»Megastädte« zwischen Begriff und Wirklichkeit: Über Raum, Planung und Alltag in großen Städten [1. Aufl.] 9783839432044

For some time now, »megacities« have been receiving focused attention from the media and academics. However it is unclea

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German Pages 368 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
A. Groß, größer, ‚mega‘?
1. Auf Definitionssuche: Die ‚Megastadt‘ als Typus
1.1 Allgemeine Kriterien der Erforschung von ‚Megastädten‘
a) Absolute und relative Größen- und Vergleichsmaßstäbe
b) Vergleichbarkeit
c) Wachstumsdynamiken
d) Funktionale Konzentration
e) Funktional-räumliche Strukturen
1.2 Die ‚Megastadt‘ als Begriff, als Wirklichkeit und als Gegenstand der Forschung
a) ‚Megastädtische‘ Problemfelder im Stand der Forschung
b) Aspekte einer vorläufigen Begriffsbestimmung
2. Die Relevanz von Größe als Merkmal von Städten
2.1 Aspekte der Größe
2.2 Die große Stadt und die Stadtsoziologie
a) Strukturelle Differenzierung
b) Soziale und politische Organisation
c) ‚Stadtkultur‘
2.3 Thesen zur Relevanz von Stadtgröße
B. Städte als widersprüchliche Einheiten
1. Vergleichende Stadtforschung
2. Städte als Untersuchungsgegenstand
2.1 Städte zwischen Homogenisierung und Heterogenisierung
2.2 Theoretische Ebenen der Analyse von Städten
2.3 Das analytische Potential des Fragmentierungsbegriffs
a) Der Fragmentierungsbegriff in den Gesellschafts- und Geisteswissenschaften
b) Der Fragmentierungsbegriff in der Stadtforschung
c) Städte als widersprüchliche Einheiten, oder: Fragmentierung als Heuristik der Stadtanalyse
3. Stadt-räumliche Konfiguration, politisch-planerische Konzipierung und alltagspraktische Herstellung großer Städte
3.1 Stadt-räumliche Konfiguration
3.2 Politisch-planerische Konzipierung
3.3 Alltagspraktische Herstellung
C. Brasilianische ‚Groß‘- und ‚Megastädte‘ im Vergleich
1. Zur Umsetzung des Städtevergleichs
1.1 Auswahl unterschiedlich großer Städte: Historische Dimensionen
1.2 Demographische und sozioökonomische Dimensionen der ausgewählten Städte im Vergleich
a) Demographische Entwicklung
b) Einkommens-, Beschäftigungs- und Wohnverhältnisse
1.3 Methodisches Vorgehen
a) Expert_inneninterviews
b) Teilstandardisierte, offene Befragung
2. Stadt-räumliche Konfiguration: Trennungen und Verbindungen im Stadtraum
2.1 Segregationsmuster
a) São Paulo
b) Rio de Janeiro
c) Porto Alegre
d) Recife
e) Segregationsmuster im Vergleich
2.2 Zentren und Zentralitäten
a) Historische Zentren
b) ‚Neue Elitezentren‘
c) Subzentren
d) Zentralitäten im Vergleich
2.3 Über die stadt-räumliche Konfiguration der untersuchten Städte: Konkordanzen und Differenzen
3. Politisch-planerische Konzipierung: Über die Perzeption und Gestaltung von Stadtgröße
3.1 Die Perzeption von Größe durch politisch-planerische Akteure
a) Allgemeine politische Entscheidungsparameter
b) Stadtgröße als Faktor der Stadtpolitik
3.2 Die Gestaltung von Größe – Planungsentwürfe und Dezentralisierungsbemühungen
a) Planung als Konzipierung eines ‚Ganzen‘?
b) Dezentralisierung als Beteiligung
3.3 Über die politisch-planerische Konzipierung der Städte: Konkordanzen und Differenzen
4. Alltagspraktische Herstellung: Nutzung und Wahrnehmung der Städte und ihrer Orte
4.1 Alltägliche Orte
a) Arbeits-, Wohn- und Freizeitorte
b) Zentren und Subzentren
4.2 Alltägliche Attribuierungen
a) Allgemeine Zuschreibungen und Bewertungen von Stadtspezifika
b) Sicherheits- und Unsicherheitsempfinden
4.3 Typische Nutzungs- und Wahrnehmungsweisen der Städte
4.4 Charakteristische Erzählungen über die untersuchten Städte
a) Bindung
b) Sozio-kulturelle Besonderheiten
c) Ungleichheit
d) Unsicherheit
e) Entwicklung
f) Unruhe und Unordnung
g) Funktionen und Möglichkeiten
h) Zentrumsorientierung
i) Verbindungen und Trennungen in den Erzählungen
4.5 Über die alltagspraktische Herstellung unterschiedlich großer Städte: Konkordanzen und Differenzen
D. ‚Megastädte‘ zwischen Begriff und Wirklichkeit
1. Über brasilianische ‚Megastädte‘
2. Von der Wirklichkeit zum Begriff: Möglichkeiten eines allgemeinen Stadttypus der ‚Megastadt‘
2.1 Auf Definitionssuche: Eine Präzisierung
2.2 Qualitative Dimensionen der Stadtgröße: Eine Aktualisierung
3. Ausblick
Literatur
Dank
Abkürzungsverzeichnis
Anhang
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»Megastädte« zwischen Begriff und Wirklichkeit: Über Raum, Planung und Alltag in großen Städten [1. Aufl.]
 9783839432044

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Johanna Hoerning »Megastädte« zwischen Begriff und Wirklichkeit

Urban Studies

Johanna Hoerning lehrt Soziologie mit dem Schwerpunkt Stadt- und Raumsoziologie an der TU Berlin. Die Soziologin promovierte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und arbeitet seit vielen Jahren zu brasilianischen Städten. Schwerpunkte ihrer Forschung liegen auf Stadt- und Raumtheorie, Postkolonialer Theorie sowie auf dem Thema Wohnen und soziale Bewegungen.

Johanna Hoerning

»Megastädte« zwischen Begriff und Wirklichkeit Über Raum, Planung und Alltag in großen Städten

Dissertation am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Johanna Hoerning, São Paulo, 2009 Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3204-0 PDF-ISBN 978-3-8394-3204-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung | 11 A 

Groß, größer, ‚mega‘? | 29 

1. 

Auf Definitionssuche: Die ‚Megastadt‘ als Typus | 29  

1.1 Allgemeine Kriterien der Erforschung von ‚Megastädten‘ | 30   a) Absolute und relative Größen- und Vergleichsmaßstäbe | 31 b) Vergleichbarkeit | 32  c) Wachstumsdynamiken | 35   d) Funktionale Konzentration | 37  e) Funktional-räumliche Strukturen | 41   1.2  Die ‚Megastadt‘ als Begriff, als Wirklichkeit und als Gegenstand der Forschung | 44 a) ‚Megastädtische‘ Problemfelder im Stand der Forschung | 44   b) Aspekte einer vorläufigen Begriffsbestimmung | 53   2. 

Die Relevanz von Größe als Merkmal von Städten | 56  

2.1 Aspekte der Größe | 58   2.2  Die große Stadt und die Stadtsoziologie | 63   a) Strukturelle Differenzierung | 65 b) Soziale und politische Organisation | 71 c) ‚Stadtkultur‘ | 75 2.3 Thesen zur Relevanz von Stadtgröße | 84  



Städte als widersprüchliche Einheiten | 91  

1. 

Vergleichende Stadtforschung | 94  

2. 

Städte als Untersuchungsgegenstand | 99  

2.1 Städte zwischen Homogenisierung und Heterogenisierung | 102   2.2 Theoretische Ebenen der Analyse von Städten | 110  2.3 Das analytische Potential des Fragmentierungsbegriffs | 116  a) Der Fragmentierungsbegriff in den Gesellschafts- und Geisteswissenschaften | 116 b) Der Fragmentierungsbegriff in der Stadtforschung | 121 c) Städte als widersprüchliche Einheiten, oder: Fragmentierung als Heuristik der Stadtanalyse | 124 3. 

Stadt-räumliche Konfiguration, politisch-planerische Konzipierung und alltagspraktische Herstellung großer Städte | 127 

3.1 Stadt-räumliche Konfiguration | 130  3.2 Politisch-planerische Konzipierung | 132 3.3 Alltagspraktische Herstellung | 133 



Brasilianische ‚Groß‘- und ‚Megastädte‘ im Vergleich | 137 

1. 

Zur Umsetzung des Städtevergleichs | 138 

1.1 Auswahl unterschiedlich großer Städte: Historische Dimensionen | 138 1.2 Demographische und sozioökonomische Dimensionen der ausgewählten Städte im Vergleich | 145 a) Demographische Entwicklung | 145 b) Einkommens-, Beschäftigungs- und Wohnverhältnisse | 149

1.3 Methodisches Vorgehen | 154  a) Expert_inneninterviews | 156  b) Teilstandardisierte, offene Befragung | 158

  2.  Stadt-räumliche Konfiguration: Trennungen und Verbindungen im Stadtraum | 161  2.1 Segregationsmuster | 161  a) São Paulo | 163 b) Rio de Janeiro | 170 c) Porto Alegre | 175 d) Recife | 177 e) Segregationsmuster im Vergleich | 179 2.2 Zentren und Zentralitäten | 180  a) Historische Zentren | 181 b) ‚Neue Elitezentren‘ | 189 c) Subzentren | 196 d) Zentralitäten im Vergleich | 199 2.3 Über die stadt-räumliche Konfiguration der untersuchten Städte: Konkordanzen und Differenzen | 202 3.  Politisch-planerische Konzipierung: Über die Perzeption und Gestaltung von Stadtgröße | 205  3.1 Die Perzeption von Größe durch politisch-planerische Akteure | 205 a) Allgemeine politische Entscheidungsparameter | 205 b) Stadtgröße als Faktor der Stadtpolitik | 219 3.2 Die Gestaltung von Größe – Planungsentwürfe und Dezentralisierungsbemühungen | 223 a) Planung als Konzipierung eines ‚Ganzen‘? | 224 b) Dezentralisierung als Beteiligung | 237 3.3 Über die politisch-planerische Konzipierung der Städte: Konkordanzen und Differenzen | 245

4.  Alltagspraktische Herstellung: Nutzung und Wahrnehmung der Städte und ihrer Orte | 248  4.1 Alltägliche Orte | 249  a) Arbeits-, Wohn- und Freizeitorte | 249 b) Zentren und Subzentren | 254 4.2 Alltägliche Attribuierungen | 257  a) Allgemeine Zuschreibungen und Bewertungen von Stadtspezifika | 258 b) Sicherheits- und Unsicherheitsempfinden | 261 4.3 Typische Nutzungs- und Wahrnehmungsweisen der Städte | 263  4.4 Charakteristische Erzählungen über die untersuchten Städte | 272  a) Bindung | 274 b) Sozio-kulturelle Besonderheiten | 277 c) Ungleichheit | 283 d) Unsicherheit | 286 e) Entwicklung | 289 f) Unruhe und Unordnung | 295 g) Funktionen und Möglichkeiten | 299 h) Zentrumsorientierung | 303 i) Verbindungen und Trennungen in den Erzählungen | 304 4.5 Über die alltagspraktische Herstellung unterschiedlich großer Städte: Konkordanzen und Differenzen | 307 D 

‚Megastädte‘ zwischen Begriff und Wirklichkeit | 311  

1.  Über brasilianische ‚Megastädte‘ | 312  2.  Von der Wirklichkeit zum Begriff: Möglichkeiten eines allgemeinen Stadttypus der ‚Megastadt‘ | 318 2.1 Auf Definitionssuche: Eine Präzisierung | 318  2.2 Qualitative Dimensionen der Stadtgröße: Eine Aktualisierung | 328 

3.  Ausblick | 330

  Literatur | 333

  Dank | 357   Abkürzungsverzeichnis | 359 Anhang | 361  

Einleitung

Seit einigen Jahren, so erzählt man uns, leben wir im Jahrtausend der Städte. Alles scheint ‚urban‘ geworden zu sein und ob es überhaupt noch so etwas wie eine von anderen Lebensweisen unterscheidbare ‚Urbanität‘ gibt, ist umstritten. Nicht wenige verfechten die These von der Ubiquität des Städtischen. Zumindest in quantitativen Dimensionen scheinen wir dem immer näher zu kommen – es gehört heute praktisch zum Allgemeinwissen, dass mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten lebt. Die „vollständige Verstädterung“1 scheint nicht mehr nur eine utopische Idee zu sein, sondern eine vorstellbare Zukunft, manchen sogar konkrete Gegenwart. Einer der Orte, der die ubiquitär gewordenen Stadt zu versinnbildlichen scheint, ist die sogenannte Megastadt. Zwar handelt es sich bei diesen Städten nicht um die ‚Hauptverantwortlichen‘ für die beobachtete Entwicklung, da eine weit größere Anzahl mittelgroßer Städte existiert, welche die Verstädterungsdynamik antreiben. Aber sie sind die sichtbaren Orte der scheinbar ubiquitären Stadt und rückten damit in den medialen, politischen und wissenschaftlichen Fokus. Mit dem Szenario der ubiquitären Stadt sind kontrastreiche Vorstellungen verbunden und es scheint gerade die Gleichzeitigkeit verschiedener und ungleicher Entwicklungen zu sein, die für die heute größten Städte geltend gemacht werden kann. Vereinfachend lassen sich die Bezugspunkte dabei zwischen zwei Polen verorten: Auf der einen Seite die ‚fortschrittsweisende‘ Stadt als Ausdruck einer technischen, wissensbasierten Beherrschung der Umwelt des Menschen. Auf der anderen Seite die ‚armutsmultiplizierende‘ Stadt, in der kein oder nur eingeschränkter Zugang zu den Ressourcen besteht, die eine autonome Versorgung und Lebensführung ermöglichen würden. Der Ort aktiver Beherrschung der

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S. hierzu die Diskussion um das Konzept der „planetary urbanization“, angestoßen durch Neil Brenner und Christian Schmid in Anlehnung an Henri Lefebvre (Brenner 2013).

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Umwelt ist zugleich ein Ort der Unfreiheit. In den öffentlichen Auseinandersetzungen werden dementsprechend Chancen und Risiken ‚megastädtischer‘ Entwicklungen gleichermaßen betont. Vor allem in den medialen Berichten überwiegt aber die aufmerksamkeitsheischende Skepsis gegenüber Verstädterungsprozessen, die als chaotisch und bedrohlich aufgefasst werden. So bezeichnet ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen ‚Megastädte‘ als „außer Kontrolle“ (Blomberg 2002), die Süddeutsche Zeitung titelt „Die Welt der Monsterstädte“ (Denkler 2010) und „Megastädte: Die Zukunft verfault“ (Kreye & Steinberger 2007). Die Financial Times Deutschland spricht davon, dass „Der Moloch wächst“ (Radomsky & Zapf 2007); Die Welt formuliert die Schlagzeile „Boomende Megastädte fressen das Land auf“ (Röthlein 2007) und die ZEIT grüßt den Menschen im Zeitalter der Verstädterung mit den Worten „Willkommen im Chaos“ (Grefe 2013). Drastische Szenarien bis hin zur Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung werden entworfen: „Um nicht vollends von der Wucht der Metropole überrollt zu werden, schaffen sich die Menschen eine Mikrostadt in der Megastadt. [...] Jeder Versuch [...], die Megastadt als Ganzes zu erleben, brächte die Gesellschaftsordnung zum Einsturz.“ (SZ Wissen 18/2007: 59)

In dem Maße, in dem die Medien auch Forschungsergebnisse aufgreifen, dokumentieren neuere Beiträge auch verstärkt thematische Problembezüge: So etwa die Luftqualität (Blume 2013), die Wasserversorgung (n-tv 2011), die Stauproblematik (Klas, Paál & Laufen 2012) und gesundheitliche Belastungen durch Stress (Heller 2012). Und schließlich steckt auch immer die Faszination für das Chaos darin, für die Überlebensstrategien der Menschen in der „gebauten und wuchernden Wildnis“, der „Steinwüste“ oder dem „Häusermeer“. Neben der prinzipiellen Wahrnehmung von Bedrohlichkeit und der Problemzentrierung kommen also in den medialen Beiträgen auch eine gewisse Faszination und der Verweis auf die Zukunftsträchtigkeit dieser Städte (Friebe 2009) ebenso zum Ausdruck wie das Erstaunen darüber, „[w]ie Milliarden Menschen im Chaos überleben“ (SZ Wissen, 18/2007: 59). Diese öffentliche Wahrnehmung der Städte „zwischen Fortschritt und Verfall“ (Korff 1993) weist große Ähnlichkeiten mit der sich im 19. Jahrhundert in Europa formierenden Großstadtkritik auf. Die im Rahmen der Herausbildung einer kapitalistischen Industriegesellschaft ablaufende Verstädterung ging im Europa des 19. Jahrhunderts bekanntlich mit einer starken Pauperisierung und der Entstehung eines städtischen Proletariats einher. Aus der Angst, dass die „Herrschaft der Großstädte [...] zuletzt gleichbedeutend werden [könnte] mit der

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Herrschaft des Proletariates“ (Riehl 1939 [1853]:96f.), leitete sich letztlich die Glorifizierung des Land- und Kleinstadtlebens als Hort bürgerlicher Werte ab. Die vehemente Kulturkritik an der Großstadt als Ort der Dekadenz, die sich noch weit in das 20. Jahrhundert fortsetzt, kennt aber auch die Faszination für das enorme produktiv-schöpferische Potential der Städte: „In den Großstädten wohnt das ausgleichende Weltbürgertum. Hier verschwinden die natürlichen Unterschiede der Gesellschaftsgruppen; […] Die Weltstädte sind riesige Enzyklopädien der Sitte wie der Kunst und des Gewerbefleißes des ganzen zivilisierten Europas. […] Wo sich die Menschen zu ungeheuren Massen ansammeln, da blüht Arbeit und reift Gewinn, und der Nationalökonom freut sich darüber. Das gesunde Gedeihen der bürgerlichen Gesellschaft aber ist nicht immer da, wo die größten Massen sind […]. Es begehrt das mittlere harmonische Maß selbst im Wachstum der menschlichen Siedlungen.“ (Riehl 1939 [1853]:110f.)

Aber auch gesellschaftskritische Positionen setzten sich mit der Frage auseinander, was diese Verstädterung und die (früh-)kapitalistischen Verhältnisse in den Städten zur Folge haben, wie etwa Friedrich Engels in seiner Abhandlung über die englischen Großstädte. Aus der Sicht einer gesellschaftskritischen Analyse der Städte ergibt sich aber nicht nur der Blick auf die industrielle Produktivität, die Konzentration und Entfremdung ökonomischer Aktivitäten, sondern auch auf das gesellschaftliche Potential der großen Städte: „Alles, was andernorts entsteht, reißt die Stadt an sich: Früchte und Objekte, Produkte und Produzenten, Werke und schöpferisch Tätige, Aktivitäten und Situationen. Was erschafft sie? Nichts. Sie zentralisiert die Schöpfungen. Und dennoch, sie erschafft alles. Nichts existiert ohne Austausch, ohne Annäherung, ohne Nähe, ohne Beziehungsgefüge also.“ (Lefebvre 1990 [1970]:127f.)

Die Zentralisierung der Ergebnisse produktiver Arbeit führt also gleichermaßen zur Potenzierung von Interaktionen, worin das produktive Potential der großen Stadt liegt. Ganz ähnlich gelten sogenannte Megastädte als Zentren sozialen, ökonomischen und technologischen Wandels. Dabei überwiegt bislang die ängstlich-misstrauische Betrachtung als Dekadenzerscheinung, als Moloch, als Chaos – und das nicht nur in medialen Darstellungen (vgl. Davis 2004). Aus ökonomischer Sicht wurden die Entwicklungen lange Zeit als „Überverstädterung“ (overurbanization, vgl. Davis/Golden 1954) beschrieben. Im Anschluss daran waren auch der politische Diskurs sowie Steuerungs- und Planungsansätze lange Zeit davon geprägt, die als unheilvoll geltende ‚Überverstädterung‘ abzuwenden,

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indem vor allem der Fokus auf die ländliche Entwicklung gelegt wurde (Devas & Rakodi 1993b). Heute überwiegen Untersuchungen, die sich auf qualitative Erscheinungen berufen (s. u.a. Bronger 1997; Bronger 2004; Korff 1993; Korff 1996; Parnreiter & Wohlschlägel 1999; Kraas & Nitschke 2006; Kraas 2014): Aus zumeist geographischer Perspektive richtet sich der Fokus dabei etwa auf starke Tendenzen gesellschaftlicher Polarisierungen in den sog. Metropolen des Südens oder ihre Rolle im Prozess wirtschaftlicher und kultureller Globalisierung. Mit dem öffentlichen ging auch ein politisches Interesse am Phänomen der ‚Megastädte‘ einher, das sich in der Förderung einiger Forschungsverbünde äußerte. In Deutschland ist dabei vor allem der 2004 eingerichtete Förderschwerpunkt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung („Forschung für die nachhaltige Entwicklung der Megastädte von morgen“/„Future Megacities“) zu nennen. Der Schwerpunkt wurde in der Hauptphase ab 2008 eingeschränkt auf die Auseinandersetzung mit ökologischer Nachhaltigkeit und fokussiert seither Themen der „Energie- und Klimaeffizienz“. Außerdem richtete die Deutsche Forschungsgemeinschaft 2005 ein Schwerpunktprogramm mit dem Titel „Megastädte: Informelle Dynamik des globalen Wandels“ (SPP 1233) ein. Eine stärker sozialwissenschaftliche Ausrichtung hat außerdem die Erforschung von ‚Megastädten‘ am Helmholtz Zentrum für Umweltforschung (UFZ), wo von 2007 bis 2011 am Projekt „Risk Habitat Megacity“ gearbeitet wurde.2 Es gibt also ein starkes Interesse an der Klärung von Fragen zu Konsequenzen derartiger Stadtentwicklungsprozesse und möglichen Gestaltungsansätzen. An die Beobachtungen des Phänomens der besonders großen Städte schließen sich viele Fragen an, die in diversen Forschungsansätzen heute verfolgt werden. Sie berühren Themen wie die Vorteile und Chancen neuer Infrastruktur (-systeme) und alternativer Versorgungssysteme, etwa über städtische Landwirtschaft. Sie untersuchen die ökonomischen Potentiale, die in den Knotenpunkten globaler Finanz-, Produktions- und Dienstleistungssysteme liegen. Sie betreffen aber genauso problematische und konflikthafte Themen wie Bodenversiegelung, Luftverschmutzung, Verkehr und damit verbundene Risiken und gesundheitsschädigende Wirkungen, sowie Wohnungsfrage und Landvergabe. Die Aufzählung ist mitnichten abschließend, aber sie zeigt zentrale Bezüge heutiger Forschung zu den (größten) Städten der Welt. Für die soziologische Erforschung von Städten stellt sich an diesem Punkt allerdings eine sehr grundlegende Frage, die bislang kaum Beachtung gefunden

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Die Abschlusspublikation untersucht thematische Risiken und dazugehörige Politikfelder insbesondere für die fokussierte Stadt, Santiago de Chile (Heinrichs 2012).

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hat: Wenn ‚Megastädte‘3 als Erscheinungsformen konkrete Lebensbedingungen darstellen und klar benenn- oder gar prognostizierbare Effekte produzieren, die es zu steuern gilt, dann bleibt zu fragen, ob damit charakteristische gesellschaftliche Ausdrucksformen verbunden sind. Handelt es sich bei ‚Megastädten‘ um distinkte Räume, deren soziale Verhältnisse in charakteristischer Weise im Alltag hergestellt, politisch gestaltet und stadt-räumlich organisiert werden? Die Forschungsliteratur zu sogenannten Megastädten besteht größtenteils aus Aufsätzen und Sammelbänden. Darin finden sich aufschlussreiche Einzelstudien zu Städten (etwa Feldbauer, Husa & Pilz 1993) oder zu thematischen Schwerpunkten (etwa Aguilar & Escamilla 1999). Auch eine Verbindung aus beidem existiert (etwa Heinrichs 2012). Dennoch tragen die Ergebnisse der bisherigen Forschung nur sehr bedingt zur Frage bei, ob ‚Megastädte‘ soziologisch relevante Besonderheiten aufweisen, die sie von einer rein deskriptiven Stadtform (bestimmt über Bevölkerungsgröße) zu einem qualitativen Stadttypus (bestimmt über strukturelle Merkmale) machen. Denn der größere Teil der Forschung setzt sich weniger mit der Frage danach auseinander, wie ‚Megastädte‘ hergestellt werden, als mit den Konsequenzen einer nicht selten als übermäßig bewerteten Verstädterung. Problematisch an dieser Schwerpunktsetzung ist jedoch, dass gerade der Gegenstand wesentlich unklarer ist als die beobachteten Konsequenzen, seien diese ökologischer, politischer oder sozialer Natur. Dass die sozialwissenschaftliche und, mehr noch, die soziologische Literatur zum Thema ‚Megastädte‘ überschaubar sind, liegt sicher nicht zuletzt daran, dass gar nicht klar ist, inwiefern diese überhaupt einen soziologischen Forschungsgegenstand darstellen. Trotz der Analyse der Dimensionen und Konsequenzen von Verstädterung bleibt also bislang weitgehend ungeklärt, was nun unter dem Begriff ‚Megastadt‘ eigentlich zu verstehen ist. Tatsächlich scheint der einzige gemeinsame Nenner der Ansätze darin zu liegen, dass es sich um besonders große städtische Agglomerationen handelt. Wo die quantitative Grenze für die Bestimmung von ‚Megastädten‘ festgelegt wird, variiert dabei zwischen vier und zehn Millionen Einwohnern: Aus historischer Perspektive wird für den geringsten Schwellenwert mit vier Millionen Einwohnern plädiert (Barker & Sutcliffe 1993). Geographische Ansätze operieren meist mit der Fünf-Millionen-Grenze (so etwa Bronger 1997; 2004) und die Vereinten Nationen veränderten ihren Schwellenwert von acht auf zehn Millionen Einwohner als quantitatives Bestimmungskriterium für Megastädte (vgl. Gilbert 1996b; United Nations 2004:5). Neben der quantitati3

Der Begriff – nicht als Beschreibung der weltweit größten Städte, sondern in Bezug auf seinen analytischen Gehalt – wird in dieser Untersuchung in Frage gestellt und insofern in Anführungszeichen gesetzt.

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ven Bestimmungsgrenze lassen sich Ansätze aber auch danach unterscheiden, ob sie sich auf polyzentrische, mehr oder weniger diskontinuierliche Stadtregionen (vgl. u.a. Gottman 1961; Gottman 1990; Dogan & Kasarda 1989a; Sudjic 1999; Castells 2010; Soja 2000) oder auf monozentrische, auch administrativ mehr oder weniger eindeutig bestimmbare Stadtgebiete beziehen (vgl. u.a. Barker & Sutcliffe 1993; Gilbert 1996c; Feldbauer u.a. 1997). Außerdem werden einige „oft anzutreffend[e] Gemeinsamkeiten“ (Kraas & Nitschke 2006:19) und damit thematische Schnittmengen in der Auseinandersetzung mit ‚Megastädten‘ identifiziert, die zur Bestimmung des Phänomens herangezogen werden. Hierunter fallen Themen wie die Unterscheidbarkeit und Grenzziehung zwischen Stadt und Land bei extremer Bevölkerungszahl und mehr oder weniger unkontrollierter Expansion oder das Problem des Verlustes an Steuer- und Regierbarkeit bei gleichzeitiger Bedeutungs- und mengenmäßiger Zunahme informeller Strukturen. Aber auch hier bleibt bei den meisten als Gemeinsamkeiten deklarierten Strukturen die Frage offen, was denn das spezifisch ‚Megastädtische‘ daran sein soll, das den Begriff auch als einen analytisch fruchtbaren begründen würde.4 Von ‚Megastadt‘ zu sprechen ist also zwar eine nachvollziehbare Deskription – als wissenschaftliche Kategorie verweist die ‚Megastadt‘ aber auf ein ungeklärtes Spannungsfeld zwischen dem Begriff und der damit benannten sozialen Wirklichkeit. Dieses Spannungsfeld kann nicht gelöst werden – es liegt praktisch jedem sozialwissenschaftlichen Begriff zugrunde, insofern als über die „Bezeichnungsfunktion […] niemals die Totalität des Phänomens wiederge[ge]ben“ (Bahrdt 2003) werden kann. Dementsprechend geht es hier nicht darum, zu einer „ontologischen“ Bestimmung von Städtetypen beizutragen, sondern vielmehr darum, dieses Spannungsfeld als ein Soziologisches zu skizzieren. Dabei nimmt die Arbeit die Auseinandersetzung mit dem Begriff, wie er heute in der Stadtforschung gehandhabt wird, zum Ausgangspunkt. Über die anschließende empirische Untersuchung der sozialen Erfahrung solcher Städte soll zur soziologischen Präzisierung des Begriffs beigetragen werden. Dabei geht es darum, wie das mit dem Begriff Bezeichnete gesellschaftlich hergestellt wird. Dieses Wie der Herstellung steht hinter der grundsätzlichen Fragestellung, ob die Stadtform der ‚Megastadt‘ einen qualitativ begründbaren, soziologischen Typus darstellt, der sich von kleineren Großstädten in charakteristischer Weise unterscheidet. Es geht dann nicht darum, ab welcher Größe sich strukturelle Veränderungen abzeichnen, sondern ob sich hinter der ‚Megastadt‘ und den damit implizierten Größenverhältnissen charakteristische Spezifika in der gesellschaftlichen Her-

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Auf dieses Defizit an (stadt-)soziologischer Forschung zum Thema ist bereits an anderer Stelle hingewiesen worden (Stratmann 2007).

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stellung von Begriff und Wirklichkeit dieser Städte erkennen lassen, die sich von der kleinerer Städte unterscheiden. Welche begrifflichen Verständnisse liegen dieser Fragestellung nun zugrunde? Die Fragestellung setzt einen Unterschied zwischen der Stadtform und einem ‚qualitativ begründbaren, soziologischen Typus‘. Als Stadtform ist die reine Erscheinungsform besonders großer Städte gemeint – ihre quantitative Bestimmung ist aber nicht eindeutig und sie ist auch für die Untersuchung nur insofern relevant, als sie bei der Auswahl der ‚Megastädte‘ als Orientierungsgröße dient. Mit ‚soziologischem Typus‘ hingegen ist nicht die Bildung eines abstrakten Idealtypus gemeint, sondern eine empirisch begründete Typenbildung (Kelle & Kluge 2010). Die Untersuchung fragt dabei nach der Differenz (immer im Hinblick auf die Herstellung des mit dem Begriff Bezeichneten) zwischen Städten, die in quantitativer Hinsicht als ‚Megastädte‘ identifizierbar sind und solchen Städten, die als Großstädte deutlich unterhalb dieser quantitativen Bestimmung liegen. ‚Qualitativ begründet‘ setzt sich also von der rein quantitativen Bestimmung zunächst einmal prinzipiell ab. Woran die qualitative Begründung festgemacht wird, bestimmt sich über die theoretisch-methodologische Konzipierung des Vergleichs. Die Forschungsfrage selbst lässt sich auf eine klassische Auseinandersetzung in der Stadtsoziologie zurückbeziehen: auf die Frage nach den sich mit der Siedlungsgröße verändernden Charakteristika von Städten. Die Entstehungsgeschichte der Stadtsoziologie steht dabei unter anderem im Zusammenhang mit den Ausführungen dreier sogenannter „Gründungsväter“ der Soziologie, für die der Wandel der gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der Moderne seinen Ort in den entstehenden Großstädten hatte: So setzte sich Ferdinand Tönnies (1887) mit der Großstadt als dem Ort der modernen Gesellschaft in Abgrenzung zu seinem Gemeinschaftsbegriff auseinander; Émile Durkheim (1893) untersuchte den Zusammenhang zwischen der modernen Großstadt und der Arbeitsteilung; und für Georg Simmel (1903) war die moderne Großstadt nicht nur Ort der Geldwirtschaft, sondern auch der spezifischer Soziierungsformen, einem „Geistesleben“, das er von dem in Kleinstädten abgrenzte. Diese soziologischen Analysen verstehen die Stadt zwar als geprägt von allgemeinen Entwicklungen, die ihren Niederschlag etwa im demographischen Wachstum finden, sehen aber die Auswirkungen dieser Veränderungen in der Ausbildung distinkter sozialer Verhältnisse: etwa voranschreitende Arbeitsteilung und veränderte Beziehungsformen der Stadtbewohner_innen. Entscheidend ist, dass die Größe einer Stadt weniger als quantitative Größe von Bedeutung ist, sondern über die damit einhergehenden qualitativen Veränderungen bestimmt wird. Das heißt, dass das

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Soziale in einer Großstadt in einer Weise hergestellt wird, die sich von der in kleineren Städten unterscheidet. Diese analytische Perspektive auf die Zusammenhänge zwischen quantitativen und qualitativen Bestimmungen von Städten greift die vorliegende Untersuchung im Anschluss an die Auseinandersetzung mit der bestehenden Megastadtforschung heraus. Klassische Ansätze der soziologischen Stadtforschung werden herangezogen, um die darin der Stadtgröße beigemessene Rolle zu erarbeiten. Das heißt aber nicht, dass die damit verbundenen Inhalte (also die spezifischen Veränderungen räumlicher und sozialer Organisation, welche klassische Ansätze der soziologischen Stadtforschung in großen Städten analysiert haben) übertragbar sind. Denn die Erkenntnisse über die modernen, europäischen oder nordamerikanischen Großstädte können nicht auf die Untersuchung der Städte übertragen werden, die heute als ‚Megastädte‘ gelten. Diese haben sich größtenteils unter völlig andersartigen Bedingungen entwickelt und sind nicht selten innerhalb kolonialer Strukturen entstanden. Das Phänomen selbst unterscheidet sich also. Deshalb ist eine kontrastierende Darstellung mit den bisherigen Ergebnissen der Forschung zu heutigen ‚Megastädten‘ nötig. Zu diesem Zweck werden die bestehenden Ansätze der Analyse von sogenannten Megastädten zum Ausgangspunkt der Untersuchung gemacht, um deren allgemeine Kriterien sowie die inhaltlichen und begrifflichen Bestimmungen des untersuchten Phänomens auf die Bedeutung von Stadtgröße hin zu beleuchten (A.1). Im Anschluss (A.2) wird diese Darstellung ergänzt durch die klassischen stadtsoziologischen, theoretischen wie empirischen Zugänge zu Stadtgröße, um aus der Gegenüberstellung Thesen zur analytischen (nicht: inhaltlichen) Relevanz von Stadtgröße abzuleiten. Diese führen direkt zu den methodologischen Fragen der Untersuchung von ‚Megastädten‘. Wie muss eine solche Untersuchung konzipiert sein, um eine Antwort darauf geben zu können, wie sich Begriff und Wirklichkeit des Phänomens fassen lassen? Wie können wir also bestimmen, ob ‚Megastädte‘ von distinkten sozialen Verhältnissen geprägt sind, bzw. wie diese im Alltag hergestellt, politisch konzipiert und räumlich organisiert werden? Der Begriff verweist ja auf eine über Größe bestimmte Typologie (von der Klein-, über die Groß-, bis hin zur Megastadt), was die Frage nach den qualitativen Unterschieden innerhalb dieser Typologie aufwirft. Geklärt werden müsste diese Frage durch den Vergleich unterschiedlich großer Städte. Wie aber können Städte zum Gegenstand eines Vergleichs gemacht werden? Diesen grundsätzlichen Fragen einer vergleichenden Stadtforschung widmet sich Teil B dieses Buches. Zum Ersten (B.1) wird hierfür der Vergleich im Rückgriff auf die bestehende Literatur als Kombination aus Konkordanz- und Differenzmethode entwickelt (vgl. Abu-Lughod

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2007; Ward 2010; McFarlane 2010; Robinson 2011) – und das im Rahmen einer qualitativen Sozialforschung. Eine solche kombinierte Konkordanz- und Differenzmethode lässt sich auch als Verknüpfung von individualisierenden und Abweichung feststellenden Vergleichen beschreiben, die sich von umfassenden und universalisierenden Vergleichen abhebt (vgl. Tilly 1984; Brenner 2001). Es geht dabei sowohl um das Herausarbeiten von Besonderheiten als auch darum, systematische Differenzen aufzuzeigen. Diese systematischen Differenzen können aber nicht als universell gelten, ebenso wenig können Aussagen darüber getroffen werden, wie wahrscheinlich es ist, dass sich die unterschiedlich großen Städte immer in derselben Weise unterscheiden. Zum Zweiten führen diese Überlegungen unweigerlich zu der methodologisch-theoretischen Frage, was eigentlich miteinander verglichen wird, wenn Städte in Relation zueinander gesetzt werden (B.2). Die Besonderheit von Städten als soziologischen Untersuchungsgegenständen ist, dass es sich dabei um ein räumliches Phänomen in mehrerer Hinsicht handelt: Städte werden als physischmaterielle Räume geplant, gestaltet, konzipiert; sie werden als solche gebaut und in Alltagspraktiken zum wahrnehmbaren Bezugspunkt, ob als unhinterfragte Folie oder umkämpfte Ressource; und Städte und ihre Architekturen sind mit Symbolik aufgeladen und erhalten Bedeutungen in alltäglichen Aneignungspraktiken (vgl. Lefebvre 1996; Lefebvre [1991] 2001). Wir können institutionalisierte Strukturen praktisch sehen, weil sie in die bauliche Materialität der Städte, deren Konzipierung und Symbolik eingeschrieben sind. Dennoch macht sie diese bauliche Materialität nicht einfacher abgrenzbar, auch nicht zu abgeschlossenen, dinglich-faktischen Einheiten. Vielmehr sind sie Produkte, Ergebnisse, Werke beständiger Herstellungspraxis. Eine allgemeine Bestimmung dessen, was als „soziale, räumlich abgegrenzte Kollektive mit einer Zahl bestimmter Merkmale, die in der Zusammenfassung als 'Stadt' bezeichnet werden“ (Simon 1988:394) kann, scheint wenig aussichtsreich. Versteht man Städte als grundsätzlich komplexe, widersprüchliche, vielfältig bestimmte Gebilde, dann rückt vielmehr in den Fokus, wie diese Abgrenzungen hergestellt werden. Ins Verhältnis gesetzt werden beim Vergleich also nicht ontologisierte (Stadt-)Räume, sondern die alltäglichen Praktiken (körperlich wie diskursiv, materiell wie symbolisch) der Herstellung dieser Räume. Worin die treibende Kraft der Herstellung von Städten zu sehen ist, da unterscheiden sich verschiedene theoretische Ansätze in der Stadtforschung. Sehr vereinfachend lassen sich die Unterschiede darin ausmachen, ob die Ansätze eher Dichte oder Heterogenität als zentralem Definitionsmerkmal von Städten den Vorrang geben. Für Verdichtungsansätze führt die Verdichtung von Heterogenem zur Herstellung eines übergeordneten Ganzen. Der Akzent liegt also auf

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Verbindungen. Exemplarisch ist hierfür der Ansatz der ‚Eigenlogik der Städte‘ zu nennen. Dagegen untersuchen Heterogenitätsansätze schwerpunktmäßig Prozesse der Simultaneität und Juxtaposition von Ungleichem (räumlich/ zeitlich). Dabei wird der Akzent auf Trennungen gelegt. Exemplarisch ist hierfür der Ansatz von Ash Amin und Nigel Thrift zu nennen. In dieser Gegenüberstellung, wie sie in Kapitel B.2.1 entwickelt wird, geraten also entweder Verbindungs- oder Teilungsprozesse in den Blick. Damit nehmen die Ansätze eine Komplexitätsreduktion vor, die zwar plausibel entwickelt wird, aber theoretisch unterkomplex ist. Denn schon anhand der Auseinandersetzung mit den klassischen stadtsoziologischen Ansätzen wird deutlich, dass wir es eigentlich mit einer Widersprüchlichkeit und Simultaneität verschiedener Prozesse zu tun haben. Mit der (Wieder-)Einführung des Fragmentierungsbegriffs als heuristischem Konzept wird in dieser Arbeit ein Vorschlag vorgelegt, diese Widersprüchlichkeit simultaner Homogenisierung und Heterogenisierung von Städten aufzugreifen (B.2.3). Was ist damit gemeint? Ganz allgemein verweist die geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Begriffsgeschichte von Fragmentierung auf zweierlei: Zum einen auf das Verhältnis zwischen Fragment und Totalität – Fragmente können schließlich nur als solche erkannt werden in Bezug auf eine vorgestellt oder rekonstruierte Totalität. Zum anderen auf Prozesse der Auflösung eines vorherigen Zusammenhangs und der Herstellung neuer Zusammenhänge. Dialektisch ausgedrückt: Das Fragment ist und ist nicht Teil des Ganzen – der Widerspruch löst sich auf in den Prozessen und Praktiken der De- und Rekonstruktion von Zusammenhängen. In aktuellen Debatten wird Fragmentierung vor allem als Verlust des „Ganzen“ interpretiert und damit negativ bewertet, in der Stadtforschung häufig mit Bezug auf die räumliche Abspaltung (physisch wie sozial) von bestimmten Stadtteilen. Insbesondere in der Literatur zu ‚Megastädten‘ kommt die Annahme einer akzentuierten „Fragmentierung“ zum Tragen, denn gesellschaftliche Strukturen scheinen darin (noch) ungleicher, komplexer und vielschichtiger (vgl. etwa Low 2005; Harrison, Huchzermeyer & Mayekiso 2003; Soja 2000; Castells 2010; Feldbauer u.a. 1997). Wenn Manuel Castells ‚Megastädte‘ als „discontinuous constellations of spatial fragments, functional pieces, and social segments“ (Castells 2010:404f.) bezeichnet, so wird darin zweierlei deutlich: Erstens wird der Bezug zur Fragmentierung vor allem räumlich gedacht und, zweitens, wird eine neue Aufspaltung oder Aufteilung auch funktionaler und sozialer Art in diesen Städten verzeichnet. Diese gegenwärtigen Beschreibungen reichen aber noch nicht aus, um zu einem Verständnis der aktuellen Dynamiken zu gelangen. Vielmehr sind sie als Ausgangsthese zu verstehen, die hier untersucht werden soll im Hin-

