“, um „a new somatic vocabulary marked by efficiency and standardized uniformity“, wie es in Elspeth H. Browns Studie über Gibreth heißt, der Taylors Verfahren mithilfe von Photogra-
29 Edmund Schulz (Hg.), Die veränderte Welt. Eine Bilderfibel unserer Zeit. Mit einer Einleitung von Ernst Jünger, Breslau 1933. 30 Alexei Gastew gründete 1920 das Zentrale Institut für Arbeit (Zentralny institut truda), wo erforscht werden sollte, inwiefern Mensch und Maschine konvergierten, so daß der Mensch optimal organisiert werden konnte. Dabei spielten tayloristische und fordistische Ideen eine wichtige Rolle.
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phie und Film umzusetzen und operationalisierbar zu machen suchte.31 Die Geschwindigkeit ergreift den Körper, versucht ihn in einen Rhythmus des Arbeitsprozesses zu überführen, bei dem die Kontrolle des Individuums idealiter außer Kraft gesetzt wird. Nur so könne seine Arbeitskraft optimal genutzt werden. Dabei verschwinden auch die lästigen „toten Punkte“, die nun von dem Rausch der Bewegungen ergriffen werden: „Tote Punkte sind da, um überwunden zu werden,“ heißt es programmatisch in Gilbreth deutscher Adaptation seiner Bewegungsstudien, „möglichenfalls sogar noch um als Antriebskraft genutzt zu werden.“32 Das System der wissenschaftlichen Betriebsführung im Sinne Taylors, das Gilbreth über „micro-motion-studies“ visualisiert, um normative Vorgaben entwickeln zu können, versucht letzten Endes „automatische Bewegungen“ zu generieren, die ohne die zeitraubende Kontrolle des Bewußtseins einem strengen wie fortlaufenden Rhythmus der Arbeit folgen, der keine toten Punkte mehr kennt sondern nur noch ununterbrochene Bewegungsfolgen, und ein Arbeiten „in einer fortlaufenden Bahn“.33 Dabei gilt das neue Gesetz der Geschwindigkeit: je rascher, je besser. Speed und Work werden zu Speed Work, dem Werbeslogan von Gilbreths Firma, und mit ihm ist das Ziel vor Augen: „Die so oft wiederholte Bewegung erreicht mit der Zeit den Punkt höchster Vollkommenheit“.34 Dieser ist dann erreicht, wenn der Arbeiter automatisch, sprich nahezu maschinell seine Tätigkeit – ein Plural wäre hier zumeist unangemessen – ausführt. Kontrolle und eine spezifische Form von Kontrollverlust werden hier assoziiert: Auf der einen Seite ist der normierte Arbeitsprozeß das Ergebnis einer strengen Analyse und auch Kontrolle, auf der anderen soll hingegen das Individuum seine eigene, den zügigen Ablauf des Prozesses unnötig aufhaltende Kontrolle ersetzen durch eine kontrollierte wie kontrollierbare Bewegung, die gleichwohl unbewußt, automatisch abläuft. Der Mensch wird seinerseits zu einer Art Maschine, die einem festen Rhythmus folgt und auch auf der Energieseite auf Einsparung setzt. Die zahlreichen Texte von und über Taylor und Ford betonen unentwegt, daß die neuen Organisationsformen nicht nur effizienter, sondern auch für die Arbeiter entlastend, weil kräftesparend sind. Es geht um einen Energiehaushalt, der möglichst rational einzurichten ist. Und so heißt es in Colin Ross’ Bearbeitung von Gilbreths Bewegungsstudien folgerichtig: „Letzten Endes ist jeder Mensch ein Akkumulator“,35 ein Akku, den man aufladen könne, der dann aber auch Energie abgebe, die man nutzen könne. Was hier für den Einzelnen eine Metapher zu sein scheint, ist aber zugleich ein regelrechtes soziales Programm: Fritz Schumacher, der Gründer des Deutschen Werkbundes, spricht von der Verwandlung der Massen in eine Maschine. Die technische Vernunft, die hier regelleitend 31 Elspeth H. Brown, The Corporate Eye. Photography and the Rationalization of American Commercial Culture, 1884-1929, Baltimore und London 2005, S. 106. Für unseren Zusammenhang vgl. vor allem S. 65-118. 32 Frank Bunker Gilbreth, Bewegungsstudien, Berlin 1921, S. 43. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 3. 35 Ebd., S. 45.
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ist, versteht sich nicht nur als Herrschaft der Mechanisierung im Sinne Giedions, sondern als Prinzip, das allgemeine Gültigkeit für die Welt des Sozialen insgesamt beansprucht: „Menschenökonomie“,36 „social engineering“, Normalisierung und Standardisierung, Gouvernementalisierung, Ökonomisierung sind nur einige von vielen Stichworten, die jeweils weite Debattenfelder eröffnen. Die folgenden drei Studien versuchen dieses Feld etwas genauer zu kartieren. In einem ersten Schritt skizziere ich in etwas panoraramatischer Form die Psychotechnik in Deutschland und Rußland, um dann in einem zweiten mit Fritz Giese einen prominenten Psychotechniker genauer in den Blick zu nehmen, der zu Beginn der 1930er Jahre aus seiner Begeisterung für den Nationalsozialismus keinen Hehl macht. Für den wichtigen Bereich des Taylorismus steht abschließend stellvertretend Frank Bunker Gilbreth, dessen Arbeiten exemplarisch verdeutlichen, wie weit die Anwendung der Rationalisierung reichen kann und soll: vom Blaubeerenpflükken und Zähneputzen bis zur Montagehalle und zum Golfplatz.
36 So die Formel von Adelheid von Saldern und Rüdiger Hachtmann in ihrer Einleitung zu dem Sonderheft der Zeithistorischen Forschungen, Heft 2/2009: Fordismus.
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1. Psychotechnik in Deutschland und Rußland: Der allgemeine Mensch
„‚Der Kulturträger des neuen Rußland ist nicht der Missionär und der Redner, sondern der Monteur.‘“ Alexei Gastew1
„History is bunk. We don’t want tradition.“2 Diese Aussage von Henry Ford bringt auch eine der zentralen Grundüberzeugungen der Psychotechnik auf den Punkt. Geschichte sollte ebenso eingeklammert werden wie politische Einstellungen, tradierte Verhaltensmuster oder die ethnische oder soziale Herkunft. Die Psychotechnik war eine Strategie der Neutralisierung von Konflikten und des Überschreibens von Geschichte. Sie diente dazu, divergierende Ansichten und Interessen, Parteien und Strategien einzuklammern. In der Zwischenkriegszeit war sie eine weitgehend unumstrittene ideologische Nullstelle, von der aus ein Neubeginn kalkuliert in Szene gesetzt werden konnte. „Die Psychotechnik“, konstatiert programmatisch der Doyen der Bewegung Hugo Münsterberg, „steht nicht im Dienste einer Partei, sondern ausschließlich im Dienste der Kultur.“3 Eine entscheidende Rolle kam dabei der Technik zu, die als Neutralisierungs- und Übersetzungsinstanz eine Scharnierfunktion hatte. Sie leistete ebenso wie der Körper die Verwandlung von Natur in Kultur, vom Einzelkörper zu dem der Gesellschaft, war vermeintlich frei von jeder Geschichte und einzig konstruktiv in die Zukunft gerichtet. Zugleich setzte sie sich über tradierte Normen hinweg, um dann neue zu setzen. Dies sollte dabei
1 Alexei Gastew, „Jugend, marschiere!“, S. 12, zit. nach Baumgarten, Arbeitswissenschaft, S. 115. 2 Zit. nach: Katja Patzel-Mattern, Ökonomische Effizienz und gesellschaftlicher Ausgleich. Die industrielle Psychotechnik in der Weimarer Republik, Stuttgart 2010, S. 30. Das Originalzitat lautet: „History is more or less bunk. It’s tradition. We don’t want tradition. We want to live in the present and the only history that is worth a tinker’s damn is the history we make today.“ (Chicago Tribune vom 25. Mai 1916, Interview mit Charles N. Wheeler). Ford variierte es mehrfach, so z.B. in der New York Times vom 29. Oktober 1921: „History is bunk. What difference does it make how many times the ancient Greeks flew their kites?“ Aldous Huxley zitiert es auch in seinem prototypischen dystopischen Roman Brave New World. 3 Hugo Münsterberg, Psychologie und Wirtschaftsleben, 4. unveränderte Auflage, Leipzig 1919, S. 88.
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ohne inhaltliche oder ideologische Vorgaben geschehen. Die Norm ist der zwanglose pragmatische Zwang der besseren Organisation. Dieses konstruktiv-neutrale Programm machte die Psychotechnik ebenso wie die Technik über einen Zeitraum von etwa zwei Jahrzehnten hinweg so attraktiv – und zwar über alle politischen Lager hinweg. Im Sowjetrußland wurden Referenztexte ebenso studiert und übersetzt wie in den Vereinigten Staaten, und in Deutschland arbeitete man an ihrer Umsetzung ebenso wie in Frankreich und anderen Industrienationen. Die bemerkenswerte Konjunktur der Psychotechnik, die Mitte der 1910er-Jahre einsetzt, um dann Mitte der 1930er weitgehend wieder zu verschwinden, verdankt sich vor allem dieser angenommenen Neutralität, ihrer ideologischen Enthaltsamkeit.4 Diese jedoch hatte auch ihre Schattenseite: die einfache Besetzbarkeit der politischen Nullstelle. „Die Vision einer Gesellschaft, in der der gesellschaftliche Konflikt zugunsten technischer und wissenschaftlicher Imperative beseitigt würde,“ resümiert Anson Rabinbach in seinem Buch Motor Mensch, „konnte Liberale, Sozialisten, autoritäre und sogar kommunistische und faschistische Lösungen umfassen. Kurz, der Produktivismus war in politischer Hinsicht promiskuitiv.“5 Auch das mag ein Grund für ihre Attraktivität gewesen sein. Fritz Giese, der 1935 zu früh starb, um noch im Nationalsozialismus eine große Karriere zu machen, aber aus seinen rechtskonservativ-völkischen Überzeugungen keinen Hehl machte, beschrieb diesen Wesenszug weniger als Promiskuität denn als Ungebundenheit und Freiheit: „Das Wort Psychotechnik“, so stellt er in der Programmschrift Aufgaben und Wesen der Psychotechnik 1920 fest, „wurde modern, denn Ärzte, wie Lehrer, wie Berufsberater, wie Meister und Fabrikherrn – gleichviel – alle freuten sich, in der praktischen Psychologie eine neutrale, über- und unparteiliche Instanz zu finden, die nunmehr ohne irgendeine Gebundenheit an politische, wirtschaftliche, persönliche Interessennahmen gegenüber den zu sortierenden Menschen, im einzelnen Richtungslinien bieten konnte. […] Beachtet man aber ferner, daß nicht nur wir, in unserer Ungeschickslage, sondern auch das Ausland sich der Psychotechnik bedient, gedenken wir, daß ein Lenin auf sein Programm neben Akkordarbeit auch auf das Taylorsystem setzte, dessen Grundbedingung heute die psychologische Eignungsprüfung ist.“6 Die Sätze mögen ungelenk sein, die Botschaft ist hingegen klar: Die Psychotechnik ist der kleinste gemeinsame Nenner der modernen Zivilisation. Sie bringt eine neue Gesellschaft, eine technische Kultur. Doch wie sieht nun genau das Programm der Psychotechnik aus und welches politische Schicksal hatte es? Ich will versuchen, ihre Grundzüge mitsamt ihren zeitgenössischen theoretischen Wahlverwandten vorzustellen, um dann im folgen-
4 Zur NS-Zeit vgl. Irene Raehlmann, Arbeitswissenschaft im Nationalsozialismus. Eine wissenschaftssoziologische Analyse, Opladen und Wiesbaden 2005. 5 Anson Rabinbach, Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne, Wien 2001, S. 314. 6 Fritz Giese, Aufgaben und Wesen der Psychotechnik, Langensalza 1920, S. 8.
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den Kapitel anhand der Publikationen von Fritz Giese ihre nationalsozialistische Verwandlung zu skizzieren. Am Nullpunkt Zu Beginn ist die Psychotechnik nichts anderes als angewandte Psychologie, die dann, so Hugo Münsterberg, „psychologische Technik“ sein soll.7 Der Begriff „Psychotechnik“ stammt von William Stern, der ihn erstmals 1903 verwendet, setzt sich dann aber erst Mitte der 1910er Jahre im Kontext der so genannten Arbeitswissenschaft durch. Sein Erscheinen zu Beginn des Ersten Weltkriegs ist dabei kein Zufall, rekurrieren doch viele der Untersuchungen auf Experimente in Lazaretten und mit Kriegsversehrten. Auch die Tatsache, daß aufgrund der zahllosen an der Front Gefallenen die Arbeitssituation kompliziert war und zudem für die Kriegsversehrten Stellen gefunden werden sollten, war für die Verbreitung der Psychotechnik von erheblicher Bedeutung. Eine ihrer selbst gesetzten Aufgaben war die optimale Besetzung freier Stellen bei angespanntem Arbeitsmarkt, die Entwicklung von Prothesen und anderen Arbeitsmaterialien für Soldaten, die im Krieg schwerwiegende Verletzungen davongetragen hatten, eine andere. Jules Amar, der bedeutendste Psychotechniker in Frankreich, entwickelte so etwa eine polyfunktionale Prothese und Georg Schlesinger den „Germania-Arm“.8 Auch wurden Arbeitsplätze eigens neu geschaffen, um Soldaten ins Arbeitsleben wiedereinzugliedern, oder vorhandene umorganisiert. Frank Bunker Gilbreth widmete zahlreiche seiner Studien Soldaten mit einem amputierten Arm und wollte diese nicht nur in kleinen Geschäften, sondern auch als Stenotypisten einsetzen. Da sie nur schlecht das Papier einspannen konnten und auch das Umschalten von einer Zeile zur nächsten schwierig war, experimentierte er mit Endlospapier – weit vor den Nadeldruckern in Anfangszeiten des Personal Computer in den 1980er Jahren. Doch auch die Kriegsversehrten waren vor den Imperativen der Effizienzoptimierung nicht gefeit und wurden zahlreichen Experimenten unterzogen. Psychotechnik ist, so sehen wir, eben auch Kriegstechnik – und operiert in zwei Richtungen: vom Subjekt zur Maschine und von der Maschine zum Subjekt. Fritz Giese wird diese beiden Tendenzen später als Subjekt- bzw. Objektpsychotechnik bezeichnen. Angestrebt wird eine Balance zwischen Mensch und Technik, zwischen Körper und Maschine. Beide sind jeweils Transformatoren, die mittels der Arbeit 7 Hugo Münsterberg, Psychologie und Wirtschaftsleben, 4. unveränderte Auflage, Leipzig 1919, S. 16. 8 Patzel-Mattern, Ökonomische Effizienz, S. 77. Vgl. dazu auch: Arthur Ehrenfest-Egger, „Die Normalisierung im Bau von Beinprothesen in Österreich“, in: Ersatzglieder und Arbeitshilfen für Kriegsbeschädigte und Unfallverletzte, Berlin 1919, S. 764-783 und Hermann Leymann, „Die Normalisierung einzelner Teile der Ersatzglieder“, in: ebd., S. 737-763. Vgl. auch Eva Horn, „Der Krüppel“, in: Dietmar Schmidt (Hg.), Körper/Topoi, Weimar 2002, S. 109-136.
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Abb. 1-6 „Unterarmamputierter Tapezierer in typischen Teiltätigkeiten (nach Schlesinger)“, in: Fritz Giese, Psychologie der Arbeitshand, Berlin und Wien 1928
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Natur in Kultur verwandeln. Das ist eine ökonomische, politische, aber eben auch epistemische und nicht zuletzt metaphorische Bestimmung. Die säkulare Allianz von Körper und Technik führt zu zahlreichen konkreten Experimenten und Erfindungen, aber eben auch zu eigentümlichen Vorstellungen, die dem phantasmatischen Überschuß dieser Assoziation geschuldet sind. In Rußland träumte man etwa vom Erscheinen eines „Neuen Menschen“, der dann die Einheit von Körper und Technik in die Tat umgesetzt hätte. Das war die Vision der russischen Tayloristen, aber auch der Konstruktivisten und selbst Theaterleuten wie Meyerhold. Die psychotechnischen Verfahren waren praktische Vorübungen, ein technischer Vorschein dieses säkularen Messianismus. Doch erst einmal ist die Psychotechnik bescheiden und pragmatisch, frei von Überschwang und konzentriert auf die Oberfläche der sichtbaren Welt. Ihre Protagonisten sind fast durchweg Ingenieure, die ihren disziplinären Habitus auch auf das neue Feld übertragen. Die Psyche gerät nur als beobachtbare in den Blick, als meßbare Erscheinung. „Man sollte bei der industriell-psychologischen Anlernung sich von allen Verirrungen auf das politische Gebiet fernhalten und die Seele des Arbeiters aus dem Spiel lassen, da zunächst die berufsnotwendigen Kenntnisse, Fertigkeiten und Verhaltungsweisen interessieren. Durch angemessene Behandlung und Bezahlung wird auch manche widerspenstige Seele gefügig und arbeitszustimmend. Fernhalten sollte man sich auch von den Utopien der Charakter- und Führungsschulung durch Tremometer- und Bolzenpasserübungen sowie durch psycho-analytische Wegschaffung aller in der Persönlichkeit unbewußt schlummernden Hemmungen, um den Arbeiter und Angestellten zur freudigen Bejahung der Betriebsarbeit und der Wirtschaftsordnung zu bringen.“9 Das ist eine vordergründig sachliche Beschränkung des Aufgabengebietes, die aber gleichwohl in indirekter Weise auf das hier Ausgeschlossene Einfluß zu nehmen suchte. Auch wenn psychische und politische Prozesse erst einmal nicht Gegenstand der Psychotechnik waren, so gilt das, wie wir sehen werden, für sie als ganze nicht in gleicher Weise. „Es gilt von einer neuer Wissenschaft zu sprechen,“ führt Hugo Münsterberg 1914 die Psychotechnik ein, „die zwischen der Volkswirtschaft und der Laboratoriumspsychologie vermitteln soll.“10 In seinem erfolgreichen Buch Psychologie des Wirtschaftslebens, aus dem dieses Zitat stammt, macht er dann drei zentrale Bereiche aus, denen jeweils ein Kapitel gewidmet ist: „1. Die Auslese der geeigneten Persönlichkeiten, 2. Die Gewinnung der bestmöglichen Leistungen und schließlich 3. Die Erzielung der erstrebten psychischen Wirkungen“.11 Mit anderen Worten: Es geht um die Selektion, die Optimierung und die Konditionierung des Subjekts. Die Psychotechnik entwirft sich dabei als Verbindung von Technik, Körper und Psyche. Sie alle sollen Regeln der Ökonomie und der Effizienz gehorchen. 9 Walter Moede, „10 Jahre Institut für Industrielle Psychotechnik T.H. Berlin“, in: Werkstatttechnik, Bd. 22, 1928, Heft 20, S. 587-592, S. 590. 10 Münsterberg, Psychologie des Wirtschaftslebens, S. 1. 11 Ebd., S. VIf.
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Diese wiederum folgen keinen weltanschaulichen Vorgaben. Der Wille zur Optimierung des Vorhandenen allein gibt ihnen die Richtung vor. Als 1924 die erste Ausgabe der Zeitschrift Industrielle Psychotechnik erschien, gab daher diese schlicht und ergreifend die „Rationalisierung der menschlichen Tätigkeit auf allen Gebieten des Wirtschaftslebens“ als Ziel vor.12 Rationalisierung und Ökonomisierung mögen zwar als Prinzipien dem Bereich der Wirtschaft entstammen, machen aber keineswegs vor dem Individuum und der Gesellschaft halt, im Gegenteil: Sie sollen zur Grundlage einer Neuorganisation werden, die den Körper des Menschen wie der Gesellschaft gleichermaßen als Angriffspunkte hat. In diesem Sinne versteht sich die Psychotechnik als eine ideologisch neutrale und zugleich universale Bewegung. Kybernetische Anthropologie Stefan Rieger hat den Grundzug der psychotechnischen Bewegung als „kybernetische Anthropologie“ bezeichnet und präzisiert: „Normalität erreicht den Menschen […] nicht als a priori formuliertes Regulativ oder als anthropologisches Programm, sondern vermittelt – nach aufwendigen Prozeduren der Datenerhebung und Datenverarbeitung.“13 Weiterhin ist diese Normalität strukturell offen und notwendig veränderbar. Normen sind passagere Etappen einer zu perfektionierenden Technik. Psychotechnische Normen sind daher historische Variablen, die notwendig veränderbar sind und fortwährend neuen Gegebenheiten angepaßt werden können und müssen. Die Psychotechnik liefert konkrete Ergebnisse, macht präzise Vorschläge, was zu tun ist, versteht diese aber als Etappen eines Perfektionierungsprozesses, der vom Individuum bis zur Gesellschaft prinzipiell alle Bereiche umfassen kann und strukturell unabgeschlossen ist. Dieser beruht auf Experimenten und ihrer statistischen Aufarbeitung. Belast- und applizierbare psychotechnische Ergebnisse sind nur dann zu haben, wenn die Untersuchungen auf eine breite Masse an Daten zurückgreifen können, die dann statistisch aufbereitet werden. Die Testergebnisse eines möglichen Trambahnfahrers, so eines der bei Münsterberg geschilderten Experimente, werden erst dadurch signifikant, daß sie mit anderen verglichen werden können. Die Paßgenauigkeit einer Stelleneignung wie auch die Verläßlichkeit einer Stellenneigung erweisen sich erst im Vergleich mit anderen. Die Psychotechnik hat nicht nur einen „Normbegriff auf der Grundlage statistischer Verfahren“,14 sondern strukturell relationale Beurteilungsstrategien. Psychotechnik ist, so könnte man auch sagen, ein Verfahren der technisch-rationalen Selbstgesetzgebung, die Technik als regulative Idee versteht und dabei vom Individuum über den Betrieb bis hin zur Gesellschaft reicht. Beim Einzelnen wird um12 Industrielle Psychotechnik, 1. Jg. (1924), S. 1. 13 Stefan Rieger, Die Ästhetik des Menschen. Über das Technische in Leben und Kunst, Frankfurt/ Main 2002, S. 18. 14 Ebd., S. 136.
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gesetzt, was dann auch in der Gesellschaft zur Anwendung kommen soll. „Der Mensch wird dabei zu einem sich selbst einstellenden Wesen.“15 Auf eine Formel gebracht und um die drei Bedeutungen von „Einstellung“ übereinanderzublenden: Mitunter, wenn seine Einstellung zu wünschen übrig läßt, wird der Arbeiter neu eingestellt – sonst hätte sich seine Einstellung nicht rentiert. Die Einstellung im Sinne einer Auswahl unter den Arbeitssuchenden, als psychische und physische Haltung und schließlich als aktiver Eingriff in die Arbeitsprozesse und Verhaltensweisen sind der Gegenstand der Psychotechnik. Alle drei betreffen einen Haushalt: den eines Betriebs, den psycho-physischen des Arbeiters und schließlich jenen der Arbeitsprozesse. Alle drei Bereiche sind dabei miteinander verbunden. Walter Moede notiert dementsprechend als Hauptaufgaben der praktischen Forschung: „Eignungsfeststellung, Anlernung, Bestgestaltung der Arbeitsverfahren“.16 Die Arbeitswissenschaft und der Taylorismus versuchen sich im Schulterschluß an einer Perfektionierung der Arbeit, deren Begriff gar nicht weit genug gefaßt werden kann. Arbeit ist immer auch Arbeit an sich selbst, eine Art industrieller Lebenskunst auf technischer Grundlage. Daher auch die Bemühungen, den Alltag effizienter zu gestalten. Von der Frankfurter Küche bis hin zur kunsthandwerklichindustriellen Produktion des Bauhauses und des Werkbunds reicht der Geltungsbereich der arbeitswissenschaftlichen Reform. Rudolf Lämmel nennt das „Sozialphysik in Küche und Haus“ und widmet ihr in seiner Überblicksdarstellung zur Sozialphysik gleich ein ganzes Kapitel.17 Und daher auch die zahllosen Ratgeber, die sich eine besondere Form der Psychotechnik auf die Fahnen schreiben: die Selbstdisziplinierung, die Arbeit an sich. Broder Christiansen, der philosophisch irgendwo zwischen Neukantianismus und Wiener Gruppe pendelte, publizierte eine Fülle solcher Bücher wie auch der Moede-Assistent Gustav Großmann 1927 eine Schrift mit dem programmatischen Titel Sich selbst rationalisieren, die „alle Managementliteratur von heute vorwegnimmt und an Exzentrik weit übertrifft“18 und von der Psychotechnik maßgeblich inspiriert ist. Zu nennen ist aber auch Émile Coué, dessen Theorie der Autosuggestion auch in Büchern von Psychotechnikern gewürdigt wird.19 Diese wenigen Beispiele sind nur die Spitze des Eisbergs einer 15 16 17 18
Ebd., S. 285. Moede, „10 Jahre Institut für Industrielle Psychotechnik T.H. Berlin“, S. 587. Rudolf Lämmel, Sozialphysik. Naturkraft, Mensch und Wirtschaft, Stuttgart 1925, S. 39ff. Christoph Bartmann, Leben im Büro. Die schöne neue Welt der Angestellten, München 2012, S. 75, zitiert nach Thomas Steinfelds Studie über Christiansen Ich will, ich kann! Selbstoptimierung und Moderne, Konstanz 2016. Zu Großmann vgl. auch ders., „Pionier der Selbstoptimierung“, in: sz-magazin 02/2012, online unter: http://sz-magazin.sueddeutsche.de/ texte/anzeigen/36861/3 (letzter Zugriff 9.3.2016). 19 Vgl. dazu Robert Suter, „Bluff und Autosuggestion: Wege zum Erfolg in der Weimarer Republik (Walter Benjamin, Johannes Baader, Émile Coué, Walter Serner), in: Ulrich Johannes Beil (Hg.), Aura und Auratisierung. Mediologische Perspektiven im Anschluss an Walter Benjamin, Zürich 2014 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen, Bd. 27), S. 325350.
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Ratgeber-Literatur, die in Zeiten der voranschreitenden Herrschaft der Mechanisierung auf Selbstdisziplinierung setzt und Verfahren entwickelt, Selbstkontrolle in bewußte Produktivitätssteigerung zu verwandeln. Auch diese „graue Literatur“ gehört mit zum Einflußbereich der Psychotechnik. Mit dem Taylorismus, der in den 1910er Jahren nach Europa kam und breit rezipiert wurde, fand die Psychotechnik und die Arbeitswissenschaft einen Wahlverwandten, mit dem sie viele ihrer Verfahren, Strategien und Überzeugungen teilte. Beide beginnen ihre Tätigkeit mit der Analyse und Ermittlung der Grundbestandteile der Arbeitsprozesse, um dann gleiches für die konkreten Aufgaben zu tun. Danach kommt es zu einer Neugestaltung des Arbeitsprozesses und mitunter auch der Maschinen, die verändert und angepaßt werden. Beide teilen auch die Überzeugung, daß Löhne an den Ertrag gekoppelt werden sollen und zielen last but not least auf eine „rationale Koordinierung und Verwaltung der Produktion“.20 Im Kino Auch wenn man ins Kino ging, hatte man es mit psychotechnischen Fragen zu tun. Hugo Münsterberg, der Psychotechniker der ersten Stunde und Autor diverser Publikationen zum Thema, schrieb eine der ersten Studien zum Kino, das für ihn der Ort war, an dem die menschliche Psyche sich objektiviert.21 Der dunkle Kinosaal ist für ihn die nach außen gestülpte Vorstellungswelt des Individuums. Nicht wie Schattenbilder in der platonischen Höhle laufen nun die Erscheinungen vorüber, sondern wie Lichtbilder des menschlichen Geistes, der sich den photographischmaterialen Simulationen hingibt, indem er aus zweidimensionalen Bildern einen Erfahrungsraum macht, der Emotionen hervorruft, realistisch ist und schließlich auf der Leinwand seine Vorstellungswelt projiziert sieht. Die eigentliche, von Münsterberg zwar eröffnete, aber dann nicht weiter verfolgte psychotechnische Option des Films beruht genau auf dieser Spiegelkonfiguration, die Subjekt und Objekt, Leinwand und Welt miteinander verschränkt. Wenn die Welt des Lichtspiels jene der Vorstellungswelt des Subjekts ist und dieser entspricht, so findet die angewandte Psychologie einen besonderen Gegenstand: Psychotechnik zielt nun direkt auf die Psyche, der Film direkt aufs Gehirn. Wenn Fritz Giese notiert: „Die Filmkultur wirkt nachweislich sehr merklich auf die Psyche der Filmgänger“,22 so ist das nur ein Vorschein des Programms, das dann insbesondere in Rußland ausbuchstabiert wurde. Der Film wurde dort nicht nur als Mittel der visuellen Alphabetisierung eingesetzt, sondern als Verfahren der aktiven Konditionierung. Psychotechnik wurde dabei mit Reflexologie und Biomecha20 Rabinbach, Motor Mensch, S. 278. 21 Hugo Münsterberg, Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie (1916) und andere Schriften zum Kino, hg. von Jörg Schweinitz, Wien 1996. 22 Fritz Giese, Girlkultur. Vergleiche zwischen amerikanischen und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl, München 1925, S. 51.
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nik fusioniert. Pudowkins erster Film führte ihn in die Laboratorien von Pawlow, Wertow verfolgte nicht nur die Vorlesungen von Bechterew, sondern setzte dessen Theorien in die filmische Praxis um, und Eisenstein entwirft seine frühe Montagetheorie in einer Amalgamierung von Elementen der Biomechanik, der Psychophysik und der Reflexologie.23 Die filmische Montage zielte dabei auf die Montage eines „Neuen Menschen“.24 Die Mensch-Maschine: Arbeitswissenschaft in Rußland Diese über den Taylorismus vermittelte Assoziation von Kunst und Technik, die seinerzeit in Rußland vom Konstruktivismus, über das Zentralinstitut für Arbeit bis zum Proletkult weit verbreitet war, ist vielleicht erläuterungsbedürftig, da es erst einmal kontraintuitiv ist, daß Vordenker des westlich-bourgeoisen Kapitalismus in Sowjetrußland überhaupt als theoretische Orientierung fungieren können. Gleichwohl ist eine solche Rezeption und aktive Aneignung des Taylorismus in Rußland dieser Zeit omnipräsent.25 Bereits auf der ersten Allunionskonferenz der künstlerischen Industrie im August 1919 wurden die Befreiung des Künstlers und die „Rationalisierung der Produktionsweise“ im Sinne des Taylorismus als Ziele ausgegeben.26 Und als Franziska Baumgarten 1924 über die Arbeitswissenschaft in Rußland berichtet, zählt sie bereits über 60 Institute, die sich dieser Aufgabe verschrieben haben und resümiert die Haltung treffend: „Das ganze Leben muß mechanisiert werden. ‚Wenn Taylor nicht geboren wäre, so müßte er erfunden werden.‘“27 Die Technik ist dabei auch in Rußland eine Art ideologische Nullstelle, die es gestattet, zwischen den verschiede23 Dazu einschlägig Margarete Vöhringer, Avantgarde und Psychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der frühen Sowjetunion, Göttingen 2007 und Matthias Schwartz u.a. (Hg.), Laien, Lektüren, Laboratorien. Künste und Wissenschaften in Russland 1860-1960, Frankfurt/Main u.a. 2008, darin insbes. die Beiträge von Torsten Rüting, Ute Holl, Magarete Vöhringer und Barbara Wurm. 24 Im zweiten Teil dieses Buchs werden diese Strategien genauer dargestellt. Vgl. dazu das Kapitel II.1. 25 Dazu allg. Angelika Ebbinghaus, „Taylor in Russland“, online unter: http://www.grundrisse.net/grundrisse26/TaylorinRussland.htm#_ednref63 (letzter Zugriff 9.3.2016) und die umfassende Darstellung: Mark R. Beisinger, Scientific Management, Socialist Discipline, and Soviet Power, London 1988. Vgl. auch Kendall E. Bailes, „Alexei Gastev and the Soviet Controversy over Taylorism, 1918-24“, in: Soviet Studies, Bd. 29, Nr. 3, Juli 1977, S. 373-394 und Wolfgang Hardtwig (Hg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 56), München 2003, dort die Beiträge von Dietrich Beyrau, Dietmar Neutatz, Helmut Altrichter und Karl Schlögel. 26 Hubertus Gaßner, „Von der Utopie zur Wissenschaft und zurück“, in: „Kunst in die Produktion!“ Sowjetische Kunst während der Phase der Kollektivierung und Industrialisierung 19271933, Berlin 1977, S. 51-101. 27 Franziska Baumgarten, Arbeitswissenschaft und Psychotechnik in Rußland, München und Berlin 1924, dort S. 16.
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nen politischen Lagern zu switchen, unter denen ein heftiger Richtungsstreit tobt.28 Daher die besondere Bedeutung der Montage, die einerseits als Technik über genau diese anerkannte Neutralität verfügte, es dann aber auch andererseits gestattete, mittels der Ästhetik eine ideologische Neubesetzung vorzunehmen. Die Montage war das technische Verfahren, die Ästhetik dann der ideologische Inhalt, und beide zusammen sollten den Menschen auf die neue Gesellschaft, die zuallererst zu gestalten war, einstellen. Die Ästhetik ist im Sowjetrußland der 1920er Jahre durch und durch politisch und zielt zumeist höchst konkret auf Fragen, Praktiken und Gestaltungsformen des Alltags. Von Geschirr über Tapeten und Kleidung bis hin zu Werbeplakaten, Produktdesign und dem Entwurf von Arbeiterclubs reicht das Spektrum. Und auf der Bühne entdeckte man mit Meyerhold die Biomechanik, die mittels der Technik den Körper neu zu programmieren suchte. Der menschliche Körper wurde dabei als eine Art Maschine begriffen, die es neu zu konstruieren galt. Das war die Forderung des Tages. Es ging darum, wie auf einem Reißbrett den Menschen und die Gesellschaft neu zu entwerfen, dabei auch die Vorstellungen von Natur hinter sich lassen und diese als Technik bzw. technische Naturbeherrschung neu zu bestimmen. Walter Benjamin unterstreicht in seinem kleinen posthumanistischen Manifest „Erfahrung und Armut“ die Radikalität dieses technischen Neuentwurfs, greift dabei auch auf die Metapher des Konstrukteurs und des Reißbretts zurück und wählt dann Beispiele aus Rußland, um das Gesagte zu verdeutlichen: „Auch die Russen geben ihren Kindern gerne ‚entmenschte‘ Namen: sie nennen sie Oktober nach dem Revolutionsmonat oder ‚Pjatiletka‘, nach dem Fünfjahrplan, oder ‚Awiachim‘ nach einer Gesellschaft für Luftfahrt. Keine technische Erneuerung der Sprache, sondern ihre Mobilisierung im Dienste des Kampfes oder der Arbeit; jedenfalls der Veränderung der Wirklichkeit, nicht ihrer Beschreibung.“29 Der neue Mensch, von dem man träumte, war daher zuallererst technisch zu konstruieren, zu montieren. Er sollte dann die Natur und die Tradition längst hinter sich gelassen haben. Er sollte ein anderer, technischer Mensch sein. Am prominentesten hat Alexei Gastew, der Protagonist der Arbeitswissenschaft in Rußland, diesen Vergleich zwischen Mensch und Maschine programmatisch vertreten. So formuliert er etwa: „Our first task consists in working with that magnificent machine that is so close to us – the human organism. This machine possesses a sophisticated mechanics, including automatism and a swift transmission. Should we not study it? The human organism has a motor, ‚gears‘, shock absorbers, sophisticated brakes, delicate regulators, even manometers […] There should be a
28 Das ist auch bei den einschlägigen arbeitswissenschaftlichen Publikationen gut zu beobachten. Vgl. expl. Prof. J.[osef ] Ermanski, Wissenschaftliche Organisation und Taylor-System, Berlin 1925 und ders., Theorie und Praxis der Rationalisierung, Berlin 1928. 29 Walter Benjamin, „Erfahrung und Armut“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II 1, Frankfurt/ Main 1980, S. 213-219.
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special science, biomechanics, which can be developed in refined laboratory conditions.“30 Gastew, der, unterstützt von Lenin wie von Malewitsch, 1920 das Zentralinstitut für Arbeit (CIT) gründete, verstand dieses als Gesamtkunstwerk, aus dem der neue technische Mensch hervorgehen solle. Technik und Ästhetik sind nicht voneinander unterschieden, im Gegenteil: Sie gehen in der neuen Gesellschaft ineinander über. Montage, Einstellung und Aufbau („ustanovka“) sind Strategien der Konstruktion, die in beiden Bereichen gleichermaßen die Organisation regeln sollen. Kultur ist dabei vor allem Technik: „Die Kultur selbst ist nach unseren Begriffen nichts anderes als eine technische und soziale Fertigkeit. Diese Kultur fordert eine ganze Reihe Eigenschaften, welche wir ‚Einstellungen‘ nennen werden. Unter dem Namen der kulturellen Einstellungen verstehen wir solche biologische und soziale Eigenschaften, deren Besitz dem Träger dieser Eigenschaften einen kulturellen und sozialen Sieg sichert.“31 Die Neuprogrammierung von Einstellungen im Arbeitsalltag sollte auch eine andere Einstellung im alltäglichen Leben außerhalb der Fabrik nach sich ziehen. Das im Betrieb Erlernte sollte auf das gesamte Leben ausstahlen. Die Fabrik war Lebensschule. So entwickelte man etwa die Idee, für jeden eine „Chronokarte“ anzulegen, auf welcher die tägliche Arbeits- und Freizeit vermerkt war, um so die Zeit insgesamt besser kontrollieren und organisieren zu können. Die von Gastew 1923 mitgegründete „Zeitliga“, die als Zelle rasch in den allermeisten Betrieben vertreten war, widmete sich genau dieser Zeitökonomie und gab mit Wremja (Die Zeit) auch eine eigene Zeitschrift heraus.32 Zum Programm gehörte dann auch eine ökonomische Neuorganisation der Freizeit mitsamt der Errichtung von Freizeitparks, die als „Fabriken des Glücks“ beschrieben wurden.33 30 Alexei Gastew, PRU, S. 229, zit. nach: Kurt Johansson, Aleksej Gastev. Proletarian Bard of the Machine Age, Stockholm 1983, hier S. 113. Vgl. auch ebd., S. 49: „But man himself at the factory – is he not a robot? Has he not adapted not only his muscles but even his psychology to the simple, regular rhythm of the machine?“ (ZDV 3-4, 1911, Spalten 391) Eine Auswahl seiner Texte liegt nun auch in deutscher Übersetzung vor: Aleksej Gastev, Poesie des Hammerschlags, hg. von Hans-Christian von Herrmann und Konstantin Velminski, Berlin 2016. 31 Ders., „Die neue Kultureinstellung“, in: Prawda, 3.1.1923, S. 14, zit. nach: Baumgarten, Arbeitswissenschaften, S. 16. 32 Sie kam im Oktober 1923 heraus und hatte zu Beginn eine Auflage von 5000 Exemplaren. Dort heißt es dann auch ganz explizit: „Die Zeitliga ist ein kollektives Propagandamittel zur Einführung des Amerikanismus im besten Sinn dieses Wortes: unsere Arbeit ist unser Leben!“ (Wremja, Bd. 1, 1923, Heft 1, S. 64, zit. nach ebd., S. 112). Vgl. dazu auch Rudolf Wendorff, Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Wiesbaden 1980, S. 565f. Zur Zeitliga vgl. auch Ulf Brunnbauer, „’The League of Time‘ (Liga Vremia): Problems of Making a Soviet Working Class in the 1920s“, in: Russian History, Bd. 27, Nr. 4. Winter 2000, S. 461-495. 33 Katharina Kucher, Der Gorki-Park: Freizeitkultur im Stalinismus 1928-1941, Köln u.a. 2007, S. 184. Dazu auch die breit angelegte Studie von Richard Stites, Revolutionary Dreams. Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution, New York und Oxford 1989.
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Abb. 1-7 bis 1-12 Dokumente zu Gastew: Chronophotographien, Aufnahme des Labors und ein Plakat der Zeitliga sowie eine zeitgenössische Karikatur
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Die Maschinenmetapher regiert auch die Freizeit. Eine neue Zeit ist im Wortsinn angebrochen. Mit den drei Losungen „Zeit, System, Energie“ wollte die Zeitliga einen effektiven „Kampf für richtige Ausnutzung und Ökonomie der Zeit in allen Erscheinungen des sozialen und privaten Lebens“ führen, um so den „organisatorischen Analphabetismus“ zu bekämpfen. 34 Von unterschiedlichen Formen der Alphabetisierung wird noch zu reden sein, da das ein Topos des neu zu montierenden Menschen ist, zu dessen Neuausstattung allerlei Sprachen gehören – und dabei nicht zuletzt ein neues Zeitgefühl und eine zu erlernende Zeitökonomie. Dazu gehörten auch chronophotographische Experimente, die im tayloristischen Geist insbesondere Frank Bunker Gilbreth intensiv verfolgt hatte.35 Die Appelle der Zeitliga lesen sich mit ihrem deklamatorischen Revolutionspathos fast wie eine neue Form der Lyrik, die andernorts beschworen wurde. „Die Zeit: Bemiß deine Zeit, kontrolliere sie! Erfülle alles zur Zeit! exakt, auf die Minute! Spare die Zeit, verdichte sie, arbeite schnell! Teile die Zeit richtig ein, die Arbeitszeit und die Ruhezeit! Nütze die Ruhe aus, um nachher besser zu arbeiten! System: Alles nach einem Plan, nach einem System! Ein Notizbuch in dem System. Arbeitsplatz oder Arbeitstisch in Ordnung! Jeder arbeite nach dem Plan!“36 Industrielle rhythmische Gymnastik Ohnehin sollte auch in so elementaren Bereichen wie der Bewegung die Trennung von Arbeit und Freizeit aufgegeben bzw. genauer anders gefaßt werden. Ippolit Sokolow sprach etwa von einer „industriellen rhythmischen Gymnastik“ und verwischte damit den Unterschied in systematischer Absicht, sollte doch die Arbeit in der Fabrik den Bewegungsapparat neu justieren und umgekehrt die Freizeit durch möglichst rationale Organisation helfen, die Arbeitsauslastung zu maximieren.37 Die Gymnastik sollte dabei nach Gilbreth und Taylor organisiert werden, damit 34 Gastew, zit. nach Baumgarten, Arbeitswissenschaft, S. 111. 35 Vgl. dazu Barbara Wurm, „Mediale Wissensapparate. Chronofotografische Arbeiterbilder in der frühen Sowjetunion“, in: Klaus Krüger u.a. (Hg.), Um/Ordnungen. Fotografische Menschenbilder zwischen Konstruktion und Destruktion, München, S. 99-116. 36 Gastew, zit. nach Baumgarten, Arbeitswissenschaft, S. 111. 37 Ippolit Sokolow, „Industrielle rhythmische Gymnastik“, in: Organizacja Truda, 1921, Heft 2, S. 114-118: „Arbeitsgymnastik ist eine theatralisch gymnastische Erziehung der Arbeitsgeste.“, zit. nach Baumgarten, Arbeitswissenschaft, S. 44.
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Abb. 1-13 Die Tiller Girls
sich „die Linien der Kunst und des Betriebes einander begegnen, und sich schneiden. Der Theaterregisseur und der Ingenieur mit einer Stoppuhr in der Hand werden gemeinsam ein System einer neuen Produktionsgymnastik nach den Gesetzen der Arbeitsprozesse schaffen. Der Verfasser sagt“, so die hier referierende Franziska Baumgarten, „weiter: ‚Es ist gut möglich, daß in den Fabriken der Zukunft, Klänge von dieser oder jener Höhe die Arbeit intensiver gestalten werden. In einer Fabrik um die Mitte des 20. Jahrhunderts wird wahrscheinlich nicht ein amorphes Geräusch, sondern irgendeine Musik der Maschine zu hören sein, die auf die Weise erreicht wird, daß sämtliche Räder und Treibräder auf einen bestimmten Ton gestimmt sein werden.‘“38 Der Rhythmus wird als physiologische und soziale, als individuelle und kollektive, als technisch-mechanische und körperliche Erscheinung zugleich aufgefaßt, als programmierbare Form der Bewegung, die den Habitus des Individuums über nicht bewußte, automatisch ablaufende Körperprozesse zu verändern sucht und ihn mit der Geschwindigkeit der Maschinen gleichschaltet. Die diagnostische Bedeutung der maschinell anmutenden Bewegungen der seinerzeit berühmten Tiller Girls haben im Westen Siegfried Kracauer und Fritz Giese unterstrichen. Für beide sind sie, auch wenn sie daraus unterschiedliche Schlüsse ziehen, Chiffren der Industrialisierung, die hier ihre massenkulturell verwertbare Gestalt und so auch ökonomisch verwertbare Erscheinung findet. Die Gesellschaft läßt die Prozesse der Mechanisierung im Wortsinn Revue passieren. Der bereits zitierte Sokolow geht nun noch einen Schritt weiter und leitet aus der Beobachtung der industriellen Gymnastik ein regelrechtes Erziehungsprogramm ab: „Wir sind jetzt am Vorabend einer neuen taylorisierten Menschheit, wir sind eingetreten in eine geschichtliche Sphäre der industriellen Rhythmisierung der Menschheit. Wir besitzen noch zu viel Impulsivität und Reflexe in unseren Bewegungen und Handlungen, aber wir müssen uns von unserem hysterischen Atavismus befreien. Indu38 Ebd., S. 45.
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strialismus ist ein psycho-physiologisches Problem. Das Tempo und die Arbeit haben die physiologische Physiognomie des Menschen verändert. Das allgemeine Unterrichtswesen muß immer auf die industrielle Rettungsaktion des menschlichen Organismus hinsteuern, und zu einem solchen ersten Versuch einer Einführung der Kunst gehört die Einführung der industriell-rhythmischen Gymnastik in den Unterricht.“39 Arbeitsorganisation als Erziehung des Menschengeschlechts Gastew verstand unter wissenschaftlicher Arbeitsorganisation, der auch die ökonomische Zeitorganisation verpflichtet ist, die Suche nach einer Art Formel, die beim Einzelnen einsetzte, um Schritt für Schritt dann die komplette Gesellschaft umzugestalten. Beide Bereiche wurden dabei als Maschinen beschrieben. Technik war in diesem Sinne eine besondere Form der Erziehung des Menschgeschlechts: Wissenschaftliche Arbeitsorganisation wird daher als „eine Formel der Bewegung [aufgefaßt], die uns die Mechanismen offenbaren. Die Gruppen der Maschinen und der Betriebe erziehen uns erst durch ihre maschinelle Kombination.“ Und dann gleich einen Schritt weiter gehend: „Die Technik geht in Verwaltung über. Verwalten heißt umstellen; Organisation ist eine Lehre von Umstellungen im Zeitenraum.“40 Die Organisation der Arbeit führt automatisch zu jener der Gesellschaft und verbindet dabei fast nebenbei Individuum und Kollektiv. Gastew prophezeite, daß sehr rasch eine neue Generation von Arbeitern kommen würde, die ihre Individualität gänzlich aufgegeben hätten und deren Gefühle und Reaktionen gleich wären. Für ihn stellte die Konstruktion einer neuen maschinellen Welt, in der die Konditionierung an die Stelle der Revolution tritt, die eigentliche Umsetzung der sozialistischen Idee dar, da nun die Unterschiede im Sinne einer ökonomisierten Vereinheitlichung aufgehoben seien.41 Die Industrie als wissenschaftliche Arbeitsorganisation ist daher das Prinzip der neuen Gesellschaft und durchzieht alle ihre Bereiche, den Alltag eingeschlossen. Die Fabriken stellen gesellschaftliche Labore dar, die Normen durchsetzen und nicht nur Waren und Produkte, sondern auch neue Menschen produzieren. „Machines, no longer managed, will become managers“, schreibt Gastew, und das Proletariat werde eine „standardized psychology“ erreichen, die weltweit identisch und damit auch inter-
39 Ebd. Vgl. auch ebd., S. 46: „Wenn in unserem ganzen Leben und Dasein die Prinzipien der Chronometrie und des Scientismus eingeführt, und wenn unsere Art zu gehen und zu gestikulieren auf den Geometrismus der Ökonomie und der Rationalisierung der Bewegungen aufgebaut werden wird, auf geraden Linien der kleinsten Distanz zwischen zwei Punkten, so wird auch ein geometrischer, monumentaler Stil der russischen Republik geschaffen werden.“ 40 Gastew zit. nach ebd., S. 13. 41 Vgl. dazu Johansson, Gastev, S. 51-70.
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Abb. 1-14 Udarnik (Schläge), Moskau: Isogis Verlag, künstlerische Leitung Alexander Brodskij
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Abb. 1-15 „International Working Women’s Day is the day of assessment of socialist competition“, 1930, Plakat von Gustav Klutsis
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national sei.42 Das ist der Industrie-Kommunismus à la Gastew. In wenigen Schritten wird die neue Welt durchmessen und auf dem Reißbrett neu entworfen. Diese Rhetorik der Emphase, die Technik nachgerade messianisch beschreibt, ist omnipräsent und findet sich in höchst konkreten Handreichungen, wie der Arbeitsalltag zu gestalten sei, über Plakate bis hin zu künstlerischen Projekten und architektonischen Entwürfen: Agitprop im Dienste des montierten Menschen.43 Pamphlete, Projekte und Programme des Arbeitsinstituts erschienen seinerzeit fast täglich in Gestalt von Artikeln in Zeitschriften wie Das arbeitende Moskau, Prawda oder Trud. Das klang dann mitunter so: „Monteure! Hier habt ihr ein verbranntes Land, Ihr besitzt im Rucksack zwei Nägel und einen Stein. Damit errichtet eine Stadt!“44 Der Song „Wir bauen eine Stadt“ der Neue Deutsche Welle-Gruppe Palais Schaumburg lebt noch über fünfzig Jahre später von diesem Sound des nüchtern-revolutionären Pathos.45 Kommunismus = Sowjetmacht plus Elektrifizierung Kommunismus ist nach Lenins Diktum Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes; Revolution wäre dann Macht der Technik plus Montage der Gesellschaft und des Menschen. Die Optimierung der Arbeitsprozesse ist dabei das eine, die Ausbildung neuer Automatismen und Denk- und Wahrnehmungsformen das andere. Beide wurden programmatisch verschaltet: Psychische und physische Prozesse sollen durch die Montage nicht nur koordiniert, sondern gleichgeschaltet werden. Das erhoffte wie erwartete Erscheinen des „Neuen Menschen“ als neue Figuration der Revolution verdankte sich gerade einer Umsetzung der Technik als neuer globaler gesellschaftlicher Produktionsform. Gastew sprach vom „sozialen Ingenieurismus“ und meinte damit, daß auch die Gesellschaft als technische zu konstruieren sei: social engineering bereits hier.46 Der Ingenieur ist eben auch Gesellschaftstechniker. Individuum und Kollektiv sind dabei nur unterschiedliche Er42 Alexei Gastew, „O tendencijax proletarskoj kul’tury“, in: Proletarskaja kult’ura, Nr. 9-10, 1919, S. 35-45, S. 42 (zit. nach ebd., S. 67f.). 43 Die messianische Grundierung wird in einigen Studien unterstrichen. Vgl. Andreij Sinjawski, Der Traum vom neuen Menschen oder Die Sowjetzivilisation, Frankfurt/Main 1989; Gottfried Küenzlen, Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, München 1993 und – nun eher als Ausbuchstabieren des mythischen Imaginariums – Rolf Hellebust, Flesh to Metal. Soviet Literature and the Alchemy of Revolution, Ithaca/ New York 2003 und ders., „Aleksei Gastev and the Metallization of the Revolutionary Body“, in: Slavic Review, Bd. 56, Nr. 3, Herbst 1997, S. 500-518. Zur Architektur vgl. expl. den Ausstellungskatalog Baumeister der Revolution. Sowjetische Kunst und Architektur 19151935, Essen 2011. 44 Gastew, „Die Entstehung der Kultur“, zit. nach Baumgarten, Arbeitswissenschaft, S. 15. 45 Auf youtube unter: https://www.youtube.com/watch?v=CSFznM6CgxM (letzter Zugriff am 9.3.2016). 46 Gastew zit. nach Baumgarten, Arbeitswissenschaft, S. 14.
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scheinungsformen des gesellschaftlichen Wesens. Wenn man daher die Einstellung, das Verhalten und die Arbeit des Einzelnen ändert, so hat das auch Auswirkungen auf den Sozialkörper. Der „Neue Mensch“ sollte bereits die Errungenschaften der tayloristischen Modernisierung in einen neuen Habitus verwandelt haben, denn genau darum ging es: Technik sollte Automatismus im doppelten Wortsinn werden – auf der einen Seite eine Automatisierung im Sinne einer neuen Industrialisierung, auf der anderen als psychomotorische Mechanismen der Menschen. Bei Gastew heißt es in diesem Sinne programmatisch: „Viele stößt es ab, daß wir mit den Menschen umgehen wollen, wie mit einer Schraube, einer Schraubenmutter, einer Maschine. Aber dies müssen wir ebenso furchtlos auf uns nehmen, wie wir das Wachstum der Bäume, die Ausdehnung des Eisenbahnnetzes annehmen. Es handelt sich nicht darum, daß wir um eine größere Individualisierung kämpfen sollen, sondern im Gegenteil, der größte Teil unserer Arbeit soll automatisiert werden.“47 Existiert denn in Moskau ein Arbeitsinstitut? Franziska Baumgartens Bericht über die Arbeitswissenschaft in Rußland beginnt mit dem Erstaunen darüber, daß sich trotz einer offenkundigen Abschottung des Landes bereits früh eine eigenständige Arbeitswissenschaft entwickeln konnte.48 Erst Anfang 1922, so berichtet sie, gelangten Exemplare der Zeitschrift Die Arbeitsorganisation in den Westen und lösten dort Erstaunen aus: „Existiert denn in Moskau ein Arbeitsinstitut? Seit wann? Von wem geleitet? Was leistet es?“49 Ihre These, daß die russischen Forscher auf sich selbst angewiesen gewesen wären und „alles aus sich selbst schöpfen“50 mußten, entspricht hingegen nicht ganz den Tatsachen, da bereits Lenin das Studium des Taylorismus, aber auch der Theorien Pawlows auf die Agenda der Revolution gesetzt hatte, und dann auch zahlreiche Bücher westlicher, sprich bourgeoiser Theoretiker übersetzt wurden.51 Angesichts des Modernisierungsrückstandes von Sowjetrußland ist die Entdeckung von Taylor keineswegs
47 Zit. nach ebd., S. 16. 48 Baumgarten hebt unter den zahlreichen Institutionen vier hervor: das Zentralinstitut in Moskau, das Institut für Gehirnforschung in Petrograd (von Bechterew geleitet), das Arbeitsinstitut in Charkow und schließlich das Institut für wissenschaftliche Arbeitsorganisation in Kasan. 49 Baumgarten, Arbeitswissenschaft, S. 7. 50 Ebd., S. 8. 51 Vgl. expl. O.E. Ermanskij, Wissenschaftliche Arbeitsorganisation und das Taylor-System, Berlin 1925, dort mit umfangreicher Bibliographie, die allerdings auf die zahlreichen russischen Titel der Originalausgabe Moskau 1918 verzichtet. Vgl. auch den Bericht über die Arbeitswissenschaft in Rußland in: Industrielle Psychotechnik, 1. Jg., 1924, S. 91-93. Dort wird angemerkt, daß bereits Übersetzungen von Taylor, Münsterberg, Moede, Schlesinger, Riedel, Piorkowski, Amar und Tayol vorliegen.
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überraschend.52 Modernisierung, Industrialisierung, Kollektivierung und Alphabetisierung gehen Hand in Hand. Hierin unterscheidet sich der russische Ansatz der Psychotechnik und wissenschaftlichen Betriebsführung durchaus von denen des Westens. Das hat neben der relativen industriellen Rückschrittlichkeit des Landes zum einen etwas damit zu tun, daß hier die Arbeitswissenschaft einen revolutionären Gestus annimmt, in Deutschland hingegen betont sachlich daherkommt. Zum anderen findet sich in Rußland eine signifikante Vernetzung sehr unterschiedlicher Bereiche, von denen die Psychotechnik nur einer unter vielen ist. In Deutschland bleibt sie hingegen erst einmal eine auf die Anwendung in den Betrieben beschränkte Disziplin, für die sich Künstler und selbst Politiker kaum interessieren. Zwar gab es bereits 1919 den „Versuch des Reichsarbeitsministeriums, einen Reichsausschuß zur Förderung der Arbeitswissenschaft zu gründen“.53 Auch eine Zeitschrift sollte seinerzeit herausgegeben und sogar die Gewerkschaften miteinbezogen werden. Als Vorstandsvorsitzender war Max Weber vorgesehen, weitere Mitglieder sollten u.a. Emil Kraepelin, Adolf Wallich, Alfred Weber, Emil Lederer, Fritz Giese, Otto Lipmann und Johann Plenge sein. Das Projekt scheiterte aus politischen Gründen, und es kam zu einer stärkeren Ausdifferenzierung der verschiedenen Wissenschaftsbereiche. Eine Arbeitswissenschaft auf breiter interdisziplinärer Grundlage war künftig fern der Realisierbarkeit. Hingegen gründeten fortan größere Unternehmen, wie etwa die Bahn, die Post, die Polizei oder auch die Reichswehr, ihre eigenen psychotechnischen Untersuchungslabore. Ziel war dort nun neben der Mitarbeiterauswahl vor allem die Effizienzsteigerung, sprich die betriebsinterne Rationalisierung. Damit wurde auch die Psychotechnik zu einer technischen Angelegenheit. Die enorme Spannbreite, die sie hingegen in Rußland aufweist, schlägt sich nicht zuletzt im Montage-Begriff nieder, der dahingehend ein echter „umbrella term“ ist, daß der Brückenschlag von der Technik zur Ästhetik konsequent praktiziert wird. Daß der führende Arbeitswissenschaftler Gastew auch Gedichte schrieb, ist dabei eher eine Randnotiz wert,54 wichtiger ist die Tatsache, daß es zu einer konsequenten Kooperation zwischen Kunst und Technik kam, die sowohl institutionell wie theoretisch befördert wurde. „Die Gleichsetzung von technischer und künstlerischer, mechanisch-phys(ykal)ischer und poetisch-verbaler bzw. textueller ‚Montage‘“, resümiert so Aage Hansen-Löve, „gehört zu den produktivsten Begriffsfeldern der lin52 So auch Baumgarten, Arbeitswissenschaft, S. 37: „In einem Lande, das wirtschaftlich heruntergekommen ist, wo die ganze Industrie brach liegt, und immer wieder die Notwendigkeit, eine Änderung auf diesem Gebiete vorzunehmen, lebendig wird, ist es nicht zu verwundern, daß man sich an das Taylorsystem wandte und es als Rettungsanker, als ein Panazeum für alle wirtschaftlichen Mißerfolge ansah.“ 53 Irene Raehlmann, Interdisziplinäre Arbeitswissenschaft in der Weimarer Republik. Eine wissenschaftssoziologische Arbeit, Opladen 1988, S. 51. 54 Er stellte sich die künftige Poesie dann allerdings so vor: Kunst werde „objective manifestation of things, mechanized crowds and a stirring, explicit grandeur totally free from intimate or lyrical.“ („O tendencijax proletarskoj kul’tury“, in: Proletarskaja kult’ura, Nr. 9-10, 1919, S. 35-45, S. 45, zit. nach Johansson, Gastev, S. 70)
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ken Kunstutopien. Montage ist alles, und alles andere ist bloß ihr Rohmaterial, passive Verfügungsmasse einer universalen Machbarkeit, einer permanenten Umarbeitung: pererabotka lautete das Lieblingswort der Epoche.“55 Produktion statt Reproduktion, Konstruktion statt Mimesis, Materialität statt Erscheinung, Faktur statt Darstellung – das ist das Programm eben auch der (nicht nur konstruktivistischen) Künste, die immer auch Technik eben nicht nur mitdenken, sondern nachgerade vordenken. Kunst ist Produktion, Produktion ist Kunst und beide sind Technik und Montage. Das ist der Tenor der Publizistik dieser Jahre von arbeitswissenschaftlichen bis hin zu ästhetischen Zeitschriften. Als 1921 ein Band mit programmatischen Texten des Kunst-Produktions-Rats erscheint, heißt es dort: „Indem die Produktionskunst sich aus den Kleinbürger-Räumen der ‚angewandten‘ Kunst löst, dringt sie in die Tiefe der neuen industriellen Formen des schöpferischen Prozesses ein.“56 Auch die Kunst zielt wie die Industrie auf die Ausbildung neuer Standards, an denen sich die Produktion orientieren könne. Der Standardbegriff ist dabei keineswegs verpönte Normierung, sondern im Gegenteil gesamtgesellschaftliche Neuausrichtung. „Der Standard ist sowohl für die Gestaltung der materiellen Umwelt als auch für die Organisation der menschlichen Psyche, des Denkens und Handelns grundlegend.“57 Die Zeitschrift Oktober spricht dementsprechend von „Standard-Bildern, Standard-Formen, Standard-Farben und Standard-Kompositionen“58 und Tretjakow begreift das Theater als Ort des „praktischen Vorlebens“ von musterhaften Modellen des Standardmenschen und Standardalltags, da auch der Alltag längst zu einem „ununterbrochenen Produktionsprozeß“ geworden ist.59 In Bewegung: Film, Rhythmus, Psychotechnik Zurück nach Deutschland, wo man in der Zeitschrift Industrielle Psychotechnik ein wenig verwundert, aber gleichwohl zustimmend konstatiert: „Der Mensch ist nach Gastev eine Maschine und die Aufgabe der Arbeitsorganisation in unserem Zeitalter des technisch-maschinellen Betriebes kann nur darin bestehen, den arbeitenden Menschen als eine in Funktion befindliche Maschine in den allgemeinen Ablauf des dynamischen Prozesses einzuordnen.“60 Gleichwohl finden sich in Deutschland zwar nicht so weitreichende Konzepte wie in Rußland, wohl aber u.a. eine Debatte über die halluzinierende Wirkung des Films und nicht zuletzt die ihm ei55 Aage Hansen-Löve, „Im Namen des Todes. Endspiele und Nullformen der russischen Avantgarde“, in: ders. und Boris Groys (Hg.), Am Nullpunkt, S. 700-748, hier S. 722. 56 Zit. nach: Gaßner, „Von der Utopie zur Wissenschaft und zurück“, S. 51-101, S. 62. 57 Ebd., S. 66. 58 Amschek, „Fragen eines Ausländers“, in: Iskusstvo v massi, 1930, Nr. 7, zit. nach ebd., S. 66. 59 Ebd., S. 68. 60 Rezension von A. Gastev, Die Einstellungen für die Arbeit, Moskau 1924, in: Industrielle Psychotechnik, 3. Jg. 1926, S. 58-60, S. 58.
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gene Motorik. Fritz Giese etwa stellte fest, daß „der Film an sich alles in Motorik auflöst.“61 Das Spezifische des Films besteht in der Rhythmik der Filmbilder, die nicht nur auf diskreten Einzelbildern beruhen, sondern die Tendenz haben, auf das Leben überzugreifen. Der Rhythmus des Films wird zu dem der Vorstellung, um schließlich im Körper anzukommen. „Man ist gewöhnt, durch das sukzessive Abfolgen der Dinge in gleicher Form auf das Leben zu achten, vielleicht sein eigenes Leben ein Hintereinander von Filmbildern werden zu lassen.“62 Im Kino ist der Alltag zum Film geworden, und hat man den abgedunkelten Raum wieder verlassen, so bleibt es dabei. Die Welt wird zum Film. Der Kinobesucher, so Giese, „lernt eine gewisse Wechselfreude, er bekommt die Rhythmik des Ablaufs oft auch vorgeführt. So sieht er den Impuls der Maschinensäle, den Strudel der Stadt, die Woge des Verkehrs unmittelbar gekurbelt.“ Und weiter: „Konzentration, Rhythmik, schnelle Auffassung: das sind Erziehungswirkungen der Filmkultur“63 – und der Psychotechnik. Der Rhythmus ist in der psychotechnischen Literatur omnipräsent. Gleiches gilt – wie gesehen und noch genauer auszuführen – für seine filmische Umsetzung in Rußland, die auf den Rhythmus als Transmissionsriemen zwischen Wahrnehmung, Bewußtsein und Körper setzt. Und auch im Taylorismus ist der Rhythmus eine zentrale Kategorie. Er ist eine jener Übersetzungsinstanzen zwischen Körper, Arbeit und Gesellschaft, die hier gleichgeschaltet, sprich rhythmisiert werden sollen. Bereits Hugo Münsterberg spricht in Psychologie und Wirtschaftsleben vom „psychischen Rhythmus“ und dem „inneren Funktionieren“ eines Arbeiters.64 Nur rhythmische Arbeit ist gute, effiziente Arbeit. „Die rhythmische Tätigkeit bedeutet notwendigerweise psychophysische Ersparnis, und diese Ersparnis ist instinktiv in der ganzen Kulturgeschichte angestrebt. Die Wiederholung der Bewegung, wie der Rhythmus sie erlaubt, macht keine wirkliche Wiederholung des psychophysischen Impulses notwendig.“65 Und er vertritt sogar die These, daß der viel zitierte Rhythmus der Maschinen nichts anderes sei als eine Mimesis des arbeitenden Organismus und nimmt an, daß „die zerlegte Arbeit bereits eine weitgehende, dem psychophysischen Organismus angepaßte Rhythmisierung der Arbeit in den Werkstätten vorfand. Die Maschine hat dann zunächst häufig nur die rhythmischen Bewegungen des Menschen nachgeahmt.“66 Ziel sei dann eine „gleichmäßige Impulskette“,67 die den Arbeitern in Leib, Seele und Körper übergehen und Automatismen ausbilden solle, die ungehindert vom Willen schlicht funktionieren. Dieser Gedanke wird dann die gesamte psychotechnische und tayloristische Bewegung um- und vorantreiben. Die diversen Studien von Frank Bunker Gilbreth etwa zielen vor al61 62 63 64 65 66 67
Giese, Girlkultur, S. 51. Ebd. Ebd., S. 54. Münsterberg, Psychologie, S. 30. Ebd., S. 97. Ebd. Ebd., S. 102.
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lem auf eine Neuprogrammierung dieser rhythmischen Automatismen, auf eine Umstellung des überkommenen Habitus auf einen neuen Rhythmus der unwillkürlich ablaufenden Arbeitsprozesse. Seine Untersuchungen mit graphischen, photographischen und filmischen Verfahren analysieren Bewegungsabläufe als rhythmische Prozesse, die im optimalen Fall ohne jede Unterbrechung immer identisch ablaufen. Ist das nicht der Fall, so gilt es sie zu perfektionieren und einen neuen Arbeitsrhythmus im Körper der Arbeiterinnen und der Arbeiter zu implementieren. So auch Giese, der Gilbreth bei seinen Verfahren folgt. „Jede Serienhandlung zerlegt sich durch praktische Wiederholung zeitlich-rhythmisch in Gruppen.“68 Diese bilden die Elemente, aus denen die Arbeitsprozesse zusammengesetzt sind. Ihre Verkettung, also Rhythmisierung, ist Ziel der psychotechnischen Optimierungsverfahren. „Erst diese Rhythmisierung der Serienhandlung,“ so Giese, „erbringt wesentliche betriebsökonomische Vorsprünge bestimmter Arbeitseinrichtungen oder auch einzelner Menschen gegenüber anderen.“69 Der Rhythmus ist weiterhin bestimmendes Element der Zentralmetapher dieser Zeit auch in Deutschland: der Mensch-Maschine. Der Mediziner Carl Ludwig Schleich, dessen populärwissenschaftliche Bücher damals Bestseller waren, hat sie ausbuchstabiert. Für ihn ist „der Mensch ein rhythmischer Organismus“,70 der wie eine Maschine zu analysieren sei. Bei Schleich zielt die Maschine dann auf eine neue rhythmische Ordnung der Welt, wenn er den Menschen „im völligen Einschwung aller seiner Rhythmen zur Harmonie des Gesamtwillens der Natur resp. der Kultur“71 als Ziel ausgibt. Das geschieht dann in so unterschiedlichen Bereichen wie der Arbeit, der Girlkultur und dem Militär. „Die Armee“, so Schleich, „wird ein von vielen Millionen Muskeln einheitlich bedienter nationaler Wille“.72 Es komme zu einer Stählung der Muskulatur im Gehirn und schließlich zur Ausbildung eines „seelischen Kollektivindividuums“.73 Mit Helmholtz als Moses74 erreicht der moderne Mensch das gelobte Land, in dem nicht Milch und Honig fließt, sondern der fließende Rhythmus der Arbeit regiert. Und mehr noch als das: Wenn Fritz Giese vom Rhythmus spricht, so meint er nicht allein die Arbeit, sondern eben auch Koitus, Gang und Marsch.75 Rhythmische Körperarbeit ist orgiastische Arbeit, ist Körpertechnik, die Glück verheißt. Das ist das Credo der Psychotechniker, die selbst bei der ödesten maschinell-repetitiven Arbeit lauter glückliche, erfüllte Menschen sehen. Entscheidend ist dabei die Transformation des Organis-
68 Fritz Giese, Psychotechnik, Breslau 1928, S. 69f. 69 Ebd., S. 70. 70 Carl Ludwig Schleich, Vom Schaltwerk der Gedanken. Neue Einsichten und Betrachtungen über die Seele, Berlin 1916, S. 25. 71 Ebd., S. 135. 72 Ebd., S. 161. 73 Ebd., S. 189f. 74 Ebd., S. 204-206. 75 Giese, Girlkultur, S. 22f.
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PSYCHOTECHNIK IN DEUTSCHLAND UND RUSSLAND
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mus in eine Maschine. „Wir stellen“, so Giese, „dem biologisch-natürlichen den technisch-artifiziellen Rhythmus gegenüber.“76 Weniger emphatische Psychotechniker wie etwa Walter Moede oder Georg Schlesinger, der deutsche Taylor, beschränken sich auf die Betriebsorganisation, deren Optimierung ihr Ziel ist. Doch auch hier regiert der Rhythmus. Er garantiert die „Erreichung eines psychoenergetischen Optimums im Betriebe und in der Wirtschaft durch Eignungsfeststellung, Anlernung und Arbeitsplatzgestaltung. Bestwerte im psycho-energetischen Sinn fanden wir immer dann, wenn wir die vier Hauptziele unserer Arbeit verwirklicht fanden oder wenn sie der Verwirklichung harrten. Diese vier Grundpfeiler der guten Menschenarbeit sind: 1. Stetigkeit des Leistungsflusses, 2. Günstigste (optimale) Intensität, 3. Kleinstbeanspruchung der Arbeitsfunktionen […] 4. Größte Leistungsdichte“.77 Moede gehörte zu jenen Psychotechnikern, die vor allem anderen die Effizienzsteigerung und Rationalisierung als Ziel der Psychotechnik ausgegeben hatten. Zusammen mit Richard Couvé und K.A. Tramm veröffentlichte er im Juni 1933 einen Aufruf, in dem sie den Nationalsozialismus als Aufforderung an die Psychotechnik als Gestaltung begreifen.78 Nun sollte es nicht länger um neutrale Analysen gehen, sondern um eine völkisch-nationale Wissenschaft. Am Ende Georg Schlesinger, der 1934 wegen Hochverrats und Betriebsspionage verhaftet und dem dann 1939 als Jude seine deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wurde, steht für eine pragmatisch-neutrale Orientierung der Psychotechnik. Doch auch er erblickt eine Transformation des individuellen Arbeiters in ein maschinell funktionierendes Wesen: „Der in bürgerlicher Kleidung am Fabriktor antretende Mensch wandelt sich im Umkleideraum in einen Arbeiter im Kittel um, der mit dem Passieren der Fabrikuhr seine Freiheit aufgegeben hat und sich nun verpflichtet, 8 Stunden lang am gleichen Ort im Dienste der Fabrik seine Arbeit körperlich und geistig voll herzugeben“.79 Der Arbeiter wird auf dem Gang zur Maschine eben zu einer solchen. In Rußland verschwindet im Stalinismus die Arbeitswissenschaft von der politischen Agenda. Gastew wird im September 1938 verhaftet und ein halbes Jahr später erschossen. Das von ihm geleitete CIT, das „Zentralinstitut für Arbeit“, wird 76 77 78 79
Ebd., S. 25. Moede, „10 Jahre Institut für Industrielle Psychotechnik T.H. Berlin“, S. 592. Raehlmann, Arbeitswissenschaft im Nationalsozialismus, S. 32. Georg Schlesinger, „Das Taylor-System und die deutsche Betriebswirtschaft“, in: Die Technische Hochschule, 3. Jg., 1921, Nr. 12, S. 170-177, S. 173.
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geschlossen. Das nationalsozialistische Deutschland hingegen hatte Verwendung für die Arbeitswissenschaft. Bereits 1925 hatte der rechtsextreme Ingenieur Karl Arnhold das „Deutsche Institut für technische Arbeitsschulung (DINTA)“ gegründet, aus dem dann das Amt „Schönheit der Arbeit“ hervorging, das am 27.11.1933 eröffnet wurde. Der Weg zum Nationalsozialismus, zum Menschen, der hart wie Kruppstahl sein sollte, war nicht mehr weit. Nun diente die Psychophysik nicht länger einer Neutralisierung der gesellschaftlichen, weltanschaulichen und ideologischen Konflikte, sondern der Einübung in einen neuen Rhythmus, der Technik und Blut gleichschaltete. „Den Takt der Maschine mit dem Rhythmus des Blutes durch organische Betriebsgestaltung und Militarisierung der Führung in Einklang zu bringen,“80 das war die Aufgabe der Organisation, die Schönheit der Arbeit versprach und die Auslöschung des Individuums umsetzte. Der allgemeine, kollektive Mensch wurde nun faschistisch geboren. Eines seiner zynischen Motti war bekanntlich „Arbeit macht frei“.
80 Arnhold zit. nach Rabinbach, Motor Mensch, S. 341.
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2. Fritz Giese: Psychotechnik als deutsche Aufgabe
„Wir befinden uns in der nüchternen, kristallklaren Atmosphäre des Objektiven. Wer dort nicht mitmacht, wird erfrieren, wer aber mitschafft, wird warm werden in diesem Jenseits vom Allzumenschlichen.“ „Es ist irgendwie Luft der Steinzeit um uns.“ Fritz Giese1
Fritz Giese, der 1935 45jährig starb, war wohl der umtriebigste, originellste und ideologischste der deutschen Psychotechniker. Kaum einer war so erratisch und polyvalent wie er, aber auch kaum einer biederte sich so rasch den Nationalsozialisten an. Er hatte bei Wilhelm Wundt promoviert, war dann während des Ersten Weltkriegs als Psychologe auf einer Station für Kriegsversehrte und insbesondere Hirnverletzte tätig,2 wurde Assistent bei Walter Moede und gründete 1918 in Halle/ Saale das erste Institut für praktische Psychologie in Deutschland. Von 1923 bis zu seinem Tod 1935 unterrichtete er an der TU Stuttgart und war dort Leiter des Psychotechnischen Laboratoriums. Dort lehrte er bereits 1932 eine besondere Form der Psychotechnik am Beispiel von Hitlers Mein Kampf, das der Autor in 25 Freiexemplaren zur Verfügung gestellt hatte.3 Giese war aber auch Herausgeber des mehrbändigen Handbuchs der Arbeitswissenschaft und der umfangreichen „Arbeitenreihe zur Kulturpsychologie u. Psychologie der Praxis (Psychotechnik)“ Deut-
1 Fritz Giese, Zeitgeist und Berufserziehung. Prolegomena zur Kulturphilosophie der Arbeit, Köln 1927, S. 17 und ders., Nietzsche – Die Erfüllung, Tübingen 1934, S. 190. 2 Giese unterstreicht, daß er in dieser Zeit als „militärischer Berufsberater im Kriege und […] Leiter des Hirnverletztenlaboratoriums in Halle“ (ders., Psychologie der Arbeitshand, Sonderdruck aus: Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden, hg. von Emil Abderhalden, Abt. VI, Teil B, S. 803-1124, 1928, S. 804) entscheidende Impulse „im Lazarett, der Betriebswerkstatt, dem Laboratorium und der Berufsberatungsstelle“ erhalten habe. „Man kann sagen, daß in diesem Sinne der Krieg auch der Psychologie entscheidende Erkenntnisse schenkte“ (Ebd.) 3 „Hitler hat in seinem Buch wiederholt auf diese Notwendigkeit einer neuen Weltanschauung hingewiesen. Weltanschauung kann nur durch Weltanschauung überwunden werden.“ Ders., Nietzsche, S. 187; zu den Freiexemplaren dort S. 191.
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sche Psychologie.4 Er publizierte eine Fülle von Büchern, die von eher technischen und anwendungsorientierten bis hin zu philosophisch-diagnostischen Gegenständen reichen. Ein Buch über Nietzsche, in dem Krieck und Darré, Mussolini und Hitler, Benn und Heidegger, Lagarde, Rosenberg und Moeller van den Bruck als zentrale Referenzen die nationalsozialistische Orientierung mehr als nur deutlich macht, gehörte ebenso zu seinem Œuvre wie ein eigentümlicher Brief-Roman und dezidiert esoterische und dem Paranormalen gewidmeten Studien.5 Das ist eine höchst eigentümliche Gemengelage, die der ansonsten sachlichen Psychotechnik erst einmal fremd zu sein scheint. Gleichwohl buchstabiert Giese wie kein zweiter im deutschsprachigen Raum das Imaginarium der Psychotechnik aus, indem er technisch-praktische Analysen mit ausschweifenden Kulturdiagnosen verbindet – allerdings streng marktorientiert durchweg in getrennten Büchern. Sein bekanntestes ist vermutlich Girlkultur, in dem er anhand eines Vergleichs der amerikanischen Revue-Tanzgruppen wie den Tiller Girls, dem Tanz in Rußland und dem deutschen Ausdruckstanz à la Laban und Wigman eine Art Kulturkritik unternimmt, die allerdings nicht annähernd die Originalität und Komplexität von Kracauers Analysen aufweist.6 Giese geht es um „ein Stück mehr zur Kasuistik unserer Zeit, die im Begriffe steht, durch eine Epoche unerhörter Strukturveränderungen abgelöst zu werden.“7 Während in Deutschland der Körper immer Zucht gewesen sei, finde sich in den Vereinigten Staaten eine Umsetzung der Ideen des Taylorismus und Fordismus in Gestalt des Tanzes. „Was wir von dort [in Amerika, B.S.] erfuhren, waren in erster Linie Zahlen, Statistiken, Fragen der Wirtschaft und der Technik, gleichviel, ob man das Theorem Taylors oder die antipode Praxis Fords in den Mittelpunkt rückte.“8 Diese kulturelle Dominante, die diesseits wie jenseits des Atlantiks zur unabänderlichen Welt der Technik geworden sei, finde, so Giese, dann auch ihren Ausdruck in den Tanznummern der Revues und Variétés: „Die Tiller Girls und andere Girltrupps waren Tanzmaschinen […]. Nicht der Zwang des Gehorchens, sondern die Idee des Technischen und
4 In dieser Reihe finden sich u.a. Bände zu den folgenden Gegenständen: „Psychotechnische Masseprüfungen“, Charakterologie, Eignungsprüfung und -prinzip, zum Couéismus und zur psychotechnischen Schulung von Polizeibeamten, aber auch zur Faulheit, zum Altern, zu Immanuel Kant und „Zur Psychologie und Soziologie der modernen Kunst“ (Richard Müller-Freienfels). Giese war schließlich auch Herausgeber des Handwörterbuchs der Arbeitswissenschaft mit 3500 Stichworten auf 5232 Spalten. 5 Ders., Briefe um Sigrid, Leipzig 1922; ders., Die Lehre von den Gedankenwellen, Leipzig 1924 (EA 1910) und ders., Das außerpersönliche Unbewußte, Braunschweig 1924. 6 Ders., Girlkultur. Vergleiche zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl, München 1925 und Siegfried Kracauer, „Das Ornament der Masse“. in: ders., Das Ornament der Masse, Frankfurt/Main 1977, S. 50-63; vgl. dazu auch Helmuth Lethen, Neue Sachlichkeit. 1924-1932. Studien zur Literatur des „Weißen Sozialismus“, Stuttgart 1970, S. 43f. 7 Giese, Girlkultur, S. 8. 8 Ebd., S. 14.
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des Kollektiven aller Technik war Leitgedanke.“9 Wir sehen hier eine neue Art des Kollektivs am Werk, die sich in Gestalt von montierten Menschen auf der Bühne manifestiert: getanzter Taylorismus. Die Tänzerinnen setzen mit Leichtigkeit performativ das um, was ansonsten den Menschen als Performanz der Arbeit abverlangt wird. Letztere soll ihrerseits die Selbstverständlichkeit und den Schwung von Tanzbewegungen erlangen. Das ist die Botschaft des Tanzes in Amerika. Die Erscheinungsweise der Tänzerinnen auf der Bühne, ihre Verwandlung in ein Kollektiv sei hingegen in Rußland gänzlich anders. Hier tanze man nicht in selbstverständlich-verkörperter, sondern in abbildender Weise die „Kultur der Maschine“.10 Das Verhältnis zum Kollektiv und zur Technik sei hier ein anderes und finde dementsprechend auch im Tanz einen anderen Ausdruck. „Sie tanzen zum Beispiel das Spiel einer Pumpe! Warum? Weil sie leiden unter der Technik, weil ihre zur Mechanik begabte slawische Seele aufgreift das Prinzip des Kapitalismus, das hinter den Dingen steht, das sie bekämpften und zu neuen Formen zu führen suchten. […] Die Maschine in Rußland das Abbild; die Vorführung des Modells wie im Deutschen Museum zu München. Bei der Amerikanerin das Prinzip des Maschinellen, der Serienfertigung und der Massenarbeit in der Trainingskultur und der entindividualisierten Vorführung der Girlmaschine auf der Bühne.“11 In Amerika können wir daher den fröhlichen technischen Menschen beobachten, der die Technik bereits im Wortsinn inkorporiert hat, während die Russen an der Technik leiden und sich an ihr abarbeiten: „Die kommunistischen Russen treiben Zeitmasochismus durch ihre Maschine, die Amerikaner verwerten fröhlich die unabänderlichen Dinge.“12 Der Tanz führt das Verhältnis einer Kultur zur Technik vor Augen. Die Deutschen als drittes Beispiel betreiben ihrerseits eine Zucht des individuellen Körpers, um dessen Ausdruck als Individuum es in Zeiten geht, in denen längst das Kollektiv obsiegt hat. Man findet bei Giese insbesondere in den Texten der 1920er Jahre eine Art rhetorische Verteidigung des Individualismus und auch Humanismus europäischer Prägung, die aber flankiert wird von markigen Bestimmungen des neu angebrochenen Zeitalters, die solche Überlegungen als historischen Altbestand kennzeichnen. So auch hier: „Was bedeutet moderne Technik? Sie bedeutet Verschwinden des Individuellen im Betriebszusammenhang.“13 Auch ein Betrieb, eine Firma oder eine Werkstätte sind bereits Orte des Kollektivs. Technisierung bedeutet daher notwendigerweise Kollektivierung, der sich Deutschland, so kann man den Gedanken fortschreiben, noch nicht gestellt habe: „Der kollektive Mensch ist also notwendig. Er ist Forderung. 9 10 11 12
Ebd., S. 83. Ebd., S. 111. Ebd. Ebd., S. 112. Gieses Überlegungen sind dabei grundiert von einem expliziten Rassismus. Der Amerikaner, so räsonniert er etwa, „hat nicht die historischen Ganglienstränge, die uns immer wieder am festgewohnten Kreise haften lasen“ (S. 56) und unterscheidet „Zivilisationsneger“ und „Kulturjuden“ (S. 66). 13 Ebd., S. 83.
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[…] Kollektivgeist der Menschen ist heute Sammelseelengeist, eint sich mit der Forderung nach Gleichförmigkeit in der Struktur. Die Erziehung auf Serienmenschen zur Serienarbeit“14 wird zum Programm und zur Aufgabe. Der Faschismus ist nicht mehr fern. Am Ende des Kulturvergleichs steht daher eine Art Bekenntnis zur fröhlichen Wissenschaft der Psychotechnik, die sich an der Schuld des Verschwindens des Individuums abarbeitet so als sei diese die Kriegsschuld des Ersten Weltkriegs. „Wir haben uns erst daran zu gewöhnen, daß wir alle die Paradiesschuld in lebenslänglicher Reparationsarbeit abzubuchen haben. Der Amerikaner kam zur neuen Arbeit, um zu schaffen.“15 Der Weltkrieg ist – wie auch in Walter Benjamins „Erfahrung und Armut“ – der historische Hintergrund des neuen Menschen, dessen Ankunft Giese wie kein zweiter Psychotechniker ersehnt. Ob er dann als montierter Mensch oder als posthumaner Übermensch zu fassen ist, ist letztlich eine Frage der Terminologie. Die Selbstverständlichkeit von Jüngers Arbeiter ist ihm erst einmal fremd, gerät dann aber mehr und mehr in den Fokus. Letztlich sind seine zahlreichen Publikationen zur Psychotechnik der Versuch, die Technik als neue Natur des Menschen erst zu begreifen, dann anzuerkennen und schließlich durchzusetzen. Technikgeschichte als Lebensgeschichte In verschiedenen seiner Bücher entwickelt Giese eine Art Generationenmodell, bei dem die Lebensgeschichte das Verhältnis zur Technik bestimmt. Er unterscheidet dabei die Eltern- und Erziehergeneration, sowie die Katastrophen- und Neuzeitjugend.16 Die „Technik ist [dabei jeweils] eine Ideenwelt, die niemals vergessen werden wird“,17 die, mit anderen Worten, den Einzelnen nachhaltig prägt, die sich ihm einprägt. Der Weg führe vom Wunder zur Selbstverständlichkeit und von der Zerstörung der Weltkriegsgeneration zum Alltagsdasein. Dieses gelte es nun in seiner ganzen Tragweite zu begreifen. „Diese technische Welt umbraust heute Klein und Groß“, und das führe dazu, „daß die Maschinenzeit uns umgibt wie die Luft“.18 Die Technik ist das neue Elementare, und „zur Technikwelt Stellung zu nehmen ist persönlichste Konsequenz der Zeit.“19 Vom Persönlichsten zu sprechen, ist dabei allerdings eine besondere Art des Euphemismus, da just das Individuum im Zuge der Entwicklung der Technik zur neuen Natur des Menschen auf der Strecke bleibt. Die Technik ist weder das Wunder von damals noch das Leid des Kriegs von gestern, sie ist die Kultur von heute, die, wie Giese auch hinzufügt, morgen anderen Konstellationen zu weichen habe. Dementsprechend schickt Gie14 Ebd., S. 86. 15 Ebd., S. 125. Vgl. auch ebd.: „Arbeit [in Amerika, B.S.] ist religiöse Angelegenheit, sie ist Segen, nicht Fluch wie bei uns. Wir verloren das Paradies und müssen nun leider arbeiten.“ 16 Vgl. ders., Bildungsideale im Maschinenzeitalter, Halle/Saale 1931, S. 62-68. 17 Ebd., S. 60. 18 Ebd., S. 70. 19 Ebd.
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se sich an, die „Zubereitung des Menschen auf die gegenwärtige Sachlage kultureller Form“ voranzutreiben.20 Es geht dabei um Auslese, Tempo und Beschleunigung, Leistung und „eine Art freiwilliges Maschinensklaventum“.21 Es ist also nicht die Rede von Maschinenstürmern à la Toller, sondern es geht um eine Neugestaltung des Menschen im Reich der Technik. Diese hat für den Einzelnen einen doppelten Imperativ: Der Arbeiter „muß sich dem Wir-Willen und dem Es-Willen unterwerfen, dem Willen der Gruppe und der Maschine.“22 Zwischen Wir und Es kommt das Ich abhanden. Die Technik ist Emblem einer notwendigen Kollektivierung, die mit Prozessen der Rationalisierung und Beschleunigung einhergeht. Gieses raunendes Interesse für paranormale Phänomene und das überpersönliche Unbewußte23 hat daher weniger mit psychoanalytischen Theorien gemein, als vielmehr mit der Technik als einem überpersönlichen Bereich, der mit seinen Forderungen der Typisierung und Normierung das Ich prägt und nachgerade erzieht.24 Die Technik ist das Gestalt gewordene überpersönliche Unbewußte. Das Imperium schlägt zurück: „Der Mensch gestaltet nicht nur, er wird gestaltet. Er ist nicht nur geeignet, er wird geeignet.“25 Wenn nun aber im Reich der Technik „Typisierung und Normung Obergebot für alles Tun sind“, dann ist auch „der freie Wille nur begrenzt anwendbar.“26 Um ihn wird es in der Folge daher nicht mehr gehen. Die Technik ist mehr als nur eine Idee, sie ist eine Macht: „Vor allem (im Gegensatz zum Gebiete ‚Politik‘) führt dabei die Technik völlig aus der Zone des Persönlichen, Allzumenschlichen, Leidenschaftlichen und Triebhaften. Sie ist eine geläuterte Macht in einem kristallklaren Reich der Ideen – und das ist ethisch vielleicht das Allerwichtigste. Technik will Nützlichkeit“.27 Damit zeigt sich dann auch, was das eigentliche Ziel von Gieses Generationenmodell ist: eine para- oder pseudoavantgardistische Eskamotierung der Vergangenheit zugunsten eines Reichs des Technik mitsamt einer „therapeutischen Zielgebung. Sie [die Technik, B.S.] ist die Welt ohne Phrasen und ohne fehlgerichtetes ‚Erleben‘, ohne Ichkult im negativen Sinne. Endlich aber löst die Technik den Menschen ab vom historischen Ballast. Wer wirklich unser Zeitalter erfassen will, kann es angesichts der eindruckmachenden technischen Symbole – seien sie Hochöfen, Häfen, Überlandbahnen, Kraftzentralen oder sonst etwas. Hier wirkt die Welt der Arbeit, hier lebt die neue Zeit. […] Wer dieses Hohe Lied der Gegenwart hören will, muß zur Technik gehen! Sie bietet alle ästhetischen, ethischen und kulturellen Antriebe für das Ich – vor allem 20 21 22 23 24 25 26 27
Ebd., S. 10. Ebd., S. 58. Ebd., S. 76. In seinem Buch Das außerpersönliche Unbewußte (Braunschweig 1924) versucht er eine „Theorie des intuitiven Denkens“ (o.S.) zu entwerfen, die zwischen experimenteller „Denkpsychologie“ und Psychoanalyse angesiedelt ist. Daher spricht Giese von der „technischen Produktionswelt als Erzieher“ (Bildungsideale, S. 150) und konstatiert die „Normung und Typung im Leben des Einzelnen“ (S. 151). Ebd., S. 79. Ebd., S. 76f. Ebd., S. 194.
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dort, wo sie jenseits von der falschen Verwirtschaftlichung lebt, wo wirklich Ingenium und Ingenieur noch Sinnbeziehung aufweisen. Diese berauschende Welt der technischen Ideen in ihrer formalen Gestaltung kann keinen Menschen unserer Tage unbeeindruckt lassen.“28 Und bereits 1931 spricht Giese dann von der „Sympathie zum Führer“29 und widmet dem „Führertum“ ein ganzes Kapitel. Worauf es aber ankomme, sei die Arbeit: „Die Erziehungstechnik hat weitgehend für die Arbeit durch Arbeit zu erziehen.“30 Arbeit, Arbeit über alles Die Psychotechnik hat mit der Psychoanalyse, die sich in den Worten von Giese um die „Heilung von bestimmten Mängeln“31 kümmert, erst einmal nichts gemein. Sie heilt eher die Betriebe von bestimmten Mängeln und hat die Einstellung und Anpassung der Arbeiterinnen und Arbeiter an ihre Anforderungen zur Aufgabe. Ihr geht es um „Eichung“, „Eignung“, „Auslese“ und um Rationalisierung, Optimierung und Paßgenauigkeit. Ihr Gegenstand ist die „Menschenbehandlung“, wie es bei Giese und Moede martialisch heißt.32 Gemeint ist die doppelte Bewegung der Anpassung der Menschen an die Maschinen und die der Maschinen an die Menschen sowie – und nun unilateral – der Arbeiter an den Betrieb und seine Erfordernisse. Auf der einen Seite, der Objektpsychotechnik, sollen die technischen Dispositive optimiert werden: „Die Psychotechnik pflegt ja die psychotechnische Eichung: das heißt die Anpassung der Arbeitsformen, Geräte und Werkzeuge an die natürliche körperlich-seelische Natur des Benutzers“.33 Auf der anderen Seite, der Subjektpsychotechnik, geht es um die Optimierung der Arbeitsprozesse anhand von detaillierten Studien, die Bewegungen rationalisieren und Überflüssiges eliminieren. Auch das nennt Giese „psychologische Eichung“, die „verschwestert mit dem Taylorsystem“ auf Dinge und Maschinen bezogen sei.34 Maschinen und Menschen sollen bestmöglich aufeinander eingestellt werden. Das dritte Aufgabenfeld ist die „Auslese“, d.h. die Auswahl und Zuweisung der Arbeiter auf eine paßgenaue Funktionsstelle, die ihren Fähigkeiten optimal entspricht. Giese bezeichnet diese Aufgabe als „Menschenauslese und ihre Verfahren“.35 Die Psychotechnik wird 28 Ebd. Und weiter: „Technik sei die Erholungszone der Philosophen und Künstler, damit sie den Geist der Zeit nicht nur verstehen, sondern auch lieben lernen.“ 29 Ebd., S. 205. 30 Ebd., S. 241. 31 Ders., Aufgaben und Wesen der Psychotechnik, Langensalza 1920, S. 7. 32 Vgl. expl. Fritz Giese, „Menschenbehandlung beim Büropersonal“, in: Der Werksleiter, 2. Jg., 1928, S. 146-150 und Walter Moede, Zur Methode der Menschenbehandlung, Berlin 1930. Vgl. dazu auch C. F. Graumann (Hg.), Psychologie im Nationalsozialismus, Berlin u.a. 1985. 33 Ebd., S. 56. 34 Ebd., S. 7. 35 Ebd., S. 111.
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Abb. 1-15a Tabelle zur psychotechnischen Eignungsprüfung
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nicht müde, immer neue Methoden der Eignungsprüfung zu entwickeln, die darauf zielen, „eine Art Seelenphotographie zu bekommen, aus der deutlich zu ersehen ist, welche seiner Anlagen licht, und welche dunkel geartet sind.“36 Und weiter: „Sofort und schlagend sehen sie den ganzen Menschen bei dieser Probe.“37 Das ist, wenn man bedenkt, daß die Psychotechnik das psychische Innenleben des Menschen bewußt ausblendet und sich ausschließlich auf seine Handlungen konzentriert, ein vermessener Anspruch, der aber zugleich deutlich macht, daß gerade die Arbeitsfähigkeit des Individuums sein höchstes und im Sinne der Psychotechnik bestimmendes Gut ist. In dieser Perspektive sind Menschen Typen, Muster und Modelle, die durch und durch kalkulierbar sind. Das ist ein wesentlicher Zug der Eignungsprüfung, die auf die Wiederkehr des Immergleichen und die Identifizierbarkeit bestimmter Typen setzt.38 Die Welt ist alles, was der Fall ist. Daher rührt auch das Interesse der Psychotechnik für Verfahren der Physiognomie, die bei Giese als Beispiele bewußt eingesetzt werden. Die Menschheit ist, wenn man nur genau genug hinsieht, bereits typisiert, normiert und klassifiziert. Das gilt es für die Prozesse industrieller Normung und Rationalisierung zu nutzen. Giese unterstreicht in hinreichender Deutlichkeit, daß es dem Psychotechniker seiner Vorstellung um Drill und Disziplinierung geht und er daher die Überparteilichkeit, die Münsterberg noch betont hatte, bewußt aufgegeben hat. Er bezieht die Partei des Unternehmers und schlägt sich nur dann auf jene des Arbeitnehmers, wenn es um erforderliche Verfahren der Optimierung und unerläßliche Bedingungen wie etwa die Arbeitssicherheit geht: „Er [der Unternehmer] wird sich nicht an eine idealistisch verstiegene Phraseologie von der Fähigkeitsschulung und der Höherwertung und ‚Vergütung‘ von Menschenseelen halten – die bis heute nicht erweisbar und überdies auch kaum mehr als Annahme sein wird, wenn die Wirklichkeit spricht. Daß wir Zeit sparen durch psychologisch geleitete Drillverfahren, ist Produktionsverbilligung genug, und es wird nun Aufgabe der Wissenschaft sein, die Drillmethoden für die verschiedenen Anwendungsbereiche von Fall zu Fall auszuarbeiten. Die Industrie muß wissen, daß die Psychotechnik in der Lage ist, in den allermeisten Fällen denselben Lernstoff vorteilhafter einzubringen in die Gehirne als die normalmaßzugeschnittene allgemeine Unterweisung, die nicht Bezug nehmen kann auf die Verschiedenheiten der menschlichen Auffassung, Begabung oder auch nur körperlich bedingten Veranlagung. Die Psychotechnik individualisiert das Allgemeine, um wieder im allgemeinen Verbessern zu endigen.“39
36 Ebd., S. 9. 37 Ebd., S. 13. 38 Vgl. dazu ders. und Cläre Cordemann, Psychologische Beobachtungstechnik bei Arbeitsproben, Halle/Saale 1931 (= Deutsche Psychologie, Bd. VIII, Heft 3), S. 49: „Berufsberatung und Psychotechnik wären undenkbar, wenn nicht das Gesetz von der Wiederkehr des Gleichen und daher des Typischen Geltung hätte.“ Giese spricht daher von der „Typisierung der Menschen zu gleichen Spielarten“ (ebd.). 39 Ders., Psychotechnik, Breslau 1928, S. 55.
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FRITZ GIESE: PSYCHOTECHNIK ALS DEUTSCHE AUFGABE
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Das hier proklamierte individuelle Allgemeine basiert auf der Vorstellung, daß die Arbeit ein und alles ist und diese mithilfe der Technik zu optimieren und zu rationalisieren sei. Der kleinste gemeinsame Nenner bei allen Konflikten ist die Vorstellung des homo faber als Humanum des neuen Menschen, das technischer Optimierung jederzeit offensteht. In diesem Sinne geht es um eine „Psychotechnisierung des Arbeitsplatzes“,40 die den Menschen neu einstellt und dabei auch „seelische Kräfte“41 berücksichtigt, gilt es doch diese technisch und psychotechnisch zu eichen, zu formen und zu prägen. „So hat man heute“, schreibt Giese, „zur psychologischen Lenkung des Menschen, zur unentwegten erziehungsmäßigen Umzäunung seines freien Willens vor allem drei Wege beschritten, die rein psychotechnisch gangbar wurden. 1. Zwang zu bestimmten Arbeitsbewegungen 2. Einführung von Eignungsprüfungen 3. Unfallverhütungspropaganda.“42 Zwischen Zwang und Unfallverhütung wird die Psyche technisch, wird kalkulierbar, normierungsfähig, typisiert und zum montierbaren Bestandteil einer neuen Zivilisation: „Psychotechnik wird damit ein wesentlicher Wert der Zivilisationsgestaltung überhaupt; unerschöpflich, solange menschliche Arbeit Fragen stellt.“43 Experimente Einige von Fritz Gieses Büchern bestehen fast ausschließlich aus Versuchsanordnungen und Handreichungen der psychotechnischen Praxis. Wie muß man sich solche Experimente vorstellen? Einige Beispiele unter vielen. In seinem Psychotechnischen Praktikum entwirft er zahlreiche Versuche, die zumeist auch den Beobachter miteinschließen, um dessen Unterrichtung es hier geht. Dazu gehört auch der Besuch in einem Kino. „Übung 2. Psychologische Aufnahme. Arbeitsmittel: Besuch eines Lichtspieltheaters in der Freizeit. Aufgabe: Die Praktikanten besuchen die Vorführung eines auszuwählenden Films und zeichnen für die Übungsstunde in Kurzaufgabe auf: a) Was bei Beobachtern der Vorstellung zur Subjektpsychotechnik rechnete? b) Was in das Gebiet der Objektpsychotechnik fällt? Zu analysieren ist nur der Film und seine Wirkung; nicht der Theaterraum an sich.“44 40 41 42 43 44
Ders., Aufgaben und Wesen der Psychotechnik, S. 80. Ebd., S. 82. Ebd., S. 86. Ebd., S. 124. Ders., Psychotechnisches Praktikum, Halle/Saale 1923, S. 11.