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blick darauf, ob sich tatsächlich veränderte Fragmentierungsdynamiken in sogenannten Megastädten vorfinden lassen und womit diese zusammenhängen. In der Soziologie ist Fragmentierung weniger ein empirischer, denn ein epistemologisch-methodologischer Begriff Als Aufteilung oder Aufspaltung eines zuvor Ganzen – wobei die daraus resultierenden einzelnen Fragmente sowohl in Relation zu dem vorherigen Ganzen, als auch zu dem entstehenden Zustand der Zersplitterung und/oder Neuzusammensetzung stehen – benennt der Begriff einen gleichermaßen dekonstruktiven wie rekonstruktiven Prozess (Brunner 1997). In der Untersuchung von Städten lässt sich mit dem Fragmentierungsbegriff als heuristischem, erkenntnisleitendem Konzept der Blick sowohl auf die Herstellung von (neuen) Trennungen als auch auf die Herstellung von (neuen) Verbindungen lenken. So verstanden können alle Städte als in Fragmentierungsdynamiken befindlich betrachtet werden – und genau hier ist dann nach qualitativen Differenzierungen zu suchen. Nun ist bereits darauf hingewiesen worden, dass Städte sowohl soziale wie auch räumlich-materielle Verhältnisse sind. Um klären zu können, auf welchen Ebenen die Herstellung von Trennungen und Verbindungen untersucht werden soll, muss daher genauer bestimmt werden, in welcher Relation die sozialen und räumlich-materiellen Verhältnisse von Städten zueinander stehen. Zentrales Anliegen der Arbeit ist es dabei, Städte über den Zusammenhang von Struktur und Praxis zu begreifen. Die Vermittlung von räumlich-materiellen und sozialen Verhältnissen bedarf der Verknüpfung über die Dimension der Erfahrung. Räumliche Kontexte werden als ermöglichend oder behindernd (subjektiv) erfahren, wofür deren Materialität, Konzipiertheit und Symbolik gleichermaßen von Relevanz ist. Wenn die Arbeit also nach einer möglichen Typik von ‚Megastädten‘ fragt, dann immer auch danach, ob bzw. wie die besondere Größe als alltagsrelevant erfahren wird. Zwar erschließt sich uns die Materialität von Räumen immer nur durch Wahrnehmung. Sie ist aber immer schon durchdrungen von machtvollen Gestaltungskonzepten in Form von Repräsentationen des Städtischen einerseits und den über die konkreten Nutzungen hergestellten und symbolisch verankerten Bedeutungen im Rahmen städtischer Alltagspraxis andererseits (vgl. Lefebvre [1991] 2001; Lefebvre 1996). In den Debatten um den sogenannten Spatial Turn seit den 1990er Jahren wurden diese Verhältnisse zwischen sozialen Phänomenen und Strukturen einerseits und den physisch-materiellen Kontexten andererseits ausführlich beleuchtet. Raumtheoretische Zugänge sind also in besonderer Weise geeignet, die widersprüchliche Herstellung von Städten als gesellschaftlichen, sozial wie räumlich bestimmten Gebilden zu erklären. Die gesellschaftliche Produktion von Raum ins Verhältnis zur Widersprüchlichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse ge-

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stellt hat insbesondere Henri Lefebvre. Für ihn ist Raum ein soziales Produkt, dessen Einheit in einer dreifachen Dialektik (als Aufhebungsbewegung des Widerspruchs zwischen Sein und Nicht-Sein im Werden, vgl. Schmid 2005) gesellschaftsspezifisch-historisch hergestellt wird. Er ist damit ein ProzessRaum, der sich zugleich im Praktischen (als wahrgenommener Raum bzw. körpergebundene, räumliche Praxis der Aneignung physisch-materieller Strukturen), im Gedanklichen (als konzipierter Raum im Sinne machtvoller, diskursiv vermittelter Repräsentationen des Raums) und im Gelebten (als gelebter Raum im Sinne symbolischer Räume der Repräsentation) erzeugt (Lefebvre [1991] 2001). In Anlehnung an bzw. Auseinandersetzung mit Henri Lefebvre werden in Kapitel B.2.2 drei analytische Ebenen unterschieden, die für eine Untersuchung von Städten als (widersprüchlichen) Räumen relevant sind: (a) die konkrete Materialität von Städten im Sinne der physisch-wahrnehmbaren und sozialräumlichen Strukturen, (b) Repräsentationen des Städtischen im Sinne von (insbesondere, aber nicht nur institutionellen machtvollen) Vorstellungen und Konzipierungen und (c) die städtische Alltagspraxis im Sinne von Nutzungen und Bedeutungszuordnungen. Raumtheoretisch gewendet geht es also nicht darum, inhaltlich zu bestimmen, was Stadt, was städtisch und urban ist, sondern darum, was wie in Beziehung gesetzt wird bei der Produktion von Städten als räumlichen Gebilden im Sinne der ineinandergreifenden Materialität, Repräsentation und Alltagspraxis. Der Fokus liegt dementsprechend auf den Prozessen und Praktiken der Herstellung von Stadt, die sowohl körperlich-materiell als auch diskursiv und symbolisch sind. Mit dieser Herleitung des theoretisch-methodologischen Blicks auf Städte lässt sich dann konkretisieren, was genau in der vorliegenden Untersuchung qualitativer Differenzen zwischen unterschiedlich großen Städten im Hinblick auf eine mögliche Spezifik der sogenannten Megastädte untersucht werden soll. Wenn Städte grundsätzlich als Fragmentierungsdynamik, als simultane Homogenisierungs-Heterogenisierungs-Dynamik der Herstellung eines konkretmateriell wahrgenommenen, diskursiv konzipierten und alltäglich mit Bedeutung versehenen Raumes zu verstehen sind, dann ist die Frage, ob und wenn ja inwiefern sich ‚Megastädte‘ hierin von kleineren Städten unterscheiden. Dafür ist zu klären, woran sich das festmachen lässt. Mit der Fragmentierungsheuristik rückt der Blick auf die simultane Herstellung von Trennungen und Verbindungen des wahrgenommenen, konzipierten und gelebten Stadt-Raumes. Diese rein analytisch unterschiedenen Ebenen sind dialektisch miteinander verwoben, was aber die Frage einer empirischen Operationalisierbarkeit aufwirft. Hier wird im Zusammenspiel von Raumtheorie und Fragmentierungsheuristik ein Ansatz entwickelt, in dem die ausgewählten Städte

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verglichen werden auf den drei Ebenen ihrer stadt-räumlichen Konfiguration, ihrer politisch-planerischen Konzipierung und ihrer alltagspraktischen Herstellung (B.3):5 Städte als Räume sind wahrnehmbar im Sinne ihrer konkreten Materialität. Demographische und morphologische (im Sinne von Städtebau und Topographie) Aspekte mögen dafür relevant sein, sind aber für die Forschungsfrage nachrangig. Da es gerade nicht um quantitative Unterscheidungen (im Sinne von Bevölkerungsgröße, Dichte und Ausdehnung) geht, sondern um qualitative, rücken hier sozialräumliche Aspekte in den Vordergrund. Damit ist die physischräumliche Organisation der Städte in sozialer (v.a. sozioökonomischer) und funktionaler Weise gemeint. In der vorliegenden Arbeit werden diese Aspekte als stadt-räumliche Konfiguration bezeichnet und untersucht (B.3.1).6 Im Zentrum stehen dabei die über Segregationsmuster produzierten Trennungen und die über die Herstellung von Zentren und Zentralitäten produzierten Verbindungen. Die Frage nach der stadt-räumlichen Konfiguration bezieht sich also auf die Überlegung, dass sich die wahrnehmbaren, materiellen Strukturen von Städten unterschiedlicher Größe entlang der sie konstituierenden Trennungen und Verbindungen unterscheiden. Die Soziologie untersucht räumliche Trennungen bzw. Aufteilungen vorrangig im Rahmen von Segregationsanalysen. Dabei geht es nicht um das statistische Ausmaß von Segregation (etwa im Sinne von Segregationsindices), sondern um die identifizierbaren Muster. Die Bindungsaspekte räumlicher Strukturen lassen sich aus soziologischer Sicht in besonderer Weise über Zentren und Zentralitäten festmachen.7 Die stadt-räumliche Konfiguration 5

Der Begriff der Konfiguration wird hier gewählt, um der prinzipiell offenen Dynamik

6

Es ist freilich begrifflich nicht ganz präzise, hier von ‚stadt-räumlicher Konfiguration‘

Rechnung zu tragen, welche die Herstellungsebenen des städtischen Raumes prägt. zu sprechen, wenn ganz allgemein Städte als Räume untersucht werden und die ‚stadträumliche Konfiguration‘ nur ein Aspekt unter anderen ist. Es handelt sich aber um zwei unterschiedliche Ebenen, was auch durch die Verwendung des Konfigurationsbegriffs angezeigt wird. Auch entspricht die ‚stadt-räumliche Konfiguration‘ nicht der Materialität des Raumes – ausgehend von Lefebvre wird ‚Raum‘ als gesellschaftliche Totalität verstanden. Die Materialität des Raumes kann dann als partielle Totalität (vgl. Lefebvre 1987) verstanden werden. Wenn nun die ‚stadt-räumliche Konfiguration‘ einer Stadt untersucht wird, so handelt es sich dabei um eine Perspektive auf die wahrnehmbaren Strukturen, wie sie sowohl als gebaute Formen als auch als sozialräumliche Strukturen hergestellt und diskursiv vermittelt werden (insbesondere in der Forschung zu Segregation). 7

Die Überlegung lässt sich zum Beispiel mit Simmel herleiten, für den die räumliche Fixierung, als einer der „Grundqualitäten der Raumform“, mit der Herausbildung ei-

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bezieht sich zwar schwerpunktmäßig auf die materiellen Strukturen von Städten, ist aber nicht ohne deren diskursive Vermittlung (insbesondere in der Stadtforschung) und deren Bedeutung im Kontext sozial-räumlicher Strukturen zu verstehen. Rückt der Blick schwerpunktmäßig auf Städte als diskursiv konzipierte Räume, so können mediale Diskurse durchaus als hochgradig relevante Vermittlungsinstanz von ideologischen Raumvorstellungen betrachtet werden. Dennoch hat Lefebvre in Bezug auf den konzipierten Raum insbesondere die „ideologisch-institutionell[en]“ (Kipfer, Saberi & Wieditz 2012) Raumkonzipierungen im Blick: Es handele sich dabei um den „Raum der Wissenschaftler, der Raumplaner, der Urbanisten, der Technokraten, die ihn ‚zerschneiden‘ und wieder ‚zusammensetzen‘“ (Lefebvre 2006:336). Dieser Fokus wird im hier durchgeführten Vergleich als politisch-planerische Konzipierung der Städte aufgegriffen (B.3.2). Die politisch-planerischen Konzipierungen lassen sich als zentrale Bestandteile der Repräsentationen des Städtischen begreifen, auch wenn sie nicht damit gleichzusetzen sind. In Bezug auf die Fragestellung wird dabei empirisch untersucht, welche Bedeutung der Stadtgröße von Seiten politisch-planerischer Akteure beigemessen wird und wie im Rahmen von Planung und lokaler Politik die Plan- und Regierbarkeit von Städten unterschiedlicher Größe hergestellt wird. Dabei geht es darum, zu klären, ob und inwiefern die Stadtgröße zum Bezugspunkt unterschiedlicher Ansätze der Herstellung eines planerischen und politischen Gesamtzusammenhangs der untersuchten Städte gemacht wird. Die alltagspraktische Herstellung schließlich greift schwerpunktmäßig die in den Alltagspraktiken zum Ausdruck kommenden Nutzungen und Bedeutungszuordnungen auf (B.3.3). Dabei soll untersucht werden, inwiefern in den alltäglichen Attribuierungen und Mustern der Raumnutzung und -wahrnehmung Verbindungen und Trennungen des städtischen Raumes zum Ausdruck kommen, die sich zwischen verschieden großen Städten unterscheiden. Alltägliche Attribuierungen im Sinne von Imaginationen/Vorstellungen über und Bedeutungszuordnungen der Bewohner_innen zu der von ihnen im Alltag genutzten Stadt bzw. Teilen der Stadt stehen also im Zusammenhang mit den theoretisch unterschiedenen Repräsentationen des Städtischen. Andererseits werden über die Muster der Raumnutzung und -wahrnehmung konkrete Ortsbezüge in städtischen Alltagspraktiken untersucht. In gewisser Weise steht damit die vorgestellte und nes „Drehpunktes“ einhergeht, „der ein System von Elementen in einer bestimmten Distanz, Wechselwirkung, gegenseitigen Abhängigkeit festhält“ (Simmel 1992:708). Unter anderem benennt Simmel hierfür das „Bewußtsein der Dazugehörigkeit“ als zentrale Wirkung. Auch den Verkehr benennt er hier als organisiert um einen Drehpunkt (die Stadt).

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gelebte Erfahrung der Städte im Vordergrund. Untersucht wird dabei, wie Städte unterschiedlicher Größe erfahren werden – und zwar vor dem Hintergrund sehr unterschiedlicher sozialräumlicher Realitäten und politisch-institutioneller Kontexte, aus denen heraus die Bewohner_innen der Städte über ihre Städte sprechen.8 Die in der Stadtforschung verbreitete These der empirischen Fragmentierung impliziert die Annahme, dass ‚Megastädte‘ nicht mehr als ‚Gesamtstädte‘ von ihren Bewohner_innen erfahren werden und sich darüber auch eine eigenständige alltägliche Aufgliederung des städtischen Raumes ergibt. Differenzieren sich also stattdessen lokale Lebenskontexte aus, die in einer sozialen Segmentierung der Stadt resultieren, und zwar sowohl im Hinblick auf konkrete Nutzungsweisen und Ortsbezüge als auch auf symbolische Bedeutungszuweisungen durch die Bewohner_innen? Teil C bildet den empirischen Vergleich der Untersuchung ab. Ein kurzer Überblick über die ausgewählte Untersuchungsregion Brasilien, die vier ausgewählten Städte (São Paulo, Rio de Janeiro, Porto Alegre und Recife) sowie das methodische Vorgehen macht den konkreten Forschungszugriff deutlich (C.1). Brasilien verfügt über ein differenziertes Städtenetzwerk mit einer Vielzahl an großen Städten, und das bei einer hohen Verstädterungsquote von über 80%, was den Einfluss einer anhaltend hohen Verstädterungsdynamik minimiert. Der Vergleich greift die beiden größten Städte (São Paulo mit knapp 12 Millionen Menschen in der Stadt selbst und knapp 20 Millionen in der sog. Metropolregion; Rio de Janeiro mit über sechs Millionen Menschen in der Stadt und über elf in der sog. Metropolregion) sowie zwei Großstädte aus unterschiedlichen Teilregionen Brasiliens auf (Recife und Porto Alegre mit je ca. 1,5 Millionen Menschen im Stadtgebiet und knapp vier Millionen in der jeweiligen Metropolregion). In der Auswahl dieser vier Städte äußert sich die Verbindung aus Konkordanz- und Differenzmethode insofern als allgemeine Ähnlichkeiten aktueller Stadtentwicklung auf den gemeinsamen (u.a.) nationalen Stadtentwicklungskontext zurückgeführt werden können. Übereinstimmungen zwischen São Paulo und Rio de Janeiro, die sich von Übereinstimmungen zwischen Porto Alegre und Recife unterscheiden, können dadurch mit den Größenverhältnissen in Verbindung gebracht werden, wenn auch nur in Form von Thesen. Ergänzend zu diesen prinzipiellen Gemeinsamkeiten wurden je eine ‚Megastadt‘ und eine ‚Großstadt‘ ausgewählt, die historisch und regional ähnliche Entwicklungsgeschichten auf8

Hier ist anzumerken, dass für ein umfassendes Verständnis dessen, wie alltägliche Attribuierungen mit der diskursiven Vermittlung ideologischer Repräsentationen des Städtischen vermittelt sind, eine Untersuchung der medialen Diskurse notwendig wäre. Die vorliegende Arbeit leistet dies nicht, wodurch eine Lücke entsteht, die aber aus forschungspragmatischen Gründen nicht zu überbrücken war.

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weisen (São Paulo und Porto Alegre, Rio de Janeiro und Recife). Dadurch wird es möglich, Differenzen zwischen diesen als zumindest größenrelevant zu erachten. Und schließlich stellen die beiden ‚Großstädte‘ innerhalb des brasilianischen Städtenetzwerks ‚most different cases‘ dar, was es möglich macht, Ähnlichkeiten mit den demographisch-strukturellen Gemeinsamkeiten in Verbindung zu bringen. Zwischen den Jahren 2009 und 2011 wurden Expert_inneninterviews mit politisch-planerischen Akteur_innen aus den Stadtverwaltungen geführt, sowie eine teilstandardisierte Befragung in den vier ausgewählten brasilianischen Städten vorgenommen. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung basieren sowohl auf den qualitativen Interviews als auch auf Dokumentenanalysen9; ergänzt werden sie um die Auseinandersetzung mit der reichhaltigen brasilianischen Stadtforschungsliteratur. Dabei werden die stadt-räumliche Konfiguration, die politisch-planerische Konzipierung und die alltagspraktische Herstellung von São Paulo, Rio de Janeiro, Porto Alegre und Recife daraufhin untersucht, welche größenrelevanten Differenzen sich von einzelnen Stadtspezifika und generellen Konkordanzen der unterschiedlich großen Städte abgrenzen lassen. In Bezug auf die stadt-räumliche Konfiguration fußt der Vergleich der vier brasilianischen Städte vorrangig auf der umfassenden brasilianischen Forschungsliteratur zum Thema (C.2). Die Aspekte der politisch-planerischen Konzipierung werden untersucht anhand des jeweiligen Selbstverständnisses der Stadtplanung und der tatsächlichen Planung der Städte als ‚Ganze‘ sowie anhand der Verständnisse und Umsetzung lokalpolitischer Dezentralisierung. Auf der Grundlage von Leitfadeninterviews mit verschiedenen Expert_innen aus Lokalpolitik und Verwaltung der untersuchten Städte wird die Perzeption von Größe durch die politischplanerischen Akteure analysiert (C.3.1). In einem zweiten Schritt (Kapitel C.3.2) erfolgt eine Untersuchung der Gestaltungsansätze der Städte. Auch hierin äußert sich der Blick auf die Herstellung von Verbindungen und Trennungen insofern, als Masterpläne als Versuche, einen gesamtstädtischen Zusammenhang herzustellen, und dezentrale Verwaltungsmodelle (hier: partizipative Bürgerhaushalte) als Versuche, (notwendige) Aufteilungen herzustellen, aufgegriffen werden. Für die Untersuchung der alltagspraktischen Herstellung (C.4) schließlich wurden in den vier Städten insgesamt 210 teilstandardisierte, offene Interviews mit Bewohner_innen durchgeführt. Diese wurden an bestimmten, zuvor als zentral identifizierten Orten auf ihre Alltagsdeutungen und Nutzungsgewohnheiten hin befragt. Der letzte Abschnitt (D) bindet die empirischen Ergebnisse der Untersuchung brasilianischer Groß- und ‚Megastädte‘zurück an die theoretischen Aus9

Vor allem Masterpläne und Dokumente zu partizipativen Bürgerhaushalten.

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gangsüberlegungen. Ausgehend von einer Zusammenfassung der Ergebnisse können diese zunächst daraufhin analysiert werden, ob sie es zulassen, von einer qualitativen Spezifik der Fragmentierungsdynamiken in brasilianischen ‚Megastädten‘ zu sprechen (D.1). Mit diesen Ergebnissen können die Bestimmungen der bisherigen Megastadtforschung erneut kritisch gegengelesen und korrigiert werden (D.2.1). Dadurch können Thesen über einen möglichen Stadttypus formuliert werden, die gleichzeitig einen Ausblick für die weitere Erforschung von ‚Megastädten‘ ermöglichen. Wenn schließlich die Ergebnisse im Rückbezug auf die soziologische Auseinandersetzung mit Stadtgröße diskutiert werden, so ermöglicht das zum einen, den allgemeinen (stadt-)soziologischen Gewinn der Untersuchung zu bestimmen. Zum anderen lässt sich damit eine Revision der theoretischen Auseinandersetzungen mit der Relevanz von Stadtgröße vornehmen (D.2.2). Die zwischen den verschieden großen Städten herausgearbeiteten Unterscheidungen können weder kausal noch statistisch mit der Stadtgröße in Zusammenhang gebracht werden. Nicht der Effekt von Größe ist Gegenstand der Untersuchung, sondern die Differenzen in den stadt-räumlichen Konfigurationen, politisch-planerischen Konzipierungen und alltagspraktischen Herstellungsweisen unterschiedlich großer Städte. Das Ergebnis ist eine vorläufige Bestimmung, die angelehnt ist an die Erfahrungen sozialer Wirklichkeit, wie sie von den befragten Bewohner_innen und Akteur_innen in Politik und Planung zum Ausdruck gebracht werden und mit den konkret materiellen Strukturen der Städte in Zusammenhang stehen. Zuvorderst geht es dabei um eine soziologische Begründung der Auseinandersetzung mit ‚Megastädten‘ als einem der zentralen Phänomene weltweiter Stadtentwicklungen. Damit wird an klassische soziologische Analysen genauso wie an aktuelle Debatten angeknüpft. Die vergleichende Untersuchung von Städten mit dem Ziel der Identifizierung qualitativer Merkmale eines möglichen soziologischen Stadttypus ist dabei ein sehr voraussetzungsvolles, raumtheoretisch konzipiertes Unterfangen. Dabei wird empirisch umgesetzt, was als raumtheoretische Konzeptionierung von Städten gelten kann. Als heuristisches, erkenntnisleitendes Konzept wird der Begriff der Fragmentierung nicht als empirisches Phänomen, sondern als grundlegende, räumlich artikulierte Dynamik verstanden. Dadurch wird es möglich, die Reduzierung auf Verdichtung oder Heterogenisierung zu überwinden. Mit diesem Begriff schließt die hier vorgenommeine Stadtanalyse damit an ein gesellschaftstheoretisches Grundverständnis von widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnissen an. Die Arbeit verfolgt auch das Ziel, städtische Wirklichkeiten und daran gebundene Forschungsperspektiven aus Brasilien aufzugreifen und über deren

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Rezeption und Verstehen dazu beizutragen, den klassischen euro-amerikanischen Rahmen wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion gleichermaßen zu verlassen und zu erweitern. Dennoch bringen die Ergebnisse lediglich eine spezifische Relation zwischen ‚Groß‘- und ‚Megastädten‘ zum Ausdruck, d.h. die Reichweite der Ergebnisse ist beschränkt. Gleichzeitig ist in der Vergleichslogik der Arbeit bereits angelegt, diese Relation wiederum in Relation zu setzen mit größenrelevanten Unterscheidungen außerhalb Brasiliens und damit, Schritt für Schritt, zu klären, ob und wenn ja was allgemein als größenrelevant megastadtspezifisch erklärt werden kann. Ein erster Schritt dahingehend ist der Rückbezug der empirischen Ergebnisse an die theoretischen Grundüberlegungen und bestehenden Ansätze der Stadtforschung. Der nächste Schritt eines erweiterten empirischen Rahmens weist über die vorliegende Arbeit hinaus. Für den vorgelegten Ansatz ist schließlich der Versuch von elementarer Bedeutung, Strukturen und Praktiken in der Stadtanalyse miteinander zu verknüpfen. Dadurch soll auch eine Trennung überwunden werden, welche die Stadtforschung prägt: Zwischen der Untersuchung von Strukturen und Zusammenhängen entlang von Politik, Ökonomie und Geschichte von Städten und der Untersuchung des örtlich gebundenen, praktischen ‚Lebens‘, den Sichtweisen und kulturellen Praktiken derer, die in Städten wohnen, wird nur selten vermittelt. Die vorliegende Arbeit erhebt keineswegs den Anspruch, das Vermittlungsproblem, das zwischen den beiden Ebenen besteht, zu klären. Stattdessen versteht sich die Untersuchung als ein Beitrag zu einer Suchbewegung, die zwar nicht für abschließbar, aber doch für notwendig befunden wird. Trotz und gerade wegen der besonderen Größe von ‚Megastädten‘ halte ich es für essentiell, einen differenzierenden Blick auf alltägliche Lebensrealitäten zu werfen. Kritische Stadtforschung darf sich nicht vor dem Alltag der Bewohner_innen verschließen. Ein solcher Blick schließt die mit ein, die nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stehen, weil sie weder zu den machtvollen noch zu den öffentlich wirksamen, gegenhegemonialen Akteuren zu zählen sind, sondern ‚schlicht‘ mit ihren körperlichen und symbolischen Praktiken die Städte im Alltag herstellen.

A Groß, größer, ‚mega‘? „The person at the Calcutta Metropolitan Development Authority [...] asked me: What is the academic definition of a megacity? [After visiting a conference on the topic] I phoned him from Hong Kong and said the jury was still out.“ (SPIVAK 2000:22)

1. A UF D EFINITIONSSUCHE : D IE ‚M EGASTADT ‘ ALS T YPUS Wer zum ersten Mal eine sogenannte Megastadt bereist, erlebt dies sicher als mindestens ambivalent. Der Blick über die enorme Stadtlandschaft und das Eintauchen in den städtischen Alltag vieler Millionen Menschen mag Staunen, Faszination und Beklemmung, Ab- und Erschrecken, Gefallen und Missfallen gleichermaßen hervorrufen, vielleicht auch Bedrücken und Bewunderung. Unser Alltagsverständnis scheint uns zu sagen, dass wir Zeugen eines neuartigen Phänomens sind. Doch wie und als was lassen sich die enormen Stadtlandschaften wissenschaftlich erfassen und verstehen? Sind sie Ausdruck neuer gesellschaftlicher Verhältnisse, bilden sich in ihnen neue Formen des sozialen und politischen Miteinanders heraus und weisen sie eigenständige stadt-räumliche Strukturen auf? Und sprechen wir überhaupt von einem einheitlichen Phänomen, oder müssen wir nicht vielmehr Differenzierungen angesichts gänzlich unterschiedlicher städtischer Entwicklungen vornehmen? In Städten wie London, New York oder Tokyo ist die extreme Dimension der Städte und Agglomerationsräume das Ergebnis eines seit langem beobachteten und erforschten Entwicklungsprozesses. Das demographische Wachstum an diesen Orten stagniert seit geraumer Zeit, anders als in den sogenannten „Metropolen des Südens“. Dort ist das rapide Bevölkerungswachstum jüngeren Datums und enorme Verstädterungsraten ha-

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ben dazu geführt, dass sich mittlerweile die Mehrzahl der weltweit größten Städte in gesellschaftlichen Kontexten befindet, die historisch vom Kolonialismus und ökonomisch von extremer Ungleichheit und Armut geprägt sind. Ein Blick in die wissenschaftliche Literatur zeigt die Faszination der Forscher_innen angesichts der Größendimensionen von sogenannten Megastädten. Viele Beiträge beginnen mit einer quantitativen Aufzählung der beeindruckenden Verstädterungsprozesse, die darin kulminiert, dass der überwiegende Teil der Weltbevölkerung heute in Städten lebt. Versucht man aber, die quantitative Beschreibung durch eine qualitative Bestimmung zu ergänzen, so erweisen sich die Zugänge zu dem als ‚Megastadt‘ bezeichneten Phänomen als sehr unterschiedlich – eine analytische Gegenstandsbestimmung steht noch aus. Dennoch bieten sich in den diversen Arbeiten zu den sogenannten Megastädten Ansätze der Definition und inhaltlichen Bestimmung, die hier entlang ihrer allgemeinformalen Kriterien sowie konkret-inhaltlichen Aspekte systematisiert werden sollen. Eine solche Systematik fehlt bislang.1 Deshalb geht es hier darum, aus der Vielfalt an Zugängen zusammenzutragen, was wir bis heute über die als ‚Megastädte‘ benannten Städte wissen können und welche Aspekte sich in der Zusammenschau als typisch oder. speziell ausweisen lassen. Dies lässt, wie schon erwähnt, keine ontologische Bestimmung von ‚Megastädten‘ zu. Aber es ist ein Baustein des in diesem Buch aufzuzeigenden Spannungsfeldes zwischen der begrifflichen Bestimmung und dem, was als ‚Megastadt‘ im Alltag erfahren und hergestellt wird. 1.1 Allgemeine Kriterien der Erforschung von ‚Megastädten‘ Auf einer der inhaltlichen Bestimmung von ‚Megastädten‘ übergeordneten Ebene lassen sich eine Reihe allgemeiner Kriterien identifizieren, die für die Auseinandersetzung mit dem suggerierten Stadttypus eine Rolle spielen: Erstens ist relevant, welche bzw. wie absolute und relative Größen- und Vergleichsmaßstäbe herangezogen werden; zweitens stellt sich bei der Veranschlagung eines ‚globalen‘ Typus die Frage nach der prinzipiellen Vergleichbarkeit, die in der Literatur sehr unterschiedlich adressiert wird; drittens ist der quantitativen Dimension der (demographischen, ökonomischen etc.) Größe eine weniger klare Bedeutung zugeordnet als der Dynamik des Wachstums; viertens verweist die relationale Bestimmung von ‚Größe‘ auf ein Verhältnis zwischen einer Stadt und einem Städtenetzwerk im Hinblick auf funktionale Konzentration; und schließ-

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Ein 2012 veröffentlichter Handbuchartikel gibt die hier entwickelte Systematik teilweise wieder (Hoerning 2012).

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lich, fünftens, stellt sich in der Forschung zu den weltweit größten Städten die zentrale Frage nach den funktional-räumlichen Strukturen (Zentralitäten, monooder polyurbane Räume u.a.), welche diese Stadtgebilde auszeichnen. a) Absolute und relative Größen- und Vergleichsmaßstäbe In den Auseinandersetzungen mit sogenannten Megastädten spielen sowohl relative als auch absolute Größen- und Vergleichsmaßstäbe eine Rolle. Wenn wir von Klein-, Mittel-, Groß- und Megastädten (oder gar Metastädten) sprechen, so verweist diese Bezeichnung erstens darauf, dass es eine dimensionale Kategorisierung gibt, der alle Städte ihrer Größe nach absolut zugeordnet werden können. Dabei erfordert diese Kategorisierung Grenzziehungen, die alles andere als gleichmäßig sind. In der Forschung koexistieren unterschiedliche Größendefinitionen – von historischen Ansätzen, die bereits ab vier Millionen Einwohnern eine Stadt als „Mega-Stadt“ führen (Barker & Sutcliffe 1993), über meist geographische Ansätze, die eine Grenze bei fünf Millionen Einwohnern setzen (Bronger 1997; 2004), bis hin zu den Definitionen der Vereinten Nationen, die bis in die 1990er Jahre mit acht Millionen (UNU/UNDIESA 1991: 6, so zit. in Gilbert 1996), später mit zehn Millionen Einwohnern als Untergrenze für den „Stadttypus Megacity“ arbeiten (United Nations 2004:5). Auch die administrativen Abgrenzungen unterscheiden sich zwischen Ländern und Regionen ob verschiedener Größenrelationen und Verstädterungsgrade sowie durch den unterschiedlichen Sprachgebrauch.2 Hieran ist unschwer zu erkennen, dass schon die Größenbestimmung eine recht kontingente Angelegenheit zu sein scheint – auch ohne konkrete Messprobleme bei der Einwohnerstatistik zu berücksichtigen. Zweitens geht es um die Frage nach einer mehr oder weniger adäquaten Relation zwischen der physischen Größe einer Stadt (v. a. Einwohnerzahl und Flächenausdehnung) und ihrer ökonomischen, politischen und kulturellen Bedeutung – spätestens hier kommen also Bewertungsmaßstäbe ins Spiel. Damit ist nicht nur eine Verhältnismäßigkeit von Größe und Bedeutung innerhalb eines Städtenetzwerks benannt. Auch die stadtinternen Relationen zwischen Bevölkerungsgröße, Flächenausdehnung und lokalen Funktionen spielen hierfür eine Rolle. Diese Relation zwischen Größe und Bedeutung wird allerdings sehr unterschiedlich eingeschätzt: Auf nationaler und regionaler Ebene zeichnen sich die meisten heutigen ‚Megastädte‘ nicht nur durch eine hohe Bevölkerungskonzentration, sondern auch durch eine hohe Konzentration von Funktionen und Bedeutungen aus (also durch hohe primacy-Werte). Auf globaler Maßstabsebene wird 2

So entsprechen sich etwa die mit ‚town‘/ ‚city‘ und ‚Kleinstadt‘/ ‚Großstadt‘ benannten und auch administrativ unterschiedenen Stadtformen nicht.

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den meisten heutigen ‚Megastädten‘ dagegen eine überproportionale Bevölkerungskonzentration im Verhältnis zur geringen weltwirtschaftlichen Bedeutung attestiert. Es sind die ‚Megastädte‘ des „globalen Südens“, die deshalb häufig als überdimensioniert gelten. Es handele sich dabei um Prozesse der „Überverstädterung“ (overurbanization, vgl. Davis & Golden 1954), die von einem Missverhältnis zwischen ökonomischer und demographischer Entwicklung, von Industrialisierung und Bevölkerungszunahme geprägt sei. Von „Überverstädterung“ zu sprechen impliziert nicht zuletzt, dass dem Blick auf Stadtentwicklung ein lineares Entwicklungsmodell zugrunde liegt. Es beruht auf der Vorstellung eines optimalen (euro-amerikanischen) Modernisierungspfades kapitalistischer Ökonomien. Damit werden sämtliche historische und regionale Spezifika von Städten und Stadtentwicklungsprozessen ignoriert, allen voran die Bedeutung, die koloniale Ausbeutungsstrukturen für Stadtentwicklung in ehemaligen Kolonien hatten und haben. Es zeigt sich also, dass die Auseinandersetzung mit Verhältnismäßigkeit allzu leicht in die Setzung normativer Standards mündet. b) Vergleichbarkeit Bisherige Forschungen zu ‚Megastädten‘ beruhen größtenteils auf Einzelstudien und/oder Vergleichen von Städten, die als solche gelten. Dabei ist die Vergleichbarkeit von Städten wie Tokio, São Paulo, New York, Mumbai, Moskau, Kairo, Lagos und Shanghai keineswegs unumstritten. Doch selbst wenn regionale oder andere Subkategorien3 die Probleme bei der Vergleichbarkeit eingrenzen mögen, so bleibt der gemeinsame Nenner dessen, was die Denomination als ‚Megastädte‘ eigentlich ausmacht, unklar. Für moderne, unter kapitalistischen Verhältnissen stattfindende Verstädterungsprozesse im Zusammenhang mit Industrialisierung gilt gemeinhin die westeuropäische, aber auch die nordamerikanische Entwicklung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts als Referenz. Retrospektiv beanspruchen manche Autoren für diese, dass es sich hierbei um einen graduellen und in letzter Instanz ausgeglichenen demographischen und ökonomischen Wachstumsprozess gehandelt habe (so etwa Bourdeau-Lepage/Huriot 2006). Dagegen gelten die Stadtentwicklungsprozesse in den Städten des sog. globalen Südens als unkontrollierbar(er) (Devas & Rakodi 1993a; Fuchs u.a. 1994; Bronger 2004 u. v. m.).4 Der 3

So etwa die Subkategorien „Megastädte in Entwicklungsländern“ (vgl. Bugliarello 1999, Bronger 2004), oder „Asian Megacities“ (s. Brennan & Richardson 1989) bzw. „The mega-city in Latin America“ (Gilbert 1996c).

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Gleichzeitig stellen die neueren Ansätze klar, dass Größe kein hinreichendes Kriterium für Städte ist, sondern lediglich im Zusammenwirken mit anderen Faktoren bedeutsam ist. Zum Teil bestätigt sich darin Max Webers Formulierung, dass die Größe

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euro-amerikanische Pfad des 20. Jahrhunderts mit seiner breiten Schaffung von Wohlstand durch ausgeprägtes ökonomisches und moderates demographisches Wachstum muss allerdings eher als Sonderfall denn als allgemeingültige Referenz gelten (Kasarda & Crenshaw 1991). Zudem herrschten in den Städten Westeuropas und Nordamerikas mindestens in der frühkapitalistischen Phase mitnichten ausgeglichene Verhältnisse zwischen Bevölkerungszahlen, Arbeitsplätzen und Wohlstandsgenerierung mit der Folge hoher Lebensqualität, ganz im Gegenteil. Hierin also ein allgemeines Referenzmodell von Stadtentwicklung zu sehen stellt mindestens eine Verzerrung dar und wird der Komplexität von Stadtentwicklungsprozessen keinesfalls gerecht. Die gänzlich verschiedenen historischen, kulturellen und politischen Kontexte von Städten wie Tokio, Mexiko City, São Paulo, New York, Mumbai, Seoul, Moskau, Delhi, Dhaka, Lagos, Shanghai und Los Angeles lassen dementsprechend auch manche Forscher_innen in Frage stellen, ob diese Städte überhaupt miteinander vergleichbar sind. Zwar besteht ein Großteil der Studien zu ‚Megastädten‘ aus internationalen Vergleichen ebensolcher Städte. Dabei wird teilweise auch behauptet, dass die größten Städte dieser Welt mehr miteinander gemein hätten als mit anderen Städten in ihren jeweiligen Ländern (Schwentker 2006:7 unter Verweis auf Eugene Grigsby). Andere Autor_innen äußern sich zu dieser Frage aber skeptisch. Vergleichende Fallstudien zeigen, dass eine große Bandbreite an unterschiedlichen Ausprägungen der gemeinhin als charakteristisch deklarierten Probleme in Megastädten besteht (Hamer 1994, kritisch zur Vergleichbarkeit auch Bronger 1997; Bronger 2004). Die größten Städte unterschieden sich in vielen Aspekten ihrer Entwicklungsdynamiken grundlegend, so der Ökonom Andrew M. Hamer.5 Er schließt daraus, dass es vielmehr nötig sei, einer „Ortschaft“ zwar an sich kein „unpräzises“ Merkmal sei und mit der Größe der Siedlungsform auch Veränderungen der sozialen Beziehungen (im Gegensatz zum „Nachbarverband“) einhergingen, dass aber die „allgemeinen Kulturbedingungen“ über den Zusammenhang von Größe und (soziologisch relevanten) Veränderungen der sozialen Beziehungen bestimmen würden (Weber 2000 [1921]: 1). 5

Sie wiesen beispielsweise sehr unterschiedliche Charakteristika im Hinblick auf die Entwicklung der Pro-Kopf-Einkommen auf: Diese würden in vielen südost- und ostasiatischen Megastädten stark steigen, während sie andernorts, beispielsweise in Kolkata, stagnierten. Außerdem seien viele ‚Megastädte‘durch einen hohen Anteil informeller Siedlungen geprägt, wohingegen die ‚Megastädte‘ Chinas keine maßgeblichen Slumvorkommen aufwiesen. Auch die Immobilienmärkte würden sich stark unterscheiden angesichts der Preis-Einkommens-Verhältnissen und Wohnbedingungen. Und nicht zuletzt divergiere das Armutsniveau zwischen den ‚Megastädten‘ weltweit stark, wenngleich im nationalen Maßstab generell eine höhere Konzentration von

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regionale bzw. nationale Vergleichsstudien durchzuführen, um zu Erkenntnissen über sogenannte Megastädte zu gelangen, anstatt auf globaler Vergleichsebene zu arbeiten (Hamer 1994). In der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung entspricht diese Forderung der Position Janet Abu-Lughods, die verschiedentlich darauf hingewiesen hat, dass Vergleiche von Städten sich zunächst auf die regionale bzw. nationale Ebene (unter Konstanthalten gewisser historisch-kultureller Parameter wie z.B. des Rechtssystems, innerhalb dessen sich die Städte entwickeln) beschränken sollten. Erst in einem zweiten Schritt könnte die darüber identifizierte Spezifik (oder Typik) mit der anderer Regionen verglichen werden (vgl. Abu-Lughod 1975; Abu-Lughod 1999). In der Forschung zu ‚Megastädten‘ werden solche Forderungen bisher eher vernachlässigt. Der Großteil der Literatur besteht ohnehin aus Sammelbänden und Zeitschriftenaufsätzen, die häufig nur rudimentär oder gar nicht vergleichsmethodologisch fundiert oder ausgerichtet sind und eher als Sammlung von Einzelfallstudien gesehen werden können. Dabei werden einzelne Themen6 und einzelne Städte7 durchaus sehr erkenntnisreich bearbeitet – Antworten aber auf die Frage, was nun den suggerierten Typus ‚Megastadt‘ kennzeichnet, bleiben leider oberflächlich, zumal übergeordnete Aussagen aufgrund der Vergleichsdesigns nur schwerlich möglich sind. Hier setzt die vorliegende Untersuchung an. In Bezug auf die Vergleichsmethodologie folgt sie der Position Janet Abu-Lughods, die für Stadtvergleiche plädiert, bei denen gewisse historisch-kulturelle Parameter konstant gehalten Wohlstand gegeben sei. Gleiches gelte für öffentliche Versorgungsleistungen, die teilweise nur sehr spärlich zur Verfügung stünden, während in anderen Städten mehr oder weniger Vollversorgung gegeben sei Hamer 1994. 6

Es gibt eine Reihe hochinteressanter Sammelbände, die unterschiedliche ökonomische, historische, politische, planerische, ökologische und soziale Themengebiete abdecken (etwa Dogan & Kasarda 1989a, Fuchs u.a. 1994, Gilbert 1996c, Feldbauer, Husa & Pilz 1993, die von 1997 bis 2006 abgehaltenen Megacities Lectures von Beitragenden wie Peter Hall, David Harvey, Saskia Sassen, Richard Sennett, Deyan Sudjic u.a., Sorensen 2011a, Kraas 2014) oder die ansatzweise vergleichend arbeitende Studie zu Globalisierung und Migration von Parnreiter et al. (Parnreiter & Wohlschlägel 1999).

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In vielen der in der vorherigen Fußnote benannten, thematisch geordneten Sammelbände beruhen die jeweiligen Beiträge auf Fallstudien zu einzelnen Städten. Das gilt auch für den Großteil der Aufsatzliteratur zu ‚Megastädten‘, die einen breiten thematischen Rahmen aufspannt (s. hierzu Kapitel A.I.2). Eine weitere Reihe von Bänden sammelt Beiträge zu einzelnen Städten, die als ‚Megastädte‘ gelten (so etwa Dogan & Kasarda 1989b, Gormsen & Thimm 1994, Feldbauer u.a. 1997, Schwentker 2006).

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werden. So vergleicht Abu-Lughod einmal „islamische Städte“, die sich innerhalb eines ähnlichen kulturell-rechtlichen Systems, aber auch unter ähnlichen klimatischen Bedingungen und mit ähnlichen politischen Rollen entwickelten (Abu-Lughod 1975); in einer späteren Studie vergleicht sie nordamerikanische „Global Cities“ miteinander, um einen historisch fundierten Beitrag zur Global City-Forschung zu leisten, abseits der sehr allgemein gehaltenen und häufig auf statistisch-quantitativen Daten basierenden gesellschafts- und kulturübergreifenden Vergleiche (Abu-Lughod 1999). Beide Male formuliert sie ihre Kritik an typologischer Stadtforschung, die auf willkürlichen Vergleichen basiert und plädiert stattdessen für etwas, das man mit der vergleichsmethodologischen Literatur als Vergleich im Sinne einer „Relationierung von Relationen oder ganzen Relationssystemen“ (Schriewer 2003:24) nennen kann: Kulturübergreifend verglichen werden können dann die spezifischen Differenzen und Gemeinsamkeiten der „semi-kontrollierten“ (Abu-Lughod 1975:17f.) Stadtvergleiche. Auf die vergleichsmethodologischen Grundlagen der Untersuchung wird im theoretisch-konzeptionellen Teil (B) noch vertiefend eingegangen. Für die ‚Megastadt‘-Forschung lässt sich an dieser Stelle einfordern, dass methodologisch fundierte Vergleiche schrittweise von regionalen Analysen der spezifischen Differenzen und Gemeinsamkeiten besonders großer Städte hin zu Vergleichen der Differenzen und Gemeinsamkeiten über die regionalen (gesellschaftlichen) Kontexte hinweg führen sollten. Dem ersten Schritt widmet sich dieses Buch. c) Wachstumsdynamiken Vordergründig verweist der Typus der ‚Megastadt‘ darauf, dass wir es hierbei mit besonders großen Städten zu tun haben. Aber was diese besondere quantitative Dimension bedeutet, darauf lässt die bisherige Forschung wenig schließen. Einigermaßen Klarheit besteht lediglich darüber, dass die Dynamik des Wachstums eine zentrale Rolle spielt und auch Differenzierungen abseits absoluter Größendimensionen zulässt. Ganz allgemein ist es weniger die Größe selbst, sondern es sind häufig die Wachstumsdynamiken, die als zentrales Kriterium in der Stadtforschung gelten. Das zeigt sich nicht zuletzt auch an prominenten Stadttypen wie der „schrumpfenden Stadt“, einer Debatte, die sich letztlich mit dem Paradigma der „wachsenden Stadt“ konfrontiert sieht (vgl. hierzu etwa Grossmann 2007; Altrock & Schubert 2004). Auch innerhalb der Forschungsliteratur zu ‚Megastädten‘ selbst spielen Wachstumsdynamiken eine vorrangige Rolle. Wohnraumknappheit, hoher und ineffizienter Landverbrauch durch größere Flächeninanspruchnahme und steigende Bereitstellungskosten, Informalisierung (sowohl in Bezug auf Wohnen als auch auf Arbeiten), sowie die damit einhergehenden ökologischen Probleme werden vielfach mehr in den Kontext hoher demographischer

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Wachstumsraten (bei geringer Produktivität und/oder zu geringem Wirtschaftswachstum) gestellt denn auf die Größe bezogen (s. etwa Sorensen & Okata 2011; Spreitzhofer; El Araby 2002; Richardson 1989). Wenn auch die meisten Auseinandersetzungen mit dem Wachstum von sogenannten Megastädten sich mit den Konsequenzen des Wachstums beschäftigen, so geht es grundsätzlich auch um die Frage, warum Städte wachsen – bzw. in Bezug auf die extrem großen Stadtgebilde der ‚Megastädte‘ nicht aufhören zu wachsen. Prinzipiell wird zwischen demographischem und migratorischem Wachstum unterschieden. Es ist vielfach gezeigt worden, wie insbesondere die großen Städte des sogenannten globalen Südens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch extreme Stadt-Land-Migrationsströme explosionsartig gewachsen sind. Die klassische Migrationsforschung hat dafür „Push“- und „Pullfaktoren“ angeführt wie etwa Produktivitätszunahme in der Landwirtschaft und dadurch gegebene Arbeitsplatzverluste sowie die gleichzeitige Zunahme an Arbeitsplätzen durch die Industrialisierung in den großen Städten. Die Erklärungskraft dieser Aspekte scheint aber immer mehr abzunehmen – wie auch das migratorische Wachstum der Städte – und so stellt sich die Frage, warum die meisten ‚Megastädte‘ dennoch weiter wachsen. Der mexikanische Stadtforscher Jaime Sobrino führt hierfür an, dass ‚Megastädte‘ weiterhin wüchsen, da sie machtvolle Instrumente der ökonomischen und sozialen Entwicklung eines jeweiligen Landes seien, die Möglichkeiten sozialer Mobilität bereitstellten (Sobrino 2013:354). Das heißt, dass mit der Konzentration sowohl eine zu steuernde Opportunität für den Staat verbunden ist, als auch eine (vor allem ökonomisch begründete) Attraktivität für interne und auch internationale Migrant_innen (ebd.: 368), die dazu führen, dass diese Städte weiterhin wachsen. Peter Hall und Ulrich Pfeiffer haben in ihrem Expertenbericht zur Zukunft der Städte drei Stadttypen anhand ihrer unterschiedlichen Wachstumsdynamiken (demographisch-sozioökonomische Entwicklung) benannt: „Die Stadt des informellen Hyperwachstums“, „die dynamisch wachsende Stadt“ sowie „die reife Stadt der Überalterung mit abnehmender Dynamik“ (Hall & Pfeiffer 2000:189ff). Die Wortwahl verweist bereits auf den Impetus der Studie: Die Wachstumsdynamiken werden von den Autoren bewertet, um daraus abzuleiten, welche Interventionen seitens der Politik als notwendig erachtet werden. Die beiden Autoren konzipieren ihre Studie als „Expertenbericht“, der zwar mit Beispielen arbeitet, aber nach wissenschaftlichen Kriterien mehr einer willkürlichen Zusammenstellung einzeln beobachtbarer Phänomene zu Typen gleicht, die regional zugeordnet werden. Dennoch wird daraus eines ersichtlich: Die Wachstumsdynamiken sind deutlich einsehbarer als die Frage danach, welche Besonderheiten mit der Größe einhergehen. Insofern ist es weniger schwierig, politi-

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sche Interventionen im Hinblick auf Wachstumsdynamiken zu entwerfen (demographisches und/oder ökonomisches Wachstum stimulieren und/oder bremsen). Wichtige Hinweise auf die Bedeutung der unterschiedlichen Wachstumsdynamiken lassen sich der Literatur auch im Hinblick auf Unterschiede zwischen sogenannten „developing“ und „developed cities“ entnehmen (Sorensen & Okata 2011:8f.): So sind etwa die Problemstellungen zu unterschiedliche Phasen des Wachstums verschieden (von der Wasser- und Energieversorgung über die Wasser- und Luftverschmutzung bis hin zu „grünen“ Agenden der Nachhaltigkeit). Zudem sind mit den verschiedenen Zeitpunkten der Hauptwachstumsphasen jeweils andere vorherrschende Entwicklungs- und Governance-Ideologien verbunden (ebd.), was die Bedingungen und das „Management“ des Wachstums sehr verschieden macht. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass sich über die so zentrale Frage der Wachstumsdynamiken keine allgemeine Bestimmung von ‚Megastädten‘ formulieren lässt. Vielmehr dürfte es für jede Stadtanalyse von Bedeutung sein, die jeweilige Wachstumsdynamik im Kontext der thematischen Bezüge zu betrachten. Insgesamt wissen wir deutlich mehr über die Begleiterscheinungen negativen oder explosiven Wachstums als über die Frage, welche längerfristigen Folgen die besondere Dynamik hat. In Bezug auf die ‚Megastädte‘ stellt sich dann also die offene Frage nach der Bedeutung der besonderen Größe. Sie ist zwar vielfach das Resultat explosiver Wachstumsphasen, in den meisten Fällen ist aber das Wachstum bis heute zurückgegangen auf zumindest moderate Werte, teilweise sogar stagniert. Ob und wenn ja welche Spezifika städtischen Alltags sich aber aus der besonderen Größe ergeben und wie die Politik darauf einwirken kann ist weitestgehend unbekannt. Ist es lediglich eine Frage der Dimension oder ergibt sich mit der besonderen Größe auch ein qualitativer Unterschied zu kleineren Großstädten? Die Rede von einem Typus der ‚Megastadt‘ scheint letzteres zumindest zu suggerieren. d) Funktionale Konzentration Städtewachstum geht mit demographischer Konzentration (also einer zunehmenden Verstädterung), aber in der Regel auch mit funktionaler Konzentration einher, womit ein weiteres zentrales Thema der Stadtforschung angesprochen ist. Die Frage nach der funktionalen Konzentration lässt sich dabei zweiteilen: Einmal geht es um die Relation zwischen einer Stadt und anderen Städten im Rahmen regionaler, nationaler wie globaler Städtenetzwerke. Das zweite Mal stellt sich die Frage nach der stadtinternen Konzentration und sich daraus ergebenden funktional-räumlichen (Zentren-)Strukturen.

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Dort, wo sich das Thema auf die nationale und regionale Ebene bezieht, ist die (vorrangig geographische) Primacy-Forschung angesprochen. Auf globaler Ebene bezieht es sich auf die Diskussion über Städte als Knotenpunkte einer immer stärker globalisierten Ökonomie und damit auf die Global CityForschung. Hohe Primacy-Werte8 wurden zumeist mit sogenannten Entwicklungsländern in Verbindung gebracht, da man davon ausging, dass die Werte mit ungleicher Entwicklung und „parasitärer Stadtentwicklung“ (Hoselitz [1954] 2002) zusammenhingen. Das lässt sich nicht nur auf den Aufbau und die Funktion kolonialer Städtenetzwerke zurückführen, sondern auch auf die (teilweise durch neokoloniale Verhältnisse induzierten) Strategien der ökonomischen Entwicklung in ehemaligen Kolonialländern.9 Eine stark lokal fokussierte Industrialisierung und die daraus resultierende Konzentration von Beschäftigungsmöglichkeiten sind nicht zuletzt als Hauptmitverursacher der ausgeprägten LandStadt-Migrationsströme zu sehen, die ein teilweise explosionsartiges Städtewachstum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begründeten. Auf der anderen Seite wurde gezeigt, dass hohe Primacy-Werte eben nicht in direktem Zusammenhang mit dem „Entwicklungsstand“10 eines Landes stehen,11 sondern mit zunehmender Angleichung an (gesetzte) „westliche“ Entwicklungsmaßstäbe zunächst zunehmen, um dann wieder abzunehmen (Davezies & Prudʼ Homme 1994:151; Aguilar 2002b; World Bank 2008:61).12 Als weitere, 8

Primacy-Werte beziehen sich sowohl demographisch-quantitativ auf die statistischdemographische Konzentration innerhalb eines nationalen Städtenetzwerks, als auch funktional auf die Konzentration von politischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Funktionen (s. Bronger 2004:15).

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Hier sind etwa importsubstituierende Industrialisierungsstrategien zu nennen, die bis in die 1980er Jahre in vielen Ländern Lateinamerikas und Asiens umgesetzt wurden und dazu führten, dass an bereits bestehender Infrastruktur angesetzt wurde, wodurch die Zentralisierung insbesondere wirtschaftlicher Funktionen vorangetrieben wurde.

10 Entwicklungsstand bzw. Entwicklungsniveau sind höchst relative und auch normative Einordnungen, die sich nur im Rahmen der modernisierungstheoretischen Annahme einer linearen Entwicklungsabfolge Sinn machen. Dieser Annahme soll hier nicht das Wort geredet, sondern lediglich die Argumentation der Primatstadtforschung wiedergegeben werden. 11 Die Behauptung findet sich allerdings weiterhin, so bei Bronger (1997, 2004). 12 Die niedrigsten Primacy-Werte wiesen nach dem World Development Report von 1989 Städte in Ländern mit „niedrigen Entwicklungsniveaus“ auf (so etwa Lagos), die höchsten Werte fanden sich bei Städten in Ländern „mittleren Entwicklungsniveaus“ (insbesondere Kairo und Bangkok), waren für Städte in Ländern mit „mittelhohen Entwicklungsniveaus“ wieder etwas rückläufig (so für São Paulo und Teheran) und

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Primacy fördernde Faktoren werden in der Literatur genannt: die Größe und der Verstädterungsgrad des Landes; das Verkehrs- und Transportnetzwerk; das politische System.13 Es ist also beileibe nicht nur eine Frage des ökonomischen „Entwicklungsniveaus“ im Sinne einer Anpassung an „westliche“ Entwicklungsmaßstäbe, wie sehr es zu funktionaler Konzentration in Städten kommt. In jedem Fall lässt sich aber festhalten, dass ein hoher Primacy-Wert nicht als Spezifikum von ‚Megastädten‘ zu sehen ist, sondern unter bestimmten Umständen zum Mitverursacher eines starken Städtewachstums werden kann. In der Global City- und Weltstadtforschung ist vermehrt darauf hingewiesen worden, dass insbesondere die größten Städte in Schwellenländern seit den 1980er Jahren zu nachrangigen Knotenpunkten der globalen Ökonomie aufgestiegen sind. Unabhängig von der Frage, ob diese Städte nun neue Knotenpunkte, periphere Zentren, oder weiterhin die Peripherie des kapitalistischen Systems darstellen oder nicht, lässt sich dort eine verstärkte Präsenz des internationalisierten Sektors erkennen mit ähnlichen Auswirkungen, wie sie in westlichen sog. Global Cities und anderen Großstädten beobachtbar sind (vgl. hierzu auch Parnreiter 1998). Problematisch an der sich überlappenden Diskussion von ‚Megastädten‘ und Global Cities ist, dass sich die Beiträge durch einen hohen Grad an Begriffsungenauigkeit auszeichnen. Eine klare Unterscheidung zwischen quantitativen Dimensionen und funktionalen Bedeutungen fehlt häufig, sodass die beiden Städtetypen teilweise in eine Gemengelage geraten (u. a. bei Castells 2010; Spreitzhofer, vgl. die Kritik daran bei Hall 1997). Zwar gibt es einen Zusammenhang zwischen demographischer Größe und funktionaler Bedeutung, der besonders bei den „Spitzenreitern“ der globalen Hierarchie – New York und Tokio, aber auch London – zu sehen ist. Der Zusammenhang ist aber keinesfalls kausal, wie sich etwa an der Tatsache zeigt, dass einige europäische Städte wie Zürich und Frankfurt viele weitaus größere Städte in ihrer Bedeutung für die Weltwirtschaft als Kontrollzentren übertreffen:

erreichten in Ländern mit „hohen Entwicklungsniveaus“ wieder etwa die Werte der ersten Ländergruppe (so für London und New York) (Davezies & Prud ʼ Homme 1994:150). 13 Bevölkerungsreiche Länder weisen geringere Primacy-Werte auf (so etwa Indien, Brasilien, USA) als die Länder ihrer Vergleichsgruppe, autoritäre Regime und politische Instabilität befördern städtische Konzentration (Ades & Glaeser 1995) ebenso wie eine zentralisierte Planung (Bourdeau-Lepage & Huriot 2006 unter Verweis auf Duranton 2000) bzw. geschlossene Systeme mit zentralisierten Regimen (vgl. Krugman & Elizondo 1996).

40 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT „There is no clear evidence of a strong positive relation between these scores [presence of global firms in four categories of advanced services, GaWC] and the sizes of the 123 global cities. A great majority of these cities (more than 70%) have less than 5 million inhabitants. Even if a number of them have relatively low scores [...], the range of their global performances is very large [...]. Conversely, a large part of the large urban agglomerations [...] have low scores. [...] Even megacities [...] are not necessarily global cities. [...] It results that size seems to be neither a necessary nor a sufficient condition for obtaining the status of global city. [...] Even if it is a favourable factor, the quantity of people cannot as such generate the ability to coordinate complex economic activities at a global level without the aid of other qualitative elements. The global functions of megacities are probably more closely linked to the level of development and to other less measurable human elements. […] Indeed, city size is a factor of city globalization, only if it is able to create sufficient diversity, skills and information externalities to permit the emergence of global coordination functions.“ (Bourdeau-Lepage/Huriot 2006: 5ff, Hvh. i. O.)

Bei der Primacy- und der Global City-Forschung handelt es sich also um zwei Forschungsperspektiven, welche die Städte innerhalb bestimmter Bezugssysteme im Hinblick auf Funktionsverdichtung und Vernetzungen untersuchen. Während die einen auf den nationalen Rahmen blicken und darin nach Gründen für die erhöhte Konzentration von Funktionen in bestimmten Städten suchen, fragen die anderen primär nach den Effekten globaler Strukturzusammenhänge auf städtische Realitäten. Beide Male werden ‚Megastädte‘ als besondere Fälle behandelt, die Größe der Städte stellt aber eher eine abgeleitete oder sekundäre Bestimmungsgrundlage dar: Einmal ist sie die Folge funktionaler Konzentration (Primacy), das andere Mal divergieren Größe und ökonomische Funktionsverdichtung mit der Vernetzungsintensität, sodass sich keine allgemeine Regel formulieren lässt (Global Cities). Grundsätzlich besteht zwar ein Zusammenhang zwischen Bevölkerungsgröße und Funktionsverdichtung insofern als sich beide Merkmale positiv beeinflussen. Prinzipiell ist aber die Charakterisierung von Städten über Funktionen eine von der Größentypologie differierende Zugangsweise. Das bringt uns zu der eingangs getätigten Unterscheidung funktionaler Konzentration zurück. Wenn im Hinblick auf Städtenetzwerke die Größenrelevanz eher fraglich scheint, so stellt sich die Frage, ob die sich ausbildenden, stadtinternen funktional-räumlichen Strukturen mit der Größe von Städten im Zusammenhang stehen.

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e) Funktional-räumliche Strukturen Studien, die sich auf interne Strukturen von ‚Megastädten‘ fokussieren, betonen vorrangig die funktional-räumliche Zentrenstruktur, sowohl der jeweiligen Agglomerationsräume als auch der Städte selbst. Hauptaspekt ist dabei die Polyzentrik, wozu sich auch die Forschung zu Suburbanisierung und „urban sprawl“ hinzurechnen lässt.14 Die daraus entstehenden riesigen Agglomerationsgebiete bezeichnete Jean Gottman in den 1960er Jahren als „Megalopolis“. Für Gottman war der nordöstliche Küstenstrich der USA in den 1960er Jahren ein aus verschiedenen Nutzungs- und Siedlungsflächen zusammengesetztes Gebiet, „[where] we must abandon the idea of the city as a tightly settled and organized unit in which people, activities, and riches are crowded into a very small area clearly separated from its non-urban surroundings“ (Gottman 1961:5). Knapp drei Jahrzehnte nach Jean Gottman erklärt Manuel Castells die Megalopolis für obsolet. Nach Castells bilden sich neue räumliche Konfigurationen heraus, die nicht mehr auf geographisch lokalisierbaren funktionalen Interdependenzen gründen. Stattdessen sind es nun die global vernetzten Ströme ökonomischer und politischer Entscheidungsfindung und die sie gestaltenden sozialen, ökonomischen und politischen Akteuren, welche funktionale Interdependenzen begründen. Damit verschiebt Castells die Untersuchungsperspektive von der lokalen Erscheinungsform der Städte hin zu den bestimmenden (ökonomischen und politischen) Entscheidungen und Strategien, die mit konflikthaften Prozessen der räumlichen Restrukturierung einhergehen: „[A]lthough giant cities are still the predominant form of settlement patterns in the U.S., their shape, functions, and dynamics present some new, historically original characteristics that make them depart from the classical model of large metropolitan areas. […] [W]hat characterizes U.S. giant cities today is less their size and the spatial vicinity of diverse functions than their complexity and interdependence within a nonlocalized network of flows of variable geometry; locational constraints and geographical rigidities play a much lesser role in the current process of urbanization than worldwide business decisions and governments' political strategies. Instead of a natural economic evolution toward the megalopolis, we observe a constant reshaping of spatial structures by conflictive processes of interaction among social, economic, and political actors.“ (Castells 1989:105f.)

In der Fortführung dessen bestimmt Castells (und im Anschluss an ihn Edward Soja) die größten Agglomerationen als eine globale und neue räumliche Form 14 Insbesondere: Castells 1989; Castells 2010; Sudjic 1992; Schweitzer & Steinbrink 1998; Soja 2000; Gottdiener & Hutchinson 2006; Haynes 2006; Hall & Pain 2009; Sorensen 2011b; Keil 2013

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der Weltwirtschaft (Castells 1996; Soja 2000). ‚Megastädte‘ sind für ihn nicht über Größe, sondern über ihre Funktion als Knotenpunkte der globalen Wirtschaft bestimmt, da in ihnen die direktiven, produktiven und Führungsfunktionen konzentriert seien, die Kontrolle der Medien, die reale Machtpolitik, sowie die symbolische Fähigkeit, Nachrichten zu produzieren und zu verbreiten (Castells 2010:403). Als „Magneten“ auf lokaler, nationaler und regionaler Ebene konzentrierten sich in diesen Städten nicht nur Kontrollfunktionen und Eliten, sondern auch jene Bevölkerung, die beständig um ihre Existenz und Sichtbarkeit (abseits institutionalisierter Informationskanäle) kämpfen müssten, also „the best and the worst, the innovators and the irrelevant“ (ebd.: 404). „Megacities“ würden sich so zu neuartigen diskontinuierlichen Räumen mit ländlichen und städtischen Siedlungsformen, unterentwickelten und hoch entwickelten Bereichen herausbilden, die gleichzeitig global vernetzt und lokal unzusammenhängend seien und in denen „processes of segregation and segmentation [...], in a pattern of endless variation“ (ebd.: 409) stattfänden. Gleichwohl bestünde eine Abhängigkeit von einer funktionalen Einheit, die von riesigen technologieintensiven Infrastrukturen geprägt sei, „which seem to know as their only limit the amount of fresh water“ (ebd.). „It is this distinctive feature of being globally connected and locally disconnected, physically and socially, that makes megacities a new urban form. A form that is characterized by the functional linkages it establishes across vast expanses of territory, yet with a great discontinuity of land use patterns. Megacitiesʼ functional and social hierarchies are spatially blurred and mixed, organized in retrenched encampments, and unevenly patched by unexpected pockets of un-desirable uses. Megacities are discontinuous constellations of spatial fragments, functional pieces, and social segments.“ (ebd.:404ff)

Damit verbindet Castells die unterschiedlichen Ebenen funktionaler Konzentration miteinander und zeigt, dass nicht die funktionale Konzentration spezifisch für ‚Megastädte‘ ist (wie im vorherigen Abschnitt zu sehen war), sondern die räumliche Diskontinuität sozial und funktional unterschiedlicher und vor allem ungleicher Konzentrationen. Damit werden ‚Megastädten‘ bestimmt als diskontinuierlicher, fragmentierter, polyzentrischer und fast „kaleidoskopischer“ sozialräumlicher Städtetyp des neuen Jahrtausends. Edward Soja ergänzt diese Bestimmung um die typischerweise schwierige Bestimmbarkeit der äußeren Grenzen und damit der Bevölkerung der Stadtgebilde. Weitere problematische bzw. problembehaftete Merkmale sind für ihn die Anzahl städtischer (Sub-)Zentren innerhalb des megastädtischen Raums, die Ausdehnung des Hinterlandes, die

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Bedeutung der globalen Reichweite und die Tatsache, dass sich Megastädte über politische Grenzen hinweg ausbreiten können (Soja 2000:236). Vielfach hat der Schwerpunkt der Polyzentralitätsforschung auf den großen Stadtgebilden im „globalen Norden“, insbesondere auf U.S.-amerikanischen Stadtregionen gelegen (s. auch Harrison & Hoyler 2011).15 New York etwa wurde als „city of realms“ deklariert mit semi-autonomen, funktional eigenständigen und sozial distinkten Gebieten (Godfrey 1995:446). Dagegen wird für sogenannte Megastädte im „globalen Süden“ teilweise von einer stärkeren Monozentralität ausgegangen (Bronger 2004). Dass sich eine monozentrische Stadtstruktur länger aufrechterhalten hat wird unter anderem damit begründet, dass Infrastrukturen wie Transportwege stärker auf zentrale Lagen konzentriert sind und die höheren Einkommensgruppen eher in zentralen Lagen verweilen (Richardson 1989). Diese Differenz bildet sich in der neueren Literatur immer weniger ab, zumal auf die Veränderungen im Laufe der letzten Jahrzehnte hingewiesen wird (Aguilar 2002a; Silver 2008), wobei die Prozesse der Suburbanisierung und eine Entwicklung hin zu „amorphen“ stadträumlichen (Nutzungs-) Mustern betont werden (Silver 2008; s. auch Keil 2013). Unabhängig davon, ob der Fokus auf regionale Agglomerationsräume oder auf einzelne Städte/Stadtregionen gerichtet wird – als Schnittmenge zwischen den Perspektiven auf die räumlichen Strukturen bzw. Strukturveränderungen findet sich eine starke Polyzentralität, die mit stadt-räumlichen Diskontinuitäten, sozialen Disparitäten und politischen Abgrenzungsproblemen einhergeht. Diese Aspekte sind – neben der Bedeutung von Wachstumsdynamiken – der stärkste Anhaltspunkt für eine sozialwissenschaftliche Bestimmung von ‚Megastädten‘. Hier setzt die vorliegende Untersuchung an: Sie fokussiert auf die „internen Strukturen“ der Städte und fragt, inwiefern auf stadt-räumlicher, politisch(planerischer) und sozialer Ebene ‚Megastädte‘ als eine spezifische Stadtform produziert werden. Der nun folgende Blick in die bestehende Forschungsliteratur zu ‚Megastädten‘ soll dabei helfen, diese Ebenen inhaltlich präziser zu erfassen und den Fokus der Untersuchung zu schärfen.

15 Man mag dies auch als epistemische Ungleichheit lesen, insofern als die ‚internationale‘ Stadtforschung ihren Schwerpunkt auf dem ‚globalen Norden‘ erst langsam abschüttelt.

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1.2 Die ‚Megastadt‘ als Begriff, als Wirklichkeit und als Gegenstand der Forschung a) ‚Megastädtische‘ Problemfelder im Stand der Forschung Worin lassen sich nun – neben den eben dargelegten allgemeinen Kriterien – inhaltliche Besonderheiten eines möglichen Stadttypus der ‚Megastadt‘ erkennen? Ein Überblick über die sehr interdisziplinäre Forschungsliteratur zeigt, dass sich grundsätzlich fünf Bereiche identifizieren lassen, in denen sogenannte Megastädte offenbar ähnliche Strukturen und Merkmale aufweisen: Soziale Ungleichheit und Lebensverhältnisse, städtische Ökonomien, Vulnerabilität und Risiko, (Un-)Sicherheit sowie lokale Politik und Verwaltung.16 Vor allem für die sogenannten ‚Megastädte des globalen Südens‘ wird in Bezug auf die Problemfelder häufig das Stereotyp der „Dritt-Welt-Stadt“ bemüht, die imaginiert wird als „ ‚black hole ‘ of poverty, deprivation, disease, and suffering, […] seen as the quintessential urban problem, in need of reform and intervention“ (Roy 2011:93). Ananya Roy betont, dass in diesem Stereotyp (in zum Teil apokalyptischen Darstellungen, etwa bei Mike Davis) die „Krise der Megastadt“ mit der Krise von Armut und Informalität gleichgesetzt wird, für die auch eine völlige Unverbundenheit mit globalen kapitalistischen Strukturen veranschlagt wird (ebd.). Die Aufzählung problematischer Verhältnisse in den ‚Megastädten‘ Afrikas, Asiens und Lateinamerikas wird gleichzeitig nicht selten in Verbindung gebracht mit ihrer „Unkontrollierbarkeit“: Hohe Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung, unzureichende und inadäquate Wohnbedingungen, Gesundheits- und Ernährungsprobleme, mangelhafte Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, überlastete Transportsysteme, Luft-, Wasser und Lärmverschmutzung, kommunale Haushaltskrisen, steigende Kriminalität und „other social malaises“, und die allgemeine Verschlechterung der wahrgenommenen Lebensqualität würden die Städte „unmanageable“ machen (Dogan/Mattei 1989:19; s. auch El Araby 2002; Hamer 1994; Sobrino 2013). Nicht ungewöhnlich ist es für die Literatur zu ‚Megastädten‘ hierbei, Bewertungen im Sinne von „Chancen und Risiken“ anzuführen (Kraas & Nitschke 2006): Aus ökonomischer Sicht wird dabei zwischen Agglomerationsvorteilen und -nachteilen unterschieden. Vorteile können etwa der infrastrukturelle Zusammenhang und die relative Kostenabnahme bei großer Dichte sowie das Produktivitäts- und Kreativitätswachstum sein. Als Nachteile erscheinen im Gegensatz dazu die oftmals nicht flächendeckende bzw. fehlende Infrastruktur angesichts der benötigten Quantität, aber auch Massenarbeitslosigkeit und die Zunahme von Informalität.

16 S. hierzu ausführlich Hoerning 2012

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Aus ökologischer Perspektive bewegt sich das Spektrum zwischen effizientem und exzessivem Ressourcenverbrauch, im Hinblick auf soziale Dimensionen der besonderen Stadtgröße schwanken die Interpretationen zwischen wachsender und abnehmender Kohäsion. Aus politischer Sicht schließlich werden die Vorund Nachteile als zwischen einerseits gestärkter Partizipation durch die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen und andererseits zunehmender Informalität durch den Verlust der Regier- und Steuerbarkeit, eine abnehmende Repräsentation sowie inkonsistente Planung und gesetzliche Regulierung (etwa zwischen Kommunen und Ländern) gesehen. Am stärksten ausgeprägt scheint der Konsens in der Forschungsliteratur zur Frage sozialer Ungleichheit. Weil mit zunehmender Stadtgröße davon ausgegangen wird, dass damit eine Konzentration von Wohlstand ebenso wie von Armut einhergeht, gilt gemeinhin, dass die soziale Polarisierung ausgeprägter ist als in kleineren Städten.17 Ungleichheit ist auch eines der grundlegenden Merkmale der „giant cities“ in Manuel Castells’ Definition: „dualized giant cities […] segregate internally their activities, social groups, and cultures while reconnecting them in terms of their structural interdependency“ (Castells 1989:100, Hvh. JH, s. auch Bugliarello 2009; Sobrino 2013; Winarso 2011; Sorensen 2011b). Ursächlich produziert wird diese neue Stadtform für ihn aber durch die globalökonomischen Strukturveränderungen (Produktionsauslagerungen und Konzentration von Leitungsfunktionen in den Innenstädten). In diesem Zusammenhang wird auch von einer Verlagerung von globalen Zentrum-Peripherie-Differenzen in die Städte gesprochen (Parnreiter 1998). Dabei ist unklar, ob diese Entwicklungen strukturelle Merkmale von Megastädten sind oder ob sie nicht vielmehr mit der Einbindung in globale Kontexte zusammenhängen und in allen Städten mit hohem Vernetzungsgrad vorkommen, unabhängig von deren Größe. Vieles deutet auf Letzteres hin (s. hierzu auch Kapitel A.1.1 zur funktionalen Konzentration sowie Kapitel A.2). Die als typisch ausgewiesenen Lebensverhältnisse geben einen Eindruck davon, was den städtischen Alltag in den ‚Megastädten‘ prägt. Alan Gilbert fasst für lateinamerikanische Städte zusammen, dass mit der Stadtgröße sowohl negative als auch positive Aspekte einhergehen: So nähmen die Beschäftigungsmöglichkeiten sowie die Ausstattung mit Infrastrukturen und Dienstleistungseinrichtungen zu (wenn auch die Zugangschancen ungleich verteilt seien), aber genauso 17 Statistisch ist ein solcher – wenn auch leichter – Zusammenhang für Lateinamerika nachgewiesen (Fay 2005:33) und es gibt Hinweise darauf, dass sich in vielen der größten Städte die Ungleichheiten eher ver- denn entschärfen (so bei Mertins 2009; Kraas & Nitschke 2006; Rünzler 1993 u. v. m.), etwa anhand zunehmender GiniKoeffizienten wie zum Beispiel in São Paulo (Irany 2006).

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auch die Probleme im Hinblick auf Transport/Verkehr, Kriminalität und Wohnen (Gilbert 1996b:11).18 Für China konnte ebenso bereits nachgewiesen werden, dass Lebensqualität und Einkommensniveau mit der Stadtgröße steigen (Bradshaw & Fraser 1989). Das Beispiel China wirft gleichzeitig die Frage nach der Rolle des Staates auf und insbesondere die nach dem Verhältnis von staatlich und selbst-organisierten Lebensverhältnissen. Während in China sogenannte informelle Siedlungen19 weitestgehend fehlen, wird vielfach ein hoher Grad an „Informalität“ (insbesondere in Bezug auf Wohnen und Arbeiten) für ‚Megastädte‘ angenommen, was auf das schnelle Wachstum zurückgeführt wird. Auch für die großen Städte des „globalen Nordens“ wird mittlerweile von einer Zunahme an „Informalität“ ausgegangen (Soja 1991:373; Sassen 1993). Es zeigt sich aber, dass insbesondere die Wohnbedingungen sehr stark zwischen Städten variieren, und das unabhängig von der Größe, wie sich etwa am Anteil der Bewohner_innen von favelas in brasilianischen Städten zeigt (Gilbert 1996a). Die Untersuchungen zu den Wohnbedingungen in ‚Megastädten‘ lassen die Schlussfolgerung zu, dass kein direkter Zusammenhang mit der Stadtgröße besteht. Sie sind vielmehr ein Ergebnis des komplexen Zusammenwirkens einiger ausschlaggebender Faktoren, allen voran die Funktionsweisen von Boden- und Immobilienmarkt und staatliche Eingriffe bzw. Regulierung der Märkte, aber auch die Beschäftigungsverhältnisse, der Zugang zu öffentlichen Diensten sowie Klima, Relief und Topographie (Gilbert 1996a; Meyer 2004). In ähnlicher Weise lassen sich auch Annahmen zum Zusammenhang zwischen Verkehrsbelastung und Stadtgröße relativieren (El Araby 2002; Figueroa 1996:127f.).20 18 Gilbert betont allerdings, dass die Wohlhabenden in einem viel stärkeren Ausmaß von den Vorteilen etwa im Sinne von Berufschancen profitieren können, während das für die städtischen Armen nicht uneingeschränkt gelte (ebd.:12f.). Empirisch wurde ein ähnlicher Sachverhalt etwa von Baldassare (1982) nachgewiesen für den Zusammenhang zwischen Dichte und Lebensqualität. Die Untersuchung zeigt, dass soziale Merkmale wie Eigentum/Miete, Wohlstand und Lebensphase Einfluss auf die Wahrnehmung und damit auf den Umgang mit Dichte im nachbarschaftlichen Umfeld haben. Diese Ergebnisse weisen auch auf die Tatsache hin, dass Größe allein kein ausschlaggebender Faktor ist für die soziale Organisation städtischer Gesellschaften (vgl. auch Choldin 1978, Kasarda & Janowitz 1974). 19 Es handelt sich bei den ‚informellen Siedlungen‘ in der Regel um hochgradig institutionalisierte Wohnformen, die unterschiedliche Namen und Merkmale tragen, je nach Land bzw. Region – die dementsprechend sehr ungenaue Bezeichnung der ‚informellen Siedlungen‘ ist lediglich aus administrativer Sicht nachvollziehbar. 20 Der Verkehr stellt tatsächlich eine gravierende Belastung und eine der meist diskutierten Beeinträchtigungen der Lebensbedingungen in sogenannten Megastädten dar. So

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Der zweite Bezugspunkt in der Debatte um „Informalität“, Arbeit, lässt sich ebenso in seiner Bedeutung als Bestimmungsmerkmal für ‚Megastädte‘ relativieren: Tatsächlich spielt der Anteil des sogenannten informellen Sektors (ein extrem heterogener Bereich unterschiedlichster Beschäftigungsverhältnisse, s. ILO 1991; Daniels 2004) an den städtischen Ökonomien häufig eine weit weniger bedeutsame Rolle als in kleineren Städten. In einer Studie aus den 1990er Jahren konnte gezeigt werden, dass zwar große Bevölkerungsanteile nicht formalisierten Beschäftigungsverhältnissen nachgehen, gleichzeitig aber auch ein großer Anteil an regulären Beschäftigungsverhältnissen in ‚Megastädten‘ konzentriert ist (Committee on Megacity Challenges 1996).21 Dieselbe Studie entdeckt keine geschlechterspezifischen Einkommensdifferenzen oder Spezifik im Hinblick auf Arbeitslosigkeit, nur Unterbeschäftigung bzw. Beschäftigung im sogenannten Niedrigproduktivitätsbereich wird als charakteristisch für ‚Megastädte‘ hervorgehoben (ebd., s. auch Daniels 2004). Eingehendere Forschung ist also auch angesichts der Bedeutung informeller ökonomischer Strukturen und der Zusammenhänge zwischen staatlich- und selbstorganisierten Lebensbereichen nötig. Es handelt sich dabei weder um grundsätzlich unreguliert-destruktives Wirtschaften, noch um immer schon kreatives, einfach-kommunitär geregeltes Wirtschaften. Eine differenziertere Perspektive als die schlichte Subsumption unter den Begriff der „informellen Gesellschaft“ (Bourdeau-Lepage & Huriot 2006) ist deshalb dringend geboten.22 etwa in Kairo, wo angesichts permanenter Staus kaum mehr Stoßzeiten zu identifizieren sind und die Verkehrsemissionen zu 60-70% der Luftverschmutzung beitragen (El Araby 2002). Ein direkter Zusammenhang zwischen den Problemen und der besonderen Stadtgröße lässt sich trotzdem nicht unbedingt herstellen. So betont Figueroa für Lateinamerika, dass generell alle größeren Städte ähnliche Probleme mit dem Transportsystem aufwiesen aufgrund ihrer hohen Abhängigkeit vom Straßenverkehr. Dadurch seien vor allem die Bussysteme überlastet, was Staus und lange Pendelzeiten in unterschiedlich großen Städten verursache. Dennoch führe die große Anzahl an Menschen, welche die Schlüsselwege in sogenannten Megastädten passieren müssen, zu besonders hohen Stauaufkommen und besonders langen Pendelzeiten (Figueroa 1996:127f.). 21 Obwohl die Studie bereits lange zurückliegt interessiert hier ja die Frage nach einem prinzipiellen Zusammenhang von Stadtgröße und ökonomischen Verhältnissen, weshalb der Zeitpunkt der Studie als vernachlässigbar gesehen wird. 22 Damit ist auch auf die Bedeutung des Begriffs der ‚Informalität‘ für die sozialwissenschaftliche Beschäftigung angesprochen: Die zumeist mit ‚informellen Siedlungen‘ und ‚informeller Ökonomie‘ gemeinten Wohn- und Arbeitsbereiche sind i.d.R. hochgradig institutionalisiert und bilden zwar prekäre und immer wieder (normativ, mora-

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Um zu verstehen, welche Bedeutung „informelle“ Formen des Wohnens und Arbeitens für städtische Lebensverhältnisse haben sollten nicht nur die Beziehungen zwischen den als formell und den als informell bezeichneten Bereichen stärker in den Blick genommen werden (vgl. Daniels 2004). Darüber hinaus wäre es wichtig, sie in den Kontext der damit verbundenen unterschiedlichen Formen sozialen Alltags zu stellen, um die Verhältnisse zwischen selbst-, formal-ökonomisch23 und staatlich organisierten Bereichen zu klären. Denn die geplante/ungeplante, formelle/informelle Stadt ist letztlich ein „Palimpsest“, das auf beiden Seiten dieser binären Konstruktionen immer sowohl von staatlichen wie von privatökonomischen Akteuren genauso wie von den Bewohner_innen selbst hergestellt wird (Sintusingha 2011:136f.). Im Rahmen der städtischen Ökonomie gibt es noch einen weiteren Aspekt, für den gemeinhin eine Spezifik in Bezug auf die Stadtgröße angenommen wird: Produktivität. Hierbei wird für sogenannte „Megastädte in Industrieländern“ angenommen, dass sich Stadtgröße, die Größe des „effektiven“ Arbeitsmarktes und die Produktivität der städtischen Ökonomie positiv beeinflussen (PrudʼHomme 1996). Der Zusammenhang zwischen Agglomeration und Produktivität wird in der Literatur vierfach begründet: stärkere Spezialisierung, Entwicklung und Anwendung neuer Technologien, Konzentration von Humankapital sowie Bildungsinstitutionen (Beeson 1992, so zit. in (Sobrino 2013:361). Die Tatsache, dass Produktivitätszuwächsen aber Grenzen gesetzt sind führt wiederum zurück zur Debatte über die „Überverstädterung“ (s.o.) und zu der damit verbundene Frage einer „optimalen Stadtgröße“ (vgl. ebd.). Außerdem wird die höhere Produktivität für „Megastädte in Entwicklungsländern“24 zum Teil in Frage gestellt: Die reine Konzentration von ökonomischen Aktivitäten werde häufig vorschnell als Indiz für höhere Produktivität und Effektivität gewertet, ohne die Regierungseinflüsse auf die ökonomische Konzentration mit zu berücksichtigen, denn kleinere Städte könnten unter Umständen viel effizientere Organisationsstrukturen bieten (Richardson 1989). In jedem Fall aber sind Angebot lisch, rechtlich) in Frage gestellte Lebensbereiche, sind aber fest verankert im sozialen Alltag. Die rechtlich-verwalterische Definition von ‚Informalität‘ sollte deshalb nicht auf die soziale Geltung ausgedehnt werden. 23 Was nicht mit kapitalistisch gleichzusetzen ist, denn sowohl informelle als auch formelle ökonomische Bereiche sind kapitalistisch organisiert. 24 Die Formulierung wird hier in Anführungsstriche gesetzt um deutlich zu machen, dass es sich dabei zwar um einen geläufigen Ausdruck und Bezugspunkt in der Forschung handelt, dieser aber eine starke Verallgemeinerung von sehr unterschiedlichen Gesellschaften und demnach weder inhaltlich noch analytisch eine bedeutungsvolle Kategorie darstellt.

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und Nachfrage extrem groß in ‚Megastädten‘, weshalb der Ökonom Andrew Hamer sie als „giant supermarkets“ bezeichnet (Hamer 1994:175). Und so wird auch vermerkt, dass sich ‚Megastädte‘ eher in Bezug auf die Produktionsseite, denn auf die Konsumptionsseite unterschieden (Sobrino 2013:368) – wobei die Gründe für derlei Differenzen zu einem großen Teil auch in der Entwicklung und dem Wachstum der nationalen Ökonomien zu sehen sind (Brennan & Richardson 1989). Ein dritter Aspekt in der Forschung zu ‚megastädtischen‘ Ökonomien ist die Frage nach den Verbindungen zwischen städtischen und ländlichen bzw. agrarischen Produktionsweisen (s. Bugliarello 2009). Prominent behandelt werden seit einiger Zeit die agrarischen Produktionsweisen innerhalb der Agglomerationsräume;25 Verbindungen zwischen städtischen und ländlichen Ökonomien sind dagegen noch relativ wenig erforscht. Denn zwar arbeiten viele Millionen Menschen in den Städten, bleiben aber insbesondere in Afrika und Asien de facto häufig Bestandteil ihres ländlichen Haushalts: „Um wirtschaftlich zurechtzukommen, müssen sie das Einkommen aus der Landwirtschaft mit der Lohnarbeit in der Stadt kombinieren“ (Schmidt-Kallert 2009:17).26 Für die Stadtforschung ist es also (v.a. in Afrika und Asien) von besonderer Bedeutung, nichtpermanente (saisonale, zirkuläre) Migration und die Lebensstrategien multilokaler Haushalte in den Blick zu nehmen. Bei der Diskussion um Vulnerabilität und Risiken ist es nicht das (verstärkte oder verminderte) Auftreten von Naturkatastrophen wie Flutwellen, Erdbeben und Stromausfällen oder andere infrastrukturelle und technologische Risiken selbst, was für einen sozialwissenschaftlich relevanten Stadttypus der ‚Megastadt‘ heranzuziehen ist. Wenn aber mit der technischen Bestimmung von ‚Megastädten‘ als besonders risikobelasteten ‚infrastructural environments‘27 eine verstärkte Problemwahrnehmung bis in den Alltag der Menschen vordringt, so vermag das – auch ohne das tatsächliche Eintreten eines solchen Risikos – das städtische Leben relevant verändern. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist also vor allem der Umgang mit Risiken relevant, ihre Antizipation (und damit auch 25 Siehe hierzu etwa das Projekt „Urban Agriculture Casablanca“ im Rahmen des BMBF-geförderten Forschungsschwerpunkts „Future Megacities“ (v.a. TU Berlin) oder die Forschung zu den „desakotas“ (für den asiatischen Raum s. McGee 1991, für Lateinamerika vgl. Aguilar 2002a). 26 So schätzt man beispielsweise die Zahl der Wanderarbeiter_innen in China auf 150 Millionen (Schmidt-Kallert 2009:17). 27 Vgl. hierzu die Berechnungen der Munich Re-Foundation (ehemals Münchner Rück), wonach die größten Risiken insbesondere in Tokio, San Francisco und Los Angeles konzentriert sind (UN-Habitat 2007).