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TECHNIK UND PSYCHOTECHNIK
Abb. 1-16: Abbildung aus: Fritz Giese, Psychotechnisches Praktikum, Halle/Saale 1923
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FRITZ GIESE: PSYCHOTECHNIK ALS DEUTSCHE AUFGABE
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Gieses Beispiel bezieht sich – ohne ihn zu nennen – auf Hugo Münsterberg, der als Psychotechniker eine der frühesten Filmtheorien vorgelegt hat.45 Von dieser bleibt hier aber nichts übrig außer einem psychotechnischen Schematismus, der zwischen Subjekt- und Objektpsychotechnik unterscheidet. Wie bei fast allen anderen Versuchsanordnungen bleibt auch offen, was überhaupt das Ergebnis einer solchen Untersuchung sein soll. Bemerkenswert ist gleichwohl die Behandlung des Films als möglicher Gegenstand der Psychotechnik, bei dem es Giese offenbar auf die filmische Wirklichkeit und ihre Effekte gleichermaßen ankommt. Der Film ist bereits Psychotechnik avant la lettre, deren Wirkungsweise hier in den Blick genommen werden soll. Daß diese Übung gleich zu Beginn des Praktikums ihren Ort findet, unterstreicht die Bedeutung der vorgestellten Wahlverwandtschaft. Die „psychologische Aufnahme“ ist in diesem Sinn als eine Form der psychotechnischen Diagnostik zu verstehen, als Aufnahme im technischen und psychologischen Sinn. Es gibt, das scheint Giese deutlich machen zu wollen, bereits im Alltag eine Art von nahezu unmerklicher Psychotechnik, von der man nicht nur lernen kann, sondern die als strategischer Partner zu entdecken und einzusetzen ist. Analysiert werden in seinem Praktikum weiterhin u.a. auch Statistiken (wie etwa „Geburtsgröße und geistige Führer“ aufgeschlüsselt nach Bereichen oder die Selbstmordrate im Deutschen Reich zwischen 1913 und 1920) oder die Gesichtszüge der Laokoon-Figur im Vergleich mit Menschen auf einer Photographie etc. Giese geht es dabei um eine „psychische Normenaufstellung“,46 bei der individuelle Erscheinungen aufgrund von Statistiken und Pathosformeln ihre Einzigartigkeit einbüßen und dechiffrierbar werden. Das Psychische ist, so ist zu lernen, allgemein und die vermeintliche Besonderheit auf eine Regel zurückrückführbar. Es geht um die Wiederkehr des Immergleichen als Voraussetzung der Verfahren der technischen Normierung, um die sich dann künftige Psychotechniker zu kümmern haben. Ein weiteres und zugleich letztes Beispiel: Nun geht es um ein Experiment, das die „innere Einstellungen des Menschen üben lassen“ will.47 Genauer geht es um „Personenbilder“: „Sie sollen in verschiedener Richtung des Interesses die Phantasie kritisch koppeln. Gewählt werden 10 Photos, die projiziert oder vergrößert Körper darstellen. Darunter verteilt auf je eine Photoreihe: Mann am Barren mit Skoliose – Tänzerin mit Gesichtsmaske in indischem Tanz – Hochsprung am Stab mit Kunstfehler – Läufer am Zielbande – Gruppentanz von Mädchen in weißen Schleiern (kallisthenisch) – Arbeiter mit Hypertrophie der rechten Schulter (Berufsarbeitsfolge) – Alter Mann mit Spitzbauch und schwammigem Fettpolster – Photos von Revuestatistinnen halbbekleidet , in Reihe oder Halbkreis posierend – Abbildung einer spanischen Tänzerin (z.B. der Argentina). […] Die ‚kritische‘ Angabe wird sehr genau verraten, in welcher Richtung Werturteile, freie Beobach-
45 Vgl. dazu oben S. 48f. 46 Ebd., S. 74. 47 Ebd., S. 78.
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Abb. 1-17 Fritz Giese, Psychologie der Arbeitshand, Berlin und Wien 1928
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tung und einschlägiges mehr verlaufen und wird dem Pädagogen maßgebende Einblicke verschaffen.“48 Die Typisierung der Beispiele, die einem physiognomisch-biologistischen Schema folgen, soll ihrerseits eine Typisierung der Probanden durchführen und auch den Betrachter miteinschließen. „Who watches the watchmen?“ Wie in MODERN TIMES oder METROPOLIS gibt es immer jemanden, der die Arbeiter beobachtet. Die Psychotechnik suggeriert die Neutralität, Unparteilichkeit und Unbewegtheit eines Beobachters, um dessen Blick die Arbeiter wissen. Ein rationaler Gott der Optimierung wacht über sie und ruft sie zur Arbeit auf. Ein weiterer Punkt ist bei Gieses Praktika noch von Bedeutung: So wie die Psychoanalyse eine Eigenanalyse fordert, versucht die Psychotechnik ihrerseits Gleiches für künftige Psychotechniker. Das psychotechnische Praktikum Gieses ist bereits eine Praxis der Psychotechnik, bei der der künftige Analytiker zum Analysanden wird. Auch er wird beobachtet. Indem er psychotechnische Übungen vollzieht, hat er sich seinerseits einzuüben in Verfahren der Normierung und Typisierung, der Optimierung und der Schematisierung. Die Objektpsychotechnik schließt die Subjektpsychotechnik notwendig mit ein. Wenn daher Giese behauptet, daß „die Zukunft nicht die Herrschaft des Menschen über andere will, sondern die Herrschaft der Menschheit über die Dinge“,49 so bedeutet das nichts anderes als daß die Menschen bereits längst zu Dingen geworden sind. Kompensationen Progressive Technisierung braucht Kompensation. In zwei Büchern geht Fritz Giese dieser nach und erblickt sie in der „Frau als Atmosphärenwert“ und im Sport.50 Das erste Buch ist dabei nur vordergründig ein Beitrag zur Emanzipation der Frau, auch wenn die Gender-Unterscheidung im gleichmachenden Reich der Technik etwas obsolet anmutet. Doch durch die Fragen der Gleichberechtigung, des Studien- und Wahlrechts der Frau werden, so Giese, „weder die Frau noch die Menschheit […] in die Lage versetzt […], die drückenden geistigen Fragen des Maschinenzeitalters zu lösen.“51 Auf der einen Seite nimmt er eine traditionelle strikte polare Unterscheidung der Geschlechter an, auf der anderen beobachtet er ihre einsetzende Nivellierung in der Gegenwart – Stichwort Bubikopf. Angesichts der kulturellen Herausforderungen der Technik müsse man aber, so Giese reaktionär genug, der Tatsache Rechnung tragen, daß die „höhere Wahrscheinlichkeit technischer Denkmöglichkeit“ ebenso beim Mann liege wie das „Streben zur Tathandlung“, 48 Fritz Giese, Psychotechnik in der Körpererziehung, Dresden o.J., [ca. 1928] (= Beihefte zur Zeitschrift Die Körpererziehung, Nr. 8, S. 31). 49 Ders., Aufgaben und Wesen der Psychotechnik, S. 32. 50 Ders., Die Frau als Atmosphärenwert. Strukturelle Grundlagen weiblicher Bildungsziele, München 1926 und ders., Geist im Sport. Probleme und Forderungen, München 1925. 51 Ders., Die Frau als Atmosphärenwert, S. 5.
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aber auch – zugegeben – bedauerlicherweise die „Neigung zur Faulheit und zum Müßiggang“.52 Angesichts des „Befundes, daß die Maschine in den Blickpunkt rückt und unser Leben bestimmt“, und der Mensch dadurch zum funktionalen „Teilmensch“ werde, komme es zu einer zunehmenden Spezialisierung, die kompensiert werden müsse.53 Will man, wie es geboten ist, „der Maschine nachleben“ und zur Maschine werden, so sei die allgegenwärtige Entstehung eines „Halb-, Viertel- und Achtelmenschen“ die notwendige Folge.54 Daher tue Kompensation not: „Wir benötigen aus den Gründen und Bedingungen des Maschinenzeitalters ein Privatmenschentum echtester Prägung.“55 Diese reaktionäre Wendung der Theorie mag überraschen und doch entspricht sie der zutiefst konservativen Grundierung von Gieses Technikphantasien, die von den russischen Visionen eines neuen Menschen der 1920er Jahre so weit entfernt sind wie der sozialistische Realismus, der 1932 qua Doktrin als neue Ausrichtung der Kunst beschlossen wurde. Für Giese ist der „Atmosphärenwert des Weiblichen“ die Antwort auf die Anforderungen des technischen Zeitalters und die Frau als „Haushaltsvorstand, Mutter und Freundin“ die Lösung der Probleme der funktionalen Differenzierung und der Arbeitsteilung.56 Heroische Arbeiter und Bauern auf der einen und behagliche Heim und Herd-Frauen auf der anderen Seite sind Kompensationsfiguren und -funktionen einer unaufhaltsam voranschreitenden Technisierung. Auch wenn Giese die Technik als neue Luft preist, fürchtet er, daß „ohne Atmosphäre die Menschen alsbald unter der Maschine ersticken werden.“57 Gieses psychotechnische Technikphilosophie kombiniert eine notwendige Kollektivierung, Normierung und Typisierung, die unter dem Signum der Technik Individualität, Geschichte und Subjektivität eskamotieren, mit einem Denken in „Atmosphären“, das das Ausgeschlossene als Kompensation aufrechtzuerhalten für erforderlich hält. Radikale Technisierung und reaktionäre Biologisierung gehen so Hand in Hand. Diese Denkfigur findet sich im Stalinismus wie im Faschismus und Nationalsozialismus, die genau diese Doppelkonfiguration operationalisieren. Daher ist es nicht verwunderlich, daß Giese auch im Sport einen „Kompensationswert für das Ich […], eine Lebensform für den modernen Menschen, für den Menschen der industrialisierten Welt“ erblickt, spielt dieser doch just dort eine entscheidende Rolle für die Propaganda, wenn man an die Olympischen Spiele in Nazi-Deutschland und die Sportparaden in Rußland denkt.58 Auch hier geht es um die „Entdeckung der Frau“ und die „Entdeckung des weiblichen Körpers“,59 die 52 Ebd., S. 11. 53 Ebd., S 45. Vgl. auch ebd., S. 46: „Wer nur Dieselmotorbauer, nur Bakteriologe, nur Arbeitsgerichtsgesetzler ist, ist kein Vollmensch mehr.“ 54 Ebd., S. 46f. 55 Ebd., S. 49. 56 Ebd., S. 50. 57 Ebd., S. 52. 58 Ders., Geist im Sport, S. 20. 59 Ebd., S. 16.
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Abb. 1-18 Fritz Giese, Psychologie der Arbeitshand, Berlin und Wien 1928
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nun aber als Atmosphäre ausgedient haben. Sport, so konstatiert Giese, kommt aus England, dem Land der Hygiene und der Industrie, was als Zeichen dafür gedeutet wird, daß er auch unter den Insignien einer durch und durch technischen Welt eine zentrale Bedeutung hat. Die Kompensation verläuft hier nun als eine Art des Trainings. Er ist Arbeit als Freizeit. „Der gesunde Menschenverstand sagte sich vielmehr, daß es gut und nützlich ist, die Maschine Mensch zu schmieren und ihre Funktionen in Ordnung zu halten. […] Der Sport ist die Ladestation, an der sich der seelische Akkumulator mit nützlicher Lebensenergie beschickt.“60 Und mehr noch: Er ist Atavismus, der dem Taylorismus als verstecktem Kollektivismus, als Abgeben von Verantwortung und Verschwinden in der Menge, der Urhorde das Mittel der Produktion eines kollektiven Bewußtseins zur Hand gibt. Kompensation ist nun Herausforderung inmitten der „ekstatischen Wirkungen der Kollektivität“61 „Rekord hier – Akkord da.“62 Nun geht es Giese ganz explizit um die Herausbildung eines neuen Menschen, dessen Erscheinen er erhofft und mittels Technik und Sport produzieren und provozieren will, aber: „Wann diese neuen Menschen erscheinen werden, wissen wir noch nicht.“63 Aber wir wissen, so Giese, daß zumindest der Sport eine „Anpassung und Ertüchtigung des modernen Menschen auf diese Lebensbedingungen […], eine Vorbereitung des Kommenden“64 darstellt. Warten auf den Appell „Ohne in den Verdacht übereifriger Anpassungsbeflissenheit zu gelangen“,65 haben Gieses Theorie und Praxis der Psychotechnik längst die Nähe zum Nationalsozialismus bewiesen.66 Das Buch des, so Giese, „von uns verehrten Führers“ wurde daher kaum überraschenderweise früh zum Gegenstand seiner „Psychologischen Praktika“. Es handelte sich, wie bereits erwähnt, um Lehrveranstaltungen, bei denen Mein Kampf als
60 Ebd., S. 20. Vgl. ebd., 162: „Der Sport wird uns letzten Endes das große Gleichnis für ein Stück aus dem Geiste unserer Zeit. Einer Epoche der Arbeit und des emsigen Fleißes.“ 61 Ebd., S. 55. 62 Ebd., S. 114. 63 Ebd., S. 118. Das traditionelle griechische Modell hat dabei ausgedient: „Man darf nie vergessen, daß Griechenland Orient ist. […] Heute ist es ein Land mit Rosinenhandel und voll kaufmännischer Verschlagenheit.“ (Ebd., S. 157) Und weiter: „Der Grieche […] kennt nicht das, was unsere Kultur stempelt: das Wesen der Arbeit und die Intensität des Schaffens.“ (S. 158) 64 Ebd., S. 162. 65 Ders., Psychologie als Lehrfach und Forschungsgebiet auf der Technischen Hochschule. Ein Zehnjahresbericht, Halle/Saale 1933, S. 40. 66 Ein Kapitel in diesem Buch, das die Geschichte der Psychotechnik rekapituliert, ist daher überschrieben mit: „Angewandte Psychotechnik im Dritten Reich“ (S. 40-42).
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Beispiel für die „Einführung in die Politische Psychologie“ diente.67 1934 publiziert Giese dann einen Aufsatz mit dem Titel „Arbeitswissenschaft im neuen Reich“,68 in dem er unterstreicht, daß die Arbeitswissenschaften grundsätzlich Synthese seien und nun „auf den Appell warten. Das Dritte Reich und seine Führung kann versichert sein, daß die Arbeitswissenschaft dann zur Stellung ist.“69 Dieser Ruf sollte rasch folgen und die Gleichschaltungsstrategien von Mensch und Maschine der Psychotechnik politisch gleichgeschaltet werden. Giese, der vermutlich kein NSDAP-Mitglied war, starb bereits 1935 und konnte daher keine Aufgaben in der DINTA übernehmen. Aber bereits 1927 buchstabierte er aus, wie eine solche psychotechnische Stellungnahme theoretisch aussehen könnte. In seinem Buch Zeitgeist und Berufserziehung orakelt er, daß die Gegenwart eine „grundsätzliche Wende der Weltanschauung darstellt, um deren Miterleben kommende Geschlechter uns vielleicht sogar beneiden werden,“70 um dann zu präzisieren: „Heute leben wir im Chaos, und zwar weniger im äußern, als im innern Sinne. Brennpunkt des Kommenden scheint der Arbeitsbegriff zu sein“.71 Das „A“ der NSDAP wird besonders groß geschrieben und schließt ohnehin das gesamte Programm mit ein. „Und nun das Moderne: die Arbeit wächst zum Lebensinhalt an. […] Aber sie ist überhaupt plötzlich ein Inhalt des Ichs.“72 Wenn es daher um ihre Rationalisierung geht, so ist diese daher auch eine des Ich. Dabei gehe es nicht um „wohlwollende Selbstaufopferung“, sondern um „kategorische Arbeitspflicht“ als Einstellung.73 Diese wird dann, wie wir wissen, die Selbstaufopferung von sich aus miteinschließen. Ohnehin liest sich Gieses kleine Schrift wie ein psychotechnisch-kulturdiagnostisch-faschistisches Manifest, bei dem auch früher oder später bis auf den Antisemitismus zentrale Begriffe der nationalsozialistischen Bewegung fallen. So ist die Rede vom „Führer der Massen“,74 von Propaganda und Agitation, vom Arbeiten „durch alle für alle“,75 dem überpersönlichen Wert der Technik und der „völligen Aufhebung des persönlichen Willens“.76 Psychotechnische und industrielle Optimierung sei, so Giese, eine „deutsche Aufgabe“, bei der Amerika und Rußland durchaus als Vorbilder dienen könnten, ihre Imitation aber kein Gebot der Stunde sei.77 Spengler, Hans Freyer und Nietz67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77
Ebd., S. 13. In: Die deutsche Technik, Nr. 8, 1934, S. 593-596. Ebd., S. 596, zit. nach: Raehlmann, Arbeitswissenschaft im Nationalsozialismus, S. 34. Ders., Zeitgeist und Berufserziehung. Prolegomena zur Kulturphilosophie der Arbeit, Köln 1927, S. 5. Ebd., S. 7. Ebd., S 18. Ebd., S. 17. Ebd., S. 11. Giese präzisiert: „Enterbt des intuitiven Könnens und jenseits vom beachtlichen Format der Persönlichkeit leben wir alle. Wir können nur wenigstens versuchen, dem Messias, der einer späteren Generation angehören wird, den Weg zu bereiten.“ (S. 13) Ebd., S. 27. Ebd., S. 49. Ebd., S. 8.
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sche sind zentrale theoretische Referenzen bei dieser Neukonzeption einer dezidiert deutschen Arbeitswissenschaft als politischer Aufgabe. Es gehe darum, einen „deutschen Weg“ zu finden, der Romantik in Sachlichkeit umcodiert und die Technik als „Kulturwende“ erst nehme.78 „Es erscheint fraglich, ob man die blaue Blume zwischen den Röhren der Entlüftungsanlage oder den Fugen des automatischen Transportbandes finden wird. […] Aber von diesen Versuchen dürften der eine geisteswissenschaftlich vertiefte Pfad der Betriebslyrik voll Romantik und der andere des Religionseinbaues in neuzeitliche Fabriksäle nicht für die nüchterne Wirklichkeit taugen. Wir müssen versuchen, eben dieser klaren Sachlichkeit ohne Sentiments uns zu nähern, sie zu begreifen. Sie später zu meistern.“79 Wenn Giese von Arbeit spricht, so meint er die Technik, den Menschen, die Kultur, die Politik, den Staat und letztlich die gesamte neue Weltordnung. Arbeit, Arbeit über alles ist die Hymne des neuen Deutschland, das seinen Blick ausschließlich in die Zukunft zu richten habe, will es sich als „rationales Sehen“ begreifen.80 Die Technik tritt an die Stelle der Religion früherer Zeiten und gibt dem Einzelnen seine Lebensordnung, seine Werte und seine Überzeugungen vor. Man solle daher nicht „Christus sagen und Kattun meinen. In der Arbeit wollen wir vom Menschen nur Kattun, immer Kattun, und zwar vorteilhaft erzeugten Kattun.“81 In dieser neuen technischen Welt, die einzig auf dem Prinzip der Zweckrationalität beruht, hat das Individuum mitsamt seinem vermeintlich freien Willen ausgedient: Die Technik begründet notwendige Kollektive, die sich am „Prinzip der Typisierung, der Normung, der Spezialisierung und der Automatisierung“82 orientieren und damit zugleich ein neues Erziehungsprogramm vorgeben.83 „Hier setzen wieder Erziehungsfragen ein, die den Menschen vom selbstischen Wunsch, daß er allein einen Wert darstelle, fortführen, ihm die Bescheidenheit beibringen, die die Gemeinschaftsarbeit benötigt, um Wirklichkeit zu werden.“84 In der Schule sollen daher Technik und Naturwissenschaften statt Antike und Weimarer Klas78 79 80 81 82 83
Ebd., S. 10 und 12. Ebd., S. 11f. Ebd., S. 37. Ebd., S. 41. Ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 42: „An und für sich ist übrigens der isolierte Einzelmensch bloße Fiktion.“ Zur Frage der Menschenwürde gibt er zu Protokoll, daß aus dieser „jene Einstellung entstammt, die man als Taylorisierung im eignen psychophysischen Haushalt bezeichnen könnte.“ (S. 48) Im Klartext: möglichst wenig Aufwand bei der Arbeit. 84 Ebd., S. 46. Vgl. auch S. 59: „Ferner wünscht die Technik, daß neben Kenntnissen auch technische Fertigkeiten gelehrt werden […]. Dazu zählt aber auch mancherlei, das man eigentlich in Schulen niemals fand: z.B. das Anlernen, auf Serie zu arbeiten. Dinge gleicher Gestaltung in Mengen zu fertigen. Wer könnte zweifeln, daß darin ein außerordentlich wichtiger Erziehungsfaktor liegt, dieses Muß, diese Selbstzucht zur gleichförmigen Arbeit? Der kommende Fabrikarbeiter und auch der Spezialist braucht heute Einstellung auf Exaktheit, Genauigkeit und Gleichmaß bei wiederholten Arbeiten. Er braucht auch Einstellung zur Maschine, die ihm hilft, alles Nebensächliche abnimmt, ihm dafür aber ihr Tempo aufzwingt. […] Die Schule muß lehren, […] daß die Technik überpersönlichen Wert hat.“
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sik unterrichtet werden. Erst komme das „zeitliche Wesen des Technischen“ und dann erst das „Ewig-Menschliche“.85 Doch erst sollte das 1000jährige Reich kommen, in dem eine „organische Technik“86 zur neuen Natur werde. Die Montage des technischen Menschen ist damit abgeschlossen.
85 Ebd., S. 60. 86 Ders., Nietzsche, S. 70.
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3. Frank Bunker Gilbreth: Normalisierung als Lebenskunst
„The blinded may act as models for the entire industrial world.“ Frank Bunker Gilbreth1 „To Nature, Inefficiency is the Crime of Crimes punishable with Death.“ Anzeige in: The Efficiency Magazine2
„It is the aim of scientific management to induce men to act as nearly like machines as possible“,3 schreibt Frank Bunker Gilbreth in seinem Buch Primer of Scientific Management und liefert damit zugleich eine programmatische Formel für seine theoretischen Grundüberzeugungen. Seine Experimente mit Photographie und Film im Feld der Bewegungs- und Ermüdungsstudien sind notorische Beispiele einer innovativen wie reduktionistischen Sicht der Welt, die hier in eine radikale Ökonomisierung sämtlicher Lebensvollzüge zerfällt. Seine Arbeiten sind ein programmatisches Beispiel für die Umsetzung des Taylorismus in den 1910er und 1920er Jahren. Das ist vielfach angemerkt und auch in aller Deutlichkeit kritisiert worden.4 Im folgenden sei versucht, weniger diese fraglos berechtigte Kritik in den 1 Frank Bunker Gilbreth, Motion Study for the Handicapped, London 1920, S. 158 2 Anzeige in: The Efficiency Magazine, hg. Herbert N. Casson, April 1916, S. 26 3 Frank Bunker Gilbreth, The Primer of Scientific Management, 1912 (zit. nach dem Reprint Easton/PA 1973), S. 50. Gut zwanzig Jahre später dann hingegen Lillian M. Gilbreth: „Now Man, Not the Machine, Is the Center of Activity“, in: Trained Men, Bd. 15, Nr. 2, 1935, S. 75-77 und 92. 4 Vgl. etwa exemplarisch Florian Hoof, Engel der Effizienz. Eine Mediengeschichte der Unternehmensberatung, Konstanz 2015; Richard Lindstrom, „’They all believe they are undiscovered Mary Pickfords‘. Workers, Photography, and Scientific Management“, in: Technology and Culture, Bd. 41, Teil 4, 2000, S. 725-751 und Elspeth H. Brown, The Corporate Eye, dort S. 65-118. Vgl. auch die allgemeineren Darstellungen: Brian Price, „Frank and Lillian Gilbreth and the Manufacture and Marketing of Motion Study, 1908-1924“, in: Business and Economy History, Bd. 18, 1989, S. 88-98; Herbert Mehrtens, „Bilder der Bewegung – Bewegung der Bilder. Frank B. Gilbreth und die Visualisierungstechniken des Bewegungsstudium“, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch, Bd. 1/1, 2003, S. 44-53;
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Mittelpunkt zu stellen, zumal diese in weiten Teilen im historischen Rückblick selbstevident ist, sondern die eigentümliche und in vielfacher Hinsicht bemerkenswerte Logik seiner Studien, Publikationen und Untersuchungen zu rekonstruieren. Sie erweisen sich als merkwürdiger Versuch, eine arbeitsökonomische Lebenskunst in Zeiten der Industrialisierung zu entwerfen, die mit wenigen Elementen auskommt und doch beansprucht, umfassende Deutungen leisten zu können. Frank Bunker Gilbreth beginnt seine Bücher gerne mit einer großformatigen Weltdiagnose, bevor er dann recht kleinteilig und filigran wie technisch seine neuesten Verfahren vorstellt, wie verschwendete Arbeitszeit vermieden und der „Eine Beste Weg“ der Arbeit gefunden werden kann. In dem Band Angewandte Bewegungsstudien. Neun Vorträge aus der Praxis der wissenschaftlichen Betriebsführung konstatiert er etwa den Anbruch eines analytischen Zeitalters, das auch die Zukunft prägen werde. Ihm gehe es aber nicht um große Theorien oder „versteckte, geheimnisvolle oder mystische Dinge“,5 sondern um wissenschaftliche Beobachtung. Gilbreth hat in der Tat keine Neigung zu Spekulationen und Obskurantismen. Sein Reich ist ganz von dieser Welt. Er erkundet ebenso obstinat wie erfindungsreich mithilfe von immer neuen Apparaten einen einzigen Bereich: den der Arbeit. Das ist seine Welt und sie ist im besten Sinn global. Wenn er die Arbeitsbedingungen und ganz konkreten Arbeitsabläufe analytisch in den Blick nimmt, so hat er die ganze Welt im Sinn, versteht er diesen seinen vermeintlich kleinen Beitrag doch als ebenso elementare wie weitreichende Weltverbesserung. Arbeit ist Bewegung, Bewegung ist Leben, Leben ist Arbeit. So ist in raschem Dreischritt die Welt ummessen und eingefangen. Wenn Gilbreth daher Arbeitsprozesse zu optimieren sucht, so versteht er dies als Regeln zur Weltverbesserung. Gilbreth ist eine Art von säkularem Prediger, der inmitten des industriellen Zeitalters Normalisierung und Standardisierung als Lebenskunst zu deuten und zu verkünden sucht. In ihrer biographischen Skizze, die kurz nach Gilbreths Tod erschien, stellt seine Witwe Lillian Moller Gilbreth ihn in eine Reihe mit den großen Suchern der Menschheitsgeschichte: „Der Heilige Gral – das Goldene Vlies – die Quelle der Jugend – und jetzt das Eine Beste und das Eine Höchste! In früheren Tagen: irdische und überirdische Schätze – heute: Wissen! In früheren Tagen: Muße, Träumereien, Einsiedlertum oder Eremitendasein – heute: Arbeit!
Lars Nowak, „Produktive Bilder : Kinematographie und Photographie als Instrumente der Arbeitsrationalisierung im Zeitraum von 1890 bis 1960“, in: Relation. Medien, Gesellschaft, Geschichte, Nr. 1+2, 2000, S. 11-40 und ders., „Motion Study/Moving Picture. Die Anfänge des tayloristischen Arbeitsstudienfilms bei Frank B. und Lillian M. Gilbreth“, in: KINtop, Nr. 9, 2000, S. 131-149. 5 Frank Bunker Gilbreth, Angewandte Bewegungsstudien. Neun Vorträge aus der Praxis der wissenschaftlichen Betriebsführung, Berlin 1920, S. 1.
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FRANK BUNKER GILBRETH: NORMALISIERUNG ALS LEBENSKUNST
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Abb. 1-19 Lillian Moller Gilbreth, The Quest of the One Best Way. A Sketch of the Life of Frank Bunker Gilbreth, Erste Seite des Manuskripts
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In früheren Tagen: der Ritter, der Kavalier, der Romantiker – heute: der Ingenieur!“6 Der Ingenieur ist der Heilssucher der industriellen Gegenwart und seine Aufgabe besteht darin, zu bauen und zu konstruieren. „He loved building,“ schrieb seine Frau nach seinem Tod, „in it’s larger sense of construction – building things, building men, building books.“7 Gilbreth versteht sich als Konstrukteur eines neuen Menschen und einer neuen Gesellschaft und das allein durch die Suche nach dem, was er „The One Best Way“ bezeichnet: die möglichst ökonomische Gestaltung von Arbeitsprozessen aller Art. Seine Vision ist es, daß einzig durch die Ökonomisierung des Alltags die Welt eine andere würde. Das ist sein „heiliger Gral“: der mit Großbuchstaben geschriebene „Eine Beste Weg“. Arbeit – Zeit – Leben: die säkulare Trinität Alles begann mit dem Bau. Gilbreths erste Bücher sind den Maurern und den Baukonstruktionen gewidmet. Sein Buch Concrete System, das bereits 1906 erschien, besteht neben Photographien, um das Gesagte zu verdeutlichen, aus den 490 Regeln des Heiligen Arbeiters namens Frank. Befolgt man sie, so wird die Arbeit besser, das Leben glücklicher und die Gesellschaft vorangebracht. Man hat sie, das macht Frank Bunker Gilbreth unmißverständlich klar, keineswegs auszulegen, sondern „carried out to the letter“.8 Der Teufel, das Böse, das er bis zu seinem Lebensende zu bekämpfen nicht müde wird, ist bereits hier ausgemacht: Verschwendung, genauer Zeitverschwendung. Sie gilt es, so heißt es immer wieder in martialischen Worten, „auszumerzen“. Sie ist die Plage der modernen Gesellschaft. „It is not our intention to secure speed by hurried construction, but by elimination of unnecessary delay,“9 heißt es in Concrete System. Zeitverschwendung ist nicht nur ein kritisierenswertes Übel, sondern ein Verstoß gegen die Gesetze des Lebens: „Zeit, Lebenszeit ist unser hauptsächlichstes Erbe. Verschwenden wir Zeit, so verschwenden wir einen Teil unseres höchsten Gutes, des Lebens“,10 so wird er es fünfzehn Jahre später formulieren. Arbeit – Zeit – Leben: das ist die säkulare Trinität von Gil6 Lillian Moller Gilbreth, „F.B. Gilbreth, Das Leben eines amerikanischen Organisators [Auszug]“, in: dies. und Frank Bunker Gilbreth, Die Magie des Bewegungsstudiums. Photographie und Film im Dienst der Psychotechnik und der Wissenschaftlichen Betriebsführung, hg. von Bernd Stiegler, München 2012, S. 11. Diese Ausgabe wird im folgenden mit dem Kürzel „Magie“ zitiert. 7 Autobiographische Aufzeichnungen von Lillian Gilbreth (N-File, Box 90-808-14), S. 30. Die Dokumente aus dem Nachlaß folgen der Zählung des Archivs der Purdue University. Eine detaillierte Übersicht bietet auch deren Website: http://www.lib.purdue.edu/spcol/manuscripts/fblg/ – dort mit weiteren Links zu den Beständen (letzter Zugriff 5.4.2016). 8 Frank Bunker Gilbreth, Concrete System, London 1908, S. 6. 9 Ebd., Regel 162, S. 38. 10 Ders., Ermüdungsstudium. Eine Einführung in das Gebiet des Bewegungsstudiums, Berlin 1921, S. 1.
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FRANK BUNKER GILBRETH: NORMALISIERUNG ALS LEBENSKUNST
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Abb. 1-20 Familie Gilbreth im Auto
breths Theorie. Es gilt die Arbeit so zu organisieren, daß keine Zeit verschwendet wird und mehr Zeit zum Leben bleibt. Dieses ist nun seinerseits ebenfalls so arbeitsökonomisch zu organisieren, daß neue Zeit zur Verfügung steht, die wiederum produktiv genutzt werden kann. Gilbreths Methoden beschränken sich keineswegs auf die Fabrikarbeit und ihre Optimierung im Sinne einer Applikation der Prinzipien von Taylors „Wissenschaftlicher Betriebsführung“, dem er fraglos viel verdankt. Gilbreth ging auch zuhause, in ihrem, da sie 12 Kinder hatten, vierzehnköpfigen Haushalt, in ähnlicher Weise vor.11 Seine Frau Lillian Moller Gilbreth widmete der ökonomischen Gestaltung des Haushalts ein ganzes Buch,12 zahlreiche Aufsätze und Interviews13 und publizierte auch einen kleinen Prospekt mit dem Titel „Die praktische Küche. Ein Versuch“, 11 Der Haushalt war Gegenstand mehrerer Berichte. Vgl. expl. „Meet the World’s Only Efficient Family“, in: The Democrat, Waterbury/Ohio, 2.12.1921. 12 Vgl. dies. und Bunker Gilbreth, Magie, S. 137-144. 13 Vgl. expl. Lillian M. Gilbreth, „Scientific Management in the Life of the Child“, in: American Childhood, Mai 1926, S. 5-9; Dorothy Budd, „Housekeeping – An Industry. An Interview with Lillian M. Gilbreth“, in: The Woman Citizen, Juli 1926, S. 19 und 41; Jeannette Eaton, „Can Housework Be Made House-Play? Mrs. Frank Gilbreth, Expert in Scientific Management Says IT CAN“, in: The Shrine Magazine, November 1926, S.31-33 und 8385; „Scientific Management in the Life of a Child. An Interview with Lillian M. Gilbreth“, in: American Childhood, Mai 1926, S. 10.
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der sich im Nachlaß erhalten hat. Dort heißt es: „Die Hausfrau sollte einen gewissen Sinn für Masse und Normen entwickeln. Selbst der kleinste, billigste und am wenigsten haltbare Gegenstand sollte auf seinen Platz und Gebrauch hin geprüft werden. Niemals sollte etwas seines hübschen Aussehens allein wegen erworben werden.“14 Heim und Arbeit, Freizeit und Tagesablauf sollen den gleichen Prinzipien folgen und sich an der Suche nach dem „Einen Besten Weg“ beteiligen.15 Die Ökonomisierung des Lebens wird als Modell eines geglückten, eines glücklichen Lebens aus- wie vorgegeben. Ein ebenso witziger und unterhaltsamer wie bemerkenswerter Bericht findet sich in Gestalt eines Romans, den zwei ihrer Kinder geschrieben haben und der mit dem Titel Cheaper by the Dozen ein Bestseller werden sollte, der gleich mehrfach verfilmt wurde.16 Ihre Kinder berichten über ihr gemeinsames Leben u.v.a. folgendes: „So beschlossen Mutter als Psychologin und Paps als Organisator und Fachmann für Bewegungs-Rationalisierung das neue Gebiet der Betriebspsychologie und das alte Gebiet der psychologischen Führung eines kinderreichen Haushalts zu untersuchen. Sie gingen von der Ansicht aus, daß das, was in der Fabrik anwendbar sei, auch in der Häuslichkeit funktionieren müsse und umgekehrt. Kurz nach unserem Umzug nach Montclair probierte Paps diese Theorie aus. Das Haus war zu groß, als daß unser Hausfaktotum Tom Grieves und die Köchin Mrs. Cunningham es hätten in Ordnung halten können. Paps beschloß, daß wir ihnen helfen müßten, wollte aber, daß wir diese Hilfe von uns aus anböten. Er hatte festgestellt, daß die Angestellten eines Betriebs am besten zur tätigen Mitarbeit zu bringen waren, wenn man einen gemeinsamen Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Ausschuß bildete, der die Verteilung der Arbeit je nach persönlicher Eignung und Geschicklichkeit vornahm. Paps gründete also nach dem Muster eines solchen Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Ausschusses einen Familienrat, der jeden Sonntagnachmittag nach dem Dinner zusammentrat.“17 Gegründet wurde ein Einkaufs-, Spar- und Planungskommitee und im Haus wurden detaillierte Arbeitspläne erstellt, Tabellen „für alle Arbeiten und sonstigen Verrichtungen“18 ausgehängt, und selbst beim Geschirrspülen Filmaufnahmen erstellt, „um zu berechnen, wie wir [die Kinder] unsere Bewegungen
14 Auch eine französische Fassung mit zahlreichen Dokumenten findet sich in den N-Files, Box 71-73. 15 Das wohl bekannteste Beispiel in Deutschland ist die sogenannte „Frankfurter Küche“. Vgl. dazu expl. Gerd Kuhn, „Die ‚Frankfurter Küche‘“ [Auszug aus: Wohnkultur und kommunale Wohnungspolitik in Frankfurt am Main 1880-1930. Auf dem Wege zu einer pluralen Gesellschaft der Individuen, Bonn 1998, S.142-176], online verfügbar unter: http://www.uni-stuttgart.de/iwe/personen/kuhn/text/kuhn-frankfurterkueche.pdf (letzter Zugriff 5.4.2012). 16 Ein erste Verfilmung stammt aus dem Jahr 1950 mit Clifton Webb und Myrna Loy in den Rollen von Frank Bunker und Lillian Moller Gilbreth. Ein Remake (mit Steve Martin) samt Sequel kam 2003 bzw. 2005 in die Kinos, hat aber nur einen assoziativen Bezug zur Vorlage. 17 Frank B. Gilbreth [jr.] und Ernestine Gilbreth Carey, Im Dutzend billiger, Frankfurt/Main 1953, S. 51f. 18 Ebd., S. 9.
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Abb. 1-21 Frank Bunker Gilbreth, „Nantucket Motion studies with Gilbreth children. Picking Cranberries“
Abb. 1-22 Arbeitsplan der Familie Gilbreth
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verringern und die Aufgabe so rasch wie möglich erledigen können.“19 Dem ironisch-bewundernd-humoristischen Blick der Kinder erscheint der Vater als Vorbild in eigener Sache: „Ja – zu Hause oder im Geschäft: immer war Paps Fachmann für Leistungssteigerung. Er knöpfte seine Weste von unten nach oben und nicht von oben nach unten zu, weil das Verfahren von unten nach oben nur drei Sekunden in Anspruch nahm, von oben nach unten dagegen sieben. Er benutzte sogar zum Einseifen des Gesichts zwei Rasierpinsel, weil er auf diese Weise die Rasierzeit um siebzehn Sekunden verkürzen konnte. Eine Zeitlang versuchte er, sich mit zwei Messern zu rasieren, aber das gab er bald auf.“20 Gilbreth verstand sein Projekt als allumfassendes, als im besten Sinn globales, gerade indem er sich auf das Kleinste konzentrierte. Er zog aus seiner Diagnose eines anbrechenden analytischen Zeitalters die Konsequenz, die Arbeitsprozesse so weit zu zerlegen, bis ihre elementaren Einheiten vor ihm lagen. Er nahm das Prinzip der neuen Weltordnung in den Blick: die Bewegung. Dabei folgte er der Überzeugung, „that the fundamental element in all activity is motion.“21 In ihrem Buch Im Dutzend billiger berichten seine Kinder in anekdotischer Weise von einer nachgerade emblematischen Inszenierung dieses globalen Zugs der Bewegungsstudien: Frank Bunker Gilbreth interessierte, ja passionierte sich für Astronomie und erhielt eines Tages von einem Dozenten der Harvard University „über hundert Photographien von Sternen, Nebelflecken und Sonnenfinsternissen“, die er überall in der Wohnung anbrachte. Daneben malte er eine Übersicht der grundlegenden Maßeinheiten vom Kilo über den Liter bis hin zum Meter und zum Fuß an die Wand und eine besondere Schautafel, deren Elemente seinen anagrammatisch verwandelten Namen trugen: die Therbligs. „Die Therbligs waren,“ so Frank B. Gilbreth Jr. und Ernestine Gilbreth Carey, „von Paps und Mutter entdeckt oder besser festgesetzt worden. Sie sagten: Jeder Mensch hat siebzehn Therbligs, und er kann diese zur Erleichterung oder zur Erschwerung seines Lebens einsetzen. […] Ein Therblig ist einfach eine Bewegungs- oder Denkeinheit. Nehmen wir an, jemand geht ins Badezimmer, um sich zu rasieren; er hat sein Gesicht eingeseift und will nun seinen Rasierapparat in die Hand nehmen. Er weiß, wo der Rasierapparat liegt, aber zuerst muß er ihn mit dem Blick lokalisieren. Das ist der erste Therblig, das ‚Suchen‘. Wenn der Blick den Rasierapparat gefunden hat und zur Ruhe kommt, so ist das der zweite Therblig, das ‚Finden‘. Der dritte ist das ‚Auswählen“, das Stadium, das dem vierten Therblig, dem ‚Ergreifen‘ vorangeht. Der fünfte Schritt ist das ‚Transportieren‘, nämlich den Rasierapparat zum Gesicht führen, und der sechste ist das ‚Ansetzen‘, das heißt den Rasierapparat mit dem Gesicht in Berührung bringen. Es gibt noch elf andere Therbligs, und der letzte ist ‚Denken‘!“22 Die Sterne, die Maßeinheiten und die Therbligs, die von ihm ent-
19 20 21 22
Ebd., S. 8. Ebd., S. 9f. Frank Bunker Gilbreth, Motion Study for the Handicapped, London 1920, S. 29f. Gilbreth [jr.] und Carey, Im Dutzend billiger, S. 162-164.
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Abb. 1-23 Frank Bunker Gilbreth, Bewegungsstudie einer Operation; Vernähen der Wunde, Stereophotos, Berlin 11.1.1914
deckten und benannten Bewegungseinheiten – das ist der Raum, in dem sich die Gilbreths bewegen. Die Spannbreite seiner Bewegungsstudien wird auch bei der Wahl seiner Probanden deutlich. Untersucht hat er neben seiner Familie (vom Geschirrspülen bis zum Heidelbeerensammeln) und zahlreichen industriellen und handwerklichen Fertigungsstätten u.a. Fechter, Golfer, Zahnärzte, Chirurgen, Baseballspieler, Pianistinnen und Schreibmaschinistinnen. Von ihnen allen sind umfangreiche Serien von Photographien oder mitunter auch Filmaufnahmen erhalten. Einige waren sogar so prominent, daß sich die Presse für sie interessierte und Artikel über die Un-
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Abb. 1-24 Frank Bunker Gilbreth, Bewegungsstudie eines Soldaten, bezeichnet und datiert 7/39/18
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tersuchungen publizierte.23 Gilbreth versuchte einerseits, die ausgeführten repetitiven Bewegungen zu optimieren, um sie zugleich andererseits analysieren zu können. Sie sollen in die Therbligs, in ihre elementaren Komponenten zerlegt werden, um so auch den Aufweis von Ähnlichkeiten zu ermöglichen. Gilbreth konstatierte etwa eine – ansonsten auch durchaus intuitiv zu konstatierende – Verwandtschaft von Klavierspiel und Schreibmaschineschreiben. Optimiert man die eine Tätigkeit, so gelten diese Gesetze auch für die andere trotz des unterschiedlichen Anforderungsprofils. Was auf den ersten Blick wie eine simple Umsetzung tayloristischer Theoreme in der Praxis aussieht, erweist sich als Versuch einer Lebenskunst in industriellen Zeiten. Optimierung zielt nicht einfach auf Gewinnmaximierung, sondern auf Glück. Ziel ist es, so Gilbreth, in Gestalt eines geradezu mathematischen Glückskalküls, „den Gesamtertrag der ‚glücklichen Minuten‘ in günstiger Weise zu beeinflussen. Das ganze Leben ist ein Streben nach Glück, wie verschieden die in jedem Menschen schlummernden Auffassungen des Begriffes ‚Glück‘ auch sein mögen.“24 Optimiert man den Alltag in all seinen Aspekten, so bleibt unterm Strich mehr Glück – auch für den seinerseits zu optimierenden Blick in die Sterne. Und schaut man sich die Chronozyklegraphien der Fechter oder Arbeiter an, so sehen diese aus wie ein dunkler Nachthimmel, auf dem die Sterne Lichtstraßen ihrer Bewegungsbahnen hinterlassen haben. Ebenso regelmäßig wie diese sollen auch die Bewegungen der Erdenbewohner sein. Das ist das kosmische Ideal Gilbreths: der gestirnte Himmel über mir und der Eine Beste Weg der Arbeitsverrichtung in mir. Das ist der universelle Horizont, vor dem sich seine Theorie und Praxis profilieren. Und alles beginnt schon bei der Geburt: „A child is born. What does he own? Maybe vast wealth. Maybe only the shirt he has on (maybe even that is his older brother’s). What are his assets? Nothing sure but TIME. Let us suppose that with proper care he lives to be 100 years old. This means (100 x 365) plus 25 (x 24) x 60 x 60 equals x seconds. This has been reduced to seconds because many of the greatest joys of this world are matters of seconds rather than minutes and hours, and take care of the seconds and the days will take care of themselves.“25 Die Kinder sollen daher bereits früh und besonders intensiv zwischen dreieinhalb und zwölf Jahren mit den Prinzipien der Zeitökonomie vertraut gemacht werden. Ihre Zeit zerfällt in vier Gruppen: „Rest Time“ (wie Schlafen, Ausruhen etc.), „Work Time“, „Fun Time“ und eben die möglichst klein zu haltende „Lost Time“ („when neither output nor rest is accomplished. When the mind is unnecessarily occupied sufficiently to make it unable to think of interesting or worthwhile or educational things“).26 Erziehung ist Einüben in die Lebenskunst der Zeitökonomie.
23 Vgl. etwa Walter Camp, „Photographic Analysis of Golf“, in: Vanity Fair, August 1916; Walter Bannard, „Charting a Champion“ in: Popular Science Monthly, Januar 1920, S. 44f. 24 Bunker Gilbreth, Ermüdungsstudium, S. 85. 25 Ders. und Lillian Moller Gilbreth „Motion Study in the Home“ (N-File 44 0265-11). 26 Ebd.
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Mensch-Maschine oder die psychophysische Arbeitsteilung Zum Glückskalkül Gilbreths gehört eine besondere Form der Arbeitsteilung. Seinem Verständnis nach ist der Mensch so zu analysieren wie eine Maschine, funktioniert am besten, wenn er regelmäßig wie eine Maschine arbeitet und ist auch Teil eines Soziallebens, das wie eine große Maschine bestimmt werden kann. Entscheidend ist dabei, daß die optimierten Tätigkeiten idealiter immer identisch, ohne jede Veränderung bei einzelner Ausführung, und strikt automatisch, d.h. ohne gedankliche Einflußnahme oder Kontrolle ablaufen. Es gilt, Automatismen zu entwickeln, die ohne jede Unterbrechung durch gleich welche Form von gedanklicher Störung ablaufen. In seiner Studie „Über das Photographieren von Gedanken“ geht es genau um die Detektierung von solchen mentalen Störfeuern.27 Die Arbeitsteilung ist in diesem Modell nicht nur Prinzip einer jeden Form von industrieller Produktion, sondern beginnt bereits beim Arbeiter. Auch er ist in seinem psychophysischen Haushalt der Arbeitsteilung unterworfen. Arbeitsteilung ist Weltgesetz. Colin Ross, der deutsche Übersetzer zweier Bücher von Frank Bunker Gilbreth, der auch als Reiseschriftsteller reüssierte und später mit Baldur von Schirach die Hitlerjugend aufbaute, hat die Texte stark überarbeitet, mit eigenen Kommentaren versehen und in seinem Sinne pointiert. Auch wenn er damit gelegentlich die Thesen der Vorlage verfehlt, so gelingt es ihm mitunter, die recht technische Darstellung Gilbreths zuzuspitzen, so etwa wenn er beobachtet, daß die Arbeitsteilung beim Subjekt ansetzt und dann die Welt regiert: „Diese Wissenschaft läuft auf nichts anderes als auf vollständige Trennung von physischer und psychischer Arbeit hinaus, eine endlich einmal bis ins letzte gehende Durchführung des Prinzips der Arbeitsteilung.“28 Das Prinzip der Arbeitsteilung ist daher das neue Weltenprinzip: „Überall Arbeitsteilung“29 ruft Ross aus. Es gibt keine Tätigkeit, die nicht durch sie gekennzeichnet wäre, ist doch eine jede bereits per se durch eine Trennung von Geist und Körper gekennzeichnet. Das Prinzip Arbeitsteilung durchwaltet den industriell neuformierten oder zumindest neu perspektivierten Kosmos. Mensch und Maschine sind homolog, sind strukturverwandt und können in gleicher Weise ausgerichtet, organisiert und optimiert werden. „As our organisation is built thus, like a machine“,30 könnte man Gilbreths Satz fortführen, so gelten die Gesetze der Rationalisierung auch für den Menschen. Mensch-Maschinen sollt ihr werden. Auch das ist Teil von Gilbreths Programm einer psychophysischen Lebenskunst.
27 In: dies. und Bunker Gilbreth, Magie, S. 158-162. 28 Colin Ross, „Das Wesen der wissenschaftlichen Betriebsführung“, in: Frank Bunker Gilbreth, Das ABC der wissenschaftlichen Betriebsführung. Nach dem Amerikanischen frei bearbeitet von Dr. Colin Ross, Berlin 1925, S. 2. 29 Ebd., S. 8. 30 Bunker Gilbreth, Concrete System, S. 5.
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Die große Lichtgestalt und theoretisches Vorbild ist hier fraglos Frederick Winslow Taylor, den Gilbreth persönlich kennengelernt und, wie er in seinen Aufzeichnungen notiert, daraufhin seine Verfahren umgestellt hatte.31 Auch was die Bedeutung von Taylor anbetrifft, ist Colin Ross erneut von großer Deutlichkeit: „Auch des Menschen Arbeit will er [Taylor] rationalisieren und mechanisieren, so daß Mensch und Maschine in gleicher Linie unter gleichen Gesichtspunkten zusammenarbeiten, nicht mehr wie bisher die Maschine nach rationalistischen, der Mensch nach empirischen Grundsätzen, was ein ewiges Gegeneinander zur Folge haben mußte.“32 Es gehe nunmehr nicht allein um das Miteinander, sondern um das Ineinander von Mensch und Maschine. „Die wissenschaftliche Betriebsführung will die Arbeiter so genau wie Maschinen arbeiten lassen,“ und „was kümmert es den Arbeiter dabei, ob er eine ‚Maschine‘ ist oder nicht.“33 Gilbreth ist Taylors Ideen der Idee nach treu geblieben, auch wenn er die Stoppuhr rasch aus der Hand gelegt bzw. sie ins Bild integriert hat – denn bei den Bewegungsaufnahmen mußte die Zeit objektiv meßbar sein. Auch hat Gilbreth durchaus Vorbehalte gegenüber Taylor, kritisiert die Stoppuhr als reduktionistisches unterkomplexes Programm, das zudem nicht angemessen in der Praxis umzusetzen sei. Seine eigenen Verfahren sollten die Stoppuhr ersetzen. „There is no longer any excuse for stop watch time study“, schreibt Gilbreth in seinem Aufsatz „Time Study and Motion Study“.34 Die Kosten seines Verfahrens seien geringer, die Stoppuhr ohnehin ungenau, kranke am blinden Fleck des Beobachters und sei als Meßinstrument schlicht wegzuwerfen. Haltungen, Gewohnheiten und Modelle Maschinen sind ebenso träge wie Menschen. Sind sie erst einmal in einer bestimmten Art eingerichtet, so führen sie monoton die programmierten Bewegungen aus. Der Mensch ist nun, so beobachtet Gilbreth, ebenfalls durch seine Gewohnheiten, seinen Habitus konditioniert. Diese sind das Trägheitsgesetz der Handlung, das man immer in Betracht ziehen muß. Gewohnheiten sind nicht nur konservativ, sondern von einem enormen Beharrungsvermögen und von nachhaltig prägender Kraft. Sie leisten jeder auch noch so vernünftigen und von den Einzelnen daher auch durchweg eingesehenen Form von Verbesserung in Bewegungs- und Arbeitsabläufen Widerstand – und das gänzlich unbewußt, ohne daß der Verstand Zugriff auf die automatisierten Abläufe hätte. Der Habitus ist ein kultureller automatischer Reflex, der programmiert worden ist und der erst ein Verfahren neuer Kon31 „1912. Taylor changed his definitions of Time Study to include Motion Study“, notiert er in seinem Arbeits-Lebenslauf. 32 Ross, „Das Wesen der wissenschaftlichen Betriebsführung“, S. 11f. 33 Bunker Gilbreth, Das ABC der wissenschaftlichen Betriebsführung, S. 52. 34 Frank Bunker Gilbreth, „Time Study and Motion Study“, datiert und bezeichnet mit „DW 2/19/24“. N-File 0029 NAFDG.
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Abb. 1-25 Stereophotos von Frank Bunker Gilbreth zu Verbesserungen am Arbeitsplatz
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ditionierungen durchlaufen muß, um umgestellt werden zu können. Die MenschMaschine muß neu programmiert werden, muß neue Automatismen ausbilden. Ziel ist daher eine „Umstellung in der geistigen Haltung“35 – wobei Haltung durchaus doppeldeutig gemeint ist: Nicht selten muß man zuallererst die höchst physische Arbeitsposition verbessern, um auch Zugriff auf die psychische Disposition zu bekommen. Gilbreth konstatiert eine komplexe Interaktion physischer Gegebenheiten und psychischer Prozesse, physischer Prozesse und psychischer Gegebenheiten. Viele seiner Untersuchungsfelder haben daher diesen doppelten psycho-physischen Fokus: Ermüdung, Arbeit, Beobachtung, Operationen, Prozesse etc. Um sie zu analysieren, verwendet er ein ganzes Ensemble höchst unterschiedlicher Apparate, Modelle und Einrichtungen, die noch ausführlicher dargestellt werden. Auf der einen Seite ist zuallererst die Arbeit in ihrer Bewegungsgestalt zu analysieren. Dazu wird eine ganze Fülle von unterschiedlichen Medien eingesetzt: neben diversen Photoapparaten und Filmkameras sind das Skizzenbücher, in denen er fortwährend Gedanken und Beobachtungen notiert, Organigramme und Simultanbewegungskarten, Chronozyklegraphien, Stereophotos und Filme sowie Modelle aus Draht. Auf der anderen müssen die Ergebnisse dieser Beobachtungen und Analysen operationalisierbar gemacht werden, müssen unterrichtet werden können. Dazu dienen unter anderem ein „Ermüdungsmuseum“, Lehrbildtafeln, Broschüren und Projektoren, aber auch Photographien in diversen Gestalten. Es geht darum, geplante Fortschritte bei Arbeitsprozessen, kalkulierte evolutionäre Schritte der Produktion zu erreichen, die dann auch künftigen Generationen zur Verfügung stehen sollen. „Übertragung erworbener Geschicklichkeit“36 nennt Gilbreth diese Aufgabe. Gilbreth stellt sich diese Verzahnung von Analyse und Unterricht als unabschließbaren Kreislauf der Perfektionierung vor. Das ist die neue Zeitordnung der Welt. Die neue zyklische Weltordnung In der Perspektive dieser zu organisierenden Welt auf der Suche nach dem „Einen Besten Weg“ kommt es zu einer Neudefinition der Zeitachsen: Die Vergangenheit ist schlicht das, „ was getan worden ist“, die Gegenwart hingegen das, „was getan wird“, und die Zukunft schließlich das, „was getan werden muß“.37 Diese Ordnung der Zeit wird nun auch auf die Organisation im Betrieb übertragen. Gilbreth nennt dies den „Drei-Stellungs-Plan“.38 Zeit und Hierarchie sind nicht nur korrespondierende Ordnungen, sondern definieren Rollen und einen präzise zu benen-
35 36 37 38
Ders., Ermüdungsstudium, S. 78. Ebd., S. 84. Ders., Angewandte Bewegungsstudien, S. 18. Vgl. dazu ebd., S. 89-97.
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nenden Erwartungshorizont. Gilbreth bringt diese funktionale Diachronie in eine Übersicht. Stelle, die er bisher bekleidete Stelle, die er gegenwärtig einnimmt Stelle, die er einnehmen wird
Vgh. Ggw. Zukunft
Lehrer Lehrer und Lernender Schüler
Lernprozesse mit offenem Ausgang werden hier entworfen, die einen Kreislauf der Perfektionierung imaginieren. Gilbreths Welt ist nicht flach, sondern kreisförmig. Was auch immer er an Modellen imaginiert, früher oder später laufen sie alle auf eine Kreisform hinaus. Lehrer werden wieder zu Schülern, um dann wieder zu Lehrern zu werden. Neutrale Observatoren analysieren Arbeitsprozesse, legen dann den Arbeitern die Aufnahmen ihrer eigenen Arbeitsvollzüge vor, damit diese dann wiederum nicht nur ihre Arbeit verbessern, sondern weitere Änderungen anregen. Ein weiterer Kreislauf ergibt sich zwischen Ersparnissen durch Erfindungen, die dann quasi natürlich und automatisch, wie er betont, zu neuen Ersparnissen jeweils verbunden mit Ergebnissen führen: „Motion study causes invention automatically“39 und führe eine „suggestion of automatic invention“40 mit sich. Und auch die von ihm entdeckten „Therbligs“ werden in ein „Wheel of Motion“ übertragen, das Kreisgestalt hat.41 Seine Diagnose des analytischen Zeitalters wird übertragen auf ein diachrones Pendeln zwischen Analyse und Synthese. Während früher, so Gilbreth, die Ordnung der Welt durch die Vorstellung eines Ganzen bestimmt gewesen sei, sind nun an dessen Stelle die Teile getreten und haben die Gruppen von Elementen durch die einzelnen Elemente ersetzt. Man bewegt sich immer um eine Stelle weiter zurück: Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen nicht mehr Handlungen sondern Zyklen oder genauer zusammengesetzte Bewegungen und deren Elemente. Das Detektieren der „fundamental motions“ ist Aufgabe der Analyse.42 Und während man früher die Unterschiede von Arbeitsprozessen studierte, nimmt man nun deren Ähnlichkeiten in den Blick, die dann erscheinen, wenn man die Ebene der Bewegungselemente, sprich die Therbligs erreicht hat. Das sind zugleich diejenigen Elemente, aus denen die neue Welt aufgebaut werden soll. „Wir möchten an die Stelle des ‚Traumes‘ den ‚Plan‘ setzen“,43 heißt es programmatisch in seiner Verwaltungspsychologie. Ganz konkret bedeutet das etwa in einem Betrieb, daß Frank Bunker Gilbreth mit Assistenten erst die Arbeitsprozesse insgesamt analysiert (die Abläufe, Arbeits39 40 41 42 43
Ders., Motion Study for the Handicapped, S. 25. Ebd., S. 33. Im Nachlaß finden sich diverse, z.T. auch farbige Entwürfe. Vgl. etwa N-File 53-0298. Ders., Motion Study for the Handicapped, London 1920, S. 4. Ders., Verwaltungspsychologie, S. 187.
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Abb. 1-26 Frank Bunker Gilbreth, „Wheel of Motion“, undatiert
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plätze, ihre Verbindung untereinander, die Transportwege, aber auch die Freizeitgestaltung etc.) und dann einzelne Bewegungen in den Blick nimmt. Diese werden in ihre einzelnen Elemente zerlegt, und zugleich wird untersucht, ob die Bewegung ohne jedes Zögern durchgeführt und auch präzise ohne jede Variation wiederholt wird. Ggf. werden überflüssige Teile des Bewegungsprozesses ausgemacht und der Arbeiter bewogen, auf diese zu verzichten. Die Analyse erfolgt über Bilder: erst über traditionelle Photographien, dann über Stereophotos und Mehrfachbelichtungen und schließlich über Filme. Und erneut mündet die Analyse in eine zyklische Synthese, da, wie bereits angeführt, die Bilder eines Arbeiters diesem gezeigt werden, damit er über Ansicht Einsicht zeigt und zugleich Verbesserungsvorschläge anbringen kann, die dann umgesetzt, erneut aufgenommen, dann von den Arbeitern angenommen und schließlich wieder verbessert werden etc. Das ist die Rückkopplungsschleife, die die Welt voranbringen soll. Und dieser Prozeß ist unabschließbar: „Der Gedanke der Vollkommenheit ist an und für sich nicht in dem Begriff der Normalisierung enthalten.“44 Es gibt immer noch eine Verbesserungsmöglichkeit. Der Eine Beste Weg ist und bleibt ein Weg. Gilbreths mediale Reiz-Reaktionsschleifen zielen auf eine neue Wahrnehmung von alltäglichen Vollzügen, die man mit anderen Augen sehen soll: Die Vorführung der Aufnahmen in Gestalt von Photographien und Filme schließt einen Wechsel der Beobachterperspektive strukturell ein: Sie werden den Arbeitern gezeigt „in order […] that they may see themselves as others see them“ und sie „a new viewpoint“45 ausbilden können, der vor allem auf ihre Selbstbeobachtung zielt. Gilbreth verwendete eine Kamera, mit der man Filme mit bis zu 48 Aufnahmen pro Sekunde herstellen konnte, die dann bei der Vorführung schneller oder langsamer gezeigt wurden. Die von ihm verwendete Kamera trug ihre Aufgabe bereits im Namen: In einem im Nachlaß erhaltenen Prospekt der Kamera „Educator“ schreibt er auf die erste Seite: „This is the one we had.“.46 Auch für Kameras gilt der zeitliche Dreistellungsplan, da ein jeder Apparat verbessert werden kann. Dieser war daher jener der Vergangenheit, der einem neuen, besseren zu weichen hatte. Und das ist es, was der Arbeiter schließlich auch werden soll: Er soll sich und andere im Sinne der Suche nach dem „Einen Besten Weg“ unterrichten. (Abb. 1-28 - kleiner) Gezielt wird bei Vorführung der Bilder auf Reaktionen der Arbeiter im doppelten Wortsinn: Es geht einerseits um Reaktionen als aktive Umsetzung und Verbesserung ihrer eigenen Arbeit, andererseits aber auch um Kommentare und Kritik des Verfahrens, um so dann auch idealiter die Arbeitsprozesse insgesamt zu verbessern.47 Die aktive Mitwirkung soll weiterhin den Nebeneffekt haben, daß die Ar44 Ross, „Das Wesen der wissenschaftlichen Betriebsführung“, S. 24. 45 Bunker Gilbreth, Motion Study for the Handicapped, S. 6. 46 Eine weitere Kamera trug den Namen „Veraskop“. Eine Loblied dieses Apparats findet sich im Nachlaß: N-File 578-0310, datiert 4/18/16. 47 Zudem hat die Vorführung in dunklen Räumen den Vorteil, so Gilbreth, daß selbst Arbeiter, die bei öffentlichen Präsentationen und Diskussionen sich nicht zu äußern wagen, dies dann tun.
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Abb. 1-27 Frank Bunker Gilbreth, Mikrobewegungsstudie, undatiert
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Abb. 1-28 Kamera „Educator„. Broschüre aus dem Nachlaß von Frank Bunker Gilbreth
beiter mittels ihres Engagements die Arbeit als Form der Selbstverpflichtung auffassen. Ihre Arbeit soll letzten Endes auch Arbeit an sich sein. Das ist die gouvernementale Pointe wie Grundüberzeugung von Gilbreths Programm: Arbeit schließt immer auch ein Selbstverhältnis mit ein. Und alles beginnt mit Modi der Instruktion. Arbeit folgt den technischen Vorgaben. Sie ist die Software, die auf der Hardware des Arbeitsplatzes beruht. Die technischen Einrichtungen (Stühle etc.) zwingen den Arbeiter dazu, die falsche oder, besser, richtige Haltung einzunehmen.48 Dementsprechend richtet Gilbreth sein Hauptaugenmerk auch auf die Optimierung der Einrichtung wie Ausrichtung der Geräte, Sitzmöbel, Schreibtische, Utensilien usw. Diese werden normiert und dann als vorbildliche Modelle konstruiert. Gilbreth wird nicht müde, immer neue Modelle solcher Instruktionsformen zu entwerfen. Bereits 1913 gründete er in Providence (Rhode Island) das sogenannte „Hauptermüdungsmuseum“, das überhaupt Museum zu nennen, eine Übertreibung sein dürfte. Zum einen diente es nicht einer wie auch immer gearteten Archivierung oder Sammlung von histori48 Bunker Gilbreth, Ermüdungsstudium, S. 82.
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schen Artefakten, sondern einer konkreten zukünftigen Praxis. Zum anderen – und viel prosaischer – bestand es zu Beginn nur aus drei Stühlen und „zwei Vorrichtungen zur Beförderung von Material.“49 Seine genaue Bezeichnung war: „Museum von Vorrichtungen zur Ausmerzung unnötiger Ermüdung, Nr. 1“50 und könnte, so Gilbreth, im Ernstfall nur aus einem „Sammelbuch mit Photographien“ bestehen.51 Weiterhin denkt er über den „motivierenden Einsatz“ von „Photographien preisgekrönter Arbeiter“ nach, wie man ihn heute aus McDonalds-Filialen kennt,52 oder konstruiert aufgrund von genauen Recherchen Drahtmodelle, die einen Arbeitsablauf in seiner optimierten Form fühlbar machen. Das Modell entspricht einer ununterbrochenen idealisierten Bewegung eines bestimmten Arbeitsprozesses und soll gesehen wie ertastet werden. „Das Bewegungsmodell ist eine aus Draht geformte Darstellung einer Bewegungsbahn.“53 Das Bewegungsmodell führt weiterhin vor Augen, „daß Zeit Geld ist, und daß eine nutzlose Bewegung für immer verlorenes Geld bedeutet.“54 Apparate sind Medien der Analyse und der Unterweisung zugleich. Und sie sind die eigentlichen Motoren der industriellen Evolution, des Fortschrittes der Menschheit in Zeiten der Mechanisierung, denn: „The design of machines is constantly changing; the human being is constant.“55 Gilbreth vertritt hier, wenn er vom Wesen des Menschen spricht, eine andere anthropologische Überzeugung als die in Sowjetrußland, wo gerade seine Veränderung auf dem Plan stand. Zum Licht wird hier die Arbeit: Apparate Will man die Magie der Bewegungen erkunden, so benötigt man Apparate, da weder Taylors emblematische Stoppuhr noch die menschlichen Beobachtungsfähigkeiten allein in der Lage sind, der Komplexität des Phänomens gerecht zu werden. „Die Fähigkeit, genau beobachten zu können, ist eine Haupterfordernis“,56 konstatiert Gilbreth, um dann systematisch Photographie und Film als Verfahren der Analyse und der Synthese, der Beobachtung und der Instruktion einzusetzen. Alles beginnt mit der Beobachtung: „Gerade Photographien tragen sehr dazu bei, die Beobachtung nutzbar zu gestalten.“57 Sie ermöglichen den Übergang vom „efficen-
49 50 51 52 53 54 55 56 57
Ebd., S. 51. Ebd. Ebd., S. 58. Ders., Verwaltungspsychologie. Die arbeitswissenschaftlichen Grundlagen für die Ermittlung und Einführung von Verfahren, die den größten Wirkungsgrad bei geringstem Kraftaufwand ermöglichen, Berlin 1922, S. 26. Ebd., S. 65. Ders., Angewandte Bewegungsstudien, S. 73. Ders., Motion Study for the Handicapped, S. 69. Ders., Ermüdungsstudium, S. 14. Ebd., S. 20.
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cy expert“ zum „magician“.58 Von Magie ist offenkundig viel die Rede in Gilbreths Texten, und in der Tat ist das Reich der Bewegungen ein Zauberland: Es zeigt, was die Welt im Innersten zusammenhält und zugleich antreibt. Es ist der Maschinenraum der Welt. Betritt man ihn, so ist man nicht nur eingenommen vom mechanischen Zauber der Welt, sondern kann sich selbst in einen Zauberer verwandeln. Photographie und Film sind Medien der Dokumentation, der Instruktion und der Transformation zugleich. Sie zeichnen etwas auf, um es zugleich durch die Dokumentation zu verändern. In seinen ersten Büchern setzte Gilbreth die Photographie einzig dafür ein, um Aufnahmen der Betriebe anzufertigen und Arbeitsprozesse zu dokumentieren. Seine Verbesserung der Verfahren des Mauerns wird etwa akkurat in einer Serie von Einzelbildern dokumentiert. Der zweite Schritt ist der Einsatz des Kinematographen, um Prozesse abbildbar zu machen und zugleich in die Rückkopplungsschleife einzuspeisen, die qua Projektion auf weitere Verbesserungen der Prozesse abzielt. Gilbreth arbeitete zu Beginn noch in sehr einfacher Weise mit filmischen Verfahren, entwickelte dann aber Strategien, um die bewegten Bilder in analytische Bilder der Bewegung zu verwandeln. Als Verfechter der Rationalisierung wollte er nicht nur Zeit, sondern auch Geld sparen, indem er nur ein Viertel des Films belichtete und den Rest mit Blenden überdeckte. So konnte er einen Film viermal belichten und für unterschiedliche Zwecke verwenden. Mit dieser Ökonomisierung des Verfahrens war aber noch kein analytischer Schritt weiter getan. Weitaus innovativer und origineller waren seine Strategien, Raum, Zeit und Bewegung in den Bildern nicht nur zu korrelieren, sondern objektiv meßbar zu machen. Erst setzte er sogenannte Mikrochronometer ein, d.h. Uhren, die Zeitmessungen bis zu einer Achtzigtausendstelsekunde ermöglichten und in den Aufnahmen ablesbar sind. Weiterhin operierte er gleich mit mehreren Verfahren der Doppelbelichtung: Raum und Arbeit wurden gleichermaßen doppelt belichtet. Gilbreth arbeitete mit einem feinmaschigen Raster, das den Raum der Aufnahme in kleine Planquadrate zerlegte, ließ den Film einmal durchlaufen, um dann den jeweiligen Arbeitsprozeß aufzuzeichnen, dessen einzelne Phasen nun Raum-Zeit-Stellen zugeordnet werden konnten. Doch damit nicht genug. Mithilfe der sogenannten Zyklegraphien wurden die überflüssigen Bildinformationen schlicht unsichtbar gemacht und die Bewegung auf das reine Licht reduziert: Gilbreth befestigte kleine Lämpchen an den bewegungsführenden Extremitäten der Probanden, die zu einer Lichtspur auf den Aufnahmen führten. Auch diese wurde weiter bearbeitet: Zu Beginn war es noch eine ununterbrochene Linie, dann setzte er das Licht als Zeitmesser ein, indem er es in ein regelmäßiges Blinklichtstakkato verwandelte, und schließlich nutzte er das Licht sogar als Indikator der Bewegungsrichtung. Eine andere Strategie der Doppelbelichtung, die als weiteres Verfahren noch hinzukam, war der Einsatz von Stereophotos, die eine dreidimensionale Wahrnehmung ermöglichten. Nun wurde ein und derselbe Arbeitsprozeß mehrfach auf ei58 Ders., Motion Study for the Handicapped, S. 4.
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ner Platte photographisch aufgenommen, ohne daß die Grundeinstellungen geändert worden wären. Dabei geht es um eine „visualization of the entire path of the motion“.59 Eine optimale, automatisierte und ohne jedes Zögern und Innehalten durchgeführte Arbeitsbewegung würde, so Gilbreth, eine ununterbrochene und zugleich vollkommen deckungsgleiche Linie produzieren, während jedes Zögern und jede Abweichung von der Ideallinie zu sehen wäre, indem sich mehrere unterschiedliche Lichtspuren auf der Platte abzeichneten. Die Stereophotos hatten, so Gilbreth, auch den Vorteil einer größeren „Realitätsnähe“ und eines größeren performativen Effekts auf den Arbeiter. „The stereoscopic picture stands out in the third dimension. It looks real. It makes one feel that he is actually reviewing the real instead of the photograph. There is no way that workers can be convinced so easily or so quickly as by ‚actually seeing it‘ in the picture.“60 Denn letztlich geht es darum, die Arbeiter aufzunehmen und einzunehmen. Sie sollen sich, indem sie sich sehen, erkennen und zugleich in dem, was sie tun, umstellen. Daher ist es nur konsequent, wenn der nächste Schritt in dieser technologischen Wunderkammer der Bewegungen eine Kamera ist, mit der sich der Arbeiter selbst aufnehmen kann. „Autostereochronocyclegraph“ heißt die Wundermaschine, mit der ein Arbeiter sich selbst aufnehmen kann und bei deren Erklärung gleich die griechische Sprache aufgerufen wird: „Auto – automatic; stereo – stereoscopic; that is giving the three dimensions; chrono – the Greek chronos, or the time element; cycle – the complete movement; and graph – the chart.“ 61 Das sind die Elemente, aus denen Gilbreths Welt zusammengesetzt sind: Automatismen, Körperlichkeit, zyklische Ordnungen, Bewegungen und Graphien. Normalisierung als Technik der Lebenskunst Sind erst einmal die Elemente der Weltordnung gefunden, so können Erkenntnisse eines Bereichs auch auf andere übertragen werden. Die Industrie ist daher auch eine Schule des Lebens und die Normalisierung ein produktives Verfahren, um Fähigkeiten zu fördern. Arbeitet man konzentrierter, aufmerksamer und effizienter, so wirkt sich das auf eine Fülle von Tätigkeiten aus. Geschult werden Gedächtnis, Denken, Selbstdisziplin, Interesse, Aufmerksamkeit, Vorstellungskraft, Sinnesorgane, Urteilskraft, Reaktionsfähigkeit und der Wille.62 Die Normen der Wissenschaftlichen Betriebsführung erziehen Muskeln, Vernunft und Willen.63 Frank Bunker Gilbreth hatte, wie man einem Dokument im Nachlaß entnehmen kann, offenbar den Plan, ein Buch mit dem Titel „Happiness Moments“ zu
59 60 61 62 63
Ebd., S. 30. Ts. „Prominent member of a management society visits us“ [N-File 3, 0029-NAFDG]. Ders., Motion Study for the Handicapped, London 1920, S. 12. Ders., Verwaltungspsychologie, S. 135. Ebd., S. 141.
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schreiben.64 Verfahren der Normalisierung zielen auf ein glücklicheres Leben. Nicht nur sparen sie (Lebens)Zeit und ermöglichen ökonomischen Gewinn, sondern sind Prinzip einer geglückten Lebensführung. Nicht die Entschleunigung ist hier Programm, sondern die Ökonomisierung sämtlicher Lebensvollzüge bei gleichzeitiger Entlastung mentaler Prozesse durch eingeübte Automatismen. Von der Industrie- bis zur Hausarbeit soll am besten alles automatisch ablaufen, damit die Menschen an anderes denken können. Es gibt keinen Bereich, der sich dem entziehen könnte. Das zeigen auch in hinreichender Deutlichkeit Dokumente im Nachlaß: Sogar im Album der Hochzeitsreise finden sich zwei Aufnahmen von Mauerwerk und ein Zeitungsausschnitt der Anzeige eines „Handy Fruit and Vegetable Slicer“. Das sind zugleich Eckgrößen des Lebens der beiden Gilbreths. Der Bund fürs Leben assoziierte eine Psychologin und einen Ingenieur und gab somit zugleich auch den theoretischen Rahmen der künftig gemeinsam durchgeführten Arbeit vor. Lillian Moller Gilbreth, die selbst ihre eigenen Bücher unter der doppelten Autorschaft der Lebens- und Arbeitspartner Gilbreth-Moller publizierte, brachte die Psychologie in diese theoretische Gütergemeinschaft mit ein und sollte später ihr Heim nicht nur analysieren und optimieren, sondern als Ort der Effizienz besingen: „My All-Electric Kitchen With power at my finger tips – I work when’er I please With shortest motions, space and time Efficiency and ease. Here skill and satisfaction Can have an equal part The active mind, the busy hand The happy-singing heart.“65 Zwischen „active mind“ und „busy hand“ vermittelt der Automatismus, der Habitus, der den Gedanken ihren freien Flug ermöglichen soll, während gleichzeitig der Arbeitsalltag bewältigt wird. Habitus im Habitat: Automatismen Frank Gilbreth konstatiert die Bedeutung der „close relationship between efficient habits and automaticity“ und folgert daraus: „It is the automaticity that permits high output without the monotony of superattention on unimportant repetitive 64 Vgl. hierzu das mit „Titles“ überschriebene Dokument in: N-File 40-0259-1. 65 Undatiert, wohl von Lillian Gilbreth, in: N-File- Series 4-box 72.
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decisions.“66 Bereits im Zuge seiner Ermüdungsstudien hatte Gilbreth festgestellt, daß automatische Handlungen weniger belastend sind als vom Bewußtsein kontrollierte. In Automatismen wird der Mensch zum Automaten, der wie dieser über einen langen Zeitraum ohne zu Ermüden ähnliche Arbeitsergebnisse erzielen kann. Automatismus ist Entlastung bei Belastung, ist Vollzug maschineller Bewegungen des Körpers als strategische Psychotechnik. Die alte philosophische Frage des LeibSeele-Dualismus wird nun arbeitsökonomisch gewendet und als Entdeckung gefeiert. Automatismus ist die Form der Befreiung des Menschen in Zeiten industrieller Reproduzierbarkeit. „Die vollständige Durchführung der Automatisierung der Arbeit, die bisher eben dadurch, daß dem Arbeiter der geistige Prozeß immer noch überlassen blieb, nicht vollständig durchgeführt war, ermöglicht es jetzt den Arbeitern, sich bei der Arbeit ihren Gedanken zu überlassen. Die Arbeit wird ganz vom Leben getrennt.“67 Zugleich müssen aber die Arbeitsvollzüge überhaupt erst zu Automatismen werden. Jeder Widerstand des Körpers, der durch Gedankenkontrolle zustandekommt, muß aufgegeben werden und eine ununterbrochene Bewegungslinie entstehen, die dann Ausdrucksformen des Lebens, wie dem Puls oder der Atmung, die ebenfalls in regelmäßigen Kurven abgebildet werden können, entspricht. Gilbreth geht es um Verfahren aktiver Konditionierung, die Arbeitsprozesse wie bedingte Reflexe programmieren. Diese haben sich an Idealtypen zu orientieren. Gilbreth stellt sich diese Verfahren als doppelte Normalisierung vor: Einerseits sollen möglichst umfassend Normen etabliert werden. Von der Ökonomie des Haushalts bis zu jener der Industrie sollen gleiche Normen gelten. Schrauben und Papier, Maschinen und Lampen, Kameras und Buchformate, Ordnungs- und Ablagesysteme sollen gleiche Regeln und Maße haben und Kisten, Kästen, Kartons, Koffer und Kassetten gleiche Formate. Ist erst einmal dieser Normalisierungsvollzug abgeschlossen, kann auch jener der Arbeitsprozesse besser vonstatten gehen. Dieser ist strukturell offen und unabschließbar. Normen sind Grundlagen von Normalisierungs- und Optimierungsprozessen. Sie sind wie die Therbligs die neuen Elemente der industriell-analytischen Weltordnung. Die Antwort auf Standardisierung ist daher „Superstandardization“.68 „I say“, so spricht Frank Bunker Gilbreth: „Standardize everything under the sun“.69 Und in der super-normalisierten und -standardisierten Welt soll eine neue Freiheit des Denkens eintreten, gilt doch der Leitsatz: „Die Normalie denkt für alle.“70
66 Bunker Gilbreth, Motion Study for the Handicapped, S. 150. 67 Ross, „Das Wesen der wissenschaftlichen Betriebsführung“, S. 14. 68 So etwa in „Superstandardization; The Best Way for Cost Reducing to be read at The Philadelphia Meeting of the Taylor Society“ (N-File 54-0299-1); datiert 2/11/22; und in: „Fundamental Super-Standardization“ (N-File 54-0299-1); datiert 1/28/22. Dort wird die gebräuchliche Handschrift als ineffizient kritisiert. 69 MG 12/28/15 [N-File = NS; MSP 8 – Box 1 – Series 4]. 70 Ross, „Das Wesen der wissenschaftlichen Betriebsführung“, S. 24.
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Theoriegebäude ohne Geschichte Gilbreths eigenes Denken verortet sich in seinen Publikationen fast ohne jeden externen Bezug, so als sei alles, was er ausführt, ein Neuentwurf. Auch im Nachlaß sind Bezugnahmen auf die Tradition der bewegungsanalytischen Photographie, der er offenkundig viel verdankt, spärlich und versuchen mitunter die theoretische wie praktische Nähe eher zu verschleiern als zu unterstreichen. Im Nachlaß findet sich so etwa mit Eingangsstempel vom 27. Juni 1913 ein immerhin mit Anmerkungen versehener Artikel über Marey aus Scientific American Supplement71 und ein Artikel von ihm in englischer Übersetzung, genauer: „Photography of moving objects, and the study of the animal movement by chrono-photography“.72 Hinweise auf Marey finden sich ohne besondere Prominenz auch als beiläufige Erwähnung in seinem Buch Ermüdungsstudium,73 in dem Typoskript „Time Study“74 oder in seinen Tagebuchaufzeichnungen: Dort berichtet er davon, daß er anläßlich einer Europareise auch das Marey-Institut besucht habe.75 „Then I hunted“, schreibt Gilbreth in einer Tagebuchnotiz, die mit „Time Study – Morey [sic!] Institute“ überschrieben und auf den 6. Februar 1914 datiert ist, „for the Morey Institute […]. I finally found it and spent the day with Lucius Bull, Underdirector of the Institute. He showed me many wonderful devices, but I found no indication of his having used a flashing lamp, in turning his spots in photography. He did however show me a wonderful lot of instruments for various purposes, including a stereoscopic motion picture camera. I found no indication of his ever determined or photographed ‚directions‘ of motions. He did, however, show me wonderful photographs of ‚slowed down‘ runners, jumpers, heavy weight/throwers, same as we speeded up the workers of New England Butt Co. by taking four per second and then reeled them off at 16 per second.“76 Die naheliegende Referenz auf die deutlich früher entwickelten Strategien Mareys, mit Lichtlinien zu arbeiten und die Versuchspersonen in schwarze Kleider zu stecken, so daß nur die aufgeklebten reflektierenden Punkte später auf der Platte ihre Spur hinterließen, fehlt hier und anderswo gänzlich, auch wenn sie seinen „Zyklegraphien“ recht ähnlich sind und ihnen als Vorbild gedient haben mögen. Ähnliches gilt auch für seinen amerikanischen Landsmann Muybridge: Gilbreth bewahrte zwar einen Artikel über Leland Stanford aus dem San Francisco Chronicle auf, der die Experimente Muybridges finanzierte,77 übergeht ihn aber in seinen Publikationen. Insgesamt kommen seine Bücher fast ohne Literatur und Fußnoten aus und inszenieren die Suche nach dem „Einen Besten Weg“ als Erkundung von Neuland, als Pionierleistung, als Kartierung einer terra incognita inmit71 72 73 74 75 76 77
Nr. 579, 5.2.1887, S. 9245f. In: ebd., Nr. 580, S. 9258-9260. Bunker Gilbreth, Ermüdungsstudium, S. 4. Mit „MG 1/7/15“ bezeichnetes und datiertes Typoskript (N-File 48-0270-3). N-File, Box 90-808-13. N-File 808-BNHC (Box 90). N-File 41-0265-1.
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Abb. 1-29 Nathan Zuntz, Tragbares Atemgerät, militärische Versuchsperson
Abb. 1-30 Nathan Zuntz, Tragbares Atemgerät, militärische Versuchsperson
Abb. 1-31 Jules Amar, Feiler mit Atemgerät, ca. 1912
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ten des Alltags.78 Neben Taylor und anderen fast durchweg amerikanischen Vertretern der Wissenschaftlichen Betriebsführung finden nur eine Handvoll Theoretiker und Texte Erwähnung. Diese sind jedoch zumeist prominent wie programmatisch: neben Max Weber sind das Hugo Münsterberg, Wilhelm Ebbinghaus, William James und Emil Kraepelin.79 Am ehesten fühlte er sich offenbar mit den Arbeiten von Jules Amar verwandt, der in Frankreich in ähnlicher Weise Experimente durchführte, ihm Sonderdrucke schickte und mit ihm korrespondierte.80 Automatisches Schreiben Kurz bevor die Surrealisten die écriture automatique als Verfahren entdeckten, experimentierte auch Gilbreth mit Formen automatisierten Schreibens. Die Schrift ist ein Gegenstand mit besonderer Bedeutung, bündelt er doch verschiedene Momente seiner Theorie und Praxis. Vielen Konvoluten seiner Photographien, die im Wortsinn ja Lichtschriften sind, stellte er Aufnahmen voran, auf denen er seinen Namen mit Licht schrieb. Schrift ist weiterhin eine besondere Form der Gewohnheit, da wir es uns angewöhnt haben, in einer bestimmten Art und Weise zu schreiben. Das gilt für die Schreibmaschinistinnen, die er absurde Texte abtippen läßt, und handschriftliche Aufzeichnungen gleichermaßen. An seinen „Investigations of Methods of Remington Typewriter Company’s Champion“,81 die er mit seiner Frau durchführte, nahmen zwei Stenotypistinnen und ein Stenotypist teil, die jeweils bereits einschlägige Wettbewerbe gewonnen hatten: Miss Anna Gold („Champion of the United States 1916 at Chicago on a Remington Typewriter“), Miss Hortense Stollnitz („Miss Stollnitz in 1917 wrote 78 In der deutschen Ausgabe von Primer of Scientific Management ergänzt Colin Ross einige weitere Verweise auf aktuelle Debatten und führt so etwa Charles Babbage (Economy of Machinery and Manifacture), Wilhelm Wundt, Walther Rathenau (Zur Mechanik des Geistes) oder Wilhelm Ostwald (Der energetische Imperativ) an oder verweist auf die Arbeiten Willy Hellpachs. 79 Verwiesen wird auf seinen Aufsatz „„Zur Psychophysik der industriellen Arbeit“ (1909 erschienen in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik), auf Hugo Münsterbergs Psychotechnik, Kraepelins Aufsatz „Die Arbeitskurve“, Karl Büchers Arbeit und Rhythmus und auf Hermann Ebbinghaus (in Gilbreths Buch Verwaltungspsychologie, Berlin 1922, S. 144). William James wird in Verwaltungspsychologie zitiert (S. 15 und 158). Weitere Hinweise finden sich in den von Gilbreth zusammengestellten bibliographischen Angaben in diesem Band, S. 42f. 80 Zu Amar vgl. Bunker Gilbreth, Motion Study for the Handicapped, S. 74 und 112. Er wird auch erwähnt in Ermüdungsstudium, dort unter Hinweis auf seine Bücher Physiologie du travail féminin und Le moteur humain et les bases scientifiques du travail professionnel, Paris 1914. A.W. Sanders aus Leiden fertigt ebenfalls Photographien an, um Arbeitsprozesse zu untersuchen. Den Durchschlag eines Textes „Account of Research Work relating to Muscular Reflex Action with a view to finding a method of Recording objective results of nervous fatigue“ schickt er samt einigen Photos an Gilbreth [N-File 40-0259-2]. 81 N-File 64-0417-1, datiert 6/15/16, 41 Seiten.
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Abb. 1-32 und 33 Frank Bunker Gilbreth, Schreibmaschinenexperimente
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Abb. 1-33
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17 more words per minute and kept it up for an hour than was ever heard of previously in the history of the art of typing“)82 und Mr. Waters. Ziel ist es auch hier, selbst die offenkundig bereits außergewöhnlichen Leistungen noch zu verbessern. „The human machine must get more work out for the effort.“83 Sprich die MenschMaschine soll mehr aus ihrer Arbeit an der Schreibmaschine herausholen. Insbesondere die nimmermüde Miss Gold („Miss Gold: I am never tired.“) ist ein Muster an Effizienz. Gemessen werden die Geschwindigkeit und die Fehlerhäufigkeit, aber auch die exakten Bewegungen der Finger, der Hände und des Körpers. Die Schreibmaschine steht dabei pars pro toto für jede Form von Arbeit, von Bewegung: „I believe“, gibt Gilbreth zu Protokoll, „what makes a champion is common to all fields.“84 Denn was er photographiert und filmt, ist nicht allein das Schreibmaschineschreiben, sondern Gewohnheit, ein Habitus: „I made the first photograph of habit in the world. Habit is supposed to be too intangible to photograph. The lines of habit, if nothing interferes, will be very close together, if she is an expert. If she is a greenhorn, the lines won’t coincide by a great deal.“85 Gewohnheit ist das Ergebnis von Praxis, von wiederholten Bewegungsabläufen, die von der lästigen Aufgabe, permanent Entscheidungen treffen zu müssen, dispensieren.86 Angestrebt wird nun Automatisierung als Verbindung von Gewohnheit und Praxis und eine höchst praktische Entmystifizierung dieses „mysterious thing called habit“.87 In seinem Nachlaß sind auch diverse Experimente überliefert, bei denen er versuchte, die habituelle Handschrift zu verändern, indem er gezielt gegen Gewohnheiten arbeitete. Er nennt dies „Handwriting Experiments“.88 Ziel sei es herauszufinden, „what happens when you make a new combination of old motions“. Hierzu reicht der eigene Name. Alles beginnt ganz einfach: Man lasse, so Gilbreth jeden zweiten Buchstaben weg, schreibe dabei möglichst schnell. Aus „Frank Bunker Gilbreth“ wird so „Fak ukr ibeh“. Bereits jetzt kann man feststellen, daß es zu einer „habit interference“89 komme, da man zwar weniger Buchstaben zu schreiben habe, dafür aber länger brauche als für den Namen in seiner gewohnten Form. Weiterhin könne man daraus lernen, daß es, da es schwierig ist, Gewohnheiten zu 82 83 84 85 86
MSP 8 – Box – Series 4. N-File 64-0417-1, S. 4. Ebd., S. 13. Ebd., S. 16. Ebd., S. 12: „You will note that a habit saves you from making decisions about the same thing over and over again.“ 87 Ebd., S. 20. Vgl. auch ebd., S. 23: Regeln sind: „Acquire and Use Habits of Motions.“ „Use Automaticity to gain speed and cut down attention and fatigue.“ „Reduce all routine work to habit, and in this way free yourself for other things.“ 88 N-File 54-0299-6. Bemerkenswert ist auch folgender Passus in einem anderen Nachlaßtext: N-File 30: 0158 (Typescript): „Question: CAN YOU READ YOUR OWN HANDWRITING? Mr. Gilbreth: I cannot read my own handwriting because I don’t see it often.“ [MG 9/17/14] 89 N-File 64-0417-1, S. 28.
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Abb. 1-34 Notiz von Frank Bunker Gilbreth mit einer Skizze der Therbligs, undatiert
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Abb. 1-35 Frank Bunker Gilbreth, „Symbols of the 16 subdivisions of a cycle of motion“, undatiert
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verändern, darauf ankomme „to get the right habit first.“90 Eine jede alte Gewohnheit interferiere bei jeder neuen. Die Habitus gewordene Vergangenheit prägt jede Form von neuem Lernen. Weitere Experimente zeigen nun, daß zwei maßgebliche Faktoren die Gewohnheit prägen: die Visualisierung und die Nachahmung. Wenn man die Signatur vom Ende her oder in Spiegelschrift schreibt, fällt die Visualisierung schwer und daher dauert die Bewegung ungleich länger. Imitation reduziert die Zeit der Bewegung. Wenn wir aber nicht auf sie zurückgreifen können, visualisieren wir, „to see what we do“.91 Nachahmung ist eine Form des Instinkts, durch den wir lernen und somit eine einfache Form des Erwerbs von Fähigkeiten. Und „visualization is an excellent substitute for imitation. […] Visualization helps one to establish a new habit, and avoid habit interference.“92 Die simplen Experimente zeigen die Macht der Gewohnheit und die Grenzen der Visualisierung, führen aber am Ende zu einer neuen Gestalt des Namens: Schreibt man „Gilbreth“ umgedreht, so ergibt sich „Therblig“ – und das sind jene elementaren, überindividuellen Formen, aus denen sich Gilbreths Welt zusammensetzt.
90 Ebd., S. 29. 91 Ebd., S. 36f. 92 Ebd., S. 47.
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II. TECHNIK UND MEDIEN: DIE MEDIALE EINSTELLUNG DES MENSCHEN
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Einleitung
„Die Wirklichkeit nicht abbilden, nicht darstellen und nicht interpretieren, sondern real bauen“1 Alexei Gan
In der legendären Arbeiter Illustrierten Zeitung, der AIZ, die nicht zuletzt durch die Photomontagen John Heartfields berühmt geworden ist, finden sich regelmäßig Anzeigen für Kaffee Hag – was an sich kaum der Rede wert wäre. Bemerkenswert ist hingegen, daß mit Henry Ford geworben wird: „Henry Ford begann seine Laufbahn damit, daß er Taschenuhren reparierte. Was Henry Ford vorwärts brachte, war neben Fleiß und Begabung seine unerschütterliche Ruhe und Nervenbeherrschung, die er aus dem Erlebnis mit seiner ersten Uhr für’s Leben mitgenommen hatte.“2 Und, wie könnte es auch anders sein, natürlich trinkt er Kaffee Hag! Im nervösen Zeitalter, für dessen akzelerierten Rhythmus nicht zuletzt Henry Ford mitverantwortlich war, beruhigt der Schonkaffee die Nerven und macht den Menschen fit für das immer rascher tickende Uhrwerk der Zeit. Weitere Kaffee-HagAnzeigen greifen dann auch auf Photographien von Albert Renger-Patzsch zurück, der mit seinen technischen Aufnahmen ins Visier der linken Publizistik geraten war.3 Nun mag man vielleicht sagen, daß im Reich der Werbung alles erlaubt ist – siehe Benetton –, ja mehr noch: erforderlich ist, um den Kampf um die Aufmerksamkeit zu gewinnen; selbst Ford und Renger-Patzsch, die nicht nur auf den ersten Blick so etwas wie Klassenfeinde der Leserschaft zu sein scheinen. Wichtiger und interessanter scheint mir hier hingegen vielmehr einerseits die eigentümliche Koexistenz von sich vermeintlich ausschließenden Bereichen (Unternehmer und Arbeiter bzw. Herr und Knecht) und andererseits der Einsatz der Montagetechniken zu Zwecken der Agitation und der Werbung gleichzeitig zu sein. Photomontagen sind, so können wir hier beobachten, mediale Aufmerksamkeitstechniken in Zeiten des montierten Menschen. Die Zeitschriften sind dabei, so Sergei Tretjakow, das Epos der Gegenwart: „Was die Bibel für den Christen des Mittelalters war – 1 Aleksej Gan, „Der Konstruktivismus“, in: Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde, hg. von Boris Groys und Aage Hansen-Löve unter Mitarbeit von Anne von der Heiden, Frankfurt/Main 2005, S. 277-365, S. 335. 2 Werbung für Kaffee Hag, in: AIZ, Jg. 1931, S. 113. 3 Zum Topos des nervösen Zeitalters vgl. Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998.
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TECHNIK UND MEDIEN
Abb. 2-1 und 2: Kaffee Hag-Werbung aus AIZ (Arbeiter Illustrierte Zeitung), 1931
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Ratgeber in allen Situationen des Lebens; was der Bildungsroman für die russische liberale Intelligenz war, das ist heute für den sowjetischen Aktivisten die Zeitung.“4 Im Fluß des Epos markieren Photomontagen wichtige Momente, bilden Schwellen und rhythmisieren zugleich die Wahrnehmung. Ähnliches gilt auch für den Westen. In den Zeitungen der 1920er und 1930er Jahre finden sich verstärkt Bildberichte, da Reproduktionen mittlerweile technisch unaufwendig waren, und Magazine, in denen der Bildteil den der Texte dominiert, sind keineswegs die Ausnahme. Die Photomontage hat sich dabei von ihrer dadaistischen Randexistenz mitten ins Herz der Gesellschaft bewegt. Im Epos der Gegenwart hat sie die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser gezielt zu lenken und zu steuern. Und die Montagen fügen sich nahtlos ins Konzert der technischen Medien ein, die auf je unterschiedliche Weise auf die Psyche der Menschen einzuwirken suchen. Technische Medien werden dabei als Fernsteuerungen der Psyche angesehen und als solche bewußt eingesetzt. „Die hochentwickelte Technik aber, das Proletariat, die Unmenge von Zeitungen, die Reklameflut, die Trusts, die Flugzeuge, die Elektronentheorie, die Dividenden Rockefellers, die Streiks der Bergleute, die kommunistischen Parteien, die Liga der Nationen, die III. Internationale, die Elektrifizierung, die Millionen von Armeen, Lloyd George, Lenin usw., all das sind Phänomene einer Zeit, einer Epoche.“5 Und mit Ilja Ehrenburg ist ein weiterer Kanon der Moderne hinzuzufügen: „In Paris rasen die Touristen mit hängender Zunge durch den Louvre, aber keinem von ihnen kommt es in den Sinn, Fabriken, Schlachthäuser, Eisenbahndepots, das Arbeitsamt, eine Zeitungsdruckerei, eine Klinik, eine Schule und andere ‚uninteressante Details‘ zu besichtigen.“6 All das sind die Phänomene der Moderne, auf die die Medientechniken planmäßig zu reagieren versuchen. Ihnen geht es darum, auf kontrollierte Art und Weise kalkulierte Effekte zu erzielen. Die Montage ist dabei die zentrale Strategie, da sie nicht nur den Film regiert, sondern auch die Photographie dieser Zeit hinsichtlich ihrer Gegenstände und Verfahren maßgeblich bestimmt. Zu denken ist aber auch u.a. an den Rundfunk, die Typographie, die Musik und nicht zuletzt die Architektur. Das Neue Bauen der 1920er Jahre diente eben auch dazu, den Habitus der Bewohner durch eine kalkulierte Planung ihres Habitats zu verändern.7 Die Machines d’habitations hatten maßgeblichen Anteil an der Konstruktion eines montierten Menschen. Dies zeigt in klar4 Sergej Tretjakow, „Der neue Lew Tolstoi“ (1927), in: ders., Lyrik, Dramatik, Prosa, Leipzig 1972, S. 191-196, S. 194. 5 Aleksej Gan, „Der Konstruktivismus“, in: Am Nullpunkt, S. 277-365, S. 318. 6 Ilja Ehrenburg, Und sie bewegt sich doch, Moskau/Berlin 1922, Reprint Baden 1986, S. 69. 7 In Rußland untersuchte so etwa die ASNOVA (Vereinigung Neuer Architekten) ganz explizit „den Einfluß formaler Aspekte der Architektur auf die menschliche Psyche“ (Christian Borngräber, „Neue Lebensweise der Produktionskollektive in sozialen Kraftwerken“, in: „Kunst in die Produktion!“ Sowjetische Kunst während der Phase der Kollektivierung und Industrialisierung 1927-1933, Berlin 1977, S. 158-183, S. 166). Ein wichtiger Vertreter war Konstantin Melnikow.