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die Klassifizierung als Risiko), Wahrnehmung und die Bedeutung, die ihnen für die soziale und politische Organisation der Stadt zukommt bzw. zugeschrieben wird. Dementsprechend spielen auch die institutionellen Kapazitäten des Umgangs mit Unsicherheiten (vgl. Mitchell 1999:141; Cross 2001) und das Vertrauen in die institutionellen Fähigkeiten, Lösungen zu finden (Horlick-Jones 1995) eine Rolle. Dabei sind nicht zuletzt die Medien von Bedeutung, wenn sie immer wieder starke Motive städtischer Katastrophen bemühen. Und schließlich ist die Bedeutung ökologischer Themen in starkem Maße darüber gegeben, dass sie im Rahmen des Nachhaltigkeitspostulats legitimierend für Stadtentwicklungspolitiken herangezogen werden, die bestehende Ungleichheiten vielfach reproduzieren (vgl. Valenzuela-Aguilera 2011). Die Frage des Vertrauens in die institutionellen Problemlösungskapazitäten ist nicht zuletzt auch für die Thematisierung und den Umgang mit Kriminalität und Gewalt bzw. der (Un)Sicherheit und dem (Un)Sicherheitsempfinden in den Städten relevant. Kriminalität und Gewalt werden vielfach in Zusammenhang mit Städtewachstum gebracht (s. Briceno-León 2005, Moser 2005, UN-Habitat 2007). Die Stadtgröße selbst kann nicht als verantwortlich gesehen werden – aber auch hier kann die Größe in der Wahrnehmung eine Rolle spielen.28 Zudem ist „städtische Gewalt“ kein einheitliches Phänomen und variiert dementsprechend. So gehen in manchen Städten etwa relevante (aber unterschiedliche) Anteile auf polizeiliche Gewalt zurück (beispielsweise in São Paulo und Rio de Janeiro, wo sich der Anteil polizeilicher Gewalt an der Mordrate auf 8,5 bzw. 20% beläuft, Delgado 2009:33). Der stärkste statistische Einflussfaktor wird in sozialer Ungleichheit ausgemacht (Moser 2005:11), aber auch institutionellen, kulturellen und sozialpsychologischen Faktoren kommt eine wichtige Rolle zu (Souza 2014:156). Neben den Ursachen und der Wahrnehmung von Gewalt und Kriminalität sind aber auch die daraus resultierenden Effekte hochgradig relevant für städtisches (Zusammen-)Leben: Die mit der Angst vor Gewalt und dem sozialen Misstrauen zunehmenden Abschottungstendenzen (insbesondere wohl28 Für das Auftreten von Gewalt und Kriminalität gelten vorrangig strukturelle Ursachen wie ungleiche Machtverhältnisse basierend auf Klasse, Geschlecht, Ethnizität, Territorialität und Identität, aber auch situationsbedingte Trigger-Faktoren wie Drogen- und Alkoholkonsum (Moser 2005:11). Eindimensionale Erklärungsansätze würden dem komplexen Phänomen städtischer Gewalt jedenfalls nicht gerecht, so die Sozialanthropologin Caroline Moser. Im Gegensatz zu unvorsichtigen Gleichsetzungen zwischen sogenannten Megastädten und dem verstärkten Vorkommen von Gewalt und Kriminalität setzt der brasilianische Stadtforscher Marcelo Lopes de Souza einen qualitativen Typus von Stadt, der dieses Phänomen in seiner in manchen Städten so akzentuierten Form aufgreift: die „phobopolis“, die Stadt der Angst (Souza 2014).

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habender Stadtbewohner_innen) werden vielfach als „Fragmentierung“ beschrieben (vgl. Low 2005; Moser 2005; Souza 2014; Souza 1995). Dieser Abschottung wird wiederum ein verstärkender Effekt auf Kriminalität und Gewalt zugeschrieben. Auch hier kommt der medialen Berichterstattung für die öffentliche Wahrnehmung eine zentrale Rolle zu (s. etwa UN-Habitat 2007:49–50).29 „Institutionelle Problemlösekapazitäten“ verweisen auch auf Spezifika im Hinblick auf die politische Dimension der Städte. In der Literatur wird als häufig anzutreffende Gemeinsamkeit besonders großer Städte der Verlust der Steuerund Regierbarkeit angegeben (Kraas & Nitschke 2006; Kraas & Sterly 2009). Damit würden zunehmend ungeregelte, informelle und illegale Prozessabläufe einhergehen, ebenso wie eine hohe Anzahl an Entscheidungsträger_innen, was zu neuen Formen politischer, sozialer und wirtschaftlicher Verdichtung führe. Als Konsequenzen daraus werden verstärkte Polarisierungs- und Informalisierungsprozesse, immer bedeutsamere privatwirtschaftliche Markt- und Verteilungssysteme und ein gefährdeter sozialer Zusammenhalt benannt (ebd.). Die politische Steuerung in megastädtischen Stadtregionen stellt sicher eine komplexe Aufgabe dar, zumal mehrere politisch-administrative Gebiete und damit Verwaltungseinheiten einbezogen werden müssen. Gleichzeitig gilt, dass es nicht die Stadtgröße ist, die eine politische Steuerung unmöglich macht, sondern die Art und Weise, wie sich die lokale Politik dieser Aufgabe stellt (Richardson 1989, PrudʼHomme 1996, Meinert 2009). Viele bestehende Probleme (etwa die ungleichen Versorgungsbedingungen mit Infrastruktur und staatlichen Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen) sind häufiger einem Verteilungsproblem, der institutionellen Heterogenität von Verantwortlichkeitsbereichen und/oder der Effizienz von Verwaltungssystemen geschuldet als dem häufig bemühten Ressourcenmangel (vgl. Connolly 1999, El Araby 2002:397). In der Forschungsliteratur wird von zwei Tendenzen bei den Governancetrukturen in ‚megastädtischen‘ Agglomerationsräumen gesprochen (Haynes 2006): Der weniger üblichen Strategie, eine politisch-administrativ einheitliche ‚Megastadt‘ zu schaffen, steht die häufiger praktizierte Auf- bzw. Unterteilung in verschiedene Zuständigkeitsbereiche (multijurisdictional) gegenüber, die nur über infrastrukturelle Vereinbarungen hinsichtlich Verkehr, Wasser und anderen öffentlichen Aufgabenbereichen miteinander verbunden sind. Am normativen Ende der Governanceforschung in ‚Megastädten‘ variieren die Forderungen ebenfalls zwischen diesen beiden Polen: Den einen gilt Dezentralisierung als einzige Lösung, weil monozentrische (administrative) Strukturen als unmög29 Marcelo Lopes de Souza benennt die Massenmedien neben dem politischen System und dem Sicherheitsmarkt als einen der „three pillars of the contemporary capitalist industry of fear“ (Souza 1995:153).

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lich für die Steuerung von ‚Megastädten‘ angesehen werden (Brennan & Richardson 1989; Richardson 1989). Die anderen gehen davon aus, dass zentrale Koordination an Bedeutung gewinnt angesichts der mit zunehmender Größe steigenden Anzahl an Akteur_innen und Interessen: „Big cities are not too big, but they are probably more difficult to manage than smaller cities. […] The key concept here is that of coordination. In a large city there is a frighteningly large number of actors, dimensions, concerns, parties, institutions, interests, etc. This need for coordination increases very rapidly with city size.“ (Prudʼ Homme 1996:175)

Auch im Kontext von Politik und Verwaltung wird in der Literatur von „Fragmentierung“ gesprochen (Figueroa 1996; Sorensen 2011b).30 Damit wird darauf hingewiesen, dass letztlich weder den Anforderungen einer zentralen noch denen einer dezentralen Verwaltungsstruktur entsprochen wird. Die Frage der Steuer- und Regierbarkeit ist aber nicht einfach eine Frage der politisch-planerischen Möglichkeiten, sondern der (Ideo-)Logik der Planung und Entwicklung der Städte, wie Ananya Roy in ihrer Kritik und Auseinandersetzung mit Kalkutta formuliert (Roy 2011): „The challenge […] lies not in its population density or its shortage of resources or its planning bureaucracy or its infrastructure shortfalls. […] [The] challenge lies in the very logic that drives its growth and gives shape to its metropolitan form. It is a logic that allows the poor to survive through access to a meager and diminished structure of substantive citizenship - informalized and casualized wage-earning labor at the margins of the global economy and fragile and tenuous shelter at the margins of the metropolis. [...] It is also a planning logic that produces a dis-integrated city. […] Calcutta's planning challenge does not lie in its landscape of slums, which seemingly remains outside the formal, legal order and defies state regulation. Rather, it lies in planning itself, in a ruling regime that unmaps the city and renders ambiguous legal systems of property and territory.“ (Roy 2011:107)

Wenn sich also Stadtplanung und -politik als vor „unlösbare“ Aufgaben gestellt sehen, dann sind diese zu einem großen Teil strukturell von Planung und Politik selbst hergestellt und werden auch in derselben Logik reproduziert.

30 Diese politische „Fragmentierung“ ist nicht dieselbe „Fragmentierung“ wie die in Bezug auf residentielle Abschottungstendenzen der Reichen, die weiter oben angesichts einer erhöhten Risikowahrnehmung beschrieben wurde. Eine Diskussion des Fragmentierungsbegriffs erfolgt in Teil B dieser Arbeit.

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b) Aspekte einer vorläufigen Begriffsbestimmung Der Überblick über die konzeptionellen Debatten zum Forschungsgegenstand ‚Megastadt‘ zeigt, dass eine analytische Bestimmung des Gegenstands noch aussteht. Wenn die Begriffsbestimmung noch nicht geklärt ist – in den Worten von Gayatri C. Spivak: „the jury [is] still out“ (Spivak 2000:22) – was bedeutet es dann, von ‚Megastädten‘ zu sprechen und worauf rekurriert der Begriff? Von ‚Megastadt‘ zu sprechen ist zunächst einmal eine nachvollziehbare Deskription – als wissenschaftliche Kategorie verweist die ‚Megastadt‘ aber auf ein ungeklärtes Spannungsfeld zwischen dem Begriff und der damit benannten sozialen Wirklichkeit. Dieses Spannungsfeld liegt praktisch jedem sozialwissenschaftlichen Begriff zugrunde, insofern als über die „Bezeichnungsfunktion […] niemals die Totalität des Phänomens wiederge[ge]ben“ (Bahrdt 2003) werden kann. Die Rekapitulation des Forschungsstandes zu sogenannten Megastädten jedoch zeigt, dass dieses Spannungsfeld von vielfältigen Unklarheiten und Widersprüchen geprägt ist. Dabei stellt sich hier die Frage, ob der Begriff überhaupt auf eine unterscheidbare soziale Wirklichkeit verweist. Die Forschungsliteratur, so lässt sich aus den obigen Ausführungen schlussfolgern, zeichnet sich dabei durch eine relativ große Bandbreite der inhaltlichen Bestimmung von ‚Megastädten‘ aus. Zusammenfassen lässt sich diese Bandbreite wie folgt: Im Hinblick auf soziale Ungleichheiten ist sich die Forschung weitgehend einig, dass Ungleichheitswerte in Megastädten besonders hoch sind und im Verlauf der Jahre zugenommen haben. Bezogen auf ökonomische Verhältnisse ist dabei die Verlagerung von Zentrum-Peripherie-Differenzen in die heute größten Städte allerdings eher ein Zeichen für einen hohen globalen Vernetzungsgrad als von besonderer Größe. Extreme soziale Ungleichheiten wirken sich auf die Lebensverhältnisse in sogenannten Megastädten aus, der Zusammenhang mit Wohn-, Beschäftigungs- und Verkehrsverhältnissen ist aber weniger deutlich als vielfach angenommen. Hier zeigt sich, dass einzelne Effekte von Stadtgröße schlecht separiert werden können, zumal sie nicht zuletzt – so die Forschung zu den politisch-administrativen Verhältnissen in den ‚Megastädten‘ – von der Art und Weise des Umgangs mit den sich aus spezifischen gesellschaftlichen und städtischen Verhältnissen ergebenden Problemstellungen abhängen werden. Größe wirkt sich also nicht per se in hoher sozialer Ungleichheit, in schlechten Lebensverhältnissen und in einem Verlust an Steuer- und Regierbarkeit aus. Die bisher in der Forschungsliteratur verwendeten Begriffsbestimmungen und Merkmale, wie sie hier zusammengetragen wurden, lassen sich zu acht Aussagenkomplexen verdichten. Diese können als Grundlage für eine Diskussion dienen:

54 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT • ‚Megastädte‘ werden als polyzentrische Agglomerationsräume bezeichnet, die













einen hohen Grad an ökonomischen Verflechtungen aufweisen (Castells 1996). Sie werden als die neue, räumliche Form der Weltwirtschaft beschrieben (Soja 2000, Castells 1996), in der es zu Funktionsverdichtung, extremer Ungleichheit und „endlosen Mustern“ (Castells 1996:404f.) der Segregation und sozialen Segmentation komme. Eine der zentralen Aussagen der Forschung ist, dass die Strukturveränderungen in heterogeneren städtischen Räumen resultieren, die beispielsweise als „diskontinuierlich“ (Castells 1996) oder „amorph“ (Silver 2008) beschrieben werden. Im Rahmen der Global City-Forschung werden vor allem die ‚Megastädte‘ des sogenannten globalen Südens als „periphere Knotenpunkte“ (Parnreiter 1998) bezeichnet, in der es zu einer Simultaneität verschiedener „Entwicklungsniveaus“ komme. Ein großer Teil der Forschung geht davon aus, dass sich ‚Megastädte‘ durch eine höhere soziale Ungleichheit auszeichnen (Bronger 1997, 2004; Kraas & Nitschke 2006; Castells 1989; Gilbert 1996a/b u.a.), die sich auch darin äußert, dass sich die globale „Zentrum-Peripherie-Differenz“ (Parnreiter 1998) in die Städte verlagert. Die Lebensverhältnisse in den ‚Megastädten‘ werden als von einem hohen Anteil selbstorganisierter Lebensbereiche (Soja 1991), einer hohen Variation von Wohn- und Beschäftigungsverhältnisse (Gilbert 1996a), einer besseren Leistungsversorgung (ebd.) und einem hohen Stauaufkommen (El Araby 2002; Figueroa 1996) charakterisiert. Es lässt sich aber kein grundsätzlicher, direkter Zusammenhang zwischen der Verkehrsproblematik oder dem Wohnen und der Größe von Städten erkennen, auch wenn mit steigender Stadtgröße in der Regel steigende Bodenpreise verbunden sind. Im Hinblick auf die städtische Ökonomie wird ein zwar anteilsmäßig nicht größerer informeller Markt angenommen, da auch formelle Beschäftigungsverhältnisse eine große Rolle spielen. Es wird aber von einer großen Heterogenität des „informellen Sektors“ ausgegangen. Zudem wird eine Besonderheit in der Verbindung städtischer und ländlicher Ökonomien veranschlagt. Im Hinblick auf Vulnerabilität gegenüber (Umwelt-)Risiken wird von einer prinzipiell größeren Verwundbarkeit aufgrund der massiven Infrastrukturen ausgegangen, ebenso wie von einer höheren Wahrnehmung von Risiken (auch: Kriminalität und Gewalt), die insbesondere medial geschürt wird. Kriminalität und Gewalt werden dabei vor allem mit den stärker akzentuierten sozialen Ungleichheiten in Verbindung gebracht. Dem steht aber die

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Einschätzung entgegen, dass die institutionellen Kapazitäten zur Bekämpfung von Risiken in ‚Megastädten‘ höher seien als andernorts. Es wird also von einer höheren ‚Störanfälligkeit‘ bei größerer ‚Widerstandsfähigkeit‘ (Resilienz) ausgegangen. • In Bezug auf Politik und Verwaltung wird von einem Verlust der Regier- und Steuerbarkeit ausgegangen, insgesamt informelleren Prozessabläufen und schwierigen/unklaren Kompetenzzuweisungen. Die Reaktionen darauf würden zwischen der „Vereinheitlichung“ (die aber mit dem Wachstum nicht Schritt halten könne) und der Dezentralisierung oszillieren, sowohl als Praxis als auch als Notwendigkeit. Mit der enormen Ausdehnung ist eine Schwierigkeit der Bestimmung, insbesondere politischer Grenzen, verbunden (Soja 2000). In jeder Hinsicht, so lässt sich aus den bisherigen Ergebnissen der Forschung schlussfolgern, wird eine verstärkte Diversifizierung (funktional bzw. ökonomisch), Aufgliederung (politisch-administrativ und stadt-räumlich) und ungleiche Heterogenisierung (sozial) deutlich. Hier scheint sich der in der Stadtsoziologie klassischerweise ausgewiesene Zusammenhang zwischen Größe und Heterogenität zumindest prinzipiell zu bestätigen. An dieser Stelle bietet es sich an, die bisherigen stadtsoziologischen Debatten zur Relevanz von Stadtgröße im Hinblick auf die qualitativen Unterscheidungen der sozialen bzw. gesellschaftlichen Besonderheiten von Städten hinzuzuziehen. Diese postulieren bereits für Großstädte einen solchen Zusammenhang, was die Frage danach, welche Spezifik sich für ‚Megastädte‘ ausmachen lässt, erneut aufwirft. Im Hinblick auf die verfolgte Forschungsfrage bleibt also mindestens offen, wie sich dieser Zusammenhang äußert und inwiefern er sich in einer veränderten städtischen Qualität äußert. Viele der thematische Bestimmungsgrößen geben bereits Hinweise darauf, dass die Größe und die besondere Qualität einer Problemstellung stark im Zusammenhang mit deren Wahrnehmung (von Risiken, Un/Sicherheiten, Problemlösungskapazitäten etc.) einhergeht – die ebenfalls zu verstärkten, räumlich markierten Absonderungen (Stichwort Gated Communities) führen kann. Damit ist nicht zuletzt auf die Erfahrungsdimension verwiesen, die Antworten auf diesen Zusammenhang zu geben vermag, worauf noch einzugehen sein wird.

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2. D IE R ELEVANZ VON G RÖSSE ALS M ERKMAL VON S TÄDTEN Städte werden typischerweise ihrer Größe nach eingeordnet. Im Alltagssprachgebrauch ist die Rede von Klein- und Großstädten und dem klein- oder großstädtischen ‚Charakter‘ von spezifischen Städten. Damit ist dann auch impliziert, dass es sich bei der Größenzuordnung um eine relevante Beschreibung handelt, dass also etwas daraus ableitbar ist – eben ein klein- oder großstädtischer ‚Charakter‘, etwas, wodurch sich das Alltagsleben in den jeweiligen Städten allumfänglich kennzeichnen lässt. Was genau damit gemeint ist und welche Bewertung es erhält mag dabei stark variieren. In der Forschungsterminologie werden Städte ihrer Größe nach weiter differenziert als Klein-, Mittel-, Groß-, Megaund sogar Metastädten. Die Kategorisierung folgt in ihrer Logik grundsätzlich zwei Annahmen: Erstens wird damit impliziert, dass (alle) Städte ihrer Größe nach eingeordnet werden können. Dieser Art der Typisierung auf der Grundlage eines quantitativen Bezugs stehen qualitativ-inhaltliche Typisierungen gegenüber, die insbesondere auf spezifische Funktionen von Städten verweisen bzw. einzelne Funktionen einer Stadt hervorheben. Als Beispiele hierfür können Städtetypen wie die Metropole, die Global City, die Imperiale Stadt oder die Industriestadt gelten. An der Auflistung wird deutlich, dass die meisten qualitativen Städtetypen entweder einzelne Städte und ihre Funktionen (ökonomisch, politisch, kulturell) in Relation zu denen anderer Städte setzen innerhalb eines jeweils zugeordneten (regionalen, nationalen, internationalen, kolonialen) Städtenetzwerks (z.B. Metropole, auch Finanzmetropole etc.) oder eine spezifische Funktion (meist ökonomisch) als bestimmende und damit Namen gebende Hauptfunktion identifizieren (z.B. Automobilstadt). Diese Typologien bilden kein kongruentes Definitionssystem und einzelne Städte können unter verschiedenen Gesichtspunkten verschiedenen Typen zugeordnet werden, je nachdem welcher Aspekt bzw. welche Aspekte in den Fokus gerückt werden. Im Gegensatz dazu legt die quantitative Anordnung von Städtetypen nahe, dass es sich um ein abgeschlossenes, vollständiges und absolutes Kategoriensystem handelt. Ausnahmslos jede Stadt wäre damit einer der Kategorien zuzuordnen. Dabei ist diese Zuordnung keineswegs immer eindeutig, denn das Kategoriensystem erfordert eine Grenzziehung, die insbesondere bei Grenzfällen als willkürlich erscheinen muss. Das ist etwa der Fall, wenn eine Stadt (in Deutschland) mit 95.000 Einwohnern noch als Mittelstadt gilt, eine Stadt mit 100.000 Einwohnern aber bereits als Großstadt. Für administrative Zwecke mag das notwendig sein, unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten ist aber eine solche rein statistische Zuordnung mäßig aussage-

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kräftig. Auch angesichts der historischen Entwicklung können die Kategorien in ihrer Absolutheit in Frage gestellt werden. Die Fragwürdigkeit absoluter Zuordnungen angesichts historischer Entwicklungen erkannt, aber das Problem der Willkür nicht überwunden hat die gleitende Skala von Olbricht aus dem Jahr 1936. Nach dieser sollten Anfang des 17. Jahrhunderts Städte bereits ab 15.000 Einwohnern als Großstädte gelten, um 1790 Städte ab 20.000 Einwohnern, um 1840 ab 40.000 Einwohnern und schließlich um 1930 erst ab 100.000 Einwohnern (s. Pfeil 1972). Auch heute versucht man den historischen Verschiebungen von Größenverhältnissen gerecht zu werden. So erhöhten die Vereinten Nationen die Untergrenze für die quantitative Bestimmung von ‚Megastädten‘ von ehemals acht Millionen Einwohner_innen auf heute zehn Millionen (UNU/UNDIESA 1991, 6, so zit. in Gilbert 1996). Auch wenn die Sensibilität für historisch spezifische Verhältnisse prinzipiell zu befürworten ist, so wird dennoch die Willkür der Bestimmung deutlich. Zumal keine andere Begründung als die Verschiebung der Größenverhältnisse angegeben wird – d.h. der absoluten Zuordnungsverschiebung wird eine relationale Ursache zugrunde gelegt. Es ist also wichtig zu berücksichtigen, dass die Stadtgröße in verschiedener Hinsicht relational ist. Wenn nun eine Städtetypologie mit quantitativem Größenbezug sinnstiftend sein soll, dann – so die zweite implizite Annahme der quantitativen Typologie – muss die spezifische Größe eine qualitative Charakteristik mit sich bringen, die eine Kategorisierung auf der Grundlage dieses Merkmals zulässt. Die Kausalität zwischen Quantität und Qualität liegt also nicht im Verhältnis zu anderen Städten begründet, sondern zeichnet sich mit der Begrifflichkeit der Typologie annahmegemäß vor allem durch die ab einer bestimmten Größe charakteristischen Veränderungen aus. Aus dieser Überlegung lässt sich ableiten, dass für die Bestimmung eines größenbezogenen Stadttyps die Untersuchung stadtinterner Verhältnisse mindestens ebenso wichtig ist, wie die Abgrenzung gegenüber anderen, nicht gleichgroßen Städten. Um die Relevanz von Größe als Bestimmungsmerkmal von Städten einordnen zu können, bedarf es demnach zweier Klärungen: Zum einen geht es darum zu klären, was Größe überhaupt für ein Merkmal ist, welche deskriptiven Bezugspunkte also damit verbunden sind. Zum anderen geht es darum zu klären, woraus sich die soziologische oder sozialwissenschaftliche Sinnhaftigkeit einer solchen Kategorie ergibt, was also die veränderten sozialen bzw. gesellschaftlichen Qualitäten sind, die damit einhergehen (mögen).

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2.1 Aspekte der Größe Was also verbirgt sich hinter dem Bestimmungsmerkmal ‚Größe‘? Die Notwendigkeit einer Differenzierung unterschiedlicher Größenaspekte lässt sich schon anhand der alltagssprachlichen Verwendung des Begriffs deutlich machen: Größe kann einmal in einer sinnlich wahrnehmbaren physisch-materiellen Ausprägung gemeint sein und auf eine besondere Quantität hinweisen (beispielsweise eine große Anzahl Menschen, ein großes Gebäude, ein großer, d.h. groß gewachsener Mensch etc.). Andererseits kann Größe auch eine symbolische Bedeutung haben und auf die besondere Qualität von etwas oder jemandem hinweisen (beispielsweise eine große Schauspielerin, eine große Nation etc.). In manchen Fällen stehen Quantität und Qualität in keinem Bedingungsverhältnis (eine große Schauspielerin kann selbstredend bedeutend sein ohne eine besondere Körpergröße). In anderen Fällen wird die Qualität notwendigerweise an eine bestimmte Quantität gebunden sein (so wird eine Volkswirtschaft nicht ohne ein besonderes Ausmaß – evtl. nur in bestimmten Bereichen, also relativ – auch eine überragende Bedeutung erreichen). In jedem Fall kommt sowohl bei quantitativen als auch bei qualitativen Bestimmungen von Größe ein relationales Verhältnis zum Ausdruck: Groß – ob körperlich/physisch/materiell oder bedeutsam/funktional – kann etwas oder jemand immer nur im (expliziten oder impliziten) Vergleich zu etwas oder jemand anderem sein. Wir erhalten also zwei prinzipielle Aspekte von Größe – den der physisch-materiellen Größe (quantitative Bestimmung) und den der funktional-symbolischen Größe (qualitative Bestimmung). Für Städte lassen sich zu den physisch-materiellen Aspekten insbesondere die demographische Größe sowie morphologische Aspekte von Fläche und (Bau-)Masse zählen; zu den funktionalen Aspekten sind vor allem die ökonomische, politische und kulturelle Bedeutung der Stadt zu zählen – die allerdings nicht loszulösen sind von einer ihnen innewohnenden quantitativen Dimension. Physisch-materielle Aspekte der Größe stellen Beschreibungskategorien der beobachtbaren (sichtbaren) Dimensionen von Städten dar. Damit sind Zustandsbeschreibungen verbunden, welche einen deskriptiven Zugang zu den quantitativen Dimensionen einer Stadt zulassen. Gleichwohl sind damit nicht nur statistische Merkmale verbunden, sondern auch relationale Kategorisierungen, wie die obigen Ausführungen deutlich gemacht haben. Und schließlich gilt es die Dynamik aufzugreifen, der die Größe unterliegt, und zwar nicht nur als statistisches Datum, sondern auch als Reflexionsrahmen für Stadtforschung, für die eine

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einseitige Orientierung am Wachstumsparadigma von Stadtentwicklung charakteristisch ist.31 Als statistische Beschreibungskategorie sind mit der Größe insbesondere drei Bereiche angesprochen: Bevölkerungsanzahl, Ausdehnung und Fläche einer Stadt sowie Bebauungs- respektive Infrastrukturmasse. Aus diesen drei Bereichen ergibt sich automatisch ein vierter, welcher die vorherigen miteinander in Beziehung setzt: die (physisch-materielle) Dichte. Ausdehnung und Fläche stehen mit der Bevölkerungsanzahl im Zusammenhang über die Bevölkerungsdichte32. Bebauungsmasse und Fläche/Ausdehnung bestimmen sich im Verhältnis der Bebauungsdichte33 (bauliche Dichte) und dem statistischen Merkmal der Dispersion (Streuung). An und für sich sind diese Merkmale der Größe keine soziologischen Merkmale. Die Frage ist vielmehr, welche Bedeutung sie für soziologische Merkmale erlangen (können), bzw. aus welchen sozialen Prozessen heraus sie entstehen und mit welchen Bedeutungen die jeweiligen Größen belegt sind. Insofern ist mit der Beschreibung dieser statistischen Daten einerseits die Beschreibung dessen verbunden, welche Art der räumlichen Organisation gesellschaftlicher Konzentration zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Gesellschaft produziert (hat). Andererseits erlangen diese Daten nur dadurch soziologische Relevanz, indem verstehbar gemacht wird, wie sie wiederum auf die gesellschaftliche Organisation zurückwirken. Wie im vorigen Abschnitt erläutert, ist gerade dieses Verhältnis unklar. Auch die Dichte ist an und für sich eine inhaltsleere „Chiffre“, sofern sie als „Ausdruck für die Menge eines Stoffes, die Zahl von Körpern oder die Häufigkeit von Impulsen bezogen auf eine bestimmte Raum- oder Flächeneinheit“ 31 Kritik an der einseitigen Orientierung der Stadtforschung am Wachstumsparadigma ist insbesondere im Rahmen der Erforschung von Stadtschrumpfung geäußert worden (vgl. Grossmann 2007). 32 Auch: Einwohnerdichte, bei Erika Spiegel unterschieden in „Bevölkerungsdichte (Einwohner je qkm), Einwohnerdichte im engeren Sinn (Einwohner je ha), Wohndichte (Einwohner je ha Wohnbauland) und Belegungsdichte (Bewohner je Wohnung oder Wohnraum)“ (Spiegel 2000:41). Die Autorin betont auch die Notwendigkeit, zwischen Außen- und Innendichte zu unterscheiden. Diese könnten in sehr unterschiedlichen Verhältnissen zueinander stehen und dadurch die wohn- und städtebauliche Situation bestimmen (s. Spiegel 1993:79). 33 Die bauliche Dichte wird gemessen als „Baumasse je Raum- oder die bebaute Fläche je Flächeneinheit, Maße, die sich auch in der Baugesetzgebung […] niederschlagen“ (Spiegel 2000:41). Relevant sei dabei das Verhältnis zwischen bebauter und unbebauter Fläche, was aber als statistisches Maß noch keine Aussagen darüber zuließe, wie die unbebauten Flächen nutzbar sind und soziale Kontakte ermöglichen (ebd.).

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(Spiegel 2000:39) gilt.34 Allerdings gibt die Dichte auch wieder, welche räumliche Distanz (im Sinne geographischer Abstände, oder auch ökologische Distanz, bestimmt durch Zeit und Geld) zwischen Körpern besteht und wie umfänglich der Freiraum ist, „der den einzelnen Körper umgibt“ (ebd.). Unabhängig von den gesellschaftlichen Wirkungen, die der (städtischen baulichen) Dichte schon zugesprochen wurden35 - von Differenzierung bis hin zu gesellschaftlicher Anomie –, erfährt die Dichte auch als Relation zwischen Anzahl und Ausdehnung in Form der Interaktions- oder Kommunikationsdichte soziologische Relevanz. Schon für Durkheim war die materielle Dichte – bezeichnet als der wirkliche Abstand zwischen Menschen – ein Gradmesser und eine Voraussetzung für dynamische oder moralische Dichte, die wiederum in der Möglichkeit besteht, aufeinander einzuwirken.36 Welche Bedeutung dem absoluten Wert der Größe von Städten zukommt, ist allerdings eine ambivalent eingeschätzte Frage. Die These von der quantitativen Bestimmtheit sozialer Qualitäten (vgl. Simmel) liegt zwar der Größentypologie von Städten zugrunde, d.h. es wird davon ausgegangen, dass sich „[m]it der Größe [...] die Struktur [ändert], sie hat nicht nur einen relativen, sondern einen absoluten Wert. Wie in der gesamten Lebenswelt gibt es auch in den menschlichen Ballungen Stellen, wo Quantität umschlägt in Qualität.“ (Pfeil 1972:5) Dennoch ist auch klar, dass es sich hierbei nicht um universelle Werte handeln kann: „Gäbe es so etwas wie ‚die optimale Größe‘ von Städten, so könnten Großstädte sie nicht ungestraft überschreiten. […] Manchmal glaubte man, einen Wert gefunden zu haben. Er mußte bald revidiert werden. Ergebnis dieser Bemühungen ist schließlich, daß es optimale oder maximale Werte für den Umfang der Großstadt nur gibt α) bezüglich bestimmter 34 Siehe hierzu vor allem die transdisziplinäre Untersuchung unterschiedlicher Dichtekonstruktionen von Nikolai Roskamm (2011). 35 „Ökologische Fehlschlüsse“ im Sinne von „unzutreffenden Rückschlüssen von der baulich-räumlichen Beschaffenheit eines Gebietes auf das Sozialverhalten der in diesem Gebiet lebenden Bevölkerung“ (Spiegel 2000:40). 36 Es versteht sich, dass die materielle Dichte als Voraussetzung für dynamische Dichte in ihrer Bedeutung abnimmt mit der Vervielfältigung der Kommunikationsmöglichkeiten, welche face to face-Interaktion nicht mehr notwendig für Kommunikation machen, eine Einschränkung, die auch Durkheim bereits gesehen hat, was ihn dazu veranlasste, die Erreichbarkeit und nicht die Distanz zur Voraussetzung für soziale Beziehungen macht (vgl. Spiegel 2000:40). Diesen entscheidenden Schritt scheint die Sozialökologie der Chicagoer Schule nicht mitzugehen, wenn sie Distanz als zentrale Kategorie setzt (vgl. McKenzie [1926] 1974).

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Fragestellungen, β) für bestimmte Entwicklungsstufen, γ) in bestimmten Kulturkreisen, δ) bei bestimmten technischen Voraussetzungen.[…] Anders gesagt: Die Größe einer Stadt unterliegt so vielen und schwer definierbaren Bedingungen, daß man diese zwar beschreiben, aber nicht allgemein verbal oder numerisch feststellen kann.“ (Mackensen 1995:181)

Die Veränderlichkeit der Dimensionalität weist auf einen weiteren Aspekt hin, den der Dynamik. Zwar sind absolute Werte von Bedeutung, aber die Richtung (Wachstum oder Schrumpfung) und die Geschwindigkeit (von stagnierend bis hin zu rasant), mit der sich diese Werte verändern – und damit auch die Relationen zwischen absoluten Werten –, spielen eine entscheidende Rolle. Dabei geht es im Kontext von Stadtentwicklung nicht nur darum, wie auf die Veränderungen etwa von Seiten der Stadtpolitik reagiert werden kann, sondern auch um den Sachverhalt, dass diese Veränderungen die Stabilität einer Ordnung in Frage oder doch vor neue Herausforderungen stellen. Sowohl für die Dynamik als auch die absolute statistische Größe stellt sich also die Frage, ob diese allgemein festgestellt werden können. Insoweit sind Beschreibungen zwar notwendig, geben aber nicht automatisch Aufschluss über die Bedeutungen, welche die beschriebenen Phänomene haben. Immaterielle Aspekte von Größe lassen sich als funktionale Bedeutungszuweisungen und symbolische Zuschreibungen verstehen, worunter der zweite Aspekt von Größe verstanden wird. Zwar steht die ökonomische, politische und kulturelle Bedeutsamkeit großer Städte in keinem strikt-kausalen Verhältnis zu ihrer Größe, dennoch gilt „[i]m allgemeinen […] der Satz, daß – innerhalb einer Zeitepoche – bestimmte Aufgaben an bestimmte Stadtgrößen gebunden sind. Mit der Größe wachsen Komplexheit und Multifunktionalität“ (Pfeil 1972:6). Die Funktionalität bringt dabei also zum einen die Bedeutsamkeit einer Stadt innerhalb eines bestimmten Städtenetzwerks, auf einer bestimmten Skalenebene (lokal, regional, national, global) oder für einen bestimmten gesellschaftlichen Bereich zum Ausdruck.37 Zum anderen ist mit der Größe auch funktionale Ausdifferenzierung verbunden, worin ein struktureller Aspekt zum Ausdruck 37 Der Inbegriff des funktionalen Größentyps ist der Begriff der Metropole. Ursprünglich bedeutet Metropole Mutterstadt und steht historisch für eine „kultische, religiöse oder politische Zentrale“ und „Orte der Macht, der Zentralgewalt“ (Häußermann 2000:75). Erst in der Moderne sei der Begriff, so Häußermann, kulturell und symbolisch aufgeladen worden als Modell, Leitbild und Orientierung mit gesellschaftlicher Vorbildfunktion. Metropolen seien damit „Bilder, die von außen an Städte herangetragen werden, […] Zuschreibungen“ (ebd.). Im Gegensatz dazu dient der Begriff in der wirtschaftsgeographischen Deutung zur „Klassifizierung von sehr großen Städten“ (ebd.:67).

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kommt: Mit wachsender Größe bilden sich komplexere und multifunktionale Strukturen aus, die nicht in Relation zu anderen Städten, sondern in Bezug auf eine Stadt beschrieben werden können. Die Bedeutung, die der Größe und der Funktionalität von Städten zukommt, ist gleichwohl immer eine Bedeutungszuordnung, womit auch diskursive Momente verbunden sind. Dabei stehen die Größe von Städten und ihre Bedeutung im Kontext von Wachstum als Paradigma: „I speculate that the political and economic essence of virtually any given locality, in the present American context, is growth. I further argue that the desire for growth provides the key operative motivation toward consensus for members of politically mobilized elites, however split they might be on other issues […]. The clearest indication of success at growth is a constantly rising urban-area population […]. The city is, for those who count, a growth machine.“ (Molotch 1976:309f.)

Funktionale Bedeutungszuordnungen gelten also sowohl im Hinblick auf den Vergleich unter Städten, als auch im Hinblick auf die Ausdifferenzierung interner Stadtstrukturen. Unklar bleibt aber wieder, in welchem Verhältnis Bedeutungszuordnungen als immaterielle Aspekte auf der einen Seite, und statistische Angaben, Relationen und Dynamiken als materielle Aspekte von Größe auf der anderen Seite zueinander stehen. Festzuhalten bleibt: Die Größe von Städten hat sowohl physisch-materielle Aspekte als auch funktionale und symbolische Aspekte. Vordergründig fallen unter erstere die statistischen Bevölkerungs- und Flächenausdehnungsangaben, womit spezifische Angaben zu Bevölkerungs- und Bebauungsdichten einhergehen. Als statistisches Maß erhält die Größenangabe aber nur ihren Sinn bei der Feststellung, in welchem Verhältnis die absolute Dimension einer Stadt im Verhältnis zu der einer anderen Stadt steht. Insofern ist die Dimension sowohl eine absolute Angabe, als auch ein relativer Wert. Dieser Wert verändert sich schon allein deshalb immer wieder, weil die Größe von Städten nicht statisch, sondern dynamisch ist (zu- und abnimmt). Funktionale Gesichtspunkte sind insgesamt deutlich zentraler für die Stadtforschung – und obschon ein Zusammenhang mit der Größe besteht, wird für die typologische Zuordnung von Städten eben nicht die Größe, sondern die spezifische Funktion in den Vordergrund gestellt.38 Für sich genommen scheint Stadtgröße keine Aussage zuzulassen. Dennoch werden der Größe strukturelle und symbolische Bedeutungen zugeschrieben. In der Soziologie lassen sich einige 38 Das wird besonders deutlich in der Forschung zu Global Cities und Metropolen, wo die Größe zwar ein relevanter, aber kein ausschlaggebender Bezugspunkt ist, s. hierzu auch Kapitel A.1.1.

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klassische Ansätze und empirische Forschungsansätze mit der Frage nach diesem Zusammenhang in Verbindung bringen, die im Folgenden auf ihren Aussagegehalt zur Relevanz von Stadtgröße überprüft werden. 2.2 Die große Stadt und die Stadtsoziologie „Die übliche Vorstellung verbindet nun mit dem Wort ‚Stadt‘ darüber hinaus rein quantitative Merkmale: sie ist eine große Ortschaft. Das Merkmal ist nicht an sich unpräzis. Es würde, soziologisch angesehen, bedeuten: eine Ortschaft, also eine Siedelung in dicht aneinandergrenzenden Häusern, welche eine so umfangreiche zusammenhängende Ansiedelung darstellen, daß die sonst dem Nachbarverband spezifische, persönliche gegenseitige Bekanntschaft der Einwohner miteinander fehlt. Dann wären nur ziemlich große Ortschaften Städte, und es hängt von den allgemeinen Kulturbedingungen ab, bei welcher Größe etwa dies Merkmal beginnt. […] Die Größe allein kann jedenfalls nicht entscheiden. (Weber 2000:1, Hvh. i. O.)

Es ist eine der ersten Fragen, die man sich in der Soziologie zu Städten überhaupt stellte: Was für ein Zusammenhang besteht zwischen den Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse im 19. Jahrhundert und der Herausbildung von großen Städten? Ganz allgemein warf der tief greifende Wandel in den europäischen Gesellschaften im Übergang zur industriell geprägten Moderne eine Vielzahl von Fragen auf. Der Weg von der agrarisch geprägten Feudalgesellschaft zur industriellen Klassengesellschaft war begleitet von einer regelrechten Revolution der Siedlungsstruktur hin zu einer Dominanz städtischer über die ländlichen Siedlungsformen.39 Die Städte erreichten bislang ungekannte Größenverhältnisse und waren nicht nur die Zentren von Wanderungsbewegungen und Industrialisierung, sondern standen auch im Fokus der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Veränderungen. Das vorangestellt Zitat von Max Weber aber zeigt auch, dass der Größe von Städten in der soziologischen Auseinandersetzung zwar eine Bedeutung zugeordnet wird, dass es sich dabei aber keinesfalls um ein hinreichendes soziologisches Bestimmungsmerkmal handeln kann. Denn erst im Zusammenspiel mit anderen Faktoren (hier: die „allgemeinen Kulturbedingungen“) entfaltet Größe eine Relevanz. Für sich genommen ist es eher ein deskriptives Unterscheidungsmerkmal. Neben den ersten soziologischen Auseinandersetzungen mit dem Phänomen entspann sich eine ganz allgemeine Debatte um die (zumeist als negativ benannten) Folgen der Verstädterung. Vor allem in Deutschland erstarkte ab der zwei39 Vgl. hierzu die Ausführungen zur Revolution der Städte bei Henri Lefebvre (1990 [1970]).

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ten Hälfte des 19. Jahrhunderts die konservative Großstadtkritik. Ihre Vertreter, allen voran Wilhelm Heinrich Riehl und Oswald Spengler, betrachteten das Wachstum der Städte als bedrohlich für das historisch gewachsene Gleichgewicht zwischen Stadt und Land. Der Kulturhistoriker Riehl entwickelte in seiner Naturgeschichte des Deutschen Volkes eine Perspektive auf die europäischen Großstädte, die diese zwar als ökonomisch durchaus produktiv einstuft. Ein „gesundes Gedeihen“ der Gesellschaft aber in sozialer und kultureller Hinsicht sei aber mit dem übermäßigen Wachstum nicht zu haben (Riehl 1939 [1853]:110f.). Riehl benennt generelle Entwicklungstendenzen, die mit dem „unharmonischen“ Wachstum der Städte einhergehen: Kosmopolitismus und Klassengesellschaft bilden den Hintergrund für das, was aus seiner Sicht einer auf sittlich-moralischen Werten basierenden bürgerlichen Gesellschaft entgegensteht. Riehl kann als Vorreiter der konservativen Großstadtkritik gesehen werden, auf den damit eine lange Tradition zurückzuführen ist (vgl. Häußermann & Siebel 2004:26). Unterstützt wurde dieses Dekadenzverständnis der großen Städte Anfang des 20. Jahrhunderts von der Beobachtung, dass die allgemeinen Veränderungen mit einem Rückgang der Geburtenraten einhergingen. Diese Tatsache verleitete Oswald Spengler zu der Annahme, dass die großen Städte die Zentren des „Untergangs des Abendlandes“ darstellen würden, dass „[d]er Steinkoloß ‚Weltstadt‘ […] am Ende des Lebenslaufes einer jeden großen Kultur“ stehe und dass „die Riesenstadt“ das Land aussauge – „immer neue Ströme von Menschen fordernd und verschlingend“ (Spengler 1918-22, Bd. 2, S. 117 ff, so zit. in (ebd.:27). Hieran wird offensichtlich, dass die Auseinandersetzung mit den damals entstehenden Großstädten eine stark wertende Ausrichtung hatte. Um eine Analyse der sich verändernden Verhältnisse handelte es sich noch nicht. Diesen Anspruch haben dagegen die ersten soziologischen Arbeiten, die sich mit den großen Städten befassten. Versucht man, die Erkenntnisse der klassischen soziologischen Ansätzen zu dieser Frage für heutige Stadtforschung heranzuziehen, kann es nicht darum gehen, die konkreten Inhalte der Analyse moderner („westlicher“) Großstädte zu übertragen. So können die konkreten Ausformungen politischer und sozialer Organisation in Städten wie etwa die rationale Verwaltung, der Kosmopolitismus oder die Anonymität, wie sie von Theoretikern wie Georg Simmel, Ferdinand Tönnies oder Max Weber als großstädtisch herausgestellt wurden, nicht problemlos auf heutige und schon gar nicht auf außereuropäische Städte automatisch übertragen werden. Es handelt sich dabei um gesellschafts- und zeitspezifische, mitunter sogar stadtspezifische (z.B. Berlin, Chicago) Erkenntnisse. Wobei uns aber die Auseinandersetzung mit diesen klassischen Analysen helfen kann ist das Herausarbeiten von Ebenen, auf denen eine Relevanz der Größendimen-

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sion verortet wird. Insgesamt lassen sich die Arbeiten von soziologischen Klassikern auf drei Thesen zur Relevanz von Größe zuspitzen, wie im Folgenden gezeigt wird: Städte weisen größenrelevante Differenzen im Hinblick auf strukturelle Differenzierung auf (a); Städte weisen größenrelevante Differenzen im Hinblick auf die soziale und politische Organisation auf (b); sowie Städte weisen größenrelevante Differenzen im Hinblick auf die Herausbildung einer spezifischen ‚Stadtkultur‘ im Sinne von soziokulturellen Besonderheiten auf. Eine als gesamtstädtisch identifizierbare städtische Lebensweise äußert sich genauso in Einstellungen und Wahrnehmungen wie in Interaktions- und Beziehungsformen (c). a) Strukturelle Differenzierung Im Jahr 1893 erscheint eine der ersten genuin soziologischen Arbeiten zu der Frage, welche Veränderungen der Herausbildung der modernen Gesellschaft zugrunde liegen. In seiner Dissertation Über die Teilung der sozialen Arbeit unterscheidet Emile Durkheim zwischen der „mechanischen Solidarität“ archaischer Gesellschaften und der „organischen Solidarität“ moderner Gesellschaften. Die mechanische Solidarität beruht für Durkheim auf der prinzipiellen Gleichheit der Gesellschaftsmitglieder; es kommt zu einer segmentären Differenzierung, die das Überschreiten einer kritischen Größe nicht erlaubt. Dagegen stellt er die organische Solidarität moderner Gesellschaften in Zusammenhang mit funktionaler Differenzierung, die aus der allmählichen Verdichtung der Gesellschaft resultiere. Die Herausbildung von Städten sei mit einer zunehmenden Anzahl an Menschen, die in engem Kontakt miteinander stehen, verbunden. Die quantitative Zunahme bei verstärkter Dichte führe zu einer Zunahme der Konkurrenz in der Gesellschaft, insbesondere in den Städten. Diese Konkurrenz erfordere immer weitere Arbeitsteilung, wobei der Begriff sowohl soziale als auch ökonomische Differenzierung umfasst.40 Für Durkheim sind die Herausbildung der organischen Solidarität und die funktionale Differenzierung nun maßgeblich mit der Entstehung der (großen) Städte verknüpft: „Die Arbeitsteilung schreitet also um so mehr fort, als es mehr Menschen gibt, die einander irgendwie nahestehen, um aufeinander wirken zu können. Wenn wir übereinkommen, diese Annäherung und diesen aktiven Verkehr, der daraus entsteht, dynamische oder moralische Dichte zu nennen, dann können wir sagen, daß der Fortschritt der Arbeitstei40 Damit unterscheidet sich Durkheims Analyse maßgeblich von rein ökonomischen Erläuterungen der Arbeitsteilung, indem nicht die quantitative Auswirkung der Produktivitätssteigerung sondern die qualitativ-strukturelle Bedeutung für die Gesellschaft untersucht wird.

66 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT lung in direkter Beziehung zur moralischen oder dynamischen Dichte der Gesellschaft steht. Aber diese moralische Annäherung kann ihre Wirkung nur haben, wenn der wirkliche Abstand zwischen den Individuen immer geringer geworden ist, auf welche Art das auch geschehen mag. Die moralische Dichte kann also nicht stärker werden, ohne daß die materielle Dichte nicht zur selben Zeit größer wird, und diese dient dazu, um jene zu messen. […] Solange die soziale Organisation wesentlich segmentär ist, gibt es keine Stadt. […] In einer Stadt können die verschiedensten Berufe nebeneinander leben, ohne sich gegenseitig schädigen zu müssen, denn sie verfolgen verschiedene Ziele. […] Genauso ist es auch mit den Funktionen selbst, wenn sie weniger weit auseinander liegen.“ (Durkheim 1977:297ff)

Für Durkheim besteht also ein elementarer Zusammenhang zwischen der materiellen Verdichtung, die mit der Verstädterung einhergeht, und einer Verdichtung der sozialen Beziehungen (vgl. Schroer & Wilde 2012:63). Das Wachstum der Städte ist dabei aber nicht der Grund für, sondern Ausdruck „des Bedürfnisses, das die Individuen haben, ständig untereinander in so engem wie möglichen Kontakt zu bleiben“ (Durkheim 1977:298). Die durch die zunehmende Nähe verstärkte Konkurrenz bewirke die Arbeitsteilung bzw. funktionale und soziale Differenzierung – auch hier wird also nicht die städtische Umgebung, sondern das damit einhergehende soziale Phänomen als Grund für die gesellschaftliche Veränderung benannt. Gleichwohl bestehe ein kausaler Zusammenhang zwischen den quantitativen Phänomenen der Verstädterung und Verdichtung und dem sozialen Wandel von der segmentären zur modernen Gesellschaft.41 So wie hier bei Durkheim ist ein Großteil der frühen soziologischen Analysen nicht von einem genuinen Interesse an den Städten selbst gekennzeichnet. Vielmehr haben sie die moderne Gesellschaft zum Gegenstand – die Stadt ist aber „Versinnbildlichung modernen Lebens“ (Schroer & Wilde 2012:59). Zum eigentlichen Forschungsgegenstand wird die Stadt, zumindest im deutschsprachigen Raum, erstmalig mit dem aus der Dresdener Städteausstellung von 1903 hervorgehenden Sammelband „Die Großstadt“. Hier wird gefragt, welche Bedeutung den Großstädten in der allgemeinen Kulturentwicklung zukommt, worin ihr eigentliches Wesen besteht, woraus sich ihr überraschendes Wachstum erklärt sowie welche Bedeutung den Großstädten in Zukunft für die materielle und kulturelle Entwicklung zukommen wird und wie sie eingerichtet sein müssen, um diese Aufgabe erfüllen zu können (vgl. Pfeil 1972:57ff). In diesem Band erscheint auch ein Text, auf den sich die Stadtsoziologie als einen ihrer Gründungstexte beruft: Georg Simmels Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben lässt den Forschungsgegenstand einer Stadtsoziologie erkennen und sucht aus 41 Zur Kausalität bei Durkheim siehe Durkheim 1984.

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soziologischer Sicht zu analysieren, was das Spezifische an einer großstädtischen Lebensweise im Gegensatz zu der in Kleinstädten ist. Der Aufsatz und die Auseinandersetzungen Georg Simmels mit diesen Fragen lassen alle drei hier unterschiedenen Analyseebenen der Großstadt erkennen, Differenzierung ebenso wie soziale und politische Organisation, und sie sind sicherlich hochgradig bekannt dafür eine Perspektive darauf zu erlauben, was unter „Stadtkultur“ und städtischen Lebensweisen zu verstehen sein kann. In punkto Differenzierung weist Simmel darauf hin, dass Arbeitsteilung und Spezialisierung in den Großstädten ein Höchstmaß erreichen, was er als eines der bedeutendsten Charakteristika der Städte erachtet (Simmel 1993:201). Dennoch sieht er darin nicht das Grundproblem, das vielmehr darin besteht, dass sich die Individuen einer übermäßigen Entwicklung der „objektiven Kultur“ im Verhältnis zu ihrer subjektiven Entwicklung gegenübersehen. Es sei die „Schwierigkeit, in den Dimensionen des großstädtischen Lebens die eigene Persönlichkeit zur Geltung zu bringen“ (ebd.: 202), die daraus resultiere. Simmel interessiert sich denn auch weniger für die Seite der Produktionsstrukturen, sondern vielmehr dafür, wie sich die starke Arbeitsteilung auf die Verhaltensweisen der Menschen auswirkt. Die Spezialisierung und der Kampf um nicht ausgeschöpfte Erwerbsquellen „drängt auf Differenzierung, Verfeinerung, Bereicherung der Bedürfnisse des Publikums“ (ebd.). Die Konsequenz daraus ist eine qualitative Ausdifferenzierung der Verhaltensweisen im Sinne „spezifisch großstädtische[r] Extravaganzen des Apartseins, der Kaprice, des Pretiösentums“ (ebd.) – und damit eine gänzlich andere Form der Differenzierung auf individueller Ebene. Ebenso wie Simmel lässt sich die wohl einflussreichste Definition von Stadt auf alle der drei hier unterschiedenen Analyseebenen beziehen. Sie entstammt der ersten Strömung genuin stadtsoziologischer Theoriebildung, der sozialökologischen Forschung der Chicago School.42 Schon in den Gründungstexten der Chicagoer Stadtsoziologie – die nicht zuletzt maßgeblich von der Simmelschen Soziologie geprägt war – finden sich definitorische Ansätze von Robert E. Park, Ernest W. Burgess und Roderick M. McKenzie. Sie nehmen allerdings stärker Bezug auf die Stadtentwicklung und die dynamischen sozialräumlichen Prozesse innerhalb städtischer Siedlungsräume. Eine einschlägige Allgemeindefinition von Stadt, die einen Anspruch von Universalität suggeriert, lieferte Parks Schüler, Louis Wirth. Er formulierte die so bestechend einfache Formel entlang der Kriterien Größe, Dichte und Heterogenität, die sich schon in den vorherigen Ansätzen abzeichnete: „Für soziologische Zwecke kann die Stadt definiert wer42 Die Sozialökologie untersucht die Beziehung zwischen der Verteilung von Menschen und Ressourcen einerseits und den daraus resultierenden sozialen und kulturellen Mustern (Skogan 1977:35).

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den als eine relativ große, dicht besiedelte und dauerhafte Niederlassung gesellschaftlich heterogener Individuen.“ (Wirth 1974:48) Eine Theorie des Städtischen (urbanism) könne im Anschluss an dieses Allgemeinverständnis anhand des Wissens, „das uns über gesellschaftliche Gruppen zu Gebote steht“ (ebd., Hvh. JH) formuliert werden. Damit fügt Wirth der allgemeinen Definition eine Präzisierung bei, die eigentlich deutlich macht, dass es eben keine universelle und immer gültige Theorie des Städtischen geben kann. Sie wird sowohl historisch spezifisch als auch – das lässt sich hier hinzufügen – gesellschaftsspezifisch sein. Dennoch geht Wirth davon aus, dass es nicht nur möglich sondern auch Aufgabe der Soziologie ist, eine Theorie des Städtischen zu formulieren und also typische Muster relativ großer, dauerhafter, dicht besiedelter, von heterogenen Individuen und Gruppen bewohnten Siedlungen zu identifizieren. Die Größe der Stadt ist dabei relativ bestimmt „im Verhältnis zu einer begrenzten Fläche oder zu großer Besiedlungsdichte“ (ebd.:50). Alle drei Definitionskriterien stehen in engem Zusammenhang miteinander; so geht mit zunehmender Größe auch eine zunehmende Heterogenität einher, schon allein wegen der „größere[n] Spannbreite individueller Varianten“ (ebd.). Die Stadtbewohner_innen selbst begegnen sich nur in stark segmentierten Rollen und nicht als Personen, d.h. unpersönliche, spezifische Sekundärbeziehungen sind das vorherrschende Muster sozialer Kontakte. Im Anschluss an Durkheim interpretiert Wirth den Zustand in den technologisierten Stadtgesellschaften als anomisch. Gleichzeitig, darauf weist das Definitionskriterium der Dichte hin, ist das städtische Leben von engen physischen Kontakten geprägt; Dichte wird hier also nicht als Intensivierung der sozialen Beziehungen verstanden und ist, um die Terminologie Durkheims zu verwenden, sowohl materiell als auch dynamisch. Der daraus resultierende Konkurrenzdruck um nutzbaren Raum führt nach Wirth letztlich zu einer Ausdifferenzierung der Funktionen verschiedener Stadtteile und dazu, dass „die Stadt […] mehr und mehr einem Mosaik sozialer Welten gleicht und die Übergänge von einer in die andere sich sehr abrupt vollziehen.“ (ebd.:55) Auch Wirth entwickelt seine Theorie des Städtischen im Kontext seiner Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Moderne, deren Kennzeichen die Herausbildung der Großstädte für ihn ist. Man erkennt deutlich den Einfluss von Simmel und Durkheim neben dem der ersten Generation der Chicagoer Stadtsoziologen. Insgesamt kann die Wirth ʼsche Konzeption von Stadt und städtischer Lebensweise trotz ihrer Allgemeinheit und Abstraktheit der traditionellen Interpretation von Großstadt zugeordnet werden. Sie gilt als der Ort der modernen Gesellschaft schlechthin, wo disperse soziale Beziehungen vorherrschen und gemeinsame Werte und Normen als Grundlage von solidarischer Gemeinschaft

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fehlen bzw. die Vielfalt differenter Normen- und Wertegefüge vom Einzelnen eine hohe Rollenmobilität verlangt. Wirths Stadttheorie als Theorie von der spezifisch städtischen Lebensweise lässt sich in drei miteinander verwobene Ebenen unterteilen, innerhalb derer sich eine fast schon linear-kausale Argumentation ergibt: eine strukturelle, eine kognitive und eine Handlungsebene (s. hierzu Fischer 1972): Auf der strukturellen Ebene verortet Claude S. Fischer die drei Definitionskriterien von Stadt, wobei Größe als zentrale Variable gesehen werden kann, von der die beiden anderen in letzter Instanz immer abhängen. Diese drei strukturellen Bedingungen führen analog zur Simmelschen Argumentation auf der kognitiven Ebene zu einer Nervenreizung, was auf der Handlungsebene Selektionsmechanismen zur Folge habe. Die Konsequenz hieraus auf struktureller Ebene ist eine ausgeprägte Differenzierung, die für jeden Einzelnen auf kognitiver Ebene Persönlichkeitsdifferenzierung und auf der Handlungsebene die Anforderung von Rollenmobilität mit sich bringt. Differenzierung und rollenspezifisches miteinander in Beziehung-Treten führen auf struktureller Ebene zu einer rein formalen Integration. In den 1970er Jahren entwickelte Claude S. Fischer selbst eine eigene Stadttheorie, die er aus seiner Auseinandersetzung mit Durkheim, Simmel und Wirth sowie aus umfangreichen empirischen Forschungen erarbeitete (Fischer 1975, Fischer 1982). Die Grundannahme einer Spezifik des Städtischen teilt Fischer mit den klassischen Ansätzen, allerdings verortet er das Spezifische in der allgemeinen Tendenz, von den in der Gesamtgesellschaft geltenden Normen abzuweichen in Form von unkonventionellen Verhaltensweisen und Einstellungen. Devianz wird dabei aber nicht als Ausdruck von gesellschaftlicher Anomie gesehen, sondern geht einher mit der Herausbildung von Subkulturen, die in sich kohäsiv sind. Damit geht es auch nicht um individuelle Devianz, sondern um die Herausbildung einzelner Kollektive. Diese Spezifik lässt sich nach Fischer zwar zu einem Großteil aus nicht-ökologischen Faktoren wie individuellen Merkmalen (etwa Alter, Bildung) und der selektiven Migration in die Städte erklären. Aber diese Erklärung reiche nicht aus, zumal das Auftreten von Devianz in Städten unabhängig von kulturell und historisch spezifischen Bedingungen und Normen sei (Fischer 1975:1322). ‚Stadt‘ ist für Fischer zunächst allein über Bevölkerungskonzentration bestimmt (ebd.: 1323). Je städtischer ein Ort ist, also je mehr Bevölkerung an einem Ort konzentriert lebt, desto größer werde die Vielfalt an Subkulturen, d.h. an „set[s] of modal beliefs, values, norms, and customs associated with a relatively distinct social subsystem“ (ebd.:1323), sein: „The more urban a place, the greater its subcultural variety. In general, population concentration generates distinctive subcultures […] through at least two related, but inde-

70 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT pendently sufficient, processes: a) Population size encourages structural differentiation through the familiar process of ‚ dynamic density ‘ […]. As the forces of competition, comparative advantage, and associative selection produce distinguishable and internally elaborated subsystems, they thereby differentiate the cultures associated with those subsystems. The result is increased subcultural variation, particularly as evidenced among social class, occupational, life-cycle, and common interest groups. […] b) The second process by which urbanism generates subcultural variety involves migration. […] [A] large settlement will draw migrants from a greater variety of subcultures than will a small one.“ (ebd.:1324f, Hvh. i. O.)

Stadtgröße wirke sich also in mehrfacher Weise förderlich auf die Herausbildung von Subkulturen aus, zum einen über gesellschaftliche Differenzierung (Akzentuierung von Heterogenität) und zum anderen über selektive Migration (Fischer 1982:196).43 Hinzu kommt, dass sich die Größe der Stadt zuträglich auf die Intensität der Subkulturzugehörigkeit auswirke: Die kohäsive Wirkung von Subkulturen im Sinne bindender Einstellungen, Werte, Normen und Gewohnheiten sei umso intensiver, je größer die Stadt, denn in größeren Städten sei die Wahrscheinlichkeit des Erreichens einer „kritischen Masse“ für die Herausbildung von institutionalisierten subkulturellen Gefügen höher. Zudem steigere sich mit der Anzahl und Größe der Subkulturen die Konkurrenz unter ihnen, sodass intersubkulturelle Reibungen und in der Folge intrasubkulturelle Bindung zunehmen (Fischer 1975:1325f.). Die subkulturelle Theorie liefert auch Argumente gegen die These der Aufhebung des Stadt-Land-Unterschieds, der mit den zunehmenden Suburbanisierungsprozessen immer mehr Geltung zugesprochen wurde (so etwa bei Häußermann & Siebel 1978). Nach Fischer wird die Differenz mindestens mit Blick auf die Unterscheidung zwischen Konventionalität und Traditionalität immer bestehen, da die quantitative Dimension der Städte in Bezug auf die Bevölkerungskonzentration ein innovatives Milieu schaffe, innerhalb dessen Subkulturen und unkonventionelles, nicht traditionales Verhalten gefördert werden. Charakteristisch für Großstädte sei insofern auch nicht ein besonders starkes allgemein integratives Potential, sondern eine integrative Wirkung im Sinne einer Pluralität von Gemeinschaften, die nicht einstimmig, sondern vielstimmig seien:

43 Fischer (1982) untersucht seine Annahme, dass Großstadtbewohner häufiger und intensivere Mitgliedschaft in Subkulturen aufweisen, anhand der Zugehörigkeiten zu ethnischen, religiösen, berufsspezifischen und freizeitbezogenen Subkulturen. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung sind nicht immer signifikant, bestätigen aber dem Trend nach die Annahme.

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„[T]he large city is integrated neither by virtue of its citizensʼ sharing a common ‚social world‘ nor by the formal instruments of an anomic ‚mass society‘. How, then, is it integrated? To some extent, it is not; that is, value consensus is less likely to exist in larger than in smaller communities. Rather than unanimity, there is ‚multinimity‘ […].“ (Fischer 1975:1337)

Von den zuvor dargestellten klassischen Ansätzen unterscheidet sich Fischer in zweierlei Hinsicht, was uns im Hinblick auf die Frage nach der Bedeutung von Größe weitere Denkanstöße liefert: 1. Die besondere Bedeutung von Größe liegt für Fischer in der Ausdifferenzierung kollektiver Bezüge. Der städtische Kontext ist dabei der Ort, an dem sozialer Wandel in Bezug auf Werte und Normen stattfindet durch die Infragestellung konventioneller Lebensweisen von relevanten Gruppengrößen. Wir werden also sowohl auf eine Bedeutung von Stadtgröße auf individuelle Verhaltens- und Soziierungsweisen hingewiesen, als auch auf ihre Relevanz für die Herausbildung neuer Gemeinschaften. In Bezug auf letzteres lässt sich die Frage anschließen, ob diese Tendenz möglicherweise der These Durkheims von der ‚Entsegmentarisierung‘ der Gesellschaft entgegenläuft. 2. Einen qualitativen Unterschied macht Fischer eigentlich nur zwischen Stadt und Nicht-Stadt; steigende Größe der Bevölkerungskonzentration führt schlicht zur Intensivierung dieses grundsätzlichen Phänomens, nicht aber zu einer erneuten qualitativen Veränderung. Es bleibt also die Frage, wie stark die Bedeutung des Kontextes wirklich ist, und ob dessen Veränderung im Zuge von Bevölkerungswachstum und zunehmender Verdichtung nicht wiederum zu einem qualitativen Umschlag sozialer Verhältnisse führen kann?44 b) Soziale und politische Organisation Bereits bei der Thematisierung struktureller sozialer Differenzierung hat sich angedeutet, dass diese veränderte Formen sozialer und politischer Organisation notwendig macht bzw. damit einhergeht. Unabhängig von der Frage der Differenzierung ist eine der wegweisenden soziologischen Analysen der gesellschaftlichen Verhältnisse und Umbrüche der Zeit das Jugend- und Hauptwerk Ferdi44 In Zusammenhang mit Punkt 1 ließe sich hier die These formulieren, dass zwar für Großstädte das gilt, was Fischer formuliert hat (eine Wechselbeziehung zwischen einzelnen Kollektiven und deren abweichenden Wertegefügen einerseits und gesellschaftlichen Normvorstellungen andererseits), dass mit steigender Größe aber diese Beziehung in eine Re-Segmentarisierung übergeht. Das würde bedeuten, dass Gruppierungen nicht mehr nach inhaltlichen Kriterien entstehen, sondern lokal gebundene Gruppenbildungen stattfinden, die den Austausch eher verhindern und so zu einer Auflösung eines sozialen Gesamtzusammenhangs führen.

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nand Tönnies‘ von 1887, in dem er seine Theorie der Entwicklung von der Gemeinschaft zur Gesellschaft darlegt. Die Hauptthese von Tönnies ist, dass ein Wandel der Ordnung des Zusammenlebens im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft stattfindet (Tönnies 2005). Dieser Wandel betrifft sowohl die soziale als auch die politische und moralische Ordnung (ebd.:44ff). Für die soziale Ordnung sei dabei wesentlich, dass diese immer „gewollt“ sei. In der Gemeinschaft findet dieses Wollen seinen Ausdruck im „Wesenwillen“, der sich in einem auf Übereinstimmung, Sitten und Religion beruhenden sozialen Leben äußert, dessen Grundeinheit die Familie ist (ebd.:215f). In der Gesellschaft bestimmt Tönnies dagegen den „Kürwillen“ als Grundlage der sozialen Verhältnisse, der ein instrumentales, zweckorientiertes, der Ratio untergeordnetes Verhältnis zur Welt zum Ausdruck bringt. Das soziale Leben beruht darin auf Konventionen und politischer Gesetzgebung bzw. institutionalisierten Formen der Sicherung der Verhältnisse (ebd.). Dementsprechend fußt die politische Ordnung der Gemeinschaft auf einem von Sitte und göttlichem Willen geprägten Gemeinwesen, während die der Gesellschaft in konventioneller Ordnung und staatlicher Durchsetzung gründet. Im Hinblick auf die moralische Ordnung ist die Gemeinschaft geprägt von religiösen Vorstellungen und dem „Familiengeist“, während die in der Gesellschaft dominierende Instanz für die moralische Ordnung die öffentliche Meinung darstellt (ebd.). Die Großstadt nun ist für Tönnies der zentrale Ort, an dem sich dieser Wandel vollzieht. Während das Haus, das Dorf und die Stadt (Polis) die „äußeren Gestaltungen des Zusammenlebens“ (ebd.:211) in der Gemeinschaft darstellen, sei die Großstadt der Ort, an dem sich vereinzelte Personen und Familien gegenüberstehen, die mehr zufällig als bewusst gewollt am gleichen Ort wohnten. Die großstädtische Gesellschaft wird als maßgeblich von sozialen Antagonismen geprägt gesehen, die durch Verträge reguliert werden: „Vielmehr werden durch diese zahlreichen äußeren Beziehungen, Kontrakte und kontraktlichen Verhältnisse ebenso viele innere Feindseligkeiten und antagonistische Interessen nur überdeckt, zumal jener berufene Gegensatz der Reichen oder der herrschaftlichen Klasse, und der Armen oder der dienstbaren Klasse, welche einander zu hemmen und zu verderben trachten; ein Gegensatz, der […] die ‚Stadt‘ zu einer doppelten, und zwar in ihrem Körper selber gespaltene, eben dadurch aber (nach unserem Begriffe) zu einer Großstadt macht; der sich aber in jedem Massenverhältnis zwischen Kapital und Arbeit reproduziert. […] Die Großstadt ist typisch für die Gesellschaft schlechthin.“ (ebd.:211f, Hvh. i. O.)

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Diese Analysen zeigen die historisch spezifischen Veränderungen im Zuge der Herausbildung der modernen Großstadt auf. Dass mit der quantitativen Zunahme auch ganz generell Veränderungen des Sozialen einhergehen können, hat Georg Simmel zu zeigen vermocht. Insbesondere in seinen Ausführungen zur quantitativen Bestimmtheit der Gruppe macht Simmel deutlich, dass die jeweilige Quantität sich in einer spezifischen Qualität niederschlägt: „Man wird von vornherein und aus den alltäglichen Erfahrungen heraus zugeben, daß eine Gruppe von einem gewissen Umfang an zu ihrer Erhaltung und Förderung Maßregeln, Formen und Organe ausbilden muß, deren sie vorher nicht bedarf; und daß andrerseits engere Kreise Qualitäten und Wechselwirkungen aufweisen, die bei ihrer numerischen Erweiterung unvermeidlich verloren gehen. Eine doppelte Bedeutsamkeit kommt der quantitativen Bestimmtheit zu: die negative, daß gewisse Formungen, die aus den inhaltlichen oder sonstigen Lebensbedingungen heraus erforderlich oder möglich sind, sich eben nur diesseits oder jenseits einer numerischen Grenze der Elemente verwirklichen können; die positive, daß andere direkt durch bestimmte rein quantitative Modifikationen der Gruppe gefordert werden.“ (Simmel 1992:63)

Dabei hebt Simmel hervor, dass es vor allem persönliche Beziehungen sind, die kleineren Kreisen eigen und für große Kreise nicht aufrechtzuerhalten sind. Die sich stattdessen herausbildenden formalen Elemente (Ämter, Organisationen etc.) sind als alternative, überpersönliche Formen der Gestaltung des Zusammenlebens zu sehen: „Man kann überhaupt die Bildungen, die dem großen Kreise als solchem eigentümlich sind, zum wesentlichen Teil daraus erklären, daß er sich mit ihnen einen Ersatz für den personalen und unmittelbaren Zusammenhalt schafft, der kleineren Kreisen eigen ist. Es handelt sich für ihn um Instanzen, die die Wechselwirkungen der Elemente durch sich hindurchleiten und vermitteln und so als selbständige Träger der gesellschaftlichen Einheit wirken, nachdem diese sich nicht mehr als Beziehung von Person zu Person herstellt. Zu diesem Zwecke erwachsen Ämter und Vertreter, Gesetze und Symbole des Gruppenlebens, Organisationen und soziale Allgemeinbegriffe. […] [S]ie alle bilden sich der Hauptsache nach nur in großen Kreisen rein und reif aus, als die abstrakte Form des Gruppenzusammenhangs, dessen konkrete bei einer gewissen Ausdehnung nicht mehr bestehen kann: ihre in tausend soziale Qualitäten verzweigte Zweckmäßigkeit ruht im letzten Grunde auf numerischen Voraussetzungen. Der Charakter des Überpersönlichen und Objektiven, mit dem solche Verkörperungen der Gruppenkräfte dem Einzelnen gegenübertreten, entstammt gerade der Vielheit der irgendwie wirksamen individuellen Elemente.“ (ebd.:55f.)

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Mit zunehmender Zahl ist also sowohl ein produktives Moment der Herausbildung neuer Organisationsformen als auch der Verlust enger Bindungen verbunden. Wie schon bei Durkheim ist aber auch hier nicht die Zahl selbst ursächlich, sondern die willentliche Gestaltung („Erhaltung und Förderung“) des Gruppenzusammenhangs bzw. die „inhaltlichen oder sonstigen Lebensbedingungen“, wenn auch gekoppelt als „numerische Voraussetzungen“. Bei Louis Wirth wird vielmehr das Zusammenspiel von Größe, Dichte und Heterogenität als ausschlaggebend für die veränderte Organisationsform des Sozialen ausgemacht. Heterogenität, räumliche Abgrenzungen und Konkurrenzverhältnisse werden durch formale Kontrollmechanismen reguliert, die im Gegensatz zur Solidarität von Gemeinschaften stehen (Wirth 1938:11). Diese formalen Kontrollmechanismen angesichts der Anzahl und Differenzierung individueller Anliegen in großen Städten sind an Machtfragen gekoppelt; sie bedeuten auch die Unterwerfung der Individuen unter eine symbolische, stereotype und von den Kräfteverhältnissen zwischen den Interessengruppen abhängige Organisation: „Since for most group purposes it is impossible in the city to appeal individually to the large number of discrete and differentiated individuals, and since it is only through the organizations to which men belong that their interests and resources can be enlisted for a collective cause, it may be inferred that social control in the city should typically proceed through formally organized groups. It follows, too, that the masses of men in the city are subject to manipulation by symbols and stereotypes managed by individuals working from afar or operating invisibly behind the scenes through their control of the instruments of communication. Self-government either in the economic, the political, or the cultural realm is under these circumstances reduced to a mere figure of speech or, at best, is subject to the unstable equilibrium of pressure groups.“ (ebd.:23)

Auch bei Wirth findet sich die Unterscheidung in Gemeinschaft und Gesellschaft (vgl. hierzu Vortkamp 2003): Er analysiert sie als unterschiedliche Muster der Aufrechterhaltung kollektiver Handlungsfähigkeit. Gemeinschaft stellt dabei einen traditionellen, symbiotischen Zusammenhang zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft selbst her. Der gesellschaftliche Zusammenhalt hängt dagegen von der konsensuellen Bezugnahme auf abstrakte Prinzipien ab – schon allein aufgrund der quantitativen Ausdehnung und internen Differenzierung. Die formale Integration städtischer Gesellschaften wird dementsprechend in direkten Zusammenhang mit der quantitativen Zunahme (Größe), der dynamischen und materiellen Dichte, sowie der damit einhergehenden Heterogenität im Sinne einer verstärkten sozialen Differenzierung gestellt. Die bei vorrangig formaler

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Integration vorherrschenden Sekundärkontakte zeichnen sich durch Unpersönlichkeit aus und können zu Isolation, Anomie, Entfremdung und Devianz führen.45 Eine rationale Verwaltung, die man als Bestandteil einer solchen formalen Kontrolle sehen könnte, gilt gleichwohl nicht erst mit der modernen Großstadt als Charakteristikum – vielmehr hat Weber dargestellt, dass sich die mittelalterliche Stadt bereits durch eine solche Selbstverwaltung auszeichnete.46 Aber auch bei Weber gibt es Verweise darauf, dass die Größe (der Stadt, des politischen Verbandes) eine Auswirkung auf die Struktur der Verwaltung hat, etwa, wenn er bemerkt, dass die Parteiorganisation sich in Großstädten, anders als andernorts, durch das Beamtenwesen auszeichnet (Weber 2002:848). Hartmut Häußermann zeigt in seiner Auseinandersetzung mit der Bedeutung „lokaler Politik“, dass Anfang des 20. Jahrhunderts eher die rückläufige politische Eigenständigkeit beklagt wurde, die mit der Eingliederung der Großstädte in nationalstaatliche Rahmen einhergegangen war. Damit würde der Gemeinschaftscharakter des lokalen politischen Verbandes aufgelöst – und sowohl individuell als auch politisch und ökonomisch überführt in überlokale Bezüge (Häußermann 1991:36f.). c) ‚Stadtkultur‘ Als theoretischer Ausgangspunkt für die soziologische Frage nach einer explizit (groß-)städtischen Kultur bzw. Lebensweise schließlich kann sicherlich Georg Simmel gelten.47 Für ihn steht, wie bereits angedeutet, ein Grundgedanke im 45 Hier ist ein nicht unbedeutender Unterschied zwischen Wirth und Simmel zu bemerken: Während bei Simmel die spezifisch städtischen Handlungsformen ausdrücklich nicht als Dissoziierung bezeichnet werden findet sich bei Wirth die Annahme, dass die differenzierte, auf sekundären Kontakten beruhende Gesellschaft einen anomischen Zustand erreicht. 46 Auch Max Weber gilt als wichtige klassische Referenz für die Auseinandersetzung mit Städten und in seiner Stadtstudie berücksichtigt auch er den Einfluss von Stadtgröße, was in dem diesem Kapitel vorangestellten Zitat zum Ausdruck kommt. Darin befasst er sich allerdings mit „Struktur und Dynamik der Stadt des europäischen Mittelalters“ im Rahmen seines Interesses an der „Genese des okzidentalen Rationalismus“ (s. Kemper 2012:33f.), was sich kaum mit den hier besprochenen Ansätzen und ihrem Erklärungspotential moderner Großstädte aus soziologischer Sicht in Verbindung bringen lässt. 47 Simmel hatte, so wird der stadtsoziologischen Vereinnahmung dieses Textes gerne entgegnet, keine Stadtsoziologie im Sinn: Seine Analyse ist, ähnlich den Arbeiten von Tönnies und Durkheim, primär im Kontext seiner Auseinandersetzung mit den Konsequenzen des Wandels der modernen Gesellschaften zu verorten.

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Vordergrund, nämlich das sich den Individuen stellende Problem des modernen Lebens, ihre Individualität gegenüber den dominanten gesellschaftlichen Kräften zu wahren. Die Großstadt selbst bringe dabei einerseits die psychologische Grundlage dieses modernen Lebens durch eine „Steigerung des Nervenlebens“, und andererseits die spezifischen Verhaltensformen des Individuums gegenüber diesem modernen Leben hervor: „Verstandesherrschaft“, „Blasiertheit“, „Reserviertheit“ und „Extravaganz“. Im Gegensatz zu den gemütsbezogenen Kleinstadtbewohner_innen entwickle der/die Großstadtbewohner_in die Herrschaft des Verstandes als Schutzmechanismus gegen die Entwurzelung angesichts einer dominanten „objektiven Kultur“. Damit gehe die rechnerische Exaktheit des praktischen modernen Lebens einher, symbolisiert durch die Taschenuhr und das Geld. Auch die Blasiertheit in Form einer nivellierenden Abstumpfung gegenüber den vielfältigen Unterschieden in der Großstadt unterscheide Groß- und Kleinstadtbewohner_innen. Die reservierte Haltung untereinander zur Wahrung sozialer Distanz und eine extravagante Steigerung und Ausdifferenzierung der Bedürfnisse, ermöglicht durch die mit der Arbeitsteilung einhergehende Spezialisierung, werden von Simmel als weitere Kennzeichen der Großstadtbewohner_innen genannt. Neben diesen das Sozialverhalten charakterisierenden Dimensionen des Großstadtlebens sieht er aber auch strukturelle Veränderungen mit wachsender Größe und Dichte einhergehen. Als spezifisch großstädtische Qualität identifiziert Simmel den Kosmopolitismus, insofern als die Lebenssphäre der Großstadt nicht innerhalb ihrer Grenzen endet, sondern durch nationale und internationale Verknüpfungen über ihre Grenzen hinaus geht: „[S]o besteht auch eine Stadt erst aus der Gesamtheit der über ihre Unmittelbarkeit hinausreichenden Wirkungen. Dies erst ist ihr wirklicher Umfang, in dem sich ihr Sein ausspricht.“ (Simmel 1993:201) Die Größe einer Stadt wird also insgesamt nicht quantitativ, sondern qualitativ bestimmt über das Kosmopolitische und die veränderten Beziehungsformen der Stadtbewohner_innen als Folge der Steigerung des Nervenlebens. Simmels Großstadtsoziologie resultiert aus seinen eigenen Beobachtungen und Erfahrungen im Berlin der Wende zum 20. Jahrhundert und ist geprägt von der Sicht des städtischen Bildungsbürgertums, dem Simmel angehörte. Er entwirft ein Bild der großstädtischen bürgerlichen Gesellschaft, das eine soziale Gleichheit evoziert und in dem die Lebenswirklichkeit der städtischen Arbeiter_innen nicht vorkommt. Darin spiegelt sich auch sein allgemeines Gesellschaftsbild von einem dicht gewebten Netz statt von einem hierarchischen Gebilde (Frisby 1984:24f.). Insbesondere die Freiheit zur Individualisierung ist stark an die Möglichkeiten gebunden, diesen nachzugehen. Insofern trifft Simmels Soziologie des Großstadtlebens sicher nur in Teilen auf die damalige städti-

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sche Gesellschaft zu. Allerdings liefert sein Begriff der Grenzziehungen einen fruchtbaren Ansatz, um auch innerstädtische Formen der Grenzziehungen zu analysieren. Dadurch würde die Stadt nicht nur als inklusive Einheit und Form verstehbar, die als solche mit anderen gesellschaftlichen Formen in Wechselwirkung zu treten vermag, sondern auch als komplexes, in sich differenziertes gesellschaftliches Gebilde. Tönnies, Durkheim, Simmel und Wirth bzw. die Chicago School gelten als die klassischen Vertreter der frühen Soziologie, die sich mit der Frage auseinandergesetzt haben, wie sich die gesellschaftlichen Strukturen mit der Herausbildung von Großstädten verändern. Während bei Tönnies und Durkheim Stadt nur der Ort ist, an dem die von ihnen untersuchten Veränderungen vorrangig ablaufen, finden sich bei Simmel bereits explizit stadtbezogene Überlegungen. Mit der Chicago School schließlich findet gar eine Verallgemeinerung der Analyse städtischer Lebensweise aufgrund ihrer Dominanz über andere Lebensweisen statt. Aus dieser Perspektive genügt die Untersuchung städtischer Lebensweisen, um zu einem Verständnis der modernen Gesellschaft zu gelangen.48 Die Wirthsche Definition von Urbanität bzw. urbanism als städtischer Lebensweise weicht dabei inhaltlich nicht von den bisher besprochenen Ansätzen ab: unpersönliche, selektive (sekundäre) Beziehungsformen bei hoher Rollenmobilität gelten als grundlegende Handlungsbezüge einer großstädtischen Lebensweise.49 48 Diese Verabsolutierung ist schon allein deshalb schwierig, weil damit die Notwendigkeit von vergleichendem Arbeiten gar nicht in Betracht gezogen wird. Davon auszugehen, die Analyse städtischer Lebensweisen liefere ein Verständnis „not only of urban civilization but of contemporary society as a whole“ macht die Untersuchung anderer Lebensweisen unnötig, zumal die Annahme gilt, dass „the urban mode of life is not confined to cities“ (so zitiert in Vortkamp 2003:25). Dennoch geht aus Wirths Stadttheorie die Unterscheidung zwischen ländlich-ruraler und städtisch-urbaner Bevölkerung hervor. Er plädiert für eine aus soziologischer Sicht „klare Vorstellung von der Stadt als sozialer Wesenheit“ (Gusmano & Rodwin 2002:64). 49 Die Diskussion um eine großstädtische Lebensweise ließe sich hier problemlos ausweiten auf die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Urbanität. Hier wäre etwa in der deutschsprachigen Literatur Edgar Salin anzuführen, der darunter „eine Form politischer Involviertheit in einem geistigen Klima von Toleranz und Indifferenz den anderen gegenüber“ (Dirksmeier 2009:23) versteht. Auch Hans-Paul Bahrdt mit seiner Rückbeziehung von Urbanität auf die Ausdifferenzierung von Privatheit und Öffentlichkeit in der modernen Großstadt wäre hier anzuführen. Da es hier aber lediglich um die Darstellung der Ansätze geht, die dabei einen direkten Zusammenhang mit der Stadtgröße etablieren sei hier darauf verzichtet. Bei Salin etwa finde sich diesbezüglich eher eine gegenteilige Annahme wenn er davon ausgeht, dass Urbanität „immer

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Ob der Zusammenhang zwischen Größe, Dichte und Heterogenität von Städten als Voraussetzung und Bedingung von städtischen Lebensweisen als einem spezifisch (groß-)städtischen Gesellschaftsmodus aufrechterhalten werden kann, war in der US-amerikanischen Soziologie Gegenstand vielfältiger Untersuchungen und Debatten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wandelten sich die Lebensräume nordamerikanischer und europäischer Städte im Rahmen von Suburbanisierungsprozessen zum Teil sehr deutlich. In Gegenposition zu Wirth und unter Verweis auf diese Veränderungen entwickelt Herbert Gans 1962 seine Argumentation gegen einen soziologischen Begriff der Urbanität als städtischer Lebensform (Gans 1974)). Die von unpersönlichen Sekundärkontakten geprägte urbane Lebensform, wie sie von Wirth analysiert wurde, sieht Gans lediglich auf die Durchgangsgebiete der Innenstadt beschränkt. Sie resultiere dort nicht so sehr aus den ökologischen50 Faktoren der Größe und Dichte, sondern aus einer durch hohe Wohnmobilität verursachten Instabilität, wodurch sich die Interaktionen auf segmentäre Rollen beschränkten.51 Auch die dort entstehende Heterogenität sei eine Folge der häufigen Wohnungswechsel. Im Gegensatz dazu herrschten in der Vorstadt „quasi-primäre“ Beziehungsformen vor. Aus der Gegenüberstellung von städtischen und suburbanen Siedlungsformen und aus der Beobachtung heraus, dass sich in der Innenstadt ganz verschiedene Bevölkerungsgruppen mit differenten Lebensweisen unterscheiden lassen, folgert Gans, dass es nicht die Siedlungsformen seien, welche die Lebensweisen bedingen. Im Gegenteil: Einer bestimmten Wohnform gehe eine bestimmte Lebensweise voraus, und zwar mindestens als beabsichtigtes Ziel eines Wohnortswechsels. Dementsprechend betrachtet Herbert Gans die Begriffe „urban“ und „suburban“ als unzulänglich für ein soziologisches Verständnis der in verschiedenen Siedlungsformen bestehenden Unterschiede der Lebensweisen. Für ein solches Verständnis seien dagegen eine Vielzahl an Charakteristika relevant, allen voran eine Zeit der Wenigen“ sei, die nicht zu haben sei im „Zeitalter der Massen“ (Salin 1970:874). 50 (Sozial-)Ökologische Begriffe sind solche „welche die Anpassung des Menschen an seine Umgebung beschreiben“ (Gans 1974:80) und aus denen sich für Gans gesellschaftliche Phänomene nicht erklären lassen. Gans ist insofern in seiner Gegenposition zur sozialökologischen Tradition zuzustimmen, da es dabei nicht um eine unidirektionale Beziehung zwischen gesellschaftlichen Phänomenen und ihrer „Umgebung“ gehen kann, sondern sich gesellschaftliche Verhältnisse gerade aus dem Wechselverhältnis zwischen sozialen und räumlichen Formen begreifen lassen. Allerdings ist das ein Kritikpunkt, der genauso gegen Gans verwendet werden kann (s.u.). 51 Ökologische Kontextwirkungen spielen nach Gans allerdings eine Rolle bei erzwungener Immobilität.