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ster und schärfster Abbreviatur ein Interview mit dem Architekten, Urbanisten und Künstler Iwan Leonidow aus dem Jahr 1929: „Frage: Wie organisieren Sie die Emotionen der Menschen? Antwort: Die Emotionen, die Gefühle sind durchaus nichts Abstraktes, was sich wissenschaftlich nicht organisieren läßt. Und Organisation der Emotionen und Gefühle heißt vor allem, ihr Bewußtsein zu organisieren. […] Frage: Halten Sie es für nötig, Empfindungen der Zuschauer zu organisieren? Antwort: Es geht nicht darum, Empfindungen der Zuschauer zu organisieren, sondern die gesamte Organisation ihres Bewußtseins. Das Auge ist ein genauer Mechanismus, der dem Bewußtsein das Gesehene übermittelt.“8 Damit ist zugleich die Aufgabe der Medientechniken in Zeiten des montierten Menschen in hinlänglicher Deutlichkeit benannt. „Ein neuer Mensch muss geschaffen werden“, schreibt Sergei Tretjakow, und liefert damit die Formel einer neuen Ästhetik, die nicht länger auf Abbildung und Mimesis, sondern auf Organisation und Konstruktion setzt.9 Nicht Reproduktion, Produktion ist das ästhetische Gebot der Stunde. Das mag arg nach Agitprop klingen (und ist auch so gemeint), trifft aber auf die bürgerlichen Medientechniken in ähnlicher Weise zu. Ästhetische Empfindungen sollen zu planbaren Emotionen und Reaktionen umcodiert und die Form-InhaltUnterscheidung durch eine funktionale Produktionsästhetik aufgehoben werden. Diese hat umgekehrt, wie bereits gesehen, auch eine ausgeklügelte Rezeptionsästhetik als notwendiges Korrelat. „Jedes Werk […] muss auf seinem Rücken möglichst viel Schmuggelware in das Bewusstsein des Konsumenten tragen. […] Im Vordergrund steht […] der Kampf um eine bestimmte Struktur von Empfindungen, Gefühlen und Handlungsweisen des Menschen, um seine psychische Form.“10 Das ist letztlich eben auch der Effekt, auf den Henry Ford mit seinem „weißen Sozialismus“ und der Fließbandtechnik, aber auch die Kaffee-Hag-Werbung, die neusachliche Photographie eines Renger-Patzsch und die Photomontagen eines Heartfield zielen. Die „‚Amerikanisierung‘ der Persönlichkeit und zugleich Elektrifizierung der Industrie“ nennt das im tiefsten Rußland Sergei Tretjakow und will zugleich die Kunst in die unmittelbare Produktion des Alltags überführen.11 Es geht um nichts Geringeres als um „die Auflösung der Kunst im Leben, die bewusste Reorganisation der Sprache im Hinblick auf den neuen Alltag und den Kampf um das emotionale Training der Produzenten-und-Konsumenten-Psyche“.12 Die technischen Medien sind ein Mittel im politisch-ästhetischen Kampf.
8 Interview mit Iwan Leonidow (1929), zit nach: Borngräber, „Neue Lebensweise der Produktionskollektive in sozialen Kraftwerken“, S. 158-183, S. 176. 9 Sergej Tretjakov, „Perspektiven des Futurismus“, S. 269. 10 Ebd., S. 267f. 11 Ebd., S. 270. 12 Ebd., S. 171.
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Aus dem weiten Feld der Medientechniken wurden vier Bereiche ausgewählt, um die Montage-Logiken dieser technisch-ästhetischen Produktion zu verdeutlichen. Mit Dsiga Wertow und Sergei Eisenstein werden zwei Regisseure vorgestellt, die auf je unterschiedliche Weise den Film als dezidierte Psychotechnik zu begreifen und zu nutzen versuchen. Stellvertretend für die Photographie wird die Technik als Gegenstand und Verfahren in den Blick genommen und zwar anhand von Margaret Bourke-White und Germaine Krull, die ihrerseits unterschiedliche politische Lager repräsentieren. Ergänzt wird dieses Kapitel durch die über Walter Benjamins berühmt gewordene Kritik an Albert Renger-Patzsch mitsamt ihren Spielformen. Am Ende steht eine Rekonstruktion der verschiedenen Strategien der Photomontage von den späten 1910er bis hin in die 1930er Jahre.
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1. Film und Montage in Rußland
„ARBEIT. KLARHEIT. ORGANISATION. In dieser Dreifaltigkeit ist das Glaubensbekenntnis der neuen Kunst.“1 Ilja Ehrenburg
Spricht man von der Montage im Bereich der Medien, so denkt man vermutlich zuallererst an den Film. Die Montage gehört zu seinen ureigensten Verfahren, zu den Techniken, die es ihm gestatten, aus Bildern Geschichten zu machen, von denen nicht wenige dann auch von der Technik handeln. Ihre Strategien wurden insbesondere in den russischen Avantgardefilmen entwickelt, von denen bereits mehrfach die Rede war. Zwei ihrer zentralen Positionen, jene von Dsiga Wertow und Sergei Eisenstein, werden im folgenden exemplarisch vorgestellt, um deutlich zu machen, daß das ästhetische Verfahren nicht nur notwendig ein technisches ist, sondern auch mit Strategien der Psychotechnik und Reflexologie verknüpft ist.2 Der Film „ist selbst Technik. ER IST SELBST MASCHINE“,3 konstatiert Ilja Ehrenburg, um sogleich hinzuzufügen: „Der Film ist der MOTOR der Bilder, der Bewegungen, der Emotionen, des Lebens.“4 Genau darum geht es dem russischen Avantgardefilm: um Strategien der Verkettung von Technik und Ästhetik, von Bildern und Emotionen, von Photographien und Geschichten. Er ist durch und durch technisch, kalkuliert, konstruiert und es kommt ihm weiterhin darauf an, mithilfe von technischen Bildern eine regelrechte Psychotechnik auszubilden, die weit über die Modelle der deutschen Arbeitswissenschaft hinausgingen. Das war der Kern der berühmten Kuleschow-Experimente, die so etwas wie die Blaupause weitergehender Montagetechniken darstellen. Nicht das Einzelbild ist entscheidend, sondern eben die Montage, die Technik der Verkettung technischer Bilder, um so bestimmte kalkulierbare Effekte zu erzielen. Das ist der Kuleschow-Effekt, dessen Möglichkeiten dann Regisseure wie Pudowkin, Eisenstein oder Wertow un1 Ilja Ehrenburg, Und sie bewegt sich doch, Moskau/Berlin 1922, Reprint Baden 1986, S. 69. 2 Zur Geschichte und Theorie des Reflex-Begriffs vgl. Barbara Wurm, „‚Streng genommen reflexartig‘. Ivan Michajlovič Sečenov und die Gründungsmythen des ‚russischen ReflexImperiums‘“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, Bd. 32, 2009, S. 14-35. 3 Ebd., S. 145. 4 Ebd., S. 146.
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ter Rückgriff auf eine Fülle weiterer filmferner Theorien auszuloten suchten. „Seite an Seite mit dem Wissenschaftler muss der Kunstarbeiter ein Psycho-Ingenieur, ein Psycho-Konstrukteur werden.“5 Das gilt dann auch für den Regisseur als KünstlerTechniker. Daß die neue technische Welt, die Industrialisierung Rußlands, den Gegenstand vieler dieser Filme darstellt, kommt nicht von ungefähr, denn die Technik ist das Bilderreich, aus dem sich seine ästhetischen Visionen speisen.
1.1 Dsiga Wertow: Der Film als reflexologisch-politisches Laboratorium „Die Dechiffrierung des Lebens, wie es ist. Einwirkung auf das Bewußtsein der Werktätigen mit Fakten.“6 Dsiga Wertow
Dsiga Wertows erster Tonfilm ENTHUSIASMUS. DONBASS SYMPHONIE7 aus dem Jahr 1930, der neben EIN SECHSTEL DER ERDE von seinen Filmen wohl am emphatischsten die Industrialisierung Rußlands feiert, beginnt mit einer eigentümlichen Einstellung: Wir sehen eine junge Frau unter einem Baum sitzen, die sich einen Kopfhörer aufsetzt. Der Raum der Natur, der vermeintliche locus amoenus, der hier in Szene gesetzt wird, ist bereits ein Ort der technischen Fernwirkung. Um die Effekte der Technik als Medientechnik und um die der Technisierung des Landes geht es dann in Wertows Film, dessen Titel deutlich macht, daß es hierzu nur eine Einstellung geben kann: die des Enthusiasmus. Und dann hören wir das, was diese Frau hört. Wir sehen sie beim Hören, und es ist fast so, als ob wir uns selber dabei betrachten sollen, wie wir sie beim Hören sehen, und sehen dann sogleich Bilder, bei denen wir uns fragen, ob sie auch sieht, was wir sehen: Bilder zu der klassischen Musik, mit der der Film beginnt und die dann von Kuckucksrufen und Glockenschlägen abgelöst wird. „Wir sehen“, so Oksana Bulgakowa, „quasi das, was die Person im Film hört, so als ob die Wahrnehmungskanäle umgepolt wären. Das Auge und das Ohr tauschen die Plätze“.8 Die Frau hat mittlerweile – bei der nächsten Einstellung – die Kopfhörer wieder abgesetzt und lauscht einer musique concrète, Geräuschen, die von Naturlauten in Glockengeläut, d.h. in kulturelle Zeichen
5 Sergej Tretjakov, „Perspektiven des Futurismus“, S. 270. 6 Dziga Vertov, Schriften zum Film, München 1973, S. 28. 7 Dziga Vertov, ENTUZIASM (SIMFONIJA DONBASSA), 1930 (1972), 65‘, Österreichisches Filmmuseum (Wien) 2005 (= Edition filmmuseum 01). 8 Oksana Bulgakowa, „Vertov und die Erfindung des Films zum zweiten Mal“, in: Natascha Drubek-Meyer/Jurij Murašov (Hg.), Apparatur und Rhapsodie. Zu den Filmen des Dziga Vertov, Frankfurt/Main u.a. (= Berliner Slawistische Arbeiten, Bd. 8), S. 103-118, hier S. 104.
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Abb. 2-3 und 4 Dsiga Wertow, ENTUZIAZM (SIMFONIJA DONBASSA), ENTHUSIASMUS (DONBASS SINFONIE), RUS 1930
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Abb. 2-5 bis 2-8 Dsiga Wertow, ENTUZIAZM (SIMFONIJA DONBASSA), ENTHUSIASMUS (DONBASS SINFONIE), RUS 1930
übergehen.9 Und dann ertönt plötzlich eine Stimme aus dem Radiogerät, das vor ihr steht, die die Frau und den Zuschauer zur Aufmerksamkeit aufruft: „Achtung! Achtung! Hier spricht Radio Leningrad.“ Die Frau setzt wieder die Kopfhörer auf und nun erfährt sie und erfahren wir, was wir hören und was wir bereits gehört haben: den Marsch „Der letzte Sonntag“ aus der DONBASS SYMPHONIE – und das ist der Film, den wir gerade sehen. Die Frau hört ein zweites Mal die Musik, die bereits zu Beginn ertönte, und ein zweites Mal beginnt das Vexierspiel zwischen Hören und Sehen – nun aber in einer mise-en-abyme-Konstellation: Die Tonspur des Films, den wir sehen, erscheint im Film als Radioübertragung. Die DONBASS SYMPHONIE, die wir sehen werden und deren Beginn wir bereits sehen, wird bereits im Radio ausgestrahlt und ist dort hörbar. Und der Film beginnt ein zweites Mal. Ich sehe was, was Du auch hörst. Und das ist Programm. Er wird uns einerseits in recht kruder Agitpropmanier erst die Überwindung der Religion als Wodka für das Volk – so suggeriert es uns zumindest eine Parallelmon9 Zur Musik in Wertows Film ENTHUSIASMUS vgl. Richard B. Wedgewood: Dziga Vertov’s ENTHUSIASM: Musique Concrète in 1930 (http://symposium.music.org/cgi-bin/m_symp_ show.pl?id=223 vom 12. Januar 2007).
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Abb. 2-8a bis 2-8c Dsiga Wertow, ENTUZIAZM (SIMFONIJA DONBASSA), ENTHUSIASMUS (DONBASS SINFONIE), RUS 1930
tage von Gläubigen und Betrunkenen – und einer Verwandlung der orthodoxen Kirchen in Klubs für die Arbeiterjugend und Kinos vor Augen und vor Ohren führen, um dann detailliert die Bewältigung einer Produktionskrise in der DonbassRegion zu schildern, bei der es dank des Enthusiasmus der Stoßarbeiter und einer gemeinsamen Tat der Werktätigen erst zu einer Übererfüllung des Fünfjahresplans kommt und dann auch noch dazu, daß die Stahlarbeiter bei der Ernte helfen. Die Stachanow-Bewegung zur Steigerung der Arbeitsproduktivität findet hier ihr filmisches Manifest. Wertow selbst beschreibt den Film als den Weg von den Schatten der Vergangenheit mit einem „revolutionären Sprung“ zum Fünfjahresplan des sozialistischen Aufbaus.10 Es geht ihm, mit anderen Worten, um eine Feier der Technik, deren Möglichkeiten und Konsequenzen ausbuchstabiert werden. Dsiga Wertows Film ist eine komplexe technische Medienreflexion, der Film als Technik zu begreifen versucht. ENTHUSIASMUS wird daher andererseits eben auch eine komplexe visuell-auditive Symphonie aufführen, bei der die gesellschaftliche Analyse und das sozialistische Programm auf Phänomene der Wahrnehmung, des Rhythmus, 10 Dziga Vertov, „Donbassymphonie“ („ENTHUSIASMUS“), in: ders., Schriften zum Film, S. 126.
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der Serie, der Synchronizität und Asynchronizität, der Komposition und nicht zuletzt der Montage heruntergebrochen und in spezifischer Weise eingesetzt werden. Der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm korrespondiert auf besondere Weise mit dem Pathos des revolutionären Umbruchs, das diesen – wie auch allen anderen Filme Wertows – auszeichnet.11 Der Film als Experiment Die Eingangssequenz von Wertows ENTHUSIASMUS läßt sich dementsprechend als komplexe Experimentalanordnung deuten, als filmische Inszenierung eines psychotechnischen Experiments. Dabei kann man einer Selbstbeschreibung Wertows folgen, der sein eigenes Filmschaffen explizit als „schöpferisches Laboratorium“12 bezeichnete. In diesem Experiment geht es, wie wir sehen werden, um eine Reihe von überaus implikationsreichen Fragen, die in den wenigen Sekunden der Eingangssequenz von ENTHUSIASMUS bereits angedeutet sind. Es geht um die Beziehungen zwischen Bild und Ton, Natur und Kultur, Radio und Kino, Beobachtung und Beobachtetem und um jene zwischen der Tradition und der industriellen wie medialen Revolution. Es geht aber auch um die Funktion der Massenmedien wie Radio und Film, um die Rolle der Montage, um die Beziehung zwischen den Figuren im Film und dem Zuschauer, um neue Formen des Hören- und Sehenlernens und nicht zuletzt um den Film als eine, so Ilja Ehrenburg über Wertow, „Laboranalyse der Welt“.13 Dabei ist es keineswegs selbstverständlich, den Film als Experiment und, um Ute Holl zu zitieren, den Kino-Apparat als „epistemologisches Gerät“14 zu bestimmen. Um dies tun zu können, müssen erst einmal die epistemologischen Grundlagen dieser Bestimmung rekonstruiert werden. Es geht, mit anderen Worten, um die Frage, welches erkenntnistheoretische Programm dem Film 11 Zu Vertov vgl. Dziga Vertov. Die Vertov-Sammlung im Österreichischen Filmmuseum, hg. vom Österreichischen Filmmuseum und Barbara Wurm, Wien 2006; Hermann Herlinghaus (Hg.), Dsiga Wertow: Aufsätze, Tagebücher, Skizzen, Berlin (Ost) 1967; film. Eine deutsche Filmzeitschrift, Bd. 4 (1965), S. 56-60. Ein detaillierter Überblick über die Publikationen von und über Wertow findet sich in: Dziga Vertov, Tagebücher/Arbeitshefte, hg. von Thomas Tode und Alexandra Gramatke, Konstanz 2000 (= CLOSE UP. Schriften aus dem Haus des Dokumentarfilms, Bd. 14), S. 245-262; dort auch eine „Bio-Filmographie“ (S. 201-244). Deutlich umfangreicher: Seth R. Feldman, Dziga Vertov. A Guide to References and Resources, Boston/Mass. 1979 12 Vertov, Tagebücher, S. 71. 13 Ilja Ehrenburg, Materialisierung der Phantastik, Moskau/Leningrad 1927: „Die Arbeiten Vertovs […] sind eine Laboranalyse der Welt, kompliziert und quälend.“ Und weiter: „Die ‚Kinoki‘ nehmen die Realität und verwandeln sie in gewisse Grundelemente, vielleicht in ein Alphabet des Films. Inzwischen ist jedem klar, daß die ‚Kinoki‘ das Alphabet des Films nicht um des Alphabets willen geschaffen haben. Sie haben es gezeigt, um die Wahrheit zu zeigen.“ Zit. nach: Vertov, Tagebücher, S. 27. 14 Ute Holl, Kino, Trance und Kybernetik, Berlin 2002, S. 288.
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und seiner spezifischen Ästhetik als Aufgabe zugewiesen wird. Erst so werden wir die Experimentalanordnung der Eingangssequenz von ENTHUSIASMUS mit all ihren Implikationen angemessen deuten können. Wie haben die Zeitgenossen Wertows Filme gehört und gesehen? Eine Reaktion auf eine Aufführung seines neuen Films notiert Wertow nicht ohne Stolz in seinem Notizbuch – es ist die von Charles Chaplin: „Ich hätte nie gedacht“, schreibt Chaplin, „daß industrielle Töne sich so organisieren lassen, daß sie schön erscheinen. Ich halte ENTHUSIASM für eine der aufregendsten Sinfonien, die ich je gehört habe. Mister Dsiga Wertow ist ein Musiker. Die Professoren sollten von ihm lernen und nicht mit ihm streiten. Gratuliere. Charles Chaplin.“15 Chaplin spricht – und das mag durchaus überraschen – nicht von den Bildern und auch nicht von der überaus komplexen Interferenz von Bild und Ton, sondern einzig von den Tönen und genauer von den industriellen Tönen. ENTHUSIASMUS scheint in den Augen Chaplins nur aus Tönen zu bestehen, und Wertow wird nicht als Regisseur, sondern eben als Musiker, als Komponist gewürdigt, der Industrie in Kunst und industrielle Töne in Musik zu verwandeln vermag. Wertow seinerseits war, das sei angemerkt, überaus stolz darauf, „zum ersten Mal in der Welt dokumentarisch die Geräusche und Klänge des industriellen Reviers (Klänge der Schächte, Werke, Züge usw.) fixiert“16 und „die erste industrielle Sinfonie der Welt“17 geschaffen zu haben – was in der Tat seinerzeit eine höchst ungewöhnliche Leistung darstellte, da gemeinhin die Tonspur des Films im Studio erstellt wurde.18 Zeitgenossen berichten, daß Wertow auch später bei den Aufführungen die Tonübertragung persönlich überwachte. Während der Probe stellte er sie auf normale Lautstärke, aber während der Aufführung setzte er die Lautstärke so hoch, daß das Gebäude unter dem Ansturm der Geräusche zu zittern schien.19 Genau umgekehrt fällt Hans Richters Beschreibung von Wertows Filmen aus. Obwohl er durchaus auf Experimente, wie etwa Walter Ruttmanns MELODIE DER WELT (1929) und seiner Tonmontage WEEK-END (1930) hinweist, beschreibt er Wertows Arbeit als eine Sammlung von Bildern, die Wertow wie Spuren eines Tatorts sichere.20 Erst in der Komposition dieser bildlichen Elemente entdeckt Wer15 Zit. nach: Vertov, Tagebücher, S. 22. 16 Vertov, „Wir erörtern den ersten Tonfilm von ‚Ukrainfilm‘: ‚Donbassymphonie‘“, in: ders., Schriften zum Film, S. 124. 17 Ders., Tagebücher, S. 164. 18 Vgl. dazu ausf. Michel Chion, Un art sonore, le cinéma. Histoire, esthétique, poétique, Paris 2003. 19 Vgl. Thorold Dickinson und Catherine de la Roche, Soviet Cinema, London 1948, zit. nach: Vertov, Tagebücher, S. 23. 20 Vgl. zum Topos des Tatorts auch die einschlägigen Passagen in: Walter Benjamin, „Kleine Geschichte der Photographie“, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann [= GS], Frankfurt/Main 1972 ff., Bd. II, S. 368-385.
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tow, so Richter, eine „Kontinuität oder Musikalität der Bewegungsvorgänge“ und bringt „Bewegungsverwandtschaften“ bildlich zum Klingen: „Traf es sich aber einmal, daß zusammenpassende Bewegungsrhythmen zufällig aufeinandertrafen, so ‚klang‘ das Bild, und es entstand etwas einer Melodie Vergleichbares.“21 Nun sind es die Bildern, die auch ohne Ton zu klingen beginnen und zwar aufgrund einer Form der visuellen Rhythmisierung, die die eigentliche Entdeckung der Montage ist. „Auf dieser rhythmisch-musikalischen Grundlage“, so Richter, „entstand der erste reine Filmstil, eben die Montage.“22 Die Entdeckung der Montage ist die des Rhythmus und der Zeit als dem Elementaren des Films. Auch Rudolf Arnheim widmete Wertows ENTHUSIASMUS eine Besprechung mit dem Titel „Die Russen spielen“.23 Arnheim interessiert sich hierbei allerdings weder für die Bilder noch für die Töne, sondern vielmehr für eine spezifische Haltung, die der Zuschauer einnehmen muß, um den Film angemessen und im Wortsinn „enthusiastisch“ betrachten zu können. Enthusiasmus beansprucht, so Arnheim, als ein Film ohne Handlung, bei dem die Gestaltung allein über die Montage bestritten werden soll, stark „die Nerven der Zuschauer“.24 Und weiter: „Zum ersten Mal empfindet man, daß das deutliche Manko einer solchen Filmvorführung nicht auf der Leinwand, sondern im Zuschauerraum zu suchen ist“. Der Film benötigt die Resonanz eines Zuschauers, der seine eigene Arbeit, seine eigene Wirklichkeit dort gestaltet findet. Und so habe Wertow, wie Arnheim von einem Gespräch mit ihm berichtet, ein Film vorgeschwebt, „dessen Figuren ins Publikum hineinzulaufen schienen oder leibhaftig hineinliefen.“25 Der Enthusiasmus der Figuren muß, um wirken zu können, sein Korrelat im „tätigen Enthusiasmus der Zuschauer“ haben, und genau dieser bleibe aus, wenn der Film eben in Berlin und Paris und nicht wie bei der Erstaufführung Anfang 1930 in Kiew anläßlich des Jahrestages der Oktoberrevolution aufgeführt wird.26 Ohne diesen spezifischen Kontext erweise sich der
21 Hans Richter, „Revolutionäre Technik“, in: Der Kampf für den Film, München 1976, S. 3437, zit. nach dem Wiederabdr. in: Klemens Gruber (Hg.), Verschiedenes über denselben. Dziga Vertov 1896-1954, Wien u.a. 2006 (= Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Beiheft 18), S. 32f., hier S. 32. 22 Hans Richter, „Der Mann mit der Kamera“, in: ders., Köpfe und Hinterköpfe, Zürich 1967, S. 115-188, zit. nach dem Wiederabdr. In: Gruber (Hg.), Verschiedenes, S. 17-19, hier S. 18. Richter vergleicht Wertows Arbeit mit seinen eigenen Experimenten und jenen Viking Eggelings und hebt die Bedeutung der einschlägigen Publikationen in der Avantgarde-Zeitschrift G hervor, deren Herausgeber er war. 23 Rudolf Arnheim, „Die Russen spielen“, in: Die Weltbühne, Nr. 39, 29.9.1931, S. 485-489, zit. nach dem Wiederabdr. in: Gruber (Hg.), Verschiedenes, S. 29f. 24 Vgl. ebd. 25 Vgl. ebd. 26 Vgl. Thomas Tode, „Ein Russe auf dem Eiffelturm. Dziga Vertov in Paris“, in: DrubekMeyer und. Murašov (Hg.), Apparatur und Rhapsodie, S. 43-72, hier S. 62. Hier (S. 65f.) werden auch einige zeitgenössische Reaktionen aufgeführt.
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Abb. 2-9 Walter Ruttmann, BERLIN – DIE SINFONIE DER GROSSSTADT, D 1929
Film, so Arnheim polemisch, als das mehr gewollte als gekonnte Ergebnis eines „Amateurbastlers der Philosophie“.27 Siegfried Kracauer schließlich entdeckt in Wertows Film eine „Glorifizierung des Lebens, insoweit dieses Bewegung, Rhythmus ist“28 und schließt dabei auf den 27 Arnheim, „Die Russen spielen“, S. 30. 28 Siegfried Kracauer, „‚Marseiller Entwurf‘ zu einer Theorie des Films“, in: ders., Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit (= Werke, Bd. 3, hg. von Inka Mülder-Bach), Frankfurt/Main 2005, S. 521-779, hier S. 729.
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ersten Blick an Richter an. Gleichwohl hat diese Beobachtung eine besondere Pointe, da Kracauer in einer Besprechung von Der Mann mit der Kamera die Bedeutung des Rhythmus wiederaufnimmt, diesen aber als „Rhythmik eines Ganzen“29 bestimmt, die immer auch mit dem Kollektivleben verbunden sei. Dem Film geht es um eine spezifische Interpretation der Wirklichkeit und um eine besondere Form der Übersetzung. Zum einen „gewinnt Wertow durch die Montage dem Zusammenhang der Wirklichkeitssplitter einen Sinn ab“ und interpretiert das Nebeneinander, „indem er es darstellt.“30 Der Rhythmus der gestalteten Phänomene ist, so könnte man sagen, der Effekt der filmischen Montage, die diese Gegenstände interpretiert. Der Film konstruiert durch diese Verbindung von Einzelphänomenen ein Ganzes. Zum anderen zielt diese Interpretation der Gegenstände auf eine Bemächtigung des Kollektivs, die gerade durch die Beziehung zwischen dem Gegenstand und dem „Kinoauge“ geleistet werden soll. Der Rhythmus des durch die Kamera eingefangenen und konstruierten Lebens hat sein Korrelat im Kollektiv: „Das Kino-Auge erfüllt bei ihm“, so Kracauer, „eine metaphysische Funktion. Es greift unter die Oberfläche“31 und wirft zugleich „uralte Fragen [auf ], die den Sinn der Kollektivexistenz so gut wie den des einzelnen Menschen betreffen.“32 Der Film durchbricht die Oberfläche der dargestellten Gegenstände, um so eine Übersetzung zwischen Individuellem und Allgemeinen zu leisten. Ziehen wir eine erste Zwischenbilanz: Bei Wertows ENTHUSIASMUS haben wir es offenbar erstens mit einem Film zu tun, bei dem Bilder zu Tönen und Töne zu Bildern werden können. Ob nun aber für die Zuschauer die Bilder oder die Töne überwiegen, in beiden Fällen sind die Montage und der Rhythmus entscheidende Faktoren für den, so könnte man sagen, synästhetisch-performativen Effekt der filmischen Symphonie, der durch das Drehen an den Lautstärkereglern noch unterstützt wird. Wir sind zweitens mit einer Art Wechselwirkung von Film und Betrachter konfrontiert, die Arnheim auf den Begriff der Resonanz brachte. Wertows ENTHUSIASMUS versucht sich an einer Überwindung der Distanz zwischen Film und Betrachter. Diese Wechselwirkung kann drittens als doppelte Bewegung einer Assoziation betrachtet werden: Einerseits leistet der Film eine Interpretation der einzelnen Gegenstände, indem er sie in ein rhythmisches Ganzes überführt. Im Film werden so auch die Gegenstände, die Welt der Dinge und der Industrie, der leblosen Materie mit der Lebenswirklichkeit des Menschen, mit dem Organischen und nicht zuletzt auch mit dem Leben des Kollektivs assoziiert. Andererseits unternimmt der Film im Gegenzug auch eine Übersetzung vom Besonderen zum Allgemeinen, vom In29 Ders., „Der Mann mit dem Kinoapparat“, in: ders., Kleine Schriften zum Film, Bd. 2, 19281931 (= Werke, Bd. 6.2, hg. von Inka Mülder-Bach), Frankfurt/Main 2004, S. 247-251, hier S. 247. 30 Vgl. ebd., S. 248. 31 Vgl. ebd., S. 249. 32 Vgl. ebd., S. 250.
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dividuum zum Kollektiv gerade indem er die Oberfläche der Erscheinungen durchbricht. Wertows Filmtheorie nimmt alle diese Elemente in vielerlei Hinsicht auf und spitzt sie zu. Wertows Filmtheorie Dsiga Wertow macht keinen Hehl aus dem revolutionären Anspruch seiner Filme – und das ist durchaus auf mehreren Ebenen zu verstehen. Es geht ihm in allen Bereichen seiner filmischen Arbeit um Revolution: um eine Revolution der Kunst, der Wahrnehmung, des Menschen und auch der Gesellschaft. Und dabei konnte er sich auf Lenin berufen, der die besondere Bedeutung des Kinos für die Revolution unterstrich und zu einer „Kinofizierung“33 aufrief.34 Und so faßt Wertow auch seine Beschreibung der Entstehung der DONBASS SYMPHONIE in revolutionäre Pathosformeln: „Wir zogen aus zum Sturm der Klangwelt des Donbass.“35 Und dort angekommen wird die ganze Welt der Industrie aufgenommen: „Tief unter der Erde kriechend, in Schächten, auf Dächern dahinrasender Eisenbahnzüge drehend, haben wir endgültig mit der Starrheit der Tonaufnahmekamera Schluß gemacht und zum ersten Mal in der Welt dokumentarisch die Geräusche und Klänge des industriellen Reviers (Klänge der Schächte, Werke, Züge usw.) fixiert“36 und dabei nicht die „simpelste Deckung von Bild und Ton“, sondern „komplizierte Wechselwirkungen von Bild und Ton“37 erreicht. Diese emphatische Selbstbeschreibung der filmischen Entdeckungsreise in die Industrielandschaft des Donbass, die auch in zahlreichen Propagandaschriften photographiert und beschrieben wird, folgt gleichwohl dem Kompaß seiner frühen Filmtheorie, deren zentrale Elemente in diesen wenigen Zeilen versammelt sind: die Mobilität, die der Starrheit gegenüberstellt wird, die Bedeutung des Dokumentarischen, für die sich Wertow zeitlebens konsequent einsetzte, und schließlich die komplizierten Wechselwirkungen, die die Montage in Bild und nun auch Ton auszuloten sucht. Bereits in seiner Propagierung der Kinoki-Bewegung faßte er den Film als Eindringen in die Fülle der Phänomene mittels der Bewegung: Der Kameramann ist 33 So die schöne Formel von Michael Hagner und Margarethe Vöhringer in ihrem Aufsatz: „Vsevolod Pudovkins Mechanik des Gehirns – Film als psychophysisches Experiment“, in: Michael Hagner, Der Geist bei der Arbeit. Historische Untersuchungen zur Hirnforschung, Göttingen 2006, S. 124-142, hier S. 124. Vgl. auch Margarethe Vöhringer, Avantgarde und Psychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der frühen Sowjetunion, Göttingen 2007. 34 Vgl. dazu die ausführliche Dokumentation: Günther Dahlke und Lilli Kaufmann (Hg.), LENIN über den Film. Dokumente und Materialien, München 1971. 35 Vertov, Schriften zum Film, 123. 36 Vgl. ebd., S. 124. 37 Vgl. ebd., S. 125. Vg. auch Rudolf Arnheim, Film als Kunst, Frankfurt/Main 2002.
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immer unterwegs und überall und jederzeit im Wortsinn aufnahmebereit. Er zeichnet die vielfältigen kinetischen Phänomene kinematographisch auf und dies erst einmal ohne vorgefaßten Plan, ohne Handlungsanweisung und vor allem ohne Drehbuch, das ihm einen festen Ablaufplan auferlegen würde. Paradoxerweise könne nur so vermieden werden, daß man sich im Chaos der Erscheinungen verliere; nur so könne man sich, im Gegenteil, in den Verhältnissen, in die man geraten ist, zurechtfinden.38 Bewegung verspricht Orientierung, und zwar post hoc mittels der Organisation durch die Montage – einer Organisation, die sich wiederum einer Arbeit der Bilder verdankt, die das bewegliche technische Auge aufgezeichnet hat. Und so zeigen uns Filme wie DER MANN MIT DER KAMERA (1929) oder KINOAUGE (1924) in einer anderen Mise-en-abyme-Struktur einerseits den irrlichternden Weg eines Mannes mit seiner Kamera durch die unaufhörliche Flut des Großstadtlebens, in dem er in immer neuen bis dahin ungesehenen Einstellungen und Blickperspektiven das Leben und die Bewegung in Bildern einzufangen sucht: Man sieht ihn auf einem fahrenden Zug, im Auto, auf den Dächern, usw. Andererseits wird aber auch die Kamera mit ihren technisch-ästhetischen Möglichkeiten in den Blick genommen. Wertow zeigt den Schnitt des Films am Schneidetisch und in einer Montage, die den Weg vom Brot zurück auf das Weizenfeld in eine Sequenz faßt. Er zeigt den Blick auf die Linse und durch sie und bestimmt diese in emphatischer Weise als Objektiv: Bereits in dem frühen Manifest „Kinoki-Umsturz“ von 1922 proklamiert Wertow diese Befreiung der Kamera aus der Unterwerfung unter das Auge, die er durchaus mit anderen Theoretikern seiner Zeit wie etwa Rodtschenko oder auch Moholy-Nagy teilt.39 „Der Ausgangspunkt ist: die Nutzung der Kamera als Kinoglaz, das vollkommener ist als das menschliche Auge, zur Erforschung des Chaos von visuellen Erscheinungen, die den Raum füllen.“40 Diese visuellen Erscheinungen verlaufen aber, so will es seine Theorie, eben nicht chaotisch, sondern unterliegen ihrerseits bestimmten Regeln und Gesetzmäßigkeiten, die darzustellen die Aufgabe des Films und genauer der Montage ist. Sie hat das „System scheinbarer Ungesetzmäßigkeiten“ in den Blick zu nehmen, und in ihm die Erscheinungen als „System aufeinanderfolgender Bewegungen“41 zu erforschen und zu organisieren. Es geht darum, dank der dem Objektiv in Bewegung zugeschriebenen Objektivität ein objektives Gesetz der Erscheinungen zu visualisieren und dem menschlichen Blick als filmisch organisierte Erscheinung zurückzugeben. Der Filmzuschauer sieht eine neue Organisation der Welt, die gleichwohl objektiv ist. Es geht, in den Worten Wertows, um eine Organisation der „Details zu einer gesetzmäßigen Montageetüde“,42 die eine „neue Wahrnehmung der Welt“ ermöglichen soll: Die bekannte Welt erweist sich im Durchgang durch das Objektiv als 38 Vgl. Vertov, Schriften zum Film, S. 11. 39 Vgl. dazu ausführlich Jan Sahli, Filmische Sinneserweiterung. László Moholy-Nagys Filmwerk und -theorie, Marburg 2006. 40 Vertov, Schriften zum Film, S. 15. 41 Vgl. ebd., S. 17. 42 Vgl. ebd.
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Abb. 2-10 bis 2-13 Dsiga Wertow, KINOGLAZ, KINO-AUGE, RUS 1924
eine nur vermeintlich bekannte, die mittels der filmischen Transformation anders, in neuer Gestalt und mit nun sichtbar gewordenen Regeln erkannt werden kann: „So dechiffriere ich aufs neue die euch unbekannte Welt.“43 Film ist somit eine visuelle und zugleich experimentelle Entzifferungskunst der Gesetze des Lebens: „Im
43 Vgl. ebd., S. 20.
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Prozeß der Beobachtung und Aufnahme klärt sich nach und nach das Chaos des Lebens. Nichts ist zufällig. Alles ist gesetzmäßig und erklärbar.“44 Die Montage wird dabei ihrerseits als ein mehrstufiger Prozeß der Abstraktion und Selektion beschrieben, bis, so Wertow, „die aus dem Leben gerissenen Teilstükke zu einer visuell-sinnerfüllten rhythmischen Reihe […], zu einer visuell-sinnerfüllten Formel, zu einem extraktförmigen ‚ich sehe‘“ organisiert werden können.45 In einer ersten Phase dient die Montage einer Bestandsaufnahme aller dokumentarischen Gegebenheiten, die dann in einer zweiten als reflektierte Beobachtungen zusammengefaßt werden. Bereits diese Beobachtung wird dabei als Analyse vorgestellt, die dann, indem die langen Sequenzen in kleine Abschnitte unterteilt werden, in eine analytische Synthese und schließlich, wenn die einzelnen Abschnitte neu zusammengesetzt werden, in eine Synthese der Analyse übergeht. In einer dritten und abschließenden Phase ergibt sich dank der montierten Teilstücke eine „rhythmische Reihe, in der alle Sinnverkettungen mit den visuellen Verkettungen zusammenfallen“46 und so eine „visuelle Gleichung“, „eine visuelle Formel“47 entsteht. Im Übergang von der zweiten zur dritten Phase kommt auch dasjenige Moment zum tragen, das von Filmtheoretikern wie Jacques Aumont,48 aber auch in den Kinobüchern von Gilles Deleuze als theoretischer Zentralbegriff Wertows ausgemacht wird: das Intervall. Das Intervall ist eine „zwischenbildliche Bewegung“, eine „zusammengesetzte Größe“.49 Es kann eine zeitliche (als Dauer, die sich zwischen zwei Augenblicken erstreckt), räumliche (als Abstand zwischen zwei Punkten) oder musikalische Dimension (als Beziehung zwischen zwei Tönen) annehmen. Das Intervall ist eine relationale Kategorie, eine Logik der Leerstelle, die Eisenstein mit anderer Zielrichtung auch für seine Montagetheorie und insbesondere für seine Konzeption einer dialektischen Montage nutzen wird.50 Das Intervall, so Gilles Deleuze, dient zur „Herstellung einer Wechselbeziehung zwischen zwei weit auseinanderliegenden, aus der Perspektive menschlicher Wahrnehmung inkommensurablen Bildern“51 und ist „ein Ort der Konfrontation, der Gegenüberstellung.“52
44 45 46 47 48 49 50
Vgl. ebd., S. 121. Vgl. ebd., S. 77. Vgl. ebd., S. 78. Vgl. ebd., S. 79. Jacques Aumont, Les théories des cinéastes, Paris 2005, S. 12-15 und 96-98. Vertov, Schriften zum Film, S. 79. Sergej M. Eisenstein, Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie, Frankfurt/Main 2005. Diese Auswahl versammelt die wichtigsten Texte Eisensteins zur Montagetheorie. Vgl. dazu auch das instruktive Nachwort von Felix Lenz sowie dessen Dissertation: Sergej Eisenstein: Montagezeit, Rhythmus, Formdramaturgie, Pathos, München 2008. 51 Gilles Deleuze, Kino 1. Das Bewegungs-Bild, Frankfurt/Main 1989, S. 116. Zu Wertow vgl. auch S. 60-64 und 115-120. 52 Vgl. ebd., S. 118.
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In dieser spezifischen Filmlogik setzt Wertow auf die „Wirkung durch Fakten“, die konsequent von einer „Wirkung durch Fiktion“53 abgesetzt wird. Wertow geht es in seiner kinematographischen Wahrheitssuche – denn als solche wird sie apostrophiert – um eine radikale Revolution der Wahrnehmung und mit ihr der Denkweise, oder, vorsichtiger formuliert, um Übergänge: Von den Naturerscheinungen zu den Gesetzmäßigkeiten des (industriellen und gesellschaftlichen) Lebens, vom theatralischen zum kinematographischen Gesetz und schließlich vom Attrappenreich der Filmfabrik ins nun geordnete, montierte und rhythmisch organisierte Chaos der Phänomene soll uns der Film weisen. Er führt eine „Theorie der unmittelbaren Erkenntnis“54 als theoria vor: eine Welt der Fakten und nicht eine der Fiktion. Und diese Konzeption des Films bestimmt Wertow in strikter Analogie zu naturwissenschaftlichen Experimenten. Film und Reflexologie Während Pudowkins Auseinandersetzung mit Pawlow durch den Film „Die Mechanik des Gehirns“55 aus dem Jahr 1926 eine gewisse notorische Berühmtheit erlangt hat,56 gilt das für Wertows Rezeption der Reflexologie nicht in gleicher Weise.57 In Wertows Tagebüchern finden sich jedoch gleich mehrere explizite Hinweise auf den Modellcharakter der psychiatrischen Forschung für seine eigenen Filme. „Ich arbeite“, stellt Wertow etwa fest, „wie das Laboratorium Pawlows und nicht wie eine Abteilung der Filmchronik“58 –, und deutet zugleich seine eigene Arbeit als konsequenten Werdegang „vom primitiven Abhören der Wahrheit zu Versuchen, Gedanken zu lesen; von Selbstversuchen im Leningrader Psychoneurologischen Institut (Aufzeichnung von Gedanken, Reaktionen, Verhaltensformen) zu Reflexionen über die Überrumpelungsaufnahmen zur Erlangung der Wahrheit“.59 Auch als er später massiven Restriktionen ausgesetzt ist und sich mit der Forderung konfrontiert sieht, seine Produktionsweise umzustellen und vorab Drehbücher vorzulegen, schreibt er über sich in der dritten Person und beobachtet sich, wie er nicht beobachten darf: „Beobachten – alle Schüler Pawlows, überhaupt alle Gelehrten und Schriftsteller dürfen es, aber er [nämlich Wertow, B.S.] darf es nicht. Ihm sagt man, er müsse alles ins Szenario schreiben, das Szenario sei primär. Doch er hält die Materie, die Natur, das auf dem Filmstreifen gesammelte Filmma53 Vgl. ebd., S. 77. 54 Vgl. ebd., S. 20. 55 Vgl. dazu Wsewolod Pudowkin, Die Zeit in Großaufnahme. Aufsätze, Erinnerungen, Werkstattnotizen, Berlin 1983, S. 44-51. 56 Hagner und Vöhringer, „Vsevolod Pudovkins Mechanik des Gehirns“ und Vöhringer, Avantgarde und Psychotechnik. 57 Die Ausnahme bildet allerdings die bereits zitierte Studie von Ute Holl. 58 Vertov, Tagebuch, S. 42. 59 Vgl. ebd., S. 162.
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terial für primär. Er geht von Filmbeobachtungen aus, um sie dann bildhaft zu organisieren. Aber man zwingt ihn, sich der umgekehrten Ordnung zu unterwerfen, der standardisierten Produktionsordnung für gewöhnliche Schauspielerfilme: vom Szenario (am Schreibtisch entstanden. Lebensfern) zur Natur, verpflichtet, die Natur den Forderungen des ‚Szenarios‘ gewaltsam zu unterwerfen.“60 Wertow hingegen schwebte das genau umgekehrte Verfahren vor und das war zugleich der Ansatzpunkt für den im strengen Sinn experimentellen Charakter seiner Filme: der Übergang von der Analyse zur Synthese. Bevor er als Regisseur zu arbeiten begann, studierte Wertow am Petrograder Psycho-Neurologischen Institut und besuchte dort auch Vorlesungen Wladimir Bechterews.61 1917 beginnt er mit ersten künstlerischen Experimenten: mit Aufzeichnungen von Geräuschen, die er als „Laboratorium des Gehörs“ bezeichnet und die eine Nähe zu Majakowski und Chlebnikow und zu zahlreichen synästhetischen Experimenten der Avantgarde verraten.62 In einem ersten Filmexperiment läßt er sich bei einem Sprung aus einer Höhe von eineinhalb Stockwerken mit dem Ziel aufnehmen, daß, so Wertow, „mein ganzer Flug, mein Gesichtsausdruck, all meine Gedanken usw. zu sehen wären.“63 Wertow faßt dieses Experiment in programmatischer Weise als Versuchsanordnung auf, die zeigen soll, daß mit Hilfe des überlegenen Kamera-Auges eine Objektivität der Beobachtung erreicht werden kann, die dem natürlichen, gewöhnlichen Auge notwendig verschlossen bleibt. Man sieht, so Wertow emphatisch, die „Wahrheit“.64 Und dies gleich in mehrfacher Hinsicht: Erstens gestatte es der Film, insbesondere durch die Techniken der Zeitrafferaufnahme, den Menschen zu demaskieren, ihm die Maske herunterzureißen, die er gewöhnlich trägt.65 Das ist genau die Funktion seiner filmischen Arbeit, die er zeitlebens in strikter Opposition zum Spielfilm versteht, bei dem es ja gerade auf die schauspielerischen Fähigkeiten der Darsteller ankommt, die im Film eine Rolle zu spielen haben. Wertow hingegen geht es um ein Sichtbarwerden und Sichtbar60 Vgl. ebd., S. 85. 61 V. Listow, „Vertov als Schriftsteller“, in: Drubek-Meyer und Murašov (Hg.), Apparatur und Rhapsodie, S. 187-194, hier S. 188. 62 Um nur einige wenige Künstler zu nennen: Raoul Hausmann im Umkreis des Dadaismus, Arnolda Ginna und Bruno Cora in dem des italienischen Futurismus, weiterhin Alexander Scriabin, Wassily Kandinsky, Alexander Laszlo, sowie die filmischen Experimente Viking Eggelings, László Moholy-Nagys, Oskar Fischingers, Hans Richters und Walter Ruttmanns. 63 Vertov, Schriften zum Film, S. 54. 64 Vgl. ebd., S. 55. 65 Helmuth Plessner hat aus dieser Beobachtung bekanntlich in „Grenzen der Gemeinschaft“ eine Apologie der Distanz entworfen, die zu den zentralen Texten der Neuen Sachlichkeit zählt. Vgl. Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft; dazu Wolfgang Eßbach, Joachim Fischer und Helmuth Lethen (Hg.), Plessners ‚Grenzen der Gemeinschaft‘. Eine Debatte. Plessner hat sich auch früh mit Pawlow auseinandergesetzt. Vgl. dazu Plessner, „Die physiologische Erklärung des Verhaltens. Eine Kritik an der Theorie Pawlows“ (1935), in: ders., Conditio humana (= Ges. Schriften, Bd. VIII), Frankfurt/Main 2003, S. 7-32.
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machen des Unverstellten, Unmaskierten. Wertow bezeichnet dies als Befreiung des Menschen zu einem neuen Leben. Zweitens folgt diese Theorie der Demaskierung einer Logik der Oberfläche, da alles auf der Oberfläche erkennbar, lesbar und entzifferbar werden soll. Das Unsichtbare soll mit Hilfe des objektiven Kino-Auges sichtbar gemacht werden können, und selbst Gedanken sollen anhand der Bilder ablesbar werden. Diese wiederum müssen qua Montage und anderer filmischer Verfahren in spezifischer Weise organisiert werden, um überhaupt eine Erkenntnis vermitteln zu können. Um etwas sichtbar machen zu können, muß es notwendig relational dargestellt werden, muß Teil eines Organisationskontextes sein, der den einzelnen Segmenten ihre Stellung zuweist. Drittens strebt Wertow eine neue Korrespondenz an, die sich über die Rezeption des Films auch auf den Betrachter überträgt. Wenn Wertow davon spricht, daß der Film ein „Austausch von Gehirn zu Gehirn“66 ist, meint er genau das: ein Gedankenlesen des Betrachters, das über eine filmische Übertragung ermöglicht wird: „Entweder müssen die Gedanken unmittelbar, ohne Übersetzung in Worte, von der Leinwand übertragen werden, oder die Worte laufen synchron mit den Gedanken, um deren Wahrnehmung nicht zu stören. […] Der Zuschauer liest die Gedanken und erfaßt sie, bevor sie sich in Worte hüllen. Das ist ein lebendiger Kontakt mit der Leinwand“.67 Auch hier finden wir das Theorem der Unmittelbarkeit, nun in Gestalt einer vorsprachlichen, vorbegrifflichen Wahrnehmung. Die Filmsprache in Bild und dann – seit ENTHUSIASMUS –- auch in Ton soll genau diese neue Korrespondenz als Synthese umsetzen. Was sich zu Beginn seiner filmischen Arbeit noch auf den Selbstversuch beschränkte, wird kurze Zeit später auf das russische Volk insgesamt ausgeweitet. Bereits 1921 entwickelt er Wertow einen Automobil-Kinematographen, ein KinoAuto, mit dem er wissenschaftliche Filme auf dem Land vorführt, um neue landwirtschaftliche Techniken vorzustellen, und beginnt zugleich, in großem Umfang Aufnahmen des Alltagslebens anzufertigen und zu sammeln. Diese Aufnahmen sind die Grundlage seiner frühen Filmchroniken, finden aber auch teilweise Verwendung in seinen späteren Filmen. „Ein Laboratorium ist notwendig“ konstatiert er. „Man muß Vorbilder für das Neue schaffen. Das Gehirn wachrütteln. Die Gewohnheiten durchbrechen. Aus dem Winterschlaf wecken. Der Einbildungskraft freien Lauf lassen. Dann werden dieselben Menschen nicht wiederzuerkennen sein.“68 Der Film hat nicht nur eine aufklärerische Funktion, sondern soll in programmatischer Weise zur Konstruktion eines neuen Menschen beitragen. Er ist Analyse und Synthese und findet seinen Gegenstand im Alltag. Wenn Wertow for66 Vertov, Schriften zum Film, S. 142. 67 Vgl. ebd. 68 Ders., Tagebuch, S. 77. Vgl. auch ebd., S. 81: „Für Dokumentarfilme, die menschliches Verhalten darstellen, taugen die üblichen Verfahren und Schemen des Produktionsprozesses nicht. Sie bedürfen eines anderen Aktionsplans, den der Entwurf eines schöpferischen Laboratoriums darlegt.“
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dert, man müsse „von der Arbeit am poetischen Film mit allgemeinen Informationen übergehen zur Arbeit an Filmen über das Verhalten des Menschen“,69 so bestimmt er damit nicht nur den Gegenstand, sondern auch das Ziel seiner filmischen Arbeit. Um diese durchführen zu können, entwickelte Wertow ein regelrechtes mobiles Laboratorium, das neben einem Arbeitszimmer des Regisseurs, einen Operationssaal, ein Informations- und Organisationsbüro sowie ein Autorenfilmarchiv und ein bewegliches Aufnahme-Aggregat vorsah.70 In Wertows schöpferischem Laboratorium geht es um eine Analyse des menschlichen Verhaltens, das dann über die Mittel des Films zu einer regelrechten Verhaltenslehre weiterentwickelt wird. Dabei knüpft Wertow an Theoreme der Reflexologie Bechterews und Pawlows an. Der Film soll dazu dienen, einen „befreiten Menschen“71 in einer befreiten Gesellschaft zu schaffen. Es geht nicht um die „Errettung der äußeren Wirklichkeit“ (Kracauer), sondern um die Konstruktion einer neuen Wirklichkeit, indem in der Übertragung von Gehirn zu Gehirn Erkenntnisprozesse beim Betrachter ausgelöst und idealiter Reflexe ausgebildet werden und schließlich ein neuer Mensch entsteht.72 Der Film analysiert Verhalten, um fortan verhaltensbildend zu wirken. Mit Pawlow und Bechterew teilt Wertow die Vorstellung, daß die Gesetze des Lebens und der Psyche an der Oberfläche aufgefunden und objektiv dargestellt und analysiert werden können. Und mit beiden teilt er die Überzeugung, daß diese Gesetze in Gestalt von Prozessen, von Relationen faßbar werden.73 Für Bechterews Schriften ist diese emphatische Objektivität Programm. „Frei von Bestrebungen und Versuchen, in die subjektive Welt der Träume und Phantasien einzudringen“, heißt es etwa in seinem Buch Objektive Psychologie oder Psychorefle69 Vgl. ebd., S. 71. 70 Vgl. dazu ebd., S. 70f. sowie „Über die Organisation eines schöpferischen Laboratoriums“, in: ders., Schriften zum Film, S. 58-63. 71 Vgl. ebd., S. 62. Zum experimentellen Charakter vgl. auch Barbara Wurm, „Beschleunigte Blicke, erschütterte Verortung. (Fort-)Bewegungsfilme und die Experimentalisierung des Sehens im frühsowjetischen Kino“, in: Wolfgang Stephan Kissel (Hg.), Flüchtige Blicke, Bielefeld 2009, S. 397-444. 72 Auch Norbert M. Schmitz betont diesen konstruktiven Grundzug von Wertows Filmtheorie: „Die Geburt des Films aus dem Geist des Films“, in: Drubek-Meyer und Murašow (Hg.), Apparatur und Rhapsodie, S. 73-88, bes. S. 75f. Wolfgang Beilenhoff nimmt hingegen eine Affinität beider Positionen an; vgl. „Nachwort“, in: Wertow, Schriften zum Film, S. 138-157, hier S. 144f. 73 Vgl. Holl, Kino, Trance und Kybernetik, S. 253: „Nicht Wesen, sondern Relationen zum Gegenstand der Wissenschaft zu erheben, war die epistemologische Wende, aus der Bechterew die Grundzüge einer avantgardistischen Wissenschaft vom Menschen bildete.“ „Vertov“, so Holl weiter, „transformierte Bechterews These, assoziierte Reflexbewegungen seien überindividuell, nicht-anthropomorph und lassen sich durch technische Apparate überbrücken und koppeln, in Kino-Technik: In seinem DER MANN MIT DER KAMERA wird kollektive Reflexologie filmisch realisiert.“ (S. 168) In Bechterews Schriften finden sich zahlreiche Bezüge auf Hugo Münsterberg – allerdings nicht auf seine wichtige Filmtheorie (Hugo Münsterberg: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie (1916) und andere Schriften zum Kino, hg. von Jörg Schweinitz, Wien 1996).
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xologie, „gibt uns die Pychoreflexologie Prosa an Stelle von Poesie, denn sie betrachtet die neuropsychologischen Funktionen ausschließlich von ihrer Außenseite und führt sie auf Assoziationsreflexe verschiedenen Charakters zurück.“74 Damit ist zugleich ein Zentralbegriff von Bechterews Theorie benannt: der Assoziationsreflex. Assoziationsreflexe sind diejenigen psychisch-physiologischen Phänomene, die „die Kluft zwischen den objektiv beobachtbaren Erscheinungen und der subjektiven Welt […] ausfüllen“75 und zugleich einen gegenwärtigen, aktualen Eindruck mit früheren in Beziehung setzen.76 Das gesamte psychische Leben ist nichts anderes als ein Spurenkomplex, der das Verhalten bestimmt. Assoziationsreflexe Bechterew hat keinerlei Interesse an einem psychischen Innenleben des Individuums, sondern ist vielmehr der Überzeugung, daß sich psychische Vorgänge vollständig in objektiven Erscheinungen artikulieren und als solche analysierbar werden.77 Zentrale Begriffe der abendländischen Tradition, wie „Subjekt“, „Gefühl“, „Wille“,78 „Verstand“ aber auch „Gedächtnis“, sind hinfällig oder werden als komplexe Assoziationsreflexe umgedeutet. Der Mensch als Erfahrungstier ist nichts anderes als ein Assoziationskomplex. Die Psychoreflexologie als neue Methode ist in diesem Sinne Studium der „Beziehungen zwischen den äußeren Einflüssen und den äußeren Erscheinungen der Neuropsyche“.79 Alle Prozesse – individuelle, kollektive und solche der Reaktionen auf die Umwelt – sind in Bechterews Theorie energetische Prozesse, und alle psychischen Prozesse sind durch den Nervenstrom miteinander verbunden. „Die peripheren Aufnahmeapparate sind nach meiner Theorie eine Art Transformatoren von äußeren Energien“,80 die äußere Energie in psychische Energie verwandeln. Das Auge und das Ohr sind Transformatoren, Umspannungswerke, die äußere in innere Energie verwandeln. Bechterew deutet auch Phänomene wie Massensuggestion als energetische Prozesse von Assoziationsreflexen81 und zögert nicht, seine Theorie auf gesellschaftliche Phänomene zu übertragen, die vor allem mittels 74 Wladimir Bechterew, Objektive Psychologie oder Psychoreflexologie. Die Lehre von den Assoziationsreflexen, Leipzig und Berlin 1913, S. IV. 75 Ebd. vgl. auch ders., Die kollektive Reflexologie, Petrograd 1921 und 1928. 76 Vgl. ders., Objektive Psychologie, S. 136. 77 Vgl. ebd., S. 21: „Die Psychoreflexologie entäußert sich auch aller metaphysischen, der subjektiven Psychologie entlehnten Ausdrücke, wie Wille, Verstand, Wunsch, Trieb, Gefühl, Gedächtnis.“ 78 Die Unterscheidung zw. Willkürlich und unwillkürlich, bewußt und unbewußt ist hinfällig. Unterschieden wird vielmehr zwischen unmittelbaren und mittelbaren Nachahmungen. Vgl. ebd., S. 217. 79 Vgl. ebd., S. 8. 80 Vgl. ebd., S. 43. 81 Vgl. dazu ders., Die kollektive Reflexologie, und ders., Suggestion und ihre soziale Bedeutung, Leipzig 1899.
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der Statistik analysiert werden. An die Stelle von individuellen rücken nun die kollektiven oder sozialen Reflexe. Ein wichtiger Bezugspunkt seiner Theorie ist dabei auch Gabriel de Tarde und seine Theorie der Imitation, die auch in der Soziologie und Kulturtheorie gerade eine Neuentdeckung erfährt.82 Wie muß man sich nun einen konkreten Ablauf eines Assoziationsreflexes vorstellen? Zu Beginn steht ein bestimmter äußerer Eindruck. Dieser löst einen Prozeß aus, der an bestimmte bereits gespeicherte Reflexspuren anknüpft, die man in traditioneller Terminologie als Erfahrung bestimmt hätte.83 Das Verschwundene ist nämlich der Theorie Bechterews zufolge nicht vollständig verschwunden, sondern hat eine Spur hinterlassen, die wiederbelebt werden kann. „Jeder Eindruck, gleichgültig, wodurch er hervorgerufen wird, läßt in den Nervenzentren eine gewisse Spur zurück, die unter gewissen Umständen wiederbelebt werden kann und dann als Assoziations- oder Psychoreflex erscheint.“84 Die Verknüpfung von beiden führt schließlich zur Ausbildung der äußeren Reaktion.85 Sämtliche Formen von Symbolisierungssystemen – angefangen bei Empfindungen und Vorstellungen und bis hin zur Sprache und zu Bildern – sind in dieser Theorie eine Art von Interfaces, die Beziehungen zwischen dem Organismus und den Außenreizen nicht nur herstellen, sondern ihnen eine feste Form geben, um dann als Spuren abgespeichert zu werden, die fortan in Gestalt von Assoziationskomplexen das Verhalten organisieren und steuern. Pawlow, dessen wissenschaftliche Arbeit in der Sowjetunion auf ungewöhnliche und in vieler Hinsicht paradigmatische Weise gefördert und fortgesetzt wurde,86 geht mit seiner spekulativen Annahme der Vererbbarkeit bedingter Reflexe über Bechterews Theorie der Assoziationsreflexe noch hinaus. Pawlow nahm an, daß die bedingten Reflexe, die im Gegensatz zu den unbedingten nicht vererbt werden, sondern Konsequenz einer aktiven Konditionierung sind, ihrerseits vererbt werden können. Mit diesem „Psycholamarckismus“ wäre garantiert, daß das Verhalten des Individuums nicht nur gesteuert, ja dezidiert programmiert werden kann, sondern daß die neu ausgebildeten Verhaltensweisen auch an die künftigen Generationen weitergegeben werden können: individuelle Lernprozesse mit kollektivem Ausgang. Die Forschungen und Theorien Bechterews und Pawlows zielen auf die Programmierung eines Neuen Menschen. Die Theorie der Reflexologie unternimmt, wie Torsten Rüting formuliert, „Experimente zur Schöpfung des Neuen Menschen im ‚Laboratorium der Revolution‘“.87 82 Vgl. Gabriel de Tarde, Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt/Main 2002 sowie Bechterew, Objektive Psychologie, S. 216. 83 Vgl. ebd., S. 217: „Die Erfahrungen sind ja eigentlich nichts anderes als aufgespeicherte Spuren.“ 84 Vgl. ebd., S. 105. 85 Vgl. ebd. S. 32. 86 Vgl. dazu die detaillierte und instruktive Darstellung in: Rüting, Pavlov und der Neue Mensch. 87 Vgl. ebd., S. 169. Vgl. auch Jörg Bochow, Vom Gottmenschentum zum neuen Menschen. Subjekt und Religiösität im russischen Film der zwanziger Jahre, Trier 1997.
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Abb. 2-14 bis 2-17 Dsiga Wertow, SCHESTAJA TSCHAST MIRA, EIN SECHSTEL DER ERDE, RUS 1926
Der Film als schöpferisches Laboratorium Der Film soll in den Augen Wertows Analoges leisten: Sein „schöpferisches Laboratorium“88 ist, so Wertow, „der Beginn einer schöpferischen Pflanzstätte, eines schöpferischen Gartens“.89 Und er ist sich sicher, „daß wir dem Land herrliche Früchte aus diesem Garten geben werden.“90 Der Vergleich mit den Früchten hinkt ein wenig, da Wertow weniger auf organische als auf technische Neuzüchtungen zielt. Es geht hier um technische Paradiese, die überkommene religiöse Vorstellungen aufnehmen, umcodieren und ihnen so eine neue säkulare Gestalt geben: eine technische Neuschöpfung der Welt. „Ich bin Kinoglaz“, heißt es bereits im schon zu Beginn zitierten frühen Manifest „Kinoki-Umsturz“, „ich schaffe einen 88 Vgl. Vertov, Schriften zum Film, S. 65ff. 89 Vgl. ebd., S. 70. 90 Wertow nimmt dabei eine bei den Biokosmisten weit verbreitete Metapher auf. Vgl. dazu: Boris Groys und Michael Hagemeister (Hg.), Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 2005, und insbes. die ausführliche Einleitung von Michael Hagemeister, ebd., S. 19-67.
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Abb. 2-18 Alexander Rodtschenko, Plakat für KINOGLAZ, KINO-AUGE, 1924
Menschen, der vollkommener ist als Adam“.91 Dieser neue Adam ist „ein elektrischer Jüngling“, der aus der „gemeinsamen Aktion von befreiter und perfektionierter Kamera und strategischem menschlichen Gehirn“92 hervorgehen soll. Am Leitfaden der Theorien Bechterews und Pawlows soll der Film einen neuen Menschen schaffen, einen Menschen, der mit der Maschine verschwägert ist. „Vom sich herumwälzenden Bürger über die Poesie der Maschinen zum vollendeten elektrischen Menschen“93 führt der filmische Aufklärungsprozeß und die filmische Verhaltensschule. Der Film ist ein politisch-epistemisches Medium zur Konstruktion eines neuen Menschen. „Wir verbinden den Menschen mit der Maschine. Wir erziehen neue Menschen.“94 Und weiter: „Mit offenen Augen, des maschinellen Rhythmus bewußt, begeistert von der mechanischen Arbeit, die Schönheit chemischer Prozesse erkennend, komponieren wir das Filmpoem aus Flammen und Elektrizitätswerken.“95 Eines dieser Poeme ist ENTHUSIASMUS, eine weiteres EIN SECHSTEL DER ERDE, wo die Wunder der Elektrifizierung als Zeitenwende und technischer Auf91 Vertov, Schriften zum Film, S. 19. 92 Ebd., S. 22. 93 Ebd., S. 8. Vgl. dazu auch Sven Spieker, „Dziga Vertovs Filmauge aus protheischer Sicht (Der Mann mit der Kamera)“, in: Drubek-Meyer und Murašow (Hg.), Apparatur und Rhapsodie, S. 147-169. 94 Vertov, Schriften zum Film, S. 8. 95 Ebd., S. 8f.
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klärungsprozeß eindrucksvoll in Szene gesetzt werden. Technik erscheint hier ausschließlich im jubilatorischen Modus. ENTHUSIASMUS endet zwar nicht mit einem Elektrizitäts-, wohl aber mit einem Stahlwerk und der gemeinsamen Ernte. Und die Eingangssequenz zeigt uns einen jener Neuen Menschen, die bereits mit anderen Augen sehen und anderen Ohren hören – mit, wie Wertow sagen würde, Kino-Augen und Radio-Ohren – und der uns zugleich als Zuschauer und Zuhörer für jene Revolution der Denkungs- und Wahrnehmungsart vorbereiten soll, die der Film dann programmatisch umsetzt. Wer Ohren hat zu hören, der höre, und wer Augen hat zu sehen, der sehe – das sagt uns der Film und führt uns zugleich den neuen Adam vor Augen, den neuen Menschen, der die Wirklichkeit bereits in anderer Weise wahrnimmt, erkennt und erlebt – als eine neue Schöpfung, in der Bilder und Töne in programmatischer Weise eingesetzt werden – als ein Programm, das uns als Zuschauer neu programmieren soll.
1.2 Sergei Eisenstein: Die Macht der Bilder „Warum montieren wir denn überhaupt?“96 „Die Montage ist Bild des Denkens [der Denkweise] et plus à-rebours dans l’histoire de la pensée plus effectif = car plus moteur!“97 Sergei Eisenstein
How to do things with pictures? In der Bildtheorie oder -wissenschaft ist es in Mode gekommen, von einer Bildmacht zu sprechen. Ob nun bei W.J.T. Mitchell die Bilder ein Eigenleben gewinnen, bei Gerhard Paul eine besondere eigene „Kraft oder sogar Macht“ haben, die darin begründet liege, daß sie über eine „aktiv-gestaltende Kraft“ verfügen, oder schließlich bei Horst Bredekamp zu Handlungsträgern werden, Bilder werden durchweg als Agenten eigener Macht angesehen.98 Wenn Bredekamp in seiner
96 Sergej Eisenstein, „Montage 1938 (1938)“, in: ders., Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie, hg. von Felix Lenz und Helmut H. Diederichs, Frankfurt/Main 2006, S. 158201, S. 158. 97 Ders., „Zu Lévy-Bruhl 1928“, S. 180, zit. nach Anna Bohn, Film und Macht. Zur Kunstheorie Sergeij M. Eisensteins 1930-1948, München 2003, S. 85. 98 W.J.T. Mitchell, Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München 2008; Gerhard Paul, BilderMACHT. Studien zur Visual History des 20. und 21. Jahrhunderts, Göttingen 2013, Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Frankfurt/Main 2010.
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Bildakt-Theorie versucht, die Sprechakttheorie auf die Bildwissenschaft zu übertragen, so wird diese von den Füßen auf den Kopf gestellt.99 Während bei der Sprechakttheorie Austins und Searles die Sprache als Handlung bestimmt und somit Teil einer Handlungstheorie wird, ersetzt Bredekamp den Menschen als Träger der Handlung durch die Bilder. Nun ist es nicht länger, wie noch bei der Sprechakttheorie, der Mensch, der mit der Sprache Handlungen ausführt, sondern es sind eben die Bilder. Sie werden zu den handelnden Agenten. Der performative turn wird so lange weitergedreht, bis der Mensch vom Agenten zum Medium geworden ist. Diese Umcodierung der Handlungstheorie hat durchaus dramatische Konsequenzen, da nun auch, so in der Fortführung Gerhard Pauls, die Geschichte an die Bilder delegiert wird. Nicht nur der Mensch, sondern auch die Bilder machen, prägen und formen die Geschichte. Mit dieser theoretischen Zuspitzung sind nun aber all jene Möglichkeiten, die eine Handlungstheorie der Bilder bieten könnte, verschenkt. Eisensteins Filmtheorie ist, so meine These, bereits eine Bildwissenschaft avant la lettre, die genau dies zum Programm macht: How to do things with pictures? Ein wenig scheint es so, als würde sich das Diktum von Karl Marx, „daß sich alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sozusagen zweimal ereignen […]: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“,100 auch im Reich der Theorie bewahrheiten, denn Sergei Eisensteins Überlegungen zur Theorie der Bilder arbeiten sich eben schon ein knappes Jahrhundert vorher genau an diesen Fragen ab, kommen aber zu anderen Einsichten und verfolgen auch andere Strategien. Die tragischen politischen wie persönlichen Konsequenzen, die sich aus seinen Überlegungen ergeben, sind hinlänglich bekannt. Wenn man im Rußland der 1920er und 1930er Jahre über die Macht der Bilder und über die Möglichkeit, mit ihnen menschliches Verhalten und seine Einstellungen zu verändern, nachdenkt, so nimmt man es auch mit der staatlichen Macht auf, die ihrerseits eine dezidierte Bildpolitik verfolgt.101 Bei Eisenstein steht eben diese Macht der Bilder im Zentrum, die immer neu in den Blick genommen, analysiert, konzipiert und letztlich auch inszeniert und bewußt eingesetzt wird. Eisensteins Bild- und Montagetheorien versuchen sich in immer neuen Anläufen an der Feinjustierung einer Handlungstheorie der Bilder, die zwar Macht ausüben sollen, dies aber in höchst kontrollierter und bewußter Weise. Bildmacht und Betrachterkontrolle sollen Hand in Hand gehen. Die Macht der Bilder ist eine Macht der Menschen, und selbst dann, wenn sie tief aus der Geschichte als prälogisches Denken in die Gegenwart hinein-
99 Vgl. dazu die eingehende wie scharfsinnige Kritik von Lambert Wiesing, Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens, Frankfurt/Main 2013. 100 Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (= Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 8), Berlin/Ost 1972, S. 115. 101 Vgl. dazu expl. Traumfabrik Kommunismus, Ausstellungskatalog Frankfurt/Main 2004 sowie Karl Schlögel, Terror und Traum: Moskau 1937, München 2008.
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ragen, so gilt es sie zu kontrollieren und in neuer Gestalt einzusetzen.102 Sie ist zugleich immer auch eine Macht über die Menschen. Ohne eine solche Macht sind bei Eisenstein keine Bilder zu haben. In seinen späteren Schriften finden sich dann auch Überlegungen zu einer regelrechten Bildanthropologie, die ebenfalls Teil der jüngeren Bildwissenschaft ist und insbesondere von Hans Belting in diversen Publikationen ausformuliert wurde.103 Eisenstein faßt diese in Begriffen des Regresses, der nahezulegen scheint, daß die Bilder nun doch zu Agenten der Geschichte werden. Doch auch hier geht es ihm um den Versuch, selbst eine solche prälogische Bildmacht zu kontrollieren, um sie dann umso effektiver einsetzen zu können. Daher das Glück, als er meint, den konstatierten Regreß in ein dialektisches Verhältnis zum Progreß bringen und theoretisch fassen zu können.104 Der Regisseur soll die Regie über die Macht der Bilder haben, sie unter Kontrolle bringen, ja mehr noch sie in Szene setzen, um die Zuschauer dann diese Bildkontrolle als Selbstkontrolle betrachtend wiederholen zu lassen. „Es ist das gleiche verallgemeinerte Bild, wie es der Autor beabsichtigt und gebildet hat, das vom Zuschauer gleichzeitig in einem selbständigen schöpferischen Akt geschaffen wird,“ heißt es später im Aufsatz „Montage 1938“.105 Ich sehe was, was Du nicht siehst, aber schließlich auch sehen sollst. Das gilt für Wertow und eben auch für Eisenstein und letztlich für allerweiteste Teile der russischen Filmproduktion zwischen politischer Alphabetisierung, ideologischer Indoktrination, psychologischer Konditionierung, dialektischer Reflexion und auch schlicht Unterhaltungsindustrie. Es handelt sich um ein breites Spektrum an Filmen, die Sehen in Einsicht, Zeigen in Überzeugung und Abbilden in Umbilden zu verwandeln suchen. Eine theoretische Suchbewegung Ich werde mich im folgenden auf die frühen Texte und, in der Bezeichnung der Criterion-Edition, die „Silent Years“ konzentrieren, um Eisensteins Theorien der Bildmacht in ihrem historischen Kontext zu rekonstruieren. Die Skizzierung der bildwissenschaftlichen Theorie und die historische Rekonstruktion stehen dabei in 102 Das ist auch die Ausgangshypothese des von Oksana Bulgakowa herausgegebenen Arbeitsheftes Herausforderung Eisenstein (Berlin/Ost 1989). Dort heißt es: „Ist Kunst eine emotionale und ideologische Versklavungsmaschine, Psychotechnik – und Psychotraining?“ Aufgabe sei es daher, „das komplizierte Zusammenwirken des Rationalen und Irrationalen, Bewußten und Unbewußten, Logischen und Prälogischen im schöpferischen Akt, im Rezeptionsprozeß und in der Struktur des Kunstwerkes zu fassen, zu analysieren und zu definieren.“ (S. 3) Zum „Visual Turn“ in der Sowjetunion vgl. den Forschungsbericht von Andreas Renner, „Der Visual Turn und die Geschichte der Fotografie im Zarenreich und in der Sowjetunion“, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Bd. 62, Nr. 3, 2014, S. 401-424. 103 Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001. 104 Vgl. dazu ausf. Bohn, Film und Macht. 105 Eisenstein, „Montage 1938 (1938)“, S. 177.
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einem Wechselbezug, da der Vielleser Eisenstein in höchst origineller Weise auf vielfältige, zumeist zeitgenössische Theorieangebote zurückgreift. Mit vielen der Autoren stand er zudem persönlich in Kontakt, war mitunter sogar an von ihnen durchgeführten Experimenten beteiligt oder korrespondierte mit ihnen. Die folgende historisch-theoretische Rekonstruktion kann viele der historischen Bezüge, die für Eisenstein mehr oder weniger verlockende Theorieoptionen darstellen, nur andeuten, folgt dabei aber auch der Praxis, die Eisenstein verfolgt. Wie oft bei ihm findet sich gerade in den Frühtexten eine Art Theoriesynkretismus, da verschiedene sich eigentlich ausschließende Annahmen übereinandergeblendet werden. Zudem erscheinen sie nicht selten als reine Abbreviatur in Gestalt von Eigennamen oder knappen Verweisen. „Dialektik, Reflexologie, Freud“106 ist nur eines dieser Syntagmen, die zusammenbringen, was sich theoretisch erst einmal nicht recht fügen will. Die Montagepraxis, die Eisenstein verfolgte und nach der durch den Aufeinanderprall zweier Bilder etwas Neues entsteht,107 gilt auch für das Reich der Theorie – und das macht den eigentümlichen Charme und die Originalität wie auch die Sperrigkeit und Widerborstigkeit seiner Theorien aus. Ich werde daher Theoriesegmente auseinandernehmen und in isolierte Stränge zerlegen, die bei Eisenstein oft amalgamiert werden. Seine Praxis der Theoriemontage ist nicht zuletzt Ausdruck einer theoretischen Suchbewegung, die durchweg bereits die spätere Theorie der Koexistenz von Regreß und Progreß als Rückblick und Ausblick oder Wiederaufnahme und Neubestimmung theoretisch in Szene setzt. Eisenstein schreitet auch in seinen Texten fortwährend zurück, um besser voranschreiten zu können, nimmt Verworfenes auf, um es neu zu perspektivieren und montieren zu können. Ein Nullpunkt der Theorie und Praxis Meine These ist, daß Eisenstein mit der Inszenierung von Tretjakows Stück Gasmasken, die am 29. Februar 1924 Premiere hatte, einen Nullpunkt der Theorie und Praxis erreicht hatte, von dem aus sich die Frage nach der Macht der Bilder neu stellte und zwar in Gestalt der technischen des Films. Eisenstein erkundete daraufhin gleich mehrere mögliche Optionen, um, wie er es nennt, eine „monistische Theorie“ oder ein „System“ auszuarbeiten. Das Ziel ist deutlich: „Die Kunst in eine harte Wissenschaft zu verwandeln – das ist unsere Aufgabe, wichtiger, als alle unsere Filmchen zusammen.“108 Die drei meiner Ansicht nach wichtigsten Optionen, die er dabei verfolgt – und das sind beileibe nicht alle –, sind erstens die Biomecha106 Eisenstein-Nachlaß, Russisches Staatliches Archiv für Literatur und Kunst, 1923-2-1114, 62, zit. nach: Bohn, Film und Macht, S. 65. 107 Eisenstein, „Montage 1938“, S. 159: „Werden zwei beliebige Stücke aneinandergefügt, so vereinigen sich sie sich unweigerlich zu einer neuen Vorstellung, die aus dieser Gegenüberstellung als neue Qualität hervorgeht.“ 108 Tagebucheintrag Eisensteins vom 21.9.1928. Dort lautet der Beginn der Notiz: „Manchmal plagen mich ‚Gewissensbisse‘, dass ich nicht die ‚Generalka‘ [Generallinie] (die ein Film
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nik und die Psychophysik, zweitens die Reflexologie und drittens eine neue Form des Bilddenkens, das auf die Psychoanalyse, anthropologische Theorien und last but not least die psychologischen Theorien der sogenannten kulturhistorischen Schule, also Wygotzki, Luria und Leontjew zurückgreift. Eine jede dieser Optionen liefert, wie sich zeigen wird, einzelne Elemente der zu entwerfenden Handlungstheorie der Bilder. Die Ausformulierung einer Theorie des Bilddenkens, das hier erst allmählich eine theoretische Gestalt annimmt, sollte Eisenstein bis zum Ende seines Lebens umtreiben und nicht zuletzt in dem umfangreichen Methode-Projekt münden.109 Nach der Gasmasken-Inszenierung beginnt eine Theorieexperimentalphase, in der verschiedene Optionen auf die Probe gestellt und ausprobiert werden. Eisenstein greift dabei auf seinerzeit verbreitete Theorien zurück, um sie dann im Sinne eines Entwurfs einer Handlungstheorie der Bilder auf ihre konkrete Praxisfähigkeit hin zu testen. Für Eisenstein ist die Theorie erst dann tauglich, wenn sie sich in der Praxis bewährt, wenn sie konkret umgesetzt werden kann. In einer Zeit, in der die Welt insgesamt als Laboratorium angesehen wurde, macht Eisenstein sich daran, die Bilder als regelrechte epistemische Dinge in den Blick zu nehmen.110 Mit ihnen soll etwas Neues beginnen, ja überhaupt erst durch sie in Szene gesetzt werden. Wenn die Gasfabrik der Tretjakow-Inszenierung den Nullpunkt der Montagetheorie darstellt, so sein 1929 uraufgeführter Film DIE GENERALLINIE den Kulminationspunkt. Ein zweites – und zugleich letztes – Mal wendet sich Eisenstein der Technik als Gegenstand zu. Der Film trug nicht nur den offiziellen Titel „Das Alte und das Neue“, sondern markiert auch die konsequenteste Umsetzung der neuen Montagetheorie im Vergleich zur alten der Theaterinszenierung. Das Problem Wie kann man nun diesen Nullpunkt der Gasmasken-Inszenierung genauer bestimmen? Für Eisenstein stellte sie die „Grenze von Theater und Film“ und zugleich eine „Hinwendung zum Materiellen“ dar.111 An anderer Stelle sprach er vom „‚Kampf‘ zwischen dem materiell-faktischen und dem fiktiv-darstellenden Prinzip“, der hier in „totale Entzweiung“ mündete.112 Das ist eine etwas verklausulierte
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werden wird) montiere, sondern mich mit der Ausarbeitung einer monistischen Methode und meines Systems beschäftige.“ Zit. nach Bohn, Film und Macht, S. 61. Eisenstein, Die Methode (4 Bände), nach dem handschriftlichen Originalmanuskript hg. und ausführlich kommentiert von Oksana Bulgakowa, Berlin 2008. Hier verstanden im Sinne Hans-Jörg Rheinbergers. Vgl. dazu ders., Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie, Frankfurt/Main 2006. Eisenstein, „Zwei Schädel Alexander des Großen“ (1926), in: Schriften 1, München 1974, S. 223-226, S. 225. Diese Ausgabe in vier Bänden (Bd. 2, Panzerkreuzer Potemkin, 1973; Bd. 3, Oktober, 1975; Bd. 4, Das Alte und das Neue, 1984) wird im folgenden mit dem Kurztitel zitiert. Ders., „Das Mittlere von Dreien“ (1934), in: ebd., S. 238-273, S. 250.
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Abb. 2-19 Sergei Eisenstein, GasmaskenInszenierung, Photographie der Inszenierung
Darstellung einer performativ fehlgeschlagenen Gleichsetzung von Montage als ästhetisches und als industrielles Prinzip. Ihre Neubestimmung und Neujustierung auch im Sinne einer theoretischen wie praktischen Handreichung einer Technik der Ästhetik steht daher auf dem Programm. Eisenstein betont wiederholt die doppelte Herkunft der Montage, die in Industrieanlagen und „Music Halls“ gleichermaßen beheimatet sei. Die Inszenierung von Gasmasken in einem Gaswerk markiert nun jedoch als Theaterstück eine Grenze, die eine andere Form ästhetischer Montage erforderte als sie selbst mit den Mitteln der avantgardistischen Gestaltung möglich war.113 Eisenstein beschreibt das so: „Das Werk lebte ein Eigenleben. Die Vorführung auf ihrem Gelände ein anderes. Eine wechselseitige Einwirkung aufeinander kam nicht zustande. Die gewaltigen Turbogeneratoren des Werkes erdrückten die sich kläglich an ihre schwarzglänzenden Zylinderkörper anschmiegenden winzigen Theateraufbauten völlig. Darüber hinaus erwies sich der plastische Reiz der Realität dieses Werks als derart stark, daß er die Ebenen des Faktenmaterials der Wirklichkeit in neuer Leiden113 Aage Hansen-Löve, „Im Namen des Todes. Endspiele und Nullformen der russischen Avantgarde“, in: ders. und Boris Groys (Hg.), Am Nullpunkt, S. 700-748, hier S. 722f.: „Während die Avantgarden das ehedem statische Kunstwerk im Energiestrahl bündelten, war es im Stahlwerk, wo der Proletkult und späterhin die Stalin-Kunst ihre Hochämter feierten.“
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schaft erglühen ließ. Und diese Wirkung nahm alles in ihre Hände… und mußte so notgedrungen den Rahmen einer Kunst verlassen, die ihr keine unumschränkte Alleinherrschaft zubilligte. Diese Tendenz brachte uns auf den Weg zum Film.“114 Das Reale schlägt zurück und zeigt der Kunst ihre Grenzen und zugleich die Möglichkeiten des Films auf. Fiktion ist hier ebenso sinnlos wie ohnmächtig. Die Industrieanlage läßt sich einfach nicht mit Montage-Elementen der Music Hall anreichern und zwingt dem Geschehen ihren eigenen Rhythmus auf. Eisenstein hatte eine Wechselwirkung, gegenseitige Einflußnahme und Kommentierung von Ästhetik und Industrie vorgesehen und sah sich nun mit der Übermacht der Technik, mit einer dominanten Ästhetik der Technik konfrontiert. Diese sollte fortan gleichwohl nicht verschwinden, sondern in eine andere Konstellation, nämlich eine Technik der Ästhetik überführt werden. Nur so kann man ihr jene Macht zurückgeben, die sie im Gaswerk offensichtlich verloren hatte. Montage wird nun zur Praxis, zum Zentralmoment einer Handlungstheorie der Bilder. Die „Einheit von Mensch und Material“115 verwandelt sich in eine Montagepraxis und -theorie, die konsequent Montage als ästhetisches und technisches Prinzip auf den Menschen als Material, als einen zu montierenden hin denkt. Eisenstein wird daher fortan durchweg Produktion immer auch in Hinblick auf eine kalkulierte Rezeption konzipieren und gezielt umzusetzen suchen. Denn das ist die Frage: Wie wird Ästhetik zur Handlungsmacht? Technik und Ästhetik schließen Produktion und Rezeption programmatisch kurz. Montage ist eben erst dann eine gelungene Verbindung von Ästhetik und Technik, wenn sie eine nachweisbare Wirkung auf den Betrachter hat, wenn sie ihn regelrecht montiert. Im Film scheint Eisenstein genau das möglich zu sein. Er ist Technik und Ästhetik zugleich und kann auch den Rhythmus der Maschinen wie in einem ästhetischen Transformator umwandeln und in visuelle Energie verwandeln. Das Kunstwerk sei, so formuliert er kurz darauf, wie ein „Traktor, der die Psyche des Zuschauers […] umpflügt“.116 Später wird er sogar vom Film als „Flammenwerfer“ sprechen.117 Ein Pflug teilt die Erde, der Separator die Milch, um sie nutzbar zu machen. Auch der Film ist eine Art Separator, der die milchigen Eindrücke der Betrachter in Magermilch und Rahm scheidet und gesellschaftlich verwertbar macht. In der GENERALLINIE wird dieses Umpflügen und dieses systematische Trennen als doppelte Verwertung dann auch filmische Gestalt gewinnen. Im Film sind wir mitten im Realen angekommen. Dieses gilt es nun mit den Mitteln der Ästhetik zu verändern. Das ist die Konsequenz aus der gescheiterten Gasmasken-Inszenierung. Die Industrie verleibt sich das Theater ein, um es dann in Gestalt des technisch-ästhetischen Films wieder auszuspeien.
114 Eisenstein, „Das Mittlere von Dreien“ (1934), S. 251. 115 Ebd., S. 267. 116 Ders., „Zur Frage eines materialistischen Zugangs zur Form“ (1925), in: Schriften 1, S. 230238, S. 235. 117 Ders., „Enthusiastischer Alltag“, in: Schriften 4, S. 118-122, S. 119.
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Eisenstein rekapitulierte später die Gasmasken-Inszenierung als Vereinigung „aller kinematographischen Tendenzen: die Faktur der Turbogeneratoren des Gaswerks, die Fabriklandschaft der Umgebung, sowie die Liquidierung der letzten Reise der szenischen Schminke und des Bühnenhaften von Kostüm und Mise-en-scène, einer Mise-en-scène, die die Grenzen szenischer Inszenierung zu Splittern eigenständig kombinierbarer Handlungselemente zerschlug. Requisiten erwiesen sich in der Umgebung der realen, plastischen Werkschönheit als kindisch. Töricht wirkten auch die Elemente des ‚Spiels‘ inmitten dieser realen Umgebung und des scharfen Gasgeruches. Erdrückend waren nicht zuletzt die ‚Chiffre‘-Grenzen szenischer Übergänge, weil sie keine Möglichkeit für die Projektion des Menschen in jene Elemente der Arbeitswelt zuließen, die sich rings um den jämmerlich kleinen Bühnen‚Platz‘ erhob, der zwischen den breit abgelegten Plätzen tätiger Massenwirksamkeit verlorenging. Kurz gesagt – das Stück fiel durch. Aber wir landeten in der Filmkunst.“118 Eisensteins Aufgabe ist nun die Neubestimmung einer Montagetheorie, die diese zerschlagenen Elemente wiederaufliest und neu zusammenstellt. Schönheit ist hier wie dort eine technische. Ästhetik ist das Resultat einer technischen Kalkulation. Und die plastische Schönheit der Industrieanlage findet ihre Fortsetzung in einer Plastizität des Gehirns, in das jedes Bild möglichst direkt durchzudringen sucht, um es zu gestalten. Natur soll zu Kultur werden, vermeintliche physiologisch-biologische Konstanten sollen sich als kulturell veränderbare erweisen. Der in diesen Jahren vielbeschworene „neue Mensch“ ist für Eisenstein über technische Bilder zu bilden –- und das im intellektuellen wie im strikt konstruktiven Wortsinn.119 Bilder der Technik spielen dabei, anders als etwa bei Wertow, eine nachgeordnete Rolle. Einzig in DIE GENERALLINIE werden sie im größeren Stil eingesetzt. Man kann diesen Film daher als Pendant der Gasmasken-Inszenierung ansehen, nur daß Eisenstein nun die neu gewonnene ästhetisch-technische Montagetheorie in der Praxis überprüft. In seiner Autobiographie hat er 1945 rückblickend diesen Nullpunkt der Theorie in folgender Weise beschrieben und dabei zugleich die Grundzüge der neuentworfenen Montagetheorie zusammengefaßt: „Suchen wir die Maßeineinheit, mit der die Wirkungskraft der Kunst zu erfassen ist. Die Wissenschaft hat ihre ‚Ionen‘, ‚Elektronen‘, ‚Neutronen‘. So soll die Kunst – ‚Attraktionen‘ haben. Aus dem Produktionsprozeß drang jener Terminus technicus in die Umgangssprache ein, mit dem man das Zusammensetzen und Aufstellen von Maschinen oder die Einrichtung von Wasserleitungsanlagen bezeichnet. ‚Montage!‘. 118 Ders., „Das Mittlere von Dreien“, in: ders., Schriften 1, S. 238-273, S. 268f. 119 Vgl. dazu expl. Gottfried Küenzlen, Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, München 1994 und bes. Boris Groys und Michael Hagemeister (Hg.), Die Neue Menschheit.
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Abb. 2-20 bis 2-23 Sergei Eisenstein, STAROE I NOWOJE bzw. GENERALNAJA LINIJA, DIE GENERALLINIE bzw. DAS ALTE UND DAS NEUE, RUS 1929
Es ist ein schönes Wort, dieses ‚Montage‘, das so viel bedeutet wie ‚Zusammensetzen‘. Ein Wort, das zwar noch nicht zum allgemeinen Sprachgut gehört, aber alle Aussichten hat, gebräuchlich zu werden. So soll es also sein! Soll die Verbindung der Wirkungseinheiten zu einem Ganzen mit diesem Terminus benannt werden, der halb in der Sphäre des Produktionsbetriebes, halb in der Sphäre der „Music Hall“ zu Hause ist und den Sinn beider Wörter enthält. Beide sind sie Produkte des Urbanismus, wie wir alle in jenen Jahren furchtbar urbanistisch waren. So wird der Terminus ‚Montage der Attraktionen‘ geboren.“120 Das Scheitern ist zugleich eine Geburtsstunde: Die Montage erscheint nun in neuer Gestalt. Aber wie genau soll sie theoretisch gefaßt werden? Pawlow wird nun explizit als Option angeführt, aber auch die Schule Meyerholds und seine Theorie der Biomechanik spielen eine wichtige Rolle und nicht zuletzt eben auch die Suche nach einer Theorie der „Wirkungskraft der Kunst“, nach einem neuen Bilddenken. 120 Sergej M. Eisenstein, „Wie ich Regisseur wurde“, in: ders., Schriften 1, S. 185-194, S. 193f.
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Das sind drei Optionen, die von Eisenstein nun durchdekliniert werden und sich eher wechselseitig ergänzen als ausschließen. Nach dem Scheitern der Inszenierung des Tretjakow-Stücks komme es nun darauf an, „die Einwirkung auf den Zuschauer zu organisieren“121 oder, anders formuliert, „an die Stelle der intuitiv-künstlerischen Komposition von Einwirkungen […] die wissenschaftliche Organisation von sozial nützlichen Reizerregern zu setzen. Psychologie mit den Mitteln der Darstellung.“122 Es gilt eine Technik der Ästhetik zu entwickeln, die Wissenschaft, Pragmatik und Ästhetik als Technik umzusetzen hat. Der Nullpunkt ist also vermessen. Es gilt, von ihm aus die Welt neu zu konstruieren. „Dafür mache ich mich“, schreibt Eisenstein, „ausgerüstet mit den technischen Kenntnissen und Methoden eines angehenden Ingenieurs, geradezu gierig daran, immer tiefer und tiefer in die Urgründe des Schöpfertums und der Kunst einzudringen, wo ich instinktiv das Gebiet jener exakten Kenntnisse vermute, die auf mich seit meinem kurzen Ausflug ins Land der Technik eine beachtliche Anziehungskraft ausübten.“123 Die Ausdrucksgestalt: Biomechanik und Psychophysik Die erste Option – die Biomechanik – war Eisenstein bereits vertraut, erfuhr dann aber eine Erweiterung und Neujustierung, da er sie durch weitere Elemente der Arbeitswissenschaft bzw. Psychotechnik oder Psychophysik ergänzte. Meyerhold, den er noch in seiner Autobiographie YO als „Göttlichen“ und „Unvergleichlichen“, aber auch als „Gemisch von Schöpfergenialität und Menschentücke“ bezeichnete, stand für eine programmatische Umsetzung einer „Industrialisierung des Theaters“, die tayloristische Verfahren der Arbeitsoptimierung auf die Ästhetik zu übertragen suchte.124 Der Künstler und Regisseur wurde zu einem Ingenieur der Bilder und Emotionen, der diese in Gestalt von Bewegungselementen, Ausdrucksgestalten und Assoziationsketten zu organisieren suchte. Er zielte auf den Körper mitsamt seinen Automatismen gemäß Wygotzkis Diktum: „Alles, was die Kunst vollbringt, vollbringt sie in unserem Körper und über unseren Körper.“125 121 Ebd., S. 194. 122 Ders., „Zwei Schädel Alexander des Großen“ (1926), in: ders., Schriften 1, S. 223-226, S. 225. 123 Ders., „Durch Revolution zur Kunst, durch Kunst zur Revolution“ (1933), in: ebd., S. 4951, S. 50. 124 Ders., YO. Ich selbst. Memoiren, hg. von Naum Klejman und Walentina Korschunowa, Berlin/Ost 1984, S. 319 bzw. 146. Dazu Wsewolod E. Meyerhold. Schriften, 2 Bde., Berlin/Ost 1979 und Meyerhold, Tairow, Wachtangow, Theateroktober. Beiträge zur Entwicklung des sowjetischen Theaters, Leipzig 1967. 125 Lew S. Wygotski, Psychologie der Kunst, Dresden 1976, S. 300. Vgl. dazu auch Zalkinds Konzept des „biologischen Taylorismus“, das er in seinem Artikel „Biologie, Revolution und Erziehung“ (in: Der Aufklärungs-Arbeiter, Nr. 2 und 3, Moskau 1921, zit. nach Baumgarten, Arbeitswissenschaft, S. 46) ausführt: „Das Leben des Organismus ist ein System der un-
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Diese technisch-ideologische Neuprogrammierung war bereits Ziel des proletarischen Theaters und wurde nicht zuletzt auch von Eisenstein zusammen mit Arwatow, der die Auflösung der Kunst im Leben in Gestalt einer Produktionskunst programmatisch vertrat, präzisiert: In das Programm der Regiewerkstätten des Moskauer Proletkults wurden auf ihren Vorschlag hin die folgende Fächer aufgenommen: „Theoretische Fächer: Organisation der Arbeit, Rationalisierung der Bewegungen im Leben, Psycho-Technik […]; Praktische Fächer […]: Experimentelles Laboratorium kinetischer Konstruktionen (individueller und kollektiver) […], Improvisationen kinetischer Konstruktionen, produktionsmäßige Aufgaben der Komposition kinetischer Konstruktionen“.126 Die Aufgabe des Künstlers sei, so Arwatow, die menschliche Psyche umzuorganisieren und neue Modelle wie Standards zu schaffen.127 Kunst ist Einübung in neue Muster, in einen neuen Habitus, in eine neue, nun technisch konstruierte Existenz: „Das Theater muß zu einer Fabrik des qualifizierten Menschen und einer neuen Lebensweise werden.“128 Daß die Gasmasken-Inszenierung die Fabrik als Ort der Aufführung wählte, kommt daher nicht von ungefähr. Die Theater-Fabrik landete eben in der Fabrik, um von dieser dann dominiert zu werden. Doch selbst nach ihrem Scheitern bleibt eine der Optionen, die technische Montage-Theorie weiter zuzuspitzen, sie zu radikalisieren und zugleich auf die amerikanische und deutsche Tradition der Psychophysik zurückzugreifen. Eisenstein nimmt bei seinen Überlegungen dabei nahezu explizit Bestimmungen von Tretjakow auf, der von „Psycho-Ingenieuren“ und „Psycho-Konstrukteuren“ sprach, die eine „Organisierung der menschlichen Psyche vermittels der Emotion“ ästhetisch umzusetzen hätten.129 So konstatiert er programmatisch: „An die Stelle der metaphysischen und der formalen Ästhetik mit ihrer Auffassung von Kunst als einer Tätigkeit, die bestimmte Empfindungen (eine ästhetische Zäsur) auslöst, muss eine Lehre treten, die Kunst als Mittel begreift, im Rahmen der Ziele des Klassenkampfs einen emotional-organisierenden Einfluss
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aufhörlichen Handlungen, die Gedanken, das Gefühl, die Darmbewegungen, das Ballen der Hand zur Faust sind gleichwertig… Es gibt keine psychischen oder somatischen Reflexe – es existiert nur ein allgemeines System der Kampfhandlungen des Organismus – seine allgemeine reflektorische Einstellung zu seiner Umgebung. […] Die planmäßige Wirtschaft, die klar die sozialen gegenseitigen Beziehungen reguliert, muß im Organismus die rationellsten sozialen reflektorischen Beziehungen schaffen (biologischer Taylorismus). Der Weg der weiteren Entwicklung der Biologie des Menschen – die Lehre von Reflexen – ist vertieft und vermenschlicht durch den revolutionierten Marxismus. Während für den Biologen nur die Bewegungsäußerungen des Organismus bestehen und als Prozesse vom Standpunkt ihres Bewegungsausdrucks untersucht werden, hat die Soziagogik des Organismus zur Aufgabe, das Hervorrufen der systematischen und tiefen Veränderungen in seiner ganzen sozialen, reflektorischen Einstellung.“ Boris Arvatov, „Theater als Produktion“ (1922), ders., Kunst und Produktion, München 1972, S. 85-92, S. 91f. Vgl. einschlägig ders., „Die Kunst im System der proletarischen Kultur“ (1926), in: ebd., S. 11-36. Ders., „Theater und Leben“ (1923), in: ebd., S. 95f., S. 95. Zit. nach: Gaßner, „Von der Utopie zur Wissenschaft und zurück“, S. 80.