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„die Gesellschaftsschicht – mit all ihren ökonomischen, sozialen und kulturellen Begleiterscheinungen – und die Lebenszyklus-Phase“ (ebd.:81). Insofern als es gerade nicht die siedlungstypischen Merkmale von ‚Stadt‘ seien, die eine besondere Lebensweise hervorrufen, ist für Gans eine soziologische Definition von ‚Stadt‘ nicht möglich.52 Neben der klassischen Theorie großstädtischer Lebensweisen als geprägt von der Auflösung interpersonaler primärer Bindungen und der eines normativen Konsenses, sowie der Gegenposition von Gans, lässt sich Claude S. Fischer als dritte Position anführen. Seine umfangreichen empirischen Studien in den 1970er und 1980er Jahren in den USA ließen ihn, wie schon unter der Analyseebene der strukturellen Differenzierung angeführt, die subkulturelle Theorie der Stadt entwickeln. Neben struktureller Differenzierung ist damit vor allem auch die Perspektive auf spezifisch städtische (urbane) Lebensweisen verbunden, die aber weder deckungsgleich mit der Wirthʼschen bzw. der Position der Chicagoer Schule, noch mit der von Gans zu sehen ist. Eines der Grundmerkmale dieser städtischen Lebensweise ist der hohe Grad an Unkonventionalität. Nach Fischer steigt dieser mit der wachsenden Bevölkerungskonzentration. Ein Grund dafür liege in der größeren Anzahl und Unterscheidungskraft der Subkulturen, wodurch vermehrt deviantes Verhalten53 auftrete. Ein weiterer liege darin, dass Großstädte die kritische Masse bereitstellten, die Subkulturen zu ihrer Herausbildung benötigten und die zu den die subkulturelle Intensität steigernden Reibungen führe. Außerdem gilt für Fischer: „With size comes ‚community‘ – even if it is a community of thieves, counterculture experimenters, avant-garde intellectuals, or other unconventional persons“ (Fischer 1975:1328–1329). Man könnte also mit Fischer schlussfolgern, je größer eine Stadt ist, desto mehr subkulturell abweichende Individuen leben in ihr und desto unkonventioneller ist auch das Verständnis ‚normalen Verhaltens‘, weil subkulturelle Einstellungen und Werte diffundieren und den Bereich der Norm und Konvention verändern, verschieben oder ausweiten: 52 Diese Schlussfolgerung ist zu kurz gedacht: Der Begriff ‚Stadt‘ in seiner soziologischen Definition muss ja nicht nur auf ökologische Faktoren zurückgeführt werden, um dann in der Folge besondere Lebensweisen nur in Zusammenhang mit diesen zu stellen. Siedlungsformen gehen schließlich aus gesellschaftlicher Interaktion hervor und sind eben nicht nur bestimmt durch ihre physische Struktur, sondern maßgeblich durch das soziale Handeln, das diese Struktur hervorbringt und welches die Struktur selbst bedingt. Eine soziologische Definition von Stadt müsste also genau diese Wechselwirkung berücksichtigen. 53 Deviantes Verhalten wird hier als von der Norm abweichendes Verhalten definiert, wobei damit keine normative ‚Richtung‘ des Abweichens schon impliziert ist.

80 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT „The larger the town, the more likely it is to contain, in meaningful numbers and unity, drug addicts, radicals, intellectuals, ‚swingers,‘ health-food faddists, or whatever; and the more likely they are to influence (as well as offend) the conventional center of society.“ (ebd.:1329)

Seit den 1960er Jahren wurden in den USA eine Vielzahl empirischer Studien durchgeführt, die sich mit den verschiedenen Thesen hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Stadtgröße und ihren potentiellen soziologischen Wirkungen auseinandersetzten. Die Suche nach statistischen Korrelationen brachte mehrdeutige Ergebnisse zutage, was insgesamt dazu führte, dass sozialökologische Begründungen genauso wie die nicht-ökologische Gegenposition oder die subkulturelle Theorie Zuspruch erfuhren. Retrospektiv hat auch Fischer eine ernüchterte Bilanz gezogen, die den stadttheoretischen Gehalt seiner Analysen zumindest schwächt: „[S]ubcultural theory is largely about the ability of subculture members to communicate, to create ‚moral density‘ […], and it is not necessarily about cities per se.“ (ebd.:549, Hvh. i. O.) Gerade angesichts neuer Technologien sind die ortsunabhängigen Möglichkeiten zur Kommunikation und zur Schaffung dichter sozialer Beziehungen gestiegen und haben sich von dem (sozialökologischen) Faktor der Bevölkerungskonzentration bzw. Stadtgröße mindestens teilweise entkoppelt. Großstädtische Milieus scheinen zwar subkulturelle Institutionalisierung zu fördern, „but simultaneously undermine individualsʼ formal involvement in those subcultures, and yet still reinforce their social involvement in those subcultures.“ (ebd.:560, Hvh. i. O.) Eine quasi lineare Kausalkette, wie sie noch von Wirth aufgestellt wird im Kontext der Wirkung von Größe, Dichte und Heterogenität auf individuelles Verhalten und soziales Handeln, ist demnach nicht möglich. Die Zusammenhänge stellen sich als komplex und nicht immer eindeutig dar. Dennoch bietet die subkulturelle Theorie in den Augen von Fischer immer noch den fruchtbarsten Ansatz für die Auseinandersetzung mit Städten: „[…] [C]ity life largely encourages group-based, socialized unconventionality rather than individualistic unconventionality. […] [B]reakdown theory posits that all sorts of unconventional impulses are ‚released‘ in cities; subcultural theory argues that only socially constructed unconventionality emerges in cities. The fact that solitary deviance (such as mental disorder, homicides of passion) is not generally or consistently greater in larger places, but group deviance (such as organized crime, political dissent, and the cultural avantgarde) is, supports subcultural theory.“(ebd.:566)

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Neben Fischer haben sich viele weitere empirische Studien daran versucht, Korrelationen zwischen der Größe von Städten und den darin unterscheidbaren Lebensstilen zu bestimmen. Neben der Intensität sozialer Bindungen (Kasarda & Janowitz 1974; Pappi & Melbeck 1988; Wilson 1993) wurden insbesondere individuelle und kollektive Einstellung wie Vertrauen und Toleranzwerte untersucht (Fischer 1978; Fischer 1981; Abrahamson & Carter 1986; Tuch 1987; Tittle & Stafford 1992), aber auch politische Einstellungen und ziviles Engagement (Finifter & Abramson 1975; Oliver 2000). Auch in Deutschland wurde diese Frage in jüngerer Zeit wieder aufgegriffen und auf Milieu- und Lebensstilunterscheidungen hin untersucht (Baur & Otte 2008). Insgesamt ist aus den empirischen Studien zu folgern, dass weiterhin ein Zusammenhang zwischen großstädtischen Orten und Lebensstilen, Einstellungen und Verhaltensweisen besteht – und zwar unabhängig von der Frage, ob sich angesichts neuer Kommunikationstechnologien und anderer Diffusionsmechanismen die Lebensstile zwischen verschieden großen Städten bzw. zwischen Stadt und Land angleichen. Dennoch zeigen diese Studien auch, dass keine Isolierung des Einflussfaktors „Größe“ möglich ist und der Kausalzusammenhang offen bleiben muss, bzw. anderer Formen der Überprüfung oder theoretischen Reflexion bedarf. Denn die Ergebnisse sind zum Teil widersprüchlich und belegen damit, wie komplex die Zusammenhänge zwischen räumlichen und sozialen Verhältnissen sind.54 Keine eindeutige Korrelation zwischen Stadtgröße und Soziierungsformen erkennen etwa zwei Studien, die jeweils die Intensität sozialer Bindungen untersuchen: Sowohl Kasarda und Janowitz (1974) als auch Pappi und Melbeck (1988) kommen zu dem Ergebnis, dass die Zusammenhänge zwischen Beziehungsintensität und Stadtgröße ambivalent sind. Als ursächlich werden vielmehr Wohndauer, sozialer Status und Lebensphase ausgemacht. In allen anderen thematischen Bezügen der vorstehend tabellarisch dargestellten Untersuchungen zeigen sich zwar nicht immer eindeutige, aber doch deutliche Zusammenhänge zwischen Stadtgröße und sozialen Merkmalen. In Bezug auf Toleranzwerte im Zusammenhang mit bürgerlichen Rechten, Euthanasie, epileptischen Arbeitern und Alkoholprohibition erkennen etwa die 54 Die Vielzahl an empirischen Überprüfungen, die seither durchgeführt wurden, kann hier nicht detailliert dargestellt werden. Es werden lediglich einzelne Studien herausgegriffen, um exemplarisch zu zeigen, wie sich der Zusammenhang zwischen Größe und Qualität von Städten bzw. städtischen Lebensweisen darstellt. Gezeigt werden kann damit auch, dass die im Zeitverlauf immer wieder angestellten Untersuchungen dieser Form (die jüngste hier erwähnte wurde 2008 von Baur und Otte in Deutschland durchgeführt) zu immer wieder ähnlichen Ergebnissen geführt haben, die die theoretische Annahme einer zunehmenden Irrelevanz räumlicher Unterschiede widerlegen.

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Autoren Abrahamson und Carter (1986) eine statistische Korrelation mit Stadtgröße. Die These, dass Toleranzwerte lediglich von individuellen und sozioökonomischen Merkmalen abhängig seien, wird von den Autoren verworfen. Denn auch wenn Toleranzwerte insgesamt im Zeitverlauf zugenommen und damit Differenzen zwischen verschiedenen Orten abgenommen hätten, ließe sich trotzdem ein Zusammenhang zwischen Stadtgröße und toleranten Einstellungen belegen: „[…] [P]eoplesʼ willingness to let others do as they please increased over time. […] Specifically, residents of larger cities tend to display more tolerance (of every type) than residents of smaller cities and towns, though the most pronounced differences are between rural residents and all others.“ (Abrahamson & Carter 1986:290)

Viele Jahre später kommen auch Baur und Otte zu signifikanten Ergebnissen in ihrer Untersuchung von Lebensstildifferenzen nach Gemeindegröße und Region in Deutschland. Sie zeigen klar auf, dass sowohl die These von der Aufhebung des Stadt-Land-Unterschiedes als auch die von der räumlichen Indifferenz von Lebensstilen unzutreffend sind: „Trotz erheblicher Strukturveränderungen des ländlichen Raums in der Nachkriegszeit lässt sich nicht von nivellierten Stadt-Land-Differenzen der Lebensführung sprechen. Auch bei Konstanthaltung sozialstruktureller Drittvariablen zeichnen sich Großstadtbewohner durch größere Modernität und biographische Offenheit aus. Genauer gesagt bringt eine Konzentration von mehr als 500.000 Einwohnern einen qualitativen Sprung mit sich: In entsprechenden Städten – hier: Stuttgart, Köln, Düsseldorf, Bremen – finden sich hohe Anteile an Hedonisten, Reflexiven und Liberal Gehobenen. Personen mit derartiger Lebensführung sind nach Otte (2004) stark in städtische Szenen involviert, an Selbstverwirklichung interessiert und offen für Innovationen, fremde Kulturen und ‚Neue Politik‘. Gute Gründe sprechen also für die Annahme, dass unkonventionelles Verhalten und subkulturelle Bindungen im Sinne Fischers unter ihnen besonders verbreitet sind.“ (Baur & Otte 2008:113)

Allerdings schränken die beiden Autor_innen ihre Befunde im Hinblick auf den Kausalzusammenhang ein. Ob dabei die „räumlichen Gelegenheiten die Lebensführung beeinflussen“ oder vielmehr selektive Migration als Ursache für die Konzentration von Menschen mit bestimmten Einstellungen zu dem statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen Stadtgröße und Lebensführung führten, sei nicht abschließend zu klären, auch wenn es wahrscheinlich sei, dass „beide Prozesse relevant“ sind (ebd.:113). Insofern plädieren sie dafür, diese statistisch

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nachweisbaren Zusammenhänge, welche die Thesen von Fischer bestätigen, in neuere Debatten um die Relevanz von Raum bzw. der räumlichen Verfasstheit von Gesellschaft einzubeziehen (ebd.). Im Hinblick auf politische Einstellungen und ziviles Engagement zeigen die Studien von Finifter und Abramson (1975) sowie Oliver (2000), dass hierbei ein Zusammenhang mit der Stadtgröße zu erkennen ist. Dabei weisen sie auf den negativen Einfluss der Stadtgröße auf die untersuchten Dimensionen hin: „[…] [R]elatively small communities best promote civic attitudes“ (Finifter & Abramson 1975:197f.). Allerdings müssten sowohl die demographisch unterschiedliche Zusammensetzung wie auch die unterschiedlichen Charakteristika der Städte mehr Berücksichtigung finden; zudem sollten die Bedingungen, welche in kleineren Städten die „politische Kompetenz“ der Bewohner_innen fördern, untersucht werden – was nicht zuletzt darauf hinweist, dass die Größe eben nicht als kausal dafür betrachtet werden kann. Oliver (2000) zeigt in seiner quantitativen Studie zur politischen Partizipation in Abhängigkeit von der Stadtgröße (nach vier verschiedenen Stadtgrößen-Kategorien, kleiner als 5.000, 5-50.000, 50-250.000, 250.000-1 Mio.), dass die Stadtgröße eine stärkere Korrelation mit zivilem Engagement aufweist als individuelle Variablen wie Mieter/Hauseigner, Frauen/Männer, Verheiratete/Singles (nicht: Alter, Einkommen und Bildung). Die Tatsache, dass in den USA mit dem Prozess der Suburbanisierung eigentlich von einem Zuwachs an politischer Aktivität auszugehen wäre, tatsächlich aber politische Aktivität abnimmt, lasse sich wie folgt erklären: Suburbanisierung gehe einher mit einer starken Segregation, was zur Herausbildung sozial relativ homogener Einheiten führe. Schon in einer vorherigen Studie (Oliver 1999) habe sich gezeigt, dass politische Aktivität mit zunehmender sozialer Homogenität abnimmt. Die „ideale demokratische Stadt“ zeichne sich danach also nicht nur durch eine bestimmte Größe, sondern auch durch eine heterogene soziale Zusammensetzung aus: „[A]nalyses demonstrate at least two sources for the place size effect. First, people in larger communities are less likely to be mobilized for political activity, particularly by neighbors or acquaintances. The absence of mobilization stems partly from the character of social relations in larger places: As city size increases, people are less likely to know their neighbors and less likely to have social contacts that are geographically proximate (Fischer 1982). In this environment, local organizations and political movements find it hard to recruit members and disseminate information, which limits many opportunities for participation. Second, despite the greater visibility and stakes of local politics, people in larger places are less interested in local affairs. This may arise from a psychological re-

84 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT sponse to the complex urban environment, namely, withdrawal into a more privateregarding orientation.“ (Oliver 2000:370f.)

Die Skizzierung der Studien zeigt, dass diese größtenteils nur den statistischen Zusammenhang identifizieren, eine Erklärung für diesen aber vermeiden bzw. als unklar ausweisen. Das macht deutlich, wie wichtig eine theoretische Reflexion über die Relation zwischen räumlichen und sozialen Strukturen ist, was auch von Baur und Otte angemerkt wird. Zudem bleibt in den Studien die qualitative Erforschung der Erfahrungsdimension (groß-)städtischen Lebens aus, was es ermöglichen würde, die Bedeutung der strukturellen Faktoren (Größe, Dichte, Heterogenität) auf der individuellen Handlungsebene zu verstehen. Wilson (1991) drückt dieses Defizit der Stadtforschung folgendermaßen aus: „[P]ast research is inadequate to support claims of only a modest effect of urbanism on social psychological factors. Urbanism is a quality not only of communities (determined by population size), but also of persons’ experience (determined by persons’ exposure to life in populous communities […]). Urban experience is the theoretical means by which population size affects personality, promoting tolerance by enabling residents to ‚rub shoulders‘ with diverse others, and exposing them to the ‚juxtapositions of divergent personalities and modes of life‘ from which they learn to ‚live and let live‘ (Stouffer 1955; Wirth 1938; Milgram 1970). Furthermore, the effect of urban experience is expected to be enduring; […].“ (Wilson 1991:117)

Das bedeutet, dass die individuelle Erfahrung städtischer Kontexte ein wichtiges Moment ist für die Erklärung des Zusammenhangs zwischen räumlichen und sozialen Verhältnissen. Wie die Bewohner_innen von Städten ihre Umgebung erfahren und erleben, ist also eine zentrale Komponente, um zu erklären, wie bestimmte räumlich-strukturelle Kontextfaktoren (klassischerweise Größe, Dichte und Heterogenität) mit bestimmten sozialen Verhältnissen (Soziierungsformen, Einstellungen, Lebensstilen) einhergehen. 2.3 Thesen zur Relevanz von Stadtgröße Klassische – theoretische und empirische – soziologische Analysen zum Zusammenhang zwischen Stadtgröße und den städtischen Gesellschaften zugrunde liegenden Charakteristika weisen auf eine Reihe relevanter Fragen und Erklärungszusammenhänge hin:

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• Analysen zu den Veränderungen in modernen Großstädten im 19. Jahrhundert

untersuchen zwar gesellschaftliche Veränderungen, die durch ein enormes Stadtwachstum in jener Zeit gekennzeichnet waren, sind aber nicht los zu lösen vom gesamtgesellschaftlichen Wandel der Zeit. Der Wandel von der Gemeinschaft zur Gesellschaft (Tönnies) geht einher mit einer Spaltung der Städte nach klassenmäßigen Prinzipien und wirft die Frage auf, was trotz oder mit dieser Spaltung die städtischen Gesellschaften zusammenhält. Eine verstärkte Differenzierung (Durkheim) im Rahmen einer veränderten ökonomischen Grundordnung bedarf allerdings auch einer veränderten räumlichen Organisation der Gesellschaft; ihr Ausdruck sind gerade die großen Städte der Moderne, basierend auf kapitalistischer Arbeitsteilung. • Wenn die Herausbildung großer Städte auch als Konsequenz und Bedingung dieser Veränderungen zu sehen ist, so zeitigt diese Ausbildung neuer räumlicher Formen (Simmel) doch ihrerseits wiederum neue Formen des Sozialen: Über die materielle Dichte verstärken sich dynamische Dichte und Konkurrenz, die wiederum zu weiterer Ausdifferenzierung sozialer und ökonomischer Art führt (Durkheim). Sie bildet die Grundlage für die Interpretation Simmels, nach der die gesteigerte Intensität und Geschwindigkeit der Erfahrungsbestände zu neuen Interaktionsformen zwischen den Individuen führt. Diese These erfährt durch Fischers subkulturelle Theorie eine Abwandlung in der Form, dass nicht mehr individuelle Reaktionen (und andersartiges Verhalten) im Vordergrund stehen, sondern die Ausbildung neuer Gruppen und neuen gruppenbezogenen Verhaltens (und Einstellungen, Interessen, Werte). • Die Ausbildung von neuen Heterogenitätsstrukturen im Zusammenspiel mit (Bevölkerungs-)Größe und Dichte ist das ausschlaggebende Moment bei der Analyse von städtischen Gesellschaften. Dichte, Heterogenität und der Zusammenhang zwischen räumlicher und sozialer Organisation sind die Grundlage für die Untersuchung unterschiedlich großer Städte: Untersucht wird nicht Größe, sondern die mit der Größe einhergehenden Veränderungen räumlicher und sozialer Organisation. • Die Ambivalenzen bei den Untersuchungsergebnissen zur Erforschung der statistischen Relevanz von Stadtgröße zeigen, dass aber kein einfacher kausaler Zusammenhang (wie noch in der Wirthschen Kette zwischen strukturellen, kognitiven und handlungsbezogenen Effekten) zwischen Größe und qualitativen Veränderungen der sozialen Organisation des Lebens in Städten besteht. Darin wird deutlich, dass der Effekt nicht oder nur bedingt isolierbar ist. Insofern führen diese Ergebnisse zurück zu den Analysen von Wirth, der gerade das Zusammenspiel von Größe, Dichte und Heterogenität für

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ausschlaggebend erachtet. Komplexe Wechselwirkungen und nicht univariate Korrelationen sind also für die Untersuchung der Relevanz von Stadtgröße zu berücksichtigen. Darüber hinaus kann es für eine solche Untersuchung von Bedeutung sein, zwischen den unterschiedlichen Dimensionen des Begriffs der Größe zu unterscheiden. So ist Größe eben kein einfacher, absoluter Maßstab, mit dem ganz allgemein bestimmt werden könnte, welche gesellschaftlichen Strukturen mit welcher Stadtgröße einhergehen, sondern vor allem ein relationaler Maßstab, für den sowohl lokale, als auch regionale und globale Entwicklungen eine Rolle spielen. Die Frage, ab welcher Größe eine Stadt ‚groß‘ oder ‚mega‘ ist, ist also weit weniger bedeutsam als die Frage, welche Unterschiede zwischen Groß- und ‚Mega‘-Städten innerhalb spezifischer (regionaler, thematisch-funktionaler) Kontexte bestehen. • Wie städtische Kontexte erfahren werden kann dabei ein wichtiges Moment für die Erklärung des Zusammenhangs zwischen räumlich-strukturellen Kontextfaktoren wie Größe, Dichte und Heterogenität und bestimmten sozialen Verhältnissen (Soziierungsformen, Einstellungen, Lebensstilen) darstellen. Bezieht man die Thesen zur Relevanz von Stadtgröße aus der stadtsoziologischen Forschung zurück auf die Erkenntnisse, die sich aus der Megastadtforschung ergeben, so erhält man folgendes, im Tabellenüberblick dargestelltes und in den drei zentralen, der bisherigen Forschungsliteratur entnommenen Thesen verdichtetes Bild:

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Tabelle 1: Thesen zur Relevanz von Stadtgröße Thesen zur Relevanz von Größe 

Großstadtforschung55

Megastadtforschung

Strukturelle  Differenzie‐ rung 

Klassengesellschaft

Akzentuierte Polarisierung 

Arbeitsteilung

Heterogenität ‚formeller‘  und ‚informeller‘ Arbeit 

sozial 

Normen‐, Werte‐ und  Rollendifferenzierung  Individualisierung und  Spezialisierung  Subkulturen

Organisati‐ on 

Stadtkultur 

stadt‐räumlich 

Funktionale Ausdifferenzie‐ rung  Sozialräumliche Ausdiffe‐ renzierung („Mosaik“) 

Diskontinuitäten und Frag‐ mentierung  Diskontinuitäten und Frag‐ mentierung 

politisch 

Rationale Verwaltung

sozial 

Formale soziale Beziehun‐ gen  Anomie

Verlust an Steuer‐ und  Regierbarkeit  Selbstorganisation (‚Infor‐ malität‘)  Fehlende Kohäsion

gesamtstädtisch 

‚Urbanität‘

Devianz  Einstellungen &  Lebensstile 

Subkulturen Toleranz, Unkonventionali‐ tät 

Erfahrung &  Wahrnehmung 

Fragmentarisch56

Interaktions‐ und  Beziehungsfor‐ men 

Selektivität

Ubiquität städtischen Lebensweisen vs. Nebenei‐ nander von städtischen und  ländlichen Lebensweisen 

Wahrnehmung von Risiken,  Kriminalitätsangst 

Rollenmobilität Anonymität, Reserviertheit  (Simmel) 

55 Mit ‚Großstadtforschung‘ ist hier lediglich die Forschung zu europäisch-westlichen Großstädten abgedeckt. 56 Dieser Aspekt ist hier nicht behandelt worden, verweist aber auf die umfassende Debatte um die fragmentarische Großstadtwahrnehmung der Moderne, wie sie in Prosa und Lyrik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zum Ausdruck kommt (exemplarisch für die deutschsprachige Literatur in Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ oder Walter Benjamins „Berliner Kindheit um 1900“). Stellvertretend für die Debatte sei hier verwiesen auf Becker (1993), vgl. auch Eckardt (2009:7).

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Erstens: Städte weisen größenrelevante Differenzen im Hinblick auf strukturelle Differenzierung auf. Dabei lassen sich zwei Formen struktureller Differenzierung unterscheiden: • Sozial: Sozialstrukturell haben wir es bei der Großstadtforschung vor allem

mit der Analyse moderner Großstädte im Rahmen der Herausbildung einer industriellen Klassengesellschaft zu tun. Zentral für die Differenzierungsperspektive in der Großstadtforschung war zudem das Thema der (sozialen) Arbeitsteilung, der Normen, Werte- und Rollendifferenzierung, der Individualisierung und Spezialisierung sowie der Ausbildung von differenten Kollektiven im Sinne von Subkulturen. Analog dazu finden wir die Thematisierung von ‚Megastädten‘ als zentrale Orte einer akzentuierten sozialen Polarisierung der Gesellschaft, die nicht zuletzt mit der ungleichen Heterogenität ‚formeller‘ und ‚informeller‘ Arbeitsrealitäten zu tun hat. Keine analogen Analysen finden sich dagegen zu den Themen der Rollen-, Werte- und Normendifferenzierung sowie den anderen Aspekten einer soziokulturellen, strukturellen Differenzierung. • Stadt-räumlich: Die Großstadtforschung lässt eine Unterscheidung zwischen der Ausdifferenzierung funktionaler Stadträume und der einer sozialräumlichen Mosaikstruktur zu. In der Megastadtforschung findet dieses Thema besondere Beachtung in der Diskussion um Diskontinuitäten im Stadtraum und die physisch-räumliche ‚Fragmentierung‘ der Städte. Zweitens: Städte weisen größenrelevante Differenzen im Hinblick auf die soziale und politische Organisation auf. Hervorgehoben werden hierbei in der Großstadtforschung die besondere Bedeutung formaler sozialer Beziehungen als Reaktion auf die dichten, sekundären Interaktions- und Beziehungsformen – die auch in der Herausbildung anomischer Gesellschaftsverhältnisse resultieren können. Auch in politischer Hinsicht stellt sich eine veränderte formale Ordnung ein im Sinne einer rationalen Verwaltung. Die Thematik spielt in der Megastadtforschung wohl eine große Rolle, allerdings in inhaltlich gänzlich konträrer Weise: Politisch wird eher der Verlust an Steuer- und Regierbarkeit problematisiert, sozial ist es weniger das Formale denn das ‚Informelle‘, welches im Sinne von Selbstorganisation als prägend herausgestellt wird. Eine Analogie findet sich lediglich zur Anomie in der Weise, dass für ‚Megastädte‘ häufig zumindest von fehlender Kohäsion gesprochen wird. Drittens: Städte weisen größenrelevante Differenzen im Hinblick auf die Herausbildung einer spezifischen ‚Stadtkultur‘ bzw. (groß-)städtischer Lebensweisen im Sinne von soziokulturellen Besonderheiten auf. Eine als gesamtstäd-

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tisch identifizierbare städtische Lebensweise äußert sich genauso in Einstellungen und Wahrnehmungen wie in Interaktions- und Beziehungsformen. Dieser Aspekt findet viel Beachtung in der Großstadtforschung, zumal von der gesamtstädtischen ‚Urbanität‘ die Rede ist, die sich nicht zuletzt in den spezifisch (groß-)städtischen Interaktions- und Beziehungsformen der Selektivität, Rollenmobilität sowie Reserviertheit und Anonymität (u.a.) äußert. In Abgrenzung zu gesamtgesellschaftlichen Verhaltensweisen und Einstellungen ist von Devianz (im Sinne von Subkulturen) sowie von Toleranz und Unkonventionalität die Rede. Dazu kommt eine veränderte Wahrnehmung und Erfahrung von Stadt, die in der Moderne (und vor allem der modernen Stadtliteratur) vor allem als fragmentarisch beschrieben wird. Dieses Thema findet bislang kaum Berücksichtigung in der Literatur zu ‚Megastädten‘ mit Ausnahme der Erfahrungs- und Wahrnehmungsdimension, die aber vorrangig auf die Wahrnehmung von Risiken und auf Kriminalitätsangst beschränkt bleibt. Auch die Frage nach städtischen Lebensweisen spielt zwar eine Rolle, wird aber entweder unter der allgemeinen These der Ubiquität städtischer Lebensweisen (wobei die ‚Megastadt‘ dann als Indiz dafür herangezogen werden kann) subsumiert, oder interessanterweise auf die Verwobenheit von städtischen und ländlichen Lebensweisen (in den ‚Megastädten‘ des ‚globalen Südens‘) bezogen. Die Thesen, das deutet sich hier bereits an, verweisen in unterschiedlichem Ausmaß auf räumlich-gesellschaftliche Trennungen und Verbindungen, worauf in der Konzipierung von Städten als Untersuchungsgegenständen noch zurückzukommen sein wird. Resümierend lässt sich festhalten, dass die soziologischen Analysen des Zusammenhangs zwischen Stadtgröße und den damit einhergehenden qualitativen Veränderungen nahelegen, dass diese im Kontext gesamtgesellschaftlichen Wandels zu verstehen sind. Der Blick richtet sich auf mögliche neue Formen des Sozialen (Einstellungen, Beziehungs- und Interaktionsformen u.a.), die möglicherweise veränderte (städtische) Lebensweisen begründen, sowie neue oder neuartige Ungleichheits- und Heterogenitätsstrukturen sowie die Art und Weise, wie diese reguliert, kontrolliert oder geordnet werden. Die Größe ist kein kausaler Faktor – es geht um das Herausarbeiten komplexer Zusammenwirkungen von materiellen und sozialen Verhältnissen. Genau hier setzen raumtheoretische Ansätze an (s. Teil B). Eine vernachlässigte Dimension ist dabei die Perspektive der Erfahrung und Wahrnehmung von raumstrukturellen Faktoren wie der Größe, worüber die Bedeutung von Größe vermittelt werden kann. Hieraus lässt sich der Anspruch der vorliegenden Untersuchung ableiten, den Zusammenhang zwischen Größe und Qualität von Städten zum einen in einer raumtheoretischen Reflexion über den Gegenstand der Untersuchung – nämlich Städte – einzubetten. Zum anderen soll empirisch die Erfahrungsebene (groß-)

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städtischen Lebens berücksichtigt werden. Im Zusammenhang mit den einzelnen Themen aus der Forschungsliteratur zu ‚Megastädten‘ hat sich immer wieder gezeigt, dass die Wahrnehmung und Erfahrung von Risiken, Problemen und Möglichkeiten der Problembearbeitung eine entscheidende Rolle spielt. Ein Anstoß für die Untersuchung von Städten als ‚Erfahrungsräumen‘ ist z.B. in der These von der ‚Eigenlogik‘ der Städte zu finden (Löw 2011). Dort wird angenommen, dass Städte Erfahrungskontexte sind, die spezifisch lokale Besonderheiten ausbilden, und, dass diese Lokalspezifik eine allgemeingültige Wirkung entfaltet für soziale Praktiken in einer Stadt. Anders als bei der Eigenlogikthese soll es hier aber um die Erfassung differenter Erfahrungsbestände in den Städten gehen, um darin größenrelevante Bezüge herauszuarbeiten. Damit geht es nicht um die „spezifische[n] Wissensbestände […], die auf habitualisierter Erfahrung beruhen“ (ebd.:63), sondern darum, wie sich in den prinzipiell sehr ungleichen Erfahrungsbeständen (von dem/der Bewohner_in einer peripheren Armensiedlung bis hin zum/zur Bewohner_in eines zentral gelegenen, luxuriös ausgestatteten und bewachten Wohnkomplexes) Bezüge zur Größe der Stadt Wirksamkeit entfalten, zur Bewertungsgrundlage gemacht und damit alltagsrelevant werden. Wie sich die Frage nach den Unterschieden zwischen verschieden großen Städten im Hinblick auf die hiermit angesprochenen Verhältnissen von räumlichen und sozialen Strukturen methodologisch und theoretisch konzipieren lässt, wird im Folgenden erarbeitet.

B Städte als widersprüchliche Einheiten

Die Rede von Städtetypen suggeriert generell, dass Städte regelmäßig ähnliche Eigenschaften und Merkmale aufweisen, die sie systematisch zuordenbar machen. Um diese identifizieren zu können und von einzelstädtischen Spezifika zu unterscheiden, müssen Städte miteinander verglichen werden. Was aber heißt es, Städte miteinander zu vergleichen? Können Städte wirklich als Untersuchungsgegenstände begriffen werden, zumal als sozialwissenschaftliche, womit sie nicht nur als bauliche, infrastrukturelle ‚Einheiten‘ aufzufassen wären, sondern auch darüber hinaus als soziale Kategorien zu gelten hätten? Die Frage, ob es einen Typus der ‚Megastadt‘ gibt, wird bisher größtenteils über Fallstudien und internationale Vergleiche von Städten dieser Größenordnung bearbeitet.1 Dabei auftretende Ähnlichkeiten werden dann als ‚megastädtische Spezifika‘ gewertet. Tatsächlich sind Rückschlüsse auf die Größenspezifik des Typus bei einem solchen Vorgehen aber schlecht möglich, denn die „Reihe oft anzutreffender Gemeinsamkeiten“ wie „intensive Expansions-, Suburbanisierungs- und Verdichtungsprozesse, [...] [sowie] Entstehung polarisierter und fragmentierter Gesellschaften“ (Kraas & Nitschke 2006:19) könnte genauso gut allgemeinen, globalen Strukturzusammenhängen geschuldet sein. Nun variiert die Eingebundenheit der Städte in diese globalen (ökonomischen) Strukturzusammenhänge, sowohl zwischen Städten innerhalb desselben regionalen bzw. nationalen Städtenetzwerks als auch zwischen Städten unterschiedlicher Regionen. Lokal- und gesellschaftsspezifische Kontexte, innerhalb derer sich Städte formieren, beeinflussen städtische Strukturen maßgeblich. Größe zum Vergleichskriterium für die Untersuchung von Städten aus gänzlich verschiedenen 1

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Großteil der Literatur aus Sammelbänden und Zeitschriftenaufsätzen besteht, die vergleichsmethodologisch kaum fundiert sind. Antworten auf die Frage, was nun den suggerierten Typus ‚Megastadt‘ kennzeichnet, bleiben oberflächlich, zumal übergeordnete Aussagen aufgrund der Vergleichsdesigns nur schwer möglich sind.

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Entwicklungskontexten zu setzen würde dementsprechend bedeuten, dass man davon ausgeht, dass sich Größe in immer ähnlicher Weise in städtischen Strukturen niederschlägt – eine Annahme, die reichlich gewagt erscheint. Das bedeutet im Umkehrschluss aber auch nicht, dass prinzipiell keine allgemeinen strukturellen Charakteristika besonders großer Städte auffindbar sein könnten. Tatsächlich lässt sich die ‚Megastadt‘ ja zumindest als ein global zu beobachtendes Phänomen begreifen. Dennoch bedürfen die lokalen Besonderheiten größerer Aufmerksamkeit und die Benennung als ‚globaler Stadttypus‘ ist mit Vorsicht zu genießen. Im Anschluss an Janet Abu-Lughods (1975; 2007) Vergleichskonzept scheint ein zweistufiges Vorgehen angebracht: Die Frage, ob es einen solchen Typus Stadt gibt, beginnt dann auf der regionalen Ebene und mit der Suche nach jeweils auffindbaren spezifischen Differenzen zwischen Städten unterschiedlicher Größe. Erst im Anschluss könnte ein Vergleich der etwaigen regionalen Größenspezifik Aufschluss darüber geben, ob sich ‚Megastädte‘ kontextübergreifend in ähnlicher Weise von kleineren Städten unterscheiden und dementsprechend von einem übergreifenden Typus die Rede sein kann. Der globale Vergleich kann also nur einer von Relationen sein, nicht von ‚faktischen‘ Strukturen, was in der folgenden methodologischen Diskussion deutlich gemacht wird. Damit ist auch impliziert, dass ‚die Großstadt‘ nicht als weltweit mit ähnlichen Charakteristika gekennzeichneter Typus verstanden werden kann. Die Frage der Größenspezifik lautet also nicht, ob ‚Megastädte‘ (analog: Großstädte) überall gleich oder ähnlich sind und funktionieren (diese Frage scheint in der bisherigen Forschung immer verfolgt zu werden, indem sog. Megastädte miteinander verglichen werden), sondern ob sie sich (überall oder doch zumeist) in ähnlicher Weise von kleineren Städten unterscheiden. Zu klären bleibt dabei, welche Rolle relative Größenunterschiede spielen.2 Die vorliegende Untersuchung widmet sich dem ersten Schritt, also der Frage, ob sich regelmäßige Differenzen zwischen Großstädten und ‚Megastädten‘ auffinden lassen, und zwar innerhalb eines gemeinsamen kulturellen, politischen und sozialen Kontextes. Als gemeinsamer Entwicklungskontext wird hier die nationale Maßstabs-

2

Angesichts der Tatsache, dass bevölkerungsreiche Staaten meist eine ganze Reihe an Millionenstädten aufweisen, von denen aber nicht allen eine zentrale Rolle zukommt, und dass andererseits kleinere, bevölkerungsärmere Staaten mitunter eine sehr große und zentrale Stadt aufweisen, die sich deutlich sowohl demographisch als auch funktional innerhalb des nationalen Städtesystems abhebt, ist davon auszugehen, dass auch die Relationen innerhalb eines regionalen/nationalen Städtesystems eine Rolle spielen.

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ebene gewählt, da sie eine naheliegende Operationalisierung eines gesellschaftlichen (inklusive politischen) Stadtentwicklungsrahmens darstellt.3 Im Folgenden wird es um die methodologische und theoretische Einbettung dieser Frage gehen. Die Frage des Vergleichs steht dabei an erster Stelle (B.1), und damit geht die zentrale Überlegung einher, was eigentlich miteinander verglichen wird, wenn Städte zueinander in Relation gesetzt werden (B.2). Die Auseinandersetzung mit theoretischen Klärungen aus der Stadtforschung lässt sich vereinfachend in einer Gegenüberstellung von Heterogenisierungs- und Homogenisierungsansätzen wiedergeben – eine Dichotomie, die mit dem Verständnis von Städten als widersprüchlichen Einheiten überwunden werden soll. Wenn damit geklärt werden kann, was die Analyse von Städten anleitet, so schließt sich daran die Frage an, worauf sich die Stadtanalyse bezieht: Ausgehend von einer allgemeinen raumtheoretischen Reflexion über Städte als Untersuchungsgegenstand werden hier in Anlehnung an Henri Lefebvre4 drei theoretische Ebenen identifiziert: (i) die Ebene der konkreten Materialität, (ii) die Ebene der diskursiven und imaginativen Repräsentationen sowie (iii) die Ebene der städtischen Alltagspraxis. Der raumtheoretische Zugang zu Stadt und Stadtanalyse in Verbindung mit einem Verständnis von Städten als widersprüchliche Einheiten wird im vorgelegten Ansatz zusammengeführt im Begriff der ‚Fragmentierung‘. In der Stadtforschung – zumal in der Forschung zu den heute größten Städten – wird dieser Begriff als empirisches Phänomen geführt, ein Blick in die Begriffsgeschichte erlaubt es aber, ‚Fragmentierung‘ als heuristisches und erkenntnisleitendes Konzept wiederzugewinnen. ‚Fragmentierung‘ ist zuvorderst ein Prozess, nicht ein Zustand: und er verweist in Bezug auf Stadt auf den (beständigen) Wandel städtischer Strukturen. Dabei entstehen nicht nur neue Tren3

Als gemeinsamer Entwicklungskontext sind zwar verschiedene Ebenen denkbar, denn sowohl auf subnationaler als auch auf supranationaler Ebene lassen sich regionale Kontexte unterscheiden. Dennoch stellt der nationale Rahmen einen starken regulativen und imaginativen Kontext dar, der in Bezug auf Städte zwischen lokalen Besonderheiten und globalen Strukturen auch vermittelt.

4

Unterschiede zur Raumtheorie Lefebvres (1996, 2001) ergeben sich daraus, dass es sich in gewisser Weise um eine Anwendung der analytischen Perspektive Lefebvres auf einen spezifischen gesellschaftlichen Raum – den der Stadt – handelt. Diese Konkretisierung unterscheidet sich schon allein deshalb von den allgemeinen Bestimmungsgrößen und deren Verhältnis zueinander in der ‚Produktion des gesellschaftlichen/sozialen Raumes‘, weil damit ein relativ klar umgrenzter Ort verbunden ist. Da sich diese Arbeit weder mit Raumtheorie noch mit Stadttheorie im Allgemeinen auseinandersetzt, wird hier auf eine ausführliche Diskussion zugunsten einer zielgerichteten Umsetzung verzichtet.

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nungen, sondern auch neue Verbindungen, die zum Gegenstand einer Untersuchung gemacht werden können. Im Rückbezug dieser theoretischen Ebenen auf die Themen der ‚Megastadtforschung‘ lassen sich drei Untersuchungsdimensionen unterscheiden (B.3), die stadt-räumliche Konfiguration, die politischplanerische Konzipierung und die alltagspraktische Herstellung der Städte, die jeweils auf Trennungen und Verbindung im Sinne von Fragmentierungsprozessen untersucht werden sollen. Darüber kann herausgearbeitet werden, wie sich in den in materieller, diskursiver, imaginativer und alltagspraktischer Weise hergestellten Verbindungen und Trennungen größenrelevante Unterscheidungen zwischen den Städten abzeichnen.

1. V ERGLEICHENDE S TADTFORSCHUNG Vergleichende Forschung gilt als eine der grundlegenden Herangehensweisen zur Erkenntnisgenerierung in den Sozialwissenschaften. Dabei muss unterschieden werden zwischen dem Vergleich als einer generellen ‚Denkform‘ und dem Vergleich als expliziter ‚Methode/Methodologie‘ (vgl. Schriewer 2003; McFarlane 2010). Als Denkform ist der Vergleich nicht unproblematisch, da er zwar einerseits elementarer Bestandteil sozialwissenschaftlicher Wissenskonstruktion und Theoriegenerierung ist, andererseits in dieser Form häufig nicht explizit gemacht wird.5 Die Logik des Vergleichens dient in jeder Form der Unterscheidung zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen, sowie zwischen der Komplexität und der Regelmäßigkeit sozialer Phänomene (Ragin & Zaret 1983:731). Als Denkform nimmt der Vergleich die Form von Relationalität an – in seiner elementarsten Form wird ‚neues‘ Wissen in Relation zu ‚altem‘ Wissen gestellt. Konkret bedeutet das, dass sozialwissenschaftliche Analysen im Kontext sozialwissenschaftlicher Theorie formuliert werden. Darin kann auch eine Problemdimension vergleichenden Denkens liegen, sofern diese Relationalität nicht reflektiert wird – denn wenn alles Vergleichen Beziehungsdenken ist und zu ‚Relationserkenntnis‘ führt, dann muss das, worauf Bezug genommen wird bzw. das, was miteinander in Relation gesetzt wird, klar bestimmt werden (Schriewer 2003). Empirisch muss der Vergleich dagegen immer als Methode verstanden werden – als solche liegt er praktisch sämtlicher empirischer sozialwissenschaftlicher Forschung zugrunde (Ragin 1989:1). Als systematische Methode der Er-

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Zur Kritik an impliziten Vergleichen in der Stadtforschung u.a. Robinson 2011; McFarlane 2010; Walton/Masotti 1976.

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kenntnisgewinnung lässt sich der Vergleich als ein Vorgehen charakterisieren, bei dem zwei oder mehr formal oder funktional äquivalente6 gesellschaftliche Phänomene untersucht werden. Dabei werden in beschreibender, erklärender und theoretischer Gegenüberstellung Gemeinsamkeiten und Differenzen herausgearbeitet „as they occur in and across social units (cities, groups, regions, nations, societies, tribes)“ (Ward 2010:473). Gerade weil (sozialwissenschaftliche) Forschung als intrinsisch vergleichend verstanden werden muss, ist aus methodologischer Sicht ein Explizieren dieser Herangehensweise nötig (ebd.:474). In der Soziologie lassen sich zwei Traditionen vergleichender Analyse unterscheiden: die variablenorientierte Vergleichsforschung in der Tradition Durkheims und die fallorientierte Vergleichsforschung in der Tradition Webers (vgl. Ragin & Zaret 1983): Der Durkheimsche Vergleichsansatz orientiert sich an naturwissenschaftlich-exakten Herangehensweisen und zieht zur Untersuchung sozialer Tatbestände abstrakte Variablen im Rahmen quantitativ-statistischer Methoden heran mit dem Ziel, ahistorischgeneralisierende Aussagen zu formulieren (ebd.). Von dieser deduktiven Logik hebt sich die induktive Vergleichsmethode Weberscher Prägung ab, die sich auf qualitativ-historische Methoden stützt zur Identifizierung historischer Kontingenzen und Differenzen (ebd.). Die vorliegende Untersuchung rückt den Zusammenhang zwischen Größe und strukturellen Qualitäten von Städten in den Fokus;7 wie in Kapitel A.2 gezeigt werden konnte, führt variablenorientierte vergleichende Stadtforschung hierbei zu ambivalenten Ergebnissen. Als statistische, beeinflussende Variable ist Größe kaum zu isolieren. Deshalb werden hier auch nicht Effekte absoluter Größendifferenzen zwischen Städten untersucht, sondern Differenzen in der 6

Zum Verständnis von Äquivalenz bei Ward (2010): Nach dem Verständnis formaler Äquivalenz werden Einheiten, die selbe Namen/Titel tragen, miteinander verglichen (z.B. liegt bei local government in verschiedenen Ländern der Fokus auf internen Charakteristika); im Verständnis funktionaler Äquivalenz werden ähnliche Reihen von Formen, Mustern und Prozessen (z.B. der Governance) miteinander verglichen.

7

Karl-Heinz Simon (1988) unterscheidet für diesen Teilbereich zwischen Forschung, die hypothesentestend Merkmale von Städten miteinander vergleicht (hier wäre etwa an die quantifizierende Global City-Forschung zu denken), und Forschung, die „Theorien auf Personen in räumlichen Einheiten anwendet“ (Simon 1988:383). Letztere sei im engeren Sinne auch nicht als Stadtforschung zu verstehen, da sie Individuen als Merkmalsträger in Städten untersucht. Auf die Tatsache, dass ein großer Teil der vergleichenden Forschung zu Städten als Forschung in Städten zu verstehen sei, haben bereits Masotti und Walton (1976) hingewiesen. Dazu wird noch im Rahmen der Auseinandersetzung damit, was vergleichende Stadtforschung ist, einzugehen sein.

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Herstellung größenrelevanter Aspekte in Städten anhand einer möglichst geeigneten Fallauswahl. Insofern wird im Folgenden auf variablenorientierte, quantitativ-statistische Vergleiche nicht weiter eingegangen. Stattdessen wird der für die vorliegende Untersuchung relevante fallorientierte, qualitative Vergleich anhand zentraler methodologischer Prämissen dargestellt. Die Überlegungen zu Gemeinsamkeiten und Differenzen werden auf John Stuart Mill und die von ihm unterschiedenen Vergleichslogiken der Konkordanzmethode und der Differenzmethode zurückgeführt (vgl. Abu-Lughod 2007). Bei ersterer werden ähnliche Ergebnisse/Resultate auf ähnliche Vorbedingungen/Merkmale ursächlich zurückgeführt (die unabhängige Variable also, die für die unterschiedenen ‚outcomes‘ in den untersuchten Fällen konstant ist, wird zur Erklärung herangezogen), bei der Differenzmethode ist es gerade umgekehrt, unterschiedliche Ergebnisse/Resultate müssen durch sich unterscheidende Vorbedingungen/Merkmale erklärt werden (unabhängige Variablen, die für alle Fälle gleich sind, können nicht ursächlich sein, sondern nur jene, die sich unterscheiden, und damit den unterschiedlichen ‚outcome‘ produzieren, müssen zur Erklärung herangezogen werden). Neben diesen grundlegenden Vergleichslogiken nennt Janet Abu-Lughod noch drei weitere: Die „combined method of agreement and difference“, wenn zwar einige Merkmale und Ergebnisse/Resultate ähnlich erscheinen, aber Gründe identifiziert werden, warum sich die untersuchten Fälle doch unterscheiden; die „method of residues“, bei der Unterschiede zwischen den größtenteils ähnlichen Erscheinungen auf äußere Umstände zurückgeführt werden; sowie die „method of concomitant variation“, bei der die Ergebnisse/Resultate sich graduell unterscheiden. Für vergleichende Fallstudien benennt Abu-Lughod die Kombination aus Konkordanz und Differenz als besonders relevant, wobei kausale Schlussfolgerungen abhängig seien von der Analyseebene (ebd.:420). Die Auswahl des Vergleichsdesigns in Kombination mit der Millʼschen Vergleichslogik bedingt also die Art der Analyseergebnisse: Werden möglichst unterschiedliche Fälle ausgewählt, liegt der Fokus auf Gemeinsamkeiten bzw. gemeinsamen Regelmäßigkeiten; werden möglichst ähnliche Fälle ausgewählt (und so verschiedene Kontextvariablen kontrolliert), so liegt der Fokus auf Differenzen bzw. regelmäßigen Unterschieden. Regelmäßigkeiten werden durch Merkmale erklärt, die in der Untersuchung herangezogen wurden und sich über die differenten Fälle hinweg ähneln. Differenzen werden durch Merkmale erklärt, die sich zwischen den ähnlichen Fällen unterscheiden.8 8

Gerade um eine möglichst große Zahl eventuell intervenierender Variablen auszuschließen, ist in der vergleichenden Stadtforschung häufig ein Forschungsdesign gewählt worden, in dem die untersuchten Fälle sich in möglichst vielen Merkmalen äh-

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Diese Kombination aus Konkordanz- und Differenzmethode lässt sich auch als Kombination von individualisierenden und Abweichung feststellenden Vergleichen beschreiben – die sich abhebt gegenüber umfassenden, universalisierenden Vergleichen. Die folgenden vier Vergleichstypen werden in der Stadtforschung – in Anlehnung an Charles Tilly (1984) und Neil Brenner (2001) – unterschieden (Ward 2010; McFarlane 2010; Robinson 2011): • Individualisierende Vergleiche fokussieren herauszuarbeitende Besonderhei-

ten: Detaillierte Fallstudien zeigen die Spezifik einzelner Städte auf, die entweder implizit oder explizit verglichen wird mit der anderer Städte; generalisierende Aussagen werden i.d.R. gewonnen über die Auseinandersetzung mit einer breiteren Literatur/ Theorie (Robinson 2011:6f). • Umfassende Vergleiche (encompassing) sehen Fälle als Teil von übergreifenden, systemischen Prozessen bzw. als an „system-wide laws“ (Ward 2010:475) gebunden (z.B. Kapitalismus, Globalisierung). Sie werden aber als Beispiele behandelt, die eine systematische Differenzierung zulassen (Robinson 2011:7ff). • Universalisierende Vergleiche suchen nach übergeordneten Regeln, Regelbzw. Gesetzmäßigkeiten über Kontexte hinweg und dies häufig quantitativstatistisch anhand vieler Fälle (Robinson 2011:9). • Abweichung feststellende Vergleiche (variation-finding) dienen dazu, systematische Differenzen aufzuzeigen, meist anhand qualitativ-historischer Methoden und einer eingeschränkten Fallzahl (i.d.R. im Rahmen eines „most similar systems design“ aufgrund der Tatsache, dass viele Variablen und wenige Fälle gegeben sind und die Annahme aufgestellt wird, dass über „most similar cases“ die Ursachen für Variation eingeschränkt/besser kontrolliert werden können) (Robinson 2011:9ff). neln (nach dem „most similar systems design“ nach Przeworski und Teune). In einem solchen Design sollen sich die untersuchten Fälle möglichst nur in der abhängigen Variablen unterscheiden. Entsprechend dem von Walton (1973, so zit. in Ward 2010) benannten ‚standardisierten Fallvergleich‘ (die Auswahl der Fälle wird auf solche begrenzt, für die vorangegangene Forschung bereits aufgezeigt hat, dass sie gewisse Ähnlichkeiten aufweisen) werden einer modernisierungstheoretischen Entwicklungslogik folgend Städte miteinander verglichen, die ähnliche ‚Entwicklungsniveaus‘ aufweisen (kapitalistische vs. nicht-kapitalistische Städte, Städte in Industrieländern gegenüber Städten in sog. Entwicklungsländern, reiche vs. arme Städte). Alternativ lässt sich aber auch innerhalb desselben nationalen Kontext vergleichen. Kritisch ist diese Begrenzung aus postkolonialer Sicht beleuchtet worden (Robinson 2011; McFarlane 2010).

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Nach McFarlane (2010) schließen sich die verschiedenen Vergleichsformen nicht gegenseitig aus, sie folgen vielmehr der Logik zweier Polarisierungen: jener von Generalisierung und Partialisierung, sowie der zwischen Breite und Tiefe der Analysen. Für jede vergleichende Arbeit muss also konkretisiert werden, wozu generelle und wozu partielle Aussagen getroffen werden sollen, sowie welche Reichweite resp. Tiefe im Hinblick auf die komplexen Zusammenhänge mit der Analyse verbunden ist. Aus den bisherigen vergleichsmethodologischen Überlegungen zeigt sich unmittelbar der Bezug zum hier angestrebten Vergleich unterschiedlich großer Städte innerhalb desselben Entwicklungskontextes: Einerseits geht es darum, Übereinstimmungen zwischen den unterschiedlich großen Städten zu identifizieren, die auf den gemeinsamen Entwicklungskontext zurückgeführt werden können und daher als allgemeine Charakterisierungen von ‚Megastädten‘ zunächst einmal ausgeschlossen werden können. Andererseits geht es darum, innerhalb eines prinzipiell auf Ähnlichkeiten basierenden Vergleichsdesigns Differenzen (in der Herstellung von Trennungen und Verbindungen) zu identifizieren, die eine Größenrelevanz aufweisen. Um der Frage nach größenrelevanten Unterscheidungen nachzugehen sollen also die folgenden Konkordanz- und Differenzprobleme gelöst werden: Im Gegensatz zur bisherigen Megastadtforschung soll innerhalb eines gemeinsamen Städtenetzwerks nach Differenzen zwischen unterschiedlich großen Städten im Hinblick auf die darin wirksamen Fragmentierungsdynamiken gesucht werden, die sich aufgrund des gemeinsamen Kontextes zwar nicht kausal, aber der Sache nach mit der Größe der Städte in Verbindung bringen lassen. Innerhalb dieses prinzipiell gemeinsamen Kontextes sollen unterschiedlich große Städte im Sinne eines ‚most similar systems‘-Designs ausgewählt werden, deren Ähnlichkeiten als größenrelevante Faktoren ausgeschlossen werden können. Differenzen, die sich zwischen diesen ‚most similar systems‘ zeigen, können dann als größenrelevant gewertet werden. Zudem sollen Städte ausgewählt werden, die sich zwar in der Größe ähneln, ansonsten aber ‚most different cases‘ darstellen – Ähnlichkeiten können dann als größenrelevant geltend gemacht werden. Dabei können keine Aussagen darüber getroffen werden, wie wahrscheinlich es ist, dass sich große und ‚mega-große‘ Städte immer in derselben Weise unterscheiden.9 Im konsequenten Herausarbeiten von Übereinstimmungen und Diffe9

In Anlehnung an Charles Tilly (1984) argumentiert Lieberson, dass bei kleinen Fallzahlen die Mill ʼschen Methoden nur bedingt angewandt werden könne, da Interaktionseffekte oder multiple Kausalitäten nicht überprüft werden können Lieberson 1991. Derartige vergleichende Fallstudien würden keine Aussagen über Wahrscheinlichkeiten zulassen, sondern müssten einem deterministischen Modell folgen, wofür Mess-

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renzen findet sich vielmehr das Bemühen um die Bestimmung (oder Ablehnung) eines qualitativen, empirisch begründeten Stadttyps. Für eine solche Typenbildung unterscheiden Udo Kelle und Susann Kluge vier Teilschritte: 1. „Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen“, 2. „Gruppierung der Fälle und Analyse empirischer Regelmäßigkeiten“, 3. „Analyse inhaltlicher Sinnzusammenhänge“ und 4. „Charakterisierung der gebildeten Typen“ (Kelle & Kluge 2010:91–92). Den ersten dieser Teilschritte leisten die beiden folgenden Teilkapitel.

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U NTERSUCHUNGSGEGENSTAND

Es ist also kein banales Unterfangen, Städte zu vergleichen (vgl. Löw 2008b). Zunächst einmal ist es ein sehr voraussetzungsvolles Vorhaben, das von der Annahme ausgeht, Städte seien abgrenzbare Untersuchungseinheiten. So, wie es überall Familien, Migrant_innen, Berufe, Normen und andere soziologische Untersuchungsgegenstände gibt, gibt es auch überall Städte.10 Sowohl als materielle Erscheinung als auch als symbolische Figur scheinen Städte zunächst einmal evidenter als Berufe und Normen etwa: Allein ihre bauliche Materialität bedeutet unmittelbare Erfahrbarkeit und von ‚Stadt‘ zu sprechen evoziert immer auch klare Bilder davon, was darunter zu verstehen sei. Das heißt, wir haben es nicht nur mit materiellen und deshalb körperlich erfahrbaren Strukturen zu tun, die feste Bestandteile unserer Alltagswelt sind, sondern auch mit wirkmächtigen Repräsentationen des ‚Urbanen‘. Wenn von ‚Stadt‘ die Rede ist, wissen wir alle uns darunter etwas vorzustellen und haben bestimmte Bilder im Kopf, Bilder, die emotional besetzt, der Erinnerung entlehnt oder schlicht aus der Vielzahl (gelernter) medialer Repräsentationen abgeleitet sein mögen. Andererseits sind Städte als konkreter Untersuchungsgegenstand viel weniger evident. Was untersucht man, wenn man eine Stadt untersucht? Handelt es sich um eine baulich-physische Einheit, die sich an einer Typisierung distinkter

fehler ausgeschlossen werden müssen und nur eine einzige unabhängige Variable in Betracht kommen darf. Weil Wahrscheinlichkeitsaussagen wie in quantitativ-statistischen Forschungen mit hoher Fallzahl nicht möglich sind, komme der theoretischen Begründung ein viel höherer Stellenwert zu. Überhaupt ist der Vergleichsschluss keiner, der sich aus empirischer Beobachtung ergibt, sondern ein Rückschluss, dessen Erklärung theoretisch bedingt ist (vgl. Masotti & Walton 1976 unter Bezug auf Przeworski/Teune 1970). 10 S. Vergleiche von ‚Raumeinheiten‘ als produzierte Räume im Gegensatz zu Vergleichen von sozialen Phänomenen bei Belina & Miggelbrink (2010:7).

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Siedlungsformen entlang von statistischen Größen wie Bebauungs- und Bevölkerungsdichte, Infrastruktur und Ähnlichem orientiert? Oder legt man administrative Einheiten zugrunde? Oder müssen Soziolog_innen nicht vielmehr die alte Einsicht berücksichtigen, dass eine Stadt sich nicht auf den (territorial bestimmten) Raum beschränken lässt, den sie einnimmt (Simmel)? Nur: Wo verläuft dann die Grenze, mit der wir unseren Untersuchungsgegenstand bestimmen können? Die Abgrenzung von Städten als Untersuchungsgegenstand erfordert also eine theoretische Konzeptualisierung, die eine forschungsrelevante Erfahrbarkeit bzw. Abgrenzung überhaupt erst möglich macht. Denn weder die Dimensionen, noch das, was als ‚Stadt‘ untersucht wird, sind faktisch beobachtbare, objektiv-gegebene, ‚natürliche‘ Untersuchungsgegenstände. Vielmehr muss all dies theoretisch konstruiert (abgegrenzt) werden, um dann praktisch-empirisch in Relation zueinander gesetzt werden zu können. Bloß, in welchem Verhältnis stehen materiell-körperlich erfahrbare ‚Wirklichkeit‘ der oder einer Stadt, bildhafte, imaginierte und diskursive Repräsentationen des Städtischen sowie die Herstellung aber auch die Erfahrung städtischen (urbanen) Lebens im Alltag? Dass diese Dimensionen in einem Verhältnis zueinander stehen begründet, dass es sehr wohl relevant ist, wo sich bestimmte, voneinander unterscheidbare gesellschaftliche Tatsachen/Phänomene verorten lassen. Gerade angesichts veränderter Bedeutungen territorialer Kategorien und Skalen wie dem Nationalstaat, aber auch Regionen und nicht zuletzt der globalen Dimension haben die Fragen nach den räumlichen Begründungszusammenhängen von Gesellschaft an Vehemenz gewonnen. Nimmt man diesen Begründungszusammenhang ernst, bestimmt sich der Gegenstand einer Stadtsoziologie eben nicht aus dem Gegensatzpaar Stadt und Land (Häußermann & Siebel 1978), sondern aus der Tatsache, dass Städte distinkte räumliche Formen darstellen, die in (je) spezifischer Weise auf Vergesellschaftungsprozesse einwirken und darin geformt werden. Die Besonderheit von Städten als soziologischem Untersuchungsgegenstand ist also, dass es sich dabei nicht um ein rein soziales Phänomen handelt, sondern immer auch um eine räumliche Form. Die Versuchung, Städte als abgeschlossene, faktische, räumliche Einheiten zu betrachten, ist groß und ihr wird nur allzu gerne nachgegeben. Mit der Abgrenzung von Vergleichseinheiten ist zu einem gewissen Grad immer auch eine ‚isolierende Abstraktion‘ verbunden; die Gefahr besteht dann, die Untersuchungseinheiten zu de-kontextualisieren und zu reifizieren, sie in ihrem „Ding-Sein“ also zu objektiven Realitäten zu machen (Belina & Miggelbrink 2010:13). Eine solche Operation wird allerdings nicht nur der gesellschaftlichen und damit immer auch widersprüchlichen Herstellung von städtischen Räumen nicht gerecht, sie kann auch aus der Logik des Vergleichens

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selbst heraus als problematisch gesehen werden. Denn die analytische Vergleichstradition besteht in einer systematischen Methode, in der es nicht darum geht, „historisch-kulturelle Phänomene, Phänomenzusammenhänge oder Situations- und Bedeutungskomplexe als solche miteinander in Beziehung zu setzen“, also „Faktizitäten“ zueinander ins Verhältnis zu setzen (Schriewer 2003:24). Stattdessen geht es um die „Relationierung von Relationen“ (ebd.).11 Diese Formulierung zeigt, wie wichtig es ist, keine empirischen Setzungen der sozialwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstände vorzunehmen. Dennoch ist gerade die Ontologisierung von Städten ein häufiges Problem, dass Städte also objektiviert werden als ein dem Gesellschaftlichen Gegenüberstehendes/ Externes (vgl. Ward 2010:479f). Das heißt, dass sich vergleichende Stadtanalysen nicht einfach „auf soziale, räumlich abgegrenzte Kollektive mit einer Zahl bestimmter Merkmale, die in der Zusammenfassung als ‚Stadt‘ bezeichnet werden“ (Simon 1988:394) beziehen können, sondern untersuchen müssten, wie diese Abgrenzungen produziert werden. Gleichwohl gründet die Untersuchung von Städten auf der Annahme, dass diese distinkte soziale und räumliche Organisationsformen darstellen, deren spezifisch ‚städtische‘ Merkmale daher auch identifizierbar sein müssen. Diese nicht als Faktizitäten zu untersuchen, sondern in ihrem Werden, ist dann Aufgabe einer vergleichenden Stadtforschung, welche die Reifizierung von Räumen zu vermeiden sucht. Abgewendet werden kann dadurch ein „Raumfetischismus“, also die Erklärung sozialer Phänomene durch ihre „Lage“ im physischen Raum/ innerhalb einer territorial abgegrenzten Untersuchungseinheit (einer Stadt, einem städtischen Teilgebiet) (vgl. Belina & Miggelbrink 2010:19). In den Debatten um den sogenannten Spatial Turn seit den 1990er Jahren wurden diese Verhältnisse zwischen sozialen Phänomenen und Strukturen einerseits und den physisch-materiellen Kontexten andererseits ausführlich beleuchtet. Für eine soziologische Herangehensweise an Städte gilt seitdem, dass sie eine qualitative Bestimmung dessen vornimmt, was sich wie in Beziehung zueinander setzt bei der Produktion von Stadt als räumlicher Form und sozialem Gebilde. Das heißt, statt um eine universelle inhaltliche Bestimmung dessen, was Stadt, was städtisch und was urban ist, geht es darum, was wie in Beziehung gesetzt wird bei der Produktion von Städten als räumliche Formen. Der Fokus liegt also auf den Prozessen und Praktiken der Herstellung von Stadt. Damit geht auch die Herstellung eines je spezifischen Verhältnisses zwischen lokalen Be11 Insofern ist die Kritik von Belina und Miggelbrink (2010) am Setzen von Faktizitäten bei der Abgrenzung von Untersuchungseinheiten (Städten) zwar durchaus richtig und wichtig, aber nicht als grundlegendes Problem des Vergleichens selbst zu verstehen, sondern nur eines bestimmten (nicht relationalen) Vergleichsverständnisses.

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sonderheiten und allgemeingültigen (städtischen, globalen, ökonomischen, politischen) Entwicklungen einher. Der Vergleich besteht also nicht im Setzen von Faktizitäten, sondern in der Untersuchung von Relationen. Ins Verhältnis gesetzt werden nicht ontologisierte Räume, sondern die Praktiken der Herstellung dieser Räume. Hierin besteht der Gegenstand des Städtevergleichs. Wie ist dieser Gegenstand nun zu konkretisieren, welche Untersuchungsperspektive geht damit einher und wie lässt sich das operationalisieren? 2.1 Städte zwischen Homogenisierung und Heterogenisierung Klassischerweise werden Städte als heterogene Orte verstanden (s. A.II) – zusammen mit Dichte und Größe ergibt sich der Dreiklang der Merkmale, die im Rückbezug auf Louis Wirths einfache Definition als grundlegend zum Verständnis dieser Orte gelten. Die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Normen- und Wertebezüge entlang von sozialstrukturellen Ungleichheiten und subkulturellen Bezugssystemen wird in der (‚westlichen‘) Großstadtforschung betont. Auf der anderen Seite geht es auch immer darum, dass sich in der dichten Ansammlung differenter Bezüge etwas herausbildet, das den gemeinsamen Bezugsrahmen städtischen Lebens kennzeichnet. Bei aller Heterogenität ist es also dennoch die Produktion eines Gemeinsamen, welche für das Städtische (bzw. das Urbane) als charakteristisch gilt. Wie weit das reicht, ob dieses Gemeinsame immer noch elementar von Heterogenität gezeichnet ist, oder ob sich die Differenzen zu einer homogenen, gemeinsamen Bezugsgröße verdichten, darin unterscheiden sich die Ansätze zum Teil massiv.12 Genau diese Unterscheidung lässt sich für eine Systematisierung von theoretischen Beiträgen innerhalb der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung, die zu klären suchen, wie Stadt bzw. Städte analytisch zu fassen sind, fruchtbar machen: Sie lassen sich danach unterscheiden, was sie als zentrale Merkmale des Städtischen betonen, wie also dieses Gemeinsame zu verstehen ist.13 Viele der

12 Gegenüber Dichte und Heterogenität hat die Größe deutlich weniger theoretische (nicht: empirische) Aufmerksamkeit erhalten, auch wenn die drei Aspekte immer wieder als in einem Wechselverhältnis zueinander begriffen werden (s. A). Da der überwiegende Teil der Stadttheorie sich auf große Städte bezieht, ist eine gewisse ‚kritische Masse‘ immer schon angenommen. 13 Berücksichtigt werden an dieser Stelle nur solche Ansätze, die explizit analytisch zu fassen suchen, worüber sich Städte definieren (und untersuchen) lassen. Damit wird das Spektrum an Beiträgen erstaunlich überschaubar, was den theoretischen Gehalt

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wegweisenden Ansätze in den Sozialwissenschaften suchen in ihrer Definition sowohl der Dauerhaftigkeit von Städten als räumliche Formen, als auch ihrer sozialen Herstellung bzw. Konstruktion gerecht zu werden und setzen hierfür Handlungs- und Strukturebene in Zusammenhang zueinander. Dennoch lassen sich die Vorgehensweisen zumindest analytisch unterscheiden, wobei die folgende Darstellung keineswegs dem Anspruch auf Vollständigkeit gerecht wird, sondern allein der pointierten Gegenüberstellung dient. Damit ist die Absicht verbunden, im Anschluss daran ein eigenes analytisches Modell zu entwickeln. Auf der Handlungsebene lassen sich Stadt- bzw. Städtetheorien danach unterscheiden, ob sie die materielle Herstellung/Produktion von Städten im Rahmen repetitiver oder kreativer Praxis (Amin & Thrift 2002; Lefebvre 1987, 1996) oder ob sie die mentalen Konstruktionen von Stadt (Löw 2008; Nassehi 2002) zum Hauptbezugspunkt machen. Welche Dimensionen des Handelns bzw. der Praxis betont werden, hängt entscheidend davon ab, worauf der Fokus auf der Strukturebene gelegt wird. Auf dieser Ebene lassen sich die verschiedenen Ansätze danach unterscheiden, ob sie den Aspekt der Dichte/Verdichtung (Berking 2008; Löw 2008a; Löw 2008b; Nassehi 2002) oder den der Heterogenität (Amin & Thrift 2002; Lefebvre 1987; Lefebvre 1996; Merrifield 2013; Schmid 2013) betonen. Damit hängt auch zusammen, ob die Stadt als abgrenzbares Ganzes behandelt wird, oder ob die (irreduzible) Komplexität von Städten bzw. ihre Nichtabgrenzbarkeit im Vordergrund steht. Für Verdichtungsansätze, die untersuchen, wie ‚das Ganze der Stadt‘ im Handeln hergestellt oder konstruiert wird, haben demnach Homogenisierungsprozesse eine zentrale Bedeutung. Denn die Verdichtung von zunächst Heterogenem führt zur Herstellung eines übergeordneten Ganzen und damit zu einer einheitlichen (vereinheitlichenden) Verbindung. Dagegen untersuchen Heterogenitätsansätze schwerpunktmäßig Prozesse der (zeitlichen) Simultaneität und (räumlich-örtlichen) Juxtaposition bzw. die Konfrontation und den Austausch von Ungleichem. Dabei liegt der Akzent nicht so sehr auf dem Verbindungsmoment, der Städte kennzeichnet, sondern auf den Trennungen und Differenzen. Genau diese beiden Pole hatte sich bereits in den Thesen zur Relevanz von Stadtgröße abgezeichnet, wo sowohl Verbindungen als auch Trennungen als relevant herausgearbeitet wurden. Um die Unterscheidung deutlich zu machen, seien hier zwei Ansätze aufgegriffen, die beide einen starken Handlungsbezug aufweisen: der EigenlogikAnsatz nach Martina Löw u.a. sowie der Ansatz von Ash Amin und Nigel Thrift. Martina Löw definiert Städte als in der Praxis konstruierte Einheiten, die sich von vielen anderen Beiträgen nicht schmälern soll – der Anspruch ist lediglich ein anderer. Gleichwohl ist es kritisch, dass so wenige Autoren sich explizit mit den abstrakten methodologischen und theoretischen Grundlagen von Stadtforschung beschäftigen

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nach außen hin abgrenzen und nach innen verdichten und auch „alltagsrelevant als städtische Einheit erlebt“ (Löw 2008b:70) werden. Es rücken dann weniger kreative oder gar ‚revolutionäre‘ Aspekte der Praxis14 in den Vordergrund, sondern die Reproduktion dessen, was als ‚Eigenlogik‘ einer (bestimmten) Stadt verstanden wird. Die Stadt wird hier zum „Konzeptbegriff“, der auf eine „eigensinnige, lokal spezifische Wirklichkeit“ verweist (Frank 2012:291). Damit sind eine städtische Doxa („als über Regeln und Ressourcen strukturell verankerte Sinnprovinz“, ebd.:76) und ein eingeschriebener und sich reproduzierender Habitus („als (auch) ortsspezifisches Bewertungs-, Wahrnehmungs- und Handlungsschema“, ebd.) gemeint: „Begreift man also […] Grenzziehung und Verdichtung raumsoziologisch als konstitutiv für die Form ‚Stadt‘, dann sind Städte als Ergebnis einer Konstruktions- und Benennungspraxis sozial und materiell konstitutive Einheiten und damit klar abgegrenzte Gebilde. […] Nicht dasjenige erscheint als Stadt, was verwaltungstechnisch als Stadt gefasst wird, sondern jenes Formgefüge, welches alltagsrelevant als städtische Einheit erlebt wird.“ (Löw 2008b:70, Hvh. JH)

Im Gegensatz dazu rücken Ash Amin und Nigel Thrift Heterogenität statt Verdichtung in den Vordergrund und definieren (heutige) Städte als grundlegend charakterisiert durch Heterogenität, Inkohärenz und Nicht-Abgrenzbarkeit. Obwohl rhythmische Wiederholungen (also Repetitivität) von Bedeutung sind, scheinen doch Improvisation und Multi-Temporalität bzw. Simultaneität für städtische Interaktionen eine weitaus größere Rolle zu spielen: „[C]ontemporary cities are certainly not systems with their own internal coherence. The city's boundaries have become far too permeable and stretched, both geographically and socially, for it to be theorized as a whole. The city has no completeness, no centre, no fixed parts. Instead, it is an amalgam of often disjointed processes and social heterogeneity, a place of near and far connections, a concatenation of rhythms; always edging in new directions.“ (Amin & Thrift 2002:8, Hvh. JH)

Diese Sicht von Amin und Thrift verweist auf ein grundlegendes Problem, die Frage nach der ‚Totalität‘ von Stadt. Dabei verabschieden sie sich voreilig von der Abstraktheit des theoretischen Ganzen: Aufspaltungen entlang von Heterogenität (und Ungleichheit) sind immer schon elementarer Bestandteil von Städten. Was heißt das aber nun für das ‚Ganze‘ der Stadt? Um sich der Frage nach der Totalität anzunähern, kann auf Lefebvres Überlegungen hierzu zurückgegrif14 Vgl. hierzu den Praxisbegriff bei Lefebvre 1987.

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fen werden. Für Lefebvre wird das Ganze eben nicht praktisch-individuell hergestellt, sondern muss theoretisch re-konstruiert werden (vgl. Lefebvre 1987, 1996). Gleichzeitig und ohne darüber ein Bewusstsein zu haben, ist das Ganze immer auch Referenz für die Teile. Das heißt, über die (Re-)Konstruktionen der Teile kann auf das Ganze zurück geschlossen werden. Dafür braucht es kein geographisches oder funktionales Zentrum, auch keine klaren Grenzziehungen – zumindest dann nicht, wenn das Ganze als theoretische Abstraktion bzw. Systematisierung empirischer Teil-Realitäten verstanden wird. Die ‚Wirklichkeit‘ mag zunächst „undurchdringlich“ (irreduzibel, heterogen) erscheinen und dadurch der Analyse eine „augenblickliche Grenze“ (Lefebvre 1987:437) setzen. Das Denken aber, so ist mit Lefebvre einzufordern, muss diese Herausforderung annehmen, denn „[o]hne den Anspruch auf Totalität nehmen Praxis und Theorie das ‚Wirkliche‘ hin, wie es ist, sie akzeptieren die ‚Dinge‘, wie sie sind: fragmentarisch, geteilt, voneinander abgesondert.“ (ebd.:437) Ohne einen theoretischen Totalitätsbegriff gibt es für Lefebvre kein Denken, auch wenn „das theoretische Denken [mit ihm] Gefahr [läuft], sich in Dogmatismus zu stürzen“ – es geht also darum, „eine Totalität [zu] konzipieren, ohne sich auf ihren Standpunkt zu stellen“ (ebd.:441).15 Gleichzeitig wird Totalität nicht nur methodologisch über die Idee und die Erkenntnis hergestellt, sondern auch praktisch darüber, dass „[j]ede menschliche Tätigkeit, die in der gesellschaftlichen Praxis bestimmte Form angenommen hat […] effektiv zur Totalität“ tendiert (ebd.:437f.).16 Um den ‚Totalitäts‘-Begriff von Lefebvre auf Stadt beziehen zu können, sollte aber eine Differenzierung gemacht werden: Die ‚Totalität‘ der Stadt soll nicht gleichgesetzt werden mit der Stadt als ‚Ganzes‘. Die ‚Totalität‘ der Stadt lässt sich verstehen als ein Verweis auf das ‚Urbane‘ als einem Verhältnis von gesellschaftlicher und städtischer Praxis. Die Stadt als ‚Ganze‘ verweist dann auf das Verhält-

15 Der Ausweg aus diesem Dilemma besteht für Lefebvre im dialektischen Denken, wofür er die Begriffe partielle (oder fragmentarische) Totalität und Totalisierung einführt: Weder ist also vom Ganzen selbst auszugehen, noch von den „parzellierten Teilstücken“, weder vom Allgemeinen also, noch vom Besonderen, sondern es wäre eine „dialektische Vernunft“ zu bemühen, die „ein Ganzes durch die Unterschiede und Konflikte seiner ‚Formanten‘ zu fassen“ sucht (Lefebvre 1987:444). 16 Man kann das so verstehen, indem man sich vor Augen führt, dass jede Tätigkeit ‚sich als richtig versteht‘ und versucht, andere Tätigkeiten unterzuordnen, gleich einer „momentanen Totalisierung“ (Lefebvre 1987:438). Als Tätigkeiten, welche in der gesellschaftlichen Praxis konkrete Form angenommen haben, versteht Lefebvre dann die Religion, die Philosophie, die Wissenschaft, die politische Ökonomie, den Staat sowie Kunst und Kultur.

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nis von räumlicher und sozialer Praxis als Aspekten der gesellschaftlichen und städtischen Praxis. In Bezug auf die Stadt als Ganze scheint nun eine wichtige Gegenüberstellung auf, nämlich zwischen der Position, dass die Einheit der Stadt als Ganze erfahrbar ist (Löw) und der, dass das Ganze vor allem eine theoretische Rekonstruktion ist (Lefebvre). Wenn die Einheit der Stadt als Ganze erfahrbar ist, dann wird sie auch empirisch erfassbar über die Erfahrungsbestände der Menschen. Für Lefebvre dagegen erschließt sich uns die soziale Wirklichkeit immer nur in Fragmenten bzw. als Fragmentarische: Genauso wenig, wie der gesellschaftliche Raum als ‚Ganzer‘, oder der städtische Raum als ‚Ganzes‘ bzw. die Stadt als ‚Ganze‘ wahrgenommen, beobachtet und empirisch untersucht werden können, so kann auch die gesellschaftliche Praxis in ihrer ‚Totalität‘ nicht untersucht werden (vgl. ebd.:493). Insofern müssten Analysen der Praxis (analog: des Raumes) am Partikularen ansetzen, an einzelnen Praktiken, um „von diesen Bruchstücken, die ein Ganzes voraussetzen und seinen Begriff verlangen“ (ebd.), Rückschlüsse zu ziehen. Denn „auch wenn sie uns nicht jenes Ganze liefern, [so sind sie doch] dessen Zeugen und Bestandteile“ (ebd.). Die begrenzten Praktiken (von sozialen Gruppen) verweisen aufeinander und auf die gesellschaftliche Praxis insgesamt: „Durch die einzelnen Gruppen kann man die gebrochene Totalität erfassen – und das ist vielleicht überhaupt der beste Zugang zu ihr, der Weg zwischen Praktizismus und Spekulation.“ (ebd.:499) Um das wiederum auf die Stadt zurück zu beziehen: Für Stadtanalysen hieße das, die Heterogenität anzuerkennen und über die Untersuchung der Differenzen und deren Verweise aufeinander die ‚gebrochene Totalität‘ der Stadt zu rekonstruieren, ohne sie als empirisch erfassbare Einheit zu ontologisieren. Folgt man dieser Position, dann wären auch das ‚Ganze‘ und die ‚Einheit‘ des Städtischen nicht gleichzusetzen. Das Ganze der Stadt zu rekonstruieren hieße dann nicht, eine Einheit der Stadt zu postulieren. Gerade weil Städte heute als nicht mehr so eindeutig abgrenzbar gelten können, ist die Wahrnehmung einer Einheit mehr denn je fraglich.17 17 „The city can no longer be perceived as a unit because it now consists of overlapping urban realities with indistinct borders.“ (Schmid 2013:68) Für Schmid wird die Stadt dadurch „omnipräsent“, weil jeder Ort das Potential zur Zentralität in diesem Sinn habe (ebd.:80). Bleibt die Frage, welche Art von Abgrenzbarkeit hier gemeint ist? Es scheint zunächst einmal vorrangig um die morphologisch/administrativ-territoriale zu gehen. Diese territoriale Bestimmung trotzt schon immer der Tatsache, dass die Stadt eben nicht auf diese Grenzen beschränkt zu verstehen ist, sondern erst in den kosmopolitischen Beziehungen der Städter_innen ihren Ausdruck findet (vgl. Simmel 1993). Allerdings geht Schmids Position auch damit einher, dass das Städtische nicht mehr auf die Stadt (als morphologische Erscheinung) begrenzt ist, womit sich in der Frage

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Was die beiden hier skizzenartig gegenübergestellten Ansätze zeigen, ist, dass Städte sowohl unter Verbindungs- als auch unter Teilungs-/Unterscheidungsaspekten untersucht werden können. Beide Herangehensweisen verweisen auf heuristische Konzepte, welche die Erkenntnissuche anleiten, jedoch auf unterschiedlichen Ebenen: Einmal liefern Homogenisierungsprozesse wichtige Erkenntnisse über städtische Gesellschaften und Städte, das andere Mal sind es die Heterogenisierungsprozesse. ‚Homogenisierungsanalysen‘ legen stärker Gewicht auf Verdichtungsprozesse zu einem einheitlichen ‚Ganzen‘ der Stadt, vor allem aus der Perspektive der Wahrnehmung. Damit betonen sie die inklusiven Mechanismen städtischer Gesellschaften bzw. von Städten als gesellschaftlichen Räumen. Diese Perspektive ist exemplarisch in der Untersuchung der Eigenlogik von Städten, wie sie vor allem von Martina Löw und Helmuth Berking dargelegt wurde, zu erkennen. Damit kann auch eine diachrone Untersuchung von Mustern und Strukturen verbunden sein, die sich durchsetzen (reproduzieren) und für einzelne Städte Relevanz in sämtlichen Bereichen gesellschaftlichen Lebens erhalten. Interessanterweise führt diese Perspektive der Verdichtung zu einem homogenen Ganzen in eine Differenzlogik, wonach Städte essenziell (nach der sich in ihnen herausbildenden ‚Eigenlogik‘) unterschiedlich sind (vgl. Hoerning 2014). Damit liegt das Allgemeine nicht im Gesellschaftlichen, sondern in einer universellen Konzeptualisierung von Stadt über die „Prozesskategorien“ der Heterogenisierung und Verdichtung (wobei letztere deutlich mehr Gewicht erhält in der These der ‚Eigenlogik‘) (s. Berking 2013). Im Unterschied dazu fokussieren ‚Heterogenisierungsanalysen‘ die Synchronie und Juxtaposition heterogener Zeiten und Räume als Bruchstücke des Städtischen. Dabei ist gegenüber dieser Perspektive kritisch zu bedenken, dass die untersuchten Bruchstücke immer Teil eines, wenn auch abstrakt-analytisch zu rekonstruierenden Ganzen sind. Das heißt auch, dass weder eine (oder ganz allgemein) Stadt noch die untersuchten Bruchstücke selbst erklärt werden können, ohne in Bezug zueinander gestellt zu werden. Und obgleich Machtfragen eine Rolle dafür spielen, wie groß das Erklärungspotential einzelner städtischer Teile (Gruppen, aber auch Orte und Vernetzungen) für das ‚Ganze‘ ist, so sind sie niemals erschöpfend für die Erklärung von städtischen Entwicklungen. Hier lässt sich auch die Debatte um Planetary Urbanization aufgreifen, deren Autor_innen im Anschluss an Lefebvre die Stadt zwar als differentiellen Ort begreifen, dessen Potential aber im ‚Urbanen‘ liegt, das über Begegnung und Austausch bestimmt ist (vgl. Merrifield 2013:171). So definiert Christian Schmid die Stadt auch als „the site of meeting, encounter, interaction […]; it is a site where der Abgrenzbarkeit nicht nur ein morphologischer, sondern auch ein funktionaler Bezug findet.