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auf die Psyche auszuüben.“130 Das ist auch das Ziel Eisensteins: kalkulierte Effekte. Daher ist für ihn der Zuschauer der eigentliche Gegenstand des Films. Vom Körper auf die Psyche – das ist das Ziel. Sein theoretisches wie praktisches Scharnier ist die sogenannte „Ausdrucksbewegung“. Mit Tretjakow zusammen verfaßte Eisenstein seinen ersten publizierten Aufsatz, der eben den Titel „Die Ausdrucksbewegung“ trug.131 Damit nahm er einen äußerst schillernden Begriff auf, der aus der Psychologie stammte und von Wundt theoretisch gefaßt worden war,132 aber dann später auch von Béla Balázs auf den Film übertragen werden sollte. In dieser Zeit findet er sich sehr häufig, so etwa, um nur die wichtigsten Positionen zu nennen, bei Klages,133 Plessner,134 Fiedler,135 aber auch Warburg.136 Doch was ist nun die besondere Pointe dieses auf den ersten Blick extrem technikfernen Begriffs und macht ihn für eine technisch ausgerichtete Montagetheorie überhaupt nutzbar? Bei Wilhelm Wundt bildet die Ausdrucksbewegung das Scharnier zwischen Individuum und Gesellschaft einerseits und unwillkürlichen und willkürlichen Ausdrucksformen des menschlichen Körpers andererseits.137 Eine Ausdrucksbewegung ist erst einmal „ein natürliches, unwillkürlich 130 Sergej Tretjakov, „Perspektiven des Futurismus“, in: Am Nullpunkt, S. 267-276, S. 267. Einige seiner Aufsätze sind gesammelt in: Sergej Tretjakow, Die Arbeit des Schriftstellers. Aufsätze, Reportragen, Portraits, Reinbek 1972 und in: ders., Lyrik, Dramatik, Prosa, Leipzig 1972. 131 Der Text ist in einer gekürzten englischen Fassung in der Zeitschrift Millenium (New York 1979, Nr. 3) erschienen. 132 Um nur drei, auch Eisenstein bekannte und von ihm rezipierte wichtige Etappen zu nennen: Guillaume-Benjamin Duchenne de Boulogne, Mécanisme de la physionomie humaine ou analyse électro-physiologique de l’expression des passions, 2. Auflage Paris 1876, S. XI; Online verfügbar unter: http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/library/data/lit25058? (letzter Zugriff am 25. Juni 2014); Charles Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren, Stuttgart 1872; Wilhelm Wundt, Grundzüge der Physiologischen Psychologie, Leipzig 1874, Kap. 22. 133 Ludwig Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, Leipzig 1923. 134 Helmuth Plessner und F. J. J. Buytendijk, Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs, in: Plessner, „Ausdruck und menschliche Natur“ (= Gesammelte Schriften VII), Frankfurt/Main 2003, S. 67-130, Erstdruck 1925. 135 Konrad Fiedler, „Das Sehen als Ausdrucksbewegung“ in: ders., Schriften zur Kunst. Text nach der Ausgabe München 1913/14. Mit weiteren Texten aus Zeitschriften und dem Nachlaß, einer einleitenden Abhandlung und einer Bibliographie, hg. von Gottfried Boehm, München 1991. 136 Zu Warburg vgl. Thomas Hensel, Wie aus der Kunstgeschichte eine Bildwissenschaft wurde. Aby Warburgs Graphien, Berlin 2011, bes. S. 118-125. Zur Geschichte der Ausdrucksbewegung ausf. Petra Löffler, Affektbilder. Eine Geschichte der Mimik, Bielefeld 2004; Silvia Horváth, „Die Sprache der Ausdrucksbewegung bei Béla Balázs. Das ausdrucksstarke Gesicht und die Physiognomie der Dinge“, online unter: http://www.kakanien.ac.at/beitr/emerg/ SHorvath1.pdf (letzter Zugriff 26.6.2014). 137 Bei Wundt lautet die Definition: „Indem sich die Gemütsbewegungen fortwährend in äußeren Bewegungen spiegeln, werden die letzteren zu einem Hilfsmittel, durch welches sich verwandte Wesen ihre inneren Zustände mittheilen können. Alle Bewegungen, welche einen solchen Verkehr des Bewußtseins herstellen helfen, nennen wir Ausdrucksbewegungen. Diese bilden aber nicht etwa eine Bewegungsform von besonderem Ursprung, sondern sie
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hervorgebrachtes Anzeichen des Affekts“, das dann durch willentliche Wiederholung konventionalisiert wird, „wobei aus einem solchen konventionalisierten Affektausdruck wieder eine unwillentlich hervorgebrachte Reflexbewegung entspringen kann.“138 Die Ausdrucksbewegung ist so Mittlerin zwischen Natur und Kultur, aber eben auch zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft. Gerade dieser Moment des Übergangs zwischen willentlichen und unwillentlichen, und natürlichen und gesellschaftlichen Dimensionen, die dem Konzept der Ausdrucksbewegung innewohnt, ist die strategische Einsatzstelle der technisch gefaßten Montage der Bilder. Die filmischen Bilder sollen sich in die psychisch-physiologische Bildbearbeitung einhaken, um dann Automatismen neu zu programmieren, indem sie die Grammatik der Wahrnehmung neu konfigurieren. Dadurch verändert sich die Bedeutung der Ausdrucksgestalt und mit ihr auch die Emotion, die ihre Betrachtung auslöst. Später wird Eisenstein fasziniert Henry James‘ Diktum zitieren, daß wir nicht weinen, weil wir traurig sind, sondern traurig sind, weil wir weinen.139 Genau darum geht es hier: Die Ausdrucksgestalt ist der strategische Punkt, über den, so die Theorie, die Emotionen aufgerufen, wiederholt und verändert werden können. Selbst wenn die Ausdrucksgestalten unverändert überdauern, können sie gezielt eingesetzt werden, um bestimmte Emotionen beim Zuschauer hervorzurufen. Sie verfügen über eine regelrechte Grammatik und mit ihr dann auch Semantik und werden daher nicht nur in den filmischen Bildern „gelesen“ und „decodiert“, sondern eben auch qua Affekt miterlebt. Eisenstein studiert Duchenne de Boulogne und Charles Darwins Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren, um die körperliche Semantik und Grammatik der Ausdrucksgestalten genauer fassen zu können. Duchenne nimmt an, daß es zwischen der unsichtbaren Seele und ihrem sichtbaren Ausdruck in den von ihm allerdings nicht so bezeichneten „Ausdrucksgestalten“ eine physiologische Verbindung gibt: die Muskeln und die Nerven. Diese können mit einem besonderen Kabel einzeln innerviert, sprich zur kontrollierten Kontraktion gebracht werden: mit einem Stromkabel. Duchenne de Boulogne nutzt die Elektrizität, um die Muskeln die „Sprache der Leidenschaften und Gefühle sprechen zu lassen.“140 Damit ist die zentrale Idee seiner Untersuchung benannt: Das sind immer zugleich Reflex- oder Willkürbewegungen. Es ist also einzig und allein der symptomatische Charakter, welcher sie auszeichnet. Sobald eine Bewegung ein Zeichen innerer Zustände ist, welches von einem Wesen ähnlicher Art verstanden und möglicher Weise beantwortet werden kann, wird sie damit zur Ausdrucksbewegung. Indem durch sie das Bewußtsein des einzelnen Menschen Teil nimmt an dem Entwicklungsprozeß einer Gesamtheit, bildet sie den Übergang von der individuellen Psychologie zur Psychologie der Gesellschaft.“ 138 Hensel, Kunstgeschichte, S. 122. 139 Sergej Eisenstein, „Wie ich Regisseur wurde“ (1945), in: ders., Schriften 1, S. 185-195, S. 188. 140 Guillaume-Benjamin Duchenne de Boulogne, Mécanisme de la physionomie humaine ou analyse électro-physiologique de l’expression des passions, 2. Auflage Paris 1876, S. XII.
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Gesicht ist ein Zeichenträger, auf dem das Spiel der Falten, Linien und Furchen als lesbare Zeichen zu entziffern ist. Die Photographie dient dazu, „les lignes expressives de la face“ so festzuhalten, daß sich eine, so die schöne Formulierung Duchennes, „Orthographie der Physiognomie in Bewegung“ bestimmen läßt.141 Es geht also um nichts Geringeres als um eine Grammatik und um eine Orthographie der Gesichtssprache. In Duchennes Buch finden sich 72 photographische Aufnahmen, die einem präzisen System folgen, das Duchenne im ersten Teil zu begründen sucht. Die Großaufnahmen des menschlichen Antlitzes, die Eisenstein in seinen Filmen gezielt einsetzt, sind das Pendant genau dieser Bilder. Die Reiz-Reaktionsketten, die bei Duchenne über gezielte elektrische Reize rekonstruiert werden, sind keineswegs kontingente Verbindungen, sondern überzeitliche, natürliche Gegebenheiten. Die Sprache des Gesichts ist eben nicht wie die gesprochene menschliche Sprache durch Arbitrarität und das Prinzip der differentiellen Bedeutungsproduktion gekennzeichnet, sondern durch eine natürliche Verbindung zwischen dem Signifikat der Seele und dem Signifikanten des muskulären Gesichtsspiels einerseits und der ebenso natürlichen Verkettung einzelner Muskeln andererseits. Mit anderen Worten: Es geht Duchenne de Boulogne um eine natürliche Sprache, die dann in die Kultur wieder eingespeist werden und ihr Orientierung geben kann. Eisenstein folgt Duchenne in der Annahme, daß die Ausdrucksgestalt wie eine Sprache strukturiert ist, geht aber mit Wundt davon aus, daß sie keineswegs durchweg natürlich bzw. unwillkürlich ist, sondern eben auch gesellschaftlich formiert, daß sie mit anderen Worten auch verändert werden kann. Entscheidend ist jedoch ihre Lesbarkeit. Doch auch diese ist nur eine Zwischenstation: die nun kontrollierte Darstellung von Ausdrucksgestalten als Figuren von Emotionen zielt auf ihre filmisch kalkulierbare Produktion. Die filmische Montage ist eine Art Bild-Grammatik, die Emotionen als Sprache begreift. Der Aufsatz „Montage der Filmattraktionen“ aus dem Jahr 1924 buchstabiert dieses Programm aus: Eisenstein spricht hier ganz im Sinne der maschinell-automatisch ablaufenden Automatismen von der Aufgabe einer „Klärung der mechanischen Wechselwirkungen, die ständig in uns ablaufen, uns jedoch dann entgleiten, wenn es einen derartigen Prozeß vor dem Zuschauer bzw. der Kamera bewußt zu verwirklichen gilt.“142 Er erwähnt – und das in seinen Texten selten genug – auch Gastew, der programmatisch Mensch und Maschine in im tayloristischen Sinn kurzschließt. In der Theorie Eisensteins verwandeln sich nun Ausdrucks- in Arbeitsbewegungen, die neu organisiert werden können. Eisenstein verknüpft allerdings den ausschließlich auf Zeitökonomie fokussierten Ansatz von Taylor und Gilbreth, der (von der ihn rahmenden kapitalistischen Grundausrichtung abgesehen) ohne jede inhaltliche, intellektuelle oder ideologische Dimension auskommt, mit einer ideologischen Veränderung.143 Bei Gilbreth und Taylor kommt es wie ge141 Ebd. 142 Sergej Eisenstein, „Montage der Filmattraktionen (1924)“, in: ders., Jenseits der Einstellung, S. 15-40, S. 33. 143 Vgl. dazu oben Kapitel I.3.
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Abb. 2-24 Tafel aus: Duchenne de Boulogne, Mécanisme de la physionomie humaine, ou, Analyse électro-physiologique de l’expression des passions des arts plastiques, Paris 1862
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sehen einzig auf die Ersetzung eines überkommenen Habitus durch einen verbesserten neuen an, gilt es doch einzig die Effizienz zu steigern, bei Eisenstein soll darüber hinaus eine inhaltliche Neucodierung der Bedeutung der Elemente erreicht werden. Mit anderen Worten: Gilbreth und Taylor zielen auf die Syntax, Eisenstein kommt es darüber hinaus auch auf die Semantik an. „Auf diese Weise“, heißt es, „wird die Montage (das Zusammenfügen) von rein organischen Bewegungen, ich möchte sagen, von Elementen der Arbeitsbewegung an sich, realisiert. Die so montierte Bewegungshaltung bezieht den Zuschauer mit Hilfe des von ihr hervorgerufenen Effekts in eine entsprechende ideologische Bearbeitung und, maximal, in den Nachahmungsprozeß ein; obendrein liefern die Bewegungselemente insgesamt den visuellen Effekt einer gleichsam in diesem Moment durchlebten Emotion.“144 Der Film ist ein Transformator und eine Wiederholungsmaschine zugleich: Er verwandelt dank der ihm zugrundeliegenden photographischen Technik das reale Bildmaterial um, indem er es neu montiert, um dann mit ihm neue Automatismen auszubilden, durch die die Welt anders gesehen, erlebt, erfahren und gefühlt wird. Diese neue Verkettung erfolgt wie jede Form maschineller Produktion kalkuliert, seriell und dann automatisch. Daher gehe es nicht um „intuitive Schöpfung, sondern [um einen] rationalistischen, konstruktivistischen Aufbau wirkender Elemente; die Wirkung muß von vornherein berechnet und auch analysiert sein, das ist das Wichtigste.“145 Die an sich von Bedeutung freie Technik – und der Film ist zuallererst ein technisches Medium – soll dies leisten. Er wird zur Fabrik, die neue Formen prägt, verbreitet und durchsetzt. Es ist eine Korrektur von außen, die ganz in der Logik des „Neuen Menschen“ als Produkt der Technik verbleibt. Das Verhalten des Menschen kann, so die Annahme, konstruiert werden wie eine Brücke oder eben ein Film. Dies geschieht über sogenannte Attraktionen, die die Aufmerksamkeit der Zuschauer bündeln, rhythmisieren und in neue Bahnen zu lenken versuchen. 1930 hat Eisenstein diese Theorie am Beispiel des PANZERKREUZER POTEMKIN genauer erläutert: „Worin besteht nun diese Methode? Man kann sie nur mit Hilfe von Assoziationshäufungen erreichen, d.h. indem man die Handlungen des Schauspielers in Ausschnitten vorführt und um diese Ausschnitte herum das assoziative Material gruppiert. […] Natürlich besagt jedes Detail für sich allein gar nichts. Aber im Zuschauer ruft es eine Assoziationskette hervor, eine Kette von Bildern, die ihm beim Zuschauen in den Kopf kommen. Indem man all diese Assoziationen miteinander kombiniert, sie in der richtigen Reihenfolge anordnet, kann man beim Zuschauer die gleiche rein physiologische Empfindung auslösen wie im Bühnenschauspiel. Ja, sogar noch mehr: Die Zeitdauer dieser Abschnitte, das Tempo und ihre Reihenfolge vermitteln dem Zuschauer mit Hilfe dieses rein physiologi-
144 Sergej Eisenstein, „Montage der Filmattraktionen (1924)“, S. 38. 145 „Sergej Eisenstein über Sergej Eisenstein, den ‚Potemkin‘-Regisseur“, in: Berliner Tageblatt, 7.6.1926, hier zit. nach: ders., Schriften 2, S. 121-125, S. 123.
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schen Prozesses den Rhythmus und die Schnelligkeit der Assoziationen. Und genau dies ruft im Publikum eine echte Gemütsbewegung hervor.“146 Das ist fast strukturalistisch gedacht: Ein Element gewinnt erst durch seine Differenz zu den anderen Elementen seine Bedeutung. Wenn es daher neu montiert, also in einen neuen Kontext, in eine neue Reihe, Serie oder Verkettung gebracht wird, verschiebt sich diese dergestalt, daß ein und dieselbe Ausdrucksbewegung andere Bedeutungen annehmen und mit ihnen auch andere Emotionen hervorrufen kann.147 Bilder sind kalkulierte wie kalkulierbare Produzenten von Emotionen, indem der Film über die Ausdrucksgestalten als Reizerreger direkt auf den Körper zugreift und ihn über Bilder innerviert. Über Bilder, die Emotionen aufrufen, auslösen und einüben, soll der Körper neu montiert werden. Eisensteins Aufsätze „Die Inszenierungsmethode eines Arbeiterfilms“ aus dem Jahr 1925 und „Montage der Attraktionen“ von 1923 sind weitere programmatische Bestimmungen dieser technisch-pragmatischen Bildtheorie. Eisenstein spricht nun von dem „Studium der Reizerreger und ihrer Montage“, dem „Komplex von kettenförmig aufeinander bezogenen Erschütterungen“,148 der „Erschaffung und Auswahl solcher Erreger“ und schließlich der Attraktion als „Mittel zur Erzeugung jener nicht bedingten Reflexe“ und als „Auslöser klassenbezogen nützlicher Reflexe“.149 Die Psyche ist dabei wie eine Maschine, deren Funktionieren neu programmiert werden soll. Der Film ist dieses neue Programm, das „die Formung des Zuschauers in einer gewünschten Richtung“ leisten soll.150 Diesen kann man den „Konstruktionsprinzipien einer ‚wirkenden Konstruktion‘“ folgend neu konstruieren. Der Assoziationsreflex: Reflexologie An diversen Stellen seiner Schriften spricht Eisenstein von der Option, in seiner Filmtheorie die Reflexologie Bechterews oder die Pawlowsche Reflextheorie aufzunehmen. Das liest sich dann etwa so: „Ein Kapitel über Reflexe. Das alles kann an einem einzigen alten Weib und an einer Kette von Reflexen gezeigt werden. Motorischen. Erotischen. Rein mechanischen. Mit einer komplizierten Kette bedingter Reflexe.“151 Auch die Rede von der „Erzeugung nicht bedingter Reflexe“, die sich in 146 „Antworten zum ‚Panzerkreuzer Potemkin‘ aus der Hollywooder Diskussion von 1930“, in: ebd., S. 187-192, S. 192. 147 In Eisensteins „Lehrprogramm für Theorie und Praxis der Regie“ (in: Filmkritik, 18. Jg., 12. Heft, 1974, S. 537-558) ist die Ausdrucksgestalt ausdrücklich Gegenstand. Dabei geht er auch auf die Geschichte explizit ein. 148 Sergej Eisenstein, „Die Inszenierungsmethode eines Arbeiterfilms“ (1925), in: ders., Schriften 1, S. 227-229, S. 228. 149 Ebd., S. 229. 150 Ders., „Montage der Attraktionen“ (1923), in: ebd., S. 216-221, S. 216. 151 Ders., „Notate zur Verfilmung des Marxschen ‚Kapital‘“, in: ders., Schriften 3, S. 289-310, S. 305.
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seinen Schriften findet, verweist auf das seinerzeit weit verbreitete reflexologische Begriffsinstrumentarium. Beide Theorien, die Reflexologie Bechterews und die Pawlowsche Reflextheorie, die erhebliche Unterschiede aufweisen, waren gewissermaßen die russische Alternative zur Psychoanalyse. Anders als diese waren sie in Rußland anerkannt, wurden gefördert und auch von Intellektuellen und Künstlern breit rezipiert.152 Zu den Zuhörern der Vorlesungen Bechterews gehörte etwa Dsiga Wertow, der, wie ich im vorhergehenden Kapitel gezeigt habe, ungleich intensiver als Eisenstein die reflexologischen Theorien auf den Film übertragen hat. Während Bechterew 1927 vergiftet wurde, nachdem Stalin ihn mit dem Bannfluch einer angenommenen Paranoia belegt hatte, avancierte Pawlows Theorie zu einer der zentralen Referenztheorien des Regimes.153 Seinen Laboren widmete wie bereits erwähnt Pudowkin mit MECHANIK DES GEHIRNS seinen ersten Film. Reflexologie und Film sind in der Sowjetunion der 1920er Jahre offenbar Wahlverwandte. Ähnlich wie die Theorie der Ausdrucksbewegung offeriert die Reflexologie die Möglichkeit einer Kulturalisierung der Natur, einer Technisierung des Körpers und einer Umprogrammierung seiner Automatismen. Das macht die Bedeutung insbesondere der Theorie Pawlows in der Sowjetunion aus. „Seine neuen, bedingten Reflexe sollten der höhere Mechanismus sein, der den individuellen Organismus während seines Lebens von seinen alten Erbkoordinaten, welche die niederen Reflexe seines Fleisches beherrschen, befreien kann.“154 Und der Film erblickte seine Aufgabe darin, dies mit Hilfe der Bilder zu tun. Es galt über den Transmissionsriemen der Bilder nicht nur die Wahrnehmung und mit ihr die Weltsicht umzugestalten, sondern über die durch sie hervorgerufenen bedingten Reflexe aus dem alten Menschen einen neuen zu machen. Die überkommenen Reiz-Reaktions-Ketten sollen durch neue ersetzt werden. Mitunter hat es ein wenig den Anschein, als zitiere Eisenstein die Reflexologie, um nicht Freud sagen zu müssen. So notiert er: „Freud nicht herausheben, sondern als Sonderfall (‚erot. Sektor‘) der Reflexologie im Allgemeinen. Annoter son nom en passant. Stattdessen die Jafetideologie zitieren. Denn kaum jemand erinnert sich zusammenhängend an die Thesen der Dialektik, der Reflexologie und des Prozentsatzes Freud, der materialistisch akzeptabel ist.“155 Jukov konstatierte 1931 nicht zu Unrecht, daß „der revolutionäre Flügel der Kinematographisten die Psychologie aus dem Arsenal ihrer Methode streicht, und sie mit Physiologie und Reflexologie ersetzt“.156 Doch auch jenseits dieser einerseits modischen, andererseits aber politisch notwendigen Strategie finden sich auch bei Eisenstein zahlreiche Anleihen bei der Reflexologie, auch wenn, anders als etwa bei Vygotski, weder Bechterew noch 152 Dieser Zusammenhang wird ausführlich dargestellt in: Alexander Etkind, Eros des Unmöglichen. Die Geschichte der Psychoanalyse in Rußland, Leipzig 1996. 153 Vgl. Torsten Rüting, Pavlov und der Neue Mensch. 154 Ebd., S. 147. 155 Eisenstein-Nachlaß, Russisches Staatliches Archiv für Literatur und Kunst, 1923-2-1114, 62f., zit. nach: Bohn, Film und Macht, S. 66. 156 Proletarskoe kino, Nr. 1, 1931, S. 28, zit. nach: ebd., S. 67.
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Pawlows Schriften explizit zitiert werden.157 Es scheint so, als käme Eisenstein einzig mit dem Zentralgedanken aus, daß es Aufgabe der Kunst wie der Gesellschaft überhaupt sei, neue bedingte Reflexe zu schaffen, Natur in Kultur zu verwandeln. Weitere Differenzierungen interessieren ihn offenkundig nicht. In diesem Sinne heißt es programmatisch im Aufsatz „Montage der Filmattraktion“: „Die Methode der Agitation mit Hilfe einer Schau aber besteht darin, eine neue Kette von bedingten Reflexen zu schaffen, und zwar über das Assoziieren ausgewählter Erscheinungen mit den (durch entsprechende Techniken) hervorgerufenen bedingten Reflexen.“158 Dementsprechend sei die Montagetheorie als „Methode der Erziehung von Reflexen mit Hilfe einer wirksamen Schau“ zu entwickeln und zu entwerfen.159 Die Bildungsaufgabe des Films ist also das Programmieren von neuen bedingten Reflexen. Immer wieder notiert Eisenstein, daß ihn sein Weg ins Pawlow-Institut führen müsse, um seine Theorie wissenschaftlich zu fundieren – nur geht er eben nicht dorthin und rezipiert Pawlows Schriften vermutlich auch nur kursorisch. So heißt es etwa in seinem Tagebuch: „Bei meinem System des nichtrationalisierten Dynamismus, d.h. der Vorwärtsbewegung ohne ‚Sicherung des Hinterlands‘ der theoretischen Zwischenstationen beunruhigt mich die Frage sehr, wohin denn weiter nach der I[ntellektuellen] A[ttraktion] 28? Jetzt ist es klar – in die exakte Wissenschaft. In das Pawlow-Institut. Oder auf jeden Fall in das Laboratorium der Untersuchung exakter reflexologischer Methoden in der Kunst.“160 Zu ersterem kam es nicht, zu zweiterem hingegen schon. An anderer Stelle heißt es: „Hätte ich damals mehr über Pawlow gewußt, ich glaube, ich hätte die ‚Theorie der Montage der Attraktionen‘ als ‚Theorie der künstlerischen Reizerreger‘ bezeichnet.“161 Und auch als formelhafte Theorieabbreviatur erscheint Pawlow: „Dialektische Bewegung. Kampf [Reflex-]Hemmung. Freud, Pawlow, Bechterew. Meine Schaffensformel.“162 Bechterews Theorie der sozialen Suggestion findet nicht nur bei Wertow sondern auch bei Eisenstein ihr filmtheoretisches Pendant. Eisenstein vertrat die These, daß der „Film aufgrund der in ihm wirksamen optischen und akustischen rhythmischen Gesetzmäßigkeiten den Zuschauer in den Bann ziehe und damit in einen regressiven Zustand versetze, der der Suggestibilität im Zustand der Hypnose gleichkomme.“163 In den Aufzeichnungen Eisensteins zum „Grundproblem der Kunst“ findet sich ein langes Zitat des Theaterhistorikers Joseph Gregor an René Fülöp-Miller, das diese Überlegungen ausformuliert:164 „Ich halte den Film für eine 157 In Wygotzkis Psychologie der Kunst werden hingegen beide breit diskutiert. 158 Sergej Eisenstein, „Montage der Filmattraktionen (1924)“, in: ders., Jenseits der Einstellung, S. 15-40, S. 22. Dort (S. 27) wird auch Bechterew angeführt. 159 Ebd., S. 28. 160 Ders., RGALI 1923-2-1109, 5f., zit. nach Bohn, Film und Macht, S. 60. 161 Ders., „Wie ich Regisseur wurde“, S. 194. 162 Eisenstein-Nachlaß (Russisches Staatliches Archiv für Literatur und Kunst), 1923-2-1109, 5f., zit. nach Bohn, Film und Macht, S. 60. 163 Ebd., S. 241. 164 Russisches Staatliches Archiv für Literatur und Kunst – 1923-2-234, zit. nach: ebd., S. 240.
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Nivellierung des Seelenlebens durch optische Rhythmik, denn durch das physiologische Phänomen der Bildzerteilung (so und so viele Bilder in der Sekunde, die zusammen das lebende Bild ergeben) wird eine Art Suggestion ausgeübt, die man bei jeder Kinovorführung beobachten kann. Wie schwer es ist, den Blick von der Leinwand wegzulenken! Diese Suggestion auf Grund optischer Rhythmik wäre das Urmaterial, wie Rhythmus und Tonhöhe in der Musik. Nun vermute ich, daß ähnliche, aber höhere rhythmische Verhältnisse, wie in der Zeitfolge des Einzelbildes, den Film überall durchziehen, also auch in den Verhältnissen der Mimik, der Dramaturgie, der Szenen, usw. Ich glaube zum Beispiel, daß die Symbolistik, mit der der Film ganz durchtränkt ist (im amerikanischen Film: Küsse, Telephone, Beine, im russischen: Kreuze, Fahnen, Maschinengewehre) an ganz genau bestimmten Stellen eintritt und wiederkehrt. Auf diese Weise würde nach meiner Auffassung die Suggestion entstehen, mit der dann vieles zu erreichen ist, Grundlage einer psychologischen Dramaturgie des Filmes… Unverbesserlicher Optimist habe ich nämlich die Hoffnung, daß schon der alte Homer durch die ewige Wiederkehr seines Hexameterrhythmus bei seinen Hörern eine ähnliche Suggestion erzeugt hat.“165 Das Auge als ideologische Kampfzone Wie kann man diese Option in ihrer Ergänzung der bereits skizzierten biomechanischen und psychophysischen Filmtheorie genauer präzisieren? Assoziationsreflexe und Ausdrucksbewegungen scheinen durchaus komplementär zu sein. Eine mögliche Antwort findet sich in Eisensteins 1925 erschienen Aufsatz „Zur Frage eines materialistischen Zugangs zur Form“, in dem er sich polemisch von Wertow absetzt. Jenseits der Tatsache, daß Wertow und Pudowkin für eine Umsetzung der Reflexologie standen und Eisenstein daher vermutlich allein schon aus strategischen Gründen einen anderen theoretischen Bezugsrahmen wählen wollte, sind auch die inhaltlichen Differenzen erheblich. Für Wertow war der Film zuallererst eine Möglichkeit, das menschliche Auge durch ein technisches, nun „Kino-Glaz“ genanntes, nicht nur zu ersetzen, sondern mit diesem dann objektiv auf die Welt der Erscheinungen zu blicken und so zugleich radikal zu verfremden und neu zu beurteilen. Ute Holl nennt das den „Versuch, das Bewußtsein über das Außen eines Apparates sich selbst als Fremdes und Anderes erscheinen zu lassen, um damit sich
165 René Fülöp-Miller, Die Phantasiemaschine. Der Film. Eine Saga der Gewinnsucht, Berlin u.a. 1931, S. 134f. Ein Exemplar des Buchs findet sich in Eisensteins Bibliothek. Zur Ironie der Geschichte gehört, daß eine der ersten filmpraktischen Arbeiten Eisensteins das Ummontieren von Fritz Langs DR. MABUSE, DER SPIELER war, in dem die Hypnose eine wichtige Rolle spielt. Dazu ausf.: Jekaterina Chochlowa, „Die erste Filmarbeit Sergej Eisensteins. Die Ummontage des ‚Dr. Mabuse, der Spieler‘ von Fritz Lang“, in: Eisenstein und Deutschland. Texte, Dokumente, Briefe, Berlin 1998, S. 115-122.
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selbst als anderes beurteilen zu können.“166 Das Kino-Auge des Films reißt den Betrachter aus seiner gewohnten Wahrnehmung heraus, um ihn dann in die filmisch objektivierte Welt hineinzuwerfen, in der sein Blick erst einmal haltlos umherirrt. Das ist die Strategie Wertows: die Konfrontation von überkommenen Wahrnehmungs- und Blickformen mit einer neuen technischen und technisch aufgezeichneten Welt, in der sich diese dann als historisch überlebte erfahren. Eisenstein kritisiert diesen Ansatz als pointillistischen Flickenteppich, dem es auf die Zuschauer-„Einwirkung“ nicht ankomme. Anders als die dialektisch konzipierte wie technisch geplante Montage seiner Filme seien die von Wertow „primitiver Impressionismus“.167 Anders formuliert, setzt Wertow in den Augen Eisensteins den Zuschauer einem ungeordneten Chaos der Phänomene aus, die im Film zudem schlicht affirmiert und nicht verändert werden. Wertow ist also in seinen Augen ein Konservativer der Revolution, da er die Wirklichkeit zwar als veränderte zeigt, nicht aber als zu verändernde und dies weiterhin ohne Sinn für die Form, die Dialektik und die Struktur. Er ziele noch nicht einmal auf eine Ummontierung der Wirklichkeit und gar auf eine „Organisation des Zuschauers mit Hilfe organisierten Materials“,168 sondern „stenographier[e]“ das Geschehen, das sich durch einen „kosmischen Zwang“ auszeichne.169 Für Wertow ist – und da hat Eisenstein durchaus recht – die Reflexologie zuallererst ein Verfahren der Beobachtung, eine „mit filmischen Mitteln gewonnene Wahrheit“,170 die sich aber eines ideologischen oder dialektischen Zugriffs weitgehend enthält. Anders Eisenstein: Ihm ist gerade an diesem gelegen. Seine montierten filmischen Wahrheitsstücke sollen „sich auf den Zuschauer stürzen“, um „diesen mit entsprechenden Assoziationen dem tragenden und letztgültigen Ideenmotiv gefügt [zu] machen.“171 An die Stelle von Wertows Filmauge trete seine „Filmfaust“. Der Film wird zur ideologischen Kampfzone. Bilddenken Damit ist die Einsatzstelle benannt, die Eisenstein dann in seiner Theorie des Bilddenkens weiter verfolgt. Einschlägig ist hierbei der Aufsatz „Perspektiven“ aus dem Jahr 1929. Dort heißt es programmatisch: „Wir sind einfach nicht imstande, in uns eine Umorientierung innerhalb der Wahrnehmung des ‚Erkenntnis‘-Aktes als eines Aktes mit unmittelbar wirksamer Resultate vorzunehmen. Obwohl durch die Reflexologie ausreichend begründet wurde, daß der Erkenntnisprozeß die Vergrößerung der Anzahl bedingter Erreger darstellt, die von seiten des betreffenden Sub166 Holl, Kino, S. 290. Von Fülöp-Miller gibt es auch einen sehr lesenswerten Bericht einer Rußlandreise: Fantasie und Alltag in Sowjet-Rußland, Berlin und Hamburg 1978. 167 Sergej Eisenstein, „Zur Frage eines materialistischen Zugangs zur Form“, S. 235. 168 Ebd., S. 237. 169 Ebd., S. 236. 170 Holl, Kino, S. 283. 171 Sergej Eisenstein, „Zur Frage eines materialistischen Zugangs zur Form“, S. 237.
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jekts zu aktiver reflektorischer Reaktion neigen, was nichts anderes heißt, als daß sogar in der Mechanik des Prozesses selbst dies ein aktiv wirksames und kein passives Phänomen ist.“172 Nun kommt es Eisenstein darauf an, die „chinesische Mauer“ zwischen Bildern und Denken einzureißen und mit ihr dann auch jene zwischen Bilddenken und Bildhandeln.173 Die Bilder werden erneut als eigene Sprache angesehen, denen nicht nur eine eigene Erkenntniskraft zukomme, sondern die darüber hinaus auch eine Art soziales Ferment darstellen. Während Eisenstein mittels der Biomechanik und der Psychophysik die Grammatik und Syntax der Ausdrucksgestalten zu erarbeiten suchte und die Reflexologie zur Hilfe nahm, um dank der Bilder und ihrer Montage Verhaltens-, Wahrnehmungs- und Denkformen zu konditionieren, liegt nun der Schwerpunkt auf dem Intellekt, auf der Erkenntnis. Und diese sind maßgeblich durch die Dialektik, genauer durch den Konflikt bestimmt. Das war bei den beiden vorherigen Optionen noch nachgeordnet, für die die Verkettung, die Reflexe und die Automatismen zentral waren. Nach der Syntax und der Grammatik folgt nun die Semantik. Wenn Eisenstein nun erneut vom „Schmieden eines neuen sozialen Reflexes“174 spricht, so verläuft dieser über Bilder als Mittel der Erkenntnis. Bekanntlich bezeichnet Eisenstein diese Option als „intellektuellen Film“. Ihm komme es zu, Körperlichkeit und Erkenntnis zu versöhnen, die Kette der Ausdrucksgestalten und Reflexe mit einem intellektuellen Prozeß zu verkoppeln. „Erst der intellektuelle Film“, so heißt es explizit, „wird in der Lage sein, dem Zwist zwischen der ‚Sprache der Logik‘ und der ‚Sprache der Bilder‘ auf der Grundlage einer Sprache der Filmdialektik ein Ende zu setzen, der intellektuelle Film in einer nie dagewesenen Form und einer unverhüllten sozialen Funktionalität; ein Film von extremer Erkenntniskraft und maximaler Sinnlichkeit zugleich, der sich das gesamte Arsenal von Einwirkungen durch visuelle, auditive und biomotorische Reizerreger angeeignet hat.“175 Eisenstein bleibt seiner Strategie treu, den Film als Wiederholungsmaschine und Transformator bewußt einzusetzen. Doch die Kampfzone verschiebt sich: Während es bisher um Reiz-Reaktionsketten, körperliche Ausdrucksformen und bedingte Reflexe ging, zielt er nun auf den Film als regelrechte Denkform, die erst den menschlichen Denkprozeß darzustellen habe, um ihn dann kontrolliert leiten und umleiten zu können. Es komme nun, wie „Dramaturgie der Filmform“ ausführt, auf das Lenken der Gefühle und die Förderung des Denkprozesses zugleich an.176 172 Ders., „Perspektiven (1929)“, in: ders., Jenseits der Einstellung, S. 75-87, S. 80. 173 Vgl. ebd., S. 81: „Der anbrechenden Epoche unserer Kunst steht auch die Sprengung der Chinesischen Mauer zwischen der ersten Antithese einer ‚Sprache der Logik‘ und der einer ‚Sprache der Bilder‘ bevor.“ 174 Ebd., S. 84. 175 Ebd., S. 85. 176 Ders., „Dramaturgie der Filmform (1929), in: ders., Jenseits der Einstellung, S. 88-111, S. 110.
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Was sind nun Eisensteins theoretischen Gewährsleute? Auf der einen Seite die Gestaltpsychologie und die sogenannte kulturhistorische Schule der Psychologie. Er rezipiert intensiv einschlägige Publikationen, korrespondiert mit Kurt Lewin und zeigt sich fasziniert von seinen filmischen Experimenten.177 Er besaß ein Exemplar von Lewins Die Entwicklung der experimentellen Willenspsychologie und die Psychotherapie, wo dieser versucht, mittels filmischer Analysen eine „konstruktive Begriffsbildung“ mittels „dynamischer Gesetze“ nachzuweisen,178 studierte und annotierte das Manuskript des erst postum erschienen Buchs Psychologie der Kunst von Wygotzki und stand in engem Kontakt mit Alexander Luria, dessen Buch The Nature of Human Conflicts 1932 in englischer Sprache erschien.179 Auf der anderen Seite rezipierte er auch u.v.a. Sigmund Freud und andere psychoanalytische Theorien, Ernst Kretschmer und Lucien Lévy-Bruhl. Das ist eine sehr heterogene theoretische Gemengelage, bei der auf den ersten Blick nicht erkennbar ist, was der rote Faden der Rezeption sein könnte. Entscheidend scheint mir die These Eisensteins zu sein, daß die Bilder eine eigene Denkform darstellen, die anders das logische Denken auf archaischen, überkommenen, ja mythischen und prälogischen Schichten der menschlichen Existenz basieren. Bilder sind eine Form der historischen Sedimentierung der menschlichen Geschichte, eine Gestalt überdauerter älterer Formen, die gleichwohl in den Alltag, die Wahrnehmung und das Denken intervenieren. Aufgabe der Kunst sei es, diese dialektisch mit dem progressiven Denken zu verbinden und so eine neue Synthese herzustellen. Das Bilddenken qua Montage ist dementsprechend eine kalkulierte Assoziation, ja Konfrontation regressiver und progressiver Tendenzen, die, wenn sie aufeinanderprallen, nicht nur einen Moment der Ekstase hervorrufen sollen, sondern zugleich auch einen Schritt von Quantität zu Qualität, von Bildern zur Erkenntnis. So könne es zur intendierten „Projektion des dialektischen Systems der Dinge ins Gehirn“180 kommen. Die „komplizierte Gefühlsumwandlung“,181 von der Wygotzki als kathartischer Leistung der Kunst spricht, ist das eine, die Verwandlung von Bildern in Begriffe das andere. Denn genau darum geht es. „Die Kraft der Montage beruht darin, daß Emotionen und Verstand des Zuschauers am schöpferischen Prozeß teilnehmen. Sie lassen den Zuschauer den gleichen schöpferischen Weg zurücklegen, den der Autor gegangen ist, als er das verallgemeinerte Bild schuf.“182 Die Wiederholung des Schöpfungs- und Denkprozesses des Regisseurs in der Rezeption soll in bewußter Lenkung Abstraktion und Kon177 Vgl. dazu Oksana Bulgakowa, „Sergei Eisenstein und die deutschen Psychologen“, in: dies. (Hg.), Herausforderung Eisenstein, S. 80-91. 1929 besuchte Eisenstein auf Einladung von Kurt Lewin das Berliner Psychologische Institut (Bohn, Film und Macht, S. 165). 178 Kurt Lewin, Die Entwicklung der experimentellen Willenspsychologie und die Psychotherapie, Leipzig 1929, S. 24 und 25. 179 Alexander Luria, The Nature of Human Conflicts, New York 1976, Erstausgabe 1932. 180 Sergej Eisenstein, „Dramaturgie der Filmform (1929), in: ders., Jenseits der Einstellung, S. 88-111, S. 88. 181 Wygotski, Psychologie der Kunst, S. 249. 182 Eisenstein, „Montage 1938“, S. 177.
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Abb. 2-25 Separator-Szene aus Eisensteins DIE GENERALLINIE
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kretion miteinander verbinden. Die Philosophie ist abstrakt, die Kunst konkret, die Bilder können, wenn man sie montiert, beides zugleich sein. Eisenstein illustriert das ausführlich in einem Gespräch mit Studierenden am Beispiel der Treppenszene aus dem PANZERKREUZER POTEMKIN und der Separator-Szene der GENERALLINIE.183 Am Anfang steht ein „emotionales Einpendeln des Zuschauers“, dann folgt die Transposition der Bild- und Handlungselemente auf verschiedenen Ebenen, schließlich wird „das rings um den Separator anschwellende Freuden-Pathos aus zunächst rein naturalistischen Elementen in ein Spiel überführt, bei dem es durch alle erdenklichen Stadien und montage-generierten Interpretationsverfahren hindurch in die begriffliche Reflexion der Gesamtstruktur transponiert“.184 Dabei wird, wie Eisenstein mehrfach explizit anmerkt, ein Atavismus der Bilder ausdrücklich mobilisiert. Sie werden aufgerufen, um dann transformiert zu werden. Und diese Tradition reicht weit zurück in mythisch-religiöse Kontexte: „1. Moses und der Felsen. Gral. Separator. 2. Der Raub der Europa. Marfa und der Stier. 3. Der Stier Apis. Apokalypse. 4. David und Goliath (Žarov und Vas’ka).“185 In DIE GENERALLINIE findet sich daher nicht von ungefähr zu Beginn eine Postkarte der Mona Lisa, auf dem der die Kamera verweilt. Die Linie der montierten Transposition folgt hier den Initialen: Aus der Mona Lisa wird erst die Madonna und dann eben jene Darstellerin, die ihren wirklichen Namen auch im Film behält: Marfa Lapkina.
183 Ders., „Bauformen des Pathetischen“, in: ders., Schriften 4, S. 218-230. 184 Ebd., S. 228. 185 Zit. nach ders., Schriften 4, S. 19.
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2. Technikphotographien: Aufnahmen aus dem Reich der Freiheit und der Notwendigkeit
„Die Wirklichkeit unseres Jahrhunderts ist die Technologie – die Erfindung, Konstruktion und Instandhaltung der Maschine. Maschinen zu benutzen, heißt dem Geist dieses Jahrhunderts zu entsprechen. Er hat die transzendentale Spiritualität vergangener Epochen ersetzt.“1 László Moholy Nagy
Ende der 1920er Jahre ist eine Eruption von Photographien technischer Konstruktionen zu konstatieren: Aufnahmen von Brücken, Maschinenteilen, Stahlkonstruktionen, Hochöfen und Industrieanlagen sind mit einem Mal überall zu finden. Eine nun einsetzende ästhetische Faszination für das vermeintlich spröde Reich der industriellen Technik ist unübersehbar und auch jenseits von Firmenschriften, ihrem angestammten Ort, omnipräsent. Die Technik hält fulminant Einzug in das Reich der Photographie, die damit einen ihr entsprechenden Gegenstand gefunden hatte. „Den Zeitgenossen“, konstatiert Vicki Goldberg, „leuchtete es besonders ein, daß eine Maschine verwandt wurde, um Maschinen im Bild festzuhalten.“2 Binnen weniger Jahre erscheinen zahlreiche aufsehenerregende Bücher: Eisen und Stahl von Albert Renger-Patzsch, Métal von Germaine Krull, die Broschüre The Story of Steel von Margaret Bourke-White und ihr Buch Eyes on Russia oder schließlich der von Eugen Diesel herausgegebene Band Das Werk. Technische Lichtbildstudien, um nur einige wenige unter vielen weiteren zu nennen. Zugleich erscheinen zahllose solcher Bilder auch in populären Zeitschriften, in Illustrierten, als Werbebroschüren, auf Plakaten, in Bildbänden mit hohen Auflagen, in Ausstellungen oder, um nur noch ein letztes Feld anzuführen, als Gegenstände von Photomontagen.3 1934 wurde im 1 Zit. nach: Kim Sichel, Avantgarde als Abenteuer. Leben und Werk der Photographin Germaine Krull, München 1999, S. 75. 2 Vicki Goldberg, Bourke-White, o.O. 1988 (Ausstellungskatalog Royal College of Arts u.a.), S. 11. 3 Vgl. pars pro toto für die Vielzahl an Artikeln: E. O. Hoppé, „Poesie der Technik“, in: Die Koralle, 1927/28, S. 288-292; O. Müller, „Technik und Schönheit“, in: AGFA Photo-Blätter, 1930/31, S. 315; Paul Westheim, „Maschinenromantik“, in: Das Kunstblatt, 1923, S. 33-40; L. Volkmann, „Wechselwirkungen zwischen Technik und Kunst“, in: Archiv für Buchgewerbe und Gebrauchsgraphik, 1928, S. 405-430; Germaine Krull, „Wege der modernen Photographie“, in: Photographie für alle, 1926, S. 315-317; M. von Karnitschnigg, „Zur
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Abb. 2-26 Umschlag des Katalogs der Ausstellung „Machine Art“, The Museum of Modern Art, New York 1934
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New Yorker Museum of Modern Art die Ausstellung „Machine Art“ gezeigt, die ausschließlich aus technischen Artefakten und ihren Darstellungen bestand.4 Die industrielle Montage wird mit einem Schlag zum Gegenstand im Feld der Kunst und der Photographie, um dort dann nun ästhetisch in Gestalt von Büchern, Bildberichten oder Anzeigen montiert zu werden. Bemerkenswert ist das nahezu zeitgleiche Erscheinen der Montage als Verfahren und von Montageteilen als Gegenstand der Photographie. Mit einem Mal entdeckt die Photographie die Montage für sich. Mitunter werden dabei auch technische Möglichkeiten der Photographie wie etwa Doppel- oder Mehrfachbelichtungen verwendet, um das neue Sehen, von dem nun die Rede ist, ins Bild zu setzen. Die neue Photographie, die sich nun durchsetzt, ist in vieler Hinsicht eine technische. Sie besinnt sich ihrer technischen Möglichkeiten und entdeckt längst verschollene und zumeist verworfene Bildpraktiken wie Solarisationen, Photogramme oder eben auch Montageverfahren durch die Kombination mehrerer Negative wieder neu. Dank der Technik erfindet sich die Photographie als Technik neu. Bemerkenswert ist der enorme impact, mit dem dies ästhetisch wie motivisch geschieht. Nicht nur finden die neuen Technik-Bilder eine nahezu uneingeschränkte Resonanz in allen Printmedien von Avantgardezeitschriften bis hin zu Magazinen mit hoher Auflage und auch allen politischen Feldern von der extremen Linken bis zur äußersten Rechten, sondern weisen auch Überschneidungen mit Filmen wie LA MARCHE DES MACHINES von Eugène Deslav,5 den Kompilationsfilm IM SCHATTEN DER MASCHINEN von Albrecht Viktor Blum und Leo Lania, der eine besondere Geschichte aufweist, da er auf Material von Dsiga Wertow zurückgriff und dessen Technikenthusiasmus in Kritik ummontierte,6 oder DIE BRÜCKE7 von Joris Ivens auf. Von letzterem erschienen etwa film stills unter dem Namen seiner damaligen Lebensgefährtin Germaine Krull in der niederländischen Avantgardezeitschrift i10. Im Film finden sich dann umgekehrt Einstellungen, die Eingang in ihr Buch Métal gefunden haben. Doch was ist an Photographien von technischen Konstruktionen, Stahlwerken und Fabriken, Brücken, den Gerüsten des Eiffelturms, dem Pont Transbordeur in Marseille oder gar Ersatzteilen von Maschinen überhaupt so interessant, daß sie für einen Zeitraum von mehreren Jahren diesen Raum einnehmen können, der ihnen später dann nie wieder zugebilligt werden wird? Technikphotographie gibt es, wenn man an Werbeaufnahmen für die Automobilindustrie oder schlicht an Werksdokumentationen oder Kataloge denkt, natürlich bis heute, doch die Allge-
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Aesthetik moderner Industrieaufnahmen“, in: Photofreund-Jahrbuch, 1928, S. 95-98; F. Calebow, „Mensch und Maschine“, in: Das Werk, 1924, S. 192-197. Vgl. dazu Machine Art, New York 1994, Reprint des Ausstellungskatalogs von 1934; sowie Jennifer Jane Marshall, Machine Art 1934, Chicago und London 2012. Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=PruXWzevgGQ. (letzter Zugriff am 28.4.2016) Online verfügbar unter: https://vimeo.com/34229317. Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=ZUOUddxY_To.
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genwart von abstrakten Technik-Photographien in allen Feldern der publizierten Bilder ist charakteristisch für den Zeitraum, der vom Ende der 1920er Jahre bis zu Beginn der 1940er Jahre anzusetzen ist. Und in welcher Weise hängen sie mit jener bereits skizzierten Geschichte der filmischen Montage als Psychotechnik und einer neuartigen ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts zusammen? Anders als in Filmen kann es hier nicht um Bewegungsabläufe und Automatismen gehen, nicht um Ausbildung von Reflexen oder um Narrative eines neuen Menschen, da wir es mit Einzelbildern oder allenfalls relativ kurzen Bildfolgen zu tun haben. Das Reich der Bewegung ist ihnen notwendig fremd. Gleichwohl ist auch dieser große Bereich von Montagen in der Populärkultur montiert: die Photographien erscheinen, ob nun in Büchern, Zeitschriften oder Broschüren, eben ihrerseits in montierter Form. Sie werden integriert in größere Zusammenhänge, in Texte, die in mehr oder weniger blumiger oder programmatischer Form ein neues Zeitalter anbrechen sehen und dieses auszubuchstabieren suchen, in Bildberichte aus der großen weiten Welt der Technik oder eben als Teil der Komposition eines Photo-Buchs. Die Technik-Photographien sind, mit anderen Worten, montierte visuelle Abbreviaturen in einem neuen Reich der Montage, dessen Bedeutung sich erst allmählich abzeichnet. Und zugleich finden sie sich in höchst unterschiedlichen politischen, epistemischen, ästhetischen oder publizistischen Kontexten. Mitunter erscheint ein- und dasselbe Bild in meist etwas unterschiedlicher Form in Werbeschriften von Firmen, Avantgardezeitschriften, Illustrierten und Bildbänden. Ein Wunderland der Technik Ist in den 1920er Jahren von der industriellen Technik die Rede, so geschieht dies zumeist im Modus des Staunens – und dann später des Raunens: Ein neues, von Menschenhand gemachtes Wunderland tut sich auf, das die Photographien nun erkunden und verbreiten. Franz Kollmann hat diesem neuen Zauberreich ein sehr erfolgreiches Buch mit dem programmatischen Titel Wunderwerke der Technik gewidmet, das diesem auch gerecht wird und in Hülle und Fülle „Wunder“ der neuen technischen Welt versammelt: Wunder des Stoffs, der Kraft, der Arbeit und Industrie, Bauwunder, Wunder des Verkehrs, der Verständigung und schließlich solche auf technischen Grenzgebieten wie etwa der Röntgenstrahlen. In diesem Band finden sich dann vor allem Bilder einer den Menschen übersteigenden Technik, erscheint dieser doch ein wenig wie bei Photographien des 19. Jahrhunderts von eindrucksvoll großen Monumenten des Altertums vor allem als Maßstabsindikator: Der Mensch verschwindet vor den ihn in jeder Hinsicht überragenden Gebilden. Nicht die Pyramiden oder das Meer, wie noch bei Kant, die Technik ist das neue Erhabene der modernen Welt: „Erhaben ist die Technik im ursprünglichsten Sinn“.8 Damit ist das Programm vorgegeben: Weder die Antike noch die Natur 8 Ders., Wunderwerke der Technik, 3. Auflage, Stuttgart u.a. 1931, S. VII. Das Buch wird als eine der wenigen Literaturangaben auch im Katalog der Ausstellung „Machine Art“ des
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Abb. 2-27 Umschlag von Franz Kollmann, Schönheit der Technik, München 1928
sind fortan die kulturellen Bezugsgrößen des Erhabenen, sondern die Technik. Dementsprechend orientiert sich auch die technische Kunst der Photographie an dieser, um sich in Richtung einer modernen Neukonzeption ihrer Ästhetik neu zu justieren. Das nun proklamierte neue Sehen ist ein durch und durch technisches. Wenn etwa die neuen Sichtweisen der Photographie wie etwa extreme Auf- oder Untersichten zelebriert werden, so ist dies ohne Technik undenkbar. Florent Fels diagnostiziert in seinem Vorwort zu Germaine Krulls Buch Métal: „Stahl verwandelt unsere Landschaften. Wälder von Masten treten an die Stelle früherer Bäume.“9 Damit nimmt er, vermutlich ohne es zu wissen, ein berühmtes wie emblematisches Beispiel des neuen Sehens der Avantgardephotographie auf: Alexander Rodtschenkos Aufnahmen von Kiefern und Schornsteinen. Erstere entstanden 1927, als der russische Künstler und Photograph Alexander Rodtschenko für
MOMA von 1934 erwähnt. Vgl. dazu: Machine Art, Ausstellungskatalog Museum of Modern Art, New York 1934, Reprint New York 1994, o.S. Weiterhin werden angeführt: Walter Gropius und László Moholy-Nagy, Neue Arbeiten der Bauhauswerkstätten, München 1925; der Katalog der Werkbundausstellung „Die Form ohne Ornament“ aus dem Jahr 1924; Le Corbusier, L’art décoratif d’aujourd’hui, Paris o.J. und Richard Voigt, Der neue Markt: Standardartikel aus der industriellen Produktion, Berlin 1931. 9 Germaine Krull, Métal, Paris 1927.
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Abb. 2-28 Franz Kollmann, Schönheit der Technik, München 1928
einige Tage in der Datscha Majakowskis weilte10 und für ihn ungewöhnliche Ausflüge in die Natur unternahm, um dann in seinem Tagebuch zu notieren: „In der Sommerfrische in Puschkino gehe ich umher und schaue mir die Natur an: hier ein kleiner Strauch, dort ein Baum, hier eine Schlucht, Brennesseln… Alles ist zufällig und unorganisiert, und es uninteressant, etwas zu fotografieren. Die Kiefern sind noch passabel, sie sind lang, kahl, fast wie Telegraphenmasten.“11 Die Natur erscheint dem Städter Rodtschenko als unorganisiertes Chaos ohne jeden künstlerischen Reiz, als nahezu informelle und strukturlose Ansammlung von Dickicht und Gestrüpp. Einzig die Kiefern interessieren ihn und das nur deshalb, weil sie bereits einen möglichen technischen Verwendungszweck erkennen lassen.12 Die Betrachtung der Natur folgt dem Primat der Technik. Daher nimmt es kaum Wunder, daß Rodtschenko später das Motiv der Bäume in Gestalt eben ihrer industriellen Nutzung wiederaufnimmt. Sein erster eigener, Ende der 1920er-Jahre entstandener 10 Peter Noever (Hg.), Alexander M. Rodtschenko / Warwara F. Stepanowa, München 1991, S. 240. 11 Alexander Rodtschenko, „Notizbuch der LEF“, in: Aufsätze Autobiographische Notizen, Briefe, Erinnerungen, Dresden, 1993, S. 144. 12 Vgl. dazu Hubertus Gaßner, Rodčenko Fotografien, München 1982, S. 92: „Die nackten Stämme dienen sich wie von selbst für die industrielle Weiterverarbeitung an. […] Wie die gesamte Natur werden auch die Bäume unter dem Blickwinkel der Naturbeherrschung gesehen.“
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Film trägt den bezeichnenden Titel „Die Chemisierung des Waldes“. 1931 nimmt er eine Bildserie in einem Sägewerk auf und arbeitet 1936 an einem Bildbericht über den Holztransport in der Zeitschrift UdSSR im Bau. Der Wald ist einzig als Teil der Holzindustrie von ästhetischem Interesse. Die Natur ist einzig technisch von Belang. Trotz seiner Abneigung gegenüber der unorganisierten Natur fertigt Rodtschenko gleichwohl 1927 eine Serie von Aufnahmen der Kiefern an und publiziert eine der Photographien zusammen mit seiner Tagebuchaufzeichnung in der Zeitschrift Nowyj LEF.13 Rodtschenko war nicht nur ihr Redaktionsmitglied, sondern zwischen 1926 und 1929 verantwortlich für die Rubrik „Foto im Kino“ und publizierte dort u.a. Arbeiten von Moholy-Nagy und Mendelsohn.14 Die Aufnahme der Kiefern sollte nun trotz ihres vermeintlich unschuldigen und wenig provozierenden Gegenstandes eine besondere Geschichte erlangen, da in Sovetskoje Foto im April 1928 –- Stalin hatte gerade den ersten Fünfjahresplan ausgerufen, der unter dem Motto „Die Technik entscheidet alles“ stand – ein anonymer Angriff auf Rodtschenko erschien, in dem er des Plagiats und des Formalismus bezichtigt wurde und der das Kiefern-Bild als Beispiel wählte. Rodtschenko, sein Freund Boris Kushner und schließlich Sergei Tretjakow nahmen den Fehdehandschuh auf und es entspann sich eine intensiv geführte Debatte, in der es um nichts Geringeres als um die Aufgabe der Kunst in der modernen Gesellschaft – und auch um die Möglichkeit, sie öffentlich auszuüben –- ging.15 Die Kiefern wurden mit einem Mal politisch –- und das weit über Rußland hinaus, da auch die westeuropäischen Debatten der Technikphotographie durch einen Antagonismus bzw. eine Ambivalenz geprägt sind. Auf der einen Seite steht hier eine ästhetische Feier der erhabenen Technik, auf der anderen die Kritik an den Schattenseiten der Mechanisierung. Die Technikphotographien der Avantgarden bewegen sich durchweg auf dem schmalen Grat zwischen einer Verherrlichung der Technik einerseits und einer kritischen Bestandsaufnahme andererseits. Das war für die russische Photographie hingegen keine Frage: Technik ist die neue Natur und das unwidersprochen. Daher ist sie privilegierter Gegenstand der künstlerischen Darstellung, die ihre Tendenz zu einer Propaganda-Ästhetik in keinster Weise zu verleugnen sucht, im Gegenteil: Es werden Weihespiele der Technik inszeniert, die in ihr das neue Gesamtkunstwerk erblicken, das Natur und Kultur, Mensch und Geschichte vereinen könnte. Nur der 13 Nr. 6, 1927. Die Kiefern-Bilder finden sich in unterschiedlicher Auswahl in nahezu allen Bildbänden über Rodtschenko. Vgl. etwa: Rodtschenko, Fotograf, 1891-1956. Bilder aus dem Moskauer Familienbesitz, Göttingen 1989, S. 46f. Eine Kiefern-Aufnahme wurde auch 1929 in Stuttgart auf der berühmten FiFo-Ausstellung gezeigt. 14 Vgl. Aleksandr Lavrentjev, „Die neue Art, die Welt zu sehen“, in: Hubertus Gaßner, Rodčenko Fotografien, S. 7-11, S. 7. 15 Zu dieser Debatte vgl. Szymon Boiko, „Die Kontroverse über Rodtschenko als Fotograf“, in: Evelyn Weiss (Hg.), Alexander Rodtschenko. Fotografie 1920-1938, Köln 1978, S. 42-62. Die Debatte ist u.a. dokumentiert in: Alexander Rodtchenko, Schwarz und weiß. Gesammelte Schriften zur Photographie, hg. von Schamma Schahadat und Bernd Stiegler, München 2011, S. 201-252.
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Abb. 2-29 Illustrierter Brief an die Herausgeber. Artikel mit Plagiatsvorwurf in: Sowjetskoje foto, Nr. 4, 1928
Formalismus wurde nicht zu diesem Spiel zugelassen, bei dem es, so heißt es, um Inhalt und Material, nicht um Form und Struktur geht. Rodtschenko fiel unter dieses Verdikt und mit dem gegen ihn erhobenen Vorwurf, westlichen Formalismus zu plagiieren, sollte er gleich doppelt desavouiert werden: Die von ihm proklamierte Revolution der Photographie sei –- wie die Bilder qua visueller Evidenz zeigen sollten –- bereits common sense im bourgeoisen Europa und zudem verrate seine photographische Arbeit den revolutionären Inhalt zugunsten einer rein formalen Betrachtung der Wirklichkeit. Rodtschenko liefere somit Kopien von leeren Formen ohne Inhalt. Eine visuelle Gegenüberstellung sollte diesen Vorwurf belegen: Drei Aufnahmen Rodtschenkos auf der rechten Seite – und darunter auch eine der Aufnahmen der Kiefern-Serie – standen drei Aufnahmen von Renger-Patzsch, Moholy-Nagy und dem heute vergessenen Photographen Marten gegenüber. Das Bild der Kiefer wurde hier suggestiv mit dem eines Schornsteins des neusachlichen Photographen Albert Renger-Patzsch verglichen und damit Rodtschenkos technizistischer Vergleich mit Telegraphenmasten sogar noch gesteigert. Die Gegenüberstellung sollte allerdings wohl eher belegen, daß in den Arbeiten Rodtschenkos die Form bereits über den Inhalt gesiegt habe, der beliebig, austauschbar und ohne gesellschaftliche Bedeutung geworden sei. Rodtschenko antwortete auf den Plagiatsvorwurf mit einem offenen Brief, in dem er das Verfahren seiner Kritiker aufgriff und seinerseits vier Bilder von Arkadi Schaichet, Semjon Fridland und Witali Schemtschuschny auswählt, um zu zeigen, daß vergleichbare Kompositionen Konsequenz allgemeiner visueller Phänomene
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Abb. 2-30 Rodtschenkos Replik, in: Nowy LEF, 1928
und einer in der Kunst notwendigen und unumgänglichen Nachahmung sind – mit dem Effekt einer durchaus analogen visuellen Evidenz. Der Versuch, diesen offenen Brief in der Zeitschrift Sovetskoe Foto zu publizieren, die auch den Angriff auf ihn gebracht hatte, scheiterte, aber immerhin erklärte sich Novyi LEF bereit, die Replik zu drucken, die dann mit dem ironischen Titel „Offene Unkenntnis oder gemeiner Trick?“ 1928 erschien. Die Pointe von Rodtschenkos Argumentation war, daß die Ähnlichkeit in der Tat intendiert war, da es ihm wie auch Albert Renger-Patzsch eben um eine Revolution des Sehens gehe und sich diese in neuen Sichtweisen artikuliere: „Der Schornstein von A. Renger-Patzsch und mein Baum, von unten nach oben aufgenommen, sind sehr ähnlich, aber ist denn dem Fotografen und der Redaktion nicht klar, daß diese Ähnlichkeit von mir beabsichtigt ist? Bäume vom Nabel aus gesehen haben die Maler Jahrhunderte lang reproduziert und nach ihnen die Fotografen. Wenn ich einen von unten nach oben aufgenommenen Baum zeige, der einem industriellen Objekt, einem Schornstein ähnlich ist, dann ist das eine Revolution im Auge des Spießbürgers und des alten Landschaftsliebhabers.“16 Für Rodtschenko hat die Photographie die Aufgabe, eine regelrechte Revolution der Wahrnehmung auszulösen, der dann auch eine Revolution der Denkungsart und die Konstruktion eines neuen Menschen folgen werde – und diese habe sich nun eben an den Errungenschaften der Technik auszurichten. Wenn 16 Alexander Rodtschenko, „Offene Unkenntnis oder gemeiner Trick?“, in: Wolfgang Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie II, München 1980, S. 82f., S. 83.
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sie den durch die Technik eröffneten Perspektiven folge, könne die Photographie, so das emphatische Programm, dem Menschen den Schleier von den Augen reißen, den die Tradition über sie gelegt habe und ihn zu einem neuen, unverstellten und befreiten Sehen führen. Rodtchenko folgte dabei durchaus einer offiziellen Linie, da die Publikationen der Photo-Zeitschriften nicht zuletzt die Aufgabe hatten, zur visuellen Alphabetisierung und Aufklärung des Volkes beizutragen. Eine der Zeitschriften wurde direkt von Narkompros gegründet, dem Volkskommissariat für Volksaufklärung, und erklärte zum Ziel, die revolutionäre Amateurphotographie anhand herausragender Beispiele zu verbreiten. „Das Kameraobjektiv ist,“ so formulierte Rodtchenko programmatisch, „die Pupille des kultivierten Menschen in der sozialistischen Gesellschaft.“17 Es ist ein programmatisch technisches Sehen, das sich gerade an technischen Gegenständen zu bewähren hat: Masten statt Bäume und neues Sehen statt bürgerliche Nabelschau. Die Photographie justiert die Eckpfeiler der visuellen Orientierung neu. An die Stelle der Horizontalen soll die Vertikale treten. Die Horizontale stand für die Gewohnheit, den traditionellen Bildraum und nicht zuletzt für die organische Orientierung der nebeneinanderstehenden Augen. Die Vertikale hingegen für die Stadt, die Erhebung über den Raum, und die Technik: Tradition vs. Revolution, Organismus vs. Technik und hierarchische Schichten vs. Erhebung über die dominante Ordnung sind die drei leitenden antinomischen Prinzipien. Es geht Rodtchenko um einen photographischen Bildraum, der jenen der gesellschaftlichen Wirklichkeit als einen der permanenten Transformation erkenntlich werden läßt: „Ich stelle mir die Aufgabe: den Gegenstand von allen Seiten zu zeigen, hauptsächlich von einem Punkt aus, von dem aus man ihn noch nicht zu sehen gewohnt ist. Verkürzungen, Transformationen.“18 Form wird bei Rodtchenko vor allem anderen als Transformation begriffen –- und genau das ist die Leistung der Technik: die Transformation der Welt. Die Transformatoren tragen ihren Namen nicht zu unrecht. Technische Lichtbildstudien Ähnliches ist fast überall zu konstatieren –- und das auch bei Publikationen, die politisch gesehen aus einem anderen Lager stammen, wie etwa jenen Eugen Diesels, dem Sohn des Autobauers Rudolf Diesel. Er hat eine Vielzahl von kulturdiagnostischen Schriften publiziert und nicht zuletzt auch einige seinerzeit weit verbreitete Bildbände herausgegeben, die eine neue Sicht auf die Wirklichkeit propagieren. In Das Land der Deutschen versucht er etwa mittels Luftbildern „größere geographische Zusammenhänge“19 zu visualisieren und konstatiert: „Der Planet 17 In Novyj LEF, Moskau 1928, Heft 3, S. 29. Deutsche Übersetzung; „Zu den Photos in dieser Nummer“, in: ders., Schwarz und Weiß, S. 265. 18 Ders., Rodtschenko, „Offene Unkenntnis“, S. 83. 19 Eugen Diesel, Das Land der Deutschen, Leipzig 1931, Volksausgabe 1933, S. 5. Die Photographien stammen zumeist von Robert Petschow.
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insgesamt ist ein Büro, eine Maschine geworden, und auf diesem schrumpfenden Gestirn, das die alten zeiträumlichen Bedingungen nicht mehr kennt, bewegen sich die Menschen, täglich an Anzahl wachsend, nach Antrieben organisatorischer, äußerst verwickelter und spezialisierter Art, als lebten sie auf einem dem überlieferten Begriff vom Menschlichen zunächst noch wesensfremden Stern.“20 Der „Schicksalsraum der Maschinenlandschaft“21 ist ein Raum der Entfremdung, der sich erst dann in einen wirklichen Kulturraum verwandeln könne, wenn die Menschheit die Technik als ihren neuen Lebensraum anerkenne und sich auf ihn einstelle. Die Wirklichkeit ist bereits organisiert wie eine Maschine. Dem dürfe man sich nicht länger verschließen. Auch für Diesel ist der deutsche Wald zuallererst Rohstofflieferant –- und das sieht er dank des Fliegers und der Kamera aus der Luft. Es geht ihm um eine Art ideologische Luftaufklärung. „Deutschland ist ein geschlossener Gesamtvorgang geworden, eine in jedem Augenblick verwaltungstechnisch kontrollierbare Maschine.“22 Technik ist hier bereits Überwachungs- und Herrschaftstechnik. Die ästhetische wie kulturelle Verwandlung dieses neuen Lebensraumes der Technik lotet das überaus erfolgreiche Buch Das Werk. Technische Lichtbildstudien aus, das, 1931 mit einem Vorwort von Diesel erschienen, „moderne Technik in bildmäßig schönen Aufnahmen“ versammelt.23 Der Verlag hatte im April 1930 öffentlich zur Einsendung von Technikbildern der folgenden Rubriken aufgerufen: „Großmaschinen ------------------------Ingenieurmaschinen jeder Art --------Brücken ----------------------------------Flugzeuge, Luftschiffe -----------------Kraftgewinnungsanlagen --------------u.s.w.
und Teile von solchen und Teile von solchen und Teile von solchen und Teile von solchen und Teile von solchen
Alles nur eindrucksvoll erfaßt im Sinne moderner Photographie.“24
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Ebd., S. 14. Ebd., S. 159. Ebd., S. 229. Gleichzeitig erscheint bemerkenswerterweise auch der Band Formen des Lebens. Botanische Lichtbildstudien mit Pflanzenaufnahmen von Paul Wolff. Eine Doppelrezension findet sich in: Der Tag (Berlin) vom 27.3.1931 und bei einer Sendung des Mitteldeutschen Rundfunks vom Februar 1932. Übertragen wurde ein Vortrag mit dem Titel „Leben mit Maschinen“ von Werner Döring. Dort heißt es: „Die Übereinstimmung von innerem Gesetz und äußerer Form in den technischen Werken hat unser Auge geschult. […] Doch betrifft dieses ‚Sehen‘ nicht nur die Technik, sondern auf allen Gebieten des Lebensraumes öffnen sich hier neue Betrachtungsweisen.“ (Das Werk. Technische Lichtbildstudien. Neudruck der Ausgabe 1931 nebst Materialien zur Editionsgeschichte, hg. von Albertina, Wien, Königstein 2002, S. 135) Der gleiche Autor rezensiert die Bücher dann auch in: Die Tat, 24. Jg., Heft 11, 1933. 24 Ebd., S. 110.
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Es folgte dann, da offenbar die eingeschickten Photos nicht den Erwartungen entsprochen hatten, im September des gleichen Jahres ein weiterer Aufruf mit nun klarerer Vorgabe: „Im Sinne dieses Gesuches genügen nicht sachlich korrekte photographische Wiedergaben technischer Objekte, sondern es geht darum die geistige Erfassung der Objekte so zu steigern, daß die Aufnahmen das geistige Erlebnis moderner Technik zu vermitteln vermögen. ‚Photographisch-technische-Impressionen‘ –- könnte man etwa sagen. In manchen Fällen werden Teil-Ausschnitte der Objekte dies ‚geistige Erlebnis‘ der Sache leichter vermitteln als Wiedergaben der gesamten Objekte.“25 Am 20. November 1930 schreibt der Verleger Langewiesche an Diesel hinsichtlich der Komposition des Buchs, daß der Band durch zwei Aufnahmen von Paul Wolff, der später auch in Zeiten des Nationalsozialismus munter weiter seine Bilder publizieren wird, „gerahmt“ werde: „Beide Bilder sollen die Bilderfolge als solche gefühlsmässig ein wenig im Sozial-Menschlichen verankern. Im Übrigen kommen Arbeitsvorgänge unter den Bildern kaum vor. Da wo es doch einmal geschieht, tritt der Mensch jedenfalls ganz im Bilde zurück.“26 Im photographisch-ästhetischen Raum der Technik, die sich ihm gleichwohl verdankt, hat der Mensch keinen Platz. Es geht hier nicht um Sozialkritik à la Lewis Hine oder Jacob Riis, die in zahlreichen Publikationen die Photographie genutzt hatten, um die Arbeitsbedingungen zu dokumentieren und anzuprangern. Es geht um die Visualisierung eines neuen Schicksalsraumes, den dann Eugen Diesel genauer zu bestimmen versucht. „Daß“, so räsonniert Diesel, „unsere Maschinenwelt uns zwingt, vollkommen umzudenken, das wollen die meisten Menschen bisher noch nicht einsehen. […] Somit sind wir noch weit davon entfernt, die neue Welt zu meistern.“27 Die Photographie hat nun entscheidenden Anteil an diesem intendierten Umdenken, indem sie eine neue Orientierung ermöglicht. Photographie wird erst durch das Erkennen und Abbilden einer neuen gesellschaftlichen Ordnung zum neuen Sehen: „Aus diesem richtigen, man könnte beinahe sagen bildhaften und zugleich denkenden Sehen heraus gewänne man allererst die Möglichkeit, richtig zu wirtschaften, zu handeln, zu arbeiten, ohne ständig in Gefahr zu kommen, Krise auf Krise hervorzurufen.“28 Nun ist Diesel in seinem Element und beschreibt erneut den Kultur- und Lebensraum der Technik als neuen Schicksalsraum nicht zuletzt Deutschlands: „Es ist im Vergleich mit den früheren Zuständen der Menschheit etwas völlig Neues aufgetreten; ein neuer Lebensraum, ein maschineller Schicksalsbereich hat sich gebildet.“29 Und weiter: „Wenn wir die Maschinen nicht nur als Waren- oder Kraft- oder Geschwindigkeit spendende Automaten ansehen, sondern 25 Ebd., S. 115. Im Klappentext des Buches heißt es dann später: „Wohl zum ersten Male bietet hier die deutsche, ihrer Eigengesetzlichkeit bewußt gewordene Photographie eine auserlesene Sammlung technischer Lichtbildstudien dar.“ 26 Ebd., S. 118. 27 Ebd., S. 20. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 21.
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Abb. 2-31 Umschlag von Das Werk. Technische Lichtbildstudien, Königstein im Taunus & Leipzig 1931
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als Erscheinungen, die im verheißungsvollen wie gefährlichen Sinne einen neuen Lebensraum gestalteten, so werden wir sie als etwas durchaus Neues im Sinne des Schicksals erblicken und erleben können. Was unser Auge erblickt, vermag so auf Schritt und Tritt zum Symbol des neuen Schicksalsraumes zu werden.“30 Die Technik verwandelt sich in photographischer Gestalt zum Symbol dieses neuen Kulturraumes. Ernst Jünger hat ihn bekanntlich auf den Begriff des „Arbeiters“ gebracht. Er sei die neue Gestalt des nun einsetzenden postbürgerlichen Zeitalters. Und auch für Jünger ist die Begeisterung für die Photographie Ausdruck der Technizität des Zeitalters. Wahlverwandte: Germaine Krull und Margaret Bourke-White Aus dem riesigen Feld der Technikphotographie seien nur einige wenige Beispiele ausgewählt, um einige Beobachtungen zu präzisieren und davon ausgehend Hypothesen zur bemerkenswerten Emergenz dieses neuen Phänomens zu formulieren. In werde mich zuerst auf zwei Photographinnen, der Europäerin mit niederländischen Paß Germaine Krull und der Amerikanerin Margaret Bourke-White, konzentrieren, die zu den bestimmenden Positionen der Technikphotographie der späten 1920er Jahre gehören, um dann mit Albert Renger-Patzsch den in diesem Bereich wichtigsten Vertreter der neusachlichen Photographie in den Blick zu nehmen. Bourke-White und Krull gehörten in den Vereinigten Staaten bzw. Europa zu den allerersten, die die Technik in den Mittelpunkt ihrer photographischen Arbeiten gerückt haben und folgten Bíoi parálleloi, Parallelbiographien, allerdings nicht, wie bei Plutarch zwischen Rom und Griechenland, sondern auf der einen und der anderen Seite des Atlantiks. Beide publizierten aufsehenerregende Bücher und Bildberichte zur Technik, beide bereisten Rußland (und portraitierten Eisenstein), beide waren in ihren Anfängen durch die Bildsprache des Piktorialismus maßgeblich beeinflußt, und schließlich orientierten sich beide später in Richtung einer sozialdokumentarischen Photographie und dokumentierten die letzten Tage des Weltkriegs: Germaine Krull an der Westfront, Bourke-White u.a. mit einer berühmten Bildberichterstattung der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald. Beide werden danach die Welt bereisen und photographisch festhalten: Bourke-White als gefeierte Photoreporterin, Krull als Emigrantin besonderen Typs. Sie arbeitete erst als Kriegsberichterstatterin in Indochina und leitete dann später das Hotel „Oriental“ in Bangkok, in dem auch Christian Kracht fast ein halbes Jahrhundert später noch zu verkehren pflegte. Bourke-White starb bereits 1971, vierzehn Jahre vor Germaine Krull, die nach Deutschland zurückgekehrt war. Berenice Abbott, die ihrerseits erst Atget und dann die Technik für sich entdeckte, hat einmal die Wahlverwandtschaft der beiden Photographinnen auf den Punkt gebracht: „Germaine Krull leistete bemerkenswerte Arbeit; sie war so etwas wie die 30 Ebd., S. 22.
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Bourke-White Frankreichs.“31 Wir haben es hier mit exemplarischen Entwürfen im Bereich der Photographie zu tun, die einen Modellcharakter haben, der weit über diesen hinausweist. In ihren Autobiographien schildern Germaine Krull wie Margaret BourkeWhite ihre Entdeckung des Reichs der Technik als die eines regelrechten Paradieses.32 Die Gießereien und Stahlwerke, die Bourke-White 1927 aufnimmt, sind für sie „Anfang und Ende aller Schönheit“ und die Industriebrache der Flats in Cleveland „ein fotografisches Paradies. Die im Kreis am Horizont aufragenden Schlote erschienen mir wie Riesen einer unerforschten Welt, Wächter der Wunder und Geheimnisse der Stahlwerke.“33 Die Welt der Industrie ist eine künstlerische Befreiung, ihre Erkundung eine ästhetische Revolution und zugleich die Entzifferung einer Chiffre der Moderne par excellence. Bereits 1927 gibt sie in World’s Work zu Protokoll: „Whatever art will come out of this industrial age will come from the subjects of industry themselves, which are sincere and unadorned in their beauty, and close to the heart of the people.“34 Schönheit findet Bourke-White nun nicht länger in der Natur, sondern in der Technik und entdeckt in dieser die industrielle Natur der Gegenwart. Technik ist die neue Natur der Menschenwelt. Das ist der bemerkenswerte shift, der fortan auch eine Neuorientierung ihrer photographischen Ästhetik und jener der Photographie im allgemeinen erforderlich macht. Während Bourke-White, wie auch zeitgleich Germaine Krull, bei ihren frühen Arbeiten treu den Grundzügen der piktorialistischen Bildgestaltung folgt, fasziniert den Rauch der Industrieaufnahmen als neue künstliche Wolken aufnimmt, ornamentale Kompositionen präferiert und alles dem Gesetz der Unschärfe unterwirft, gilt das kurz darauf nicht mehr. Nun haben die Bilder gestochen scharf zu sein und in der Komposition ebenso streng wie ihre Gegenstände: form follows function –und mit der Dynamik eines „fff“, eines fortissimo forte, erobert sie die technische Welt für die Kamera. Ihre ersten Arbeiten ähneln noch einzelnen, recht seltenen Technik-Aufnahmen von Alfred Stieglitz und vor allem jenen Alvin Langdon Coburns, der in piktorialistischer Manier Industrieanlagen aufgenommen und bis an den Rand der Moderne getrieben hat.35 Weiter konnte die amerikanische Photo31 In einem Interview von 1975, zit. nach Kim Sichel, Avantgarde als Abenteuer, S. 91. Zu Krull vgl. auch: Germaine Krull, Ostfildern 2015 (= Ausstellungskatalog Jeu de Paume und Berliner Festspiele). 32 Germaine Krull, „Einstellungen. Autobiographische Erinnerungen einer Fotografin aus der Zeit zwischen den Kriegen“, in: Germaine Krull. Fotografien 1922-1966, Bonn 1977, S. 117-190, in französischer Sprache liegt eine vollständige Edition der Autobiographie vor: La vie mène la danse, Paris 2015; Margaret Bourke-White, Licht und Schatten. Mein Leben und meine Bilder (engl., Portrait of myself, 1964), München 1964. 33 Bourke-White, Licht und Schatten, S. 29. Vgl. dazu auch: dies., The Cleveland Years, 19271930, Cleveland 1976. 34 Zit. nach: Sean Callahan (Hg.), The Photographs of Margaret Bourke-White, New York 1972, S. 6. 35 Vgl. dazu Mark Crinson, „Pictorialism and Industry: Alvin Langdon Coburn in Manchester“, in: History of Photography, Bd. 30, 2006, S. 155-172.
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Abb. 2-32 Alvin Langdon Coburn, „Manchester“, 1926
Abb. 2-33 Margaret Bourke-White, „Hot Picks“ (Eisen-Abguß), Otis Steel Co., Cleveland 1927/28
Abb. 2-34 Margaret Bourke-White, Otis Steel Co., Cleveland 1927
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Secession nicht gehen, ohne sich neu erfinden zu müssen. Coburn wie Stieglitz (so etwa in seinem Bild „The Hand of Man“ von 1903) entdeckten Rauch und Wolken als Gegenstand der Photographie für sich und konnten so selbst noch Industrieanlagen und Großstädte mit der Aura eines ästhetischen Zaubers überziehen. Die Kamera war das Instrument einer ästhetischen Wiederverzauberung der Welt, die auch den sprödesten Gegenstand zu verklären imstande war. Dabei spielte die malerische Tradition eine ebenso große Rolle wie die einsetzenden Avantgarden. Diese wurden zwar von Stieglitz in seiner Galerie ausgestellt, aber den nächsten, entscheidenden Schritt im Bereich der Photographie gingen dann andere. Coburn experimentierte zwar im Zuge seiner Begegnung mit der Bewegung des Vortizismus im allgemeinen und Ezra Pound im besonderen mit sogenannten Vortographien, die mittels aufgesetzter Linsen und Prismen entstanden, blieb aber ansonsten den ästhetischen Prinzipien der Kunstphotographie treu. Er kokettierte beharrlich und eigentümlich insistierend mit der Moderne und forderte explizit neue technische und ästhetische Experimente, reizte aber letztlich nur die Möglichkeiten des Piktorialismus bis an seine äußersten Grenzen aus, um sich dann aus der photographischen Öffentlichkeit zurückzuziehen, religiösen Studien nachzugehen und privat in klassisch-konventioneller Form weiterzuphotographieren.36 Bourke-White und Krull stehen hingegen exemplarisch für den Schritt aus dem hortus conclusus der Kunst hinein ins Reich der Technik. Beide standen der Tradition der Kunstphotographie sichtbar nahe, die sie zugunsten einer Neuausrichtung der photographischen Bildsprache aufgaben. Diese erfolgte nun am Leitfaden der Technik. Nicht die Ästhetik dominiert die Technik wie noch bei Coburn und Stieglitz, sondern es ist die Technik, die der Ästhetik ihre neuen Regeln gibt. Anläßlich der Ausstellung „Men and Machine“, die 1930 gezeigt wurde, gibt Margaret Bourke-White der New York Times programmatisch zu Protokoll: „Any important art coming out of the industrial age will draw inspiration from industry, because industry is alive and vital. The beauty of industry lies in its truth and simplicity: every line is essential and therefore beautiful.“37 Die neue Schönheit wird eine technische sein oder sie wird nicht zeitgemäß sein. Die Industrie gibt das Modell für die Neuausrichtung der Photographie ab, die sich an ihr zu orientieren hat. Wie Charles Sheeler pilgert Bourke-White 1927 zur Ford-Produktionsstätte in River Rouge und bringt Bilder der „Technischen Schönheit“, so der Titel eines berühmten Bandes aus der Reihe der Schaubücher, mit heim.38 Im Frühjahr 1928 erscheinen die River Rouge-Aufnahmen von beiden in verschiedenen Zeitschriften und erschlie-
36 Vgl. hierzu seinen wichtigsten Text in dieser Richtung: „Die Zukunft des Piktorialismus (1916)“, in: ders., Auf der Suche nach der Schönheit. Schriften zur Photographie, hg. von IngeCathrin Hauswald und Bernd Stiegler, Paderborn 2015, S. 313-315. 37 E.A. Jewell, „Men and Machine’s Exhibition Challenges Art“, in: New York Times, 26.10.1930, S. 15, zit. nach: Callahan (Hg.), The Photographs of Margaret Bourke-White, S. 9. 38 Technische Schönheit. 64 Bilder eingeleitet und erläutert von Hanns Günther, Zürich und Leipzig 1929.
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ßen einen neuen Bildgegenstand.39 Zwar hat es immer schon Technikphotographien gegeben, so etwa Werksdokumentationen, Aufnahmen von industriellen Artefakten oder auch Festschriften von Firmen, neu und entscheidend ist nun aber, daß der Gegenstand auf die Photographie als solche zurückschlägt und diese grundlegend neu justiert. Die Technik wird zum expliziten Vorbild der Ästhetik der photographischen Bilder insgesamt. Die Schönheit und die Maschine Es ist daher nur konsequent, daß Margaret Bourke-White das Paradebeispiel einer technischen Neugestaltung besucht und photographisch dokumentiert: die sowjetrussische Umgestaltung der Gesellschaft mittels einer radikalen Industrialisierung. Anfang der 1930er Jahre bereiste Margaret Bourke-White erst Deutschland, um Industrieanlagen sowie die IG Farben, die AEG und das Ruhrgebiet zu besuchen und aufzunehmen, und, nachdem sie ein Visum erhalten hatte, das ihr ein Reisen in und um Moskau herum ermöglichte, dann auch erstmals im Herbst 1930 Rußland.40 Dort entstanden 800 Aufnahmen, von denen sie 40 für ihr erstes Buch Eyes on Russia, das 1931 erschien, auswählte. Weitere Bilder fanden in U.S.S.R. Photographs von 1934 Verwendung. Mehrere Reisen sollten in den 1930er Jahren folgen. Sie kommentierte rückblickend ihre Entscheidung, nach der fordistischen Produktionsstätte in Amerika auch die russischen Industrieanlagen in den photographischen Blick zu nehmen, denn genau diesen gilt ihr ausschließliches Interesse, mit den folgenden Worten: „With my enthusiasm for the machine as an object of beauty, I felt the story of a nation trying to industrialize almost overnight was just cut out for me.“41 Ihre dort entstandenen Rußland-Bilder könnten mit ihrem charakteristischen „proletarian heroism“42 auch als russische Propagandaaufnahmen durchgehen –- denn viele der Aufnahmen gleichen Einstellungen aus Dsiga Wertows Filmen wie etwa ENTHUSIASMUS oder EIN SECHSTEL DER ERDE aufs Haar. Die Technik ist die neue photographisch-ästhetisch-epistemische Internationale. Bourke-White findet auch in Sowjetrußland Gegenstände und Wahlverwandte ihres eigenen Programms und berichtet dort auch freimütig über ihre Arbeit, gibt Interviews und hält Vorträge. Gleichwohl ist sie weit entfernt von einer kommunistischen politischen Überzeugung und bleibt dem american way of life in Gestalt eines demokratischen Liberalismus bis zum Ende ihres Lebens treu. Die Technik-Photo39 Vgl. zu Sheeler: Marc Rawlinson, Charles Sheeler. Modernism, Precisionism and the Borders of Abstraction, London und New York 2008; Karen Lucic, Charles Sheeler and the Cult of the Machine, London 1991. 40 Artikel erschienen in den Ausgaben des New York Times Magazine vom 14.2., S. 4f., 6.3., S. 4f., 13.3., S. 8f., 27.3., S. 8f., 22.5., S. 8f. und 11.9., S. 7 und 16. 41 Stephen Bennett Philipps, Margaret Bourke-White. The Photography of Design 1927-1936, New York 2003, S. 49. 42 Ebd., S. 56.
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Abb. 2-35 Margaret Bourke-White, Stalingrad, End of the Tractor Line, 1930
Abb. 2-35a Dsiga Wertow, SESTAJA CAST’ MIRA ODINNADCATYJ, EIN SECHSTEL DER ERDE, RUS 1926
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graphie ist für sie vielmehr eine neue Weltsprache, mit der sie über alle sprachlichen, ideologischen und politischen Grenzen hinweg zu kommunizieren glaubt. Aus Rußland zurückgekehrt, bezieht sie 1931 ein Studio im Chrysler Building, das seinerzeit in etwa enorme 400 $ pro Monat kostete, sie aber mitten ins pulsierende Herz des modernen Amerika katapultierte. Stolz posiert sie auf den metallenen Wasserspeiern, die jenen aus mittelalterlichen Kathedralen ähneln und in der Tat einem neuen Gott huldigen: der Technik. Auf ihnen sitzt Margaret BourkeWhite mit ihrem Apparat, der auf die Weite gerichtet ist, die Blende auf eine schöne neue Welt der Technik geöffnet, die es in den Bildern tiefenscharf zu zelebrieren gilt. Dies geschieht dann nicht zuletzt in den nun neu entstehenden Magazinen. Margaret Bourke-White ist von Anfang mit dabei. 1929 erfolgt die Gründung von Fortune durch Henry L. Luce mit dem Ziel, auch im Bereich der Magazine die industrielle Welt zu erschließen oder in seinen Worten, „to reflect industrial life in ink and paper“.43 Dort erschien dann auch ihr erster Artikel mit dem Titel „Hogs“, in dem Formen des Photojournalismus erkundet wurden und der der Fleischindustrie gewidmet war. In Europa publizierte Germaine Krulls damaliger Lebensgefährte Eli Lotar ebenfalls einen Bildbericht über die Abattoirs, die Schlachthäuser in Paris, in gleich mehreren Zeitschriften.44 Ihr amerikanisches Pendant, die Schlachthäuser in Chicago mit ihrer agrarindustriellen Fließbandproduktion, waren seinerzeit eine regelrechte touristische Attraktion und Gegenstand diverser Publikationen, von denen Upton Sinclairs bereits erwähnter Roman Der Dschungel, der in deutscher Übersetzung mit einem von John Heartfield gestalteten Umschlag erschien, fraglos die prominenteste ist.45 Die industrielle Bändigung, Unterwerfung und Verwertung der Natur kommt in den Schlachthäusern emblematisch zum Ausdruck. Am 23.11.1936 erscheint dann die erste Ausgabe von Life mit einem Coverphoto von Bourke-White. Es zeigt den Fort Peck Damm in Montana und ähnelt in verblüffender Weise ihren in Rußland entstandenen Aufnahmen des Baus eines Staudamms in Magnitorsk. Die schöne neue Welt, die die buntbebilderten Magazine vor Augen führen wollen, findet in der Technik ihren perfekten Gegenstand. Die technische Welt ist schön. Technische Konstruktionen als magische Verwandlungen Auch Germaine Krulls Entdeckung des Zauberreichs der Technik auf der anderen Seite des Atlantiks folgt wie ein zweites Gleis einer Parallelbiographie den Leitlinien, die wir bei Bourke-White haben ausmachen können. Auch ihre Entdeckung 43 Callahan (Hg.), The Photographs of Margaret Bourke-White, S. 9. 44 Vgl. dazu Bernd Stiegler, „Schlachthäuser in Kunstzeitschriften. Fotografie und Kulturwissenschaft in den 1920er und 30er Jahren“, in: Fotogeschichte, 20. Jg., 2000, Heft 77, S. 3757. 45 1914 drehten George Irving und John H. Pratt einen Film, der heute als verschollen gilt.
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Abb. 2-36 Margaret Bourke-White, „Russia’s Dnieper River Dam, the world’s largest, during the beginning phase of its construction“, 1931 2-36a Margaret Bourke-White, Titelbild von Life, 23.11.1936
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der Industriewelt liest sich daher kaum anders: Die Bilder der Metallkonstruktionen werden als „Offenbarungen“ beschrieben und die ersten Ansichten der Stahlkräne als coup de foudre: „Eine unwiderstehliche Lust, sie im Bild festzuhalten, sie näher heranzuholen und dadurch vielleicht menschlicher zu machen, zwang mich, sie zu fotografieren. […] Haben mir diese Metallgebilde eigentlich gefallen? Ich kann es nicht sagen, ich wollte sie einfach fotografieren und war dann in meine Aufnahmen verliebt. […] Diese stählernen Riesen haben in mir etwas ausgelöst, was mich dazu brachte, sie zu meinem Medium zu machen.“46 Die technischen Konstruktionen sind ein Medium der magischen Verwandlung: Totes wird zu Lebendigem, Starres zu Bewegtem, Unmenschliches zu Menschlichem, unbelebte Natur zu einer belebten, kalte Technik zu einer warmen menschlichen, Langweiliges zu Aufregendem und Bekanntes zu etwas, das erst neu zu entdecken ist. Entscheidend ist dabei auch die Perspektive, mit der die Kamera den Gegenstand in den Blick nimmt. Ein bisher als öde und wenig aufregend angesehener Gegenstand wird plötzlich zu einem magischen Reich, zu einem Wunderland der Technik. So beschreibt Germaine Krull etwa den Eiffel-Turm, jenes Emblem der Moderne, das sie im Auftrag von Lucien Vogel für das Magazin Vu aufnehmen sollte.47 Erst ist er nur ein langweiliges Ding, tausendmal gesehen, ohne daß etwas passiert wäre, dann aber, als sie weit oben eine Türe entdeckt, die den Blick auf das Innere des Turms öffnet, verwandelt sich die Voreinstellung in eine neue Einstellung zur Welt der Photographie und zur Wirklichkeit insgesamt: „Ich kletterte hinauf und hinunter und auf einmal nahmen die mächtigen Räder, die den Aufzug in Gang hielten, die schweren Eisenkonstruktionen, die kleineren Verstrebungen, im Gegenlicht betrachtet die Form riesiger Spinnen an. Alles war lebendig geworden und hatte nichts mehr mit dem Eiffelturm, wie wir ihn kennen, zu tun: das Eisen lebte!“48 Der Eiffel-Turm war nur einer eines von verschiedenen technischen Bauwerken, zu denen die Avantgardephotographen pilgerten: weitere waren etwa der Funkturm in Berlin, der Pont Transbordeur in Marseille oder die Stahlwerke des Ruhrgebiets.49 Sie sind feste Bestandteile des Kanons eines neuen Sehens, das in der Technik die Möglichkeit einer veränderten Einstellung erblickte: Die neue Einstellung der Kamera führte zu einer anderen Einstellung der Photographen zur Welt und umgekehrt. Germaine Krull beschreibt so etwa die Auflösung der Einheit eines Krans in ein „Wirrwarr von eisernen Trägern und Rollen“ nicht als Chaos der 46 Krull, „Einstellungen“, S. 120. 47 Der Eiffel-Turm ist der heimliche Protagonist in René Clairs Film PARIS QUI DORT, der aus der gleichen Zeit wie Krulls Aufnahmen stammt. Er ist online verfügbar unter: https://archive.org/details/TheCrazyRay (letzter Zugriff am 28.4.2016). Zu nennen sind natürlich auch die orphisch-kubistischen Bilder von Robert Delaunay. Mit ihm und seiner Frau war Krull eng befreundet. 48 Krull, „Einstellungen“, S. 123. 49 Vgl. dazu expl. „Pont Transbordeur in Marseille“, in: Die Form, Bd. 4, 1929, S. 631-634 (die Photographien stammen von Alex Strasser, Berlin).
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Abb. 2-37 Photographien von Germaine Krull, Text von Florent Fels, „Dans Toute sa Force“, in: VU, Nr. 11, 30.5.1928
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Abb. 2-38 und 2-39 Germaine Krull, Métal, Paris 1927/28, Umschlag und Abbildungen
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Abb. 2-39
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Erscheinungen, sondern als ihre Verwandlung: „Dieses Phänomen war anscheinend bis jetzt unbemerkt geblieben und auch von niemandem bemerkt worden. Ich bin der Meinung, daß diese Art, die Dinge zu sehen, die mein Auge und mein Objektiv entdeckt hatten, der Anlaß war für eine ganze Reihe von Möglichkeiten des Sehens, Betrachtens und Realisierens.“50 Bereits 1926 hatte Germaine Krull in einem Artikel in der Zeitschrift Photographie für alle, die keineswegs avantgardefreundlich war, ihre Entdeckung öffentlich gemacht und dabei den Schulterschluß zum russischen Konstruktivismus gesucht. Technikaufnahmen sind, so ihre Beschreibung, im Bereich der Photographie das Pendant zu konstruktivistischen Tafelbildern oder Konterreliefs à la Tatlin. Damit nimmt sie auch einen Bezug auf, der sich bereits im Dadaismus findet.51 Sie schildert ihre Spaziergänge im Amsterdamer Hafen als visuelle Entdeckungsreise, an deren Ende eine neue Kunst der Photographie steht. James Joyce hätte diese Erfahrung wohl „epiphany“ genannt, Krull bezeichnet sie als „Offenbarung“.52 Die Kunst sollte fortan eine andere sein und mit ihr das Leben. „In den letzten Jahren“, schreibt Krull, „hat die gesamte bildende Kunst eine große Wendung vom Naturalistischen zum Uebernaturalistischen und mehr und mehr zum Formlosen, Kubistischen bis zum Konstruktivistischen der russischen Kunst genommen. Der konstruktivistischen Kunst stand man zunächst etwas verständnislos gegenüber, doch liegt gerade in dieser Auffassung ein tiefer Sinn. Der moderne Künstler suchte die Schönheit und Kraft, die Linien und Formen der modernen Technik zu bannen, zu begreifen.“53 Dementsprechend sind dann ihre Aufnahmen aus dem Amsterdamer Hafen, die zum Teil auch für ihr Buch Métal Verwendung finden, der „Versuch einer Wiedergabe meines Empfindens und Sehens dieser Eisengerüste, die für unsere Zeit charakteristisch sind“.54 Germaine Krull stand mit ihrer Begeisterung für die Welt der Technik nicht alleine. Mit vielen Protagonisten der Avantgarden war sie befreundet oder machte sie mit ihnen nach ihrem Durchbruch als Photographin Ende der 1920er Jahre Bekanntschaft. Sie kannte Eisenstein, verkehrte dank den Delaunays in den Pariser Avantgarde-Zirkeln und war u.a. mit Joris Ivens und Eli Lotar liiert und mit den Arbeiten von Paul Schuitema und Piet Zwart vertraut.55 Ohnehin kann die Bedeu50 Krull, „Einstellungen“, S. 126. 51 Vgl. dazu unten S. 230ff.; dort auch weitere Literaturhinweise. 52 Vgl. ebd.: „Diese Bilder von Metallkonstruktionen waren für die Pariser Künstler und Intellektuellen anscheinend in der gleichen Weise eine Offenbarung, wie für mich einige Zeit vorher, als ich meine ersten Spaziergänge in den Häfen von Amsterdam und Rotterdam gemacht hatte.“ 53 Germaine Krull, „Wege der modernen Photographie“, in: Photographie für alle, 1926, Nr. 20, S. 315. 54 Ebd. 55 1927 heiratete sie nach ihrer kurz zuvor erfolgten Trennung Ivens, um einen niederländischen Pass zu erhalten, verließ dann aber die Zeremonie mit Eli Lotar. Mit Ivens blieb sie gleichwohl freundschaftlich verbunden; sein Film ÉTUDES DE MOUVEMENT entstand 1928 während eines Besuchs von Ivens bei Krull in Paris.
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Abb. 2-40 Paul Schuitema, Umschlagentwurf für Filmliga, Nr. 1, November 1931
tung der niederländischen Avantgarde-Zeitschriften i10 und Filmliga für ihre Arbeiten kaum überschätzt werden. Vieles, was sie in ihren Photographien erkundet, findet hier sein Pendant in ästhetischer Theorie und künstlerischer Praxis. Wichtig war auch hier der sowjetrussische Kontext, der bereits den Beginn der „Filmliga“ bestimmte: Sie wurde von Ivens, Menno ter Braak und Leo Jordan aus Protest gegen die erfolgte Zensur von Pudowkins Film DIE MUTTER 1927 gegründet. Insbesondere russische Montagetheorien wurden in der Filmliga von deren Vertretern vorgestellt und diskutiert. Konzepte der Montage in Photographie und Film waren der Kern dieser Bewegung und Überschneidungen zwischen diesen beiden Medien die Regel: In i10 veröffentlichte Krull unter ihrem Namen Aufnahmen aus Ivens‘ Film DIE BRÜCKE, der im gleichen Jahr wie Métal herauskam und deutliche Überschneidungen mit ihren Photographien aufweist: „Einige von Ivens‘ Einstellungen sind filmische Versionen von Photos in Germaines Buch Métal“.56 Der Film ist eine Art avantgardistischer Dokumentation des Baus einer Metallbrücke über die Maas, wobei Menschen kaum eine Rolle spielen und bestenfalls wie Statisten eines größeren technischen Geschehens in Erscheinung treten. Montage-Skizzen von Ivens für diesen Film wurden ebenfalls in Die Filmliga publiziert.
56 Kim Sichel, Avantgarde als Abenteuer. Leben und Werk der Photographin Germaine Krull, München 1999, S. 74.
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Abb. 2-41 und 42 Germaine Krull, Umschlagentwürfe für Grand’ Route, Nr. 2 und Nr. 3, April 1930 und Mai 1930
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Als Pudowkin 1929 nach Holland kam, schaute er sich auch Ivens‘ Film an und lud ihn voller Begeisterung nach Rußland ein.57 Aber auch das andere politische Lager zeigte sich begeistert: Die französische rechtskonservativ-faschistische Zeitschrift Grand‘ Route, die von Philippe Lamour, den Krull gut kannte, herausgegeben wurde, wählte ihre Technikbilder als Umschlagillustrationen.58 Germaine Krulls Photographien aus dem Reich der Montage decken also das gesamte politische Spektrum der damaligen Zeit ab. Sie sind der kleinste gemeinsame visuelle Nenner der politischen Ikonographie der Zwischenkriegszeit. Philippe Lamours wichtigstes Buch, das 1929 erschien, trug ironischerweise den Titel Entretiens sous la Tour Eiffel und nimmt so das Motiv eines der berühmtesten Bildberichte von Germaine Krull auf.59 Auch die Zeitschrift Grand‘ Route geht auf ihre Bilder des in den 1920er Jahren wiederentdeckten und bis dahin eher ungeliebten Reliktes der Weltausstellung ein.60 Am 30. Mai 1928 erschienen in Vu ihre Aufnahmen des Eiffel-Turms mit einem Text von Florent Fels, der auch zu ihrem Buch Métal einen Text beigesteuert hatte, unter dem Titel „Dans toute sa force“.61 Bourke-White wählt die Schlachthöfe für ihren Auftritt in den Magazinen, Germaine Krull den Eiffel-Turm. Von den aufgereihten Tierkadavern bis zu den Türmen reicht das Reich der neuen technischen Photographie. Eine neue technische Bildsprache setzt sich hüben wie drüben des Atlantiks durch. Eine der Bildunterschriften im Vu-Artikel machte in Krulls Technikphotos sogar eine neue industrielle Poesie aus, ein photographisches Alphabet, eine Poesie von Eisen und Stahl: „Eisenträger, Verstrebungen und Nieten funktionieren hier wie Verse, Worte, Reime. Wir denken nicht mehr an die wunderbaren Mechanismen, die Arbeit, die Schmelzöfen, die Minen. Wir vergessen den Ingenieur, den Arbeiter, das handwerkliche Können und denken nur noch an den unerreichten und unvergleichlichen Dichter: EIFFEL.“62 Von Poesie, genauer von Lyrismus, ist in zahlreichen Rezensionen die Rede. Diese folgen dabei den Vorgaben von Florent Fels, der von einer „Mischung aus industrieller Abstraktion und romantischem Lyrismus“ gesprochen hatte.63 Von „mechanischem Lyrismus, einem Lyrismus der industriellen Landschaften, Schiffe und metallischen Konstruktionen“64 ist die Rede und Pierre Mac Orlan macht in ihren Aufnahmen ein Beispiel dessen aus, was er als „fantastique social“ bezeichnet 57 Die Abwesenheit von Menschen wurde dort, als er den Film vorführte, kritisiert (ebd., S. 75). 58 Das ist ausführlich rekonstruiert worden von Mark Antliff, Avant-Garde Fascism: The Mobilisation of Myth, Art, and Culture in France, 1909-1939, Durham und London 2007. 59 Philippe Lamour, Entretiens sous la Tour Eiffel, Paris 1929. 60 Eric Hurel, „La Confusion des arts“, in: Gran’ Route, Mai 1930, S. 71-74. 61 Germaine Krull und Florent Fels, „Dans toute sa force“, in: Vu, Nr. 11, 30.5.1928, S. 284. Der Bilder fanden bereits vorher Verwendung in der Ausgabe des deutschen Magazins Uhu vom Dezember 1927. 62 Ebd. 63 Zit. nach: Sichel, Krull, S. 94, 64 Anon., „Les expositions“, in: L’Art Vivant, 15.6.1928, S. 486.
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hat. Mit dieser Leitmetapher seiner Arbeiten zur Photographie deutet er Krulls Arbeiten als Aufnahmen, denen es gelingt „à formuler le pittoresque et le fantastique social de l’époque contemporaine“, da sie es schaffen, „un paysage de machines en une sorte de symphonie stupéfiante“ zu übersetzen.65 Die Symphonie der Großstadt bei Ruttmann und Wertow ist eines der filmischen Pendants von Krulls Technikphotographien. Im Feld der Photographie sind dies, um nur einige wenige zu nennen, Arbeiten von Photographen wie Sasha Stone,66 Marc Réal, François Kollar, dessen Einmannzeitschrift La France travaille ganz allein die Ikonographie von Darstellungen der Arbeit in Zeiten der industrialisierten Moderne festzuschreiben versuchte,67 und vor allem Albert Renger-Patzsch, der seinerzeit wie kein zweiter polarisierte –- und das in allen politischen Feldern gleichermaßen. Formen und Strukturen: Albert Renger-Patzsch Renger-Patzsch beginnt seine photographische Karriere noch recht klassisch mit Photographien von Kunstwerken und Pflanzen, um dann ebenfalls Mitte der 1920er Jahre die Welt der Technik zu entdecken, die nun so bestimmend wird, daß rasch mit Eisen und Stahl und Wegweisung der Technik gleich zwei Bücher mit Industrieaufnahmen erscheinen. Auch das epochale Buch Die Welt ist schön enthält bereits zahlreiche Technikphotographien.68 Anders als Bourke-White und Krull bleibt er diesem Gegenstand treu, da er nach dem Krieg nicht zuletzt von Dokumentationsaufnahmen für verschiedene Firmen lebt. Renger-Patzsch ist die rhetorische Emphase von Krull oder Bourke-White fremd, sie findet sich weniger in seinen eigenen Texten als vielmehr in den Einleitungen zu seinen Büchern aus fremder Feder. Pars pro toto sei das Geleitwort von Albert Vögler, der dem Generaldirektor der Vereinigten Stahlwerke, zu Eisen und Stahl zitiert: „Nicht nur der innere wirtschaftliche und kulturelle Aufbau unserer Volkheit [sic], sondern auch deren Stellung zu den anderen Völkern und Staaten der Welt ist durch die Erzeugung und Verarbeitung dieses Werkstoffes entscheidend mit beein65 Pierre Mac Orlan, Écrits sur la photographie, hg. Clément Chéroux, Paris 2011, zu Krull dort der Essay „Germaine Krull“, S. 103-105 (die Zitate dort S. 103f.), der ursprünglich als Vorwort des kleinen Büchleins Germaine Krull erschienen ist, das 1931 in Paris bei Gallimard herauskam und das zweite einer dann nicht mehr fortgeführten Reihe von Klassikern der modernen Photographie war. 66 Zu Stone: Birgit Hammers, „Sasha Stone sieht noch mehr“. Ein Fotograf zwischen Kunst und Kommerz, Petersberg 2014. 67 Zu Kollar vgl. François Kollar. Un ouvrier du regard, Paris 2016 (= Ausstellungskatalog Jeu de Paume). 68 Rudolf Schwarz und Albert Renger-Patzsch, Wegweisung der Technik, Potsdam 1928, Reprint Köln 2008. Vgl. auch Albert Renger-Patzsch, Die Freude am Gegenstand. Gesammelte Aufsätze zur Photographie, hg. von Bernd Stiegler und Ann und Jürgen Wilde, München 2010, sowie Rudolf Schwarz, Wegweisung der Technik und andere Schriften zum Neuen Bauen 1926-1961, Braunschweig und Wiesbaden 1979.
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flußt. Man ist daher versucht, die gegenwärtige Entwicklungsperiode der Menschheit das Zeitalter des Stahles zu nennen.“ Und weiter: „Durch den Weg vom Werkstoff zum Ausdruck durch die Form ward schon seit jeher das Schicksal der Menschengeschlechter bestimmt.“69 Wir betreten, wenn wir eine Gießerei besuchen oder auf den Pont Transbordeur klettern, nicht wie noch bei Krull oder Bourke-White ein Zauberreich der reinen Formen, sondern den Schmelztiegel der Nation und der Menschheit als solcher. Das ist die dunkle Seite der technischen Übermacht, die allerdings auch bereits Philippe Lamour an Krulls Aufnahmen im besonderen und der Technik im allgemeinen fasziniert hatte. Das photographische Werk von Albert Renger-Patzsch hat in vieler Hinsicht das 20. Jahrhundert nachhaltig visuell geprägt. Renger fand bereits früh zu einer eigenen Bildsprache, der er Zeit seines Lebens und über alle zeithistorischen Zäsuren hinweg treu blieb und die in ihrer beharrlichen wie eindrucksvollen Kontinuität zu einer maßgeblichen Formsprache der Photographie überhaupt wurde. Beständige Welt, der Titel eines seiner Nachkriegsbücher, ist eine Formel seines ästhetischen Programms.70 Es geht ihm um eine Bestandsaufnahme wie -sicherung der gegenständlichen Welt. Dies führt zugleich zu einer eigentümlich ambivalenten Position hinsichtlich der radikalen Veränderungen der Moderne: Einerseits ist Albert Renger-Patzsch in Deutschland der Photograph der technischen Moderne, der konsequent wie kein zweiter Technik und Natur in Bilder gebracht hat, deren formale Strenge für zahllose Photographen zum Vorbild wurde. Für ihn sind es eben nicht zwei voneinander getrennte, sondern über die Form verbundene Welten. Eberhard Sarter bringt 1928 in exemplarischer Weise seine Begeisterung angesichts dieser raren Konzentration auf die zeitgenössische Welt in emphatische Worte: „Und dieses […] scheint mir das am meisten Erregende in dem bisherigen Werk Renger-Patzschs: daß unser gegenwärtiges Leben, welches zu seinem größten Teil aus den Werken industrieller Form besteht, mit Maschinen, mit Dampf und Elektrizität, in Stahl und Eisen, daß diese gottverlorene Gegenwart einmal einfach bejaht, daß sie in den Bereich des Würdigen, Großen und Schönen, ohne Phrase und romantisches Brimborium, aufgenommen wird.“71 Albert Renger-Patzsch als ein Photograph der Gegenwart, als einer der ersten wirklich zeitgenössischen, modernen Photographen – das ist das eine Bild. Andererseits sieht Renger jedoch das, was er in seinen Bildern sucht, gerade durch den technischen Fortschritt bedroht. So schreibt er rückblickend 1955 an einen Forstmeister in Delecke am Möhnesee, daß er in seiner Photographie „elementare Landschaften“ gesucht habe, die mit fortschreitender Modernisierung zu verschwinden drohen: „Diese Relikte, die ja immer kleiner werden und bald ganz verschwinden werden, wenigstens im Bilde festzuhalten, das habe ich, seit ich fotogra-
69 Albert Vögler, „Vorwort“, in: Albert Renger-Patzsch, Eisen und Stahl, Berlin 1931. 70 Albert Renger-Patzsch, Beständige Welt, Münster 1947. 71 Eberhard Sarter, „Albert Renger-Patzsch“, in: Hannoversche Kurier, 19.12.1928.
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fiere, immer für eine meiner wichtigsten Aufgaben gehalten.“72 Photographien sind in diesem Sinne Dokumente verschwindender elementarer Formen, visuelle Bestandssicherungen einer ehemals beständigen, nun aber brüchig gewordenen Welt. Das ist die erste Ambivalenz: der Versuch, einerseits radikal modern, zeitgenössisch, aktuell und an der Gegenwart orientiert zu sein, andererseits aber zugleich nach überzeitlichen, elementaren Formen zu suchen. Diese erste Ambivalenz entspricht letztlich jener Dichotomie, die Siegfried Kracauer in dem langen einleitenden Photographiekapitel von Theorie des Films konstatiert: der realistischen Tendenz steht dort die formgebende gegenüber. Kracauer macht sie nicht nur für das 19. Jahrhundert, sondern auch für Photographen der Avantgarde wie Moholy-Nagy aus, die einerseits in der Photographie eine Art objektives Kamera-Auge erblicken, was sie aber andererseits nicht davon abhält, in höchst innovativer Weise formale Experimente durchzuführen, die mit der gegenständlichen Welt nur noch wenig zu tun haben und vielmehr auf Abstraktion zielen. Ähnliches gilt für Renger-Patzsch: kaum ein Photograph seiner Zeit hat sich so der Dingwelt verschrieben, aber auch kaum einer die formale Abstraktion so weit getrieben wie er. Diese doppelte Ausrichtung führt zur zweiten Ambivalenz: einerseits proklamiert Renger-Patzsch in Bildern und Texten die „Freude am Gegenstand“, und die Orientierung der Photographie an der „Macht des darzustellenden Gegenstandes“,73 andererseits aber zielt diese offenkundig auf abstrahierende Formen, denen es nicht um konkrete Dinglichkeit, sondern um allgemeine Kompositionen und formale Ordnungen geht. Einerseits spricht Renger immer wieder von der höchst konkreten und stofflichen Dinglichkeit, die es mithilfe der Photographie überhaupt zu erschließen gilt; andererseits wird aber der einzelne Gegenstand formal transzendiert: er ist wesentlich Formträger. Dies zeigt schließlich die dritte Ambivalenz: jene zwischen Oberfläche und Tiefe. Auf der einen Seite ist Renger-Patzsch der programmatische Photograph einer neusachlichen Konzentration auf die Oberfläche der sichtbaren Welt, hinter der sich kein durch diese symbolisierter Kern oder ein verborgenes Wesen verbirgt. Diese Grundüberzeugung trennt die piktorialistische Photographie der Jahrhundertwende, die im Feld der Amateurphotographie bis weit hinein in die 1930er Jahre noch die Bildsprache und Ästhetik dominierte, von der Photographie des sogenannten „Neuen Sehens“. Nun geht es vielmehr um die dezidierte Ablösung von einer, so wollen es die theoretischen Bestimmungen, durch die malerische Tradition bestimmte Wahrnehmung, die den Blick auf die Dinge verstellt hat. Die Photographie des „Neuen Sehens“ versteht sich daher nicht zuletzt als Erkundung einer nicht durch die Geschichte der Kunst symbolisierte Welt: sie versucht die Patina der Bedeutung, die sich auf einen jeden Gegenstand gelegt hat, zu durchdringen
72 Albert Renger-Patzsch, Brief an Forstmeister Michael, Delecke, Ruhrtalsperrenverein vom 8. Februar 1955, Getty Center (= GC). 73 Ders., „Juni 1962 für Knäupchen“, in: ders., Die Freude am Gegenstand, S. 249-252, S. 251.
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und bedient sich dabei wie bereits ausgeführt neuer Ansichten: starke Auf- und Untersichten, extreme Ausschnitte oder ungewöhnliche Kompositionen. Auf der anderen Seite spricht Renger-Patzsch in seinen Texten gleichwohl vom „Wesen des Gegenstandes“,74 auch wenn er dieses wahrnehmungstheoretisch faßt. Einer Photographie als Dokumentation steht jene als Wesensschau gegenüber. Das „sphinxartige Antlitz“75 der Photographie verliert auch im Sprechen über sie nicht seine Grundambivalenz. Es ist letztlich das Antlitz der Moderne. Der in Das deutsche Lichtbild zusammen mit „Die beispiellose Fotografie“, einem Text von Moholy-Nagy, abgedruckte Text „Ziele“ wird nicht selten als Absage an den Kunstanspruch der Photographie gedeutet. Eine solche Interpretation verfehlt allerdings die Pointe des Textes. Renger geht es vielmehr zuallererst um die Bestimmung der Photographie als höchst konkrete Praxis der Form: „Die mechanische Wiedergabe der Form macht sie [die Photographie] hier allen anderen Ausdrucksmitteln überlegen“, heißt es dort.76 Wenn Renger-Patzsch von „mechanischer Wiedergabe der Form“ spricht, so geht es ihm um eine Erweiterung des Feldes der Photographie und nicht um eine Verengung auf ihr Kunstwollen. In seiner Würdigung des Werks von Renger-Patzsch erinnert J.A. Schmoll gen. Eisenwerth 1966 an das in den Einband von Die Welt ist schön eingeprägte Signet, das Alfred Mahlau gestaltete: „Über den Buchstaben A R-P erheben sich formal gleichberechtigt ein Telegraphenmast und ein Agavenbaum. Welches Photobuch der Welt hätte bis 1928 ein solches Symbolzeichen tragen können?“77 In emblematischer Weise bringt es Rengers theoretische wie ästhetische Grundhaltung zum Ausdruck: Technik und Natur, Formverwandtschaften, visuelle Gegenüberstellungen und Verbindungen, die Signatur des Photographen und die formale Abbreviatur der Gegenstände finden hier in nuce ihre höchst anschauliche Formel. „Das Buch sollte,“ schreibt Renger-Patzsch rückblickend in einem Brief an Walther Hahn vom 26.11.1957, „‚Die Dinge‘ heissen, was dem Erfolg des Buches sicher sehr geschadet hätte, mir aber Manches erspart hätte an falschen Auslegungen.“ Auch wenn die Dinge von der Titelseite spurlos verschwinden, so tauchen sie doch in einzelnen Rezensionen wie auch Besprechungen seiner Arbeiten wieder auf. Diese betonen kritisch wie würdigend, scharf wie lobend, die Konzentration auf die Welt der Dinge als das eigentlich Moderne von Rengers Arbeit. So etwa Ernst Kallai in der Ausgabe der Avantgarde-Zeitschrift Das neue Frankfurt vom März 1928: „Die eindrucksvollen Ergebnisse der Photographie sind nicht ästhetischen Spekulationen, sondern der Freude am Gegenstand zu verdanken, die ein Photograph vom Range des Renger-Patzsch selbst als das wichtigste Leitmotiv moderner Licht-
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Ders., [Beitrag zu:] Meister der Kamera erzählen, in: ebd., S. 151. Ders., „Versuch einer Einordnung der Fotografie“, in: ebd., S. 170. Ders., „Ziele“, in: ebd., S. 92. J.A. Schmoll gen. Eisenwerth, „Albert Renger-Patzsch, der Fotograf der Schönheit des Sachlichen. Ansprache zur Eröffnung der Gedächtnisausstellung in Essen“, 21.12.1966. Ts. GC.
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Abb. 2-43 Einband von Alfred Mahlau von Albert Renger-Patzsch, Die Welt ist schön, München 1928
bildnerei erklärt hat.“78 Oder, ungleich weniger prominent publiziert und fern von den publizistischen Hochburgen der Avantgarde, ein Artikel von Karl With in der Kölnischen Zeitung vom 30.12.1928: „Ein seltsames Buch! Aufregend in seiner lebendigen Fülle wie in seiner Lautlosigkeit.“ With entdeckt in Rengers Buch alltägliche Dinge, die sich verwandeln, „daß man meint, in eine andre, fremde Welt zu schauen.“79 Doch diese fremde Welt ist eben die Welt der Gegenwart, der Technik, der Geschwindigkeit, der Moderne. Der Artikel „Kunst und Technik“ von Curt Glaser bringt diese technische Ausrichtung auf den Punkt: „Maschinenaufnahmen von Renger-Patzsch sind ein technisches Gleichnis der Technik selbst, die in der 78 Zeitungsausriß im Renger-Patzsch-Nachlaß. Vgl. auch Eo Plunien, „Ein Krug, ein Stein, ein Baum“, in: Die Welt, 23.12.1966: „Er entdeckte die Ästhetik der Schärfe und die Magie der Sachlichkeit, er befreite die Objekte von jeder falschen Aura und gab den Dingen ihre eigene Physiognomie wieder, indem er ihre Formen und Strukturen, ihren Linien und Flächen fotografisch nachspürte und sie dann im Abbild ‚wiedergab‘, daß man ihrer in der Tat habhaft wurde, so, als sähe man einen Krug, einen Stein, einen Baum, ein Detail zum erstenmal.“ Und er schließt: „ARP hat uns wieder sehen gelernt.“ 79 Und eine weitere zeitgenössische Stimme: K.P., „Albert Renger-Patzsch: ‚Die Welt ist schön‘“, in: Acht Uhr Abendblatt Berlin, 4.5.1929: „Das Merkwürdigste ist, daß hier Dinge photographiert sind, von denen wir gar nicht wissen, daß sie schön sind; aber wie sie hier photographiert sind, – läßt uns ihre Schönheit nicht nur auf der Photographie, sondern auch in der Wirklichkeit erkennen.“ „Dies Bilderbuch ist mehr als ein Bilderbuch, mehr als ein Buch mit schönen Bildern: es ist ein Lehrbuch.“
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alten Definition des Begriffes Kunst keinen Raum mehr finden. Hier steigen Probleme auf, dessen ganze Tragweite diese in ihren Mitteln beschränkte Ausstellung [„Kunst und Technik“ in Essen, BS] nicht einmal anzudeuten vermochte.“ Renger stellt, so heißt es weiter, „Kernfragen heutigen Daseins“.80 Die Technik, die Dinge und die Formen werden von Renger-Patzsch in eine Konstellation überführt, die unter Verzicht auf die traditionellen Kategorien des Subjekts, der Einbildungskraft oder des Symbols eine neue Ästhetik der Photographie zu bestimmen sucht.81 Leitende Ambivalenzen Ein kleiner Blick zurück. Wenn man die Emergenz der Technikphotographie in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zu erklären versucht, so bieten sich die folgenden vier Deutungsoptionen an. 1. Photographien von technischen Konstruktionen sind radikal ambivalent, was die Frage der Abstraktion anbetrifft. Selbst wenn man – was nun zum guten Ton der neuen Photographie und dem neuen Sehen gehört – auf die Weichzeichnerlinse und den Gummidruck verzichtet, mit kleinen Blenden und lichtstarken Objektiven arbeitet, und den Gegenstand in maximaler Schärfe aufnimmt, so ist das Ergebnis dennoch abstrakt und das bei maximaler dinglicher Präsenz. Die Technik-Photographie dient, mit anderen Worten, als Einlösung des Kunstanspruchs der Photographie mit anderen Mitteln. Technikphotographien sind Indifferenzzonen zwischen Konkretion und Abstraktion. 2. Sie gestatten weiterhin eine maximale Neutralität des Photographen, der anhand dieses Gegenstandes seinen eigenen Blick als neutralisierten erfährt. Germaine Krulls Autobiographie beschreibt diese Entdeckung der neu codierten eigenen Wahrnehmung angesichts der Montagekräne in genau dieser Weise: „Ich begann die Dinge so zu sehen, wie das unverbildete, neutrale, unvoreingenommene Auge sie sieht, und von diesem Augenblick hatte ich die Fotografie für mich entdeckt.“82 Die Photographie von montierten Gegenständen eröffnet einen imaginären indifferenten Raum, der aus der Tradition herausgelöst zu sein scheint und auch das Subjekt zurücknimmt. Diese Argumentationsfigur wird in der Photographie des Neuen Sehens durchdekliniert und dient hier der Ablösung von einer entstellenden und als normierend erfahrenden Tradition hin zu einer Entdeckung einer vermeintlich unverstellten Wirklichkeit. Die Technik80 Curt Glaser, „Kunst und Technik“, in: Berliner Börsenkurier, 10. Juli 1928. 81 Durchaus in diesem Sinne schreibt etwa Eberhard Sarter in einem Artikel über Renger im Hannoverschen Kurier vom 19.12.1928: „Wir sind die Subjektivismen etwas leid. In dieser Genauigkeitsphotographie, in der Stein so sehr Stein, Holz so sehr Holz, alle Materie so sehr sie selbst wird, daß wir wahrhaft bessere Augen bekommen, erschließt sich schlechthin das, was ist.“ 82 Krull, „Einstellungen“, S. 120.
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Photographie markiert die Geburtsstunde einer neuen Photographie, die in intimer Weise mit einer neuen objektiven Verpflichtung dieses technischen Mediums verbunden ist. Montage als Gegenstand und Verfahren klammert nicht nur das Subjekt, sondern auch die Tradition ein: die Photographie kommt im Reich der unverstellten Wirklichkeit an und erschließt dieses visuell. Hier meint man dem Realen am nächsten zu kommen. Technikphotographien markieren, so könnte man diese zweite Beobachtung resümieren, Nullstellen der Symbolisierung: Die Störungen, die sich durch das Subjekt und die Tradition ergeben, scheinen hier ausgeblendet werden zu können. 3. Montierte Gegenstände ermöglichen gerade aufgrund ihrer notwendig zweckrationalen Struktur eine maximale formale Beschränkung, die dann wiederum offen für alle möglichen Zuschreibungen ist. Mit anderen Worten: Je allgemeiner und je formaler eine Bildlösung ist, umso einfacher werden diese Formen auch andernorts identifizierbar. Die Technik-Photographie wird zu einem Übertragungsmedium, das es gestattet, anhand von technischen Gegenständen Formen zu isolieren, die auch in Natur und Kultur auffindbar sind. Dieser Weg kann, wie Karl Blossfeldts Pflanzenaufnahmen zeigen, auch in umgekehrter Richtung erfolgen: Die Form des Schachtelhalms entspricht jener eines Wolkenkratzers in den Vereinigten Staaten. Entscheidend ist die formale Analogie, da sie es gestattet, auf der Oberfläche des Sichtbaren verbleibend, Korrespondenzen und Verwandtschaften zu konstruieren. Natur und Technik, so sollen es die Bilder in suggestiver visueller Evidenz zeigen, sind miteinander verwandt, entsprechen einander. Und daher bewahrt selbst das moderne Reich der industriellen Technik jenes der Natur in sich als Form auf. Der Dualismus Technik/Kultur vs. Natur ist zugunsten einer formalen Entsprechung aufgehoben. Die Technik-Photographie wird zu einer Matrix der Übersetzung von Natur in Kultur qua Form. Die Form ist zugleich – und das ist ein wesentlicher Punkt – radikal historisch und überzeitlich zugleich. Einerseits ist sie Signum oder Emblem des neuen technischen Zeitalters, andererseits jedoch gerade durch ihre photographische Aufzeichnung als gültige metatemporale Form entzifferbar. Programmatisch ist hier die bereits angeführte Einbandvignette von Renger-Patzsch’ Die Welt ist schön. Die Technikphotographie gestattet es, so könnte man resümierend sagen, über die Matrix der Form zwischen Natur und Kultur, radikaler Zeitgenossenschaft und überzeitlichen Ordnungen, Oberfläche und Tiefe hin und her zu springen. 4. Die Aufgabe dieser Bilder besteht schließlich genau darin, eben diese verschiedenen Formen von Indifferenzräumen qua Ästhetik überhaupt erst zu erzeugen. Der Technikenthusiasmus ist das Scharnier, das den mehr oder weniger nahtlosen Übergang von einer politischen Ordnung zur anderen möglich macht. Daß die Technikphotographie Indifferenzzonen, Austauschoperationen und Nullstellen ermöglicht, erklärt die eigentümliche Unsicherheit, wie mit diesen Bildern nun umzugehen sei. Die einen erblicken in ihnen eine Apotheose der Technik, die anderen ihre Kritik. Für die einen stand die Technikphotographie auf der Seite der Arbeiter, für die anderen zweifelsfrei auf jener des Kapitals. Für
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Abb. 2-44 Werner Lindner, Bauten der Technik, 1927
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die einen ist die Technikphotographie ein Plädoyer für eine Humanisierung der Technik, für die anderen aber das resignierte Eingeständnis ihrer definitiven Überlegenheit. Das Verdikt: Was ist moderne Photographie? Diese Ambivalenz der Technikphotographie kommt vielleicht am besten in einer scharfen Kritik an der zeitgenössischen neusachlichen Photographie zum Ausdruck, die zum klassischen Repertoire der Photokritik gehört. Anfänglich allgemein gehalten, wird sie sukzessive auf Albert Renger-Patzsch gemünzt, genauer auf sein Buch Die Welt ist schön. Ursprünglich stammt die Kritik von dem heute vergessenen Soziologen Fritz Sternberg, findet dann aber über seine Aufnahme durch Bertolt Brecht und vor allem durch Walter Benjamins „Kleine Geschichte der Photographie“ Eingang in die Photographietheorie, um fortan den roten Faden der gesellschafts-, kapitalismus- und kulturkritischen Debatten zu bilden: „Die Lage wird dadurch so kompliziert,“ heißt es programmatisch in Brechts Dreigroschenprozeß, „daß weniger denn je eine einfache ‚Wiedergabe der Realität‘ etwas über die Realität aussagt. Eine Fotografie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht.“83 Wenn es der 1977 erschienene Band zur Zeitschrift Der Arbeiter-Fotograf die Aussage als „vielzitierte Bemerkung“ apostrophiert,84 so ist das noch ein Euphemismus – implizit wie explizit findet sich das Zitat in zahllosen Texten zur Photographie.85 Wenn man Bertolt Brecht als Autor dieser Sentenz ansetzt, so bezeichnet man eher denjenigen, der für ihre Verbreitung gesorgt hat. Brecht beruft sich, wie gesagt, auf den Soziologen Fritz Sternberg86 und zwar in einem Text, den er selber als „soziologisches Experiment“ bezeichnet, genauer in seinem Dreigroschenprozeß, einem Text, den er nach einer urheberrechtlichen gerichtlichen Auseinandersetzung über eine geplante Verfilmung der Dreigroschenoper geschrieben hat. Es ist ein Text, der in extenso Zitate montiert, indem er auf die Urteilsbegründung, aber auch auf die öffentlichen Reaktionen in der Tagespresse und zahlreiche literarische Texte etc. zurückgreift. Der Montage- wie Experimentalcharakter des Textes versucht formal wie theoretisch, so Brecht, in der Argumentationsstrategie, die der Text gleichwohl 83 Bertolt Brecht, Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment, in: ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. von Werner Hecht u.a., Bd. 21, Schriften 1, Frankfurt/Main 1992, S. 448-514, S. 443f. 84 Joachim Büthe u.a., Der Arbeiter-Fotograf. Dokumente und Beiträge zur Arbeiterfotografie 1926-1932, Köln 1977, S. 83. 85 Vgl. etwa Burckhardt Lindner, „Die Entdeckung der Geste. Brecht und die Medien“, in: Bertolt Brecht I, (= Text + Kritik, Sonderband), Dritte Auflage: Neufassung, München 2006, S. 21-32, S. 23: „Auf der Hitliste der Brecht-Zitate stand diese Passage lange Zeit ganz oben“. 86 Die genaue Quelle konnte bisher nicht ermittelt werden.
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verfolgt, auf einen objektiven Standpunkt zu verzichten. Dieser Versuch, „die gesellschaftlichen Antagonismen aufzuzeigen, ohne, sie aufzulösen“87 und damit deutlich zu machen, daß innerhalb des „Kräftefeldes der widersprechenden Interessen“88 eine strategische und zugleich absolut parteiische Positionierung erforderlich ist, ist strategische Konsequenz der Beobachtung, daß eine objektive Position nicht mehr möglich ist und vielmehr methodische Darstellungs- wie Analyseformen gefunden werden müssen, die „kollektiven Denkprozessen“89 gleichen. Es geht ihm also nicht nur um eine Reflexion über die gesellschaftliche Funktion von Recht und Rechtsprechung, um die diffizile Unterscheidung von fortschrittlicher wie rückständiger Kunst, sondern um eine Bestimmung des veränderten Status einer theoretisch reflektierten und politisch aufgeklärten Kunst innerhalb des Geflechts von Interessen und von „immer dichteren Medien“, durch den sich auch die Haltung des Schreibenden verändert: Er wird zum „Instrumentebenützer“. Der Film hat nicht zuletzt eine zentrale Bedeutung für die „Umfunktionierung der Kunst in eine pädagogische Disziplin“,90 auch und gerade weil die Darstellung der Realität problematisch geworden ist. In diesem Zusammenhang findet sich nun das folgende Zitat (und hier nun in ganzer Länge): „Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine einfache ‚Wiedergabe der Realität‘ etwas über die Realität aussagt. Eine Fotografie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsächlich ‚etwas aufzubauen‘, etwas ‚Künstliches‘, ‚Gestelltes‘. Es ist also ebenso tatsächlich Kunst nötig.“91 Brechts Antwort auf diese, so könnte man sagen, „objektive“ Schwierigkeit, einen objektiven Standpunkt zu finden, ist das „soziologische Experiment“ als funktionalen Versuch, die Widersprüche in der Darstellung sichtbar zu machen und die Darstellung auf strategische Montage und Konstruktion zu verpflichten. Brechts Photographie-Sentenz nimmt keineswegs die Photographie als solche ins Visier, sondern zielt auf das Darstellungsproblem der Kunst insgesamt, das an ihr als ihr pars pro toto illustriert wird. Theodor W. Adorno wird sie in seiner „Balzac-Lektü-
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Brecht, Der Dreigroschenprozeß, S. 512. Ebd. Ebd., S. 513. Ebd., S. 466. Brecht, Der Dreigroschenprozeß, S. 469. Eine Variante findet sich in einer kurzen Notiz Brechts: „Die Fotografie ist die Möglichkeit der Wiedergabe, die den Zusammenhang wegschminkt. Der Marxist Sternberg […] führt aus, daß aus der (gewissenhaften) Fotografie einer Fordschen Fabrik keinerlei Ansicht über diese Fabrik gewonnen werden kann.“ „[Durch Fotografie keine Einsicht]“, in: ders., Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. von Werner Hecht u.a., Bd. 21, Schriften 1, Frankfurt/Main 1992, S. 448-514, S. 443f.
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re“ aufnehmen und auf die schöne Formel bringen, daß „das ens realissimum Prozesse sind, keine unmittelbaren Tatsachen, und sie lassen sich nicht abbilden.“92 Die Langfassung von Brechts Text erschien erst im Januar 1932 im dritten Heft der Versuche,93 Walter Benjamins „Kleine Geschichte der Photographie“, in der Brecht zitiert wird und nun auch seine kanonisierte Form annimmt, allerdings in drei Lieferungen bereits zwischen dem 18. September und 2. Oktober 1931 in Die Literarische Welt. Benjamin zitiert Brecht noch bevor der zitierte Text überhaupt erschienen ist und montiert das Zitat zugleich in einen anderen Kontext und mit einem expliziten Gegner:94 Nun steht das Zitat ohne bis dahin belegbare Quelle in einer strategischen Frontstellung gegen die Photographie der Neuen Sachlichkeit und zielt insbesondere auf Albert Renger-Patzsch: „Das Schöpferische am Photographieren“, heißt es nun bei Benjamin, „ist dessen Überantwortung an die Mode. ‚Die Welt ist schön‘ – genau das ist ihre Devise. In ihr entlarvt sich die Haltung einer Photographie, die jede Konservenbüchse ins All montieren, aber nicht einen der menschlichen Zusammenhänge fassen kann, in denen sie auftritt […]. Weil aber das wahre Gesicht dieses photographischen Schöpfertums die Reklame oder die Assoziation ist, darum ist ihr rechtmäßiger Gegenpart die Entlarvung oder die Konstruktion. Denn die Lage, sagt Brecht, wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine einfache ‚Wiedergabe der Realität‘ etwas über die Realität aussagt. […] Es ist also tatsächlich ‚etwas aufzubauen‘, etwas ‚Künstliches‘, ‚Gestelltes‘.“95 Die neusachliche Photographie ist für Benjamin ein Fetisch; sie ist eine ästhetisierende Affirmation des Bestehenden, das in den „schöpferischen“ Bildern „Gleichnisse des Lebens“ ausmacht. In Benjamins Tableau der modernen Photographie stehen ihr auf der einen Seite Sander, Krull und Blossfeldt und auf der anderen die Surrealisten und der russische Revolutionsfilm entgegen. Während die einen physiognomische, politische oder wissenschaftliche Interessen verfolgen, geht es den 92 Theodor W. Adorno, „Balzac-Lektüre“, in: ders., Noten zur Literatur (= Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 11), Frankfurt/Main 1997, S. 139-157, S. 147. 93 Ein Abschnitt kam bereits im April 1931 in der Zeitschrift Der Scheinwerfer heraus. Dieser Hinweis ist vielleicht auch deshalb von Interesse, da im Mai-Heft dieser Zeitschrift auch der Aufsatz „Aus der Frühzeit der Photographie“ von Bernhard von Brentano erschien. 94 „Warum Benjamin schon im Herbst 1931, also schon vor dem Erscheinen des 3. ‚Versuche‘Heftes aus der Schrift ‚Der Dreigroschenprozeß‘ zitieren konnte,“ schrieb mir auf meine Rückfrage hin Erdmut Wizisla, „ist nicht belegt. Wir sind auf Konstruktionen angewiesen, auch hier. Aber es gibt allerlei Anhaltspunkte: Zum einen sollen wesentliche Teile der Schrift schon im Mai/Juni 1931 in Le Lavandou geschrieben worden sein, wo es beinahe täglich Gelegenheit zum Austausch zwischen Benjamin und Brecht gab. Ein Druckmanuskript wurde im Sommer an Kiepenheuer gegeben. Im Herbst hat Brecht den Text auf den Druckfahnen nochmals umgearbeitet. Benjamin hat also entweder ein Manuskript oder vielleicht noch eher diese Fahnen zu Gesicht bekommen. Und ich vermute, daß das Zitat mit ausdrücklicher Billigung Brechts aufgenommen wurde.“ Vgl. dazu Erdmut Wizisla, Brecht und Benjamin. Die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt/Main 2004, S. 307-309. Ich danke Erdmut Wizisla herzlich für diese Hinweise. 95 Benjamin, „Kleine Geschichte der Photographie“, S. 383f.
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anderen um eine dezidierte „photographische Konstruktion“. Dazwischen steht die rein darstellende schöpferische Photographie, die Kultur und Natur, Technik und Leben in Bildern zu versöhnen sucht, in denen formale Entsprechungen eine innere Verwandtschaft suggerieren und die sich jedem konstruktiven Zug widersetzt. Die Gesellschaftskritik liegt hingegen, so könnte man in abwandelnder Paraphrase einer berühmten Formulierung zu Beginn der Einbahnstraße sagen, weit mehr in der Konstruktion des Lebens als in der Gewalt der Fakten seiner Wiedergabe. Zwischen Walter Benjamin und Albert Renger-Patzsch liegt ein vermeintlich unüberwindlicher Graben, den ersterer nicht zuletzt durch eine weitere nun noch expliziter auf Renger-Patzsch zugespitzte Verwendung des Sternberg-Zitats weiter ausgehoben hat. In seinem Aufsatz „Der Autor als Produzent“ heißt es nun: „Nun aber verfolgen Sie den Weg der Photographie weiter. Was sehen Sie? Sie wird immer nuancierter, immer moderner, und das Ergebnis ist, daß sie keine Mietskaserne, keinen Müllhaufen mehr photographieren kann, ohne ihn zu verklären. Geschweige denn, daß sie imstande wäre, über ein Stauwerk oder eine Kabelfabrik etwas anderes auszusagen als dies: die Welt ist schön. ‚Die Welt ist schön‘ – das ist der Titel des bekannten Bilderbuchs von Renger-Patsch (sic!), in dem wir die neusachliche Photographie auf ihrer Höhe sehen. Es ist ihr nämlich gelungen, auch noch das Elend, indem sie es auf modisch perfektionierte Weise auffaßte, zum Gegenstand des Genusses zu machen.“96 Damit sind die Dinge klar ausgesprochen: Die Technikphotographie eines Renger-Patzsch ist eine reine Ästhetisierung des Dargestellten, seine ästhetische Verklärung. Die neusachliche Photographie setzt also in den Augen Benjamins die Auratisierung des Gegenstands fort, die die Piktorialisten und auch Germaine Krull und Margaret Bourke-White in ihrer Frühzeit im Sinn hatten. Damit vertreten sie ein dezidiert antimodernistisches Programm. Die Formel ist deutlich genug: Mimesis und Kunst sind Teil der bürgerlichen Kultur, Konstruktion und Information hingegen Teil der Moderne. Das ist Benjamins Antwort auf die „philosophischen Fragen“, die „Aufstieg und Verfall der Photographie nahelegen“.97 Damit ist auch das Verdikt gegenüber den Arbeiten von Renger-Patzsch präzisiert. Dieser steht pars pro toto für eine ästhetisierende und formal orientierte Technikphotographie. Als spezifische Position zählt er kaum, er ist – und das nicht zuletzt aufgrund des Titels Die Welt ist schön –- eine Chiffre. Dafür spricht, daß sich neben den bereits angeführten wenig ins Detail gehenden Anmerkungen und einer Erwähnung in einer Art Klassifikation der neuen Sachlichkeit98 in seinem gesamten Werk kein weiterer Hinweis auf den Photographen findet. Ob Benjamin die Arbeiten von Renger-Patzsch gut kannte, ist durchaus zweifelhaft. Auch umgekehrt ist eine Lektüre Benjamins durch Renger-Patzsch nicht belegbar. In seinem Nachlaß findet sich jedenfalls kein einziger Hinweis darauf. Doch Benjamin geht es auch weniger um eine kritische Würdigung des Werks oder gar um dessen filigra96 Ders., „Der Autor als Produzent“, in: GS II, S. 683-701, S. 693. 97 Ders., „Kleine Geschichte der Photographie“, S. 368. 98 Ders., GS VI, S. 183.
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ne Interpretation als vielmehr um das Abstecken von theoretischen Grenzen: Renger-Patzsch markiert ein No Go der modernen Photographie und dementsprechend deutlich fällt dann auch die Abgrenzung aus. Benjamin unterscheidet zwischen einer „richtigen“ und einer „falschen“ Montage: auf der einen Seite Photomonteure à la John Heartfield, der im übrigen an anderer Stelle auch von Benjamin als Beispiel einer entlarvenden Montage angeführt wird, auf der anderen Renger-Patzsch, der zwar nicht ein einziges Mal mit der Technik der Photomontage gearbeitet hat, hier aber mit dem Gedankenexperiment einer ins All montierten Konservenbüchse vorgestellt wird. Der einem präzisen zeithistorischen Kontext verpflichtete und in der Grundhaltung aufdeckende Montage steht eine im Wortsinn allgemeine Übertragung gegenüber, die bar jeder historischen Zuordnung technisch-industrielle Artefakte dekontextualisiert und ihnen den geschichtlichen Index entzieht. Es kommt mir an dieser Stelle nicht darauf an, Benjamins Favoriten mit ihren jeweiligen visuell-ästhetischen Strategien darzustellen.99 Wichtiger ist die Profilierung seiner Kritik an der Technikphotographie. Ziehen wir eine dritte Stelle zu rate, um sie noch genauer beschreiben zu können: In dem sogenannten „Zweiten Pariser Brief“ präzisiert Benjamin seinen Vorwurf, indem er ein weiteres Moment ergänzt: „Der Irrtum der kunstgewerblichen Photographen mit ihrem spießbürgerlichen Credo, das den Titel von Renger-Patzschs bekannter Photosammlung ‚Die Welt ist schön‘ bildet, war auch der ihre. Sie verkannten die soziale Durchschlagskraft der Photographie und damit die Wichtigkeit der Beschriftung, die als Zündschnur den kritischen Funken an das Bildgemenge heranführt (wie wir das am besten bei Heartfield sehen).“100 In starker Abbreviatur formuliert verknüpft Benjamin hier drei unterschiedliche Aspekte: Erstens geht es ihm ein weiteres Mal um die Bedeutung der Lesbarkeit, die im Zentrum seiner Überlegungen zur Photographie, ihrer Geschichte und der mit ihr verbundenen philosophischen Fragen steht. Auf eine Formel gebracht: Um die Photographie im 19. Jahrhundert verstehen zu können, bedarf man der Erzählung, der Tradition; um jene in der Moderne lesen zu können, braucht es hingegen der Beschriftung, die der Information. Zweitens geht es um eine veränderte Funktion der Photographie. Die Photographie hat, da sie nicht länger auf Dauer zielt, eine neue Funktion. Sie erscheint in Kontexten des unmittelbaren Gebrauchs (etwa Zeitschriften) und einer höchst praktischen, weil funktionalen Verwertung. Zugleich bedarf die Photographie einer Erläuterung, da sie ohne diese stumm bleibt und ihres Informationswerts verlustig geht. Eine auf Information und – in Benjamins Vorstellung – Politik wie Kritik zielende Photographie ist notwendig mit Texten verbunden. 99 Das habe ich an anderer Stelle getan. Vgl. dazu „Walter Benjamin und Albert RengerPatzsch. Wege durch die Moderne“, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 2009, S. 57-88. 100 Benjamin, Pariser Brief II, GS III, S. 504f.
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Drittens ist die Beschriftung auch Zeichen wie Folge der zu konstatierenden Entfremdung. Benjamin bringt dies auf die Formel des Tatorts. Wenn die Photographie Indiz sein will – und das soll sie in den Augen Benjamins sein – muß das Gezeigte weiterhin möglichst präzise mit Informationen zur Zeitstelle und zum soziohistorischen Kontext versehen werden. Das Bild allein ist nicht hinreichend, weil nicht aussagekräftig genug. Ein Bild mag zwar mehr als tausend Worte sagen, tut dies aber in recht ungenauer Weise – wie nicht zuletzt zahllose Beispiele aus der Geschichte zeigen. Erst dank der Beschriftung kann man auch im Nachhinein Geschichte über Bilder lesbar machen. Diese zeugen nicht zuletzt vom Verschwinden des Menschen, denn, so will es seine Deutung Atgets: die Bilder sind menschenleer. Die Entfremdung ist zum Bild geworden, in Aufnahmen geronnen, kann aber auf der Zeitachse genau bestimmt werden. Faßt man diese Anmerkungen zusammen, so versucht Benjamin in seiner Deutung der Moderne die Photographie konsequent in der Perspektive der Historizität und der Aktualität zu denken. Während die überkommenen Formen der Tradition und nicht zuletzt jene der Erzählung noch auf Dauer zielten, so kommt es nun auf den Augenblick und die unmittelbare politische Verwertung wie kritische Verwertbarkeit der Bilder an. Renger hingegen wählt noch in der Moderne in Benjamins Deutung die Option der Dauer und das inmitten einer beschleunigten Moderne. Doch ist das nicht letztlich auch die Deutung der Technik bei Germaine Krull, die Benjamin auf die Seite der „Guten“ schlägt? Sind ihre Bilder visuelle Bestandsaufnahmen einer neuen Ordnung der Dinge, die sich bereits durchgesetzt hat, ohne daß dies von der Kunst bisher bemerkt worden sei und die nun versucht, diese in Bilder zu fassen? So ist Benjamins Deutung von Krull als einer Bestandsaufnahme mit politischem Interesse mehr Wunschdenken als zutreffende Beobachtung. Die offenkundige politische Ambivalenz ihrer Aufnahmen kannte er vermutlich nicht, hätte sie aber auch erklären können. Die Doppeldeutigkeiten der Technikphotographie bleiben auch in dieser Deutung unaufgelöst. Sie würden nur dann verschwinden, wenn man in der Lage wäre, den gordischen Knoten, der zwischen der Affirmation der technischen Welt und ihrer Kritik geknüpft ist, zu zerschlagen. Die eigentliche Pointe der Technikphotographie scheint mir hingegen darin zu bestehen, daß diese Unterscheidung hinfällig ist, da sie aus den Bildern nicht herauszulesen ist: Affirmation und Kritik sind mehr oder weniger kontingente Zuweisungen. Die enorme Größe der technischen Bauten im Vergleich zum Menschen wird so entweder als Verherrlichung der Technik oder als Kritik ihrer Dominanz gelesen und die formal-ästhetische Darstellung von Industrieanlagen mal als Zelebrieren der Gestalt des Arbeiters, mal als explizites Engagement, um diesem in dieser technischen Welt seinen ihm gebührenden Platz zu verschaffen. Das Entscheidende an der Technikphotographie der 1920er und 1930er Jahre ist hingegen ihre Funktion als Trickster. Sie eröffnet kulturelle Zonen des Austauschs, Nullstellen der Symbolisierung und bietet gleichzeitig eindrucksvolle visuelle Embleme eines neuen Zeitalters.
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3. Die Photomontage: Kalkulierte Explosionen
„Das Auge ist das wichtigste Organ des zivilisierten Menschen. Der moderne Blick ist ein Organ, in dem alle Sinne vereinigt sind, der Blick ist es, der denkt und fühlt.“ Karel Teige1
Die Photomontage in Zeiten der Avantgarden begann, so will es der von Raoul Hausmann erzählte Gründungsmythos, fernab der Metropolen im Sommer 1918 auf Usedom, als er mit seiner damaligen Lebensgefährtin Hannah Höch in ihrer Wohnung ein Regimentsbild vorfand, das ihnen zum Modell neuer Bilder werden sollte.2 Hausmann, der sich mit seinen damaligen Mitstreitern bis zu seinem Lebensende einen erbitterten Streit über die Gnade der ersten Entdeckung lieferte, schrieb später an Höch: „Ich entdeckte das Prinzip der Fotomontage 1918 in Heidebrink, wo in dem Zimmer, das Du und ich bewohnten, das Lithografieblatt eines Grenadiers hing, in das man das Portrait des Soldaten als Foto eingeklebt hatte.“3 Von den Schützengräben zu den Reservisten- und Regimentsbildern, von der Materialschlacht zur Schlacht mit dem Material, das ist der Weg der Photomontage der 1910er Jahre. Hausmanns Bericht macht deutlich, „daß die Idee der Fotomontage 1 Karl Teige, „Zur Ästhetik des Filmes“, in: Das Kunstblatt, 1925, S. 332ff. 2 Allerdings werden die ersten Arbeiten dieses Typs mittlerweile einige Jahre früher angesetzt. Von Blumenfeld finden sich bereits 1916 erste Montagen und weitere Quellen nehmen 1915 an. Vgl. dazu Helen Adkins, Erwin Blumenfeld. In Wahrheit war ich nur Berliner. Dada-Montagen 1916-1933, Ostfildern 2009; Hanno Möbius, Montage und Collage, München 2000 und zuletzt Nanni Baltzer, Die Fotomontage im faschistischen Italien. Aspekte der Propaganda unter Mussolini, Berlin und Boston 2015, jeweils mit weiterer Literatur. 3 Raoul Hausmann an Hannah Höch vom 1.5.1960 (Hausmann-Nachlaß im Musée départemental d’art contemporain de Rochechouart, im folgenden mit MDR abgekürzt). Ein Jahr später schrieb er am 8. Mai an Konrad Farner in fast gleichlautender Weise: „Die Idee der Fotomontage kam mir im Juli 1918, als ich mich mit H. Höch in dem Fischerdorf Heidebrink an der Ostsee befand. Dort sah ich das Militärgedenkblatt, das jeder Grenadier nach dem Militärdienst erhielt – ein Fotoportrait, das in eine Lithographie eingeklebt war. Dieses Blatt wurde 1958 von Höch aufgetrieben und war auf der Dadaausstellung von Düsseldorf und Frankfurt zu sehen, es erlaubte Höch zu behaupten, dass WIR, d.h. sie und ich gleichzeitig die gleiche Idee und ‚Quelle‘ hatten. Höch machte aber Fotomontagen erst ab 1920, wenn sie auch jetzt behauptet, ab 1919.“ (MDR)
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in der Luft lag, reif geworden in den Schützengräben des Weltkriegs“,4 wie Sergei Tretjakow später über Heartfield schreibt. „Gemeinsam – George Grosz, John Heartfield, Johannes Baader, Hannah Höch und ich – beschlossen wir,“ so berichtet Hausmann weiter, „die Erzeugnisse Fotomontage zu nennen. Dieser Name entstand durch unsere Abneigung, Künstler zu spielen; wir betrachteten uns als Ingenieure […], wir behaupteten, unsere Arbeiten zu konstruieren, zu montieren.“5 Photomontagen sind grundsätzlich Konstruktionen. Daher verwundert es auch nicht, daß der Begriff in künstlerischen Kontexten im Umfeld des russischen Konstruktivismus, genauer bei Alexander Rodtchenko, erscheint.6 Im Kolophon von Wladimir Majakowskis Pro Eto, das mit Rodtchenkos Photomontagen 1923 erschien, wird der Begriff „Photomontage“ explizit erwähnt, dann in Essays von Brik und Arwatow präzisiert und setzt sich dann durch. Ähnlich wie die Bezeichnung „Photographie“ auch eine bemerkenswerte Geschichte mit diversen anderen Namen des Verfahrens aufweist, sich dann aber nicht nur ein Begriff, sondern ein Programm durchsetzt, gilt das auch für die „Photomontage“. „Klebebilder“, „Aufbaufoto“ oder „Fotoplastiken“ waren andere Optionen und eben auch andere Programme.7 Photomontage ist nicht nur Konstruktion, sondern immer auch Zerschneiden von vorgefundenem Material. Sie ist Konstruktion und Absetzung zugleich und verfolgt ein ästhetisches, politisches, weltanschauliches etc. Programm. Zugleich hat sie bestimmte Effekte im Visier, die durch die Montage der verschiedenen Elemente erzielt werden sollen. Sie ist auch in dieser Hinsicht konstruktiv, indem sie auf eine kalkulierte Rezeptionsästhetik setzt. Der montierte Mensch erscheint so gleich auf mehreren Ebenen. Zugleich erweist sich die Photomontage als multiple Kampfzone. Wenn montiert wird, setzt voraus: il faut trancher. In Rußland kam es so etwa mit der konstruktivistischen Volte zur Trennung der beiden Flügeln der INChUK-Gruppe, dem 1920 gegründeten Institut für künstlerische Kultur: Auf der einen Seite standen einige Künstler um Kandinsky, denen es um die subjektive Wahrnehmung und Überlegungen zur Synästhesie, Anthropologie und zum Gesamtkunstwerk ging, auf der anderen jene um Rodtchenko, die sich eine objektive Analyse ästhetischer Gegenstände zur Aufgabe gemacht hatte und die sich in Richtung einer Produktionsästhetik bewegten. In Deutschland gehen Heartfield und Grosz rasch andere Wege als Hausmann. Wieder andere wie László Moholy-Nagy, Hannah Höch oder Erwin Blumenfeld verfolgen noch einmal unterschiedliche Strategien. Wenn Hausmann 1931 bereits als Gemeinplatz zitiert, daß die Photomontage „nur in zwei Formen möglich sei: in der politischen, 4 Sergej Tretjakow, „Johnny“ (1936), in: ders., Die Arbeit des Schriftstellers. Aufsätze, Reportragen, Portraits, Reinbek 1972, S. 159-170, S. 163. 5 Raoul Hausmann, Am Anfang war Dada, hg. von Günter Kämpf und Karl Riha, Gießen 1972, S. 49. 6 Matthew S. Witkovsky, Foto Modernity in Central Europe, 1918-1945, London 2007, S. 36. Dort wird die These vertreten, daß der Begriff hier erstmals als solcher eingeführt wird. 7 Zur Unterscheidung „Fotoplastik“ vs. „Fotomontage“ vgl. László Moholy-Nagy, „fotografie ist lichtgestaltung“, in: Krisztina Passuth, Moholy-Nagy, Weingarten 1986, S. 319-322.
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DIE PHOTOMONTAGE
Abb. 2-45 Alexander Rodtschenko, Umschlag von Alexander Majakowski, Pro Eto, 1923
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Abb. 2-46 Alexander Rodtschenko, „Ich bin ganz oben“, Photomontage für Pro Eto, 1923
oder in der gebrauchsgraphischen“, so trifft dies keineswegs das gesamte Spektrum der verschiedenen Positionen.8 Da es bei Photomontagen immer um Konstruktionen geht, die nicht nur auf Weltanschauungen beruhen, sondern diese durchzusetzen und zu gestalten suchen, sind Konflikte die Regel, die Einsätze hoch und die Positionen divers. Ich beschränke mich im folgenden vor allem auf Raoul Hausmann, John Heartfield und, ungleich knapper, László Moholy-Nagy, um exemplarisch einige wenige dieser Programme vorzustellen. Photomonteure in Blaumännern Man nahm das Vorhandene, zerschnitt es, kombinierte es neu und erzeugte so Bilder, die das Sehen auf die Probe stellten. Die Photomontage ist dabei vor allem anderen eine Frage der Technik, die in Gestalt diverser Elemente auch in den frühen Photomontagen auftaucht. Hausmann und Grosz posierten daher auch munter in 8 Raoul Hausmann, „Fotomontage“, in: ders., Photographisches Sehen. Schriften zur Photographie 1921-1968, hg. von der Berlinischen Galerie, vom Musée départemental d’art contemporain de Rochechouart und Bernd Stiegler, Paderborn 2016, S. 52-54, S. 52.
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Blaumännern, um den technischen Charakter der neuen Bilder zu unterstreichen. Sie wollten als Monteure er- und anerkannt werden. „george grosz schreibt mir: […] das wort ‚montör‘ erfand ich für h. [Heartfield, B.S.], der dauernd in einem alten blauen anzug auftrat, und dessen tätigkeit in unsrer gemeinschaft am meisten an montieren erinnerte.“9 Unübersehbar galt es zu konstruieren und aufzubauen, zu zerschneiden und neu zusammenzusetzen, nicht aber abzubilden oder darzustellen. Die Photomontage ist eine technische Angelegenheit, sachlich, funktional, klar und von heilignüchternem konstruktiven Zorn. Die „Explosion von Blickpunkten“,10 die angesichts dieser neuartigen Bilder konstatiert wird, ist eine kalkulierte Zündung. Daher mag es nicht überraschen, daß George Grosz, so berichtet er es jedenfalls in seiner Autobiographie, in seinem Zimmer eine Photographie von Henry Ford als einen jener Männer hängen hatte, die er „verehrte“ – „mit großartiger Widmung: ‚To George Grosz the artist from his admirer Henry Ford‘. (Die hatte ich – natürlich im geheimen Einverständnis mit Henry Ford – mir selbst gewidmet.“11 Ironie ist das eine, Technik das andere. Vorläufer der modernen Photomontage gab es, wie auch Hausmanns Bericht zeigt, bereits deutlich vor der industriellen Montage à la Ford. Schon im 19. Jahrhundert operierte die Photographie mit diversen Techniken der Montage, die von Kombinationen mehrerer Negative bei Gustave Le Gray in den 1850er Jahren oder den Kunstphotographen Henry Peach Robinson und Oscar Gustave Rejlander um 1870, über sogenannte Mosaik-Photos von Disdéri und anderen ab den 1860er Jahren bis hin zu Jahrmarkts- und Reservistenbildern reichen, die weit verbreitet waren. Ende der 1910er Jahre verändert aber die Photomontage mit einem Mal ihren Status. Nun geht es weder darum, bestimmte soziale wie gegenständliche Wirklichkeiten abzubilden, die sich der photographischen Darstellung entzogen hatten, wie das etwa bei den Militärbildern der Fall war, bei denen einfach nicht alle gleichzeitig zugegen sein konnten, aber Teil des Korps, des darzustellenden Gesellschaftskörpers waren, noch darum, mit der Kunst zu konkurrieren und Bilder im Sinne der Tradition zu komponieren. Die Photomontage des 19. Jahrhunderts reagierte auf Defizite der Darstellungsmöglichkeiten der technischen Bilder und versuchte diese zu kompensieren oder spielte umgekehrt gerade mit den technischen Möglichkeiten der Photographie, indem sie zusammensetzte, was offenkundig nicht zusammengehörte.12 Die Photomontage zu Beginn des 20. Jahrhunderts zielt hingegen vielmehr auf die Konstruktion einer neuen Wirklichkeit, der sie mitunter in anderer Gestalt bereits im Alltag begegnet. Einige, wie Hausmann, sehen diese im psychophysiolo9 Franz Roh, „mechanismus und ausdruck“, in: ders. und Jan Tschichold (Hg.), foto-auge, œil et photo, photo-eye, London 1974, Faksimile der Edition Stuttgart 1929, S. 3-7, S. 7. 10 Raoul Hausmann, „Scherz, Ironie und Phantastik in der Photographie“, in: ders., Photographisches Sehen, S. 322-326, S. 325. 11 George Grosz, Ein kleines Ja und ein großes Nein. Sein Leben von ihm selbst erzählt, Reinbek 1974, S. 104. 12 Vgl. hierzu das schöne Buch von Clément Chéroux, der die Kontinuität der Strategien betont: Avant l’avant-garde. Du jeu en photographie, 1890-1940, Paris 2015.
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gischen Haushalt des Menschen, andere, wie Heartfield, in einer neuen Gesellschaft, ob diese nun in Rußland bereits auf dem Wege ihrer Verwirklichung ist oder aber mittels der Photomontage als Waffe im nationalsozialistischen Deutschland als Horizont der Kritik erscheint. Wieder andere, wie Moholy-Nagy, wollen den Menschen ins Reich der Technik führen und seine Organmöglichkeiten ausnutzen. Und weitere Positionen, wie etwa jene der Werbegraphik, aber auch die Arbeiten von Hannah Höch oder Erwin Blumenfeld und vielen anderen, wären zu ergänzen. Alle reagieren dabei bereits auf Prozesse der Modernisierung. Tagein, tagaus hat man es, so wollen es zahllose Beschreibungen, im Alltag bereits mit zusammengesetzten, zerfetzten, simultanen und heterogenen Sinneseindrücken zu tun. Die Photomontage macht sich nun daran, diese Erfahrung nicht nur im Bereich der Kunst bildlich zu reproduzieren, sondern vielmehr zu organisieren. Es geht ihr nicht einfach darum, komplexe Alltagserfahrungen in Zeiten der beschleunigten Moderne einfach abzubilden – denn das wäre das traditionelle Programm einer der Mimesis verpflichteten Kunst. Die Photomontagen versuchen vielmehr, neue visuelle Erfahrungen überhaupt erst zu erzeugen und auf technischem Weg eine neue Wahrnehmung zu produzieren. Sie sind Produktionsbilder. Es geht den Photomonteuren daher fast durchweg um eine bewußt konstruierte, programmierte und theoriegeleitete Praxis. Die Photomontagen sind keineswegs chaotische Bilder kontingenter Kombinationen, sondern bewußte Konstruktionen mit präzise kalkulierten Programmen. Die verschiedenen Praktiken verstehen bei allen Unterschieden die Photomontage als Visualisierungsverfahren von ästhetischen, politischen und theoretischen Programmen. Photomontagen sind daher in extremer Weise und weit mehr als Kameraphotographien theoriegeleitet. Sie sind konstruierte Bilder, die eben auch die Wahrnehmung des Menschen zu montieren und zu revolutionieren suchen. Es lebe die konstruktivistische Technik „Alle neuen Ansätze der Kunst“, so formuliert Rodtchenko 1921 programmatisch, „entstehen aus Technologie und Ingenieurwesen und führen weiter zu Organisation und Konstruktion.“13 In seinem manifestartigen Text „Die Linie“ skizziert er dann diese neue Form der künstlerischen Konstruktion: „Bewußtsein, Erfahrung, Ziel, Mathematik, Technik, Industrie und Konstruktion – das ist es, was über allem anderen steht. Es lebe die konstruktivistische Technik.“14 Diese zielt auf alle Bereiche des Alltags: Tapeten, Kleidung, Werbung, Bücher, Produktgestaltung, Porzellan, Arbeiterclubs, Zeitungen. Zusammen mit Majakowski gründet er im Sommer 1923 das Zweimann-Unternehmen „Reklame-Konstrukteur“ und entwirft Werbe13 Sitzungsprotokolle der INChUK-Gruppe, 1. und 21. Januar 1921, zit. nach: Isabel Wünsche, „Kunst und Revolution. Der russische Konstruktivismus und die Politik“, in: Rodtschenko. Eine neue Zeit, München 2013 (= Ausstellungskatalog Bucerius Kunst Forum Hamburg), S. 22-33, S. 29. 14 Zit. nach ebd.
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Abb. 2-46b Alexander Majakowski, Rosta-Fenster, Mai 1921
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Abb. 2-46a Alexander Rodtschenko, Lesezeichen, 1924
Abb. 2-46c Alexander Rodtschenko, Werbeplakat für Gummitrust, Text von Wladimir Majakowski, 1923
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graphik für neu entstandene sowjetische Firmen. Er fertigt zahlreiche Photomontagen für Bücher von Majakowski und anderen an, gestaltet Zeitschriften und Filmplakate, u.a. für Filme von Wertow und Eisenstein. Das ist der kurze Sommer der Photomontage im konstruktivistischen Geist, die sich mit einem Mal überall zu finden scheint. Die ganze Welt war, so schien es, wie auf einem Reißbrett neu zu entwerfen, zu konstruieren. Die Photomontage war ihre am weitesten verbreitete Erscheinungsform. Sie war reine Konstruktion. Doch die offene Konfrontation mit einer nun anderen Form von vorgestellter Wirklichkeit findet sich in den 1920er und 1930er Jahren immer wieder, in immer neuer Gestalt und mit dann zunehmendem politischem Druck. Spätestens mit dem im Februar 1931 getroffenen ZK-Beschluß zur Plakat-Bild-Agitation („Das Plakat und das massenhaft reproduzierte Bild dringen in alle Gebiete der allgemeinen Lebensweise des Alltags ein und sind ein bildhaftes Medium zur ideologischen Umerziehung der breiten Massen“)15 wird dieser offenen Form der Photomontage unübersehbar der Kampf angesagt. Sie wird unter Kontrolle gestellt. Nicht die sichtbare technische Konstruiertheit, nicht die offenen und spannungsreichen Konstruktionsformen stehen nun auf dem Programm, sondern die Glättung der Konflikte und Gegensätze und die ihrerseits montierte Darstellung einer organischen, auf Ganzheit zielenden Gestalt im Sinne des sozialistischen Realismus. Allein bei El Lissitsky hat man seine frühen Arbeiten als dem brechtschen V-Effekt verpflichtet beschrieben, während die späteren dann stalinistisch-propagandistisch seien.16 Gleiches könnte man auch mit anderen politischen und ästhetischen Vorzeichen für Heartfield und Hausmann unternehmen, die beide im Geist des Dadaismus beginnen, um dann, wie wir sehen werden, zu Leitfiguren für jeweils unterschiedliche Wege der Photomontage zu werden. Die Maschinenkunst Tatlins Der russische Konstruktivismus ist auch im Dadaismus eine Referenz der frühen Photomontagen. Von der ersten Internationalen Dada-Messe 1920 in Berlin sind zwei Photographien überliefert, bei denen auf der ersten George Grosz und John Heartfield zu sehen sind, die mit einem Schild, auf dem „Die Kunst ist tot. Es lebe die neue Maschinenkunst Tatlins!“ zu lesen ist, posieren. Hausmann ließ sich sei15 „‚Was bedeutet der Beschluß des Leninschen Führungsorgans und wie soll er erfüllt werden?‘ Beschluß des ZK der VKP(b) über die Plakat-Bild-Agitation und Propaganda, in: Brigada chudoschnikow, Nr. 2/3, 1931, S. 1-3, in: Hubertus Gaßner und Eckhart Gillen (Hg.), Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus. Dokumente und Kommentare, Köln 1979, S. 434. 16 Yve-Alain Bois, „El Lissitsky: Radical Reversability“, in: Art in America, Bd. 76, Nr. 4, April 1988, S. 161-188. Vgl. auch Victor Margolin, der die verschiedenen Gestaltungen von USSR im Bau genauer untersucht: The Struggle for Utopia. Rodchenko, Lissitsky, Moholy-Nagy 1917-1946, Chicago und London 1997. Zu diesem Themenkomplex auch ausführlich Margarita Tupitsyn, Gustav Klutsis and Valentina Kulagina. Photography and Montage after Constructivism, Göttingen 2004.
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Abb. 2-47 Hausmann und Höch in der Dada-Ausstellung 1920
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Abb. 2-48 Erste internationale Dada-Messe, Berlin 1920. Grosz und Heartfield vor ihrer Elektro-Mech. Tatlin Plastik „Die Maschinenkunst Tatlins“
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nerseits zusammen mit Hannah Höch in einem Raum ablichten, wo das gleiche Schild nun an der Wand montiert ist. Leicht nach oben links, auf der Höhe des Kopfes von Hannah Höch, hängt zudem die mittlerweile berühmte Photomontage von Raoul Hausmann „Tatlin lebt zu Hause“, in dem dessen Kopf, genauer sein Hirn zum Ausgangspunkt einer komplexen Montage von mechanischen Elementen wird; links neben dem Kopf von R. Hausmann erkennt man die große Collage „Schnitt mit dem Küchenmesser Dada“ von Hannah Höch mit ihrer Mischung von Köpfen und Maschinenteilen. Viele Jahre später beschrieb Hausmann, wie wir aus einer im Nachlaß überlieferten englischen Fassung wissen, dem Leiter der Photo-Abteilung des New Yorker MOMA John Szarkowski die Entstehung dieser Montage.17 Eines Tages, so berichtet er, blätterte er ein amerikanisches Magazin durch und stieß dort auf ein Bild eines ihm unbekannten Mannes und ihm kam gleich ein russischer Künstler in den Sinn: Tatlin. Die Technik ist der Bote, der zwischen den Reichen vermittelt, ein Hermeneut, der zusammenbringt, was eigentlich nicht zusammengehört. Tatlin steht hier für einen Künstler, der nichts als die Technik im Kopf hat, dem es nur um Motoren und Maschinen geht. Aus einer französischen Zeitschrift stammt ein Mann mit leeren Taschen, da Tatlin ja nicht reich gewesen sei, und aus einem Anatomie-Buch die inneren Organe des menschlichen Körpers. Maschinen werden ergänzt und so entsteht ein Portrait, das auf eine physiognomische Darstellung Tatlins zugunsten einer Visualisierung seiner Vorstellung – des Boten der technischen Welt – verzichtet.18 Die Berufung auf Tatlin als Maschinenkünstler bei Grosz, Heartfield, Hausmann und Höch fußte allerdings mehr auf einer Besprechung Konstantin Umanskis als auf Tatlins Arbeiten selbst. Umanski hatte in seinem Aufsatz „Der Tatlinismus oder Die neue Maschinenkunst“, der 1920 in der Zeitschrift Der Ararat erschienen war, die künstlerischen Arbeiten Tatlins suggestiv als Maschinen- und Materialkunst bezeichnet.19 Seine Konterreliefs beschrieb er als Materialkunst, die im „Bund mit seiner mächtigen Alliierten – der herrschaftlichen Maschine“ stünden.20 In einem späteren Artikel über russische Monumentalskulpturen, in dem er auf Tatlins epochalen Entwurf zum Denkmal der III. Internationale einging, wurde der Schulterschluß zwischen Kunst und Technik noch enger: „Auch in seinen Projekten neuer Monumente“, heißt es nun, „schöpft er seine Formen unmittelbar aus der Maschinenwelt, baut sein Werk ‚maschinenmäßig‘ auf, fürchtet sich nicht, sein ‚Maschinenherz‘ zu offenbaren, sich vertrauensvoll dem ‚Unding Großstadt‘
17 Raoul Hausmann, „Tatlin at Home Takes Form“, in: ders., Photographisches Sehen, S. 226. 18 Vgl. dazu auch Matthew Biro, The Dada Cyborg. Visions of the New Human in Weimar Berlin, Minnesota 2009. 19 Konstantin Umanski, „Der Tatlinismus oder Die neue Maschinenkunst“, in: Der Ararat, Bd. 1. Heft 4, München 1920, S. 12ff. 20 Ebd., S. 12.
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Abb. 2-49 Raoul Hausmann, Tatlin lebt zu Hause, 1920, seit 1968 verschollen, Photomontage
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zu nähern.“21 El Lissitzky hatte in diesem Sinne Tatlin 1922 bei der Arbeit am Modell zum Denkmal als rationalen Konstrukteur dargestellt und dann als Illustration von Ehrenburgs Erzählung „Vitrion“ verwendet. Tatlin und der Tatlinismus wurden so sehr zum Emblem einer neuen Kunst, daß selbst Tatlin 1923 einen Vortrag als „Materielle Kultur (Nieder mit dem Tatlinismus)“ ankündigte.22 Hausmann ging es ohnehin – anders als dann zumindest später Heartfield – nicht um eine begeisterte Übernahme der russischen Bestrebungen zur Konstruktion eines neuen technischen Menschen, sondern um eine polymediale wie synästhetische Konfrontation des Menschen mit sich selbst: „Im Dada werden Sie Ihren wirklichen Zustand erkennen“, heißt es bereits in dem Manifest „Synthetisches Cino der Malerei“, das als Titel auch bei einer Montage wiederverwendet wird.23 Das Ich sei geprägt durch eine radikale Ambivalenz, durch ein fortwährendes Pendeln zwischen Gegensätzen und bilde ein „psycho-technisches Perpetuum mobile“.24 Doch während die bürgerliche und andere Ideologien danach trachteten, Gegensätze aufzuheben, festzustellen oder zu zementieren, würden sie im Dadaismus programmatisch dynamisiert. Das „vielfältige“ Ich könne sich nicht an festen Begriffen und Ordnungen orientieren, sondern habe sich inmitten eines sich „immerfort wandelbaren, sich wandelndem Erzwingen, Erreichen lebendiger Beziehungen“ zu erfahren und zu entwerfen.25 Die Revolution des Menschen müsse durch die Technik hindurchgehen. Hausmann formuliert die Aufgabe der Kunst programmatisch: „Der Gesamtzustand des psycho-physisch (material) gefaßten Menschen muß von Grund aus geändert werden.“26 Wenn daher in der TatlinMontage das Gehirn ersetzt wird durch technische Apparaturen und der Tod der Kunst in Gestalt der Maschinenkunst Tatlins proklamiert und gefeiert wird, so dient der vermeintliche technische Konstruktivismus hier einer Neumontierung der Psychophysis des Menschen jenseits der Technik. Technik wird zur ästhetischen Psychotechnik, die aber nicht auf eine Konstruktion eines neuen technischen Menschen setzt, sondern auf ein „Sein in Widersprüchen“27 oder eine „lebendige
21 Ders., „Die neue Monumentalskulptur in Rußland“, in: Der Ararat, Bd. 2, Heft 5/6, S. 2934, S. 32, zit. nach Eva Züchner, „Die Erste Internationale Dada-Messe in Berlin. Eine meta-technische Liebeserklärung an Tatlins ‚Maschinenherz‘“, in: Berlin-Moskau, hg. von Irina Antonowa und Jörn Merkert, München und New York 1995, S. 119-124, S. 120. 22 Zu Tatlin vgl. Tatlin. Neue Kunst für eine neue Welt, Ostfildern 2012 (= Ausstellungskatalog Museum Tinguely) und Tatlin. Neue Kunst für eine neue Welt. Internationales Symposium, Ostfildern 2012.. 23 Raoul Hausmann, „Synthetisches Cino der Malerei“. In: Adelheid Koch, Ich bin immerhin der größte Experimentator Österreichs. Raoul Hausmann. Dada und Neodada, Innsbruck 1994, o.S. 24 Ders., „Dada durchschaut die Gesellschaft“, in: ders., Am Anfang war Dada, 95-103, 101. 25 Ebd., 99. 26 Ebd., 100. 27 Ders., „Zur Weltrevolution“. in: Michael Erlhoff (Hg.): Bilanz der Feierlichkeit. Texte bis 1933, Bd. 1, München 1982, S. 50-54, S. 51.
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Abb. 2-50 Tatlin-Wand in der Dada-Ausstellung 1920
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Dynamik“28. Es gehe um die Geburt eines „unerschrockenen und unhistorischen Menschen“.29 Raoul Hausmann versteht diese ästhetische Revolution als Freilegung des Elementaren, genauer als neues Verhältnis des Menschen zur Welt. Die Maschinen im Schädel und die Maschinenkunst sollen den Menschen in die lebendige Welt der Dinge zurückführen. Und die zahlreichen Buchstabenkombinationen in den frühen Photomontagen Hausmanns machen zudem deutlich, daß es ihm um eine neue Sprache ging, um eine visuelle Alphabetisierung. Ziel war aber ein elementares Erleben der Wirklichkeit. Daher interessierte sich Hausmann dann später auch weit mehr für die Dünenlandschaft der Ostsee, die dort wachsenden Gräser und Blumen und die ebendort ansässigen, von der Moderne weitgehend untangierten Menschen als für die Errungenschaften der Technik. Mit sozialistischem Gruß! Man kann das spätere Auseinanderdriften der ästhetischen, politischen und weltanschaulichen Programme bei Hausmann, Heartfield, Grosz und Höch auch exemplarisch an dem Bezug der beiden Erstgenannten zu Sowjetrußland verdeutlichen. Um Photomontagen geht es beiden, aber eben auch um eine gänzlich anders montierte Wirklichkeit. Erst einmal klingt es auch bei Hausmann nach einem sozialistischen Schulterschluß: „Mit sozialistischem Gruss“, schreibt Hausmann an die Handelsdelegation der UdSSR: „Anbei übergebe ich Ihnen 2 Belegexemplare von A-Z mit der Bitte, eines davon Gen. Dowschenko zu übermitteln. Weiteres mir sr.Zt. übergebenes Photomaterial habe ich mit Gen. Heisig zu Photomontagen verwendet, die ab 2. April in der Staatl. Kunstbibliothek, Prinz Albrechtstr. 7a ausgestellt sein werden, falls die Museumsleitung nicht Anstoss an dem ‚politischen‘ Thema nehmen wird. Mit soz. Gruss“.30 Bei dem politischen Thema, von dem hier die Rede ist, handelt es sich um zwei Photomontagen: „Das Rückgrat der Kultur ist die Sicherung der Ermährung für alle“ und „Planwirtschaft“. Bei beiden hatten er und der mit ihm befreundete Maler Walter Heisig, den er in Jershöft an der Ostsee kennengelernt hatte, Filmstills russischer Avantgardefilme verwendet, bei „Planwirtschaft“ aus Dowschenkos ERDE, bei der anderen griff er auf zusätzliche Aufnahmen zurück. Die Botschaft ist hier von großer Simplizität und die Komposition weit entfernt von den Experimenten der dadaistischen Zeit: Während bei der ersten Montage einer hochformatigen Röntgenaufnahme eines Rückgrats neun Filmstills mit Szenen aus der technisierten Landwirtschaft zur Seite gestellt werden, die mit den Rückenwirbeln entfernt formal korrespondieren, kommt „Planwirtschaft“ mit noch weniger Ele28 Ders., „PRÉsentismus Gegen den Puffkeismus der deutschen Seele“, in: ders., Sieg Triumph Tabak mit Bohnen. Texte bis 1933, Bd. 2, hg. von Michael Erlhoff, München 1982, S. 24-30. S. 24. 29 Ebd. 30 Hausmann-Nachlaß in der Berlinischen Galerie: BG-RH 649-651.
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Abb. 2-51 Raoul Hausmann, Planwirtschaft, 1931
Abb. 2-52 Raoul Hausmann, Augen, 1931
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menten aus. Der Bildraum ist durch eine Diagonale strukturiert, auf deren rechten Seite unterschiedlich große Filmstills das Wort „planwirtschaft“ rahmen. Beide Arbeiten waren gedacht für die von César Domela-Nieuwenuis kuratierte Ausstellung „Fotomontage“, die vom 25. April bis zum 31. Mai 1931 im Lichthof des ehemaligen Kunstgewerbemuseums in Berlin stattfand.31 Hausmann lieferte neben diesen beiden Arbeiten sechs Photomontagen aus der Zeit von 1919-1922 sowie drei jüngere Arbeiten ein. Bei den dadaistischen Montagen kann nur vermutet werden, worum es sich gehandelt haben könnte. Sicher zählte jedoch die bereits erwähnte „Tatlin lebt zu Hause“ aus dem Jahr 1920 dazu, da diese im Katalog abgebildet ist. Zu den jüngeren gehört vermutlich der Umschlag des Katalogs, eine Zusammenstellung von vier Photographien, die er auch für das in Das deutsche Lichtbild publizierte Gespräch mit Werner Graeff verwendete, und die Photomontage „Augen“, für die er wiederum auf einen Filmstill Dowschenkos zurückgriff. Erneut bedient sich Hausmann der Bildwelt der russischen Kultur und scheint zeigen zu wollen, daß diese bereits 1920 für ihn eine wichtige Referenz dargestellt habe. Will man nun verstehen, in welcher Weise Hausmann die russischen Bilder montiert, so erweist sich die Auswahl als erhellend. Auf der einen Seite stehen die schematischen und wenig originellen explizit politischen Heisig-Arbeiten, auf der anderen die dadaistische Montage von 1920 sowie die jüngeren Photomontage, die auf dem Register der Wahrnehmung spielen und politische Elemente als Versatzstücke integrieren. Die Heisig-Montagen waren, wie die Korrespondenz Hausmanns zeigt, nur in sehr begrenztem Maße durch eine politische Überzeugung motiviert, denn als die politische Botschaft der Photomontagen in die Kritik geriet, schrieb Hausmann an César Domela: „Ich habe mit Heisig wegen der Fotomontageausstellung gesprochen. Er sagt: er mache für keine Partei Propaganda, wie er auch keiner Partei angehöre, er wolle seine Fotomontagen aufgefasst wissen als radikalen Pazifismus, der nicht verboten sei. Ferner weist er auf die Beteiligung der Vereinigten proletarischen Künstler und der Russen hin, und frägt, ob Du etwa erwartest, dass diese Gruppen unpolitische Arbeiten einreichen werden. Die Russen jedenfalls dürften das garnicht. Ferne frägt er, ob Du dann gezwungen wärst, alle politischen oder nur seine Fotomontagen auszuscheiden. Diese Fragen muss ich als berechtigt anerkennen. Ich dachte zuerst, die Ausstellung werde von Dir geleitet, eine von Dr. Glaser geleitete Ausstellung hätte ich wahrscheinlich ebensowenig beschickt, wie die officielle Stuttgarter 1929, zu der ich eingeladen war. Da aber sowohl ich wie Heisig jeder 40-50 Mark in die Montage gesteckt haben, haben wir eingeliefert trotz des Dr. Glaser. Ich will Dir keine Schwierigkeiten machen, aber tu bitte Dein Möglichstes, um die Arbeiten durchzusetzen.“32 Im Katalog der Ausstellung sind in der Tat 14 „Künstler der Sowjetabteilung“ vertreten, so etwa mit Alexander Rodtschenko, El Lissitsky und Gustav Kluzis die wichtigsten Photomonteure ihres Landes. Hausmanns Brief legt zudem eine Koau31 Angaben nach Eva Züchner (Hg.), Raoul Hausmann in Berlin. Scharfrichter der bürgerlichen Seele, Ostfildern 1998, S. 324. 32 Raoul Hausmann, Brief ohne Datum (vermutlich März/April 1931), BG-RH 625.
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torschaft bei den beiden Arbeiten nahe. Dafür spricht auch die Korrespondenz mit der russischen Handelsdelegation. Wenn man nun aber nach dem politischen Hintergrund der beiden Arbeiten fragt, so stellt sich alsbald heraus, daß zumindest Hausmann weit davon entfernt ist, sie als dezidiertes Engagement zu betrachten. So schreibt er an Walter Heisig: „Anbei ein Brief, den ich an Domela sandte. Ich möchte dazu für Dich noch bemerken: schliesslich weisst Du so gut wie ich, dass die Vereinigung proletarischer Künstler weder für Dich, noch für mich eintreten wird. Ferner kommt für mich die Partei nur in Frage, wenn ich Mitglied bin (ebenso umgekehrt) wozu soll ich also der Partei Kastanien aus dem Feuer holen. Ferner sagst Du selbst, wir wollen etwas bekannter werden und, was unser Recht ist, auch mal [ein] paar Hundertmarkscheine verdienen. Die Partei braucht uns nicht, also sind wir ja gezwungen, bürgerliche Kompromisse zu schliessen. Was eine Ausstellung in einer staatlich-republikanischen Anstalt bedeutet, muss uns klar gewesen sein: wir hätten besser nicht mitgemacht, wenn wir Ueberzeugungen vertreten wollen (wie ich ja seit Jahren aus Ueberzeugung nichts mitmachte). Die Montagen zurückziehen und bei Nierendorf ausstellen, geht nicht, da Nierendorf mir sagte, jede Ausstellung koste ihn so viel Geld, dass er principiell nur Dinge ausstelle, die ihm die grösste Sicherheit eines Verkaufes böten. Also werden wir uns, da wir eingeliefert haben, (leider!) auch den Zurückweisungen aussetzen müssen. Herzliche Grüsse Hausmann.“33 Es geht also bei den beiden Montagen dezidiert nicht um „Überzeugungen“, sondern um „bürgerliche Kompromisse“ und ökonomische Erwägungen. Das ist im zeitgenössischen Kontext von „Tendenzfilmen“ und politischen Photomontagen durchaus bemerkenswert. Mit sozialistischer Überzeugung Anders Heartfield. Seine Photomontagen sollen die bürgerliche und dann nationalsozialistische Gesellschaft kritisieren und bloßstellen, die Menschen in die neue kommunistische Gesellschaft überhaupt erst hineinführen bzw. die Ankunft des „neuen“, des montierten Menschen in Sowjetrußland feiern. So oder so sind sie Waffen im Klassenkampf: Bei einer Rede am Moskauer Polygraphischen Institut 1931 heißt es explizit: „Wir müssen die Fotomontage als Mittel des Klassenkampfes immer und überall dort anwenden, wo sie sich einsetzen läßt: in Schulen, in Fabriken, in wissenschaftlichen Instituten. In den Händen von Menschen, die damit umzugehen verstehen, kann dieses Medium eine echte Waffe des Kampfes, des Lernens und des Aufbaus werden.“34
33 Ders., Brief ohne Datum, BG-RH 653. 34 Zit. nach Hubertus Gaßner, „Heartfields Moskauer Lehrzeit 1931-32“, in: John Heartfield, Köln 1991 (= Ausstellungskatalog Akademie der Bildenden Künste Berlin), S. 300-337, S. 305.
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Heartfield war kein Mann der großen Worte. Es gibt nur relativ wenige überlieferte Texte, Zitate und Reden und schon gar keine programmatischen Aufsätze. Am deutlichsten wurde er, als er 1931/32 Rußland besuchte, dort Reden hielt und Schulungen und Seminare anbot. Erneut erblickt Heartfield auch hier die Geburt der Photomontage im Ersten Weltkrieg: „Unter dem Einfluß des imperialistischen Krieges von 1914-1918 begannen die Pfeiler der bürgerlichen Kultur und Moral zusammenzubrechen. Der Künstler vermochte nicht mehr mit den Ereignissen gleichen Schritt zu halten. Der Bleistift erwies sich als zu langsames Mittel: Die Lüge, die von der bürgerlichen Presse verbreitet wurde, überflügelte ihn.“35 Die Photomontage ist hingegen schnell, effektiv, schlagend und visuell. Und noch dazu ist sie ein effektives Mittel im Kampf der Bilder, da sie sich aus dem Reservoir der frei verfügbaren Photographien bedienen kann, um diese gegen sich selbst zu wenden und „eine Umbewertung der Fotografie erfolgt“.36 Die meisten Arbeiten Heartfields greifen auf Bilder zurück, die bereits zirkulierten, um sie anders auszulegen, indem sie neu nebeneinandergelegt und mit Texten versehen werden. Man mußte das Dargestellte eben bereits kennen, um es dann mit anderen Augen zu sehen. Sergei Tretjakow, der Heartfield 1936 ein kleines, wichtiges Buch widmete, unterstreicht dort den Übergang vom dadaistischen zum politischen Photomonteur, der im Gegensatz zu ersterem lakonischer und ökonomischer mit den Elementen umgehe. „Die Einfachheit, das Wissen und das Können, in ein paar ‚Foto-Worten‘ einen großen Gedanken auszudrücken, macht die Qualität der Arbeiten Heartfields aus.“37 Photomontage kann daher viel mehr sein als die Montage von Photographien und schließt auch die Kombinationen Foto und Foto, Foto und Text, Foto und Farbe, Foto und Zeichnung mit ein.38 Es geht vielmehr darum, neue Hieroglyphen für eine neue Zeit zu erschaffen, eine neue, technisch-photographisch montierte 35 John Heartfield 1931, zit. nach: Eckhard Siepmann, Montage: John Heartfield. Vom Club Dada zur Arbeiter-Illustrierten Zeitung, Berlin 1977, S. 7. Vgl. auch das Heartfield-Zitat in: ebd., S. 169: „Die Soldaten benutzten unter anderem folgende Mittel: Sie klebten Fotografien und verschiedene Zeitungsausschnitte usw. zusammen, z.B. ‚Helden‘, die für die Heimat gefallen sind, mit irgendwelchen Bildern aus Journalen, die das Leben der kapitalistischen Parasiten illustrieren. Zwei-drei scharfe, treffende Worte ergänzten den Gedanken. Weiter nichts. Das war der Anfang.“ 36 Sergej Tretjakov, „‚Elemente der Montage‘“, in: John Heartfield, Köln 1991, S. 339-347, S. 342. 37 Ebd., S. 339. Vgl. auch Tretjakov: „Die dadaistische Periode in den Werken Heartfields hielt nicht lange an. Er hörte bald auf, das Pulver seines Schaffens im gegenstandslosen Feuerwerk zu vergeuden. Seine Werke wurden Scharfschüsse.“ Zit. nach: Andrés Mario Zervigón, „Die Buchumschläge John Heartfields“. in: Freya Mülhaupt (Hg.), John Heartfield: Zeitungsausschnitte Fotomontagen 1918-1938, Ostfildern 2009, S. 46-55, S. 46. Von Zervigón stammt das wichtigste jüngere Buch über Heartfield: John Heartfield and the Agitated Image. Photography, Persuasion, and the Rise of Avant-Garde Photomontage, Chicago 2012. Dieses wird vorzüglich ergänzt durch das ausgezeichnete und komplementäre Buch: Sabine T. Kriebel, Revolutionary Beauty. The Radical Photomontages of John Heartfield, Oakland 2014. 38 Sergei Tretjakow, „John Heartfield montiert“, in: Eckhard Siepmann, Montage: John Heartfield. Vom Club Dada zur Arbeiter-Illustrierten Zeitung, Berlin 1977, S. 168-175, S. 169.
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Abb. 2-53 John Heartfield, Ein neuer Mensch – Herr einer neuen Welt, in: Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ, Prag), 1.11.1934
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Abb. 2-54 John Heartfield, Zur Intervention des Dritten Reichs, „… je mehr Bilder sie weghängen, umso sichtbarer wird die Wirklichkeit!“, in: Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ, Prag), 3.5.1934
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Abb. 2-55 Seite aus der Arbeiter-Illustrierte-Zeitung
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Bilderschrift.39 Heartfield nimmt, was er vorfindet, zerschneidet es, montiert es neu und macht so eine neue Bedeutung offenkundig, die notwendig sprachlichgedanklich und dennoch unmittelbar verständlich ist. Von Photomontagen sei, so Tretjakow, dann zu sprechen, „wo es nicht möglich ist, die Fotografie vom Text zu trennen, ohne den Sinn zu zerstören“.40 Tretjakow beginnt sein Buch mit einer knappen Rekapitulation der Geschichte der Photographie, deren „dokumentarisches, selbst bis zur Gleichgültigkeit unvoreingenommenes Wesen“41 für die Anfangszeit entscheidend sei. Dann wurde sie zu einem Massenmedium und zu einem der Propaganda. Gleichzeitig entstanden auch Montageverfahren, die allerdings, so Tretjakow, „rein mechanische Kompositionen“ blieben. „Die Fotomontage beginnt dort, wo die mechanische Nachbarschaft durch eine gegenseitige Einflußnahme ersetzt wird, wo die Fotos einen anderen Sinn erhalten, wo es sich für uns nicht mehr nur um eine Addition, sondern um eine Multiplikation handelt. […] Die Fotomontage entstand dort, wo eine bewußte Veränderung des eigentlichen Inhalts der Fotografien einsetzte.“42 Mit anderen Worten: Photomontage beginnt dort, wo der rein mechanische abbildende Charakter der Photographie abgelöst wird durch eine neue Konstruktion. Das ist eine der zentralen Fragen der Photographie in Zeiten der konstruktivistischen Revolution: Wie kann ein mimetisches – oder in Tretjakows Worten „dokumentarisches“ – Medium von der Abbildung frei kommen und zur Konstruktion gelangen? Die Photomontage ist eine der möglichen Antworten. Dementsprechend verändert sich der Status des Abgebildeten: „Die Fotomontage verändert ihrerseits die Statik des Faktes.“43 Tricks, Witze und Reklame sind nur einige ihrer Anwendungsfelder, wichtiger sind ihre Möglichkeiten als Mittel der Produktion, sprich als eines der Propaganda: „Die Fotomontage ist eine selbständige, eine große Kunst. Wir müssen sie analysieren und beherrschen, als Meister; wir müssen so wie Heartfield im Bewußtsein einer agitatorischen, propagandistischen Aufgabe formulieren, so wie er das Material aussuchen und montieren, wir müssen versuchen zu erforschen, welche ‚Foto-Geschosse‘ er in seinem Gedächtnis und durch seine ‚Produktionserfahrung‘ stets bereit hält.“44 Nicht alle von Heartfields Photomontagen sind jedoch kritisch-zersetzender Natur, die sich an der bürgerlichen Bilderwelt abarbeiten, wie die berühmten, ikonisch gewordenen aus der AIZ, der Arbeiter Illustrierten Zeitung. Einige entstehen auf Grundlage von eigens angefertigten Photographien etwa für die russische Pro39 Vgl. ebd., S. 172: „So entsteht eine allen verständliche Sprache aus Hieroglyphen.“ 40 Zit nach Hubertus Gaßner, „Heartfields Moskauer Lehrzeit 1931-32“, S. 333. Vgl. auch eine Rezension des Buchs von Tretjakow (ebd., S. 334): „Deshalb dürfen Heartfields Montagen nicht nur betrachtet, sondern sie müssen gelesen werden. Die einzelnen Details, die nach diesem oder einem anderen Plan zusammengestellt worden sind, werden zu lesbaren Zeichen.“ 41 Tretjakow, „John Heartfield montiert“, S. 168. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 169. 44 Ebd., S. 172.
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Abb. 2-56 John Heartfield, Umschlagentwurf für USSR im Bau
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pagandazeitschrift USSR im Bau, die in mehreren Sprachen erschien. Heartfields Arbeiten ähneln hier Filmstills Wertows oder Montagen russischer Künstler.45 Sie feiern die Industrialisierung Rußlands. Sie singen das Hohe Lied der Technik. Eine von Heartfields Arbeiten zeigt etwa den „Neuen Menschen“, so als sei dieser in Sowjetrußland bereits Realität. Photomontierte Kampfzone Vermutlich ohne daß dieser es wollte oder durchschaute, diente Heartfields Besuch in Rußland 1931 und 1932 dazu, die Montagepraxis im Sinne der neuen Direktiven des ZK-Beschlusses zur Plakat-Bild-Agitation umzugestalten.46 Heartfields Bildlösungen galten nun als vorbildlich – und bildeten zugleich das Gegenmodell zu einer stärker dem Konstruktivismus verpflichteten Bildsprache. Auch und gerade in Rußland tobte ein Richtungsstreit, der künftig einen vermeintlichen Formalismus scharf kritisierte und ihm eine agitatorische Darstellung eines bereits gelungenen politisch-gesellschaftlichen Umbaus gegenüberstellte. Einer radikalen Konstruiertheit des Dargestellten stand die „bereits verwirklichte Einheit von Mensch und Technik, Individuum und Gesellschaft, Masse und Parteiführung“ gegenüber.47 Die ideologischen Grabenkämpfe verliefen zwischen der OktoberGruppe und der RAPP (Russische Assoziation proletarischer Schriftsteller) bzw. RAPCh (Russische Assoziation proletarischer Künstler). Als in Moskau vom 20.11. bis zum 10.12.1931 eine umfangreiche Heartfield-Ausstellung mit 300 Werken gezeigt wurde, die vermutlich auf die Arbeiten zurückgriff, die in einem eigenen Raum auf der Stuttgarter FiFo von 1929 ausgestellt wurden,48 diente diese dazu, die Arbeiten als antiformalistische Vorbilder zu deuten.49 Das berühmte Heartfield-Zitat „Benütze Foto als Waffe“ fand sich bereits bei der FiFo als Wandtext, wurde nun aber in ideologischer Hinsicht verwendet. Heartfields Photomontagen könnten, so hieß es, dazu dienen, „den richtigen Weg bei der Anwendung der Photomontage auf die Polygraphie einzuschlagen“,50 bei dem die Form aus der Idee zu erwachsen habe und nicht umgekehrt. Die Photomontage wurde nun zu einem 45 Vgl. dazu Russian and Soviet Collages 1920s-1990s, St. Petersburg 2005. 46 Dies rekonstruiert filigran Hubertus Gaßner, „Heartfields Moskauer Lehrzeit 1931-32“, der sehr genau die komplexe politische Situation rekonstruiert. 47 Ebd., S. 327. 48 Vgl. dazu Elisabeth Patzwall, „Verzeichnis zur Wandabwicklung ‚Film und Foto‘ 1929“, in: John Heartfield, Köln 1991, S. 290-293 und dies., „Zur Rekonstruktion des HeartfieldRaums der Werkbundausstellung von 1929“, in: ebd., S. 294-297. 49 In diesem Sinne – und doch gleichzeitig in anderer Absicht – bezeichnet auch Tretjakow Heartfield als „den einzigen Vertreter der bolschewistischen Fotomontage in Deutschland“ und stellt ihm Moholy-Nagy und Tschichold gegenüber, die für eine „völlige Sinnentleerung der Komposition“ beispielhaft seien. (Tretjakov, „John Heartfield montiert“, S. 174.) 50 Sowjetkultur im Aufbau, Nr. 2/3, 1932, S. 58, zit. nach: Gaßner, „Heartfields Moskauer Lehrzeit 1931-32“, S. 313.
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Abb. 2-57 John Heartfield-Wand auf der Großen Berliner Kunstausstellung
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„Verfahren zur symbolischen Idealisierung und Monumentalisierung der Wirklichkeit“.51 1932, so konstatiert Hubertus Gaßner, verschwinden Brüche und Entgegensetzungen gänzlich aus den sowjetischen Photomontagen; aus „Die Technik entscheidet alles“, dem Motto des ersten Fünfjahresplans, wird 1931 das Primat der Arbeit des lebendigen Menschen.52 Von der Technik zum Arbeiter ist es vermeintlich nur ein kleiner Schritt, ideologisch ist er von entscheidender Bedeutung. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Frage, ob der montierte Mensch bereits historisch existiert oder nicht, ob man ihn also konstruieren oder aber darstellen muß. Damit verändert sich auch der Status der Photomontage: Sie wird von einem radikal konstruktiven Medium zu einem abbildenden und fällt somit just in jene Funktion der Kunst zurück, zu deren Überwindung sie angetreten war. „Der Retuschepinsel verdrängte die Schere.“53 Die Darstellung trat an die Stelle der Konstruktion, die Fläche an die der Linie, die Komposition ersetzte die Gegenüberstellung. In zahlreichen Bildbänden und Propagandaschriften wird fortan der Arbeiter als monumentaler Held beschworen und dargestellt.54 Die Photomontage wurde zu dem, was sie nie sein wollte: zur Geschichte – und sei es nur im Modus ihrer bloß vorgestellten Gestalt. Photomontage und Optophonetik Wenn nun Hausmann eine solche Art der Revolution nicht im Sinn stand, worum ging es ihm dann bei seinen Photomontagen? Interessanterweise fanden bei ihm der „revolutionäre Inhalt“ und die „umstürzlerische Form“ des neuen künstlerischen Mediums zusammen, um im Geist der Avantgarde gegen die fortschreitende Abstraktion anzugehen. Photomontagen arbeiten mit konkreten visuellen Gegenständen, mit Photographie und Bild gewordenem Material. In diesem Sinne ist die dadaistische Photomontage, wie Hausmann in seinem Aufsatz „Typographie“ ausführt, als Gegenbewegung gegen die Abstraktion der Avantgarden zu verstehen, ziele sie doch auf eine „Verstärkung des Physiologischen“.55 Gegen die Gegenstandslosigkeit und die Gesinnungsleere setzt sie eben jene Explosion von Blickpunkten und eine kalkulierte Montage von Spannungsfeldern. Es geht Hausmann um einen neuen Menschen, eine neue Wahrnehmung und eine neue Gesellschaft – auch wenn er dabei eine andere Richtung einschlägt als seine Mitstreiter, aber auch 51 Ebd., S. 316. Vgl. auch ebd.: „Die ‚Umbildung‘ der sichtbaren Wirklichkeit durch Montierung ihrer fotografisch fixierten Fakten soll das ‚Wesen‘ hinter den ‚Erscheinungen‘ sichtbar machen.“ 52 Ebd., S. 329 und 316f. 53 Ebd., S. 329. 54 Vgl. dazu die umfangreichen bibliographischen Darstellungen: Mikhail Karasik, Great Stalinistic Photographic Books, Moskau 2007 und ders., The Soviet Photobook, 1920-1941, hg. von Manfred Heiting, Göttingen 2015. 55 Raoul Hausmann, „Typographie“, in: ders., Photographisches Sehen, S. 69-71, S. 70.
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als die Konstruktivisten oder die Regisseure der russischen Avantgarde. Hausmann wird in den zahlreichen Texten, die er in dieser Zeit verfaßte, nicht müde, dieses Programm auszubuchstabieren. Technik zielt hier auf den Körper. Raoul Hausmann erblickt als Ausgangspunkt dieser neuen Ästhetik „das Sehen von den Dingen aus.“56 Darunter versteht er eine dynamische Anschauung, die Subjektivität und Objektivität gleichermaßen einschließt und Polyperspektivismus an die Stelle einer egozentrischen Weltsicht setzt. „Wir können nicht sein: unterdrückende Photographen, sondern in Empfindung Bewegte“, lautet das Programm.57 Die Photomontage gestattete ihm sowohl eine Umsetzung dieser Neuorientierung als komplex organisierte Bildräume als auch eine inhaltliche Visualisierung seiner theoretischen Grundüberzeugungen. Die „neue optische Gestaltung“, von der er spricht, begreift die Welt als spannungsreiches Erleben, als „Schau“ und einer Begegnung des Menschen mit der Wirklichkeit. Das ist letztlich auch der dezidiert avantgardistische Zug seiner Arbeiten und Überlegungen: Hausmann geht es wie vielen anderen Vertreterinnen und Vertreter der Avantgarden um einen „neuen Urzustand, eine neue Gegenwart.“58 Die Vergangenheit ist die Welt der euklidischen Geometrie, eine Zivilisationsgeschichte als Abstraktionsgeschichte, eine Wahrnehmung, die durch die Zentralperspektive als Herrschaftstechnik bestimmt ist. Die neue Gegenwart hingegen soll eine Welt des „natürlichen Sehens“ sein, das die Kunst und die Photographie nicht als „formale Konstruktion“, sondern als „lebendiges Gleichnis der sinnlichen Beziehungsfülle zwischen den Kräften des Ichs und der Welt“ begreift.59 Diese neue Wahrnehmung verknüpft nicht nur Subjekt und Objekt, Ich und Welt, sondern auch die Sinne untereinander. Hausmann stellt sich die Wirklichkeit als sinnlich verschaltet vor:60 „Ihr werdet durch die Ohren sehen und mit den Augen hören und ihr werdet den Verstand dabei verlieren.“61 Und es ist zu ergänzen: ein neues Verständnis gewinnen. Die Wahrnehmung unterhält, so seine Vorstellung, nicht nur einen physiologischen, sondern einen materialen, physischen Bezug zur Wirklichkeit, die eben als dynamischer Wirkungszusammenhang begriffen wird. Hausmann nennt diese Theorie „Optophonetik“ und beruft sich dabei u.a. auf den neukantianischen Theoretiker Ernst Marcus. Dieser hatte eine „exzentrische Empfindung“ angenommen, die nicht nur synästhetisch verfaßt ist, sondern die Dinge mit den Augen nachgerade abtastet. Hausmann war fasziniert von solchen theoretischen Modellen einer neuen Unmittelbarkeit und sollte Zeit seines Lebens daran programmatisch festhalten. Der „Mensch ist simultan, 56 57 58 59 60
Ders., „Wir sind nicht die Photographen“, in: ebd., S. 23-25, S. 23. Ebd., S. 24 Ders., „Optophonetik“, in: ebd., S. 26-31, S. 26. Andreas Haus, Raoul Hausmann. Kameraphotographien 1927-1957, München 1979, S. 17. Vgl. dazu ausf. Peter Bexte, „Mit den Augen hören / mit den Ohren sehen. Raoul Hausmanns optophonetische Schnittmengen“, in: Helmar Schramm u.a. (Hg.), Spuren der Avantgarde: Theatrum anatomicum, Berlin und New York 2011, S. 426-442. 61 Raoul Hausmann, „Die überzüchteten Künste“, in: ders., Photographisches Sehen, S. 32-51, S. 50.
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Ungeheuer von Eigen und Fremd, jetzt, vorher, nachher und zugleich“.62 Dem könne paradoxerweise gerade die Photomontage als doppelt technisches Verfahren Rechnung tragen. Und sie tut es bei Hausmann in programmatischer Absicht, die bei seinen Arbeiten kaum zu übersehen ist. Hier regiert nicht der Zufall, sondern der bewußte Einsatz der Elemente für ein neues Ganzes, ein visuelles Bildprogramm, das theoretisch gesättigt ist. Photomontagen als Weltbilder Photomontagen und auch Photographien sind für Hausmann regelrechte Weltbilder, die als solche zu deuten sind und zudem in der Lage sind, die bestehenden zu verändern. Kunst und Technik sind daher in seinen Augen „nah verwandte Mittel zur Klärung der Stellung des Menschen in der Welt der Dinge“.63 Photographie ist, so betont er wiederholt, „Erziehung unseres Sehens“,64 der es auf „ästhetische Anteilnahme“65 ankomme. Auch wenn er die Photographie wahrnehmungsphysiologisch zu begründen sucht, geht Hausmann trotzdem von einer Historizität der Wahrnehmung aus. Gerade deshalb spielen die Photographie und die Photomontage eine wichtige Rolle, da sie Gegenstand von zahlreichen Experimenten sein könne. Neben dem rein optischen gebe es eben auch einen „durch das Bewußtsein verengten oder erweiterten Sehvorgang“.66 Er nennt das in eigener Diktion eine optophonetische Korrektur des optischen Bildes. „Der Seh-Apparat“, formuliert Hausmann pointiert, „ist der gleiche wie […] im Mittelalter – doch welch Unterschied des gesellschaftlichen Bewußtseins in der Anschauung hat sich entwickelt!“67 Wenn nun aber „das Sehen nur eine Funktionale des technischen Bewußtseins“68 ist und wir es mit „vorgefertigten Formen und Wahrnehmungen“69 zu tun haben, dann könne eine Veränderung der Formen eben auch zu einer der Wahrnehmung und schließlich des Lebens führen. Formveränderung ist Wirklichkeitsveränderung. Die Technik der Photomontage führe den Menschen durch die Technik hindurch in eine neue Wirklichkeit. Hausmann versteht das durchaus auch als politisches Programm. So schreibt er etwa 1930 an Adolf Behne: „Lieber Herr Dr. Behne[.] Es ist eine alte Idee von mir, (die Sie auch schon an meinen Aufsätzen in der ‚Erde‘ von 1919 erkennen können), dass man dem historischen Marxismus und der Klassenkampftheorie die Bio62 Ders., „Synthetisches Cino der Malerei“, in: ders., Bilanz der Feierlichkeit. Texte bis 1933, Bd. 1, hg. von Michael Erlhoff, München 1982, S. 14-16, S. 15. 63 Ders., „Wie sieht der Fotograf?“, in: ders., Photographisches Sehen, S. 72-82, S. 73. 64 Ders., „Einführung in die Bildkomposition VI“, in: ebd., S. 304-308, S. 304. 65 Ders., „Was ist photogenique?“, in: ebd., S. 336-340, S. 340. 66 Ders., „Einführung in die Bildkomposition I“, in: ebd., S. 275-281, S. 279. 67 Ders., „Photographie – Heute“, S. 365f., S. 366: 68 Ders., „Die moderne Photographie als geistiger Prozeß“, in: ebd., S. 107-111, S. 110. 69 Ebd., S. 110.
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logie als Kontrolle gegenüberstellen müsste.“70 Programmatisch sei daher ein Physiologismus zu entwickeln, der dem Materialismus in Rußland die Materialität der Sinne gegenüberstellt, sich aber dabei gleichwohl die Revolution auf ihre Fahnen schreibt. Hausmann präzisiert sein Vorhaben weiter: „Die Rückkehr von der Abstraktion in den Künsten, nicht zur neuen Sachlichkeit, sondern zum von mir so genannten Physiologismus […]. Es geht nicht mehr an, dass der Künstler eine halbirre, ungebildete Nudel ist, besoffen von der Technik der Zeit, von der er doch nur alles falsch versteht, und dass er diese Ahnungslosigkeit herausbrüllt als Offenbarung. Ich habe immer die Kunst aufgefasst als Erziehung des Menschen durch sich selbst im Unbewussten seiner Psychophysis: ziehen wir [daraus die] Konsequenz, so müssen wir mit Hilfe der Biotechnik den Weg der Biopsychologie, ja, der in dem einen Aufsatz [„Psychologie der Politik“, B.S.] angedeuteten Biosociologie gehen, um von da aus die Aufgabe des Künstlers zu erkennen. Schöpferische Möglichkeiten anstelle irgendwelcher Ästetereien [sic!] werden noch genügend übrigbleiben.“71 Kunst, Photographie, Typographie und Photomontage sind also eine „fortlaufende psychophysiologische Selbsterziehung des Menschen.“72 Der Anspruch ist dabei kein geringer, geht es Hausmann doch um einen immer wieder neuen Urzustand. Der Photograph wird zu einem säkularen Schöpfer, der sich „einer Aufgabe, die neu ist wie am ersten Schöpfungstag“73 zu stellen hat. Typofoto und Fotoplastik Damit nimmt Hausmann die Moholy-Nagy entgegengesetzte Position ein, mit dem er – interessant und bemerkenswert genug – gleichwohl die Überzeugung teilt, daß die Photographie und die Photomontage die Wahrnehmung des Menschen verändern könne und müsse. Der eine orientiert sich allerdings hin zur Natur, zum Elementaren, für den anderen ist die industrielle Gesellschaft die neue Natur. Für beide ist der Mensch aber in der Natur noch nicht angekommen. Er ist durch die – bei Hausmann allerdings ausschließlich photographische – Technik und die Kunst zuallererst neu ein- und auszurichten. Es komme darauf an, so Moholys Programmschrift Malerei, Fotografie, Film, mithilfe des photographischen Apparats, „unser optisches Instrument, das Auge, [zu] vervollkommnen bzw. ergänzen.“74 Von der Reproduktion sei zur Produktion überzugehen, von der Mimesis zur Konstruktion. Moholy-Nagy lotet in seiner Theorie wie auch seiner künstlerischen Praxis ein weites Spektrum an Möglichkeiten aus, um mithilfe der 70 Ders. an Adolf Behne vom 2.5.1930 (BG 612), auch in: Züchner (Hg.), Scharfrichter der bürgerlichen Seele, S. 281. 71 Ebd. 72 Ders., „Typographie“, S. 69. 73 Ders., „Photographische Ziele“, in: ders., Photographisches Sehen, S. 82-85, S. 85. 74 László Moholy-Nagy, Malerei, Fotografie, Film, S. 26.
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Abb. 2-58 László Moholy-Nagy, „Typofoto“. Beitrag aus dem von Jan Tschichold herausgegebenen Heft Elementare Typographie, Mainz 1925
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Technik der Photographie den Menschen zu perfektionieren. Kameraphotographien, Fotogramme und Fotoplastiken (so nennt er Photomontagen) sind die drei Hauptbereiche. Er experimentiert aber auch u.a. mit „Typofotos“, einer Verbindung von Schrift und Bild zumeist zu Werbezwecken, Filmen und Installationen. Die Photomontage im Zusammenhang der Typographie und der Werbung verfolgen dann andere weiter, so etwa Herbert Bayer, Jan Tschichold oder Paul Schuitema.75 Damit deckt die Photographie den gesamten Bereich von einer, wie Moholy es nennt, „objektiven Sehform“ bis hin zur abstrakten ungegenständlichen Bildgestaltung ab. Mit der Photographie zur neuen technisch-gesellschaftlichen Natur: das ist der Weg, den er immer und immer wieder skizziert. „die losung ist demnach“, schreibt er etwa in von material zu architektur, „nicht gegen die technik, sondern – versteht man sie nur richtig – mit ihr. durch sie kann der mensch befreit werden, wenn er endlich einmal weiß: wozu. […] es handelt sich heute um nichts geringeres als um die wiedergewinnung der biologischen grundlagen. erst dann kann die maximale ausnutzung des technischen fortschritts in körper-, ernährungs-, wohn- und arbeitskultur einsetzen. die technik darf also niemals ziel, sondern stets nur mittel sein.“76 Aber das Ziel ist eine neue menschliche Natur, die gerade durch die Technik erst produziert werden kann. Es geht auch Moholy um einen montierten Menschen. Dieses Programm wird er bis hin zu seinem späten Hauptwerk Vision in Motion, das 1947 in Chicago und erst 2014 in deutscher Übersetzung erschien, ohne entscheidende Brüche und auch Zweifel an der Lichtseite der Technik weiterverfolgen. Dort heißt es nun etwas moderater, daß es darauf ankomme, „in der industriellen Welt einen Ausgleich zwischen der biologisch stimmigen menschlichen Lebensweise und der Industrialisierung“ herzustellen.77 In Vision in Motion findet sich auch Hausmanns Tatlin-Arbeit abgebildet, die wie Photomontagen überhaupt, „eine konzentrierte Gymnastik des Auges und des Gehirns [trainiere], um die visuelle Verdauung zu beschleunigen und die Bandbreite assoziativer Beziehungen zu erweitern.“78 Kunst ist ein anderes Trainingsfeld der industriellen Modernisierung. Es geht um Optimierung, Perfektionierung, Ausnutzung der Ressourcen und zielgerichtete Arbeit an sich und der Welt.
75 Vgl. dazu expl. Patrick Rössler, Das Bauhaus am Kiosk. Die neue Linie 1929-1943, Bielefeld und Leipzig 2009; ders., Herbert Bayer: Die Berliner Jahre. Werbegrafik 1928–1938, Berlin 2013; Arthur A. Cohen (Hg.), Herbert Bayer. The Complete Work, Cambridge (Mass.) und London 1984; Dick Maan, Paul Schuitema. Visual Organizer, Rotterdam 2006, zu Tschichold vgl. das Kapitel III.1.3. 76 László Moholy-Nagy, von material zu architektur, Berlin 2001, Reprint der Erstausgabe von 1929, S. 13. 77 Ders., sehen in bewegung, Leipzig 2014, S. 22. 78 Ebd., S. 212. Diese Formulierung findet sich fast wortwörtlich bereits seinem Aufsatz „fotografie ist lichtgestaltung“ von 1928 (in: Krisztina Passuth, Moholy-Nagy, Weingarten 1986, S. 319-322, S. 322).
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III. TECHNIK UND ÄSTHETIK: DIE VISUELLE EINSTELLUNG DES MENSCHEN
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Einleitung
„Jede Zeit hat ihre eigenen optischen Formen und entsprechend eine eigene Typographie, da diese als optische Gestaltung mit den psychophysischen Wirkungskomplexen unseres optischen Organs, des Auges, rechnen muß.“ László Moholy-Nagy1
László Moholy-Nagy hat die Anforderungen der Modernisierung an den Wahrnehmungsapparat des Menschen in ein prägnantes Bild gebracht: „beispiel: man fährt mit der straßenbahn, sieht durch ein fenster hinaus. Hinten fährt ein auto. Auch diese fenster des autos sind durchsichtig. Hindurch sieht man einen laden, der wiederum durchsichtige fenster hat. Darin menschen, käufer und verkäufer. Ein anderer mensch öffnet die tür. Am laden vorbei gehen passanten. Der verkehrspolizist hält einen radfahrer an. Das alles erfaßt man in einem einzigen augenblick, weil die scheiben durchsichtig sind und alles in der blickrichtung geschieht.“2 In dieser Welt der Beschleunigung, der Simultaneität, aber auch der eigentümlichen Transparenz der Dinge müssen die menschlichen Sinne neu adaptiert werden. Wie die Sinne auf Montage gehen, war der recht lustige Titel eines Buchs, das bereits vor Jahren die Beziehungen zwischen Montagetheorien, Aufmerksamkeit und Wahrnehmung im technischen Zeitalter zu beleuchten versucht hat.3 Und genau darum geht es: um die Montage der Sinne, aber auch die pädagogische Aus- und Aufrüstung des montierten Menschen. Moholy-Nagy hat die verschiedenen Bereiche dieser programmatischen Neukonfiguration der Wahrnehmung ausbuchstabiert. Sie reicht von einer Assoziation der menschlichen Sinne mit Errungenschaften der Technik, die für ihn zu einer theorieleitenden Metapher wird, über Experimente mit Gemälden, die z.T. in industrieller Arbeitsteilung angefertigt wurden, Photographien, Filmen, Photomontagen, die er „Fotoplastiken“ nennt, Typofotos4 sowie typographischen Gestaltun1 László Moholy-Nagy, „Zeitgemäße Typographie – Ziele, Praxis, Kritik“, in: Krisztina Passuth, Moholy-Nagy, Weingarten 1986, S. 310-313, S. 311. 2 Ders., „fotografie ist lichtgestaltung“, in: ebd., S. 319-322, S. 322. 3 Rudolf Kersting, Wie die Sinne auf Montage gehen. Zur ästhetischen Theorie des Kinos/Films, Basel und Frankfurt/Main 1989. 4 László Moholy-Nagy, „Typofoto“, in: ders., Malerei, Fotografie, Film, S. 36-38.
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gen. Es kommt darauf an, die Gestaltungsformen, die, so Moholy-Nagy, in ihrer „typografisch-optisch-synoptischen Form“ schlicht im Gutenbergzeitalter stehengeblieben sind, aus diesem herauszuführen und mit ihnen die Sinne fit für die Moderne zu machen.5 Es geht um ein regelrechtes ästhetisches Erziehungsprogramm, das auf eine visuelle Alphabetisierung zielt. Auch wenn wir technologisch zweifellos bereits am Ende der Gutenberg-Galaxis angekommen sind, lautet die Diagnose von Moholy-Nagy, hinken die anderen Bereiche der kulturellen Lebenswelt hinterher. Die Technik ist die zivilisatorische Avantgarde, die Vorhut der Modernisierungsprozesse, der die kulturellen nachzueifern haben. Moholy-Nagys künstlerischen, aber auch theoretischen Arbeiten können als Versuch verstanden werden, der neuen technischen Kultur zum Durchbruch zu verhelfen und sie überhaupt erst auf den Stand der Technik zu bringen. Die Technik bildet daher eine zentrale Orientierung für die Ausrichtung der ästhetischen Praxis. Sie ist das konstruktive Vorbild der ästhetischen Konstruktionen. Technik und Konstruktion sind Programm. Das gilt dann auch für die komplette visuelle Neuorganisation post Gutenberg. „So werden,“ heißt es bei Moholy, „unsere heutigen Druckerzeugnisse mit den neuesten Maschinen korrespondieren, das heißt, sie werden auf Klarheit Knappheit Präzision aufgebaut sein müssen.“6 Moholy-Nagy steht hier stellvertretend für zahlreiche weitere ästhetische Positionen, die sich eine visuelle Alphabetisierung auf die Fahnen schreiben. Von dieser ist implizit wie explizit in den Manifesten der Avantgarden, aber auch populärwissenschaftlichen Publikationen, Bildberichten der nun auch mit Photographien illustrierten Presse und Arbeiterzeitschriften fortwährend die Rede. Es komme darauf an, den Menschen in seinem Wahrnehmungsapparat, seinem Verhalten und seinen kognitiven Fähigkeiten auf den technologischen Stand der Moderne zu bringen. Der technisch neu montierte Mensch ist ganz neu anzulernen, er hat Wahrnehmungsschulen zu durchlaufen, muß sich überkommene Verhaltensweisen wie schlechte Gewohnheiten abgewöhnen, Medientechniken neu lernen, die Tradition ad acta legen und die Technik als Möglichkeit einer konstruktiven Neugestaltung neu entdecken. Mickey Mouse wird zum Vorbild des neuen Menschen, Schriften und Schaubilder werden entwickelt, um Instruktionen effizienter organisieren zu können, und die Photo-Bücher der Zeit verstehen sich nicht selten als Fibeln, die dem Menschen eine neue Syntax, Grammatik und letztlich auch Semantik der hier Photographie und somit Technik gewordenen Wirklichkeit beizubringen versuchen. Das durch Walter Benjamin berühmt gewordene Diktum Moholy-Nagys, daß der Photographieunkundige der Analphabet der Zukunft werden wird, dessen historischer Kontext im folgenden ausführlich dargestellt wird, ist Ausdruck dieser 5 Ders., „Zeitgemäße Typographie – Ziele, Praxis, Kritik“, S. 310-313, S. 311. 6 Ebd.
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EINLEITUNG
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Abb. 3-1 Alexander Rodtschenko, Photo für Tretjakows Kinderbuch
umfassenden Neucodierung der Kultur. Es geht schlicht und ergreifend darum, das Bildungsprogramm des montierten Menschen zusammenzustellen. Dabei spielt die Tradition, das überlieferte Bildungsgut keine Rolle; alles kann, soll und muß neu gesetzt, besetzt und eingesetzt werden. Die Technik diktiert die neue Pädagogik. Dieses Programm einer visuellen Alphabetisierung, das auch die neuen Medientechniken bewußt miteinschließt, ist ebenso grundlegend wie allumfassend. Es reicht von Kinderbüchern bis zur Entwicklung von neuen Schriften, von der Gestaltung von Plakaten, Anzeigen und Photomontagen bis zu Photo-Büchern und Ausstellungen. Das pädagogische Interesse ist dabei mit Händen zu greifen. Es geht um Instruktion, um Inhalte, Strategien und Neubesetzungen – ästhetisch, politisch, ideologisch. Die Bildung des neuen Menschen verläuft dabei nicht zuletzt über Bilder. Alle Initiativen im Hinblick auf die visuelle Alphabetisierung sind dabei immer auch politisch. Es geht um einen regelrechten Plan, der genau kalkuliert, entworfen und umgesetzt wird und dabei die Reaktionen, die Verhaltensweisen und Wahrnehmungsformen als zu verändernde im Blick hat. Technisch induzierte Produktionsästhetik schließt eine kalkulierte Rezeptionsästhetik immer schon mit ein. Auf Altbekanntes und Bewährtes kann bei der visuellen Alphabetisierung hingegen nicht zurückgegriffen werden. Bei diesem Neuentwurf einer technisch-ästhetischen Erziehung stehen natürlich Inhalte im Mittelpunkt, doch genauso wichtig sind die Formen, die ästhetischen Praktiken und neuen Techniken, die eingesetzt werden. Ein Curriculum für den montierten Menschen ist dabei zuallererst zu entwerfen, da in der neuen technischen Welt alles auf dem Prüfstand steht – und, wie Walter Benjamins kleiner Text „Erfahrung und Armut“ schlagend zeigt, nicht zuletzt auch das humanistische Erbe. „Die anderen aber“, so heißt es dort, „haben sich einzurichten, neu und mit Wenigem. Sie halten es mit den Männern, die das
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von Grund auf Neue zu ihrer Sache gemacht und es auf Einsicht und Verzicht begründet haben. In deren Bauten, Bildern und Geschichten bereitet die Menschheit sich darauf vor, die Kultur, wenn es sein muß, zu überleben.“7 Die folgenden drei Kapitel versuchen dieses Programm einer visuellen Alphabetisierung genauer zu rekonstruieren. Seine allmähliche Ausformulierung kann man wunderbar an drei Beispielen studieren, die auf je unterschiedliche Weise auf den Alltag zielen und im ersten Kapitel knapp vorgestellt werden: an Fritz Kahn, Otto Neurath und Jan Tschichold. Fritz Kahns enorm erfolgreiche populärwissenschaftliche Bücher Das Leben des Menschen beruhen vor allem anderen auf der zentralen Mensch-Maschinen-Metapher, die dann die fünf Bände und zahlreichen Artikel in Text, vor allem aber Bild ausbuchstabieren. Kahn schaut in den menschlichen Körper und entdeckt dort eine reibungslos funktionierende und perfekt organisierte Fabrik. „Der Mensch als Industriepalast“ wird in der Folge zu einer der öffentlichkeitswirksamsten technologischen Pathosformeln der 1920er Jahre. Otto Neuraths Bildpädagogik und die Entwicklung der neuen technischen Bilderschrift ISOTYPE nehmen ihren Ausgang von der Anerkennung der technischen Natur der neuen Welt, die eine neue Einstellung des Menschen erforderlich mache, die u.a. über Ausstellungen, aber auch Plakate und Publikationen zu organisieren sei. Die Planung von Ausstellungen zielt daher auf die Veränderung von Einstellungen. Neuraths Bildpädagogik versucht eine internationale Sprache zu schaffen, die dann mittels allgemeinverständlicher Bildzeichen eine neue gesellschaftliche Ordnung zu konstruieren sucht. Gesellschaftstechnik und visuelle Aufklärungstechnik gehen dabei Hand in Hand. Jan Tschicholds typographische Arbeiten schließlich versuchen sich an der bildpädagogischen Umsetzung einer visuellen Revolution, die ganz konkret bei der Gestaltung von Schriftbildern im Alltag einsetzt. Schrift ist die grundlegende Voraussetzung von Alphabetisierung und noch vor jedem Geschriebenen werden durch sie die Weichen für eine gesellschaftlich-kulturelle Neugestaltung gelegt. Schrift ist nämlich, wie Tschichold zu betonen nicht müde wird, keineswegs ein neutrales Transport- oder Ausdrucksmittel, sondern verfolgt ihrerseits bereits ein klares Programm. Sie ist Weltanschauung in ästhetischer Gestalt und zudem eine, die omnipräsent ist und zugleich ganz unscheinbar, aber effektiv wirkt. Schriftbilder sind Weltbilder. Will man daher den Menschen endlich aus dem Gutenbergzeitalter herausführen, bedarf es neuer Schriften. Erst dann ist der Mensch fit für die Moderne. „Kahn und der Volksbildner Otto Neurath […] waren zwei Hälften desselben Kuchendiagramms“, schreibt Steven Heller in einem kurzen Beitrag zu Kahn.8 Sie stehen dabei auch exemplarisch für viele weitere Positionen, die hier nicht vor7 Walter Benjamin, „Erfahrung und Armut“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt/ Main 1980, S. 219. 8 Steven Heller, „Die Fabriken des menschlichen Körpers“, in: Uta und Thilo von Debschitz, Fritz Kahn, Köln 2013, S. 11f., S. 12.
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EINLEITUNG
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gestellt werden können. Visuelle Alphabetisierung im technischen Zeitalter ist ihr Programm. Das zweite Kapitel geht der Geschichte von Moholy-Nagys und Benjamins Forderung einer photographischen Alphabetisierung nach, um dann daran anschließend Photo-Bücher der 1920er und 1930er Jahre als Versuch zu deuten, diese höchst praktisch im Alltag umzusetzen. Es geht um neue Bildsprachen, die entwikkelt werden und gleichzeitig beanspruchen, die Wirklichkeit nicht nur zu beschreiben, sondern zu verändern. Diese Veränderung qua Beschreibung ist das politische Programm, das die Flut von Bildbänden, die nun erscheinen, bewußt zu kanalisieren sucht. Anhand von Photo-Büchern kann man die neuen Organisationsformen der Wirklichkeit studieren. Mimesis und Technik, Abbildung und Konstruktion finden in ihnen in Gestalt von technischen Bildern zueinander. Im abschließenden dritten Kapitel geht es um die photographische Alphabetisierung des Arbeiters, die in Gestalt einer konzertierten Aktion Arbeiterfotoclubs und Zeitschriften wie Der Arbeiter-Fotograf oder die legendäre AIZ, die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung zu organisieren suchten.
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1. Visuelle Alphabetisierung I: Technische Bildwelten
1.1 Fritz Kahn: Im Inneren der Mensch-Maschine „Ein Wunder, das einmal begonnen, hört nicht auf.“ Fritz Kahn, Das Leben des Menschen, Bd. 2, S. 238
Fitz Kahn hat sein gesamtes Werk der Popularisierung der Naturwissenschaften verschrieben. Sein erfolgreichstes Projekt, Das Leben des Menschen, das für unseren Zusammenhang einschlägig ist, erschien in fünf Bänden zwischen 1922 und 1931.1 Doch bereits vorher hatte er mit den Kosmos-Bändchen Die Milchstraße (1914) und Die Zelle (1919) sowie dem Buch Die Juden als Rasse und Kulturvolk (1920) Versuche in diese Richtung unternommen. Anfang der 1920er Jahre entwickelt er dann schließlich sein „ikonografisches, urheberrechtlich geschütztes System, das die Metapher [der Fabrik des Körpers, B.S.] zum Leben erweckt“2 und mit dem er berühmt werden sollte. Die Mensch-Maschine ist jedoch beileibe keine neue Prägung, sondern eine, die auf eine lange Tradition, zahlreiche Beispiele und bekannte Formeln zurückgreifen kann.3 Von René Descartes bis zu Kapps Theorie der Organprojektion, von Vaucansons Automaten bis hin zu den Maschinen in der zeitgenössischen Science Fiction-Literatur von Jewgeni Samjatin bis Thea von Harbou reicht das Arsenal der technischen Bilder der Seele und des Körpers. Keine dieser Positionen und auch keine weitere, die bei dieser viel zu kurzen Reihe von Beispielen fehlt, wird von Kahn umfassend gewürdigt. Auch nicht Carl Ludwig Schleich, der deutlich vor Kahn seine eigenen Publikationen aus dem gleichen Bilderreich 1 Fritz Kahn, Das Leben des Menschen. Eine volkstümliche Anatomie, Biologie, Physiologie und Entwicklungsgeschichte des Menschen, Bd. 1, Stuttgart 1926; Bd. 2 und 3, 1927, Bd. 4, 1929, Bd. 5, 1931. 2 Carl Ludwig Schleich, Vom Schaltwerk der Gedanken. Neue Einsichten und Betrachtungen über die Seele, Berlin 1916, S. 11. 3 Vgl. dazu expl. Carsten Priebe, Eine Reise durch die Aufklärung. Maschinen, Manufakturen und Mätressen. Die Abenteuer von Vaucansons Ente oder Die Suche nach künstlichem Leben, Frankfurt/Main 2007; Klaus Völker (Hg.), Künstliche Menschen. Dichtungen und Dokumente über Golems, Humunculi, liebende Statuen und Androiden, München 1971 und Christian Bailly, L’âge d’or des Automates. 1848-1914, Paris 1987.
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Abb. 3-2 Fritz Kahn, „Das Leben des Menschen“. Werbeblatt
speist und von diesem nur beiläufig angeführt wird.4 Wie Kahn 1923 in einem Beitrag für die populäre Zeitschrift Kosmos imaginiert auch Schleich eine Reise durch den menschlichen Körper.5 Die Schriftleitung stellt Kahns Text als „naturwissenschaftliche Novelle“ vor, die „in eine Welt hineinführt, die wahr ist, wirklich und lebendig in uns besteht“. Kahn wird Märchen und Wahrheit miteinander verzahnen: „Wir sind im Märchenland, im Märchenland der Wahrheit“.6 Genau das hatte Schleich seinerseits ausformuliert, bei seinem extrem metaphernreichen Text aber auf bildliche Illustrationen verzichtet. Um den „Mechanismus unseres geistigen Innenlebens“7 zu erkunden, schlägt Schleich eine Art Gedankenexperiment vor: Im Körper könne man Wanderungen wie in Pompei8 unternehmen und das Gehirn als eine Art petrifizierte Industrielandschaft vorstellen, in der ein Zustand einer Gesellschaft eingefroren ist. Ein Marsianer fände in einer heutigen Stadt, die 4 Kahn, Leben, Bd. 3, S. 81. 5 Ders., „Märchenreise auf dem Blutstrom“, in: Kosmos, Januar 1923, S. 4ff., Wiederabdruck in: Uta und Thilo von Debschitz, Fritz Kahn. Man Machine, Wien und New York 2009, S. 329-335. Dieser Text findet sich auch in Das Leben des Menschen, Bd. 2, S. 288ff. 6 Ebd., S. 329. 7 Schleich, Schaltwerk, S. 12. 8 Auch das findet sich bei Kahn, vgl. Bd. 3, S. 68, wo Kahn die Luftverschmutzung in den Großstädten beklagt: „Großstädte sind die steinernen Friedhöfe der Kultur, […] in ihren Straßen vollzieht sich über Jahrhunderte hingezogen die Tragödie vom Pompeji und Herkulanum“.
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in ähnlicher Weise einer Katastrophe anheim gefallen wäre, dann „wie der Anatom vor dem toten Gehirn und Rückenmark, alles – die Schienenstränge, die Säulen des Bogenlichts, die Drähte, die Zentralen, die Apparate zum Ein- und Ausschalten, die Telephone, die Marconiplatten, die Kabel, die Scheinwerfer usw.“9 Fritz Kahn wird diese Idee eines durch und durch technisch organisierten Organismus dann in seinem auch international erfolgreichen Das Leben des Menschen in Bilder bringen. Für ihn scheint der Mensch vor allem anderen eine höchst leistungsfähige Maschine zu sein, was dann seine Bilder, die nach seinen Vorgaben von Zeichnern wie Arthur Schmitson, Fritz Schüler und Roman Rechn u.a. angefertigt wurden, vor Augen führen. Wir sehen bei Schleich und Kahn die Arbeit an der Metapher als Arbeit am Bild umgesetzt. „In der Flut dieser Bilder wird deutlich, wie der moderne Mensch mit der Erfindung technischen Geräts gleichsam zu sich selbst, also zur Einsicht in den eigenen Funktionsaufbau komme sollte.“10 Der Mensch soll sich, mit anderen Worten, vor Augen führen, daß er, ohne es zu wissen und vermutlich auch zu wollen, längst wie eine Maschine funktioniert. Ein weiterer kurzer Text Kahns, der 1926 in der auflagenstarken Berliner Illustrierten Zeitung erschien, skizziert das Programm des „Menschbuchs“, wie er es nannte.11 Ein Zitat des Boxweltmeisters Gene Tunney gleich zu Beginn gibt die Metapher vor: „Der menschliche Körper ist die leistungsfähigste und dabei widerstandsfähigste Maschine, die man sich denken kann.“12 Der Mensch ist also der Technik keineswegs unterlegen, sondern in seinen außerordentlichen organischen Grundlagen nur dank Metaphern so beschreibbar, daß seine überragende Leistung hinreichend deutlich wird. Die Rede von der Leistung verdeutlicht aber auch, daß es hier um Arbeit geht. Die Arbeit ist die Grundlage des Vergleichs zwischen Körper und Maschine. Er macht sinnfällig, daß im Organismus fortwährend gearbeitet wird, auch wenn sich das der Aufmerksamkeit des Menschen entzieht. Körper ist Arbeit und diese ist Grundlage dieses Entwurfs einer „organischen Technik“, von der ansonsten vor allem in konservativen, ja völkischen und nationalkonservativen Texten die Rede ist. Der Jude Fritz Kahn ist allerdings von solchen ideologischen Entwürfen weit entfernt, imaginiert aber gleichwohl einen Organismus, der zwischen Individuum und Allgemeinheit, zwischen Einzelnem und der Gesellschaft vermittelt und dabei eine perfekte Organisation der Arbeit weit vor Ford und Taylor vor Augen führt. Der Körper, den Kahn in seinem Menschbuch vorstellt, ist immer schon arbeitsteiliger Gesellschaftskörper, aber eben nicht Volkskörper, da rassistische Vorstellungen mit dem technizistischen Entwurf nicht zusammengehen. Dieser ist zudem dezidiert international und wird dann im übrigen auch von 9 Schleich, Schaltwerk, S. 17. 10 Cornelius Borck, „Humanist und technischer Aufklärer“, in: Debschitz, Kahn, S. 9-19, S. 12f. 11 Fritz Kahn, „Es ist ein Wunder, daß wir länger als zwei Minuten leben. Der Mensch – die komplizierteste Maschine!“, in: Berliner Illustrierte Zeitung, 31.10.1926, S. 1467f., auch in; Debschitz, Kahn, S. 345f. 12 Ebd, S. 345.
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Abb. 3-3 Fritz Kahn, „Der Mensch als Industriepalast“. Doppelseite der Beilage aus Das Leben des Menschen
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Kahn nach seiner Emigration weltweit publik gemacht. Doch auch wenn ein deutscher, nordischer oder indogermanischer Volkskörper der Logik des Buchs zuwiderläuft, sollte das den nun offen rassistischen und antisemitischen Schriftsteller Gerhard Venzmer nicht davon abhalten, ganze Teile aus Kahns Menschbuch abzukupfern, ohne ihn überhaupt nur zu erwähnen. Neu hinzu kommt dann ein Kapitel zur Rassenkunde und Rassenpflege, bei dem er u.a. auf Photographien von Erna Lendvai-Dircksen und Erich Retzlaff zurückgreift.13 Aus dem Menschbuch wird nun ein Volksbuch. Die Feier des Körpers Kahn hingegen geht es erst einmal um die Feier der Leistungen des Körpers, denn aus Lobpreis und Bewunderung bestehen die fünf Bände in weiten Teilen: „Der menschliche Körper […] ist eine Maschine, die so stabil ist wie ein Tourenrad und dabei so empfindlich wie ein Erdbebenmesser; sie ist ein Motorrad, das durch ein 80-jähriges Menschenleben dahinfährt – und dabei über und über mit Hunderten feinster Apparate behangen ist, die, während der Motor rattert und die Räder über das Pflaster springen, so ungestört arbeiten, als wären sie in Bergestiefe vergraben. […] Würden die Fordwerke, die sich rühmen, alle zwei Minuten ein Auto zu liefern, in jeder Sekunde eine Zelle fabrizieren, in zwei Minuten statt eines Autos 120 Zellen, so müssten sie eine Million Jahre arbeiten, um die Zellmotoren eines Menschenkörpers herzustellen.“14 Folgt man also der Logik des Mensch-Maschine-Vergleichs so landet man keineswegs beim Modernisierungsrückstand des Menschen, sondern bei den Wundern seines organisch-technischen Funktionierens und beim Knirschen der Metapher: „Der Mensch ist gegen alle Logik technischer Prinzipien zusammengesetzt.“15 Er funktioniert, so Kahn, viel besser als dies eine Maschine je könnte. Ohnehin muß man in den fünf Bänden recht lange lesen, bis man die zentrale Metapher auch ausbuchstabiert findet. Das ebenso berühmte wie erfolgreiche Plakat „Der Mensch als Industriepalast“, das auch separat vertrieben wurde, erschien erst 1926 und der gesamte erste Band kommt noch ohne jede bildliche Darstellung von Industrie- oder Technikvergleichen aus. Im zweiten Band ist hingegen immerhin die Metapher bereits omnipräsent und nimmt dann auch in Form von Illustrationen 13 Gerhard Venzmer, Der Mensch und sein Leben. Ein Volksbuch vom menschlichen Körper, Stuttgart 1938, S. 158-176. 14 Kahn, Leben, Bd. 1, S. 345. Vgl. auch ders., „Es ist ein Wunder, daß wir länger als zwei Minuten leben. Der Mensch – die komplizierteste Maschine!“, in: Berliner Illustrierte Zeitung, 31.10.1926, S. 1467f., in: Debschitz, Kahn, S. 345f., S. 346: Kahn stellt sich die Werbung einer Autofirma vor: „‚Hier kaufst Du einen Wagen, mit dem kannst Du 75 Jahre lang fahren und brauchst nichts anderes tun, als ihm täglich Wasser und Benzin zu geben. […] Man würde eine solche Anpreisung für die Ausgeburt eines Wahnsinnigen halten.“ 15 Ders., „Es ist ein Wunder, daß wir länger als zwei Minuten leben“, S. 345.
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Abb. 3-4 Fritz Kahn, „Knochenstrukturen“
Abb. 3-5 Fritz Kahn, „Biologie des Bratenduftes“
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von Band zu Band signifikant zu.16 Die erste Abbildung, die im Menschbuch den Vergleich explizit vorstellt, ist die Visualisierung des „zur Verknöcherung führenden Kampfes des Kochens gegen den Knorpel“: von der Qualle zur Koralle führt der Weg der Knochen und zugleich mitten ins Reich der Technik hinein.17 Doch auch hier ist der Vergleich noch eigentümlich defensiv und weit davon entfernt, die Technik zu feiern oder gar als Vorbild des Organismus zu beschreiben: „Die Zahl der Knochen, die das menschliche Skelett zusammensetzen, läßt sich nicht mit jener Eindeutigkeit angeben, mit der der Techniker die Teile seiner Maschine aufzählt. Denn der Körper des Menschen ist nicht nach Maschinenart zusammengesetzt, nicht gefertigt und nicht fertig, sondern das Ergebnis einer bewegten Geschichte“.18 Der Körper ist Begegnungsstätte seiner Genese zwischen Tier, Zentaur und Übermensch und seine Knochen sedimentierte Geschichte, Körper gewordene Ontogenese: „Der Knochen ist das Gewebe der Vergangenheit; er ist die Chronik, in die der Griffel der Zeit die Geschichte der Geschlechter schreibt.“19 Das ist der Sound von Kahn, der zwischen Sachlichkeit und Pathos oszilliert und aus Geweben Geschichten wirkt. Bei Kahn ist von Technik, der Moderne oder der Maschine wenig die Rede, von Wundern und Geheimnissen hingegen viel. Goethe wird daher sehr oft zitiert, Taylor oder Ford hingegen so gut wie nie.20 Gleichwohl ist das Menschbuch durch seine Technikmetapher berühmt geworden, die eine Art Erfolgsformel des Gesamtprojekts darstellt. Noch die heutige Neuentdeckung folgt ausschließlich dieser Metapher und suggeriert zu unrecht, daß die Bände durchweg dieser Parallelisierung folgen. De facto braucht es Hunderte von Seiten bis die Mensch-Maschine erscheint. Wie aber findet diese nun ins Buch? Und was macht sie dann aus ihm? Welche strategische Funktion hat sie? Diese Fragen kann man am besten beantworten, wenn man genauer untersucht, in welchem Kontext sie erscheint, eingeführt und ausbuchstabiert wird und in welchem Kontext sie üblicherweise auch außerhalb des Buchs erscheint. Von der Moderne ist so etwa bereits früh die Rede. „Aus Alltag und Arbeit“, 16 In Bd. 4 (Stuttgart 1929) finden sich bereits die folgenden technizistischen Abbildungen: „Die automatische Regulation der Herzarbeit durch Blut und Herznervensystem“ (Tafel I, nach S. 24); „Die Empfindungsbahn“ (Tafel VII, nach S. 80); „Der Sehakt“ (Tafel VIII, vor S. 81); „Die wirtschaftliche Bedeutung der Reaktionszeit“ (93); „Die Lichtwahrnehmung“ (Tafel XXII, nach S. 192); „Der Weg der Entwicklung“ (205); „Das Tageswachstum der Haare“ (236); „Die Wirkung der Aetherwellen auf die Menschenhaut“ (Tafel XXVI, nach S. 256); „Die biologische Wirkung des ultravioletten Lichtes“ (Tafel XXVII, vor S. 257); „Der Mechanismus der Bogengangsfunktion“ (293); „Auto und Ohr sind übereinstimmend“ (307); „Die Ohrtrompete“ (309); „Der Aufbau der Hörschnecke“ (315) und „Die Hörschnecke ist ein Resonanzapparat“ (316). 17 Ders., Leben, Bd. 2, Abb. 16, S. 22, die Erläuterung dazu findet sich auf S. 23. Vgl. auch ebd., S. 30: „Der Mensch beginnt, wie ein Franzose einmal sagte, ‚als ein Wesen aus Gelatine und endet in einem Zustand der Verkalkung.‘ Er wird als Qualle geboren und stirbt als Koralle.“ 18 Ebd., S. 78. 19 Ebd., S. 175. Ausführlich wird weiterhin die Analogie zwischen Muskel und Maschine ausgeführt (190ff.) und die Muskelfaser als „chemodynamische Maschine“ (190) vorgestellt. 20 In Bd. 3 ist die Rede von „Reflexbeamten“, die „nach dem Taylorsystem auf ihre Tauglichkeit geprüft worden“ (45) sind.
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schreibt Kahn über das Leben in der Stadt, „sehnt sich die Menschheit nach Wunder und Erlebnis. Aus Werkstatt und Fabrikraum strömt sie ins Kino, aus Bureau und Laden in die Theater.“21 Das ist gemeinhin der Moment, an dem die Technik bemüht wird, um das Zeitalter zu charakterisieren und dem Menschen seine Aufgaben vorzuschreiben. Doch auch hier verbleiben wir bei Kahn im Bereich des Wunders: „Streck deine Hand aus: mit jedem Griff erfaßt du ein Geheimnis.“22 Das Menschbuch liefert der müden Arbeiterschaft das Wunder seines eigenen Körpers. In ihm arbeitet es auch dann weiter, wenn der Industrietätige sich ausruht. Der ansonsten geläufige rhetorische Konnex zwischen Modernisierungsprozessen und Maschinenmetaphern findet sich bei Kahn hingegen nicht, und ohnehin ist ihm die Großstadt ein Graus, da sie die Funktionen des Körpers beeinträchtigt. Die Mechanismus-Metaphorik setzt bei ihm erst ganzumfänglich mit dem Kapitel zur Zelle ein. Dort ist dann die Rede von Arbeitsteilung und Organisation, vom „Zellenpalast Mensch“, der Zelle als „Universalbaustein“ und dem „Motor der Zellmaschine“.23 Nun ist die Metaphernmaschine angeworfen und wirft munter weitere Bilder aus. Kahn geht es, so können wir feststellen, bei der Maschinenmetaphorik um die Parallelisierung von Einzelnem und Gesellschaft, von Einzel- und Gesellschaftskörper in Gestalt der Arbeit und Organisation. Das ist die Einsatzstelle der Metapher mit all den Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Nun wird Kahn programmatisch: „Menschenleben ist Zellenleben.“24 Und weiter: Der Mensch ein „Zellensklave“, der menschliche Körper ein Zellenstaat, eine „Republik unter der Vorherrschaft einer erblichen Geistesaristokratie. […] Die persönliche Freiheit des einzelnen Bürgers ist sehr gering.“25 Und auch die Rhetorik der Überbietung darf nicht fehlen: „Der menschliche Zellenstaat vereinigt 30 Billionen Bürger, also rund 500000mal soviel wie das Deutsche Reich.“26 Die Wirtschaftsform des Zellenstaates ist jedoch „strenger Kommunismus mit genau vorgeschriebenen Arbeitspflichten und ebenso genau abgemessenen Arbeitslohn.“27 Nun sind wir mitten in der Industriemetapher angekommen. Kahn spricht, wenn er in den menschlichen Körper blickt, von „chemischen Staatsbetrieben“, „Salzsäurefabriken“, „Zuckerraffinerien“, „Gerbereien“, „Hornfabriken“ und „Verkehr“ und betrachtet ihn als Umsetzung von funktionaler Differenzierung und Arbeitsteilung. Die Mensch-Maschine ist zuallererst ein Sozialkörper, sie ist ein Gemeinwesen, das technisch organisiert ist. Das ist die Einsatzstelle der Metapher bei Kahn. „So lebt der Zellenstaat in gigantischer Größe, Schönheit und Vollkommenheit ein ideales Leben des tätigen Friedens und der bürgerlichen Eintracht.“28 Der menschliche Körper ist für Kahn Maschine, weil er bereits durch 21 22 23 24 25 26 27 28
Ebd., S. 151. Ebd., S. 152. Ebd., S. 167 und 175. Ebd., S. 188. Ebd., S. 194. Ebd. Ebd. Ebd., S. 197.
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Abb. 3-6 Fritz Kahn, „Muskel- und Klingelleitung“
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Abb. 3-7 Fritz Kahn, Vergleich des Auges mit einem Objektiv
und durch Geschichts- und Gesellschaftskörper ist. Auf der einen Seite hat sich in ihm die gesamte Menschheitsgeschichte abgezeichnet und lesbare Spuren hinterlassen, auf der anderen ist er bevölkert von einer Fülle von Arbeitern, die gänzlich geschichtslos ihren Tätigkeiten nachgehen. Weiterhin ist der Körper auch dahingehend ein politisches Modell, weil in ihm verschiedene Systeme friedlich koexistieren und auch die Funktionsbereiche so aufeinander abgestimmt sind, daß sie den Körper in einen bewundernswerten Palast verwandeln. Das Schaubild „Der Mensch als Industriepalast. Versuch einer technischen Darstellung der wichtigsten Lebensprozesse“, das zusammen mit einem zweiten, das dem „Stammbaum des Menschen“ gewidmet ist, dem fünften Band in einer Umschlagklappe beigegeben ist, führt die nun Bild gewordene Metapher dann vor Augen (Abb. 3-3).29 Wir betrachten hier keineswegs eine Firma, sondern einen Palast, der bei aller Nüchternheit zum Staunen einlädt und die Zellen der verschiedenen Werkstätten Raum für Raum präsentiert. Der auf einem Faltblatt beigegebene erläuternde Text beginnt mit einer Begründung für die besondere Form der Visualisierung: „Da die meisten Lebensvorgänge chemische Prozesse unsichtbaren Charakters sind, lassen sie sich unmittelbar bildlich nicht darstellen. Es gibt daher wohl zahlreiche Bilder vom anatomischen Bau des menschlichen Körpers, aber keine bildliche Darstellung der Lebensvorgänge in ihm. In der Tafel ‚Der Mensch als Industriepalast‘ ist der Versuch unternommen, die wichtigsten Lebensvorgänge, die, wie gesagt, nie beobachtet werden können, in Form bekannter technischer Prozesse darzustellen, um so ein Gesamtbild vom Innenleben des menschlichen Körpers vor Augen zu führen.“ 29 Aufgedruckt ist allerdings der Vermerk „Beilage zu Kahn, Leben des Menschen, Band IV“. Dort gibt es allerdings keine Lasche für die losen Falttafeln.
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Nun regieren die Architekturmetaphern, und der Körper wird technisch wie eine universale Industrieanlage nachgebaut: Kahn spricht von Etagen und der Zentrale, von Abteilungen und Eingängen. Die Vernunft ist der „Aufsichtsrat“, der Wille „eine Art Direktorium“, der Verstand der „Fabrikleiter“. Die Sinnesorgane entsprechen im Sinne der Organprojektionstheorie technischen Apparaten wie Radio und Photoapparat. Nun ist der Körper zu einem technischen geworden, der für eine Gesellschaftstechnik Modellcharakter hat. Kahns visuelle Alphabetisierung soll nicht nur die Funktionsweisen des eigenen Körpers zu verstehen helfen, sondern auch die Technik als Grundlage des Gesellschaftskörpers herausstellen. Im Modus des Staunens wird aus der nüchternen Technik der Lobpreis des Funktionierens.
1.2 Otto Neurath: Gesellschafts- und Aufklärungstechnik „Also: Bilder! Aber diese Einsicht genügt nicht, man muß wissen, wie man Bilder richtig anwendet.“ Otto Neurath30
„Unser Zeitalter wird vielleicht einmal das Zeitalter des Auges genannt werden.“31 So lautet Otto Neuraths Diagnose, die er mit vielen Zeitgenossen teilt. Bemerkenswert sind allerdings die Konsequenzen, die er daraus zieht. Neurath, der philosophisch dem Wiener Kreis und politisch dem Marxismus nahesteht, entwirft ein doppeltes technisches Programm: auf der einen Seite eine – so sein Begriff – Gesellschaftstechnik, auf der anderen eine Aufklärungstechnik, die sich dem Einsatz von Bildern verdankt. Beide haben mehr miteinander zu tun, als es vielleicht auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Neurath bezeichnete sich in München in den Zeiten der Räterepublik als „Gesellschaftstechniker“, der sich als „Konstrukteur von Lebensordnungen“ verstand, und war der Auffassung, daß sich das Problem einer Sozialisierung der Gesellschaft „nicht prinzipiell von Konstruktionsproblemen im Zusammenhang des Flugzeug- und Brückenbaus“ unterschied.32 Für ihn kam es darauf an, die Möglichkeiten der Technik auch für die Gesellschaft nutzbar zu machen, sie, in Neuraths Begriffen, in Technizität zu verwandeln.33 In 30 Otto Neurath, „Bildliche Darstellung sozialer Tatbestände“, in: Aufbau, Nr. 8/9, Wien 1926, S. 170-174, zit. nach ders., Gesammelte bildpädagogische Schriften, hg. von Rudolf Haller und Robin Kinross, Wien 1991 [im folgenden zitiert als GBPS], S. 57-62 31 Ders., „Das Sachbild“, in: Die Form, 5. Jg., Heft 2, 1930, S. 29-36, und 6. Jg., Heft 6, 1931, S. 219-225, in: GBPS, S. 153-171, S. 154. 32 Rainer Hegselmann, „Otto Neurath – Empiristischer Aufklärer und Sozialreformer“, in: Otto Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus, hg. von Rainer Hegselmann, Frankfurt/Main 1979, S. 7-78, S. 33 und 31. 33 Vgl. Otto Neurath, Kriegswirtschaft, Verwaltungswirtschaft, Naturalwirtschaft, in: ders. (Hg.), Von der Kriegswirtschaft zur Naturalwirtschaft, München 1917, S. 147-151, S. 149:
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diesem Sinne spricht er auch von Maschinen-, Leib- und Gesellschaftstechnikern. Ein neues technisches Zeitalter hat begonnen und dem gilt es Rechnung zu tragen. Die neue Gesellschaft und der neue Mensch sind zuallererst zu montieren. Entscheidend war dabei in vieler Hinsicht der Erste Weltkrieg: Neurath versuchte zum einen den Mobilisierungsplan der Kriegswirtschaft in einen Wirtschaftsplan in zivilen Zeiten umzudeuten und zum anderen als Direktor des Deutschen Kriegswirtschafts-Museums in Leipzig seine ökonomisch-politischen Überzeugungen dann auch visuell umzusetzen. In einem Memo zum Kriegswirtschaftsmuseum schrieb er: „Der Beschauer wird womöglich in eine Versuchsanordnung eingeschaltet und kann beobachten, wie er sich gewissen groben Reizen gegenüber verhält. Wie diese Eignungsprüfungen im Kriege der Auswahl der Motorführer, der Telefonisten usw. dienten, werden statistische Übersichten zeigen; dort wird man zu erkennen vermögen, welche Ersparnis an Material durch die Einführung der Eignungsprüfungen erzielt wird. Das Deutsche Kriegswirtschaftsmuseum wird auf diese Weise die bedeutsame Frage der Psychotechnik und des viel umstrittenen Taylorsystems breitesten Kreisen veranschaulichen und mit allen anderen Rationalisierungen der Wirtschaft, mit Normalisierung und Typisierung, die in der jüngsten Zeit sich mächtig entfalteten, in Verbindung bringen.“34 Das ist die Geburt einer neuen Bilderschrift, die er erst als „Wiener Methode der Bildstatistik“ (1926) und dann als „ISOTYPE“ (1935) bezeichnen sollte, aus dem Geist der Psychotechnik. Es geht hier um eine Ökonomie der Aufmerksamkeit, die dem neuen technischen Zeitalter angemessen und zudem in der Lage sein soll, komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge visuell darstellbar und erfaßbar zu machen. Angesichts einer technisierten Moderne sei eine „‚Renaissance der Hieroglyphen‘“35 zu beobachten, d.h. eine Wiederkehr der Bilderschrift. Diese gelte es im Sinne einer neuen Alphabetisierung zu nutzen und zu mobilisieren. Dementsprechend sei eine „bildhafte Pädagogik“36 zu entwickeln, die einerseits komplexe gesellschaftliche Prozesse zu veranschaulichen habe, um dann andererseits über Klassen- und Landesgrenzen hinweg auch als internationale Sprache verständlich zu sein. „Worte trennen, Bilder verbinden“,37 lautet eine wiederkehrende Formel Neuraths, mit der er die Aufgaben der Bildpädagogik im technischen Zeitalter auf
34 35 36 37
„Wollen wir unter Technik den Inbegriff an technischen Kenntnissen, unter Technizität den Grad ihrer Anwendung verstehen, so wies das eben verflossene Zeitalter zwar eine hohe Technik, aber eine recht niedrige Technizität auf.“ Ders., in: Minutes of the Interior Ministry of Saxony, 16.5.1918, Deutsches Kriegswirtschaftsmuseum, Berlin, R3101 617 (Bd. 1), S. 182-202, zit. nach: Nader Vossoughian, Otto Neurath. The Language of the Global Polis, Rotterdam 2011, S. 163f. Ders., „Bildstatistik nach Wiener Methode“, in: Die Volksschule, 27. Jg., Heft 12, 1931, S. 569-579, in: GBPS, S. 180-191, diese Metapher findet sich in zahlreichen Texten Neuraths. Vgl. expl. ebd., S. 192 und 197. Ebd., S. 189. Ebd., S. 190. Vgl. auch ebd., S. 205 und 208, wo sich diese Formel ebenfalls findet. Sie gehört zu den Konstanten von Neuraths Theorie.
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den Punkt bringt. „Worte trennen, Bilder vereinen,“38 heißt es an anderer Stelle. Das gilt daher dann auch für die Sowjetunion, da „in keinem Lande der Welt die Statistik eine so große Rolle spielt wie in der Sowjetunion.“39 1931 kam es zur Gründung des Bildstatistischen Zentralinstituts in Moskau, bei dem es auch ganz unmittelbar um eine Alphabetisierung einer Gesellschaft ging, in der es nach wie vor noch zahlreiche Analphabeten gab. Der Film war – wie gesehen – ein anderes Mittel der ideologischen Alphabetisierung. Neuraths Bilderschrift war sein Pendant in vielen Bereichen des Alltags. „Eine neue Bilderschrift ist im Entstehen […], ein Bilderlexikon mit einer Bildgrammatik.“40 Die von Neurath projektierte Einheitswissenschaft trug diesem politisch-pädagogischen Gedanken einer einheitlichen, internationalen, universalen und tatsachenbasierten Sprache auch philosophisch-publizistisch Rechnung. Das von ihm jahrelang verfolgte Projekt einer Enzyklopädie der Einheitswissenschaft sollte auch einen visuellen Teil enthalten, der dieser neuen Visualisierung vorbehalten war. Die umfangreichste Version sah 26 Bände mit 260 Monographien und 10 Bildbänden vor.41 Daher geht er noch einen Schritt weiter und versteht die Alphabetisierung als politische Erziehung des Menschengeschlechts: „Die Bildstatistik ist nicht eine Frage der Schule, sondern darüber hinaus der Menschheitserziehung.“42 Neuraths Kampagne einer visuellen Alphabetisierung versteht sich als politische Aufklärungsarbeit und pädagogische Unterweisung. Die Bilder werden zu Elementarzeichen, die in der Lage sind, Tatsachen und Prozesse darzustellen und zugleich den Menschen aus der Gutenberg-Galaxis ins Reich der Technik zu führen. „Wann wird das Mittelalter zu Ende sein? Sobald alle Menschen an einer gemeinsamen Zivilisation teilhaben können und die Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten verschwunden ist.“43 Die Visionen der Technik sind zugleich Utopien der Gesellschaft. Neurath hat in einem bemerkenswerten Buch, das erst vor kurzem ediert wurde, seine eigene Autographie als Bildgeschichte rekonstruiert. Sein eigenes Leben wird hier als exemplarischer Bilder-Bildungsweg von Kinderbüchern, über Illustrationen des 19. Jahrhunderts, aber auch in barocken und naturwissenschaftlichen Werken, bis hin zu einer dezidiert technischen Konstruktion einer neuen Bilderschrift
38 Ders., „Bildstatistik und Wirtschaftsplan“ [„Pictorial Statistics in Economic Planning“], in: World Planning Supplement to the Week-End Review, London 1931, S. 6f., in: GBPS, S. 177179, S. 179. 39 Ders., „Bildstatistik nach Wiener Methode in der Sowjetunion“, in: Moskauer Rundschau, 19. Juni 1932, in: GBPS, S. 207-209, S. 207. Vgl. auch ebd.: „Bildaufklärung kennt keine nationalen Grenzen, sie kennt auch nicht die Grenzen der Bildung.“ 40 Ders., „Soziale Aufklärung nach Wiener Methode“, in: Mitteilungen der Gemeinde Wien, Nr. 100, 1933, S. 25-33, in: GBPS, S. 231-239, S. 239. 41 Ders., GBPS, Einleitung, S. IX-XXIII, S. XV. 42 Ders., „Bildstatistik nach Wiener Methode“, S. 191. 43 Ders., „Bildpädagogik – eine neue Sprache“ [„Visual Education“], in: Survey Graphic, Bd. 24, Nr. 1, 1937, S. 25-28, in: GBPS, S. 403-409, S. 403.
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Abb. 3-8 Otto Neurath, Umschlag von Modern Man in the Making
entworfen.44 Bildung verläuft hier ganz explizit über Bilder und der Bildungsroman der Autobiographie ist nichts anderes als eine vorbildliche Bildgeschichte. Lebensgeschichte ist Bildgeschichte und visuelle Alphabetisierung politische Aufklärung. Bei beiden geht es um Prozesse der Emanzipation und der Erkenntnis. In der neuen technischen Welt regiert die Fläche. Die neue technische Welt ist flach und zugleich schnell, und je schneller sie wird, umso mehr verliert sie ihre Tiefe, also soll sie flach dargestellt werden. „In der Wissenschaft gibt es keine ‚Tiefen‘: überall ist Oberfläche: alles Erlebte bildet ein kompliziertes, nicht immer überschaubares, oft nur im einzelnen fassbares Netz. Alles ist dem Menschen zugänglich; und der Mensch ist das Maß aller Dinge.“45 Der Homo-Mensura-Satz wird technisch, pädagogisch, philosophisch und visuell neu ausformuliert. 44 Ders., From Hieroglyphics to Isotype. A Visual Autobiography, London 2010. Vgl. dazu auch die Rezension von Helmut Mayer, „Von der Schädlichkeit der Perspektive“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.12.2010. 45 Rudolf Carnap, Hans Hahn und Otto Neurath, „Wissenschaftliche Weltauffassung – der Wiener Kreis“ (1929), in: Otto Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus, S. 86f.
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Abb. 3-9 Otto Neurath, Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien
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Das genau ist der Einsatzpunkt der neuen Hieroglyphen, deren Herkunft aus Scherenschnitten Neurath nicht nur oft unterstreicht, sondern auch pädagogisch nutzbar zu machen versucht. Kinder sollen die neue Bilderschrift bereits früh lernen und so die neue Ordnung der Welt verstehen. Sie sollen höchst praktisch Figuren ausschneiden und als Chiffren der Welt begreifen. Sie haben sich in die flache neue Welt einzuüben und sie technisch zu meistern. Sie sollen am Reißbrett sitzen und Figuren der Gegenwart und der Zukunft ausschneiden. Neurath entwickelte daher auch einen neuen Typ von Kinderbüchern, bei dem die visuelle Alphabetisierung ganz konkret umgesetzt werden sollte.46 Dementsprechend breitgefächert sind auch die Publikationsorte von Neuraths Texten: Sie reichen von fachphilosophischen Zeitschriften über Organe der Avantgarden und Publikationen der Stadt Wien bis hin zu pädagogischen Schriften. Das Programm bleibt hingegen das gleiche: eine neue Bildsprache für eine neue Zeit, die sich zugleich als politische Aufklärung versteht. „Isotype ist eine moderne Bildersprache, die durch Verbindung von gewissen Symbolen Tatsachen darstellt. Sie wurde als Hilfssprache für die Verbreitung technischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wissens geschaffen. Nicht mit Unrecht spricht man von einer ‚Renaissance der Hieroglyphen‘.“47 2000 Zeichen umfasse die neue Bildsprache mittlerweile, stellt er nicht ohne Stolz fest, um dann hinzuzufügen: „Die Entwicklung dieser Bildersprache hängt mit der Entwicklung der modernen Technik des Zusammenlebens zusammen.“48 Alles, auch das Zusammenleben ist hier bereits Technik. Wissenschaftliche Weltauffassung als neuer Orbis pictus In seinem Text „Wissenschaftliche Weltauffassung“ von 1929 unternimmt Neurath eine allgemeine Darstellung des nahezu gesamten Spektrums seiner Theorie und geht dabei auch auf die Bedeutung der Bilder für die neue Gesellschaft ein. „Die modernen Menschen“, heißt es dort, „empfangen einen großen Teil ihres Wissens und ihrer allgemeinen Bildung durch bildhafte Eindrücke, Illustrationen, Lichtbilder, Filme.“49 Auch hier regiert die Technik. Man beschreibe, so Neurath, mittlerweile das Herz als Pumpe und müsse daher eine neue Bildersprache wie auf dem Reißbrett regelrecht konstruieren. Es gelte, „Abbildungen zu schaffen, die möglichst ohne Text verständlich sind. […] Es müssen vor allem Bildzeichen geschaffen werden, die so ‚gelesen‘ werden können wie von uns allen Buchstaben und von den Kundigen Noten. Es handelt sich um [die] Schaffung einer Art Hieroglyphen-
46 Vgl. ders., Die bunte Welt. Mengenbilder für die Jugend, Wien 1929. 47 Ders., „Isotype und die Graphik“ [„Isotype en de graphiek“], in: De Delver, Bd. 9, Nr. 2, 1935, S. 17-29, in: GBPS, S. 342-354, S. 342. 48 Ebd. 49 Ders., „Wissenschaftliche Weltauffassung“(1929), in: ders., Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus, S. 79-310, S. 295.
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schrift, die einer internationalen Anwendung fähig ist.“50 Abstraktion, Funktionalität und Allgemeinverständlichkeit sind die Gebote der Stunde, da nur so „neue Formen geschaffen werden, die uns unmittelbar einleuchten.“51 Die Technik, die, wie gesehen, bei Neurath von der Gesellschaft bis hin zu Bildern reicht, wird zum Konstruktionsprinzip, zur lingua franca der modernen Gesellschaft. Je technischer und konstruierter, je flacher und eindeutiger die Bilder der neuen Schrift sind, umso besser. Und je strenger man den Prinzipien der Technik folgt, umso effizienter ist die visuelle Alphabetisierung durchzuführen. Auch Utopien werden von Neurath als „gesellschaftstechnische Konstruktionen“ begriffen, der zudem daran erinnert, daß „auch die Maschinentechnik in ähnlich phantastischer Weise wie die Gesellschaftstechnik begonnen“ hat.52 Nun aber ist aus der Phantastik Realität und aus der Utopie gesellschaftliche Wirklichkeit geworden. Bei Kahn verwandelte sich der Körper in einen Industriepalast, um in einem Zug den Gesellschaftskörper abzubilden. Bei Neurath wird die Gesellschaft zu einem „riesigen Betrieb“, der dann auch den Körper des einzelnen Individuums umfaßt:53 „Ist es nicht, als ob ein neuer Geist die Techniker erfüllt, welche immer drängender nach Vereinheitlichungen verlangen, nach Normung, Typisierung, Spezialisierung, welche immer drängender fordern, daß die Arbeit, der Betrieb, kurzum, alles, was technisch beherrscht werden kann, nach allgemeinen Grundsätzen, möglichst erfolgreich, möglichst rationell gestaltet werden soll?“54 Diese Ordnung der industriellen Normierung ist dann auch die Grundlage der neuen Gesellschaft mitsamt der neu zu erstellenden Bilderschrift, den „statistischen Hieroglyphen“, denen Neurath ein ganzes Kapitel widmet.55 Die Normen der Gesellschaft und die der Technik entsprechen einander. Die „Erziehung durch das Auge“56 ist dabei zugleich „soziale Aufklärung“: „Im Jahrhundert des Auges kommen in erster Linie Museen und Ausstellungen, Abbildungen und Filme in Frage.“57 Dabei spielt die Wahrnehmungs- und somit Erfahrungsnähe der neuen Bilderschrift eine entscheidende Rolle.58 Wenn es wie immer im Wiener Kreis um Tatsachen geht, dann gilt das auch für die Darstellungsformen.
50 51 52 53 54 55 56
Ebd. Ebd., S. 296. Ebd., S. 235. Ebd., S. 236. Ebd., S. 239. Ebd., S. 295-301. Ders., Internationale Bildsprache [International Picture Language], London 1936, in: GBPS, S. 355-398, S. 361. 57 „Soziale Aufklärung nach Wiener Methode“, in: Mitteilungen der Gemeinde Wien, Nr. 100, 1933, S. 25-33, in: GBPS, S. 231-239, S. 234. 58 Vgl. expl.: „What we may say about a language picture is very much what we may say about other things seen by the eye. For example, the man has two legs; the picture-sign has two legs; but the word-sign ‚man‘ has not two legs.“ (Ders., International Picture Language, Reading 1980, S. 20)
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Abb. 3-10 Beispiel für die Verwendung von Neuraths Isotype in Rußland
Otto Neurath spricht oft davon, daß es ihm darum gehe, Comenius‘ Orbis Pictus aus dem Jahr 1658 in die Gegenwart zu überführen.59 Die sichtbare Welt in 59 Vgl. expl. ders., Gesellschaft und Wirtschaft. Bildstatistisches Mappenwerk des Gesellschaftsund Wirtschaftsmuseums in Wien, Leipzig 1930, wo Neurath vom „Anfang eines neuen ‚Orbis pictus‘“ spricht.
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Bildern – das ist sein Programm. Es geht ihm um die Tatsachen – und diese sind als gesellschaftliche vor allem statistisch zu fassen. Nur so können gesellschaftliche Prozesse und Verteilungen begriffen werden. Tatsachen sind allgemeiner, nicht besonderer Natur. Und sie sind als solche Gegenstände des allgemeinen gesellschaftlichen Interesses. Das ist Gesellschaftstechnik à la Neurath: visuelle Alphabetisierung in Zeiten technischer Konstruierbarkeit. Am 1. Januar 1925 gründete er das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien mit dem Ziel, eine neue Art von Museum zu entwickeln. Alle Tafeln waren daher erst einmal für Ausstellungszwecke gedacht und wurden erst dann abphotographiert oder in anderer Weise kopiert und verkleinert in Büchern reproduziert. Die Öffentlichkeit von Ausstellungen und die Privatheit der Lesesituation eines Buchs gingen Hand in Hand. Ein Kollektiv bewerkstelligte dabei die Visualisierung. Einer der wichtigsten Graphiker war dabei Gerd Arntz, mit dem Neurath auch nach seiner Emigration in die Niederlande zusammenarbeitete.60 „Die Bildpädagogik ist auf dem Marsche,“61 konstatierte Neurath, um sogleich diesen Marsch durch die Institutionen vor „metaphysischen Abwegen“ zu bewahren, und weiter: „Die reine Bilderschrift kennt zwar ein Schwert und einen Tisch, aber kein Sein.“62 Das gesellschaftliche Sein ist in seinem Sinne nur über Statistiken, über Formen der „soziologischen Graphik“63 zu vermitteln, die ihrerseits bestimmte gesellschaftliche Tatbestände vor Augen führen.64 Es ist Gegenstand der visuellen, politischen wie sozialen Konstruktion, mit anderen Worten: Gesellschaftstechnik. 65 Das politisch-gesellschaftliche Sein bestimmt das visuell-statistische Bewußtsein.66 Das ist Neuraths Modell der visuellen Alphabetisierung im technischen Zeitalter: „Es geht um eine Erziehung zur Demokratie, die nur in einer Kultur des Wissens, auf möglichst breiter Grundlage faktischer Informationen funktioniert.“67 60 Vgl. dazu Gerd Arntz: kritische grafiek en beeldstatistiek, Ausstellungskatalog Haagse Gemeentemuseum 1976. 61 Ders., Bildstatistik nach Wiener Methode in der Schule, Wien und Leipzig 1933, in: GBPS, S. 265-336, S. 233. 62 Ebd., S. 269. 63 Ders., „Das Sachbild“, S. 159. 64 Vgl. ders., Bildstatistik nach Wiener Methode in der Schule, S. 279: „Bilder nach Wiener Methode haben ihre Aufgabe erfüllt, wenn sie Anschauungen über bestimmte Tatbestände wirksam vermitteln.“ 65 Vgl. ders., Gesellschaft und Wirtschaft. Bildstatistisches Mappenwerk des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums in Wien, Leipzig 1930, in: GBPS, S. 144-149, S. 144: „Planmäßige Gestaltung der gesamten Lebensordnung, systematische Nutzung vorhandener Kräfte ist eine Auswirkung moderner Gesellschaftstechnik, die in Riesenorganisationen privater und öffentlicher Art immer stärkeren Ausdruck findet.“ 66 Vgl. ebd.: „Die Einheitlichkeit der gedanklichen Darstellung bedarf der Einheitlichkeit der bildlichen Wiedergabe.“ Und ebd., S. 145: „Es bildet sich eine neue Bilderschrift, die nicht nur einheitlich und exakt, sondern auch anziehend und erfreulich Zeichen und Anordnung gestaltet.“ 67 Frank Hartmann und Erwin K. Bauer, Bildersprache. Otto Neuraths Visualisierungen, Wien 2002, S. 88.
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1.3 Jan Tschichold: Nach dem Gutenbergzeitalter „Die Arbeit des Druckers ist das Fundament, auf dem die neue Welt aufgerichtet wird.“68 „die fotoplastik beruht auf augen- und gehirngymnastik“69 László Moholy-Nagy
Jan Tschicholds 1928 erschienenes Buch Die neue Typographie stellt eine Art Programmschrift der „typographischen Revolution“70 dar, die viele weitere Positionen umfaßt.71 Tschichold skizziert dort zu Beginn eine kurze Geschichte der modernen Kunst, die in einer Ablösung vom Prinzip der Mimesis kulminiert und die neue Typographie als naturanaloges Verfahren zu positionieren sucht, das wie diese konstruktiven Prinzipien gehorche. „Wir haben heute erkannt“, so formuliert Tschichold programmatisch, „daß die Kunst nicht in äußerer Nachahmung der Natur, sondern in einer Gestaltung besteht, die ihre Gesetze aus der Tektonik, nicht der bloßen äußeren Erscheinung, der Natur ableitet. Die Ingenieurin Natur baut ihr Werk mit ebenderselben Ökonomie, Technik und Folgerichtigkeit auf wie wir Heutigen das Bild. Wir haben in der neuen Gestaltung den Zwiespalt zwischen Sein und Schein aufgehoben, denn beide sind identisch.“72 Und – das wäre zu ergänzen – mit ihm auch den Zwiespalt zwischen Natur und Kultur. Die neue Natur ist Technik. Ökonomie ist dabei einer jener Zauberbegriffe, die vielerlei Anwendungsoptionen eröffnen: Aufmerksamkeit, Wirtschaft, Rationalisierung, Verknappung, Beschleunigung usw. Das Ökonomieprinzip wird in Kombination mit dem Primat einer genuin technischen Konstruktion, die für die „Ingenieurin“ Natur wie für die Kultur gleichermaßen gelten soll, zur Grundlage jeder Gestaltung – der künstlerischen inbegriffen. Ökonomie, Funktionalität, Konstruktivität: das sind die neuen allgemeinen Prinzipien, die zusammen genommen auf eine Ökonomie der Aufmerksamkeit zielen, die Produkt (die neue Typographie und das Typofoto) und Konsument (den Betrachter) gleichermaßen einschließt.
68 László Moholy-Nagy, „Typofoto“, in: ders., Malerei, Fotografie, Film, S. 36-38, S. 36. 69 Ders., „fotografie ist lichtgestaltung“, in: Krisztina Passuth, Moholy-Nagy, S. 319-322, S. 322. 70 Herbert Spencer, Pioniere der modernen Typographie. Mit einem Vorwort von Prof. Max Bill, München, Wien und Zürich 1970, S. 13. 71 Vorgestellt und gesammelt werden sie in einem von den Brüdern Rasch herausgegebenen Sammelband: Heinz und Bodo Rasch (Hg.), Gefesselter Blick. 25 kurze Monografien und Beiträge über neuere Werbegestaltung, Baden (Schweiz) 1996 (Reprint der Erstausgabe Stuttgart 1930). 72 Jan Tschichold, Die neue Typographie, Berlin 1987 (Reprint der Erstausgabe von 1928), S. 47.
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Abb. 3-11 Reklameblatt für Die neue Typographie von Jan Tschichold
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Jan Tschichold ist fraglos der maßgebliche Theoretiker der neuen Typographie; er selbst sah sich sogar als einzigen an, der diese Bezeichnung verdient hätte.73 Tschichold, dessen Aufsätze in einschlägigen Avantgarde-Zeitschriften vertreten waren, widmete der Photographie und genauer der Rolle der Photographie für die typographische Revolution besondere Aufmerksamkeit. Tschichold nennt diese neue Verwendungsweise der Photographie Typofoto und prägt damit – zusammen mit Moholy-Nagy – zugleich einen Begriff für die neuen Beziehungen zwischen Text und Bild. Typofoto und Montage zeigen in exemplarischer wie programmatischer Weise die veränderten epistemologischen Grundlagen von Text und Bild an. Eine besondere Rolle kommt deshalb der Montage zu, weil sie Ausdruck des konstruktiv-technischen, kulturell-natürlichen Prinzips ist, das, wie Tschichold explizit unterstreicht, Mimesis durch Konstruktion ablöst. Die Montage – als industrielles Fertigungs- und neu entdecktes künstlerisches Verfahren – ist auch für ihn die neue programmatische Gestaltungsform par excellence, da sie in exemplarischer Weise die geforderte wie emphatisch proklamierte technische Konstruktion auch im Bereich der bildenden wie auch der angewandten Kunst umsetzt. Das Typofoto schließlich ist nicht nur eine Form der Montage unter anderen, sondern paradigmatische Gestalt dieses neuen künstlerischen Prinzips, da es dank der Photographie auf Bilder und Texte gleichermaßen Anwendung finden kann, dementsprechend nicht auf eines dieser beiden Felder der Kommunikation beschränkt bleibt und zugleich das Bild des Realen in die abstrakte Ökonomie der Montage integriert. Und ist die Komposition dann abgeschlossen, spielt auch die Frage der Normierung eine zentrale Rolle, widmet Tschichold doch gleich ein ganzes Kapitel seines Buches der Frage der Norm im Kontext der Bemühungen um allgemein gültige Standards.74 Keine Universalität, keine Internationalität, keine Multifunktionalität ohne Norm, ohne Normierung. Mit anderen Worten: je intensiver der Effekt sein soll und je breiter und umfassender die Wirkung, um so stärker wird man vorgegebenen Rastern, Modellen und formalen Vorgaben folgen müssen. Will man montieren, so bracht man Normen. Die typographische Internationale Wie bereits Neuraths ISOTYPE zielt auch die typographische Revolution auf eine typographische Internationale, auf eine Verbindung von Besonderem und Allgemeinem, von Individuum und Gesellschaft, aber auch auf jene von Natur und Kultur und nicht zuletzt auf ein neues Sehen, eine neue Wahrnehmung, die bereits den 73 Vgl. Jan Tschichold, „Glaube und Wirklichkeit“, in: ders., Schriften 1925-1974, Bd. 1, hg. von Günter Bose und Erich Brinkmann, Berlin S. 310-328, S. 310. 74 Tschichold bezieht sich dabei in dem Kapitel „Neue Typographie und Normung“ (S. 99109) auf Wilhelm Ostwald (S. 100), dessen Theorien jüngst ins Zentrum der Aufmerksamkeit geraten sind. Vgl. dazu Markus Krajewski, Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900, Frankfurt/Main 2006, bes. S. 64-140.
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Abb. 3-12 Werbebroschüre für die Meisterschule von Jan Tschichold
Gesetzen der Ökonomie gehorchen und das in vielfacher Hinsicht. Die Revolution der Typographie wird auch in den zeitgenössischen Deutungen als Konsequenz einer Revolution der Wahrnehmungs- und Rezeptionsformen beschrieben, die ihrerseits auf Phänomene der sozialen, medialen und lebensweltlichen Beschleunigung,75 der Industrialisierung und des demografischen Wandels reagiert. Der „außerordentliche konsum“76 an Bildern, den Tschichold konstatiert, ist seiner Ansicht nach begründet durch die veränderten sozialen Verhältnisse und setzt in der Mitte des 19. Jhdts. ein, findet dann mit Aufkommen der modernen Printmedien ihren Höhepunkt und in der Photographie im allgemeinen und dem Typofoto im besonderen ihren Ausdruck. „das foto“, so Jan Tschichold, „ist zu einem so bezeichnenden Merkmal unserer zeit geworden, daß man es sich nicht mehr hinwegdenken könnte. Der bildhunger des modernen menschen wird hauptsächlich durch die fotografisch illustrierten zeitschriften und magazine befriedigt; die inseratreklame (vor allem amerikas), auch vereinzelt schon die plakatreklame, bedient sich mehr und mehr des fotos.“77 75 Vgl. dazu die Analyse von Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/Main 2006. 76 Jan Tschichold, „Fotografie und Typografie“, in: Die Form, Bd. 3, 1928, S. 140-150, S. 141; auch in: ders., Schriften 1925-1974, Bd. 1, S. 41-51. 77 Ebd.
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Wenn man nun die epistemologischen Bedingungen des Typofotos, das eine neue Form der Beziehung zwischen Text und Bild inszeniert und performativ einsetzt, zu bestimmen sucht, so bietet es sich an, vier unterschiedliche, aber gleichwohl miteinander verzahnte Komplexe zu unterscheiden: Erstens ist das Typofoto Konsequenz der Rationalisierung und des Funktionalismus, die zu allgemeinen Prinzipien jeder Form von Gestaltung (und das bedeutet in diesem Zusammenhang der Natur wie auch der Kultur) und der Produktion werden. Die Unterscheidung zwischen Text und Bild wird ebenso wie jene zwischen Natur und Kultur, Kunst und Industrie im bestimmenden Prinzip der Funktion aufgehoben. Form follows function – dieses Prinzip der Moderne findet hier seine Begründung. Die Funktion wird zur Begründungsinstanz jeder Form, jeder Gestaltung, jeder Wahrnehmung, jeder Konstruktion, jeder Artikulation. „Form ist nichts ‚Selbständiges‘, sondern erwächst aus der Funktion (dem Zweck, der Bestimmung), dem verwendeten Material (organische oder technische Stoffe) und der organischen beziehungsweise technischen Konstruktion“,78 heißt es bei Tschichold. Und wenn man etwa den Band Gefesselter Blick der Gebrüder Rasch zur Hand nimmt, der einen ersten umfassenden Syntheseversuch der neuen Typographie unternimmt, so liest sich dieser wie eine Initiation in die Gesetze der funktionalen Gestaltung. Bereits die Einleitung versucht sich an einer Aktualisierung von Lessings Laokoon unter den Bedingungen der industriellen Fertigung und der modernen Rezeptionsformen und konstatiert eine systematische wie programmatische Vermischung von Bild und Text. „Die Vermischung von Bild und Wort ist das Haupttätigkeitsgebiet der Werbegestaltung“,79 heißt es dort, um sogleich beide dem Gesetz der Funktion zu unterstellen: „Funktionell ist die Herstellung einer Zeichnung, das Ergebnis ist ein Bild. Funktionell ist auch die Herstellung der Schrift, das Ergebnis ist ein Bild.“80 Zweitens reagiert das Typofoto auf die bereits mehrfach angeführte Revolution der Wahrnehmung, die mit den Schlagworten Simultaneität und Beschleunigung charakterisiert werden kann. Die Typographie und mit ihr das Typofoto haben die neuen Formen der visuellen Erfahrung in der Moderne bildlich-typographisch umzusetzen. So solle der Menschen überhaupt erst mit den neuen Wahrnehmungsbedingungen vertraut gemacht und visuell ins Zeitalter des Automobils und des Flugzeugs geführt werden. Die „augen- und gehirngymnastik“, zu der nach Moholy-Nagy das Typofoto anregt, ist regelrechtes Wahrnehmungstraining auf dem neutralen Terrain der Kunst. Drittens ist das Typofoto auch Umsetzung der Abstraktion und der Konstruktion als neuen Errungenschaften der Kunst. Das Paradigma dieser neuen Gestaltungsformen ist wiederum die Photomontage und mit ihr das Typofoto als eine ihrer maßgeblichen Formen. Photomontage und Typofoto zeichnen sich dadurch aus, daß der Gegenstand zum Bestandteil der Gestaltung wird, ihren Gesetzen zu 78 Ders., Die neue Typographie, S. 66. 79 Rasch (Hg.), Gefesselter Blick, S. 5. 80 Ebd., S. 12.
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gehorchen hat und somit in einer eigentümlichen Ambivalenz zwischen Gegenstandslosigkeit und Objektivität – denn diese wird der Photographie als Medium zugeschrieben – verharrt. „von der alten kunst unterscheidet sich die fotomontage durch fehlen des objekts. Sie ist nicht wie jene beurteilung eines tatbestandes, sondern verwirklichung einer fantasie, also eine freie menschliche schöpfung, die von der natur unabhängig ist. die ‚logik‘ einer solchen gestaltung ist freilich die irrationale des kunstwerks.“81 Mit anderen Worten: Das Prinzip der Mimesis weicht dem einer Konstruktion eines Text-Bild-Zusammenhanges, der eigenen – und hier wiederum internen funktionalen – Regeln zu gehorchen hat. Dabei speist die Photographie das Konkrete, eine möglichst objektive Darstellung eines Gegenstands, in den Bereich der Abstraktion ein. Typofoto ist Abstraktion und maximale Konkretion zugleich, ist Verbindung der Objektivität der Photographie und der Subjektivität der künstlerischen Gestaltung. Viertens schließlich hat das Typofoto auch Teil an den Verfahren der Standardisierung und Normierung, die nun massiv Einzug halten. Dabei kommt es zu einer Einebnung des Unterschieds zwischen Einzelnem und Kollektiv, aber auch desjenigen zwischen staatlich-regionaler und internationaler Ordnung.82 Und mehr noch: So wie das Typofoto den Bildhunger des modernen Menschen befriedigt, so befriedigt die Standardisierung auch seine materialen Konsumbedürfnisse. „Das Ganze, das Kollektiv bestimmt schon heute in hohem Maße die materiellen Lebensformen jedes einzelnen: gleichgeartete Standardbedürfnisse des Individuums werden von Standarderzeugnissen befriedigt: Glühbirne, Schallplatte, Van Heusen Kragen, Zeissbücherschrank, Büchsenmilch, Telephon, Büromöbel, Schreibmaschine, Gillette-Apparat.“83 Dabei werden „Standardisierung, Normung, Mechanung“84 zugleich in emphatischer Weise als Möglichkeiten einer schöpferischen Befreiung des Menschen angesehen, indem Tschichold von einer Konvergenz der Technizität und der Grundverfassung des Menschen ausgeht und das „angeborene Streben nach einer Ordnung der Dinge“85 in der neuen Gestaltung umgesetzt findet. Die angestrebte „Einheit des Lebens“86 ist normierte Einheit der funktionalen Gestaltung und schließt als solche eine Einheit von Natur und Kultur, Individuum und Gesellschaft sowie Text und Bild ein.
81 Jan Tschichold, „Fotografie und Typografie“, S. 143 f. 82 Ebd., S. 13: „Formen müssen zwangsläufig ein überindividuelles und übernationales Aussehen erhalten.“ 83 Ebd., S. 11 f. 84 Ebd., S. 12. 85 Ebd. 86 Ebd., S. 13.
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Nach dem Gutenbergzeitalter Vom Ende der Gutenberg-Galaxis ist nicht erst seit Marshall McLuhans Arbeiten die Rede, auch wenn sie in ihrer Folge zum Gemeinplatz der Medientheorie wurde:87 bereits bei Jan Tschichold und anderen zeitgenössischen Theoretikern wie László Moholy-Nagy oder Karel Teige88 ist sie ein Topos der theoretischen Grundannahmen. Tschichold verknüpft seine eigenen programmatischen Überlegungen mit einem historischen Überblick der Geschichte der Typographie. „Jede Zeit hat ihre eigene optische Einstellung“,89 konstatiert Moholy-Nagy und mit Tschichold könnte man hinzufügen: jede Zeit hat ihre eigene Schrift. Beide wiederum konstatieren unisono, daß die Gestaltung in ihrer „typografisch-optisch-synoptischen Form“90 im Gutenbergzeitalter stehen geblieben sei und in keinster Weise den Anforderungen der Moderne genüge. Die „Ökonomie des Leseprozesses“91 ist in der Zeit der Gotik eine gänzlich andere als in der Moderne und das hat massive Auswirkungen auf die Schrift sowie auf die Interferenz von Bild und Text. „Die Typografie Gutenbergs, die bis fast in unsere Tage reicht, bewegt sich in ausschließlich linearer Dimension.“92 An die Stelle der Linearität und der homogen gestalteten Seite tritt nun eine dynamische Gestaltung, die konsequent Gegensätze und visuelle Kontraste nutzt und dabei auch Texte und Photographien verwendet, um visuelle Effekte zu erzielen.93 Entscheidend ist dabei die Photographie, da diese in den Zusammenhang des Textes eine visuelle Objektivität hineinträgt, die diesem bisher fremd war und, wie Tschichold konstatiert, „das mittel [darstellt], das unsere typografie von aller früheren unterscheidet.“94 Photographien zielen auf Effekte, auf Wirksamkeit, auf Evidenz, auf unmißverständliche Botschaften. Sie haben eine implizite wie explizite Appellstruktur. Tschichold betritt dabei durchaus Neuland, wenn er demonstrativ wie programmatisch unterstreicht, „daß die Photographie ein Mittel der Typographie wie Typen und Linien sind. Das photographische Bild ist wie ein Buchstabe ein Zeichen mit dem Zweck, einen Inhalt zu vermitteln. Je schneller und einfacher ein Zeichen diesen Inhalt vermitteln kann, um so besser ist es. Der Sinn der Entwicklung unse87 Vgl. dazu den Artikel „Gutenberg-Galaxis“ in: Alexander Roesler und Bernd Stiegler (Hg.), Grundbegriffe der Medientheorie, Paderborn 2005, S. 77-81. 88 Vgl. dazu Eric Dluhosch und Rostislav Švacha (Hg.), Karel Teige: L’Enfant Terrible of the Czech Modernist Avantgarde, Cambridge (Mass.) und London 1999. 89 Moholy-Nagy, Malerei, Fotografie, Film, S. 37. 90 Ders., „Zeitgemäße Typographie – Ziele, Praxis, Kritik“, in: Passuth, Moholy-Nagy, S. 310313, S. 311. 91 Tschichold, Die neue Typographie, S. 65. 92 Moholy-Nagy, Malerei, Fotografie, Film, S. 37. 93 Vgl. Tschichold, „zeitgemäße buchgestaltung“, in: ders., Schriften 1925-1974, Bd. 1, S. 1726, S. 26: „das ideal der renaissance – das gleichmäßige grau der buchseite – ist aufgehoben; an seine stelle tritt die harmonie in bezug auf helligkeit, raumwirkung und richtung kontrastierender typografischer und fotogenischer elemente.“ 94 Ders., „Fotografie und Typografie“, S. 147.
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rer Schrift von einer Bilderschrift zur Buchstabenschrift war doch, die Verständigung zwischen Menschen soweit als möglich zu fördern. Heute sind wir in der Lage, manches einfacher mit einem Photo zu ‚sagen‘ als mit Worten.“95 Das Typofoto ist maßgeblicher Teil einer neuen Bild-Schrift, eines neuen Schrift-Bildes, das die scheinbare Dreidimensionalität der Photographie nutzt, um sie mit der flächigen Gestalt der Schrift zu kontrastieren und beide in ein Spannungsverhältnis setzt, das zur neuen visuellen Signatur der Zeit wird.96 „die fotografie wird,“ so heißt es programmatisch, „für unser zeitalter so symptomatisch sein wie für die gotik der holzschnitt.“97 Tschicholds knappe Skizze der Geschichte der Typographie, die er in diversen Texten variiert, wird ergänzt durch eine ebenso knappe Theorie der Rezeption, die in vielem Walter Benjamins Theorie der Erzählung ähnelt.98 Tschichold konstatiert einen radikalen Wandel in der alltäglichen Wahrnehmung von Schrift und Text. Das kontemplative Lesen eines Textes wird abgelöst von einem Überfliegen,99 von einer zerstreuten Aufmerksamkeit, die Texte bereits als Bilder wahrnimmt. Texte werden durch Bilder abgelöst, die – in Gestalt einer integrativen Typographie – zu Schriftbildern werden, die vor allem visuell kommunizieren. Das Typofoto „regelt das neue Tempo der neuen visuellen Literatur“,100 das an die Stelle des Vorlesens (man denke hier an Benjamins Typus des Erzählers) oder des „geruhsamen lesens in weltferner einsamkeit“101 das eilige, flüchtige und punktuelle Blicken setzt. Dieses erkennt in einem Augenblick den bildhaften Zusammenhang und entziffert die Botschaft, die, um überhaupt in dieser Weise rezipiert werden zu können, möglichst unmißverständlich sein muß und zugleich den Betrachter von einer Deutung zu entlasten hat. „Die Fotografie als typografisches Material verwendet, ist von größter Wirksamkeit. Sie kann als Illustration neben und zu den Worten erscheinen, oder als ‚Fototext‘ an Stelle der Worte als präzise Darstellungsform, die in ihrer Objektivität keine individuelle Deutung zuläßt.“102 So nimmt es kaum Wunder, daß die Bilder, die bisher in der Buchproduktion nur eine relativ marginale Rolle eingenommen haben, nun in den Vordergrund treten: „das frühere verhältnis ist in sein gegenteil verkehrt worden: illustrierten früher die wenigen bilder den text (100 zeilen 95 Ders., Die neue Typographie, S. 163. 96 Vgl. etwa ders., „Fotografie und Typografie“, S. 147: „durch das hinzutreten des fotoklischees haben wir uns des raumes und seiner dynamik bemächtigt. gerade auf dem kontrast zwischen den scheinbar dreidimensionalen gebilden der fotos und den flächigen formen der schrift beruht die starke wirkung der typografie der gegenwart.“ 97 Ebd., S. 150. 98 Vgl. dazu Walter Benjamin, Erzählen. Texte zur Theorie der Narration. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Alexander Honold, Frankfurt/Main 2007. 99 Vgl. Tschichold, „zeitgemäße buchgestaltung“, S. 17: „das laute und langsame lesen – das abtasten des einzelbuchstabens, des einzelwortes ist in unserer zeit dem überfliegen des textes gewichen.“ 100 Moholy-Nagy, Malerei, Fotografie, Film, S. 38. 101 Tschichold, „zeitgemäße buchgestaltung“, S. 19. 102 Moholy-Nagy, Malerei, Fotografie, Film, S. 38.
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Abb. 3-13 „Typosignets und Flaggen“, in: Jan Tschichold, Eine Stunde Druckgestaltung
Abb. 3-14 „Der Prospekt“, in: Jan Tschichold, Eine Stunde Druckgestaltung
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= 1 bild), so beschreibt heute der geringe text die bilder (10 bilder = 10 zeilen).“103 Der Text verwandelt sich zu einer erläuternden Bildunterschrift, zu einer, wie Benjamin sagen würde, „Beschriftung“.104 Photographie + Grotesk Tschicholds programmatische Neubestimmung der Typographie hat eine weitere entscheidende Pointe, da er sich nicht damit begnügt, der Photographie eine besondere Rolle in der modernen Gestaltung zuzuweisen, sondern sie zugleich mit einer besonderen Schrift – und nur einer einzigen – parallelisiert: der Grotesk. „Es gibt nur eine objektive schriftform – die grotesk – und nur eine objektive aufzeichnung unserer umwelt – die fotografie.“105 So wie die Photographie pars pro toto für das neue Regime der Bilder steht, so gilt dies analog für die Grotesk im Reich der Schrift. Die Photographie ist die Bildform der Gegenwart und die Grotesk ist die Schriftform der Moderne: „Die Grotesk ist die Schrift der Gegenwart, wie die gotische Schrift die Schrift des ausgehenden Mittelalters war oder wie die neue Architektur die Baukunst unserer Zeit ist.“106 Und erst in der Verbindung von Bild und Text, von Photographie und Grotesk kann die Typographie das Programm der Revolution der modernen Typographie einlösen. Beide stehen für eine unpersönliche, sachliche, überindividuelle, universelle und objektive, sprich technische Erscheinungsform in Bild und Schrift. Nun zieht Tschichold alle Register: Die Grotesk ist die einzige Schriftart, „die unserer Zeit gemäß ist“,107 ist „die einzige Schrift alles wirklich Neuen. Sie ist feierlich und profan zugleich; sie ist die beste Schrift für eine Staatsverfassung (wen man nur alle aus ihr setzen könnte!) ebenso wie für eine Paketkarte.“108 Und weiter: die Grotesk ist die einzige Schriftart, die clara et distincta, präzise und wahr ist, die die üppige und ausladende barocke Erscheinung der tradierten Schriften bis aufs Skelett (denn, so Tschichold, ihre „richtige Bezeichnung wäre ‚Skelettschrift‘“109) reduziert und so die Zeit in Schrift faßt: „Wie jede Zeit, müssen auch wir nach einer Schrift suchen, die unser eigener Ausdruck ist. Unsere Zeit ist gekennzeichnet durch ein allgemeines Streben nach Klarheit und Wahrheit, nach der reinen Erscheinung.“110 Diese „reine Erscheinung“ ist die Photographie im Reich der Bilder und die Grotesk in jenem der Schrift. Die Verbindung von beiden, die – mit einem Ausrufezeichen versehene – „synthese: fotografie
103 104 105 106 107 108 109 110
Tschichold, „zeitgemäße buchgestaltung“, S. 20. Vgl. Benjamin, „Kleine Geschichte der Photographie“. Tschichold, „Fotografie und Typografie“, S. 150. Ders., „Wo stehen wir heute?“, in: ders., Schriften 1925-1974, Bd. 1, S. 102-106, S. 102. Ders., Die neue Typographie, S. 75. Ders., „Wo stehen wir heute?“, S. 104. Ebd. Ders., Die neue Typographie, S. 80.
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+ grotesk!“111 ist für Tschichold die elementare Typografie,112 die die Revolution der Typographie auf eine grundlegende Erscheinungsform in Bild und Schrift bringt, denn: „beiden ist aber gemeinsam: die objektivität und unpersönliche form, die sie als zeitgemäße mittel erweist.“113 Funktionalismus und seine Kritik Zwanzig Jahre später erblickte Tschichold gerade in dieser Parallelisierung von Bild und Schrift, von Photographie und Grotesk den Ausdruck einer fehlgeleiteten Entwicklung, die die Schriftentwicklung einer Maschinenästhetik unterworfen hatte. Was Revolution war, wird nun zum Ausdruck einer präfaschistischen Ästhetik. Was modern war, wird nun zur typographischen Ausdrucksform eines fehlgeleiteten Funktionalismus: „Wir sahen in den Industrieprodukten ästhetische Vorbilder, hielten – irrtümlich, wie sich später zeigen sollte – die Grotesk für die einfachste Schrift und erklärten sie für ‚die‘ moderne Schrift.“114 In seiner (Selbst)Kritik dieses ästhetisch-typographisch-photographisch-gesellschaftlichen Programms näherte sich Tschichold durchaus philosophischen Positionen an wie etwa Theodor W. Adornos und Max Horkheimers finsterer Analyse in ihrer Dialektik der Aufklärung, in der bekanntlich der Funktionalismus in Gestalt der Zweckrationalität geschichtsphilosophisch gewendet als Umschlag der Aufklärung in Mythos gedeutet und zur Erklärungsfigur des Faschismus und Totalitarismus wurde. So auch bei Tschichold, der nun in der modernen revolutionären Typographie eine Ausdrucksform des Nationalsozialismus erblickt: „Es erscheint mir aber kein Zufall, daß diese Typographie fast nur in Deutschland geübt wurde und in den anderen Ländern kaum Eingang fand. Entspricht doch ihre unduldsame Haltung ganz besonders dem deutschen Hang zum Unbedingten, ihr militärischer Ordnungswille und ihr Anspruch auf Alleinherrschaft jener fürchterlichen Komponente deutschen Wesens, die Hitlers Herrschaft und den zweiten Weltkrieg ausgelöst hat.“115 Tschichold entwickelte dabei seine Selbstkritik am Gegenmodell Max Bills, der für ihn pars pro toto für ein Fortleben der alten Überzeugungen noch in der Nachkriegszeit stand. Bill hatte bereits in dem Sammelband Der gefesselte Blick der Brüder Rasch eine Position bezogen, die Tschicholds eigenen Überzeugungen keineswegs fern stand, von dieser aber im Gegensatz zu jenem keineswegs Abstand genommen. Bill formulierte dort seinerseits programmatisch: „jede gestaltung, im sinne unserer heutigen lebensbedingungen, erfordert größmöglichste wirtschaft111 Ders., „Fotografie und Typografie“, S. 150. 112 So auch der Titel des programmatischen Sonderhefts der Typographischen Mitteilungen, 1925. 113 Tschichold, „Fotografie und Typografie“, S. 150. 114 Ders., „Glaube und Wirklichkeit“, S. 311 f. 115 Tschichold, „Glaube und Wirklichkeit“, S. 312.
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lichkeit. Größtenteils ist klarheit das wirtschaftlichste. […] druckgestaltung ist organisation von satzbildern, die durch lesbarkeit bedingt sind und erfordert psychologische gedankengänge, die typisierung einer drucksache ist eine zweckmäßigkeitsforderung, die variabilität hingegen eine forderung der artverschiedenheit der verbraucher“.116 Knapper und konsequenter läßt sich eine ökonomische Grundierung der Gestaltungsprinzipien kaum formulieren. Die Entwicklung der Schrift und die typographische Revolution folgen den Direktiven einer pragmatischen Typisierung: (graphische) Typen sollen typenbildend wirken, wobei die „Artverschiedenheit“ billigend in Kauf genommen wird und durch eine möglichst universale Normierung kompensiert werden soll. Zweckmäßigkeit ist vor allem anderen ein ökonomisches Kalkül – und das seitens der Produktion wie der Rezeption: Die typographische Revolution reagiert auf die nunmehr knappe Ressource der Aufmerksamkeit und versucht mittels einer möglichst ökonomischen Gestaltungsform, die Text und Bild als visuelle Kürzel oder Marker nutzt, Wirksamkeit zu erzielen. Demgegenüber kritisiert Tschichold, daß sich die neue Typographie insbesondere vorzüglich zur „Propaganda von Industrieprodukten, aus deren Geist sie geboren ist“,117 eignet und eine schlichte „naive Überschätzung des technischen Fortschritts“118 darstellt. Am Anfang wie am Ende steht die Maschine: „Die Maschine kann alles. Sie hat kein eigenes Gesetz und kann keine einzige Form selber gebären.“119
116 Max Bill, in: Rasch (Hg.), Gefesselter Blick, S. 23-25, S. 23 f. Zur Debatte zwischen Bill und Tschichold vgl. Hans Rudolf, Der Typografiestreit in der Moderne. Max Bill kontra Jan Tschichold, Zürich 2012. 117 Tschichold, „Glaube und Wirklichkeit“, S. 313. 118 Ebd., S. 314. 119 Ebd., S. 315.
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2. Visuelle Alphabetisierung II: Photographische Alphabetisierung
„Wir sind wieder zu Analphabeten geworden. […] Wir wollen nicht länger Analphabeten sein!“1 Werner Graeff
Von László Moholy-Nagy stammt das bereits zitierte bekannte Diktum, „daß die kenntnis der fotografie ebenso wichtig ist, wie die kenntnis der schrift, so daß in der zukunft nicht nur der schrift-, sondern auch der fotounkundige als analfabet gelten wird.“2 Spätestens mit Walter Benjamin ist es berühmt geworden. In seiner „Kleinen Geschichte der Photographie“ dient es der Proklamierung einer neuen visuellen Alphabetisierung, eines neuen Sehens. Eingedenk der radikalen gesellschaftlichen Veränderungen im Zuge der Modernisierung aller Lebensbereiche ist, so der diagnostische Gemeinplatz, eine neue Wahrnehmung gefordert, die in der Photographie ihren Prüfstein findet. Diese gilt es in ihren vielfältigen Erscheinungsformen überhaupt erst zu lesen, will man mit den Herausforderungen der radikalen gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen und mit ihnen der neu entstandenen Visual Culture Schritt halten.3 Die Photographie und auch der Film sind gerade als technische Medien privilegierte Orte einer neuen Wahrnehmung. Sie produzieren bereits technische Bilder, deren angemessene Deutung noch aussteht. Die überkommenen Deutungsmuster sind, so seine These, nicht hinreichend, will der menschliche Wahrnehmungsapparat nicht hinter den veränderten Wahrnehmungsbedingungen, an die er sich eigentlich anzupassen hätte, und den neuen Bildformen, die bereits überall im Alltag anzutreffen sind, zurückbleiben. 1 Werner Graeff, „Wir wollen nicht länger Analphabeten sein. (Zum Problem einer Internationalen Verkehrszeichensprache)“, in: De Stijl, Bd. VII, Nr. 79-84, Leiden 1927 (online unter: http://www.wernergraeff.de/zeichensprache/zeichensprache.html) (letzter Zugriff am 28.4.2016) 2 László Moholy-Nagy, „fotografie: die objektive sehform unserer zeit“, in: Krisztina Passuth, Moholy-Nagy, Weingarten 1986, S. 342-344, S. 344, ursprünglich in: telehor, Sonderheft über Moholy-Nagy, 1936, S. 120ff. 3 Vgl. dazu auch Béla Balász, Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Frankfurt/Main 2001 (EA 1924). Balász beginnt seine Überlegungen mit der Feststellung, daß es eine neue „visual culture“ des sichtbaren Menschen und der neuen Bildsprache des Films gebe, die gegenüber einer „Babelisierung“ durch die Schrift eine andere Verständlichkeit eröffne.
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Die von Benjamin konstatierte Historizität der Wahrnehmung ist das eine, ihre Adaptation und Neujustierung das andere. Auf den Plan tritt nun das Programm einer photographischen Alphabetisierung, deren Aufgabe es ist, den Menschen fit für die Moderne zu machen und ihm zugleich ein kritisches Deutungsinstrumentarium an die Hand zu geben, das in der Lage ist, in der vielfach konstatierten Bilderflut und inmitten der Beschleunigung der alltäglichen Wahrnehmungen die Aufnahmen als „Beweisstücke im historischen Prozeß“, wie es im Text heißt, zu lesen. Es geht mit anderen Worten um das Programm einer visuellen Aufklärungsarbeit, deren Ziel es ist, technische Bilder angemessen, kritisch und informiert zu lesen. Dabei gehen Bild und Text Hand in Hand. Beide finden zueinander im Sinne einer neuen Lesbarkeit der Welt, für die das Alphabet erst zu bestimmen sein wird. Bei Benjamin lautet das Moholy-Diktum etwas anders als in der Vorlage: „Nicht der Schrift-, sondern der Photographieunkundige wird, so hat man gesagt, der Analphabet der Zukunft sein. Aber muß nicht weniger als ein Analphabet ein Photograph gelten, der seine eigenen Bilder nicht lesen kann? Wird die Beschriftung nicht zum wesentlichsten Bestandteil der Aufnahme werden? Das sind die Fragen, in welchen der Abstand von neunzig Jahren, der die Heutigen von der Daguerreotypie trennt, seiner historischen Spannungen sich entlädt. Im Scheine dieser Funken ist es, daß die ersten Photographien so schön und unnahbar aus dem Dunkel der Großvätertage heraustreten.“4 Zeit- und Wahrnehmungsregime Benjamin konstatiert in seiner „Kleinen Geschichte“ eine historische Zäsur, die auf unterschiedlichen Zeit- und Wahrnehmungsregimes beruht. Während die Daguerreotypien und die Photographien in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch Teil einer oralen Kultur sind, gilt das für die neuen Bilder nicht mehr: Sie sind bereits konstitutiv für eine Informationsgesellschaft, die nun nicht länger auf Dauer und Kontinuität, sondern auf Punktualität und Aktualität setzt. Dementsprechend wird die Erzählung, das alte Modell der Wissens- und Erfahrungsübermittlung, abgelöst durch neue Formen, für die das, was Benjamin Beschriftung nennt, entscheidend ist. Die Aufnahme kann nur dadurch zur Information werden, daß ihre je eigene individuelle Raum-Zeit-Stelle schriftlich fixiert und ausgewiesen wird. Das Bild al4 Walter Benjamin, „Kleine Geschichte der Photographie“, S. 385. Vgl. ebf. ders., „Neues von Blumen“, in: GS, Bd. III, S. 151-153, S. 151: „Er [Blossfeldt, B.S.] hat in jener großen Überprüfung des Wahrnehmungsinventars, die unser Weltbild noch unabsehbar verändern wird, das Seine geleistet. Er hat bewiesen, wie recht der Pionier des neuen Lichtbilds, Moholy-Nagy hat, wenn er sagt: ‚Die Grenzen der Photographie sind nicht abzusehen. Hier ist alles noch so neu, daß selbst das Suchen schon zu schöpferischen Resultaten führt. Die Technik ist der selbstverständliche Wegbereiter dazu. Nicht der Schrift- sondern der Photographieunkundige wird der Analphabet der Zukunft sein.‘“
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VISUELLE ALPHABETISIERUNG II: PHOTOGRAPHISCHE ALPHABETISIERUNG
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lein ist nicht ausreichend, will man es angemessen deuten. Zu ihm müssen Angaben hinzutreten, die die konstitutive Uneindeutigkeit des Abgebildeten präzisieren, es verorten und verzeitlichen. Für Walter Benjamin sind Photographien derjenige Bereich der modernen Kultur, an dem sich erweist, ob diese überhaupt in der Lage ist, mit den Bildern Schritt zu halten und demokratische, aufgeklärte Formen ihrer Deutung und mit ihr der neuen technischen Welt auszubilden. Es geht um nichts Geringeres als um den deutenden Zugang zur Wirklichkeit, um einen Paradigmenwechsel der Kommunikationsformen. Dafür braucht es, so bekanntlich Benjamins Forderung, eine präzise Datierung und Adressierung der Photographien. Auch das ist wenn schon nicht common sense der Zeit, wohl aber eine These, die bereits Siegfried Kracauer in seinem Essay „Die Photographie“ von 1927 formuliert hat.5 Dort stellt er eine suggestive „Parallelmontage“ an den Anfang, bei der es um die Frage der Lesbarkeit von Photographien insgesamt geht: zwei Bilder, die nicht nur jeweils einer anderen Zeit entstammen, sondern auch ein unterschiedliches Geschichtsund Erinnerungsregime repräsentieren. Auf der einen Seite die Großmutter in Gestalt einer Studioaufnahme aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, auf der anderen eine Filmdiva auf der Titelseite einer Illustrierten. Was unterscheidet nun die Photographie der vierundzwanzigjährigen Diva von derjenigen der seinerzeit ebenso alten Großmutter? In welcher Weise wollen und sollen Photographien gelesen werden? Welche Bedeutung hat die Erinnerung für die Wahrnehmung? Und welche Beziehung ergibt sich zwischen Photographie, Erinnerung und Geschichte? Das sind Kracauers Fragen, die Benjamin dann später aufnehmen wird, um eine etwas andere Antworten zu geben. Kracauers Vergleich zielt auf eine kritische Analyse der illustrierten Presse, deren Lesbarkeit in Frage steht. In einer Zeit, in der mit einem Mal Photographien zu einem Massenmedium werden, ist ein radikal verändertes Verhältnis zur Geschichte als solcher zu diagnostizieren. Die beiden Photographien sind Modelle soziokultureller Zeit- und Geschichtsregime. Ihre Geschichtlichkeit ist dabei auch notwendiger Teil der geforderten Lesbarkeit. An den Photographien wird ein Wandel des Bildes und mit ihm ein Wandel des Verhältnisses zur Geschichte und zur Wirklichkeit überhaupt deutlich. Die in der Zwischenkriegszeit einsetzende Allgegenwart der Photographien in der Presse, führe, so Beschreibungen der Zeitgenossen, dazu, daß Betrachter ein eigenes Bildgedächtnis ausbilden. Kracauer ist hingegen der Auffassung, daß das Gegenteil der Fall ist: Für ihn sind die omnipräsenten Photographien gerade ein Zeichen des Verschwindens der Geschichte, des Gedächtnisses und der Erinnerung, die von den reproduzierten Bildern der Gegenwart aufgeso5 Siegfried Kracauer, „Die Fotografie“, in: Wolfgang Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie, Bd. 2, München 1979, S. 101-112. Kracauers weitere Essays zur Photographie (aus dieser Zeit sind dies insbesondere „Photographiertes Berlin“ und „Anmerkungen über Portrait-Photographie“) sind jüngst in einer englischen und französischen Edition erschienen: Siegfried Kracauer, The Past’s Threshold. Essays on Photography, hg. von Philippe Despoix und Maria Zinfert, Berlin 2014 (bzw. Le Seuil du Temps, Paris 2013); vgl. auch die Edition von Kracauers Privatphotos: Kracauer. Fotoarchiv, hg. von Maria Zinfert, Berlin 2014.
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gen und durch diese ersetzt werden. Dem Bildgedächtnis der Betrachter fehlt eben ein historischer Index, es ist ein Gedächtnis der reinen Gegenwart, die auch im historischen Rückblick nur als Gegenwart der Aufnahme erkennbar wird. Auch bei Kracauer findet sich die Unterscheidung zwischen der longue durée der oralen Gesellschaft und der Punktualität der modernen. Er faßt es in die Unterscheidung von verdichteten Erinnerungs- oder Gedächtnisbildern einerseits und der kontingenten Punktualität von Photographien andererseits. Beide haben eine grundsätzlich andere Beziehung zur Geschichte. Die Photographie ist notwendig zeitgebunden, „erfaßt das Gegebene als räumliches (oder zeitliches) Kontinuum“,6 zeigt das Dargestellte eben nur im Moment dieser Aufnahme. Daher bleiben, wenn die „mündliche Tradition“ der Erzählung wegfällt, die Wahrnehmung des Bildes der Großmutter und seine Bedeutung notwendig unvollständig. Ohne diese bleibt die Photographie eine Darstellung einer jungen Frau „in Krinoline und Zuavenjäckchen“, das von der Mode im Jahr 1864 zeugt, aber dem Erinnerungsbild der Großmutter nicht entsprechen kann. Demgegenüber bewahren die Gedächtnisbilder das Gegebene, „insofern es etwas meint“,7 sie überspringen Zeit und Raum, wählen entsprechend der Bedeutung aus, sind notwendig lückenhaft, Fragmente von Bedeutung. Sie sind, in Begriffen Freuds, Ergebnisse der Verfahren von Verschiebung und Verdichtung, erfordern aber eine Durchdringung durch das Bewußtsein, um Erkenntnis werden zu können. Durch die Reduzierung sämtlicher Gedächtnisbilder wird ein Erinnerungsbild geformt, das die Bedeutung von Geschichte hat: „Das letzte Bild eines Menschen ist seine eigene Geschichte.“8 Und weiter: „Das letzte Gedächtnisbild überdauert seiner Unvergeßlichkeit wegen die Zeit; die Fotografie, die es nicht meint und faßt, muß wesentlich dem Zeitpunkt ihrer Entstehung zugeordnet werden.“9 Damit sind wir wieder bei Benjamin, der nun diese Zuordnung in Gestalt einer „Beschriftung“ der modernen Photographie als Aufgabe mit auf den Weg gibt: Datierung und Adressierung gehören fortan notwendig mit zur Photographie, wenn diese gelesen werden will. Text und Bild gehen fortan notwendig Hand in Hand. Bei Kracauer wird am Ende bei den Photographien nur die reine Kontingenz des Bestehenden und mit ihr eine „heilsame Entfremdung“ deutlich: Photographien zeigen, daß auch alles anders sein könnte. Bei Benjamin mündet die „Kleine Geschichte der Photographie“ in eine explizitere politische Agenda: Die Beschriftung der Photographien macht aus ihnen Beweisstücke, verwandelt sie in historische Argumente, deutet die Kontingenz als Möglichkeit zur Veränderung. Fortan müssen Bilder nicht nur gelesen werden, sie sind auch notwendig montiert und ebenso notwendig mit Texten, mit Schrift assoziiert. Text und Bild sind die Doppelgestalt der photographischen Alphabetisierung.
6 7 8 9
Ders., „Die Photographie“, S. 103. Ebd. Ebd., S. 104. Ebd., S. 105.
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Wohin geht die photographische Entwicklung? Es kommt mir hier nun weniger darauf an, Walter Benjamins Kultur-, Kommunikations- und Medientheorie darzustellen und kritisch zu beleuchten oder auch seine diversen Quellen zu rekonstruieren, als vielmehr sie als exemplarische Form eines neuen Programms zu begreifen, das in dieser Zeit omnipräsent ist. Benjamins Text ist in vieler Hinsicht eine Amalgamierung von Thesen, die an anderem Ort bereits formuliert wurden und von ihm aufgegriffen und zugespitzt werden. Alle zentralen Thesen wurden andernorts bereits aufgestellt, und auch die Bilder stammen aus bekannten Quellen: Sein Text kulminiert daher nicht nur in einer Theorie der Montage, sondern ist selber eine solche. Das gilt etwa für die Kritik an RengerPatzsch, aber auch für sein Phasenmodell der Geschichte der Photographie, die sich bereits zusammen mit Moholys Diktum 1929 an prominenter Stelle finden: in dem von Jan Tschichold und Franz Roh herausgegebenen Band Foto-Auge, der seinerseits wiederum auf die berühmte „Fifo“, die Werkbund-Ausstellung „Film und Fotografie“ zurückgeht, die 1929 in Stuttgart gezeigt wurde.10 Dort war auch Moholy-Nagy federführend. Er gestaltete den Raum „Wohin geht die fotografische Entwicklung?“, durch den die Besucher als ersten hindurchgingen und mit ihm den durch die Photographie neu eröffneten Raum der Wahrnehmung betraten. In dem gleichnamigen Essay Moholys findet sich dann erneut das Diktum. Deutlicher könnte der programmatische Charakter der Ausstellung kaum angezeigt werden.11 Walter Benjamins historisch-theoretischer Entwurf versucht nun das, was in der Ausstellung in visueller Form in Angriff genommen wird, in einen politischästhetischen Essay zu überführen. Alle seine Beispiele stammen aus einer überaus überschaubaren Zahl von Publikationen, die ihm sein Geschichtsmodell in bereits geprägter Form zur Verfügung stellen.12 Auch seine These einer frühen Hochzeit, ihres Niedergangs zur Zeit der Jahrhundertwende und einer erneuten Blüte der Photographie findet sich vorformuliert in Franz Rohs Einleitungstext von FotoAuge. Es handelt sich also um eine Art common sense der Photographietheorie seiner Zeit – und das inklusive der These der photographischen Alphabetisierung. Die These findet sich daher in höchst unterschiedlichen Kontexten: neben der FiFo etwa in Publikationen wie jener von Roh und Tschichold, aber auch Programmen der politischen Propaganda (etwa im Kontext der russischen Avantgarde, aber auch der Arbeiterphotographie in Deutschland), zahlreichen Photo-Büchern der 10 Vgl. zur historischen Rekonstruktion der Renger-Kritik oben S. 216-221. 11 Vgl. zur FiFo Karl Steinorth (Hg.), Internationale Ausstellung des Deutschen Werkbundes Film und Foto Stuttgart 1929, Stuttgart 1979 (= Reprint des Katalogs von 1929); Ute Eskildsen und Jan-Christopher Horak (Hg.), Film und Foto der zwanziger Jahre. Eine Betrachtung der Internationalen Werkbundausstellung ‚Film und Foto‘ 1929, Stuttgart 1979. 12 Vgl. dazu Bernd Stiegler, „Walter Benjamins Photoalbum oder das Lesen von Photographien als Kulturtechnik“, in: ders., Montagen des Realen. Photographie als Reflexionsmedium und Kulturtechnik, München 2009, S. 177-202 (dort auch mit Nachweisen der von Benjamin verwendeten Quellen).
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Zwischenkriegszeit und nicht zuletzt auch einschlägigen Photo-Zeitschriften. Auch wenn die These nicht explizit auftaucht, so ist sie gleichwohl programmatisch hinsichtlich der intendierten spezifischen Wirkung: ein Besuch einer Ausstellung, die Teilnahme an einem Photo-Wettbewerb, die Lektüre eines Photo-Buchs oder eines kulturkritischen Essays und, last but not least, ein veränderter Umgang mit der eigenen Kamera sind einige Beiträge unter vielen dieser geforderten photographischen Alphabetisierung, deren Umsetzung auf der ästhetisch-politischen Agenda an vorderster Stelle stand. Einige Belege pars pro toto: Franz Roh konstatiert in seinem Einleitungstext in Foto-Auge ungleich knapper als Benjamin, daß „Menschen ohne Kamerabeherrschung bald wie Analphabeten wirken werden“.13 Für den Umschlag von Foto-Auge fand eine Aufnahme von El Lissitsky Verwendung, bei der das ABC maßgeblicher Teil der Gestaltung ist. Die enorme Faszination dieser These für die Ästhetik der Moderne zeigt sich aber auch darin, dass in der holländischen AvantgardeZeitschrift i 10 der Satz gleich zwei Mal an herausgehobener Stelle zitiert wird – beim zweiten Mal als faksimilierter Zeitungsausriß aus der B.Z. am Mittag vom 20. Juli 1928, in welchem Photographieunterricht in der Schule gefordert wird.14 Auch Zeitschriften wie der Arbeiterfotograf sollten sich die Aufgabe der kameratechnischen Alphabetisierung auf ihre Fahnen schreiben und zur programmatischen politischen Aufgabe machen: Willst Du die Welt verändern, so mußt Du sie photographieren. Der vermeintlich affirmative Akt des Photographierens wird zu einem des Widerstands. Auch das ist photographische Alphabetisierung. Wir sehen: Photographische Alphabetisierung ist ein zentraler Topos der Avantgarden und zugleich Leitspruch der photographischen Welt insgesamt. Auch politisch dezidiert nationalkonservative Positionen, wie etwa die von Ernst Jünger herausgegebenen Photo-Bücher, sollten sie – nach anfänglicher Zurückhaltung – aufnehmen. An diese These anschließend finden sich zahlreiche Überlegungen, die Photographie, wenn sie denn schon maßgeblichen Anteil an der visuellen Alphabetisierung hat, gleich als neue Weltsprache zu begreifen. Es gibt nicht nur die kommunistische Internationale, sondern eben auch die photographische. Als August Sander, dessen Buch Antlitz der Zeit in Benjamins „Kleiner Geschichte der Photographie“ als eine regelrechte Sehschule gewürdigt wird, eine Serie von Radiovorträgen im Westdeutschen Rundfunk hält, versucht er in dem fünften von ihnen die „Photographie als Weltsprache“ zu begreifen.15 Dem schließt sich dann auch Sasha
13 Franz Roh, „Mechanismus und Ausdruck. Wesen und Wert der Fotografie“, in: ders. und Jan Tschichold, foto-auge – œil et photo – photo-eye, Tübingen 1929, S. 3-6 dort S. 3. 14 Vgl. i 10, Bd. 1, Nr. 6, 1927, sowie Bd. 2, Nr. 14, 1928, S. 48. Moholy-Nagy verwendet das Diktum mehrfach, so etwa neben der zitierten Stelle auch in: „Wohin geht die photographische Entwicklung?“, in: AGFA-Photoblätter, Bd. 8, 1931/1932, S. 267-272, S. 272. 15 August Sander, „Wesen und Werden der Photographie. Die Photographie als Weltsprache“, 5. Vortrag, 1931. REWE-Bibliothek in der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur – August Sander Archiv.
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Abb. 3-15 Werbebroschüre für das Buch Foto-Auge, 1929. Entwurf von Jan Tschichold
Stone im gleichen Jahr in einem Artikel in Das Kunstblatt an.16 Raoul Hausmann spricht in seinem Aufsatz „Formdialektik der Fotografie“ dann auch vom „‚Lesen‘ eines Fotos“ und legt in seinem Gespräch mit Werner Graeff ihm dann die Formulierung dieser Aufgabe in den Mund.17 Graeff wiederum publiziert gleich mehrere Aufsätze zu diesem Thema.18 Gleiches gilt für Hans Richter, dessen Buch Filmgegner von heute – Filmfreunde von morgen ebenfalls auf Material der FiFo zurückgreift, und der zusammen mit dem Experimentalfilmer Viking Eggeling das Pamphlet „Universelle Sprache“ verfaßte, das zwar heute in keinem einzigen vollständigen Exemplar überliefert ist, seinerzeit aber breit verschickt wurde, u.a. an Albert Einstein und die UFA.19 Doch was heißt das nun konkret? Wie sieht das Programm der photographischen Alphabetisierung aus?
16 Sasha Stone, „Photo-Kunstgewerbereien“, in: Das Kunstblatt, Bd.. 12, 1928, S. 86f. 17 Raoul Hausmann, „Formdialektik der Fotografie“, in: ders., Photographisches Sehen, S. 86f., S. 87 und ders., „Wie sieht der Fotograf?“, in: ebd., S. 72-82, S. 74. 18 Werner Graeff, „Wir wollen nicht länger Analphabeten sein“; ders., Schriftsteller und Typograph (online unter: http://www.wernergraeff.de/gestaltung/gestaltung.html) (letzter Zugriff am 28.4.2016). Zu Graeff vgl. Ursula Hirsch (Hg.), Werner Graeff. Hürdenlauf durch das 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2010. 19 Hans Richter, Filmgegner von heute – Filmfreunde von morgen, Zürich 1968, Reprint der Originalausgabe von 1929. Dort etwa S. 89: „Man hat in den Assoziationen Elemente einer Bildersprache – Mittel der Filmpoesie.“ Ders. und Viking Eggeling, Universelle Sprache, Pamphlet, Forst i.L. 1920. Überdauert haben immerhin einige Seiten des Entwurfs. Vgl. expl. http://www.see-this-sound.at/werke/841 (letzter Zugriff 29.1.2015).
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Das Programm der photographischen Alphabetisierung Bemerkenswert ist hier bereits der ausführlichere Kontext bei Moholy-Nagy. In seinem Aufsatz „fotografie: die objektive sehform unserer zeit“ steht das Diktum am Ende inmitten einer Reflexion über den seriellen Charakter der neuen Photographie: „es gibt keine überraschendere, doch in ihrer natürlichkeit und organischen bindung einfachere form als die fotografische serie. darin kulminiert die fotografie schlechthin; die serie ist kein ‚bild‘ mehr, an sie können keine bildästhetischen maßstäbe angelegt werden, das einzelbild als solches verliert in ihr sein eigenleben, wird montageteil, stützung eines ganzen, das die sache selbst ist. in diesem zusammenhang ihrer einzelnen teile kann die serie auf ein bestimmtes ziel die stärkste waffe, aber auch die zarteste dichtung sein. ihre wirkliche bedeutung wird in einer viel späteren, weniger unklaren zeit, als es die unsere ist, erschlossen werden. die vorbedingung allerdings ist, daß die kenntnis der fotografie ebenso wichtig ist, wie die kenntnis der schrift, so daß in der zukunft nicht nur der schrift-, sondern auch der fotounkundige als analfabet gelten wird.“20 Photographische Alphabetisierung ist, so können wir festhalten, insbesondere dann gefordert, wenn es um Serien geht und das heißt konkret bei Ausstellungen, Zeitschriften, in denen nun auch Serien zuhauf Verwendung finden, und nicht zuletzt in Photo-Büchern. Photographische Alphabetisierung setzt Montage voraus und versteht sich als Lektüre von miteinander verketteten Bildern, die eine spezifische Form von Narration und Bildlogik ausbilden. Sie reagiert damit zugleich auch auf das, was auch bei Benjamin betont wird: ihre Nähe zur industriellen Serienproduktion. Es geht um das Gesetz der Serie. Photographische Alphabetisierung zielt schließlich, allgemein gesprochen, auf eine Bild-Kompetenz, auf eine Lesbarkeit der photographischen Welt. Wenn nun binnen kurzer Zeit zahlreiche Ausstellungen das „neue Sehen“ programmatisch zu ihrem Gegenstand machen und dies auch in einer Fülle von Photo-Büchern geschieht, so sind diese als Versuche zu verstehen, das Alphabetisierungsprogramm umzusetzen und den Lesern bzw. Besuchern eine Art Sehschule oder Photo-Fibel zu sein – denn daß Photographien zu lesen seien, ist das eine, wie sie aber zu lesen sind, das andere. Alphabetisierung ist – und das ist spätestens seit Friedrich Kittlers Aufschreibesysteme in den Medienund Kulturwissenschaften deutlich geworden – keineswegs eine neutrale Kulturtechnik, sondern ein Herrschaftsinstrument, ein Verfahren der kulturellen Normierung. Photographien werden zum Kampfplatz von politischen Theorien und Überzeugungen, von ästhetischen Strategien und Verfahren und kulturell-historischen Analysen und Diagnosen. Ausstellungen und Photo-Bücher sind die bevorzugten Mittel ihrer Umsetzung. Sie zielen auf eine kalkulierte visuelle Performanz, die über Bilder politische Überzeugungen, Deutungen der Wirklichkeit und Neucodierungen der Wahrnehmung umzusetzen suchen. Daher die plötzlich einsetzende Flut an Photo-Büchern inmitten der konstatierten Bilderflut. Es geht dar20 Moholy-Nagy, „fotografie: die objektive sehform unserer zeit“, S. 344.
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um, diese zu kanalisieren, sie in eine bestimmte, genau kalkulierte Richtung zu lenken. Franz Roh formuliert das in „mechanismus und ausdruck“, mit dem die Sehschule von Foto-Auge beginnt, ebenso nüchtern wie deutlich. „mit recht hat man gesagt,“ heißt es nun dort, „dass menschen ohne kamerabeherrschung bald wie analfabeten wirken werden – ich glaube sogar, dass mittelschulen jene erlernung bald in ihren sog. zeichenunterricht einbauen werden (hoffentlich unter abstossung veralteter fächer dafür). denn die pädagogik gliedert – naturnotwendig nachklappend – immer diejenigen techniken in ihre unterrichtspläne ein, die der erwachsenschicht allgemein zu werden beginnen.“21 Photopraxis soll Teil des Unterrichts werden und die photographische Alphabetisierung dann auch eine spezifische Produktion von Bildern befördern. Es geht keineswegs darum, daß man nur photographiert – man soll dies vielmehr in besonderer Weise tun. Wie das geschehen könnte, führt dann im Wortsinn der Bildteil des Buches vor Augen. Wenn Moholy-Nagy die Frage nach dem „Wohin“ der photographischen Entwicklung gestellt hatte, so versuchen Roh und Tschichold darauf eine klare Antwort zu geben: So könnten die Bilder aussehen, die ein nun bereits photographisch aufgeklärtes „Neues Sehen“ hervorbringt. Die Sprache der photographischen Bilder: Photo-Bücher Die Geschichte des Photo-Buchs, wie sie heute rapide kanonisiert wird, beginnt mit den Avantgarden.22 Für diese nun, um einen Begriff André Bretons zu verwenden, konvulsivisch entstehenden Fülle, gibt es einen guten und gewichtigen Grund: das Projekt der photographischen Alphabetisierung. Gerade das PhotoBuch der Avantgarden ist das wichtigste Medium zur Durchsetzung dieser neuen Visual Culture, die eben in der Photographie die Möglichkeit einer regelrechten visuellen Alphabetisierung erblickt. Das vielfach apostrophierte „Neue Sehen“ findet hier seine Ausdrucksform. Es geht dabei um nichts Geringeres als um eine neue visuelle Sprache, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, eine neue Syntax und Se21 Roh, „mechanismus und ausdruck“, S. 3f. Roh stellt sich die Photographie als eine neue internationale Sprache vor und erläutert dies an einem Beispiel: „Und wenn um 1800 jemand auf grosser reise 500 seiten tagebuch schrieb, so bringt er heute 100 meter leika (sic!)-filmstreifen heim. diese können mehr vollerinnerung enthalten als das wort, denn sie sind anschauungsgesättigt. räumlich wie zeitlich werden sie auf weitere strecke hin wirken, denn sie bedienen sich der internationalen sprache äusserer umwelt, die sich weder nach jahrhunderten noch nach ländern grundsätzlich verändert.“ (Ebd., S. 4) 22 Dazu exempl. Martin Parr und Gerry Badger, The Photobook: A History, Bd. 1, London 2004; Bd. 2, London 2006, Bd. 3, London 2014; Andrew Roth (Hg.), The Open Book. A History of the Photographic Book from 1878 to the Present, Göteborg 2004; Michèle und Michel Auer, Photo Books. 802 Photo Books from the M. + M. Auer Collection, Hermance 2007. Für den deutschsprachigen Bereich: Roland Jaeger und Manfred Heiting (Hg.), Autopsie. Deutschsprachige Fotobücher 1918 bis 1945, Bd. 1, Göttingen 2012.
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mantik, Grammatik und Lexik, aber auch Schrift zu entwerfen. Daher die Begeisterung für Bücher, die erst einmal nichts anderes sind als Fibeln. Die Menschen sollen neu sehen, lesen und schließlich auch denken lernen. Und die Photo-Bücher haben die Aufgabe, die Leserinnen und Leser in dieses ABC einer neuen Bildsprache einzuüben. Es geht um Alphabetisierung im strengen Sinn des Wortes. So erklärt sich auch die nun plötzlich einsetzende Begeisterung für fibelartige Titel – und zwar von avantgardistischen Positionen, wie etwa Karel Paspa und Karel Teiges Abeceda (Prag 1926), Mendelsohns Amerika-Buch (Berlin 1926), das den Untertitel „Bilderbuch eines Architekten“ trägt, oder Emmanuel Sougez‘ Buch Regarde, das sogar ein richtiges Kinderbuch ist, oder sein Buch Alphabet (Paris 1932) bis hin zu rechtskonservativen Photo-Büchern wie Veränderte Welt. Eine Bilderfibel unserer Zeit und klassischen, gänzlich unavantgardistischen technischen Handreichungen wie Wolf H. Dörings Foto-Fehler A-Z von 1933 oder Bruno Meiers PhotoFibel. Das ABC der Photographie in Bild und Wort aus dem Jahre 1931. Für die zweite Gruppe gilt jedoch, dass bereits im 19. Jahrhundert diverse photographische ABCs auf den Markt kamen, denen es seinerzeit ebenfalls – nur dass sie eben nicht unter avantgardistischer Flagge segelten – um die Ausbildung einer normierten Bildsprache ging.23 Solche Fehlerbücher sind – doch das ist ein anderes Thema – seit jeher der Ort einer Fixierung der photographischen Sprache.24 Die Avantgarden werden daran bewußt anknüpfen und fortsetzen, was vertraut war. Nun jedoch werden Mißerfolge zur Norm. Die Avantgarden codieren konsequent Photo-Fehler in eine neue Bildsprache um und entdecken so die Photographiegeschichte neu: Doppelbelichtungen, Solarisationen, Brulages, falsche Kadrierungen sind nur einige wenige der „Neuentdeckungen“, die Verworfenes in gelungene Bildlösungen transformieren. Werner Graeffs Es kommt der neue Fotograf! macht aus dieser avantgardistischen Umcodierung eine Fibel, die in Ästhetik und Technik einüben soll.25 Auch und gerade solche vermeintliche Photo-Fehler sind Teil der neuen Sprache, die zu allererst zu erlernen ist. Sie sind zentrale Elemente der Syntax dieser neuen Sprache. Die Photo-Bücher sind ihr privilegiertes Lehrmittel. Die in ihnen fixierte visuelle Sprache entwirft weitreichende Modelle von Photo-Büchern insgesamt, die bis in die Gegenwart hinein ihre Gestalt bestimmen. Photo-Bücher als Fibeln einer neuen Sprache sind bei aller Experimentierfreudigkeit hochseriöse Medien. Die Photo-Bücher der Avantgarden erkunden mögliche Spielformen und etablieren dabei zugleich Muster der Buchgestaltung, Blaupausen der Text-Bild-Montage und eine Matrix der Produktion von Photo-Büchern. 23 Vgl. exemplarisch: E. Olbrich, Das kleine ABC der Photographie. Ein Leitfaden für Anfänger, Düsseldorf 1896; William Kinnemond Burton, Das ABC der modernen Photographie, Düsseldorf 1886; Adolf Miethe, Das ABC des Lichtbildners, Halle/Saale 1920. 24 Vgl. dazu Bernd Stiegler, „Orthofotografie. Kleine fotografische Fehlerkunde“, in: Fotogeschichte, Heft 122, 2011, S. 41-50; wiederabgedr. in: ders.: Randgänge der Photographie, München 2012, S. 61-78. 25 Vgl. dazu Clément Chéroux, Fautographie: petite histoire de l’erreur photographique, Paris 2003 und ders., Avant l’avant-garde.
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Abb. 3-16 Albert Renger-Patzsch, Die Welt ist schön, München 1928
Abb. 3-17 Emmanuel Sougez, Regarde, Paris 1932
Abb. 3-18 Vítešlav Nezval, ABECEDA, Prag 1926
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Die neue Sprache der Photographie Doch wie sieht, erneut gefragt, die neue Sprache der Photographie aus, die in Photo-Büchern unterrichtet wird? Und was sind ihre Voraussetzungen? Diese Fragen versuche ich im folgenden zu beantworten. Dabei kommt es mir weniger auf eine Differenzierung unterschiedlicher Gruppen, Schulen oder Avantgarderichtungen an als vielmehr auf das Herausarbeiten von allgemeinen Strategien, die zumeist übergreifend funktionieren. Ich folge der Hypothese, daß die Photographie eine neue, noch zu erlernende Sprache ist, die daher auch Regeln folgt – ansonsten bliebe sie unverständlich. Daher schlage ich vor, erst einmal heuristisch zwei Gruppen zu unterscheiden: Auf der einen Seite stehen Photo-Bücher, bei denen eine Dominanz des Paradigmas zu beobachten ist, auf der anderen jene, die ihrerseits das Syntagma favorisieren. Da vielleicht die strukturalistische Terminologie etwas außer Mode geraten ist, sei an die Erläuterung Roland Barthes erinnert. Er illustrierte die Unterscheidung zwischen Syntagma und Paradigma anhand eines Essens: Während das Syntagma eine abgeschlossene Folge bildet, die hier mit den Gängen zu vergleichen ist, etwa Vorspeise, Hauptspeise und Nachspeise, gilt das für das Paradigma nicht. Es ist strukturell offen, da bei jedem Gang die gewählte Speise durch eine andere ersetzt werden kann. Dieser Unterscheidung folgend, können wir also zwei Gruppen von Photo-Büchern ausmachen, die ich nun genauer in den Blick nehmen möchte: die eine ist bestimmt durch eine Dominanz des Paradigmas, bei der das Gesetz der Serie und die Ordnung der Welt im Mittelpunkt steht, während die andere das Syntagma favorisiert und dementsprechend Verfahren der Montage als Erprobung einer neuen visuellen Syntax entwickelt. Diese Unterscheidung erlaubt – und das ist ihr Vorteil –, erst einmal recht deskriptiv vorzugehen und kommt so zu durchaus bemerkenswerten Gruppenbildungen. Meine Überlegung ist dabei, dass Bücher, bei denen eine strikte Trennung zwischen Text und Bild zu beobachten ist, der ersten Gruppe zuzuschlagen sind, hingegen jene, die typographisch konsequent Text und Bilder kombinieren, der zweiten. Die erste Gruppe, die paradigmatische, ist dabei rein quantitativ deutlich umfangreicher als die zweite, die syntagmatische. Diese ist zudem in den 1920er und 1930er Jahren sehr häufig auch außerhalb des Photo-Buchs anzutreffen, etwa in Zeitschriften, Pamphleten oder auch Kleinschriften. Dominanz des Paradigmas oder das Gesetz der Serie und die Ordnung der Welt Die meisten der bekannten Photo-Bücher der Avantgarden folgen einer strikten Trennung von Text und Bild. Zumeist findet sich hier zu Beginn ein Vorwort oder eine mehr oder wenige lange Einleitung, denen dann der Bildteil folgt. Das gilt, um nur einige prominente Beispiele anzuführen, für so unterschiedliche Bücher wie Foto-Auge von Roh und Tschichold, Berlin in Bildern von Sasha Stone, 100 x Paris, Le Valois und Métal von Germaine Krull, Die Welt ist schön, Wegweisung der
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Technik, Die Halligen, Eisen und Stahl und ohnehin fast alle weiteren Bücher von Renger-Patzsch, die Bücher von Alfred Erhardt, Köpfe des Alltags von Helmar Lerski, Antlitz der Zeit von Sander, alle Bücher von Blossfeldt, die Fototek-Reihe,26 die Serie der Blauen Bücher,27 die Schaubücher von Orell Füssli,28 Laure Albin-Guillots Micrographie décorative, das von Berenice Abbott herausgegebene Atget. Photographe de Paris, aber auch Moholy-Nagys Malerei, Fotografie, Film, wo es zur Begründung der Trennung heißt: „Ich lasse das Abbildungsmaterial getrennt vom Text folgen, da es in seiner Kontinuität die im Text erörterten Probleme VISUELL deutlich macht.“29 Es handelt sich also um eine Form von visueller Evidenz, die hier in einer Bilderfolge – Moholy spricht von der „Kontinuität“ des „Abbildungsmaterials“ – erzeugt werden soll. Das genau ist das Programm dieses Typs von Photo-Büchern, das in den anderen Bänden ungleich prägnanter vor Augen geführt wird. Denn betrachtet man diese Reihe von Büchern, so fällt auf, daß sie bis auf MoholyNagys Programmschrift, das Buch zur Ausstellung Foto-Auge und die Reihen der Schaubücher und der Blauen Bücher durchweg jeweils das Bildmaterial einer Photographin oder eines Photographen präsentieren, das zudem eine signifikante motivische Konzentration aufweist. Um in den gewählten Begriffen zu bleiben: Die Photo-Bücher dieser Gruppe buchstabieren Paradigmen der neuen visuellen Sprache aus, ja mehr noch: sie definieren diese mitunter neu. Die Bücher haben es sich zur Aufgabe gemacht, den Spielraum eines bestimmten Paradigmas zu erkunden und diesen zugleich dann in visueller Gestalt in den Assoziationshaushalt der Leserinnen und Leser der Photo-Bücher zu überführen. Die von Moholy angesprochene Kontinuität der Bilder ist auch hier das Ziel: Die Reihe der Bilder soll keineswegs kontingent sein, sondern vielmehr als evidente, notwendige Folge erscheinen. Die Verkettung der Bilder vollzieht sich im Rahmen eines durch das Buch gesetz26 Die Reihe wurde von Franz Roh konzipiert und sollte (mindestens) acht Bände umfassen. Im ersten, Moholy-Nagy gewidmeten, wurden jedenfalls die folgenden Ausgaben angekündigt: Aenne Biermann (erschienen 1930), Das Monströse, Fotomontage, Das Polizeifoto, El Lissitsky, Das Sportfoto, 100 Jahre Aktfoto. Vgl. dazu Roland Jaeger, „Bücher der Neuen Fotografie. Die Reihe Fototek im Verlag Klinkhardt & Biermann, Berlin“, in: ders. und Manfred Heiting (Hg.), Autopsie. Deutschsprachige Fotobücher 1918 bis 1945, Bd. 1, Göttingen 2012, S. 332-343. 27 Vgl. dazu Gabriele Klempert, Die Welt des Schönen. Eine hundertjährige Verlagsgeschichte in Deutschland: Die Blauen Bücher 1902-2002, Königstein im Taunus 2002; Katrin Völkner, „Kultur-Konsum und Konsum-Kultur. Karl Robert Langewiesches Sachbuchreihe ‚Die Blauen Bücher‘ am Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Andy Hahnemann und David Oels (Hg.), Sachbuch und populäres Wissen im 20. Jh., Frankfurt/Main u.a. 2008, S. 137-147 und Timm Starl, „Die Bildbände der Reihe ‚Die Blaue Bücher‘. Zur Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte einer Bildbandreihe. Bibliographie 1907-1944“, in: Fotogeschichte, Bd. 1, Nr. 1, 1981, S. 73-82. 28 Vgl. zu dieser Reihe: http://www.photobibliothek.ch/seite007h.html (letzter Zugriff am 17.1.2015); Roland Jaeger, „Gegensatz zum Lesebuch. Die Reihe ‚Schaubücher‘ im Orell Füssli Verlag, Zürich“, in: ders. und Heiting (Hg.), Autopsie, S. 316-331 und Timm Starl, „‚Schaubücher‘. Eine Bildreihe 1929 bis 1932“, in: Fotogeschichte, Bd. 16, Nr. 61, 1996, S. 47-58. 29 Moholy-Nagy, Malerei, Fotografie, Film, S. 45.
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Abb. 3-19 Albert Renger-Patzsch, Eisen und Stahl, Berlin 1931
ten Paradigmas, das ein neues Vokabular verwandter Bildbegriffe setzt. Sucht man nach Paradigmenwechseln, so findet man sie hier. Es geht in den Büchern schlicht um eine Neuordnung der Welt in Gestalt von paradigmatischen Bildfolgen, die die Verkettung von Bildern zu regeln suchen. Zur visuellen Alphabetisierung gehört eine Bestimmung der paradigmatischen Reihen notwendig mit dazu. Welche Serien können gebildet werden? Welche Zugehörigkeiten können ausgemacht werden? Und welcher Assoziationsraum wird eröffnet? Will man eine neue Sprache etablieren, so muß man neue Paradigmen durchsetzen. Sie definieren die mögliche Bandbreite, lassen Optionen zu und schließen andere aus. Es geht um eine Neucodierung der assoziativen Verkettung von Bildern, die beanspruchen, eine neue Sprache zu sein. So wie Du die Bilder dieses Buchs betrachtest, so sollst Du die Welt sehen und aus ihr nur all das herausfiltern, was Teil dieses Paradigmas werden kann – das ist der Imperativ dieser Photo-Bücher. Die Photo-Bücher haben genau diese Aufgabe: Ein neues Paradigma zu bestimmen, innerhalb dessen weitere mögliche Bilder notwendig dazukommen. Das ist die Aufgabe der Betrachtung. Doch die paradigmatische Reihe ist mit dem Buch vorgegeben. Hier regiert die Serie und diese ist zugleich die Regel, der die Bilder Folge zu leisten haben. Die visuelle Alphabetisierung der paradigmatisch orientierten Bücher ist daher zuallererst eine Art von Bestandsaufnahme innerhalb eines gewählten oder gesetzten Paradigmas. Alle Bilder folgen dem Gesetz der Serie, der Regelfolge, die jeweils von Band zu Band differiert. Sie sind – wiederum in Begrif-
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fen der Linguistik – Muster, Funktion und Archiv/Sammlung zugleich: Muster möglicher weiterer Kombinationen, Funktion einer paßgenauen Assoziation und Sammlung von Bildern der Welt, die die Wirklichkeit in homogene Weltbereiche zu bringen haben. Zugleich sind die Bilder der Photo-Bücher exemplarisch, weil strukturell unabschließbar. 100 x Paris heißt, daß weitere Aufnahmen dazukommen können, ja müssen, aber eben auch, daß Paris durch andere Städte ersetzt werden kann. So geschah es dann auch, da dieses Buch wie andere ähnlichen Typs Teil einer Reihe war.30 Allerdings sollen diese und andere Städte fortan so gesehen werden, daß die Bilder in das Paradigma der Photo-Bücher passen. Das ist der Beitrag des Photo-Buchs zur Neucodierung der Wahrnehmung, die vielfach ausgerufen wird. Ein neues Vokabular der Welt wird gesetzt. Paradigmen solcher Photo-Bücher können, ja müssen durchaus konfligieren. Das ist Teil des Spiels und der Aufgabe. Ein Beispiel pars pro toto in extremer Abbreviatur: August Sander und Helmar Lerski haben in etwa zeitgleich zwei sehr unterschiedliche paradigmatische Projekte in Angriff genommen: Sanders groß angelegte Arbeit der Menschen des 20. Jahrhunderts und sein Buch Antlitz der Zeit stellen den Versuch dar, mittels der Portraitphotographie Typen zu bestimmen, während Lerskis Köpfe des Alltags und sein späteres Buch Verwandlungen durch Licht die Vielgestaltigkeit des Einzelnen zu visualisieren suchten. Bei beiden Büchern bilden die Portraitphotographien ein Paradigma, das, so Walter Benjamin zu Sanders Buch, zur Wahrnehmungsschule wird. Antlitz der Zeit sei, so Benjamin, „mehr als ein Bildbuch: ein Übungsatlas“, den man mit „physiognomischen, politischen, wissenschaftlichen Interesse“ studieren könne.31 Das Photo-Buch übt in vergleichendes Sehen ein. Um die unterschiedlichen Paradigmen schärfer zu konturieren, seien die Konzepte knapp skizziert. August Sander schildert in einem Brief an den Photographiehistoriker Erich Stenger sein Projekt in folgender Weise: „Um nun wirklich einen Querschnitt durch die heutige Zeit und unser deutsches Volk zu bringen, habe ich diese Aufnahmen in Mappen zusammengestellt und beginne hierbei bei dem Bauer und ende bei den Vertretern der Geistesaristokratie. Dieser Entwicklungsgang wird eingefaßt durch ein dem genannten paralellaufendes [sic!] Mappenwerk, welches die Entwicklung vom Dorfe bis zur modernsten Großstadt darstellt. – Dadurch, daß ich sowohl die einzelnen Schichten wie auch deren Umgebung durch absolute Photographie festlege, hoffe ich eine wahre Psychologie unserer Zeit und unseres Volkes zu geben“32 Der Versuch, „Menschentypen des 20. Jahrhunderts“33 30 Vgl. dazu Roland Jaeger, „Das billige Städtebuch von hoher Qualität. Die Reihe der Hundert im Verlag der Reihe, Berlin“, in: ders., und Heiting (Hg.), Autopsie, S. 218-223. 31 Benjamin, „Kleine Geschichte der Photographie“, S. 381. 32 Susanne Lange und Gabriele Conrath-Scholl, „August Sander: Menschen des 20. Jahrhunderts – Ein Konzept in seiner Entwicklung“, in: August Sander, Menschen des 20. Jahrhunderts. Studienband, hg. von der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln und München, 2001, S. 12-43, S. 13. Hier finden sich auch eine umfassende Bibliographie der Sekundärliteratur zu Sander sowie vielfältige Hinweise auf die zeitgenössische Rezeption. 33 Ebd., S. 14.
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Abb. 3-20 August Sander, Menschen des 20. Jahrhunderts. Serie von Aufnahmen aus dem Stammbuch
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bildlich zu erfassen, basiert bekanntlich darauf, Klassen- und Standeszugehörigkeiten physiognomisch darzustellen und im Antlitz der Menschen die gesellschaftliche Ordnung der Zeit photographisch abzubilden.34 Sanders „Bekenntnis zur Photographie als Weltsprache und der Versuch, [sic!] zu einem physiognomischen Zeitbild des deutschen Menschen, welches aufgebaut ist auf der reinen Lichtgestaltung“35 zu gelangen, formuliert ein photographisches Programm, das auf Lesbarkeit zielt. Jenes von Helmar Lerski hat eine andere Form der paradigmatischen Alphabetisierung vorgesehen.36 „Kühn wird die These aufgestellt,“ schreibt Curt Glaser im Vorwort zu Köpfe des Alltags, „es seien alle Möglichkeiten in jedem menschlichen Antlitz enthalten, es komme nur darauf an, sie selbst zu sehen und sie anderen sichtbar werden zu lassen.“37 Das Paradigma folgt einer deutlich differierenden Ordnung der Serie. Nicht Typen, Schichten und Klassen werden vorgestellt, sondern zahlreiche Einzelaufnahmen eines einzigen Gesichts: In Lerskis 1936 entstandenem Band Verwandlungen durch Licht sind es nicht weniger als einhundertfünfundsiebzig Aufnahmen des Gesichts eines einzigen jüdischen Arbeiters, bei denen „sich Gesicht, Charakter und Ausdruck – ja dessen ganze Persönlichkeit – von einem Bild zum anderen so radikal verändert, daß manchmal jegliche Ähnlichkeit zu dem vorherigen schwand.“38 Während Lerski die Photographie als die Möglichkeit begreift, einen vermeintlich bekannten Bildgegenstand in ungewohnter und immer wieder überraschend neuer Weise darzustellen, konstatiert Sander, daß „alle individuelle Naturauffassung […] nur dann einen künstlerischen Wert hat, wenn dieser, als Ausdruck eines Gesetzmäßigen erfaßt, eine neue Variation des Grundthemas darstellt.“39 Der seriell-paradigmatische Aspekt ist beiden gemeinsam, allerdings steht bei Lerski die visuelle Evokation von Differenz bei Identität des Motivs im Mittelpunkt, während bei Sander die Identität des einzelnen Portraits zugunsten seiner Vernetzung in einer Reihe von Ähnlichkeiten und Entsprechungen, zugunsten einer visuellen Vergleichbarkeit und der Produktion von Typen in den Hintergrund tritt.
34 Sander wählt sieben Gruppen aus, die jeweils noch eine spezifische und komplexe Binnendifferenzierung aufweisen: Der Bauer, Der Handwerker, Die Frau, Die Stände, Die Künstler, Die Großstadt, Die letzten Menschen. 35 Ebd., S. 21. 36 Zu Lerski vgl. Florian Ebner, Metamorphosen des Gesichts. Die „Verwandlungen durch Licht“ von Helmar Lerski, Göttingen 2002. 37 Helmar Lerski, Köpfe des Alltags. Unbekannte Menschen gesehen von Helmar Lerski. 80 Lichtbilder. Mit einer Einleitung von Curt Glaser, Berlin 1931, S. VII. 38 Ders., Metamorphosis through light. Verwandlungen durch Licht, with a preface by Andor Kraszna-Krausz, Düsseldorf 1982, S. 9. 39 Ebd., S. 23.
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3-21 Helmar Lerski, Portraitaufnahmen eines Arbeiters
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Visuelle Paradigmen Visuelle Paradigmen sind Programme einer Ordnung der Welt, ihrer Lesbarkeit. Sie sind Konfigurationsanweisungen von Bildern, die sich nicht auf das Medium des Buches beschränken, sondern eine Lesbarkeit der Welt vorschlagen. Viele der Photo-Bücher haben daher einen programmatischen Zug und inszenieren visuelle Alphabetisierung als Neuordnung der visuellen Welt. Das ist vielleicht auch der Grund dafür, daß insbesondere zwei Gruppen das Paradigma favorisieren. Die erste ist die neusachliche Photographie: Die Photo-Bücher von Renger-Patzsch und Erhardt, aber auch Krull, Blossfeldt und Sander zelebrieren regelrecht visuelle Verwandtschaften, eine Formensprache der Dinge und das Gesetz der Serie. Daher wird es nicht überraschen, daß die zweite Gruppe das konservative politische Photo-Buch der 1930er Jahre ist. Photo-Bücher rechter Provenienz werden in den Bilderbüchern der Photo-Buch-Historiographie gerne vergessen. In Auers Photo Books und The Open Book fehlen sie gänzlich, bei Parr und Badger stehen ein faschistisches und zwei nationalsozialistische Photo-Bücher zwanzig sowjetischen gegenüber. Das mag daran liegen, daß rechtskonservative Photo-Bücher montagefeindlich sind und mit Bildblöcken operieren. Doch genau das ist die Strategie der paradigmatischen Performanz, die hier in Szene gesetzt wird. Das berühmteste Beispiel ist wahrscheinlich Veränderte Welt, für das Ernst Jünger verantwortlich zeichnete und auf das ich im Epilog noch genauer eingehen werde. Dominanz des Syntagmas oder die Montage als visuelle Syntax Anders die montagefreundlichen Photo-Bücher, die sich durch eine Dominanz des Syntagmas auszeichnen. Ihnen geht es weniger um das Gesetz der Serie als um Möglichkeiten der Verkettung heterogener Elemente. Paradigmen operieren mit Gegenüberstellungen und Serien, Syntagmen hingegen mit Kombinationen und Montagesequenzen. Die erste Gruppe hat daher die Tendenz zur Verfestigung, die zweite hingegen zur Verflüssigung. In diese Gruppe fallen vor allem surrealistische Photo-Bücher, wie Facile von Man Ray und Paul Eluard, aber auch weite Teile der russischen und tschechischen Photo-Bücher und die politische Photo-Montage, wie etwa Kurt Tucholskys Deutschland, Deutschland über alles, Kamerad im Westen oder Ça Ira. Zu ihr gehören jedoch weiterhin Photo-Romane wie La Folle d’Itteville von Simenon und Krull, der pars pro toto für eine große Gruppe von literarischen Büchern mit photographischen Illustrationen, die in Kooperation entstanden, angeführt sei, und Zwischenformen wie Hans Bellmers La Poupée oder Man Rays 1929, in denen jeweils Text und Bild einander gegenübergestellt sind. Wichtige Beispiele sind zudem visuelle Lehrbücher wie Es kommt der neue Fotograf! oder Photo-Bücher und auch Prospekte, die auf die neue Typographie bzw. das Typofoto setzen und ebenso konsequent wie systematisch Bild und Text in eine gemeinsa-
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Abb. 3-22 und 3-23 Kurt Tucholsky und John Heartfield, Deutschland, Deutschland über alles. Ein Bilderbuch von Kurt Tucholsky. Montiert von Heartfield, 1929
me Gestaltungsform überführen. Max Burchartz und Jan Tschichold wären hier zwei prominente Beispiele unter vielen.40 Während das photographische Paradigma auf die Lexik, das Vokabular bezogen ist, konzentriert sich die photographische Syntagmatik auf die Syntax, auf die Kombinationsmöglichkeiten der einzelnen Elemente. Sie ist notwendig mobil, dynamisch und zielt auf Bewegung und Sprachhandeln. Daher finden sich solche – zumeist nicht kanonisierten – Photo-Bücher oft in der Werbung, im Bereich der politischen Propaganda linker Provenienz und bei expliziten Erzählungen, bei denen Text und Bild kombiniert werden. Geschichte ist hier im Fluß oder soll überhaupt erst wieder in Bewegung versetzt werden. Dementsprechend werden die Elemente in immer neue Beziehungen gesetzt und munter miteinander kombiniert. Die visuelle Sprache ist ein soziales Experimentierfeld, das vor nichts halt macht und eine neue Gesellschaft wie auch einen neuen Menschen zu montieren sucht. Technik ist dabei kein Hemmschuh, sondern Garant der unbeschwerten Leichtigkeit der Konstruktionen. Auch die Beschleunigung und das Tempo gehören dazu. 40 Vgl. expl. Gerda Breuer (Hg.), Max Burchartz (1887-1961). Künstler, Typograf, Pädagoge, Berlin 2010; Jörg Stürzebächer (Hg.), „Max ist endlich auf dem richtigen Weg“. Max Burchartz 1887-1961. Kunst – Typografie – Fotografie, Architektur und Produktgestaltung. Texte und Kunstlehre, Frankfurt/Main 1993; Jan Tschichold, Schriften 1925–1974, hg. von Günter Bose und Erich Brinkmann, 2 Bde., Berlin 1992; Christopher Burke, Active literature: Jan Tschichold and New Typography, London 2007.
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Abb. 2-23
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Abb. 3-24 Umschlag von Werner Gräff, Es kommt der neue Fotograf!, Berlin 1929
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Abb. 3-25 Doppelseiten aus: Werner Gräff, Es kommt der neue Fotograf!, Berlin 1929
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Eine neue visuelle Kultur ist erforderlich, weil die Welt technisch geworden ist, und Geschwindigkeit zum Alltag notwendig dazugehört. Daher müssen auch schnell lesbare und entzifferbare Text-Bilder überhaupt erste ge- und erfunden werden. Der niederländische Photograph und Graphiker Paul Schuitema hat das so formuliert: „die idee der lösung ist der umbau der argumente zu optischer suggestion; sie soll sich dem tempo der zeit anschließen.“41 Es kommt der neue Fotograf! ist hier exemplarisch, da Graeff von Doppelseite zu Doppelseite Neues ausprobiert und dabei konsequent Normen der Tradition durch neue Formen ersetzt. Daß diese dann in anderer Weise wieder zu Normen werden sollten, wie man exemplarisch am russischen Photo-Streit über Rodtschenkos neue Perspektiven sieht, steht auf einem anderen Blatt.42 Hier ist alles noch in statu nascendi und hat daher den besonderen Charme der Offenheit. Bemerkenswert ist dabei, daß es diesen Publikationen nicht darauf ankommt, etwas festzulegen, sondern im Gegenteil Festlegungen aufzuheben und Regeln zu durchbrechen. Dynamisierung ist das erklärte Ziel und von visuellem Dynamit wird reger Gebrauch gemacht. Dementsprechend sind die verwendeten photographischen Elemente fast durchweg extrem heterogen, stammen zumeist aus unterschiedlichen Quellen, haben verschiedene Formen, wechseln zwischen naturwissenschaftlichen, künstlerischen und Presse-Aufnahmen und werden zudem nach Belieben hemmungslos zerschnitten. John Heartfield etwa hat schachtelweise vorgefertigt ausgeschnittenes Material zur Verfügung, Raoul Hausmann zerschneidet munter seine eigenen Photos, Hannah Höch alles, was ihr zwischen die Schere kommt. Entscheidend ist hierbei, daß Photo-Bücher syntagmatischen Typs alles neu zu entwerfen suchen und dabei auch vor der Semantik nicht haltmachen. Auch sie ist Teil der komplexen Recodierung, wie nicht zuletzt die dadaistischen, aber auch die sowjetrussischen Projekte der 1920er Jahre deutlich machen. Im Falle Rußlands ging es sogar im Wortsinn um eine visuelle photographische Alphabetisierung, da weite Teile der Landbevölkerung Analphabeten waren und der Film und die Photographie daher das privilegierte Mittel der politischen Propaganda und Volksbildung. Mittels visueller Alphabetisierung sollte der Mensch aus der Vergangenheit in die Zukunft geführt werden. Die neue Gesellschaft erfordert einen neuen Menschen und eine neue Sprache. Die Photo-Bücher sind eines ihrer bevorzugten Experimentierfelder. Während die paradigmatisch orientierten Photo-Bücher auf eine Neuprogrammierung der Wahrnehmung und eine Neukonsolidierung des visuellen Materials zielen, verstehen sich die syntagmatischen Bände als Experimentierfelder einer neuen Praxis. Bei den einen regiert das Gesetz der Serie, die anderen entdecken die Möglichkeiten der Kombinatorik. Während die paradigmatischen Photo-Bücher die Welt photographisch erst zerlegen und dann wieder neu zusammensetzen, feiern die syntagmatischen Photo-Bücher das Glück der Zersetzung. Diese vollzieht 41 Heinz und Bodo Rasch (Hg.), Gefesselter Blick. 25 kurze Monografien und Beiträge über neuere Werbegestaltung, Stuttgart 1930, Reprint Baden (Schweiz) 1996, S. 79. 42 Vgl. Alexander Rodtschenko, Schwarz und weiß, S. 201-252 und oben S. 186f..
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sich über die Praxis, nicht über die Anschauung. Die höchst konkreten praktischen Möglichkeiten einer neuen visuellen Sprache werden in Text und Bild vor Augen geführt. Hier geht es um den Übergang der theoretischen zur praktischen Vernunft, um die Profilierung einer Alphabetisierung als Voraussetzung einer neu ausbuchstabierten Welt. Neue Narrative sollen produziert, neue Zusammenhänge erkundet, neue Konstellationen ausprobiert werden. Und die Nagelprobe ist dabei die Praxis. Die Frage, ob ein visueller Effekt „funktioniert“, hat etwas mit Funktionalität zu tun, die von verschiedenen Parametern abhängt. Auch diese werden zur Disposition oder besser auf die Probe gestellt. Daher sind die Photographien vor allem Ausdruck einer Haltung: Es könnte auch anders sein. Die neue Welt ist erst noch zu gestalten. Gerade weil sie uns photographisch zur Verfügung steht, kann sie neu kombiniert und montiert werden.
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3. Die photographische Alphabetisierung des Arbeiters
„Alles bildliche und schriftliche Material ist politisch.“1 Der Arbeiter-Fotograf
Siegfried Kracauers Analyse der bildpolitischen Konsequenzen des Aufkommens der zeitgenössischen Illustrierten ist nüchtern und schonungslos: „Noch niemals hat eine Zeit so wenig über sich Bescheid gewußt. Die Einrichtung der Illustrierten ist in der Hand der herrschenden Gesellschaft eines der mächtigsten Streikmittel gegen die Erkenntnis. Der erfolgreichen Durchführung des Streiks dient nicht zuletzt das bunte Arrangement der Bilder. Ihr Nebeneinander schließt systematisch den Zusammenhang aus, der dem Bewußtsein sich eröffnet.“2 Diese Diagnose, die in den Illustrierten schlicht eine visuelle Gegenaufklärung erblickt, entspricht durchaus jener der politischen Linken, die daher in Reaktion auf sie eine andere Form der visuellen Aufklärung umzusetzen versuchte: die photographische Alphabetisierung der Arbeiter. Während die Photographie bis dahin vor allem ein Medium der bürgerlichen Klassen war, sollte sich nun auch das Proletariat der „beobachtenden Maschine“ bemächtigen und sie als Waffe im Klassenkampf nutzen. Es ging dabei um nichts Geringeres als um die Vorherrschaft im Reich der Bilder und mit dieser der Deutung der Wirklichkeit. Anders als in Rußland stand in Deutschland allerdings erst Mitte der 1920er Jahre die Photographie in vorderster Front auf der politischen Agenda der Linken. Ihre wichtigsten Zeitschriften, wie etwa Die rote Fahne, griffen bis dahin kaum auf Photographien zurück, sondern setzten eher auf bewährte Bildformen wie z.B. politische Karikaturen. Photographien erschienen hingegen zumeist in den Bildbeilagen. Die Kommunistische Internationale hatte zwar bereits 1921 die Weichen für eine stärkere Gewichtung der Photographie gestellt, dabei aber nicht die erwünschte Massenwirkung erreicht. Als die KPD sich auf dem X. Parteitag 1925 im Rahmen einer Agitpropkonferenz mit der Bedeutung der Photographie auseinandersetzte, bemängelte sie, daß nach wie vor die bürgerliche Presse der linken in Schnelligkeit 1 „Bericht von der ersten Reichskonferenz der VdAFD“, in: Der Arbeiter-Fotograf, 1. Jg., 1927, Nr. 9, S. 6f., S. 7. Ich danke Wolfgang Hesse sehr herzlich für seine Kommentare. 2 Siegfried Kracauer, „Die Photographie“, in: Wolfgang Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie, Bd. 2, München 1979, S. 109.
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und Bildregie weit überlegen sei.3 Kritisiert wurde die geringe Zahl an Photographen bei den kommunistischen Presseorganen und die sich dadurch ergebende Abhängigkeit von bürgerlich-kapitalistischen Bildagenturen.4 „Es ist unbedingt notwendig und erforderlich,“ stellt Willi Münzenberg fest, „daß das Bild in einem noch reicheren Maße als bisher auch von den kommunistischen Tageszeitungen und Jugendzeitungen, Frauen- und Bauernzeitungen benutzt wird. Das Bild wirkt vor allem auf die Kinder, Jugendlichen, auf die primitiv denkende und empfindliche, noch nicht organisierte indifferente Masse der Arbeiter, Landarbeiter, Kleinbauern und ähnliche Schichten. Neben den Illustrationen in den Tageszeitungen muß unbedingt an die Schaffung und den Ausbau der Illustrierten Arbeiter-Zeitung gegangen werden.“5 Während bereits seit Anfang des Jahrhunderts zahlreiche bürgerliche Illustrierte in sehr hohen Auflagen und mit ebenso konsequentem wie umfangreichen Einsatz von Photographien erschienen, standen die linken Zeitschriften mit leeren Händen da. Sie hatten auf Texte, nicht auf Bilder gesetzt, da ihnen die Schrift als Mittel der politischen Aufklärung geeigneter zu sein schien.6 Ihre Welt war zwar nicht ikonoklastisch, wohl aber ikonophob. Jetzt aber stellten sie mit einem Mal unisono fest, daß die Bilder ungleich effektiver agierten als die Texte.7 Allerdings war die Linke im bildpolitischen Kampf nun spät dran: diesen schienen die zahlreichen Illustrierten mit dezidiert bürgerlich-konservativer Ausrichtung längst gewonnen zu haben. Statt an Aufklärung waren sie an Gewinnmaximierung interessiert. In der Bildpolitik war also schlicht ein hegemoniales Herrschaftsverhältnis zu konstatieren. Um dieser Deutungshoheit und diesem Monopol der Propagandamittel der Gegenaufklärung etwas entgegenstellen zu können, müsse nun, so die Mitte der 1920er Jahre wachsende Überzeugung, endlich nach der Bewegung der Textberichterstatter aus dem Alltag des Klassenkampfs auch eine Arbeiter-Fotografen entstehen. Zum Text solle nun auch das Bild treten. Dieser Aufgabe nahm sich Willi Münzenberg an, gründete die VdAFD (Vereinigung der Arbeiter-Fotografen Deutschlands) mitsamt ihrem Organ Der Arbeiter-Fotograf, einer Zeitschrift, die ab Herbst 1926 erschien. Münzenberg hatte bereits 1921 Sowjetrußland im Bild herausgegeben, eine Zeitschrift, die später den Titel Sichel und Hammer trug und bis 1925 – zuletzt mit einer Auflage von 180.000 Exemplaren – 3 Zur historischen Darstellung der Bewegung: Der Arbeiter-Fotograf. Dokumente und Beiträge zur Arbeiterfotografie 1926-1932, hg. von Joachim Büthe u.a., Köln 1977. 4 Das war ein Problem, auf das auch die Photographen der Magnum-Gruppe reagierten: ihre Gründung 1947, also zwanzig Jahre später, erfolgte nicht zuletzt mit dem Ziel einer eigenen Bildkontrolle, nachdem sie zuvor diese an Agenten und Bildredakteure abzutreten hatten. 5 Willi Münzenberg, Propaganda als Waffe. Ausgewählte Schriften 1919-1940, hg. von Til Schulz, Frankfurt/Main 1972, S. 51. 6 Das ist ein Topos, der sich bis hin zu Susan Sontag findet, die konsequent die Aufklärung der Schrift der Gegenaufklärung der photographischen Bilder gegenüberstellt. Zur Kritik dazu Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt/Main und New York 2010. 7 Vgl. expl. Heinz Luedecke, „Bild-Wort-Montage“, in: Der Arbeiter-Fotograf, Bd. 5, 1931, Nr. 9, S. 211-213.
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erschien.8 Dies war zugleich – überraschend genug – der erste systematische Einsatz von Photographien in der sozialistischen Presse. Aufgabe des nun gegründeten Vereins und der Zeitschriften war die Produktion von „Tendenzbildern“, die eine andere Deutung der Gegenwart ermöglichen sollten. Das Modell sah verschiedene Stufen vor: Der proletarische Fotografen-Verband sollte nicht nur die photographierenden Arbeiter institutionell organisieren, sondern auch Bilder hervorbringen, die dann in den Zeitschriften wie Der Arbeiter-Fotograf und der AIZ (Arbeiter-Illustrierte-Zeitung) Verwendung finden könnten.9 Die eine war eher als Fachzeitschrift gedacht, die andere hingegen als publikumswirksame Illustrierte. Diese Zeitschriften wiederum sollten breitere Leserschichten unter den Arbeitern erreichen, die dann mit dem Photographieren beginnen und Teil der Organisation werden sollten. Damit könne es zu einer neuen Zirkulation der photographischen Bilder zwischen Produktion und Rezeption und mit ihr zu einer allmählichen vollständigen Autonomie der photographisch-proletarischen Bildwelten kommen, die dereinst dann nicht mehr abhängig von bürgerlichen Bildagenturen wären. Eine eigene photographische Welt war also zwischen Arbeiterleben und Weltgeschehen zuallererst zu erschaffen. „Wir werden nicht nur die Lichtseiten, sondern auch die Schattenseiten des Weltgeschehens und des Arbeiterlebens im Bild festhalten.“10 Doch erst einmal mußte das Geschehen zum Lichtbild werden. Photographische Arbeiterpflichten Die photographische Alphabetisierung der Arbeiter war eine wahre Herkulesaufgabe und hatte gleich vielerlei Dinge umzusetzen: Zuallererst mußte die photographische Alphabetisierung ganz basal einsetzen: Arbeiter hatten überhaupt erst die Kamerabeherrschung zu erlernen. Solch grundlegende technische Fragen werden insbesondere in der Zeitschrift Der Arbeiter-Fotograf immer wieder verhandelt: technisch und auch ästhetisch mangelhafte Bilder, so wird unterstrichen, können keine Verwendung in den Organen finden und sind auch für die eigene politische Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit ungenügend. Erst wer Herr der Technik ist, kann auch Herr der Bilder und am Ende der Ideologie werden. In seinem Artikel „Nochmals: Gummiknüppel contra Kamera“ entwirft Hans Windisch, der den Jahresband 1928/29 des elitären Jahrbuchs Das deutsche Lichtbild herausgab und seinerzeit mit der KPD sympathisierte, dann aber auch im Nationalsozialismus seinen photographischen Aktivismus unter neuer ideologischer Flagge fortsetzte, ein Programm der publizistischen Aufklärung, das auf die Photo8 Dazu Der Arbeiter-Fotograf, S. 15. 9 Die AIZ erschien ab 1925; zu Beginn in einer Auflage von 200.000 Exemplaren. Am Ende erreichte sie angeblich bis zu einer halben Million gedruckte Exemplare. Wahrscheinlicher ist aber eine Auflage von 300.000-350.000 Exemplaren, da das die maximale Auslastung der Rotationsmaschine war. 10 Anon., „Zum Volksfototag“, in: Der Arbeiter-Fotograf, 2. Jg., 1928, Nr. 12, S. 13.
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graphie setzt: „Es gibt anhaltendere und unheimlichere Mittel gegen den Gummiknüppel und den Karabiner, als das geschriebene und gedruckte Wort. Reihen von Kameras sind gefährlicher als Karabinersalven, sie können ein System zerfressen, es bloßlegen bis ins Innerste, sie sind bis in alle Zukunft da und unwiderleglich. Da hätten Aufgaben gelegen!“11 Die konjunktivische Schlußwendung ist begründet durch die Beobachtung, daß es den Arbeitern nach wie vor an einer Beherrschung der technischen Möglichkeiten der Kamera gebricht. Windischs Plädoyer für die Technikbeherrschung erhofft sich eine Verwandlung des dilettantischen Knipsers in einen photographischen Kämpfer an der Aufklärungsfront, der nun Photos „schießt“. Dafür braucht es Technik, die Windisch und auch andere erläutern. „Wie man mit der Kamera schießt (statt zu ‚fotografieren‘)“12 ist erste photographische Arbeiterpflicht. Weiterhin sollte eine photographische Deutung der Wirklichkeit erprobt werden. Wie dies geschehen könne und solle stand höchst kontrovers in der Debatte. Es ging um die Frage, welche Bildtypen und Montagepraxen der proletarischen Alltagserfahrung am ehesten entsprechen und am besten im Sinne einer politischpropagandistischen Aufklärung eingesetzt werden können. Einzelbilder oder Serien, traditionelle Präsentationsformen oder moderne Montageverfahren und bekannte Bildstrategien oder avantgardistischere Formen waren einander entgegenstehende und ausschließende Optionen, die diskutiert wurden. Denn schließlich solle der Arbeiter als Leser der Zeitschrift und praktizierender Fotograf auch das Vermögen der Bildkritik ausbilden: Es geht letzten Endes eben auch um eine aufgeklärte, kritisch-distanzierte Lesbarkeit aller publizierten Bilder, d.h. auch jener der bürgerlichen Organe. Betrachtet man nun Zeitschriften wie Der Arbeiter-Fotograf oder die AIZ genauer, so wird man feststellen, daß deutliche Unterschiede zwischen ihnen bestehen und auch die Linie innerhalb der Organe keine gänzlich einheitliche ist. Während Der Arbeiter-Fotograf fast durchweg montagefeindlich operiert, gilt das für die AIZ nicht. Auch wenn die Photomontagen von John Heartfield, durch die sie berühmt geworden ist, ausgesprochen selten sind (auf den über 1000 Seiten des Jahrgangs von 1931 nehmen sie in etwa ein halbes Dutzend Seiten ein), finden sich zahlreiche Montagen. Die ebenso pragmatische wie didaktische Idee war die einer arbeitsteiligen Produktion, bei der die gelieferten Bilder von den Redakteuren weiterverarbeitet und montiert wurden. Gleiches gilt dann auch für die Frage Einzelbild vs. Serie. Der Arbeiter-Fotograf setzt fast durchweg auf Einzelbilder, die in traditioneller Form montiert werden und mitunter auch keinen Bezug zu den Texten aufweisen. Die AIZ hingegen favorisiert Bildserien oder Einzelbilder, die durch ihre Anordnung in Rubriken („Bilder der Woche“, „Aus der Arbeiterbewegung“ etc.) zu solchen werden. Lilly Becher, die 1927 Chefredakteurin der AIZ wurde, versucht später die Bildstrategie zu rekapi11 Hans Windisch, „Nochmals: Gummiknüppel contra Kamera“, in: Der Arbeiter-Fotograf, Bd. 3, 1929, Heft 7, S. 127-131, S. 128. 12 Ebd., S. 129.
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tulieren: „Oft schildert das einzelne Bild nur das Detail eines Geschehnisses; erst die Wiedergabe einer Bildreihe, mehrerer Augenblickserscheinungen, enthält das ganze Ereignis und enthüllt, vom entsprechenden Text unterstützt, auch die Ursachen und Folgen, wenn es eine wirklich große Reportage ist.“13 Ähnlich auch Der Arbeiter-Fotograf, der als Organ für seinen gleichnamigen proletarischen Knipser das Programm vorgibt, daß er sich, während die bürgerliche Presse „einzig und allein auf die Sensation eingestellt“ sei, „ besonders bemühen wird, die Ursachen des Unglücks […] bildlich festzuhalten.“14 Auf die Serie und die Beschriftung komme es an. Schließlich wird auch die Frage der Übernahme der avantgardistischen PhotoÄsthetik, dem vielfach apostrophierten „neuen Sehen“, bei der Aufnahme und Komposition der Bilder unterschiedlich angegangen: Während Der Arbeiter-Fotograf zumeist auf eine Knipserästhetik zwischen Spätpiktorialismus und Neuer Sachlichkeit setzt, arbeitet die AIZ weitaus häufiger mit starken Über- oder Aufsichten, Makrophotographien oder betonten Fluchtlinien, die typisch für die Avantgarde-Photographie sind. Photogramme und kameralose Bilder finden sich in beiden Zeitschriften nur ex negativo, sprich als Beispiele einer bürgerlichen Photographie, die mit der Perspektive der Arbeiter nicht übereinstimme. Auch hinsichtlich der Motive sind deutliche Unterschiede auszumachen: Während die AIZ Bilder aus aller Welt versammelt und dabei ein besonderes Augenmerk auf Bildberichte aus Sowjetrußland und den Sowjetrepubliken richtet, aber auch aus anderen Ländern berichtet, gilt für die Bilder im Arbeiter-Fotograf vor allem jener „Spagat zwischen privater Erinnerungsfotografie und politischen ‚Tendenzbildern‘“,15 das Wolfgang Hesse für die Arbeiterphotographie insgesamt ausgemacht hatte. „In aller Regel blieben sie [die Bilder, BS] an die Vertrautheit dieses Milieus gebunden.“16 Die AIZ wollte die ganze Welt, Der Arbeiter-Fotograf erst einmal jene der Arbeiter photographisch erobern. Daher Bilder der unmittelbaren Umgebung mit Motiven, die für die private Photographie der Zeit, sprich die Knipserästhetik diesseits des politischen Aktivismus durchaus charakteristisch sind. Wenn Wolfgang Hesse bei diesen Bildern von „Realmontagen“ spricht, so ist das eine eher euphemistische Beschreibung der weitgehenden Absenz von Montagen im Arbeiter-Fotograf. Die Entwicklung von „einem anekdotischen Realitätsbezug hin zur Demonstration des montierenden Sehens und Denkens“17 mag viel-
13 Lilly Becher, „Die Arbeit der AIZ mit dem Bild“, in: Das Bild in der Presse. Handbuch für Journalisten, Leipzig 1964, S. 29. 14 Anon., „Arbeiterfotograf und aktuelle Bildberichterstattung“, in: Der Arbeiter-Fotograf, 1. Jg., Nr. 3. November 1926, S. 3f., S. 4. 15 Wolfgang Hesse, „Arbeiterfotografie als bildwissenschaftliches Ausstellungskonzept“, in: ders., Das Auge des Arbeiters. Arbeiterfotografie und Kunst um 1930, Leipzig 2014, S. 19-32, S. 21. 16 Ebd., S. 23. 17 Ebd., S. 27.
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leicht das Ziel gewesen sein. Im Weg stand hier jedoch ein überaus traditionelles Verständnis der Photographie als technisches Medium. Die Eroberung der beobachtenden Maschinen Von den ästhetischen Errungenschaften, aber auch epistemisch-theoretischen Erkenntnissen der Avantgarden, wie sie exemplarisch die bereits angeführte FiFoAusstellung mitsamt der aus ihr hervorgehenden Publikationen (Foto-Auge, Es kommt der neue Fotograf!) und auf ihr vertretenen Künstler emblematisch bündelt, sind die Pioniere der Arbeiter-Photographie weit entfernt. Für sie ist die Photographie zuallererst ein Bild einer „beobachtenden Maschine“, die Sachlichkeit, Objektivität und Genauigkeit verspricht. Diese gelte es zu erobern. Daher der programmatische Titel eines Aufsatzes von Franz Höllering. Wenn er dort von der „Eroberung der beobachtenden Maschinen“ spricht, so geht es ihm um die Übernahme eines technischen Kontrollorgans, das darauf aus ist, die gesamte Gesellschaft aufzuzeichnen und zu überwachen.18 Photographien sind für ihn ebenso wie Filme und Schallplatten „objektive Berichte“: „Die Zeit ist nicht mehr fern, in welcher die Kombination von Bild- und Tonberichterstattung, von Film und Radio so vollendet sein wird, daß jedes beliebige Stück Wirklichkeit in seiner Totalität wird übertragen werden können. Die vollendete ‚beobachtende Maschine‘ wird alles registrieren.“19 Eine solche Maschine darf man natürlich nicht der Bourgeoisie überlassen. Höllering und anderen geht es weniger um Transformation und Veränderung, sondern um Aneignung und Kontrolle. Wir sind hier noch mitten im 19. Jahrhundert, was die Überzeugungen und leitenden Ideen anbetrifft. Photographische Alphabetisierung ist also in jeder Hinsicht dringend geboten. Exemplarisch kann das an der Frage des Umgangs mit Montageverfahren und -theorien gezeigt werden. Der Arbeiter-Fotograf verfolgt hier keine einheitliche Linie, sondern läßt bemerkenswerterweise die Front mitten durch die Zeitschrift laufen. Die montagefeindliche dominante Seite wird von Franz Höllering angeführt. In seinem Artikel „Fotomontage“ konstatiert er historisch im übrigen wenig zutreffend: „Die Geschichte der Fotomontage ist sehr kurz. Erst seit zehn Jahren gibt es solche Fotokombinationen, die beachtenswert sind.“20 Nach der lobenden Erwähnung von John Heartfield, der Photomontage „als ein Mittel zur Erreichung eines bestimmten praktischen Zwecks“ einsetze, geht er dann zum Angriff über und verdammt die Photomontage als „schlechte Mode“ und „entsetzliche Epidemie“, die der Photographie als Wahrheitstechnik entgegenstehe. Nicht die objektive Wirklichkeit werde zum Bild sondern die subjektive Spielerei des Photographen. Damit, 18 Franz Höllering, „Die Eroberung der beobachtenden Maschinen“, in: Der Arbeiter-Fotograf, Bd. 2, 1928, Nr. 10, S. 3f. 19 Ebd., S. 3. 20 Ders., „Fotomontage“, in: Der Arbeiter-Fotograf, Bd. 2, 1928, Nr. 8, S. 3f., S. 3.
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Abb. 3-26 John Heartfield, Umschlagentwurf von Franz Jungs Die Eroberung der Maschinen, Berlin 1923
so das Verdikt der meisten Beiträge zum Thema, ist die Photomontage ein Mittel der visuellen Gegenaufklärung. Der Arbeiter-Photograph solle, ruft Höllering ihn auf, die Finger davon lassen und stolz sein, die Wahrheit zu zeigen: „Hüte dich vor ihr.“21 Doch welche Bilder soll er an der Aufklärungsfront schießen? Die Antwort mag überraschen: „Einfache, klare, schöne Bilder Eurer Welt – das ist Euer Ziel. Keine dilettantische Künstelei. Ihr wollt berichten, wie die Welt wirklich aussieht. […] Nur in ernster, sachlicher Arbeit, nicht mit Spielerei, wird eine so große und hohe Aufgabe erfüllt.“22 Wie diese Bilder dann konkret auszusehen haben, wird in einer Rubrik vor Augen geführt, die sich auch in bürgerlichen Photo-Zeitschriften fast durchweg findet: der „Bilderkritik“, die anhand einer Diskussion von eingesandten Bilder die Rechtschreibung der photographischen Bildsprache einübt. In seiner Ablehnung der Photomontage für die Praxis der proletarischen Amateure folgen Höllering die meisten seiner publizistischen Mitstreiter und kritisieren so auch Bücher wie Werner Graeffs Es kommt der neue Fotograf!, das aus der FiFo hervorgegangen ist, scharf. „So entpuppen sich“, schreibt etwa der KPD-Funktionär und AIZ-Photograph Walter Nettelbeck, „die eigentümlichen Möglichkeiten der Fotografie als die Eigentümlichkeiten des Kleinbürgertums, an den sachlich 21 Ebd., S. 4. 22 Ebd. Vgl. auch Ludwig Kuttner, „Zum zehnjährige Bestehen der AIZ“, in: Der Arbeiter-Fotograf, 5. Jg., Nr. 10, 1931, S. 247f. Zur Montage dort S. 248. Montage dient der Unterstreichung einer bereits vorhandenen Bildaussage, nicht aber ihrer Herstellung. Man solle vielmehr die „Waffe der Kamera mit Geschick und Ausdauer […] handhaben“.
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TECHNIK UND ÄSTHETIK
Abb. 3-27 John Heartfield, „Ein neuer Wettbewerb. Unsere Leser als Fotomonteure“, Der operierende Künstler als Lehrer: Die Leser-Wettbewerbe der Arbeiter Illustrierten Zeitung/Volks-Illustrierte
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Abb. 3-28 „An der Drehbank“, Titelseite der AIZ
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vorhandenen Dinge vorbei zu sehen – vorbei zu fotografieren.“23 Die Arbeiterphotographie gibt sich also eine dezidiert anti-avantgardistische Agenda. Revolutionäre Photomontagen Die in Der Arbeiter-Fotograf publizistisch vertretene Gegenseite besteht eigentlich nur aus einem einzigen Kämpfer für die Photomontage, der ein Pseudonym trägt: Durus, der Harte. Alfréd Kemény, wie er eigentlich hieß, der aus der ungarischen Exil-Avantgarde im „Sturm“-Kreis zur KPD gewechselt war und als Kunstkritiker in ihrem Zentralorgan Die Rote Fahne wichtige Artikel schrieb, verteidigt wacker die Techniken der Avantgarde gegen die Mehrheit der Knipser. Sein erstes Argument ist dabei, daß die Photomontage sich in den Händen und Augen der Arbeiter in ein Aufklärungsinstrument verwandeln könne. Ansonsten sei sie industrielles Massenprodukt, Mittel der Werbung, Strategie der visuellen Überwältigung. „Für die Zwecke der Reklame wird heute die Fotomontage so billig wie eine Brombeere hergestellt.“24 Das Montieren von „Teilen der Wirklichkeit“ diene zwar als Fälschung der bürgerlichen Gegenaufklärung, könne aber bei revolutionärer Nutzung zur „Enthüllung“ werden: „Die revolutionäre Fotomontage, deren Ziel die rückhaltlose Aufzeigung der sozialen Wirklichkeit ist, hat einer ganz neuen, früher nicht gekannten marxistischen Gestaltungsmethode den Weg geebnet; einer Gestaltungsmethode, die nicht von einer vorgetäuschten malerischen oder grafischen ‚Schönheit‘ der Welt ausgeht, sondern von der Notwendigkeit der politischen Aufklärung auf historisch-materialistischer Basis, auf der Grundlage der revolutionären Weltanschauung unserer Zeit.“25 Wie schon bereits bei Höllering, der in seinem Artikel auch explizit darauf anspielt, arbeitet sich auch Keménys Kritik der Photomontage an einem emblematischen Titel der Zeit ab: Die Welt ist schön, dem berühmt-berüchtigten Buch des neusachlichen Photographen Albert Renger-Patzsch. Das Photo-Buch von RengerPatzsch, das dann wie gesehen bei Benjamin rhetorisch geschlachtet wird, hatte bereits vorher einen deutlich polarisierenden Effekt. Aber auch wenn es zum guten Ton der linken Publizistik gehörte, eine Art Renger-Bashing zu betreiben, zeigten sich gleichwohl prominente linke Kritiker wie Ernst Toller begeistert, der in Die Welt ist schön, „das schönste Bilderbuch unserer Zeit, das ich kenne“, erblickt: „Es ist ein Buch, das sich arbeitende Menschen der Großstadt neben ihren Schreibtisch legen sollten.“26 Warum diese eigentümliche Unentschiedenheit in der Rezeption? Die Antwort mag darin liegen, daß Renger-Patzsch sein Buch in anderer Weise als 23 Walter Nettelbeck, „Sinn und Unsinn der ‚modernen‘ Fotografie“, in: Der Arbeiter-Fotograf, Bd. 3, Nr. 11, S. 219-221, S. 221. 24 Durus (= Alfréd Kemény), „Fotomontage, Fotogramm“, in: Der Arbeiter-Fotograf, 5. Jg., 1931, Nr. 7, S. 166-168, S. 166. 25 Ebd., S. 167. 26 Ernst Toller, „ Die Welt ist schön“, in: Berliner Tagblatt, 21.4.1929.
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Abb. 3-29 John Heartfield, „Die Rationalisierung marschiert!“, Entwurf der Photomontage für Der Knüppel, Nr. 2, Februar 1927
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photographische Fibel verstand und seinerseits eine photographische Alphabetisierung propagierte. Er hatte sein Buch, so seine eigene Aussage, als „ABC-Buch“27 konzipiert, bei dem es darauf ankomme, das „Wesen des Gegenstandes“28 und die „unerschöpfliche Welt der Formen“29 photographisch entziffer- und lesbar zu machen. Die Welt ist schön ist nun aber nicht nur ein nachgerade vorbildliches Modell des paradigmatischen Typs des Photo-Buchs der Avantgarden, indem jedes Bild monolithisch auf einer ganzen Seite platziert wird, sondern setzt noch dazu, wenn man Renger-Patzsch beim Wort nimmt, auf einen programmatischen Formalismus und eine metahistorische Wesensschau und dies bei gleichzeitiger Inkorporation der Insignien der modernen Arbeitswirklichkeit: Schornsteine und Fabrikanlagen finden sich in Rengers Photo-Fibel im Wortsinn Seite an Seite neben betenden Händen und Tieren. Das genau ist hier das Problem und die Provokation dieses Buchs, denn die in Der Arbeiter-Fotograf und auch in der AIZ publizierten Bilder stehen ästhetisch Rengers Arbeiten durchaus nahe, wollen und können diesem aber evidenterweise nicht in seinem Paradigma folgen. Gleichzeitig lehnt aber zumindest Der Arbeiter-Fotograf in weiten Teilen die Montage und mit ihr die syntagmatische Option der visuellen Photoarbeit ab. Das Ziel ist hüben wie drüben Affirmation: Die Welt ist schön – und das ist gut so, lautet, zugespitzt formuliert, das visuelle Programm Rengers. Die Arbeiter-Welt ist schön – und das ist gut so, ist jenes des Arbeiter-Fotografen. Anders formuliert: Gerade in der Auseinandersetzung mit Rengers Photo-Buch und der Verweigerung der Montage als syntagmatischdynamisches Verfahren zeigt sich der zutiefst konservative Zug der linken Bildpublizistik in Deutschland. Hier geht es weniger um eine revolutionäre Neugestaltung der Wirklichkeit als um eine Bestandsaufnahme der Welt des Arbeiters so wie sie sich darbietet. Sie ist das Modell der angestrebten Gesellschaft: Die Welt des Arbeiters ist schön. Dieses politische Programm wird als visuelles in der Gestaltung der Zeitschrift Der Arbeiter-Fotograf an- wie einsichtig. Und es gilt auch zumindest in recht weiten Teilen für die AIZ, die insbesondere die russische neue Welt als schöne zelebriert. Schöne neue russische Welt Das zeigt sich nicht zuletzt im Umgang mit der Technik. Während die Industrieanlagen in Deutschland und den Vereinigten Staaten als „kapitalistische Rationalisierung“ scharf kritisiert werden, gilt das für die ähnlich strukturierten in Rußland nicht. Diese sind im Gegenteil die Orte der Ankunft des neuen Menschen, der im
27 Albert Renger-Patzsch, [Beitrag zu:] Meister der Kamera erzählen, in: ders., Die Freude am Gegenstand, S. 150. 28 Ebd., S. 151. 29 Ders., „Gedanken über Fachfotografie“, in: ebd., S. 159
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Eisen geboren und im Stahl getauft wird: ein Wunderland der Technik.30Gleiches gilt für den Fordismus, der, wie bereits gezeigt, in Sowjetrußland begeistert gefeiert, hier aber heftig attackiert wird: „Das lateinische Wort Ratio heißt auf Deutsch die Vernunft. Eine rationelle Betriebsführung müßte demnach eine vernunftgemäße sein, eine solche, die sich vorher überlegt, wie sie den Betrieb am vernünftigsten einrichtet. Und einen Betrieb rationalisieren müßte heißen, ihn vernünftiger führen als bisher. Mit anderen Worten: ein möglichst großes Produkt mit möglichst wenig Arbeit erzielen.“31 Das aber sei genau nicht der Fall: Rationalisierung ziele hingegen auf das Verschwinden der Arbeiter. Im Arbeiterhaushalt ist hingegen tayloristische Rationalisierung hochwillkommen. Davon zeugen Rubriken in der AIZ wie „Praktische Winke für den Arbeiterhaushalt“32 oder „Zweckmäßige Formen in der Küche“.33 Um zu resümieren: In der Perspektive einer syntagmatischen bzw. paradigmatischen Bildorganisation betrachtet, wird das Montageprogramm als bildpolitisches entzifferbar. Während die in der AIZ syntagmatisch montierten Seiten mit Bildern des westlichen Kapitalismus eine Welt zeigen, die verändert werden soll und in Veränderung begriffen ist, gilt das für die stärker paradigmatisch organisierten Bildberichte der Errungenschaften in Rußland nicht: Sie feiern vielmehr diese Wirklichkeit so wie sie ist. Bild für Bild wird eine neu zu konstruierende und fortan „beständige Welt“ visuell errichtet.34 Die politisch-photographische Bildwelt von Der Arbeiter-Fotograf verzichtet hingegen auf Montagen und setzt weitgehend auf paradigmatische Ordnungen. Das gilt auch für die Text-Bild-Beziehungen, die, wie Willi Münzenberg feststellt, zwar eine strategisch-ideologische Performanz zulassen, aber eine solch radikale Offenheit ermöglichen, die ihm unheimlich zu sein scheint. Die visuelle Welt des Arbeiter-Fotografen ist hingegen durch eine klare und evidente, deutliche und letztlich beständige Ordnung bestimmt, die überhaupt erst Bild zu werden hat. Das ist die Pointe der Argumentation: Der Arbeiter-Fotograf hat die Welt des Arbeiters überhaupt erst photographisch zu entdecken und im doppelten Wortsinn aufzunehmen, bevor er dann den bildpolitischen Kampf aufnehmen kann, dessen Bedingungen Münzenberg so resümiert: „Viel wichtiger ist die – letzte Endes – politische Wirkung, die durch die Zusammenstellung mehrerer Bilder, durch die Unterschriften und Begleittexte erzielt wird. Das ist das Entscheidende. Auf diese Weise kann ein geschickter Redakteur jedes Foto in das Gegenteil verfälschen, kann er den politisch nicht geschulten Leser in jeder gewünschten Richtung
30 Exempl. IM Lange, „Der Arbeiter aus Stahl. Eine Maschine – die tausende von Zigarrenarbeitern überflüssig macht“, in: AIZ, 1931, S. 262f. 31 Anon., „Kapitalistische Rationalisierung“, in: ebd., S. 4f. 32 „Praktische Winke für den Arbeiterhaushalt. Neue Folge I. Der kleine Staubsauger“, in: AIZ, 1931, S. 66. 33 Ebd., S. S. 220 und 290. 34 Dieser Titel stammt von Albert Renger-Patzsch und versteht sich als Programm.
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Abb. 3-30 Kapitalistische Rationalisierung, Doppelseite aus AIZ
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beeinflussen.“35 Dennoch sucht Der Arbeiter-Fotograf sein Heil nicht in der strukturell offenen Montage, sondern in der Eroberung der „beobachtenden Maschinen“. „Unsere Aufgaben sind grenzenlos, es gilt eine Welt zu erobern und unsere eigene Welt zu verteidigen.“36 Wie verteidigt nun Kemény alias Durus die „Fotomontage als Waffe im Klassenkampf“ inmitten eines Umfelds, das lieber die Welt des Arbeiters erkundet und festgehalten sähe?37 Seine Antwort verfolgt eine recht eigentümliche und letztlich ebenso konservative Strategie, indem er den Photomonteur vom Monteur abrückt und ihn als Künstler apostrophiert: „Die bürgerliche Auffassung über Fotomontage läßt sich in folgenden Feststellungen eines bekannten bürgerlichen Kunstkritikers zusammenfassen: ‚Montage, d.h. Künstler und Handwerker sind vom Ingenieur abgelöst. Man klebt Fotografiertes zusammen, wie man Maschinenteile verschraubt.‘ Verhält sich die Sache wirklich so? Hat der Ingenieur den Künstler wirklich abgelöst? Klebt man Montiertes zusammen, wie man Maschinenteile montiert! Mit nichten [sic!]. Der Foto’monteur‘ ist ein Künstler – kein Ingenieur und die Foto’montage‘ ist ein Kunstwerk, nicht bloß eine Maschine. Ein Kunstwerk, das inhaltlich und nicht nur formal die Erfüllung ganz neuer Möglichkeiten gestattet, nicht allein Ausschnitte, sondern Beziehungen, Gegensätze, Übergänge und Überschneidungen der gesellschaftlichen Wirklichkeiten aufzudecken. Erst dann, wenn der Fotomonteur von diesen Möglichkeiten Gebrauch macht, wird seine Fotomontage als Waffe im Klassenkampf im wahrsten Sinne revolutionär.“38 Damit konnte dann letztlich auch Der Arbeiter-Fotograf leben und kleben. Zum zweiten kam es selten, da der Arbeiter ja eben alles Mögliche war – nur eben kein Künstler. Der Arbeiter-Fotograf sollte vielmehr „proletarisches Klassenauge“ sein: „Wir sind das Auge unserer Klasse! Wir lehren unsere Klassenbrüder die Augen zu gebrauchen.“39
35 Willi Münzenberg, „Aufgaben und Ziele der internationalen Arbeiter-Fotografen-Bewegung“, in: Der Arbeiter-Fotograf, Bd. 5, 1931, Nr. 5, S. 99-101, S. 99. 36 Ebd., S. 100. 37 Durus (= Alfréd Kemény), „Fotomontage als Waffe im Klassenkampf“, in: Der Arbeiter-Fotograf, 6. Jg., 1932, Nr. 3, S. 55-57. 38 Ebd., S. 55f. 39 Edwin Hoernle, „Das Auge des Arbeiters“, in: Der Arbeiter-Fotograf, Bd. 4, 1930, Nr. 7, S. 152-154, S. 153f.
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EPILOG
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Die technische Mobilmachung: Ernst Jünger
„Die Maschinentechnik ist zu begreifen als das Symbol einer besonderen Gestalt, nämlich der des Arbeiters.“1 Ernst Jünger
Der Staat ohne Arbeitslose lautet der Titel eines von Ernst Glaeser und F.C. Weiskopf herausgegebenen Bildbandes zur Sowjetunion, der 1931 in der „Universum-Bücherei für alle“ erschien. Ein Staat ohne Arbeitslose ist ein Staat der Arbeiter. „Bilder… Was besagen schließlich Bilder heutzutage?“, fragt Weiskopf in seinem Nachwort, um dann nicht nur das Land, sondern auch die Technik zu feiern: „Alles, was wir auf diesen Bildern sehen, sind nur Teile eines großen Ganzen, sind kleine Räder in einem großen Mechanismus“.2 Das Buch von Glaeser und Weiskopf ist nur ein prominentes Beispiel aus einer Fülle von Publikationen, die auf ähnliche Bilder zurückgreifen und dabei das ganze publizistische Spektrum von Zeitschriften, Broschüren und Bildbänden abdecken. Die in mehreren Sprachen erschienenen und aufwendig produzierten Broschüren USSR im Bau sind dabei gewissermaßen das offizielle Organ, das von Zeitschriften wie etwa Russie d’aujourd’hui in Frankreich oder den bereits erwähnten deutschsprachigen Organen flankiert wurden. Die politische Rechte tat sich ungleich schwerer mit der Bildpublizistik, um sie dann aber nach der Machtergreifung konsequent gleichzuschalten. Auch Ernst Jünger konnte mit der neuen Bildbegeisterung erst einmal wenig anfangen. „Zu den mannigfaltigen Anzeichen einer neuen Primitivität gehört auch die Tatsache, daß das Bilderbuch wieder eine Rolle zu spielen beginnt“,3 schrieb er in seinem Aufsatz „Das Lichtbild als Mittel im Kampf“, der in der Kampfzeitschrift der nationalbolschewistischen Bewegung Widerstand 1931 erschien. Diese Einschätzung sollte ihn dann jedoch keineswegs davon abhalten, als Herausgeber solcher Bilderbücher tätig zu werden: In der Zeit zwischen 1928 und 1933 erschienen gleich 1 Ernst Jünger, Der Arbeiter, Stuttgart 1981 (= Sämtliche Werke. Zweite Abteilung. Essays, Bd. 8. Essays 2), S. 80. 2 Ernst Glaeser und F.C. Weiskopf, Der Staat ohne Arbeitslose. Drei Jahre ‚Fünfjahresplan‘, Berlin 1931, S. 187f. 3 Ernst Jünger: „Das Lichtbild als Mittel im Kampf“, in: Widerstand, 6. Jg., 1931, Heft 3, S. 65-69, S. 65.
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EPILOG
Abb. 3-31 Umschlag von Ernst Glaeser und F. C. Weiskopf, Der Staat ohne Arbeitslose. Drei Jahre „Fünfjahresplan“, Berlin 1931
mehrere von ihm herausgegebene Bände.4 Und schon zwei Jahre nach der Erstpublikation von „Das Lichtbild als Mittel im Kampf“ verwendete Jünger sogar den gleichen Text, um ihn nun einem von ihm herausgegeben Bildband als Einleitung voranzustellen. Die veränderte Welt. Eine Bilderfibel unserer Zeit lautet der Titel dieses Bilderbuchs, dessen Klappentext das bildpolitische Programm in deutliche Worte faßt: „Der Sinn dieses Buches ist der einer vorurteilslosen und rücksichtslosen Führung durch eine neue Formenwelt. Die Belehrung, die der Betrachter empfängt, besteht in der Vernichtung der Phrase, die mit Worten wie Freiheit, Wahrheit und Friede als mit leeren Begriffen hantiert. Diese Belehrung ist um so vernichtender, als sie nach dem alten Grundsatze verfährt, daß das Gelächter am sichersten zerstört. Über diese Zerstörung hinaus werden die Mittel und Wege gezeigt, deren sich der moderne Machtkampf bedient. Die Landschaft, die sich eröffnet, wirkt wie ein geheimnisvolles, erschreckendes Märchenland. Es ist so ein Werk entstanden, 4 Vgl. dazu: Reinhart Meyer-Kalkus, „Der gefährliche Augenblick – Ernst Jüngers Fotobücher“, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Bd. 2.1, 2004, Bildtechniken des Ausnahmezustandes, S. 54-75; Brigitte Werneburg, „Die veränderte Welt: Der gefährliche anstelle des entscheidenden Augenblicks. Ernst Jüngers Überlegungen zur Fotografie“, in: Fotogeschichte, 14. Jg., 1994, Heft 51, S. 51-67; Bernd Stiegler, „Ernst Jünger: Photographie und Bildpolitik“, in: ders., Montagen des Realen. Photographie als Reflexionsmedium und Kulturtechnik, München 2009, S. 153-175; sowie umfassend: Julia Encke: Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne. 1914-1934, München 2006, S. 15-110.
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DIE TECHNISCHE MOBILMACHUNG: ERNST JÜNGER
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Abb. 3-32 Umschlag von Edmund Schultz (Hg.), Die veränderte Welt. Eine Bilderfibel unserer Zeit, Breslau 1933
das sich nicht nur auszeichnet durch eine sichere Beherrschung der technischen Mittel, sondern sich auch dieser Mittel jenseits der Zone einer billigen Objektivität mit Kühnheit und Treffsicherheit bedient. So wird das Buch zu einer Weltgeschichte unserer Epoche, die einen geistigen Umsturz von bisher ungeahnten Ausmaßen brachte.“5 Der Bildband, der sich – auch in der Rhetorik martialisch genug – die Zerstörung und Vernichtung zur Aufgabe einer neuen Form der Geschichtsschreibung gesetzt hat, präsentiert dann ein dezidiert politisches Bildprogramm, das mit Gegenüberstellungen historischer und zeitgenössischer Photographien und einer Typographie operiert, die den Kommentar nicht selten über Doppelseiten laufen läßt und die Bilder als konfligierende historische Abbreviaturen oder suggestive Kompositionen zum Sprechen bringt. „Der Zusammenbruch der alten Ordnungen“, „Das veränderte Gesicht des Masse“, „Das veränderte Gesicht des Einzelnen“, „Das Leben“, „Innenpolitik“, „Die Wirtschaft“, „Nationalismus“, „Mobilmachung“ und „Imperialismus“ lauten die Kapitel dieser neuen Fibel der Geschichte, die dem Leser oder Betrachter eine neue Sprache der Bilder wie der Geschichte beibringen soll.6 Geschichte erscheint hier als notwendiges Geschehen zwischen Technik und 5 Edmund Schulz (Hg.), Die veränderte Welt. Eine Bilderfibel unserer Zeit. Mit einer Einleitung von Ernst Jünger, Breslau 1933, o.S. 6 Vgl. hierzu auch Georges Didi-Huberman, Wenn die Bilder Position beziehen. Das Auge der Geschichte 1, München 2011.
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EPILOG
Abb. 3-33 und 34 Edmund Schultz (Hg.), Die veränderte Welt. Eine Bilderfibel unserer Zeit, Breslau 1933, vier Doppelseiten
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DIE TECHNISCHE MOBILMACHUNG: ERNST JÜNGER
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Abb. 3-34
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EPILOG
Natur. Was vor Augen geführt werden soll, ist, in Jüngers Worten, eine neue „Gestalt“: die des Arbeiters. Mit ihr kommt die Geschichte zu ihrem Abschluß, und eine neue Ordnung der Dinge regiert die Welt. Das ist, so will Jünger uns zeigen, keineswegs eine Zukunftsprognose, sondern der Stand der Dinge. Die insgesamt gut dreihundert Bilder in Die veränderte Welt stammen fast durchweg aus Pressebildstellen und kommen ohne jede Photographennennung aus. Die Anonymisierung und die Verwendung von ohnehin bereits publizierten oder zur Publikation in der Tagespresse bestimmten Bildern gehören mit zum Programm des Bandes, der sich nicht nur in diesem Punkt dezidiert von anderen Bilderfibeln – und nicht zuletzt von Heartfields und Tucholskys Deutschland, Deutschland über alles – dieser Zeit absetzt. Jüngers Bilderfibel entwirft hingegen ein anti-avantgardistisches Bildprogramm, das nicht allein auf Verfahren der Photomontage oder der Collage verzichtet, sondern diesen sogar eine festgefügte Bilderfront entgegenstellt. Es geht hier um eine andere Form der visuellen Alphabetisierung, die nicht auf eine Veränderung der bestehenden Ordnungen, sondern auf Feststellungen setzt. Doppelseite für Doppelseite werden die alte und die neue Ordnung einander gegenübergestellt. Die Pointe bei dieser Eskamotierung der bürgerlichen Gesellschaft, die sich auch die Avantgarden in anderer Weise auf die Fahnen geschrieben hatten, ist, daß Geschichte überführt wird in eine überzeitliche Ordnung. Auch Jünger wird dabei wie die Avantgarden vom Elementaren reden, meint aber den „heroischen Realismus“ des Arbeiters.7 Jünger verwirft daher die Montage als künstlerisches Verfahren, folgt hingegen dem Begriff der Montage als industrielle Fertigung – denn der quasi-industriellen Fertigung von maschinengleichen Wesen und der Omnipräsenz wie historisch unwiderruflichen Dominanz der Technik gilt sein ganzes Augenmerk. Jüngers Montagebegriff ist Ausdruck eines konstruktivistischen Radikalismus und Konsequenz einer technizistischen wie metahistorischen Betrachtungsweise, die sehenden Auges in faschistische Theoreme mündet. Aus dem montierten Menschen wird der Arbeiter. Photographien als Mittel im politischen Kampf Ernst Jünger setzt nun auch in anderen Bänden auf das für ihn neue Mittel im Literaturkampf: auf Bilder und vor allem auf Photographien. Das ist durchaus bemerkenswert, da Jünger bis dahin auch der Photographie ablehnend gegenüberstand und sie etwa als einen der „unangenehmsten Versuche“ bezeichnete, „dem Zeitlichen eine unziemliche Gültigkeit zu verleihen“, wie es etwa im Abenteuerlichen Herzen hieß.8 Nun aber gewinnt sie gleich eine doppelte Gestalt. Auf der einen Seite werden Photographien in Jüngers einleitendem Essay zu Das Antlitz des Weltkriegs, der mit „Krieg und Lichtbild“ betitelt ist, als „Dokumente von beson7 Ders., Der Arbeiter, S. 41. Vgl. ebd. bes. S. 52f. 8 Ders., Das abenteuerliche Herz, Stuttgart 1999 (= Sämtliche Werke. Zweite Abteilung. Essays, Bd. 9. Essays 3), S. 118.
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derer Genauigkeit“ beschrieben.9 Diese seien ein „feiner Abdruck des äußeren Geschehens“, der „Abdrücke, die uns das Dasein seltsamer Tiere im Gestein hinterlassen hat“, gleicht.10 Damit sind sie gewissermaßen natürliche Bilder, die eine besondere Form der Betrachtung erfordern. Diese wird programmatisch mit dem Weltkrieg verknüpft: „Hinter den Abbildern einer versunkenen Welt, hinter den Ruinen den Atem großer Taten und Leiden zu spüren, das ist die Aufgabe.“11 Auf der anderen Seite werden die Photographien explizit mit einem Angriff durch Waffen parallelisiert. In dem Aufsatz „Krieg und Lichtbild“ geschieht das noch metaphorisch über einen Parallelismus: „Neben den Mündungen der Gewehre und Geschütze waren Tag für Tag die optischen Linsen auf das Kampfgelände gerichtet.“12 Die Bilder seien daher, „glückliche Zufallstreffer der Kamera, von Händen erzielt, die für eine Sekunde auf die Führung des Gewehrs oder der Handgranate verzichteten, um den Momentverschluß zu betätigen.“13 Die Hand des Soldaten wandert von einer Waffe zur anderen. Im Arbeiter und dem Aufsatz „Über den Schmerz“ heißt es dann aber bereits programmatisch, „daß die Photographie eine Waffe ist, deren sich der Typus bedient. Das Sehen ist ihm ein Angriffsakt.“14 Jünger verwendet fortan die Photographie in diesem Sinne: als performatives Medium, als Angriffsakt. In den Bänden Luftfahrt ist not!, Die Unvergessenen und Der Kampf um das Reich geschieht dies noch eher zurückhaltend, in Das Antlitz des Weltkriegs, Der gefährliche Augenblick und dann vor allem in Die veränderte Welt in nachdrücklicher Form. Die ganze Geschichte wacht gleichsam auf Die ersten Bildbände, für die Ernst Jünger verantwortlich zeichnet, sind noch sehr textlastig, verfolgen aber gleichwohl klare Strategien. Luftfahrt ist not! wurde mit zahlreichen kleinformatigen Photographien und insgesamt sechs farbigen Tafeln illustriert. Von Jünger stammt das Vorwort, dann folgen etwas mehr als 40 Artikel zu diversen Themen, die historische Fragen ebenso behandeln wie politische und auch besonderen Persönlichkeiten der Luftfahrt und wichtigen Flugzeugtypen gewidmet sind. Der Flieger ist, so Jünger, eine jener „von Grund auf männlichen Naturen“, die in einer technischen Welt, die zur zweiten Natur geworden sei, Erzieher eines neuen Typus sein können. Das technische Medium der Photographie ist daher eine willkommene Ergänzung angesichts der bereits vollzogenen Überwindung
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Ders., Das Antlitz des Weltkrieges, Berlin 1930, S. 9-11. Ebd., S. 9. Ebd., S. 11. Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Ders., „Über den Schmerz“, in: ders., Blätter und Steine, Hamburg 1941, S. 157-216, S. 182.
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des „quälenden Zwiespalts zwischen dem Menschen und der Maschine.“15 Dieser ist hier bereits aufgehoben. Auch Schicksal, Notwendigkeit und Nationalismus werden kurzgeschlossen und in eine sich selbst begründende neue Ordnung der Welt überführt: „Das Notwendige begründet sich von selbst“, heißt es programmatisch.16 In Die Unvergessenen, einem opulent ausgestatteten Buch, das mit 4 farbig reproduzierten Aquarellen und 64 Kunstdrucktafeln illustriert ist, wird erstmals eine implizite Theorie des Bildes entworfen. Diese bezieht sich hier allerdings nicht auf die photographischen Portraitaufnahmen, sondern auf das Erinnerungsbild, denn der Anspruch des Bandes sei es, „das Bild unserer Gefallenen, dieser Gleichnisse des großen Opfers, im besten Sinne volkstümlich zu machen.“17 Mit anderen Worten: Lebensbilder und Portraits sollen zu Vorbildern werden. Neben gefallenen Soldaten gehörte auch ein anderer Held der konservativen Revolution zu den Auserwählten: Jüngers Bruder Friedrich Georg verfaßte für den Band einen Text über Albert Leo Schlageter, der nicht im Weltkrieg gefallen war, sondern aufgrund seiner Aktivitäten für die Organisation Heinz während der Ruhrbesetzung gefangen genommen und dann vor ein französisches Kriegsgericht gestellt wurde, das ihn zum Tode verurteilte. Das Urteil wurde am 26. Mai 1923 vollstreckt. Schlageter wurde rasch für die rechte Bewegung zu einem nationalen Helden. In der Zeit des Nationalsozialismus entwickelte sich dann ein regelrechter Schlageter-Kult. Daß Schlageter in diesem Band erscheint, ist daher ein dezidiertes politisches Statement. Die in Die Unvergessenen portraitierten Gefallenen werden insgesamt als Spiegel der „besonderen Bildung des Lebens“ und auch des „deutschen Charakters“ beschrieben, deren Bild Symbol des Lebens sein solle.18 „So lassen wir die Toten ins uns leben, weil sie lebendiger als die Lebenden sind.“19 Diese Aufgabe sei umso wichtiger, weil die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg bereits zu verschwinden drohe. „Freilich, je mehr der Krieg aus einem Erlebnis zu einer Erinnerung wird, desto mehr glüht die Zeit das aus, was Fleisch und was Blut an ihm war, das Leben neuer Geschlechter wird von neuen Inhalten erfüllt, und nur der harte, zeitlosere Kern 15 Ders. (Hg.), Luftfahrt ist not!, Leipzig o.J. [1933], S. 9. 16 Ebd., S. 8. 17 Ders. (Hg.), Die Unvergessenen, München 1928, S. 14. Von Jünger stammen das Vorwort (9-14) und das Nachwort (387-390) sowie ein literarisches Portrait von Caspar René Gregory (117-131). Weiterhin enthält der Band 44 Portraits von Gefallenen des Ersten Weltkriegs in alphabetischer Folge von Rudolf Berthold bis Albert Weisgeber. Vertreten sind u.a. Otto Braun, Richard Dehmel, Walter Flex, Gorch Fock, Alfred Lichtenstein, Hermann Löns, August Macke, Franz Marc, Ernst Stadler, August Stramm, Georg Trakl. Kiesel zählt 11 Berufsoffiziere, vier Kampfflieger, einen Militärarzt, ein sozialdemokratischer Politiker, zwei Gelehrte, zwanzig Maler und Literaten, die zum Teil nur in Gestalt von Gedichten vorgestellt werden (Helmuth Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007, 368f.). Autoren sind u.a. Friedrich Georg Jünger (mit sieben Texten), Gerhard Günther, Lothar Schreyer, Hans Schwarz van Berk und Ludwig Alwens. 18 Ebd., S. 14. 19 Ebd., S. 388.
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bleibt bestehen.“20 Die Lebensbilder, die dieser Band nachzeichnet, verstehen sich zugleich als Leitbilder eines „höheren Lebens“, als „Bilder des Opfers als Symbol“ und als Zeichen der Bejahung des Lebens, die einen Name trage: Deutschland.21 „‚Deutsch‘“, so Jünger, „ist ein Wort, das nicht gesteigert werden kann.“22 Die Photographien, die dem Band beigegeben sind, werden daher wie eine regelrechte Ahnengalerie präsentiert. Ein weiterer Band, Der Kampf um das Reich, enthält bereits 61 photographische Abbildungen. Erneut stammt das Vorwort von Jünger, die dann folgenden 19 Beiträge von verschiedenen Autoren.23 Gegenstand des Buchs sind die politischen Konflikte der Revolutionszeit: der Kapp-Putsch im März 1920 und jener von Hitler am 9. November 1923 sowie die Auseinandersetzungen an der Ostgrenze des deutschen Reichs. Diese Konflikte werden als revolutionäre Wiederholung der deutschen Geschichte insgesamt gedeutet. „Die ganze Geschichte wacht gleichsam auf, jeder der vergangenen Zustände klopft noch einmal an die Tore der Gegenwart.“24 Nun aber habe man es mit einer „inneren Notwendigkeit“, einem „Schicksal“ zu tun: „Hier ist ein Sein, das sich zu verwirklichen sucht“.25 Aufgabe sei es, so formuliert Jünger programmatisch, „das Deutsche in seiner neuen Gestalt zu verwirklichen“ und „energisch in die Welt des 20. Jahrhunderts einzutreten“.26 Der im Nationalsozialismus mythisierte Albert Leo Schlageter erscheint dabei erneut als idealisiertes Vorbild. Das Antlitz des Weltkrieges Den etwa 200 Aufnahmen in Das Antlitz des Weltkriegs geht es um die Bergung eines „Schatzes an Bildern“.27 Sie dokumentieren eine Zerstörung, die, so wird behauptet, die Geschichte längst ad acta gelegt hat. Auf den Photographien sind die Zerstörungen zu sehen, während die Geschichte bereits wieder Gras über die Verwüstung hat wachsen lassen und die „Welt des Friedens bereits seit langem wieder Besitz“ der Schlachtfelder ergriffen hat.28 Photographien sind hingegen Residuen historischer Erfahrung und daher mit Fossilien zu vergleichen. Und zugleich halten 20 21 22 23
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Ebd., S. 9. Ebd., S. 9 und 12. Ebd., S. 390. Ernst von Salomon ist gleich mit drei Aufsätzen vertreten; die anderen stammen, in der Reihenfolge des Buchs, von Gerhard Günther, Richard Frey, Franz Nord, Georg Heinrich Hartmann, Hans Fischer, Hartmut Plaas, Walter Reetz, Hans Schwarz van Berk, Gustav Melzer, Fritz Kloppe, Edmund Osten, Carl Kranz, General a.D. von Teschner, Gregor Strasser, Otto Strasser und Ludwig Alwens. Ders. (Hg.), Der Kampf um das Reich, Berlin o.J. [1929], S. 5. Ebd. Ebd., S. 6. Ders., Antlitz des Weltkrieges, S. 10. Ebd., S. 9.
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Abb. 3-35 Ernst Jünger (Hg.), Das Antlitz des Weltkriegs, Berlin 1930
Abb. 3-36 Ernst Jünger (Hg.), Das Antlitz des Weltkriegs, Berlin 1930
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sie den Kampf am Leben. Ernst Jünger unternimmt also eine Art Paläontologie des Krieges und deutet diesen auch nicht nur als Revolution der Technik, sondern vor allem als Evolution der Gesellschaft und des Lebens. Der Krieg ist in dieser Logik eine „andere Seite des Lebens, die selten an die Oberfläche tritt, aber eng mit ihm verbunden ist.“29 Der Krieg wird als eine Umwälzung von historischen Formationen vorgestellt, durch die Leitfossilien an die Oberfläche gebracht werden, die die Verwandlung der Kultur in Kategorien der Evolution und der Natur deutbar machen. Krieg ist Eröffnung und Ermöglichung einer Wesensschau. Chiffre einer Verwandlung von Kultur, die sich im Krieg in Stein verwandelt, ist dabei Pompei. In dem Text „Der letzte Akt“, der aus Jüngers Feder stammt, vergleicht er Combles mit einem „modernen Pompei“, das den „Eindruck eines sehr gefährlichen Raumes“ erweckt: „Das Bild dieser vesuvischen Landschaft in der vollen Gestalt ihres Aufruhrs wäre der Beobachtungsgabe eines jüngeren Plinius würdig gewesen.“30 Ernst Jünger als jüngerer Plinius des Ersten Weltkriegs macht nun auch in dessen Landschaft ein „Spiel des Feuers“ aus, „dessen wechselnde Formen etwas Elementares besaßen“.31 Seine Beschreibung folgt dabei der Logik der Lichtbilder und versucht unterhalb der Oberfläche der Zerstörung einen Schatz an Bildern zu bergen, der sich als „Ablösung der Formen“ artikuliert. „Und doch“, schreibt Jünger, „läßt sich sagen, daß, wenn in unserer Zeit sich eine bedeutende Revolution vollzog, sie den wirksamsten Teil ihrer Leistung unter der Oberfläche des Krieges selbst entwickelte.“32 Die Revolution ist mithin Ausdruck einer tiefer liegenden Evolution, und genau dieser Doppelgestalt von Oberfläche und Tiefe gilt sein Augenmerk. Jünger versucht nun Kontingenz in schicksalhaften Gestaltwandel zu übersetzen und diesen erst historisch zu bestimmen, um ihn dann gleich in metaphysische Ordnungsformen zu überführen. Der Technik kommt hierbei eine entscheidende Rolle zu. Bereits zu Beginn der ersten Fassung der Stahlgewitter heißt es programmatisch: „Eins hebt sich indeß immer klarer aus der Flut der Erscheinungen: die überragende Bedeutung der Materie. Der Krieg gipfelt in der Materialschlacht; Maschinen, Eisen und Sprengstoff waren seine Faktoren. Selbst der Mensch wurde als Material gewertet.“33 Diese Beschreibung des Weltkriegs als Materialschlacht und industrielles Produkt, mithin als „Stahlgewitter“, die insbesondere im Maschinengewehr ihr Sinnbild erfährt, das auch im Arbeiter wieder aufgenommen wird, führt dann zu einer an der neuen Sachlichkeit orientierten, distanzierten Schreibweise einerseits und zur Ausbildung einer Metaphorik andererseits, in der programmatisch Natur und Technik rhetorisch verschaltet werden. Diese Bestimmung der literarischen Weltkriegstexte wird in einzelnen politischen Aufsätzen weiter zugespitzt. Zu nennen sind hier insbesondere „Die Technik in der Zukunftsschlacht“ von 1921, „Die Maschine“ von 1925 29 30 31 32 33
Ebd., S. 223. Ebd., S. 116f. und 107. Ebd., S. 108. Ebd., S. 238. Ders., In Stahlgewittern, Leisnig 1920, S. V.
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und der später erschienene Essay „Die Technik und ihre Zuordnung“ von 1933.34 Was in allen diesen Texten hinsichtlich der Technik allerdings noch zumeist implizit verhandelt wird, findet in Die Totale Mobilmachung und im Arbeiter seine theoretische Präzisierung. Hier erscheint der Erste Weltkrieg als historische Zäsur, als „Stahlbad“, in dem der Bürger stirbt und dem dann der neue technische Mensch entsteigt. Das bürgerliche Zeitalter hat mit dem Weltkrieg sein Ende gefunden, und der Arbeiter als neue historische Konfiguration seinen Anfang genommen. Jünger sieht in der Technik eine neue Ordnung der Welt anbrechen, die als neue Natur die Opposition von Natur und Kultur aufzuheben sucht.35 Diese werden in Gestalt einer Technik fusioniert, die zugleich elementar sein soll. Jünger erblickt hier eine Versöhnung von Mensch und Natur mittels der Technik, deren Triumph zelebriert wird. Dadurch sei auch die Entfremdung aufgehoben – zugunsten einer Symbiose von Mensch und Maschine. Dieser Entwurf eines technokratischen Monismus zielt auf eine dezidiert antiindividualistische Organisation der Gesellschaft, in der Gehorsam statt Freiheit regiert oder genauer: eine Organisation, die Freiheit just als Befehlsgehorsam und Pflicht auffaßt. Der Mensch ist bereits von der Technik durchdrungen, ist Maschine geworden. Die Technik als Uniform „Was die innere Form dieser Untersuchung betrifft,“ schreibt Ernst Jünger in seinem Aufsatz „Über den Schmerz“, „so beabsichtigen wir die Wirkung eines Geschosses mit Verzögerung, und wir versprechen dem Leser, daß er nicht geschont werden soll.“36 Der Text soll wie ein Geschoß wirken und seine Wirkung auf den Leser nicht verfehlen. Allerdings soll der Leser keineswegs – wie es die Metapher nahelegt – Schmerz verspüren, sondern vielmehr gerade seine Unempfindlichkeit gegenüber einer solchen rhetorischen Verletzung. Der Leser soll, mit anderen Worten, wahrnehmen, daß der Schmerz längst eine andere Gestalt angenommen hat und seine Eigenwahrnehmung anderen Regeln und Modellen gehorcht. Der Leser soll sich so wahrnehmen, als blicke er sich mit dem gläsernen und nüchternen Auge einer Kamera an. Er soll eine sachliche Bestandsaufnahme unternehmen, in der
34 Ders., „Die Technik in der Zukunftsschlacht“, in: Militärwochenblatt. Zeitschrift für die deutsche Wehrmacht, das Versorgungs- und Abwicklungswesen, Bd. 106, Nr. 14, Berlin 1921, Spalte 288-290; „Die Maschine“, in: Die Standarte. Beiträge zur geistigen Vertiefung des Frontgedankens. Sonderbeilage des Stahlhelm. Wochenschrift des Bundes der Frontsoldaten, (Magdeburg) Nr. 15 vom 13.12.1925 S. 2; „Die Technik und ihre Zuordnung“, in: Münchner Neueste Nachrichten, Bd. 86 (1933), Nr. 62, 4.3.1933, S. 1-2. 35 Gilbert Merlio zit. nach Friedrich Strack (Hg.), Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter, Würzburg 2000, S. 37. 36 Ders., „Über den Schmerz“, in: Sämtliche Werke, Zweite Abteilung, Essays, Bd. 7, Essays 1, Stuttgart 1980, S. 143-191, S. 146.
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sich nach Jünger zu zeigen hat, daß „die Technik unsere Uniform ist“37 und daß das auch für die Photographie als Technik gelte. So nimmt es kaum wunder, daß sich die Metapher des Geschosses in diesem Aufsatz auch im Zusammenhang mit der Photographie wiederfindet. „Die [photographische] Aufnahme steht“, so heißt es dort, „außerhalb der Zone der Empfindsamkeit. Es haftet ihr ein teleskopischer Charakter an; man merkt, daß der Vorgang von einem unempfindlichen und unverletzlichen Auge gesehen ist. Sie hält ebensowohl die Kugel im Fluge fest wie den Menschen im Augenblick, in dem er von einer Explosion zerrissen wird. Das ist die uns eigentümliche Art zu sehen; und die Photographie ist nichts anderes als ein Werkzeug dieser unserer Eigenart.“38 Die Photographie als Geschoß bezeichnet nicht einen Ausnahmezustand, sondern vielmehr die Regel; sie steht für eine Haltung, die auch außerhalb des Krieges längst zur alltäglichen Wahrnehmung geworden sei. Die Photographie erscheint wie eine technische Materialisierung des modernen Sehens, das sich durch Empfindungslosigkeit, Kälte und Sachlichkeit auszeichne und Ausdruck der Tatsache sei, daß Individualität ohnehin längst der Vergangenheit angehöre und die Rede vom Letzten Menschen dahingehend ein Euphemismus sei, da dieser bereits verschwunden sei. Die Photographie ist die technische Wahrnehmungsform des modernen Menschen, da sich der neue Typus durch die Fähigkeit auszeichne, „sich selbst als Objekt zu sehen“ und somit außerhalb der Zone des Schmerzes zu stehen komme.39 Die „revolutionäre Tatsache der Photographie“40 liege gerade darin, daß ihr einerseits „Urkundencharakter zugebilligt“ werde, sie aber andererseits als „künstliches Auge“ imstande sei, „auch Räume einzusehen, die dem menschlichen Auge verschlossen sind.“41 Objektivität einerseits, Überschreitung der Grenzen der Subjektivität durch die Artifizialität der Technik andererseits: das ist das Programm, das die Photographie zu denken aufgibt. Die Photographie ist für Jünger das paradigmatische Medium der Distanzierung, einer Distanzierung, die zu einer regelrechten Haltung geworden ist und auch seine eigene Theorie nachhaltig prägt. Es ist daher nicht überraschend, daß sich in den Publikationen Jüngers eine Dominanz von optischen Verfahren der Distanzierung konstatieren läßt. Seine privilegierten Figuren sind der „teleskopische Blick“, auf den er immer wieder zu sprechen kommt, oder aber die Nahaufnahme, die sich etwa als regelrechtes poetologisches Verfremdungsverfahren in zahlreichen Texten in Das Abenteuerliche Herz findet. Dazu gehört dann auch das „stereoskopische Sehen“, bei dem ein visuelles Massenmedium des 19. Jahrhunderts umgedeutet wird.42 „Uns hier unten, „schreibt Jünger dem Mann im Mond mit einem ge37 38 39 40 41 42
Ebd., S. 174. Ebd., S. 182. Ebd., S. 181. Ebd. Ebd., S. 181f. Ders., „Sizilianischer Brief an den Mann im Mond“, Erstdruck 1930, hier zitiert nach dem Abdruck in: Sämtliche Werke, Zweite Abteilung. Essays, Bd. 9, Essays III, Stuttgart 1979, S. 9-22.
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wissen Bedauern, „aber ist es selten vergönnt, den Zweck dem Sinne eingeschmolzen zu sehen. Und doch gilt unser höchstes Bestreben jenem stereoskopischen Blick, der die Dinge in ihrer geheimeren, ruhenderen Körperlichkeit erfaßt.“43 Und das genau können nach Jünger Stereoskopbilder leisten: „Das war das Wunderbare, das uns an den doppelten Bildern entzückte, die wir als Kinder durch das Stereoskop betrachteten: Im gleichen Augenblick, in dem sie ein einziges Bild zusammenschmolzen, brach auch die neue Dimension der Tiefe in ihnen auf.“44 Je näher Du etwas anschaust, umso weiter blickt es zurück. Es gilt einen stereoskopischen Blick zu entwickeln, der immer die Dinge in ihrer aktuellen Gestalt und in ihrer geopolitisch-kosmologischen zugleich in den Blick nimmt. Es mag nicht verwundern, daß die historische Fortsetzung der Stereoskopien des 19. Jahrhunderts die Raumbildalben waren, die sich vor allem einem Gegenstand widmeten: den Schlachten des Ersten und später des Zweiten Weltkriegs. Mitten drin statt nur dabei, so führen die Stereobilder den Weltkrieg vor Augen. Und zugleich zeigen sie einen neuen Raum, dem das bürgerliche Zeitalter ausgetrieben werden sollte: „Die Landschaft wird konstruktiver und gefährlicher, kälter und glühender; es schwinden aus ihr die letzten Reste der Gemütlichkeit dahin.“45 Zum Raum wird hier die Zeit In Jüngers photographischen Publizistik läßt sich eine Verschiebung seiner theoretischen Grundeinstellung beobachten: Während seine frühen Kriegstexte sich am Paradigma der Zeit ausrichten – man denke etwa an Bohrers Analyse der „Plötzlichkeit“, der genau diese eigentümliche Figur der Zeitlichkeit herauspräpariert –,46 kommt es in den Publikationen zur Photographie zu einem spatial turn: Nun ist der Raum die bestimmende Kategorie, und selbst die Landschaft spielt plötzlich eine wichtige Rolle. Zeitlichkeit wird dementsprechend in sichtbare historische Formationen umcodiert und so in räumliche Kategorien gefaßt. Wenn Jünger nun in „Über den Schmerz“ auch auf den Arbeiter verweist, so ist dies Hinweis auf eine noch dezidiertere politische Positionierung – wenn das überhaupt noch möglich ist, zeichnet sich doch auch bereits der Essay „Über den Schmerz“, wie Albrecht Koschorke gezeigt hat, durch eine faschistische Haltung aus.47 Wenn sich im Arbeiter die Bestimmung der Photographie als „politische Angriffswaffe“48 findet, die eher globale Ziele anvisiert, so ist „Über den Schmerz“ 43 44 45 46 47
Ebd., S. 20. Ebd., S. 22. Ders., Der Arbeiter, S. 177. Vgl. Karl Heinz Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens, München 1978. Vgl. Albrecht Koschorke, „Der Traumatiker als Faschist. Ernst Jüngers Essay ‚Über den Schmerz‘“, in: Inka Mülder-Bach (Hg.), Modernität und Trauma 1910-1930, Wien 2000, S. 211-227. 48 Jünger, Der Arbeiter, S. 126.
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eher dem Nahkampf verpflichtet. Doch auch hier heißt es: „Das Sehen ist ein Angriffsakt.“49 Und auch dieser Essay nimmt größere politische Ziele in den Blick: „Auch in der Politik gehört das Lichtbild zu den Waffen, deren man sich mit immer größerer Meisterschaft bedient. Insbesondere scheint es dem Typus ein Mittel darzubieten, den individuellen, das heißt: den seinen Ansprüchen nicht mehr gewachsenen Charakter des Gegners aufzuspüren; die private Sphäre hält dem Lichtbild nicht stand.“50 Die Photographie ist für Jünger Ausdruck eines umfassenden wie unaufhaltsamen verdinglichenden Zugs der Technik, die vor nichts halt macht. Sie ist ein „mechanisch verkleideter Angriff, der kälter und unersättlicher ist als jeder andere“,51 der das Leben fossilisiert, den Einzelnen zum Typus macht und die Seele in metallische Oberfläche verwandelt. So deutet Jünger auch die Gestalt der Sportler in den Illustrierten: Ihr photographiertes Gesicht sieht anders aus: „Es ist seelenlos, wie aus Metall gearbeitet oder aus besonderen Hölzern geschnitzt, und es besitzt ohne Zweifel eine echte Beziehung zur Photographie. Es ist eins der Gesichter, in denen der Typus oder die Rasse des Arbeiters sich zum Ausdruck bringt.“52 Die Photographie dient einer Eskamotierung des Privaten und Individuellen zugunsten eines nüchternen, sachlichen und globalen teleskopischen Blicks, dem es auf Strukturen und Gesetze, auf geopolitische Verwerfungen und Gestaltwandel, nicht aber auf filigrane Unterscheidungen, individuelle Äußerungen oder subjektive Ausdrucksformen ankommt. Die Photographie ist weiterhin technischer Ausdruck wie theoretische Metapher einer neuen Haltung des Individuums im Zeitalter des Typus, des Arbeiters und der Gestalt. Sie ist eine Art Reflexionsfigur, die Beobachtung in Selbstbeobachtung überführen soll und dabei zugleich auch ein Switchen zwischen politischer Intervention und neutraler Beobachtung, zwischen dem Status des Textes als politischer Agitation und diagnostischem Seismographen gestattet. Eine solche fundamentale Ambivalenz findet sich auch in den Details von Jüngers Argumentation. So zielt diese etwa auf eine Überführung von technischer Verdinglichung, die er als Prozeß der Globalisierung beobachtet, in politische Instrumentalisierung, die dem Individuum abverlangt wird. Diese Beziehung nimmt unter der Hand die Form eines Imperativs an: Weil eine generalisierte Verdinglichung zu beobachten ist, gilt das auch für die Individuen; daher soll der Einzelne nicht nur sich selbst zum Gegenstand machen, sondern sich selbst auch als Mittel zum Zweck in den politischen Kampf einbringen. Das Individuum ist dabei Subjekt wie Objekt der Vergegenständlichung, und die Verdinglichung ist historischer Prozeß wie metaphysische Struktur. Oft ist von einer höheren Ordnung oder aber
49 50 51 52
Ders., „Über den Schmerz“, S. 182. Ebd. Ebd., S. 148. Ebd., S. 186.
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von einer Tiefe des Elementaren die Rede.53 Doch auch hier gilt die Ambivalenz einer überzeitlichen metaphysischen Struktur einerseits und einer erst herzustellenden politischen Ordnung andererseits. Einzig der Imperativ ist klar; er dient der Ordnung: „Es gilt,“ so formuliert Jünger das Ziel der technischen Disziplinierung, „das Leben völlig in der Gewalt zu halten, damit es zu jeder Stunde im Sinn einer höheren Ordnung zum Einsatz gebracht werden kann.“54 Und da, so Jünger, „der Appell an die unmittelbare Anschauung kräftiger und einschneidender wirkt als die Schärfe des Begriffs“, folgen auch die Bilderfibel und die Photobücher diesem Ordnungsruf. 55 Sie sollen Ordnungen zeigen und Ordnungen erzeugen. Sie sind konstative und performative Bildakte zugleich. Vom montierten Menschen zum Arbeiter Ernst Jünger betont gleich zu Beginn seines Großessays, daß es sich nicht um Gedanken oder Ideen, sondern um eine neue Wirklichkeit handelt, die möglichst scharf und präzise zu beschreiben sei, und er kommt später mehrfach darauf zurück.56 „Noch einmal“, so heißt es etwa, „wollen wir uns hier erinnern, daß unsere Aufgaben im Sehen, nicht aber in der Wertung besteht.“57 Es geht also um eine neue Sicht der Dinge, ein neues Sehen. Auch das ist ein avantgardistischer Zug, der hier konsequent umcodiert wird. Das gilt auch für den montierten Menschen, dessen faschistische Neumontierung der Arbeiter darstellt. Der Arbeiter wird dabei als „organischer Begriff“ aufgefaßt, weil er im Zuge der Argumentation eine Entwicklung durchlaufe, um am Ende dann als neue welthistorische Konstellation ansichtig zu werden.58 Er wird zur Gestalt, die Kultur und Natur, Geschichte und Technik, Masse und Einzelnen überblendet.59 Ein dergestalt generalisierter Arbeitsbegriff fungiert als eine unter vielen Kippfiguren, die auch die Technik als ehemals neutralen Raum des Austauschs faschistisch umdeutet. Jünger spricht in diesem Sinne von einer Freiheit, die sich als Notwendigkeit, von einem Einzelnen, der sich als Masse, und von einer Kultur, die sich als Natur erkennt. Dieser Übergang vom montierten Menschen zum Arbeiter geschieht fast en passant zwischen zwei Sätzen: „Auch die Technik ist scheinbar ein allgemeingültiges, ein neutrales Gebiet, das je53 Vgl. etwa ebd., S. 152: „Die Oberfläche der allgemeinen Begriffe beginnt brüchig zu werden, und die Tiefe des Elements, das immer vorhanden war, schimmert dunkel durch die Risse und Fugen hindurch.“ 54 Ebd., S. 159. 55 Ders., „Das Lichtbild als Mittel im Kampf“, in: Widerstand, Bd. 6, Nr. 3, 1931, S. 65-69, S. 65. 56 Ders., Der Arbeiter, S. 13. 57 Ebd., S. 140. 58 Ebd., S. 20. Vgl. auch ebd., S. 181, wo Jünger von der „Verschmelzung des Unterschiedes zwischen organischer und mechanischer Welt“ spricht, um hinzuzufügen: „ihr Symbol ist die organische Konstruktion.“ 59 Vgl. etwa expl., S. 27: „die Masse und der Einzelne sind eins“.
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Abb. 3-37 Umschlag von Ernst Jünger, Blätter und Steine, Hamburg 1934
der beliebigen Kraft Zutritt gewährt,“60 heißt es noch ganz in der Logik des montierten Menschen, um dann sogleich dieses Feld zu besetzen: „Die Maschinentechnik ist zu begreifen als das Symbol einer besonderen Gestalt, nämlich der des Arbeiters.“61 Später, nachdem auch das Niemandsland besetzt worden ist, heißt es dann schlicht: „Die Technik ist also keineswegs eine neutrale Macht.“62 Und es ist zu ergänzen: sie ist es nicht mehr. Jünger betreibt eine präzise Politik der Annexion, die Schritt für Schritt das Programm der Avantgarden aufnimmt, neu besetzt, umcodiert und dadurch, so seine Vision, „ein gestaltmäßiges Leben ermöglichen wird.“63 Von den Photobüchern, über das „Neue Sehen“ bis hin zur Theorie der Technik und des montierten Menschen besetzt er Feld um Feld, oder um ein auf Karl Kraus gemünztes Zitat von Bert Brecht aufzunehmen: „Als die Avantgarde Hand an sich legte, war er diese Hand“. Das geht bis hin zur visuellen Alphabetisierung, da der Umschlag von Blätter und Steine auf Jüngers Text „Lob der Vokale“ rekurriert. Jünger begreift insbesondere das ehemals neutrale Gebiet der Technik als die entscheidende Kampfzone,
60 61 62 63
Ebd., S. 79. Ebd., S. 80. Ebd., S. 170. Ebd., S. 187.
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auf der er seine wichtigste Figur platziert: den Arbeiter.64 „Die Technik als Mobilisierung der Welt durch die Gestalt des Arbeiters“ ist das Kapitel zur Technik überschrieben, womit weder Mobilität noch Veränderung gemeint sind, wie das noch in den Avantgarden der Fall war, sondern Mobilmachung und Gestalt.65 Jünger besetzt den Maschinenraum der Avantgarden und verwandelt die Technik als Motor der gesellschaftlichen Entwicklung in eine überhistorische Gestalt, die eine jede Form von Veränderung stillstellt: „In diesem Sinne ist der Motor nicht der Herrscher, sondern das Symbol unserer Zeit, das Sinnbild einer Macht, der Explosion und Präzision keine Gegensätze sind.“66 Herrscher ist der Arbeiter, der aber seinerseits wie ein Motor funktioniert. Jünger spricht in diesem Sinne von einem „Übergang von der Veränderung zur Konstanz – einem Übergang, der freilich sehr bedeutende Folgen zeitigen wird.“67 Die Folgen sind schlicht globaler Natur. Es regiert längst die Gestalt und die „organische Konstruktion.“68 Veränderung wird durch Dauer, Kultur durch Natur abgelöst. Die Avantgarden stehen in dieser Optik für die historische Phase der Destruktion, die nun durch die Konstruktion bzw. die Konstanz der Gestalt abgelöst wird. „Überall, wo der Mensch in den Bannkreis der Technik gerät,“ orakelt Jünger, „sieht er sich vor ein unausweichliches Entweder-Oder gestellt. Es gilt für ihn, entweder die eigentümlichen Mittel zu akzeptieren und ihre Sprache zu sprechen oder unterzugehen.“69 Die Technik zu bejahen, bedeutet auch in seinen Augen, sie als „neue Sprache“ zu begreifen und zu erlernen: „In der Technik erkennen wir das wirksamste, das unbestreitbarste Mittel der totalen Revolution.“70 Und erneut wird Revolution global und zugleich elementar gedacht, mündet nun aber in einen geschichtslosen Raum. Der Weg zum totalen Krieg und zum tausendjährigen Reich ist nicht mehr weit: „Wir beobachten, daß sich ein neues Menschentum auf den entscheidenden Mittelpunkt zu bewegt. Die Phase der Zerstörung wird abgelöst durch eine wirkliche und sichtbare Ordnung, wenn jene Rasse zur Herrschaft gelangt, die die neue Sprache nicht im Sinne des bloßen Verstandes, des Fortschrittes, des Nutzens, der Bequemlichkeit, sondern als Elementarsprache zu sprechen versteht. Dies wird in demselben Maße der Fall sein, in dem das Gesicht des Arbeiters seine heroischen Züge enthüllt.“71 Jüngers historisches Modell von Destruktion und Konstruktion bzw. Geschichte und Gestalt sieht den Arbeiter als Endstufe der historischen Entwicklung und der Geschichte insgesamt vor.72 Aus dem montier64 Vgl. ebd., S. 206: „Die Beschäftigung mit der Technik wird erst dort lohnend, wo man sie als das Symbol einer übergeordneten Macht erkennt.“ 65 Ebd., S. 159-207. 66 Ebd., S. 41. 67 Ebd., S. 182. 68 Ebd., S. 123. 69 Ebd., S. 170. 70 Ebd., S. 173. 71 Ebd. 72 Vgl. ebd., S. 181: „Diese letzte Stufe besteht in der Verwirklichung des totalen Arbeitscharakters, der hier als Totalität des technischen Raumes, dort als Totalität des Typus erscheint.“
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ten Menschen wird der Arbeiter und mit ihm aus der Technik eine vermeintlich metaphysische Gestalt. Die radikale Konstruktivität, die der Technik zu eigen war, verwandelt sich nun eine überhistorische Figur, und aus der Veränderung der Geschichte wird ihre Stillstellung: „So gibt es keine Maschinenmenschen; es gibt Maschinen und Menschen – wohl aber besteht ein tiefer Zusammenhang zwischen der Gleichzeitigkeit neuer Mittel und eines neuen Menschentums. Um diesen Zusammenhang zu erfassen, muß man sich allerdings bemühen, durch die stählernen und menschlichen Masken der Zeit hindurchzusehen, um die Gestalt, die Metaphysik, zu erraten, die sie bewegt.“73 Will man hingegen nicht raten, sondern verstehen, so empfiehlt es sich, den Weg von der Metaphysik zur Physik zurückzugehen. Erst dann erscheint der montierte Mensch nicht als überzeitliche Gestalt, sondern als jene historische Konstruktion, deren Geschichte hier nachgezeichnet wurde.
73 Ebd., S. 134. Vgl. auch ebd., S. 165: „Wo die technischen Symbole auftauchen, wird der Raum von allen andersartigen Kräften, von der großen und der kleinen Geisterwelt, die sich in ihm niedergelassen hat, entleert.“ Das ist die säkulare Metaphysik, die Jünger vorschwebt und bei der „Leben und Kultus identisch sind.“ (S. 166)
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Dank
Dieses Buch hat mich viele Jahre lang beschäftigt. Erste Ideen gehen zurück auf meine Konstanzer Antrittsvorlesung, die 2008 unter dem Titel „ Montage als Kulturtechnik“ in der Zeitschrift WESTEND erschienen ist. Ich danke Axel Honneth für die Publikation und seine freundschaftliche Begleitung. Die Konzentration auf den „montierten Menschen“ des 20. Jahrhunderts erfolgte allerdings erst später. Teile daraus wurden bei verschiedenen Tagungen und Workshops vorgestellt und in Vorfassungen auch an verschiedenen Orten publiziert. Erste Überlegungen zu einem ästhetisch-technischen Montagebegriff habe ich auf einer von Burkhardt Lindner (†) und Nadine Werner organisierten Tagung vorgestellt und jene zu Jüngers Veränderte Welt auf einer Tagung von Schamma Schahadat und Susi K. Frank. Als Fellow des Kulturwissenschaftlichen Kollegs der Universität Konstanz konnte ich im Sommersemester 2012 das Material erschließen, das dann die Grundlage der weiteren Kapitel bildete. Dank der Einladungen von Hubert Locher und Valentin Groebner konnte ich erste umfassendere Skizzen auf Workshops vorstellen. Das Eisenstein-Kapitel habe ich auf einer Eisenstein-Tagung 2015 in Brasilien präsentiert. In Übersetzung ist es dort auch erschienen. Ich danke Adilson Mendes sehr herzlich für seine Einladung und François Albera für seine Kommentare. Die Überlegungen zu den Photo-Büchern konnte ich auf einer von Jörn Glasenapp organisierten Tagung in Bamberg vorstellen und jene zur Technik-Photographie auf einem von Carolin Duttlinger und Silke Horstkotte ausgerichteten Workshop in Oxford. Das Wertow -Kapitel geht zurück auf einen Beitrag in einem von Nicolas Pethes herausgegebenen Sammelband zu Menschenexperimenten. Monika Dommann ermöglichte es mir, den ersten Teil des Buchs im Geschichtskontor der Universität Zürich vorzustellen. Dafür sei ihr ganz herzlich gedankt. Erste Überlegungen zur Arbeitswissenschaft habe ich auf einer Tagung in Konstanz vorgestellt, die von Bernhard Kleeberg und Robert Suter (†) organisiert wurde. Das Gilbreth-Kapitel und auch die Teile der Überlegungen zu Raoul Hausmann gehen zurück auf die Nachworte von Editionen, die in der „Photogramme“Reihe im Wilhelm Fink Verlag erschienen sind. Die Teile zu Jan Tschichold und zur Kritik an Renger-Patzsch sind in ersten Fassungen in der Zeitschrift Fotogeschichte erschienen. Ich danke Anton Holzer für die langjährige Zusammenarbeit. Kleinere Teile der Einleitung - und hier insbesondere die Abschnitte zu Upton Sinclair - gehen zurück auf einen Vortrag, den ich auf Einladung von Tetsuro Kaji, dem ich sehr herzlich danke, in Tokio gehalten habe und der in japanischer Übersetzung erschienen ist. Mein besonderer Dank geht an Felix Thürlemann, der wie immer das Manuskript kommentiert und annotiert hat. Seinen kritischen Anmerkungen, aber auch den Diskussionen mit ihm verdanke ich entscheidende Einsichten.
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DANK
Ganz herzlichen Dank auch an Raimar Zons, der von Anfang an das Projekt freundschaftlich begleitet hat. Für Hinweise, Anmerkungen und Unterstützung mit Angaben und Material danke ich weiterhin Gleb J. Albert, Christoph Gardian, Wolfgang Hesse, HansChristian von Herrmann und Wladimir Velminski. Und last but not least mille fois merci an Nike Dreyer, Ingeborg Moosmann, Lotte Kircher und Maurice Batras für ihre wunderbare Unterstützung und Petra Büscher für ihre vielfältige Hilfe.
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Abbildungsverzeichnis
EINLEITUNG Abb. E-1-2 Grigori Alexandrow, SVETLYY PUT, DER LEUCHTENDE WEG, RUS 1941 Abb. E 3 Wsewolod Pudowkin, DIE MECHANIK DES GEHIRNS, RUS 1926 Animation des bedingten Reflexes beim Hund, Reizung zweier Hirnzentren und Gehirn des Hundes von oben, Entfernung eines Teils der linken Hemisphäre, in: Margarete Vöhringer, Avantgarde und Psychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der frühen Sowjetunion, Göttingen 2007 Abb. E 3a Psychologie des Speichelflusses Abb. E 4 Artikel über Marey in: Scientific American Supplement, 5.2.1887, S. 9245f., mit handschriftlichen Kommentaren aus dem Nachlaß von Frank Bunker Gilbreth, in: Frank Bunker Gilbreth und Lillian Moller Gilbreth, Die Magie des Bewegungsstudiums. Photographie und Film im Dienst der Psychotechnik und der Wissenschaftlichen Betriebsführung, München 2012, S. 266 Abb. E 5 Henry Ford, Philosophie der Arbeit, Dresden o.J., Cover Abb. E 6 Charles Chaplin, MODERN TIMES, MODERNE ZEITEN, USA 1936
ERSTER TEIL Abb. 1-1 Umschlag von A.I. Woinowa, Industriewerk Ural, Leipzig 1933 Abb. 1-2 Heartfield-Umschlag von Upton Sinclair, Der Sumpf, Berlin 1928, in: Freya Mülhaupt (Hg.), John Heartfield. Zeitausschnitte Fotomontagen 1918-1938, Ostfildern 2009, S. 59 Abb. 1-3 Umschlag von Rudolf Schwarz, Wegweisung der Technik, Potsdam 1929, in: Marie Schwarz (Hg.), Rudolf Schwarz: Wegweisung der Technik (= Aachener Werkbücher, Bd. 1), Köln 2007 Abb. 1-4 Eugen Diesel, Das Land der Deutschen, Leipzig 1933, S. 159 Abb. 1-5 Eugen Diesel, Das Land der Deutschen, Leipzig 1933, S. 174
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Abb. 1-6 Kriegsversehrter Tapezierer Fig. 92 „Unterarmamputierter Tapezierer in typischen Teiltätigkeiten (nach Schlesinger)“, in: Fritz Giese, Psychologie der Arbeitshand, Berlin und Wien 1928, S. 823 Abb. 1-7 bis 1-12 Dokumente zu Gastew: Chronophotographien, Aufnahme des Labors und ein Plakat der Zeitliga sowie eine zeitgenössische Karikatur, in: Aleksej Gastev, Poesie des Hammerschlags, hg. von Hans-Christian von Herrmann und Konstantin Velminski, Berlin 2016 Abb. 1-13 Tiller Girls http://tillergirls.com/wp-content/uploads/2015/03/tiller-girls-Berlin-1920s.jpg letzter Zugriff: 05.05.2016 Abb. 1-14 Udarnik (Schläge), Moskau: Isogis Verlag, o.J., künstlerische Leitung Alexander Brodskij, in: Michail Karasik (Hg.), Great Stalinist Photographic Books, Moskau 2007, S. 59 Abb. 1-15 „International Working Women’s Day is the day of assessment of socialist competition“, 1930, in: Margarita Tupitsyn, Gustav Klutsis und Valentina Kulagina, Photography and Montage after Constructivism, International Center of Photography, Göttingen 2004, S. 140. Abb. 1-15a Tabelle zur psychotechnischen Eignungsprüfung, in: Hanns Spreng, Psychotechnik: Angewandte Psychologie, Zürich 1935, Tabelle zu S. 102 Abb. 1-16: Fritz Giese, Psychotechnisches Praktikum, Halle/Saale 1923, S. 19f. Abb. 1-17 Fritz Giese, Psychologie der Arbeitshand, Berlin und Wien 1928, S. 821 Abb. 1-18 Fritz Giese, Psychologie der Arbeitshand, Berlin und Wien 1928, S. 1047 Abb. 1-19 Lillian Moller Gilbreth, The Quest of the One Best Way. A Sketch of the Life of Frank Bunker Gilbreth, Erste Seite des Manuskripts. Gilbreth Papers, Purdue University Abb. 1-20 Familie Gilbreth im Auto, in: Frank Bunker Gilbreth und Lillian Moller Gilbreth, Die Magie des Bewegungsstudiums, S. 147 Abb. 1-21 Frank Bunker Gilbreth, „Nantucket Motion studies with Gilbreth children. Picking Cranberries“, in: ebd. Abb. 1-22 Arbeitsplan der Familie Gilbreth, in: ebd., S. 148 Abb. 1-23 Frank Bunker Gilbreth, Bewegungsstudie einer Operation; Vernähen der Wunde, Stereophotos, Berlin 11.1.1914, in: ebd., S. 50 Abb. 1-24 Frank Bunker Gilbreth, Bewegungsstudie eines Soldaten, bezeichnet und datiert 7/39/18, in: ebd., S. 49 Abb. 1-25 Stereophotos von Frank Bunker Gilbreth zu Verbesserungen am Arbeitsplatz, Gilbreth Papers, Purdue University. Vier Abbildungen bereits in: Frank Bunker Gilbreth und Lillian Moller Gilbreth, Die Magie des Bewegungsstudiums, S. 114
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Abb. 1-26 Frank Bunker Gilbreth, „Wheel of Motion“, undatiert, in: Frank Bunker Gilbreth und Lillian Moller Gilbreth, Die Magie des Bewegungsstudiums, S. 186 Abb. 1-27 Frank Bunker Gilbreth, Mikrobewegungsstudie, undatiert, in: ebd., S. 90 Abb. 1-28 Kamera „Educator“. Broschüre aus dem Nachlaß von Frank Bunker Gilbreth, in: ebd., S. 115 Abb. 1-29 Nathan Zuntz, Tragbares Atemgerät, militärische Versuchsperson, in: Jules Amar, Le Moteur humain et les bases scientifiques du travail professionnel, Paris 1914 1-30 Nathan Zuntz, Tragbares Atemgerät, militärische Versuchsperson, in: ders. und Wilhelm Schumburg, Studien zu einer Physiologie des Marsches, Berlin 1901 1-31 Jules Amar, Feiler mit Atemgerät, ca. 1912, in: ders., Le Moteur humain et les bases scientifiques du travail professionnel, Paris 1914 Abb. 1-32 und 33 Frank Bunker Gilbreth, Schreibmaschinenexperimente, in: ders. und Lillian Moller Gilbreth, Die Magie des Bewegungsstudiums, S. 168 und 171 Abb. 1-34 Notiz von Frank Bunker Gilbreth mit einer Skizze der Therbligs, undatiert, in: ebd., S. 180 Abb. 1-35 Frank Bunker Gilbreth, „Symbols of the 16 subdivisions of a cycle of motion“, undatiert, in: ebd., S. 182
ZWEITER TEIL Abb. 2-1 und 2: Kaffee Hag-Werbung aus AIZ (Arbeiter Illustrierte Zeitung), 1931 Abb. 2-3 und 4 Dsiga Wertow, ENTUZIAZM (SIMFONIJA DONBASSA), ENTHUSIASMUS (DONBASS SINFONIE), RUS 1930 Abb. 2-5 bis 2-8 Dsiga Wertow, ENTUZIAZM (SIMFONIJA DONBASSA), ENTHUSIASMUS (DONBASS SINFONIE), RUS 1930 Abb. 2-9 Walter Ruttmann, BERLIN – DIE SINFONIE DER GROSSSTADT, D 1929, in: Helmut Friedel, Kunst und Technik in den 20er Jahren, München 1980, S. 111 Abb. 2-10 bis 2-13 Dsiga Wertow, KINOGLAZ, KINO-AUGE, RUS 1924 Abb. 2-14 bis 2-17 Dsiga Wertow, SCHESTAJA TSCHAST MIRA, EIN SECHSTEL DER ERDE, RUS 1926 Abb. 2-18 Alexander Rodtschenko, Plakat für KINOGLAZ, KINO-AUGE, 1924, in: Kulturgesellschaft Frankfurt GmbH (Hg.), Die Grosse Utopie. Die Russische Avantgarde 1915-1932, Ausstellungskatalog Schirn Kunsthalle, Frankfurt 1992, S. 420
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Abb. 2-19 Sergei Eisenstein, Gasmasken-Inszenierung, Photographie der Inszenierung, in: Naum Klejman und Ulrich Krempel, Beispiel Eisenstein. Zeichnung Theater Film. Ausstellungskatalog Städtische Kunsthalle Düsseldorf 1983, o. S. Abb. 2-20 bis 2-23 Sergei Eisenstein, STAROE I NOWOJE bzw. GENERALNAJA LINIJA, DIE GENERALLINIE bzw. DAS ALTE UND DAS NEUE, RUS 1929 Abb. 2-24 Tafel aus: Duchenne de Boulogne, Mécanisme de la physionomie humaine, ou, Analyse électro-physiologique de l’expression des passions des arts plastiques, Paris 1862 Abb. 2-25 Separator-Szene aus Eisensteins DIE GENERALLINIE, in: Naum Klejman und Ulrich Krempel, Beispiel Eisenstein. Zeichnung Theater Film. Abb. 2-26 Umschlag des Katalogs der Ausstellung „Machine Art“, in: The Museum of Modern Art, New York (Hg.), Machine Art March 6 to April 30, 1934, New York 1934, Reprint 1969 Abb. 2-27 Umschlag von Franz Kollmann, Schönheit der Technik, in Helmut Friedel, Kunst und Technik in den 20er Jahren, München 1980, S. 42 Abb. 2-28 Franz Kollmann. Schönheit der Technik, in: Helmut Friedel, Kunst und Technik in den 20er Jahren, S. 145 Abb. 2-29 Illustrierter Brief an die Herausgeber. Artikel mit Plagiatsvorwurf, in: Sowjetskoje foto [Sowjetisches Foto], Nr. 4, 1928, in: [Ausstellungskatalog] Alexander Rodtschenko, Berlin 2008, S. 208 Abb. 2-30 Rodtschenkos Replik, in: Nowy LEF, 1928, in: [Ausstellungskatalog] Russische Photographie 1840-1940, Berlin 1993, S. 65 Abb. 2-31 Umschlag von Das Werk. Technische Lichtbildstudien, Königstein im Taunus & Leipzig 1931 Abb. 2-32 Alvin Langdon Coburn, „Manchester“, in: Manchester Civic Week. October 2nd to 9th 1926. Official Handbook Civic week Committee, Manchester 1926, S. 20 Abb. 2-33 Margaret Bourke-White, „Hot Picks“ (Eisen-Abguß), Otis Steel Co., Cleveland 1927/28, in: Vicki Goldberg, Bourke-White, New York 1988, S. 35 Abb. 2-34 Margaret Bourke-White, Otis Steel Co., Cleveland 1927, in: Stephen Bennett Phillips, Margaret Bourke-White. The Photograph of Design 1927-1936, New York 2003, S. 88Abb. 2-35 Margaret Bourke-White, Stalingrad, End of the Tractor Line: 1930, in: Stephen Bennett Phllips, Margaret Bourke-White: The Photography of Design, 1927-1936, New York 2003, S. 55 Abb. 2-35a Dsiga Wertow, SESTAJA CAST’ MIRA ODINNADCATYJ, EIN SECHSTEL DER ERDE, RUS 1926 Abb. 2-36 Margaret Bourke-White, Russia’s Dnieper River Dam, the world’s largest, during the beginning phase of its construction (1931), in: Stephen Bennett Phillips, Margaret BourkeWhite. The Photograph of Design 1927-1936, S. 522-36a
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Margaret Bourke-White, Titelbild von Life, 23.11.1936, in: Vicki Goldberg, BourkeWhite, New York 1988, S. 18Abb. 2-37 Photographien von Germaine Krull, Text von Florent Fels, „Dans Toute sa Force“, in: VU, Nr. 11, 30.5.1928, S. 284, in: Michel Frizot, Germaine Krull, Ausstellungskatalog Jeu de Paume Paris 2015, S. 55 Abb. 2-38 und 2-39 Germaine Krull, Métal, Paris 1927/28, Umschlag und Abbildungen, in: ebd., S. 58f. Abb. 2-40 Paul Schuitema, Umschlagentwurf für Filmliga, Nr. 1, November 1931, in: Dick Maan, Paul Schuitema Visual Organizer, Rotterdam 2006, S. 84 Abb. 2-41 und 42 Germaine Krull, Umschlagentwürfe für Grand‘ Route, Nr. 2 und Nr. 3, April 1930 und Mai 1930, in: Michel Frizot, Germaine Krull, S. 150 Abb. 2-43 Einband von Alfred Mahlau von Albert Renger-Patzsch, Die Welt ist schön, München 1928 Abb. 2-44 Werner Lindner, Bauten der Technik, 1927, in: Gert Mattenklott, „Karl Blossfeldt. Fotografischer Naturalismus um 1900 und 1930“, in: Karl Blossfeldt, Urformen der Kunst – Wundergarten der Natur. Das fotografische Werk in einem Band, München 1994, S. 7-63, S. 33 Abb. 2-45 Alexander Rodtschenko, Umschlag von Alexander Majakowski, Pro Eto, 1923, in: [Ausstellungskatalog] Alexander Rodtschenko, Berlin 2008, S. 13 Abb. 2-46 Alexander Rodtschenko, „Ich bin ganz oben“, Photomontage für Pro Eto, 1923, in: ebd., S. 14Abb. 2-46a Alexander Rodtschenko, Lesezeichen. 1924, in: A.M. Rodtschenko, Aufsätze, Autobiographische Notizen Briefe Erinnerungen. Dresden 1993, S. 243 Abb. 2-46b Alexander Majakowski, Rosta-Fenster, Mai 1921, in: Wiktor Duwakin, Rostafenster, Majakowksi als Dichter und bildender Künstler, Dresden 1967, S. 66 Abb. 2-46c Alexander Rodtschenko, Werbeplakat für Gummitrust, Text von Wladimir Majakowski, 1923, in: A.M. Rodtschenko: Aufsätze, Autobiographische Notizen Briefe Erinnerungen, S. 239 Abb. 2-47 Hausmann und Höch in der Dada-Ausstellung 1920, in: Der Deutsche Spiesser ärgert sich. Raoul Hausmann 1886-1971, Ausstellungskatalog Berlinische Galerie Berlin, Ostfildern 1994, S. 127 Abb. 2-48 Erste internationale Dada-Messe, Berlin 1920. Grosz und Heartfield propagieren vor ihrer Elektro-Mech. Tatlin Plastik „Die Maschinenkunst Tatlins“, in: Freya Mülhaupt (Hg.), John Heartfield. Zeitausschnitte, Fotomontagen 1918-1938, S. 44 Abb. 2-49 Raoul Hausmann, Tatlin lebt zu Hause, 1920, seit 1968 verschollen, Photomontage, in: Der Deutsche Spiesser ärgert sich. Raoul Hausmann 1886-1971, S. 133 Abb. 2-50 Tatlin-Wand in der Dada-Ausstellung 1920, in: Eckhard Siepmann, Montage: John Heartfield, von Club Dada zur Arbeiter-Illustrierten Zeitung, Berlin 1977, S. 90 Abb. 2-51 Raoul Hausmann, Planwirtschaft, 1931, in: Der Deutsche Spiesser ärgert sich, S. 237.
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Abb. 2-52 Raoul Hausmann, Augen, 1931, in: ebd., S. 79 Abb. 2-53 John Heartfield, Ein neuer Mensch – Herr einer neuen Welt, in: Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ, Prag), 1.11.1934, Titelseite. Kat.-Nr. 283, in: Peter Pachnicke und Klaus Honnef (Hg.), John Heartfield, Ausstellungskatalog Akademie der Künste zu Berlin, Köln 1991, S. 76 Abb. 2-54 John Heartfield, Zur Intervention des Dritten Reichs, „… je mehr Bilder sie weghängen, umso sichtbarer wird die Wirklichkeit!“, in: Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ, Prag), 3.5.1934, S. 288, in: ebd., S. 86 Abb. 2-55 Seite aus der Arbeiter-Illustrierte-Zeitung, in: Eckhard Siepmann, Montage: John Heartfield, von Club Dada zur Arbeiter-Illustrierten Zeitung, Berlin 1977, S. 161 Abb. 2-56 John Heartfield, Umschlagentwurf für USSR im Bau, Ausstellungskatalog Deutsche Akademie der Künste zu Berlin, John Heartfield, Deutsche Akademie der Künstler zu Berlin (Hg.), John Heartfield, Ausstellungskatalog Leipzig 1979, S. 271f. Abb. 2-57 John Heartfield-Wand auf der Großen Berliner Kunstausstellung, in: Heinz Willmann, Geschichte der Arbeiter Illustrierten Zeitung 1921-1938, 2. Auflage, Berlin/Ost 1974, S. 45. Abb. 2-58 László Moholy-Nagy, „Typofoto“, in: Jan Tschichold (Hg.), Elementare Typographie, Mainz 1925, Reprint 1986, S. 202
DRITTER TEIL Abb. 3-1 Alexander Rodtschenko, Photo für Tretjakows Kinderbuch, in: [Ausstellungskatalog] Alexander Rodtschenko, Berlin 2008, S. 88 Abb. 3-2 Fritz Kahn, „Das Leben des Menschen“. Werbeblatt, in: Uta und Thilo von Debschitz, Fritz Kahn, Köln 2013, S. 23 Abb. 3-3 Fritz Kahn, „Der Mensch als Industriepalast“. Doppelseite der Beilage aus Das Leben des Menschen Abb. 3-4 Fritz Kahn, „Knochenstrukturen“, in: Uta und Thilo von Debschitz, Fritz Kahn. Man Machine, Wien und New York 2009, S. 46 Abb. 3-5 Fritz Kahn: „Biologie des Bratenduftes“, in: Uta und Thilo von Debschitz, Fritz Kahn, Köln 2013, S. 171 Abb. 3-6 Fritz Kahn, „Muskel- und Klingelleitung“, in: ebd., S. 64 Abb. 3-7 Fritz Kahn, Vergleich des Auges mit einem Objektiv, in: ebd., S. 173 Abb. 3-8 Otto Neurath, Umschlag von Modern Man in the Making, in: Nader Vossoughian, Otto Neurath. The Language of the Global Polis, Rotterdam 2011, S. 94
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Abb. 3-9 Otto Neurath, Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien, in: ebd., S. 62 Abb. 3-10 Michail Karasik (Hg.), Great Stalinist Photographic Books, Moskau 2007, S. 140. Abb. 3-11 Reklameblatt für Die neue Typographie von Jan Tschichold, in: Cees W. De Jong, Alston W. Purvis u.a., Jan Tschichold. Meister der Typografie. Sein Leben, Werk und Erbe, Köln 2008, S. 101 Abb. 3-12 Einband und Seite 4 einer Werbebroschüre für die Meisterschule von Jan Tschichold, in: Ebd., S. 74 Abb. 3-13 „Typosignets und Flaggen“, in: Jan Tschichold, Eine Stunde Druckgestaltung, in: ebd., S. 41 Abb. 3-14 „Der Prospekt“, in: Jan Tschichold, Eine Stunde Druckgestaltung, in: ebd., S. 45 Abb. 3-15 Werbebroschüre für das Buch Foto-Auge, 1929. Entwurf von Jan Tschichold, in: ebd., S. 90. Abb. 3-16 Albert Renger-Patzsch, Die Welt ist schön, München 1928, in: Martin Parr und Gerry Badger, The Photobook. A History, Bd. 1, London 2004, S. 97 Abb. 3-17 Emmanuel Sougez, Regarde, Paris 1932, in: ebd., S. 102 Abb. 3-18 Vítešlav Nezval, ABECEDA, Prag 1926, in: ebd., S. 94 Abb. 3-19 Albert Renger-Patzsch, Eisen und Stahl, Berlin 1931, in: Andrew Roth (Hg.), The Open Book. A History of the Photographic Book from 1878 to the Present, Göteborg 2004 S. 102. Abb. 3-20 August Sander, Menschen des 20. Jahrhunderts. Studienband, hg. von Photographie Sammlung/SK Stiftung Kultur Köln, München 2001, S. 119 3-21 Helmar Lerski, Portraitaufnahmen eines Arbeiters, in: Ute Eskilden (Hg.) Helmar Lerski, Metamorphsis through Light – Verwandlungen durch Licht, Lingen 1982, o. S., dort auch Titelbild Abb. 3-22 und 3-23 Kurt Tucholsky und John Heartfield, Deutschland, Deutschland über alles. Ein Bilderbuch von Kurt Tucholsky. Montiert von Heartfield, in: Andrew Roth (Hg.), The Open Book, S. 76f. Abb. 3-24 Umschlag von Werner Gräff, Es kommt der neue Fotograf!, Berlin 1929, online unter: https://www.moma.org/interactives/objectphoto/assets/biblio/000/305/295/305295_original.jpg (letzter Zugriff: 05.05.2016) Abb. 3-25 Seiten aus: Werner Gräff, Es kommt der neue Fotograf!, in: Andrew Roth (Hg.), The Open Book, S. 75 Abb. 3-26 John Heartfield, Umschlagentwurf von Franz Jungs Die Eroberung der Maschinen, Berlin 1923, in: Freya Mülhaupt (Hg.), John Heartfield. Zeitausschnitte Fotomontagen 19181938, S. 116
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Abb. 3-27 John Heartfield, „Ein neuer Wettbewerb. Unsere Leser als Fotomonteure“, Der operierende Künstler als Lehrer: Die Leser-Wettbewerbe der Arbeiter Illustrierten Zeitung/ Volks-Illustrierte, in: Eckhard Siepmann, Montage: John Heartfield, von Club Dada zur Arbeiter-Illustrierten Zeitung, S. 161 Abb. 3-28 „An der Drehbank“, Titelseite der AIZ, in: Heinz Willmann, Geschichte der Arbeiter Illustrierten Zeitung 1921-1938, S. 29 Abb. 3-29 John Heartfield, „Die Rationalisierung marschiert!“, Entwurf der Photomontage für Der Knüppel, Nr. 2, Februar 1927, in: Freya Mülhaupt (Hg.), John Heartfield. Zeitausschnitte Fotomontagen 1918-1938, S. 121 Abb. 3-30 Kapitalistische Rationalisierung, Doppelseite aus AIZ, in: Heinz Willmann, Geschichte der Arbeiter Illustrierten Zeitung 1921-1938, S. 174f. Abb. 3-31 Umschlag von Ernst Glaeser und F. C. Weiskopf, Der Staat ohne Arbeitslose. Drei Jahre „Fünfjahresplan“, Berlin 1931 Abb. 3-32 Umschlag von Edmund Schultz (Hg.), Die veränderte Welt. Eine Bilderfibel unserer Zeit, Breslau 1933 Abb. 3-33 und 34 Edmund Schultz (Hg.), Die veränderte Welt. Eine Bilderfibel unserer Zeit, Breslau 1933, S. 54f., 68f., 40f. und 44f. Abb. 3-35 Ernst Jünger (Hg.), Das Antlitz des Weltkriegs, Berlin 1930, o.S. Abb. 3-36 Ernst Jünger (Hg.), Das Antlitz des Weltkriegs, Berlin 1930, o.S. Abb. 3-37 Umschlag von Ernst Jünger, Blätter und Steine, Hamburg 1934
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Namenregister
Abbott, Berenice 192, 309 Abderhalden, Emil 67 Adkins, Helen 223 Adorno, Theodor W. 18, 153, 217f., 295 Albin-Guillot, Laure 309 Alexandrow, Grigori 11f., 218, 363 Altrichter, Helmut 49 Alwens, Ludwig 348f. Amar, Jules 43, 60, 114-116, 365 Amschek 62 Antliff, Mark 207 Antonowa, Irina 235 Arnheim, Rudolf 138-141 Arnhold, Karl 66 Arntz, Gerd 284 Arwatow (auch Arwatow), Boris 163, 224 Atget, Eugène 192, 221, 309 Auer, A. und A. 315 Auer, Michèle und Michel 305 Aumont, Jacques 144 Austin, John 154 Baader, Johannes 47, 224 Babbage, Charles 115 Badger, Gerry 305, 315, 369 Bailes, Kendall E. 49 Bailly, Christian 265 Balázs, Béla 164 Baltzer, Nanni 223 Balzac, Honoré de 217f. Bannard, Walter 97 Baumgarten, Franziska 41, 49, 51, 54f., 59-61 Barthes, Roland 22, 308 Bartmann, Christoph 47 Bauer, Erwin K. 284 Bayer, Herbert 255 Becher, Lilly 326f. Bechterew, Wladimir 19, 23, 49, 60, 146, 148-150, 152, 169-171 Behne, Adolf 252f.
Beil, Ulrich Johannes 47 Beilenhoff, Wolfgang 148 Beisinger, Mark R. 49 Bellmer, Hans 315 Belting, Hans 155 Benn, Gottfried 68 Benjamin, Walter 47, 50, 70, 129, 137, 216, 218-221, 260-263, 292, 294, 297302, 304, 311, 332 Berthold, Rudolf 348 Bexte, Peter 251 Beyrau, Dietrich 49 Biermann, Aenne 309 Bill, Max 285, 295f. Biro, Matthew 233 Blossfeldt, Karl 214, 218, 298, 309, 315, 367 Blum, Albrecht Viktor 181 Blumenfeld, Erwin 223f., 227 Bochow, Jörg 150 Boehm, Gottfried 164 Bohn, Anna 153, 155-157, 170f., 175 Bohrer, Karl Heinz 354 Boiko, Szymon 185 Bois, Yve-Alain 230 Bonaparte, Louis 154 Borck, Cornelius 267 Borngräber, Christian 127f. Bose, Günter 287, 316 Bourke-White, Margaret 129, 179, 192199, 207-209, 219, 366f. Braak, Menno ter 205 Braun, Marta 16 Braun, Otto 348 Brecht, Bertolt 216-218, 357 Bredekamp, Horst 153f. Bredel, Willi 29 Brentano, Bernhard von 218 Breton, André 305 Breuer, Gerda 316 Brik, Ossip 224
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372
NAMENREGISTER
Brinkmann, Erich 287, 316 Brown, Elspeth H. 38f., 87 Brunnbauer, Ulf 51 Budd, Dorothy 91 Bücher, Karl 115 Büthe, Joachim 216, 324 Bulgakowa, Oksana 132, 155, 157, 175 Burchartz, Max 316 Burke, Christopher 316 Burton, William Kinnemond 306 Butler, Judith 324 Buytendijk, F. J. J. 164 Calebow, F. 181 Callahan, Sean 193, 195, 198 Camp, Walter 97 Carnap, Rudolf 279 Cassirer, Ernst 33 Casson, Herbert N. 87 Chaplin, Charles 20, 22, 137, 363 Chéroux, Clément 208, 226, 306 Chion, Michel 137 Chlebnikow, Welimir 146 Chochlowa, Jekaterina 172 Christiansen, Broder 47 Clair, René 200 Coburn, Alvin Langdon 193-195, 366 Cohen, Arthur A. 255 Comenius, Johann Amos 283 Conrath-Scholl, Gabriele 311 Cora, Bruno 146 Cordemann, Cläre 74 Coué, Émile 47 Couvé, Richard 65 Crinson, Mark 193 Dahlke, Günther 141 Darré, Richard Walther 68 Darwin, Charles 164f. Debschitz von, Uta und Thilo 262, 266f., 270, 368 Dehmel, Richard 348 Delaunay, Sonia und Robert 200, 204 Deleuze, Gilles 144 Descartes, René 265 Deslav, Eugène 181 Despoix, Philippe 299 Dessauer, Friedrich 33
Dickinson, Thorold 137 Didi-Huberman, Georges 343 Diederichs, Helmut H. 153 Diesel, Eugen 35-37, 179, 188-190, 363 Diesel, Rudolf 35, 188 Disdéri, André Adolphe Eugène 226 Dluhosch, Eric 291 Döring, Werner 189 Döring, Wolf H. 306 Domela-Nieuwenuis, César 239f. Dowschenko, Oleksandr 237, 239 Drubek-Meyer, Natascha 132, 138, 146, 148, 152 Duchenne de Boulogne, GuillaumeBenjamin 164-167, 366 Eaton, Jeannette 91 Ebbinghaus, Angelika 49 Ebbinghaus, Hermann 115 Ebbinghaus, Wilhelm 115 Ebner, Florian 313 Eggeling, Viking 138, 146, 303 Ehrenburg, Ilja 27f., 127, 131, 136, 235 Ehrenfest-Egger, Arthur 43 Einstein, Albert 303 Eisenstein, Sergei 11, 13, 16, 49, 129, 131, 144, 153-166, 168-176, 178, 192, 204, 230, 240, 366 Eisenwerth Schmoll gen., J.A. 211 Eluard, Paul 315 Encke, Julia 342 Engel, Christine 13 Engels, Friedrich 154 Erhardt, Alfred 309, 315 Ermanski, Josef 50 Ermanskij, O. E. 60 Erlhoff, Michael 235, 237, 252 Eskildsen, Ute 301 Eßbach, Wolfgang 34, 146 Etkind, Alexander 170 Euringer, Richard 29 Fairbanks, Douglas 20 Farner, Konrad 223 Feldman, Seth R. 136 Fels, Florent 183, 201, 207, 367 Fiedler, Konrad 164 Fischer, Hans 349 Fischer, Joachim 34, 146 Fischer, Peter 33
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NAMENREGISTER
Fischinger, Oskar 146 Flex, Walter 348 Fock, Gorch 348 Ford, Henry 20f., 39, 41, 68, 125, 128, 195, 226, 267, 272, 363 Freud, Sigmund 156, 170f., 175, 300 Frey, Richard 349 Freyer, Hans 84 Fridland, Semjon 186 Fülöp-Miller, René 171-173 Gan, Alexei 125, 127 Gaßner, Hubertus 49, 62, 163, 184f., 230, 240, 245, 248, 250 Gastew (auch Gastev), Alexei 19, 38, 41, 49-52, 54, 56, 59-62, 65, 166, 364 George, Lloyd 127 Giedion, Siegfried 20, 40 Giese, Fritz 19, 40, 42-44, 48, 55, 61, 63-65, 67-85, 364 Gilbreth Carey, Ernestine 92, 94 Gilbreth, Frank Bunker 20, 27, 39f., 43, 54, 63f., 87-113, 115-121, 166, 168, 363, 364f. Gilbreth, Frank B. jr. 92, 94 Gilbreth, Lillian Moller 27, 87-92, 97, 111, 363-365 Gillen, Eckhart 230 Ginna, Arnolda 146 Gladkow, Fjodor 29f. Glaeser, Ernst 341f., 370 Glaser, Curt 212f., 239, 313 Glaser, Dr. 239 Goethe, Johan Wolfgang von 272 Gold, Anna 115, 118 Goldberg, Vicki 179 Graeff, Werner 297, 303, 306, 320, 329, 239, 369 Gramatke, Alexandra 136 Graumann, C. F. 72 Gray Le, Gustave 226 Gregor, Joseph 171 Gregory, Caspar René 348 Gropius, Walter 183 Grosz, George 224-226, 230, 232f., 237 Großmann, Gustav 47 Groys, Boris 62, 125, 151, 158, 160 Gruber, Klemens 138 Günther, Gerhard 348f. Günther, Hanns 195
373
Hachtmann, Rüdiger 40 Hagemeister, Michael 151, 160 Hagner, Michael 141, 145 Hahn, Hans 279 Hahn, Walther 211 Hahnemann, Andy 309 Haller, Rudolf 276 Hammers, Birgit 208 Hansen-Löve, Aage 61f., 125, 158 Von Harbou, Thea 265 Hardtwig, Wolfgang 49 Hartmann, Frank 284 Hartmann, Georg Heinrich 349 Haus, Andreas 251 Hausmann, Raoul 146, 223-226, 230-240, 250-255, 303, 320, 361, 367f. Hauswald, Inge-Cathrin 195 Heartfield, John 240f., 245, 248, 363, 368-370 Hecht, Werner 216f. Hegselmann, Rainer 276 Heidegger, Martin 33, 68 Heiden von der, Anne 125 Heisig, Walter 237, 239, 240 Heiting, Manfred 250, 305, 309-311 Hellebust, Rolf 59 Heller, Steven 262 Hellpach, Willy 20, 115 Hennig, Anke 16 Hensel, Thomas 164f. Herlinghaus, Hermann 136 Hermann von, Hans-Christian 51, 362 Hesse, Wolfgang 323, 327, 362 Hine, Lewis 190 Hirsch, Ursula 303 Hitler, Adolf 67-69, 98, 125, 295, 349 Höch, Hannah 223-227, 231, 233, 237, 320, 367 Höllering, Franz 328f., 332 Hoernle, Edwin 338 Holl, Ute 49, 136, 145, 148, 172f. Hoof, Florian 27, 87 Honold, Alexander 292 Hoppé, E. O. 179 Horak, Jan-Christopher 301 Horkheimer, Max 18, 29 Horn, Eva 43 Horváth, Silvia 164 Hurel, Eric 207 Huxley, Aldous 41
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374
NAMENREGISTER
Irving, George 198 Ivens, Joris 181, 204-207 Jaeger, Roland 305, 309, 311 James, Henry 165 James, William 28, 115 Jewell, E. A. 195 Johansson, Kurt 51, 56, 61 Jordan, Leo 205 Joyce, James 204 Jünger, Ernst 302, 315, 341-359, 361, 370 Jünger, Friedrich Georg 348, 352 Jukow, 170
Kretschmer, Ernst 175 Krieck, Ernst 68 Krull, Germaine 129, 179, 181, 183, 192f., 195, 198, 200-202, 204-209, 213, 218f., 221, 308, 315, 367 Kucher, Katharina 51 Küenzlen, Gottfried 59, 160 Kuhn, Gerd 92 Kulagina, Valentina 230 Kuleschow, Lew Wladimirowitsch 20, 131 Kushner, Boris 185 Kuttner, Ludwig 329
Kämpf, Günter 224 Kahn, Fritz 262, 265-276, 282, 368 Kallai, Ernst 211 Kandinsky, Wassily 146, 224 Kant, Immanuel 68, 182 Kapp, Ernst 265, 349 Karasik, Mikhail 250, 369 Karnitschnigg von, M. 179 Kaufmann, Lilli 141 Kemény, Alfréd (= Durus) 332, 338 Kemp, Wolfgang 187, 299, 323 Kersting, Rudolf 259 Kiesel, Helmuth 348 Kinross, Robin 276 Kisch, Egon Erwin 9 Kissel, Wolfgang Stephan 148 Kittler, Friedrich 304 Klages, Ludwig 164 Klejman, Naum 162 Klempert, Gabriele 309 Kloppe, Fritz 349 Kluzis (auch Klutsis), Gustav 58, 230, 239 Koch, Adelheid 235 Koch, Gertrud 28 Kollar, François 208 Kollmann, Franz 182-184, 366 Korschunowa, Walentina 162 Koschorke, Albrecht 354 Kracauer, Siegfried 55, 68, 139f., 148, 210, 299f., 323 Kraepelin, Emil 61, 115 Kracht, Christian 192 Krajewski, Markus 287 Kranz, Carl 349 Kraszna-Krausz, Andor 313 Kraus, Karl 357
Laban, Rudolf von 68 Lagarde, Paul de 68 Lämmel, Rudolf 47 La Mettrie, Julien Offray 10 Lamour, Philippe 207, 209 Lang, Fritz 34, 172 Lange, Susanne 311 Langewiesche, Karl Robert 190, 309 Lania, Leo 181 Lapkina, Marfa 178 Laszlo, Alexander 146 Lavrentjev, Aleksandr 185 Le Corbusier 183 Lederer, Emil 61 Lendvai-Dircksen, Erna 270 Lenin, Wladimir Iljitsch 11, 30, 38, 42, 51, 59f., 127, 141 Lenz, Felix 144, 153 Leonidow, Iwan 128 Leontjew, Alexei Nikolajewitsch 157 Lerski, Helmar 309, 311, 313f., 369 Lethen, Helmuth 34, 68, 146 Lévy-Bruhl, Lucien 153, 175 Lewin, Kurt 175 Leymann, Hermann 43 Lichtenstein, Alfred 348 Lindner, Burckhardt 216, 361 Lindner, Werner 215, 367 Lindstrom, Richard 87 Link, Jürgen 33 Lipmann, Otto 61 Lissitsky, El 230, 239, 302, 309 Listow, V. 146 Löffler, Petra 164 Löns, Hermann 348 Lotar, Eli 198, 204
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375
NAMENREGISTER
Loy, Myrna 92 Luce, Henry L. 198 Lucic, Karen 196 Luedecke, Heinz 324 Luria, Alexander 157, 175 Maan, Dick 255 Macke, August 348 Mac Orlan, Pierre 207f. Mahlau, Alfred 211f. Maier, Charles S. 30 Majakowski, Wladimir 146, 184, 224f, 227-230, 367 Malewitsch, Kasimir Sewerinowitsch 51 Man Ray (= Emmanuel Rudnitzky) 315 Marc, Frank 348 Marcus, Ernst 251 Marey, Etienne-Jules 16f., 113, 363 Margolin, Victor 230 Marshall, Jennifer Jane 181 Marten 186 Martin, Steve 92 Marx, Karl 154 Mayer, Helmut 279 McLuhan, Marshall 291 Mehrtens, Herbert 87 Meier, Bruno 306 Melnikow, Konstantin Stepanowitsch 127 Melzer, Gustav 349 Mendelsohn, Erich 185, 306 Merkert, Jörn 235 Merlio, Gilbert 352 Meyer, Erna 27 Meyerhold, Wsewolod Emiljewitsch 19, 45, 50, 161f. Meyer-Kalkus, Reinhart 342 Miethe, Adolf 306 Mitchell, W. J. T. 153 Moholy-Nagy, László 18f., 35, 142, 146, 179, 183, 185f., 210f., 224f., 227, 230, 248, 253-255, 259f., 263, 285, 287, 289, 291f., 297f., 301f., 304f., 309, 368 Möbius, Hanno 223 Moede, Walter 45, 47, 60, 65, 67, 72 Moeller van den Bruck, Arthur 68 Moses 64, 178 Mülder-Bach, Inka 139f., 354 Mülhaupt, Freya 241, 363, 367, 369f. Müller, O. 179
Müller-Freienfels, Richard 68 Münsterberg, Hugo 19f., 23, 41, 43, 45f, 48, 60, 63, 74, 78, 115, 148 Münzenberg, Willi 324, 335, 338 Murašov, Jurij 132, 138, 146 Mussolini, Benito 68, 223 Muybridge, Eadweard 16, 113 Nettelbeck, Werner 329, 332 Neurath, Otto 262, 276-284, 287, 368f. Neutatz, Dietmat 49 Nietzsche, Friedrich 67f., 86 Noever, Peter 184 Nord, Franz 349 Nowak, Lars 88 Oels, David 309 Olbrich, E. 306 Orlowa, Ljubow 11 Osten, Edmund 349 Ostrowski 33 Ostwald, Wilhelm 115, 287 Ott, Ulrich 9 Parr, Martin 305, 315, 369 Paspa, Karel 306 Passuth, Krisztina 224f., 285, 291, 297 Patzel-Mattern, Katja 41, 43 Patzwall, Elisabeth 248 Paul, Gerhard 153f. Pawlow (auch Pavlov), Iwan Petrowitsch 13, 19, 23, 49, 60, 145f., 148, 150, 152, 161, 169-171 Peach Robinson, Henry 226 Petschow, Robert 35, 188 Philipps, Stephen Bennett 196 Pickfords, Mary 87 Piorkowski 60 Plaas, Hartmut 349 Plenge, Johann 61 Plessner, Helmuth 33-35, 146, 164 Plunien, Eo 212 Pound, Ezra 195 Pratt, John H. 198 Price, Brian 87 Priebe, Carsten 265 Pudowkin (auch Pudovkin), Wsewolod Illarionowitsch 13f., 16, 49, 131, 141, 145, 170, 172, 205, 207, 263
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NAMENREGISTER
Rabinbach, Anson 42, 48, 66 Radkau, Joachim 125 Raehlmann, Irene 30, 42, 53, 65, 84 Rasch, Gebrüder (Heinz und Bodo) 285, 289, 295f., 320 Rathenau, Walther 115 Rawlinson, Marc 196 Réal, Marc 208 Rechn, Roman 267 Reetz, Walter 349 Renger-Patzsch, Albert 32, 125, 128f., 179, 186f., 192, 208-214, 216, 218202, 301, 307, 309f., 315, 332, 334f., 361, 367, 369 Renner, Andreas 155 Rejlander, Oscar Gustave 266 Retzlaff, Erich 270 Rheinberger, Hans-Jörg 157 Riedel 60 Rieger, Stefan 46 Richter, Hans 35, 137f., 140, 146, 303 Riha, Karl 224 Riis, Jacobs 190 Ritter, Henning 20 Roche de la, Catherine 137 Rodtschenko (auch Rodchenko), Alexander Michailowitsch 152, 183-188, 225, 227, 229, 239, 261, 320, 365-368 Roesler, Alexander 291 Rössler, Patrick 255 Roh, Franz 35, 226, 301f., 305, 308f., 348 Rosa, Hartmut 288 Rosenberg, Arthur 68 Ross, Colin 39, 105, 112, 115 Roth, Andrew 305, 369 Rudolf, Hans 296 Rüting, Torsten 16, 150, 170 Ruttmann, Walter 137, 139, 146, 208, 365 Sahli, Jan 142 Saldern von, Adelheid 40 Salomon von, Ernst 349 Samjatin, Jewgeni 265 Sander, August 218, 302, 309, 311-313, 315, 369 Sanders, A. W. 115 Sarter, Eberhard 209, 213
Schahadat, Schamma 30, 185, 361 Schaichet, Arkadi Samoilowitsch 186 Schemtschuschny, Witali 186 Schirach von, Baldur 98 Schlageter, Albert Leo 348, 349 Schleich, Carl Ludwig 64, 265-267 Schlesinger, Georg 43f., 60, 65, 364 Schlögel, Karl 49, 154 Schmidt, Dietmar 43 Schmitson, Arthur 267 Schmitz, Norbert M. 148 Schramm, Helmar 251 Schreyer, Lothar 348 Schüler, Fritz 267 Schuitema, Paul 204f., 255, 320, 367 Schulz, Edmund 29, 38, 343 Schulz, Til 324 Schumacher, Fritz 39 Schwartz, Matthias 49 Schwarz, Rudolf 32, 68, 363 Schwarz van Berk, Hans 348f. Schweinitz, Jörg 20, 48, 148 Schweppenhäuser, Hermann 137 Scriabin, Alexander 146 Searle, John 154 Sečenov, Ivan Michajlovič 131 Serner, Walter 47 Sheeler, Charles 195f. Sichel, Kim 179, 193, 205, 207 Siepmann, Eckhard 241, 367f., 370 Simenon, Georges 315 Sinclair, Upton 29-31, 33, 198, 361, 363 Sinjawski, Andreij 59 Sokolow, Ippolit 54f. Sontag, Susan 324 Sougez, Emmanuel 306f., 369 Spencer, Herbert 285 Spengler, Oswald 33f., 84 Spieker, Sven 152 Stachanow, Alexei Grigorjewitsch 135 Stadler, Ernst 348 Stalin, Josef 170, 185 Starl, Timm 309 Stein, Gertrude 28 Steinfeld, Thomas 47 Steinorth, Karl 301 Stenger, Erich 311 Stepanowa, Warwara F. 184 Stern, William 43 Sternberg, Fritz 216f., 219
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NAMENREGISTER
Stiegler, Bernd 90, 185, 195, 198, 208, 225, 291, 301, 306 Stieglitz, Alfred 193, 195 Stites, Richard 51 Stollnitz, Hortense 115 Stone, Sasha 208, 303, 308 Strack, Friedrich 352 Stramm, August 348 Strasser, Alex 200 Strasser, Otto 349 Stürzebächer, Jörg 316 Suter, Robert 47, 361 Švacha, Rostislav 291 Szarkowski, John 233 Tairow 162 Tarde de, Gabriel 150 Tatlin, Wladimir Jefgrafowitsch 204, 230, 232-236, 239, 255, 267 Tatur, Melanie 19 Taylor, Frederick Winslow 19f., 39, 49, 65, 91, 99, 108, 115, 166, 168 Tayol 60 Teige, Karel 223, 291, 306 Teschner von, General a.D. 349 Tiedemann, Rolf 137, 218 Tode, Thomas 136, 138 Toller, Ernst 71, 332 Tramm, K.A. 65 Trakl, Georg 348 Tretjakow (auch Tretjakov), Sergei Michailowitsch 9, 62, 125, 127f., 132, 156f., 162-164, 185, 224, 241, 245, 248, 261, 368 Tschichold, Jan 7, 18f., 35, 226, 248, 254f., 262, 285-296, 301-305, 308, 316, 361, 368f. Tucholsky, Kurt 315f., 346, 369 Tunney, Gene 267 Tupitsyn, Margarita 230, 364 Umanski, Konstantin 233 Vaucanson, Jaques de 265 Venzmer, Gerhard 270 Velminski, Konstantin 51, 362, 364 Vertov, Dziga siehe Wertow, Dsiga Vögler, Albert 208f Vöhringer, Margarete 16, 49, 141, 145, 363
Völker, Klaus 265 Völkner, Katrin 309 Voigt, Richard 183 Vogel, Lucien 200 Volkmann, L. 179 Vossoughian, Nader 277, 368 Vygotski, Lev Semyonovich, siehe Wygotzki, Lew Semjonowitsch Wachtangow 162 Wallich, Adolf 61 Warburg, Aby 164 Waters 118 Webb, Clifton 92 Weber, Alfred 61 Weber, Max 61, 115 Wedgewood, Richard B. 134 Weisgeber, Albert 348 Weiskopf, F.C. 341f., 370 Weiss, Evelyn 185 Wendorff, Rudolf 51 Werneburg, Brigitte 342 Wertow, Dsiga 7, 11, 13, 49, 129, 131-148, 151-153, 155, 160, 170-173, 181, 197, 208, 230, 248, 361, 365f. Westheim, Paul 179 Wheeler, Charles N. 41 Wiesing, Lambert 154 Wigman, Mary 68 Wilde, Ann und Jürgen 208 Windisch, Hans 326 With, Karl 212 Witte, I. M. 20, 27 Wizisla, Erdmut 218 Woinowa, A. I. 29f, 363 Wolff, Paul 189 Wünsche, Isabel 48 Wundt, Wilhelm 67, 115, 164, 166 Wurm, Barbara 49, 54, 131, 136, 148 Wygotzki, Lew Semjonowitsch 157, 162, 157, 170, 175 Witkovsky, Matthew 224 Zalkind 162 Zervigón, Andrés Mario 241 Zinfert, Maria 299 Züchner, Eva 235, 239, 253 Zwart, Piet 204
Bernd Stiegler - 978-3-8467-5976-9 Heruntergeladen von Brill.com04/20/2021 06:23:17AM via Universitat Leipzig