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differences collide with one another and thereby produce something new“ (Schmid 2013:80, Hvh. JH). Die Differenzen sind also zwar grundlegend, aber das, was Stadt letzten Endes kennzeichnet, ist, dass aus der praktizierten Differenz (Austausch, Interaktion, Konflikt etc.) etwas Neues entsteht, was über die bestehenden Differenzen hinausreicht. Gegenüber der ‚Homogenisierungsperspektive‘ ist dagegen kritisch anzumerken, dass die Bedeutungszuordnung der Stadt als einem Ganzen (System oder Relevanzstruktur o. Ä.) nicht in eine ‚ideologische‘ Reduzierung führen darf: „[I]t is not without the greatest reservation or without precautions that one can consider the city as a system, as a unique system of significations and meanings and therefore of values. Here as elsewhere, there are several systems (or, if one prefers, several subsystems). Moreover, semiology does not exhaust the practical and ideological reality of the city. The theory of the city as system of significations tends towards an ideology; it separates the urban from its morphological basis and from social practice, by reducing it to a ‚signifier-signified‘ relation […].“ (Lefebvre 1996:114)

Selbst wenn also nicht die irreduzible Heterogenität zum Hauptmerkmal gemacht wird, sondern sich ein abstraktes Ganzes aus der Konfrontation und dem Austausch von Heterogenem rekonstruieren ließe, so könnte dieses nicht so einfach als empirisch erfassbare Sinneinheit verstanden werden. Zum einen würde so das ‚Ganze‘ auf die Bedeutungsebene reduziert. Zum anderen würden Bedeutungen dabei von ihren materiellen oder morphologischen Bezugspunkten und den sozialen Praktiken, die sie hervorbringen, tendenziell losgelöst. Und schließlich liefe man damit auch Gefahr, die ideologische Verzerrung der praktischen Bedeutungen zu übersehen. Das beständige Nebeneinander von Verbindungen und Trennungen, die im Städtischen produziert werden, verweist ja gerade darauf, dass Städte „höchst widersprüchliche Realität[en]“ (Siebel 2013:259) sind. Das ‚Ganze der Stadt‘ wird dementsprechend gleichzeitig hergestellt und nicht hergestellt. Erfassbar wird es etwa als ideologische Repräsentation.18 Theoretisch müsste es dagegen rekonstruiert werden als materielles, 18 Die (eine?) Eigenlogik Berlins besteht nach Martina Löw darin, dass Armut und Ungleichheit zur Ressource von „Kreativität mit einem Schuss Exzentrik, Jugendlichkeit und Lebensfreude“ stilisiert werden. (Löw 2008b:201). Wenn Armut und Ungleichheit in einer solchen, institutionalisierten Weise (und zwar ganz allgemein ‚in Berlin‘) zur produktiven Ressource banalisiert würden, dann wären damit Konsequenzen für die Ermöglichung und Legitimierung von Kritik an diesen Verhältnissen verbunden; eine habituell inkorporierte Romantisierung schwieriger materieller Existenz-

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diskursives und symbolisches Produkt. Damit ist wiederum auf die raumtheoretische Bestimmung von Städten verwiesen, welche dieses Zusammenspiel von physisch-materieller, praktischer und symbolischer Herstellung in den Blick rückt (dazu s. weiter unten). Resümierend lässt sich sagen: Indem entweder Dichte oder Heterogenität (bzw. Verdichtung und Homogenisierung oder Heterogenisierung) fokussiert werden, geraten entweder Vereinheitlichungs- oder Teilungsprozesse in den Blick. Beide Perspektiven sind theoretisch plausibel zu entwickeln. Sie drücken unterschiedliche Schwerpunktsetzungen hinsichtlich der Erklärungskraft von Stadtanalysen aus. Damit ist aber auch eine deutliche Komplexitätsreduktion verbunden und es wird nicht berücksichtigt, dass städtische Entwicklungen sich gerade durch die Widersprüchlichkeit zwischen der Herstellung von Verbindungen und der Herstellung von Trennungen auszeichnen. Zwar trifft man notwendigerweise eine Auswahl bei der Bestimmung von Prozessen und Momenten, die theoretisch für besonders aussagekräftig bzw. ausschlaggebend bei der (Re-) Produktion von Städten erachtet werden. Aber die theoretische Komplexität sollte es erlauben, Widersprüche mitzudenken, anstatt sie zu umgehen. Dabei stellt sich dann die Frage, wie sich die Widersprüchlichkeit begrifflich fassen lässt. In Bezug auf die Simultaneität von Verbindungen und Trennungen bietet sich ein Begriff an, der in der Stadtforschung in jüngerer Zeit bedauerlicherweise reduziert worden ist auf ein empirisches Phänomen: Fragmentierung. Untersucht man die Übereinstimmungen und Differenzen zwischen Städten unterschiedlicher Größe, dann stellt sich die Frage, wie sich die untersuchten Städte entlang der in ihnen wirksamen Homogenisierungs- und Heterogenisierungsprozesse ähneln und unterscheiden. Eine solche Simultaneität von Verbindungen und Trennungen lässt sich in einem analytischen Verständnis des Fragmentierungsbegriffes verbinden, wie noch gezeigt wird. Zuvor sollen aber aus einem raumtheoretischen Verständnis von Städten als soziale Gebilde und räumliche Formen die Ebenen spezifiziert werden, auf denen Verbindungs- und Trennungsdynamiken untersucht werden können. Im Zusammenspiel mit dem Fragmentierungsbegriff wird es dann möglich sein, konkrete, operationalisierbare Dimensionen zu unterscheiden, an denen diese Dynamiken festgemacht werden können.

bedingungen hätte eine enorme herrschaftsstabilisierende Kraft. Insofern müsste sich daran eine kritische Diskursanalyse der machtvollen politischen und ökonomischen Akteure anschließen. (vgl. Hoerning 2014)

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2.2 Theoretische Ebenen der Analyse von Städten Das Ziel ist also eine vergleichende Stadtforschung, welche Städte nicht als Einheiten ontologisiert, sondern die Art und Weise, wie die jeweiligen Städte als widersprüchliche Einheiten von Verbindung- und Trennungsdynamiken hergestellt werden, zueinander ins Verhältnis setzt. Dabei stellt sich die Frage, auf welchen Ebenen nach eben diesen Dynamiken gesucht werden soll. Sämtliche Probleme, die für die vergleichende Stadtforschung identifiziert werden können (Auswahl der Untersuchungsmerkmale, Erklärungsgehalt vergleichender Stadtanalysen, Abgrenzung des Untersuchungsgegenstands, Indikatorenzuordnung, Generalisierbarkeit von Theorien sowie Auswahl der Untersuchungseinheiten (vgl. Simon 1988:393–400), hängen nicht zuletzt mit der Frage zusammen, welche Rolle der theoretischen Einbettung des Vergleichs zukommt. Mit dem Verständnis von Städten als widersprüchliche Einheiten wird zum Ausdruck gebracht, dass sowohl Einschluss-, als auch Ausschlussmechanismen und -muster produziert und reproduziert werden, ebenso wie Grenzziehungen nach außen und nach innen. Stadt als eine Form sozialen Zusammenlebens, die sich durch Verdichtung (teilweise verstanden als Homogenisierung) und gleichzeitig akzentuierte Heterogenisierung auszeichnet, wird produziert und reproduziert in sozialer Praxis, die immer einen räumlichen Bezug herstellt.19 Um einen praktikablen Analyserahmen von Stadt zu erstellen, aus dem die Untersuchungsebenen hervorgehen und Hypothesen ableitbar werden, bedarf es also eines raumtheoretischen Analyserahmens. Dabei geht es einerseits um eine Identifizierung der Ebenen und Dimensionen, die für die Produktion städtischer Räume Relevanz beanspruchen, und andererseits um deren Beziehungen zueinander. Da der „Merkmalsraum, der bei Stadtanalysen verwendet werden könnte, unendlich groß und vollständig nicht erfaßbar“ (ebd.:395) ist, muss eine Auswahl von zu berücksichtigenden Merkmalen stattfinden. Karl-Heinz Simon sieht die Aufgabe der Stadtforschung darin, „die wechselseitigen Zusammenhänge von morphologischen, institutionellen, verhaltensmäßigen sowie semiotisch-symbolischen Aspekten zu analysieren“ (ebd.:404). Diese und ähnliche Aspekte werden in verschiedenen raumtheoretischen Ansätzen berücksichtigt (vgl. auch Läpple 1991). Dabei ist es weniger die Auswahl der relevanten Aspekte oder Ebenen, die schwierig erscheint. Die komplexen Zusammenhänge zwischen den Aspekten aber bleiben häufig unbestimmt oder nur angedeutet. Ein abstraktes, aber dennoch sehr griffiges Denkgebäude findet sich in der „Produktion des Raumes“

19 In Bezug auf ersteren Aspekt gibt das der Begriff des „raumstrukturellen Verdichtungsmodus“ von Helmuth Berking (2008) etwa wieder.

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von Henri Lefebvre. Der hier entworfene Analyserahmen ist von Lefebvres Überlegungen zum Raum als sozialem Produkt inspiriert, lässt sich aber nicht als direkte Umsetzung der Lefebvreschen Raumanalytik verstehen. Lefebvre differenziert zwischen dem wahrgenommenen Raum (espace perçu), dem konzipierten Raum (espace conçu) und dem gelebten Raum (espace vécu) (Lefebvre [1991] 2001).20 Der wahrgenommene Raum besteht in der Verknüpfung von „zeitlicher Alltagswirklichkeit“ und „städtischer Wirklichkeit“ (Wege, Verkehrsnetze, Orte der Arbeit, des Privatlebens und der Freizeit (Lefebvre 2006:335f.); er ist ein praktischer, körpergebundener Raum, dessen physisch-materielle Strukturen in räumlicher Praxis produziert und angeeignet werden. Der konzipierte Raum besteht im „Zerschneiden“ und „Zusammensetzen“ durch ‚Wissenschaftler_innen‘, ‚Raumplaner_innen‘, ‚Urbanisten_innen‘ und ‚Technokrat_innen‘ (ebd.); er ist ein Raum, der gedanklich produziert wird über machtvolle, diskursiv vermittelte Repräsentationen. Der gelebte Raum schließlich ist der Raum der ‚Bewohner_innen‘ und ‚Benutzer_innen‘; als sozialer Raum ist er ein symbolischer Raum, der sich auf das Werden (die beständige Produktion) von Bedeutungen bezieht. In Lefebvres Denken löst sich der Widerspruch zwischen dem ontologischen Status (dem Sein) des physischen Raumes, der wahrgenommen wird, und dem abstrakten Status (dem Nicht-Sein) des mentalen Raumes, der konzipiert wird, im Werden, in der gelebten Praxis auf (vgl. Schmid 2005). Der Widerspruch besteht also und wird gleichzeitig aufgelöst in einer dreifachen Dialektik von physisch-ontologischem, mental-abstraktem und gelebt-praktischem Raum. In ihrer Abstraktheit ist die dreifache Dialektik dieses Raumverständnisses nicht so einfach anwendbar auf konkrete Untersuchungen. Das mag auch darin begründet sein, dass Lefebvre damit den abstrakten Raum einer auf kapitalistischen Produktionsweisen beruhenden Gesellschaft im Sinne hatte, womit eine andere Ebene als die der Untersuchung konkreter räumlicher Formen wie der Stadt verbunden ist. Der Grundgedanke aber, dass Raum sowohl über bedeutungszuweisende Alltagspraktiken als auch über wirkmächtige ‚Konzipierungen‘ seitens relevanter Akteure hergestellt wird und dabei wahrnehmbare, materielle Strukturen geschaffen und angeeignet werden, wobei diese Aspekte zueinander in einem elementaren Verweisungszusammenhang stehen, ist hier von herausragender Bedeutung. Aus diesem Gedanken lassen sich drei Ebenen herausarbeiten, welche die Zusammenhänge zwischen dem physischen, dem mentalen und dem sozialen Raum abbilden und auf denen nach Verbindungs- und Trennungsdynamiken im 20 Auf eine ausführliche Diskussion dieses Ansatzes wird hier verzichtet, dafür sei exemplarisch verwiesen auf Goonewardena (2008), Schmid (2005) und Gottdiener (1993).

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Rahmen eines Städtevergleichs zu suchen wäre. Hierfür wird unterschieden zwischen der konkreten Materialität einer Stadt in einer physisch-räumlichen und einer sozial-räumlichen Dimension, den Repräsentationen des Städtischen im Sinne von Konzipierungen und Vorstellungen, sowie der städtische Alltagspraxis als Nutzung und Bedeutungszuordnung von Orten:21 1. Vordergründig bezieht sich die Ebene der konkreten Materialität einer Stadt auf eine physisch-räumliche Materialität. Sie bietet einen rein deskriptiven Zugang, etwa über bauliche und infrastrukturelle Gegebenheiten, Plätze, Straßen, Grünflächen etc., die sich zu Strukturen und Mustern zusammenfassen lassen (z.B. entlang bestimmter Bebauungsformen). Für sich genommen ist eine solche Beschreibung von Städten aber wenig aussagekräftig. Erst im Zusammenhang mit den Bedeutungen und Funktionen, welche die so unterschiedenen Elemente einer Stadt in ihrer Nutzung (bzw. der Zuordnung von Nutzungsweisen) erfahren, werden sie zu signifikanten Merkmalen. Die physisch-räumliche Materialität einer Stadt wird von unterschiedlichen Akteuren entlang ihrer Möglichkeiten zur Durchsetzung spezifischer Nutzungs- und Gestaltungsformen hergestellt. Sie kann also nicht losgelöst werden von den Bedingungen und ungleichen Möglichkeiten der Aneignung und Gestaltung von konkreten Räumen. Beschreibt man etwa bestimmte Bereiche einer Stadt als von Hochhäusern geprägt, so ist damit noch nicht mehr gesagt, als dass Baumaterialien in Hochbauweise zum Einsatz gekommen sind. Von Bedeutung ist erst, ob es sich dabei um luxuriöse Hochbauten für hohe Einkommensschichten, um einfache Hochbauten für mittlere und untere Einkommensschichten, oder gar um sozialen Wohnungsbau handelt. Zur körpergebundenen Wahrnehmung von konkreten Orten gehört nicht nur die bauliche Substanz (zum Beispiel abgeschlossene Sicherheitsarchitekturen oder Orientierung hin zum öffentlichen Raum; hochwertige, gepflegte Materialien oder kostengünstige, schnell erodierende Bauweise), sondern auch wer in welcher Weise diese Orte nutzt oder nutzen soll (ob als Passant_innen oder außerhalb der Wohnhäuser verweilend; als Fußgänger_innen oder Autofahrer_innen; als Bewohner_innen oder Angestellte). Die konkrete Materialität einer Stadt ergibt sich also erst aus dem Zusammenspiel von sozialen Bedeutungen, zugewiesener und konkreter Alltagsnutzung und den dadurch produzierten Orten. Sie beinhaltet also eine physisch-räumliche sowie eine sozial-räumliche Dimension. Bei einer Beschreibung der konkreten Materialität ist also der physi21 Vgl. auch die folgende Unterscheidung Lefebvres: „[B]etween the city, a present and immediate reality, a practico-material and architectural fact, and the urban, a social reality made up of relations which are to be conceived of, constructed or reconstructed by thought. […] Urban life, urban society, in a word, the urban, cannot go without a practico-material base, a morphology.“ (Lefebvre 1996:103)

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sche Raum aus der dreifachen Dialektik und seinen Verbindungen zum abstrakten und sozialen Raum nicht herauszulösen. 2. Mit Repräsentationen des Städtischen sind die mentalen Vorstellungen und Konzipierungen von Stadt gemeint, wobei es sich eben nicht um einfache, wiedergebende Abbilder, sondern um Konstruktionen von Wirklichkeit handelt (vgl. Noller 1999:13).22 Vorrangig geht es bei diesen Vorstellungen und Konzipierungen um eine bestimmte Stadt und ihre Orte, aber sie können nie ganz gelöst werden von Vorstellungen und Konzipierungen davon, was Stadt (oder das Städtische) allgemein kennzeichnet (bzw. zu kennzeichnen hat im Sinne eines normativen Maßstabs). Sowohl die Vorstellung eines Ortes als ‚ab vom Schuss‘ als auch die stadtplanerische Konzipierung desselben Ortes als ‚dezentral‘ etwa steht in unauflösbarem Zusammenhang mit dem, was als zentraler, städtischer Ort verstanden wird – nicht nur, was die infrastrukturelle und funktionale Ausstattung betrifft, sondern auch im Hinblick auf die Nutzungsweisen, die damit verbunden sind. Mit Repräsentationen als Vorstellungen sind alltagsrelevante Zuschreibungen und Charakterisierungen von (einer) Stadt (und ihren Orten) gemeint. Diese Vorstellungen stehen im Zusammenhang mit der Materialität der Stadt, d.h. es geht um Vorstellungen von einer Stadt und ihren Teilen (Orten) durch die Bewohner_innen und Nutzer_innen (auch: Besucher_innen) selbst und darum, welche Vorstellungen des Städtischen allgemein darin zum Ausdruck kommen bzw. dafür als Referenz dienen.23 Zuschreibungen und Charakterisierungen von Bewohner_innen und Benutzer_innen wirken sich auf individuelle Verhaltensweisen aus (etwa, weil ich die Stadt, in der ich lebe, als einen Ort der Unsicherheit und Angst vorstelle, suche ich, sowenig Zeit wie 22 Beim Repräsentationsbegriff lässt sich zwischen Vorstellung und Darstellung unterscheiden. Repräsentation gilt einerseits als mentaler Prozess, „als das Vorstellen dessen, was sich außerhalb des Bewußtseins befindet“ Jamme & Sandkühler 2003:26. Andererseits wird der Repräsentation im Hinblick auf die Darstellungsdimension auch ein „stiftender Charakter“ zugeschrieben, wenn sie in das Dargestellte eingreift und zum performativen Akt wird (ebd.: 28). Eben diese Dimension lässt sich mit dem Begriff der Konzipierung aufgreifen, wie sie emblematisch in der Planung in Bezug auf Stadt zu finden ist. 23 Genauso könnte auch der Blick von ‚außen‘, d.h. durch ‚Stadtfremde‘, für relevant erachtet werden. Im Austausch mit der konkreten Materialität, d.h. körpergebundenen Wahrnehmung und Aneignung von städtischen Räumen aber kann nur stehen, wer körperlich anwesend ist, insofern handelt es sich um eine andere Art der Vorstellung als jene, welche den städtischen Raum unmittelbar produzieren. Mittelbar können diese Vorstellungen aber selbstverständlich sehr wirksam werden, nämlich indem sie zur Bezugsfolie für die unmittelbaren Produzent_innen eines städtischen Raumes werden.

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möglich im öffentlichen Raum zu verbringen), sind aber auch in privaten sozialen Interaktionen relevante Bezugsgrößen (im Reden darüber, in Anregungen und Tipps zu Verhaltensweisen etc.). Diese Vorstellungen lassen sich von Konzipierungen unterscheiden, die nicht nur Darstellungen und Projektionen von (einer) Stadt (und ihren Orten) sind, sondern auch wirkmächtige Gestaltungsentwürfe. Das Entwerfen einer Stadt und ihrer Teile hat hier keinen privaten, sondern einen öffentlichen Charakter. Dabei kann zumindest zwischen medialen, politisch-planerischen und wissenschaftlichen Konzipierungen unterschieden werden.24 3. Schließlich wird (eine) Stadt im Alltag hergestellt durch die konkreten Praktiken an spezifischen Orten, die darüber mit Bedeutung(en) besetzt und miteinander verbunden bzw. voneinander getrennt werden. Die Untersuchung der Ebene der städtischen Alltagspraxis orientiert sich an alltäglich durchgesetzten und umkämpften Nutzungen spezifischer Orte und deren Bedeutung(szuordnung) für den Alltag der Benutzer_innen der Städte bzw. der städtischen Orte.25 Sie stehen freilich in einem unauflöslichen Zusammenhang sowohl mit den zugewiesenen (konzipierten) Nutzungsweisen, welche die konkrete 24 An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, warum Lefebvre für seine ‚Raumtrialektik‘ mediale Konzipierungen nicht für relevant zu erachten scheint, wenn er vor allem von den Konzipierungen Seitens der Planer_innen und Wissenschaftler_innen spricht. Zumindest auf die Vorstellungen seitens der Bewohner_innen dürften mediale Repräsentationen einen sehr starken Einfluss haben. Aber der Zusammenhang zwischen Planung und Wissenschaft ist insofern direkt, als Forscher_innen beratend oder im Auftrag tätig sind, wenn es um die (Um-)Gestaltungsentwürfe von (einer) Stadt geht – hier ist der Einfluss der Medien sicher eher als mittelbar zu verstehen. Anders gesagt: Der wissenschaftliche und der politisch-planerische Diskurs über Stadt haben eine größere (bewusst hergestellte) Schnittmenge und bilden eine machtvolle, auf ‚Expert_innenwissen‘ basierende Verbindung (die dennoch keinesfalls nur auf Einhelligkeit und gegenseitiger Unterstützung beruht). 25 Auf der Ebene der Praxis wäre neben dem hier berücksichtigten Handlungskontext der (inner)städtischen Praktiken eigentlich noch eine zweite Ebene zu berücksichtigen: die ökonomischen, politischen und kulturellen Verflechtungspraktiken auf supralokalen Ebenen (regional, national, global). Die Verknüpfungen durch Akteure und Netzwerke, die über die lokalen Handlungskontexte hinausgehen, sind für das Verständnis von städtischer Entwicklung elementar – sie stellen ein konstitutives Moment für ein relationales Verständnis von Städten dar, die eben nicht als unabhängige gesellschaftliche Raumeinheiten zu denken sind. Gleichwohl liegt der Fokus der vorliegenden Untersuchung auf der internen Ordnung der Städte, weshalb die Ebene der Praxis auf die konkreten Nutzer_innen der Städte eingeengt bleibt.

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Materialität von Stadt bzw. städtischen Orten gliedern, als auch den Vorstellungen, welche den Praktiken zugrunde liegen und die mit der Wahrnehmung der konkreten Materialität aufs engste verbunden sind. Auch in Bezug auf diese Dimension sind also der physische, der mentale und der soziale Raum nicht bzw. nur analytisch voneinander zu trennen. Die Stadt bzw. der städtische Raum ist gleichzeitig Kontext und Bezugspunkt der Praktiken – als Kontext strukturiert der städtische Raum, gibt bestimmte Praktiken (der Aneignung, der Gestaltung, des Ordnens, des darüber Sprechens) vor bzw. leitet sie an; als Bezugspunkt wird er in repetitiver Praxis re-produziert und in kreativer Praxis geschaffen bzw. verändert.26 Die städtische Alltagspraxis produziert damit den städtischen Raum als materielle Struktur und als symbolische Verdichtung und geht gleichzeitig aus ihm hervor, indem die konkrete Materialität über Vorstellungen und Konzipierungen vermittelt handlungsleitend wirkt. Praxis meint aber nicht einzelne Handlungen, die situativen Charakter tragen, sondern gesellschaftliche Praxis, die als „Ort der Dialektik“ (Bourdieu 1993:100) von objektiven und subjektiven Strukturen verstanden werden kann. Um es mit Lefebvre auszudrücken: Die gesellschaftliche Praxis „produziert die menschliche ‚Welt‘“ der Dinge, Objekte, Produkte und Werke, „die unsere Sinne wahrnehmen“ (Lefebvre 1987:494f). Sprache, Symbole und Bedeutungen vermitteln dabei zwischen dieser „Außenwelt“ und der „Innenwelt“ des Bewusstseins. Auch der Alltagsbegriff benennt das Vermittlungsverhältnis zwischen gesellschaftlichen Strukturen und individuellen Praktiken. Die verschiedenen Ansätze zur Alltagsforschung zeigen „[i]nsgesamt […], dass Alltag als routinierte Nutzung von Zeit und Raum eine Basis für das soziale Leben schafft, die nicht ständig neu hinterfragt werden muss. Die Routinen sind zwar individuell, werden allerdings nicht nur persönlich bestimmt und organisiert.“ (Vogelpohl 2012:28)27 Im Sinne des oben skizzierten Praxisbegriffs wird mit der städtischen Alltagspraxis hier nicht nur von Nutzungen, sondern auch von Bedeutungen gesprochen. Wenn der gebaute städtische Raum die Welt der Dinge, Objekte, Produkte und Werke ist, dann bezieht sich die städtische Alltagspraxis darauf, wie eben dieser gebaute Raum genutzt (angeeignet, befahren, durchquert u.a.) wird und welche Bedeutungen in Bezug auf diesen Raum im Alltag Relevanz erhalten. 26 Praxistheorien betonen den Doppel- bzw. Mehrfachcharakter der Praxis (s. Hörning 2004:28; Reckwitz 2003; Lefebvre 1987). 27 Für Lefebvre gehen im Alltagsleben gehen das Erlebte, „was ich tue, was ich in meinem Lichte und meinen Horizonten weiß, der Teil, den ich mir anzueignen vermochte“ und das Leben, was „nicht mir gehört, da es gesellschaftlich par excellence ist“ Lefebvre 1987:473 ständig ineinander über. Arbeit, Bedürfnis und Genuss werden als die drei „Formanten“ dieses Alltagslebens benannt.

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Mit dieser Konzeptualisierung der Analyse von Städten richtet sich die Frage, ob sich große und ‚mega-große‘ Städte unterscheiden, darauf, die in den Städten wirksamen Verbindungs- und Trennungsdynamiken in Bezug auf die konkrete Materialität, die Repräsentationen des Städtischen sowie die städtische Alltagspraxis herauszuarbeiten. Indem sowohl Verbindungs- als auch Trennungsdynamiken fokussiert werden, kann die Komplexität und Widersprüchlichkeit von Verdichtungs- bzw. Homogenisierungs- und Heterogenisierungsprozessen berücksichtigt werden. Diese Untersuchungsperspektive lässt sich in einem heuristischen Begriff der Fragmentierung zusammenfassen, worunter nicht ein empirisches Phänomen zu verstehen ist, sondern eine allgemeine Dynamik, die zum Gegenstand einer nicht-ontologisierenden Stadtforschung gemacht werden kann. 2.3 Das analytische Potential des Fragmentierungsbegriffs a)

Der Fragmentierungsbegriff in den Gesellschafts- und Geisteswissenschaften Ganz allgemein bedeutet ‚Fragment‘ Bruchstück und das Verb ‚fragmentieren‘ steht für das Aufbrechen oder Auseinanderfallen (eines Ganzen) in Teilstücke. Fragmentierung bezieht sich somit sowohl auf die Fragmente als bruchstückhafte Ergebnisse dieser Spaltung, als auch auf den Prozess des Auseinanderfallens/brechens. Die einzelnen Fragmente stehen in direktem Zusammenhang zu einem (vormals bestehenden) Ganzen, das aber als solches nicht mehr unbedingt zu erkennen ist. Gleichzeitig sind sie die Komponenten des Zustands, der aus diesem Aufbrechen resultiert, einem Zustand der Zersplitterung ebenso wie der (noch unvollkommenen) Neuzusammensetzung. Insofern ergibt sich eine Art dialektische Beziehung zwischen Destruktion und Rekonstruktion: „Fragmentierung bedeutet eine gleichzeitige Zerlegung oder Differenzierung (in unserem Fall gesellschaftlicher Sektoren) in Bruchstücke, die auf der einen Seite voneinander unabhängig erscheinen, die aber doch auf der anderen Seite in einen neuen Zusammenhang gebracht werden. Wer Fragmente als Fragmente erkennt, hat die ‚Originalität‘ des Gewesenen virtuell destruiert und sie in eine neue Ordnung gebracht. Es herrscht also im Fragmentarischen eine Dialektik von Destruktion und Rekonstruktion vor. Diese Veränderung des Blicks auf das Gewesene im Kontext des Neuen ist zugleich nicht nur ein Blickwechsel. Das Vergangene wird zwar im Blickwinkel der Destruktion wahrgenommen, im Akt der Rekonstruktion wird aber das Gegenwärtige als Neues in seiner unvollkommenen, unfertigen Gestalt begriffen. Die Ruine als Fragment ist so Zeuge des historisch Vergangenen, aber die Gestalt des Historischen als Destruiertes wirkt schon je in die Gegenwart, ja in die Erwartungen und Utopien der Zukunft.“ (Brunner 1997:13, Hvh. i. O.)

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Im Rückgriff auf Walter Benjamin ordnet hier der Philosoph Reinhard Brunner die Fragmentierung oder das Fragmentarische als die (historische) Erfahrungsform der Moderne ein. Deutlich wird aber insbesondere, dass mit dem Fragment nicht nur ein gegenwärtiger Zustand bzw. dessen Wahrnehmung repräsentiert wird, sondern auch (an) eine vergangene Ganzheit erinnert und mögliche Neuzusammenhänge angedeutet werden. Dabei erscheint (soziale) Heterogenität als Verbindungsmoment zwischen Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem: Sie kann nicht nur als Konsequenz des Fragmentierungsprozesses betrachtet werden, sondern auch als ihre Ursache (vgl. Holtz-Bacha 1998). Fragmentierung steht also in einem engen Zusammenhang mit Heterogenität als einem (historisch und gesellschaftsspezifisch unterschiedlich organisierten) Grundprinzip sozialer Strukturen. In der Auseinandersetzung mit modernen Gesellschaften dominiert der Blick auf die Entwicklung von segmentären hin zu differenzierten Gesellschaftsstrukturen (vgl. Durkheim 1977 [1893]). Ganz generell bilden soziologische Analysen hierzu eine fortschreitende Differenzierung ab, die von der antagonistischen kapitalistischen Klassengesellschaft hin zu einer Pluralisierung von Schichten, Milieus und Lebensstilen führt. Obwohl die Analysen zu heutigen Gesellschaftsstrukturen dabei mitunter (zwischen Makround Mikroperspektiven) wesentlich variieren, so ist doch eine generelle Tendenz zu verzeichnen, dass zumindest vielfältigere Spaltungen, also ein Aufbrechen ehemals bestehender sozialer, kultureller, ökonomischer und politischer Bindungen benannt werden. Postmoderne Ansätze betonen dabei eine ‚Radikalisierung‘ der Pluralisierung (Welsch 1988) im Sinne von Werten, Einstellungen und Wahlmöglichkeiten, die verwoben sind mit den ökonomischen Restrukturierungsprozessen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auch wenn gleichzeitig wieder von verstärkten ökonomischen Polarisierungsdynamiken die Rede ist.28 Diese Ergebnisse soziologischer Forschung sind gleichwohl als Ausdruck einer ‚westlichen‘ Gesellschaftsforschung zu sehen – für unser Erkenntnisinteresse hinsichtlich der begrifflichen Präzisierung von Fragmentierung gegenüber Pluralisierung und Differenzierung ist die historische Aussagekraft nachrangig. Fragmentierung ist jedenfalls kein präziser Begriff: Was für die literaturtheoretischen Debatten um Fragmentierung moniert wird, nämlich, dass der Begriff nur sehr vage verwendet werde (Schmitt 2005:12), gilt für die soziologischen Verwendungsweisen ebenso, insbesondere was das Verhältnis zu ähnlichen Begriffen wie Differenzierung und Pluralisierung betrifft. In soziologischen Ansätzen zu sozialer Organisation und Strukturierung wird mit Fragmentierung zumeist auf Prozesse der De- bzw. Re-Organisation zuvor 28 Eine ausführliche Analyse simultaner Polarisierungs- und Fragmentierungsprozesse findet sich bei Enzo Mingione (1991).

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kohärenter gesellschaftlicher Strukturen verwiesen (s. Brunner 1997). Entweder ist damit eine temporäre Restrukturierung gemeint, wobei die Fragmente quasi Überreste der vorherigen Strukturen sind. Das Fragmentarische ist dann ein Übergangsstadium bzw. es beschreibt einen Wandel im Sinne eines Aufbruchs und einer Neubildung gesellschaftlicher Strukturen, dessen Ergebnis noch unbekannt ist. Oder Fragmentierung taucht als Beschreibungskategorie eines intrinsischen Prozesses moderner bzw. post-moderner Gesellschaften auf, deren Teile oder Fragmente in unterschiedlichem Ausmaß miteinander verbunden sind. Damit rückt der Blick weg von der Fragmentierung als Prozess bzw. als Übergang und der Fokus liegt auf der Konstatierung einer fragmentarischen bzw. fragmentierten sozialen Welt bzw. eines fragmentarischen Wissens über diese. Dabei bleibt aber offen, in welchem Verhältnis der Begriff zur Differenzierung steht und man läuft Gefahr, hierarchisch-ungleiche Strukturen innerhalb der Gesellschaft zu kaschieren.29 Hinweise auf die Unterscheidung von Differenzierung und Fragmentierung finden sich etwa bei Jürgen Habermas, der von der „Ausdifferenzierung der Wertsphären Wissenschaft, Moral und Kunst“ (Habermas 2011:482) spricht; problematisch ist für Habermas das damit verbundene Aufbrechen der Einheit einer „nichtverdinglichten kommunikativen Alltagspraxis“ (ebd.:586) durch die Institutionalisierung, Professionalisierung und Spezialisierung der Expertenkulturen, womit die Lebenswelt „verarmt“ und das Alltagsbewusstsein „fragmentiert“ (ebd.:521) wird. Während mit Differenzierung ein neutraler Prozess der Unter- und Aufteilung benannt scheint, liegt der Fragmentierung eine normative Perspektive zugrunde, die den Verlust einer (wünschenswerten) Einheit zum Ausdruck bringt. Diese Sichtweise drückt eine der beiden ‚post-modernen‘ 29 Dass Polarisierung und Fragmentierung in einem komplexen Zusammenhang stehen und simultane Prozesse darstellen können, zeigt die Analyse Enzo Mingiones, der die ökonomischen, sozialen und politischen Differenzierungsprozesse der 1990er Jahre als ‚fragmentierte Polarisierung‘ beschreibt und dabei die beiden Begriffe zu präzisieren sucht: „Polarization evokes the image of a limited number of social conditions, possibly only two, which increasingly diverge from one another and/or encompass a growing percentage of the total population. Fragmentation, on the other hand, basically entails an increasing number of different social conditions. […] However weak and controversial their methodological underpinnings, the simple theories of social polarization have been powerful tools in explaining social action and conflict. This is not the case with fragmented polarization. Here, the idea of fragmentation is based on the assumption that roughly similar conditions of existence at one of the poles do not imply the same social and cultural background, common interests and similar patterns of social action.“ ( Mingione 1991:436)

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Denkvarianten in Bezug auf das Verhältnis von Ganzheit und Differenzierung aus, wie sie Wolfgang Welsch gegenüberstellt: Während ein „homophiler“ Postmodernismus den Verlust der Einheit (als fragmentarisch) kritisiere, stelle ein „heterophiler“ Postmodernismus die Differenz als Heilmittel gegen die Totalisierungen der Moderne dar (Welsch 1988:54ff). Erstere Position findet sich exemplarisch eben bei Habermas, während die zweite Position von Lyotard vertreten wird. Unabhängig von möglichen Interpretationen und Bewertungen steht Fragmentierung in einem unauflöslichen Zusammenhang zum Begriff des Ganzen, der Ganz- bzw. Einheit oder Totalität. Eben dieses Verhältnis bildet auch den Kern der prominenten Diskussionen um Fragmentierung in der Philosophie (etwa bei Hegel und Lukàcs, s. Brunner 1994), in der Psychoanalyse (etwa bei Lacan, s. Pazzini 2014) und der Literatur- und Kunsttheorie (s. Dällenbach & Nibbrig, Christiaan L. Hart 1984). Während die Philosophie und Gesellschaftstheorie Fragen der Erkenntnis sowie das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft aufwirft, beziehen sich die psychoanalytischen Perspektiven insbesondere auf das Verhältnis von Körper und Identität, und die literatur- und kunsttheoretischen Perspektiven nehmen Bezug auf Fragen der Darstellung und Repräsentation in Sprache, Bildhaftigkeit und Textualität. Ganz allgemein verweist die geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Begriffsgeschichte von Fragmentierung auf zweierlei: Zum einen können Fragmente nur als solche erkannt werden in Bezug auf eine vorgestellte oder rekonstruierte Totalität. Zum anderen werden mit dem Begriff Prozesse der Auflösung eines vorherigen Zusammenhangs und der Herstellung neuer Zusammenhänge angedeutet. Dialektisch ausgedrückt: Das Fragment ist und ist nicht Teil eines Ganzen – der Widerspruch löst sich auf in den Prozessen und Praktiken der De- und Rekonstruktion von Zusammenhängen. In Bezug auf gesellschaftliche Fragmentierung lassen sich die unterschiedlichen Verständnisse von Fragmentierung wie folgt gegenüberstellen: Auf der einen Seite gilt Fragmentierung als Gegensatz zu dem positiv besetzen Konzept sozialer Integration, gar als Infragestellung sozialer Kohäsion und verweist damit auf einen Prozess der Desorganisation. Auf der anderen Seite wird darunter ein re-organisierender Prozess verstanden, innerhalb dessen sich neue, multiple Formen gesellschaftlicher Integration herausbilden, die nicht mehr nur entlang sozialer und systemischer Integration von (nationalen) Gesellschaften beschrieben werden können: „Social fragmentation does not signify so much disorganization or that political systems are necessarily less governable, but that the key associative aggregations are less predomi-

120 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT nant and break up into divergent and non-cohesive areas of interest both in terms of associative fragmentation and in the wake of the more complicated impact of reciprocal networks.“ (Mingione 1991:433)

Das Zitat von Enzo Mingione bringt zum einen beide Verständnisweisen von Fragmentierung zum Ausdruck, zum anderen verweist es auf einen Begriff, der die Fragmentierung mit der Herausbildung neuer Formen der Integration in Verbindung bringt: Netzwerke. Generell ist die Netzwerkdebatte eng verbunden mit der Erforschung der auf neuen Kommunikationstechniken und -weisen basierenden sog. Informationsgesellschaft. Diese Debatten betonen die Ambivalenz zwischen einerseits Konvergenzen, verstanden als „similarity and increasing unity of experience“, und andererseits Fragmentierung, verstanden als „growing differentiation of experience“ (Ludes 2008:10). Ein solcher Netzwerkbegriff distanziert sich von der Perspektive einer räumlichen Fixierung zugunsten einer an Kommunikationstechniken orientierten Erfahrungsdimension. Ein Ansatz, der dabei dennoch die Orte, von denen aus kommuniziert (oder auch nicht kommuniziert) wird, berücksichtigt, findet sich in der Netzwerkgesellschaft von Manuel Castells. Sie beruht auf globalen Finanzströmen, deren Knotenpunkte Aktienmärkte, politische Institutionen, lokale Produktionseinheiten und Dienstleistungszentren sind, sowie auf der ihnen zugrunde liegenden Kommunikationsinfrastruktur (Castells 2010:444f). Während der Netzwerkbegriff globale Verbundenheit impliziert, produziert diese neue räumliche Konfiguration aber lokale Un-Verbundenheit (disconnection), eine Tendenz, die von Castells insbesondere in den sogenannten Megastädten verortet wird (ebd.: 436). Mit dem Fragmentierungsbegriff verweist Castells auf „[the] widening gap between connected and unconnected (or disconnected) places and people“ (Coutard 2008:1816). Gerade in der Betonung der Simultaneität von Verbundenheit und Unverbundenheit liegt ein wesentlicher Unterschied der fragmentierten Netzwerkgesellschaft zur klassischen soziologischen Konzipierung sozialer Netzwerke als Beziehungen zwischen Individuen oder sozialen Akteuren, worüber eine sinnstiftende Welt geschaffen wird, die nach außen hin abgegrenzt wird (vgl. Fuchs 2010:55f.). Die Gegenüberstellung von Fragmentierung und Integration wird besonders deutlich in den Debatten um Globalisierungsprozesse. Auf den ersten Blick erscheint die Globalisierungsthese wie das Versprechen einer umfassend integrierten Welt(-Gesellschaft). Sie wird nicht nur durch ökonomische Beziehungen aufrechterhalten, sondern produziert auch kulturelle und politische Konvergenzen mittels globaler Kommunikations- und Mobilitätsintensivierung, wodurch (geographische, räumliche) Distanzen scheinbar irrelevant werden. Dass dem nicht so ist, zeigen insbesondere Stadtforschungsansätze, die auf die unterschied-

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lichen lokalen Strategien und die Bedeutung lokaler Bedingungen für Globalisierungsprozesse hingewiesen haben. Während es für ein Verständnis von letzteren wichtig ist, dem Verhältnis zwischen Verbundenheit und Un-Verbundenheit auf globaler Skalenebene nachzugehen, ist für die Stadtforschung der Blick auf eben dieses Verhältnis auf lokaler Ebene von Bedeutung. Gerade die Disparität zwischen der Konnektivität globaler Netzwerke und Beziehungen einerseits, und der Nicht-Konnektivität auf lokaler Ebene andererseits verschiebt das Augenmerk auf die Städte, wo die Artikulation zwischen globalen und lokalen Tendenzen und Bedingungen annahmegemäß zu intensivierter Fragmentierung führt (Harrison 2003:15). Dabei geht es nicht darum, Fragmentierung als „‚natural‘ counterpart of globalization“ (Tröger 2009:258) zu sehen, sondern zu untersuchen, welche Bedeutung Fragmentierungstendenzen für die integrativen und exklusiven Mechanismen städtischer Gesellschaften haben. b) Der Fragmentierungsbegriff in der Stadtforschung Seit den 1990er Jahren sind vermehrt Beiträge erschienen, die den Begriff der Fragmentierung versuchen in seinem Gehalt für ein sozialwissenschaftliches Verständnis von Städten zu erfassen. Der wohl umfassendste Forschungskontext, innerhalb dessen Fragmentierung einen der zentralen Bezugspunkte darstellt, ist der des (vorrangig sozialgeographischen) „postmodern urbanism“. Begriffe wie die „splintering metropolis“ (Graham 2001) oder die „fractal city“ (Soja 2000) bilden grundlegende Konzepte innerhalb dieser Forschungslinie. Die grundlegende These der „spatial fragmentation and disaggregation“ (Murray 2004:142) wird insbesondere in pluri-/multi-zentralen Stadtregionen (Soja 2000) untersucht, wobei nicht nur räumliche Strukturen Berücksichtigung finden, sondern auch eine Pluralisierung ehemaliger kollektiver Identitäten (Mommaas 1996:209) identifiziert wird. Damit im Zusammenhang steht auch die grundlegende Analyse Edward Sojas, wonach bisherige Analysemodelle zur gesellschaftlichen Struktur der Städte obsolet geworden sind: „[U]rban social order can no longer be defined effectively by such conventional and familiar modes of social stratification as the class-divided Dual City of the bourgeoisie and the proletariat; the neatly layered Hierarchical City of the wealthy, the middle class, and the poor; or the ‚two Americas‘ Racially Divided City of black versus white.“ (Soja 2000:265).

Der Begriff der Fragmentierung scheint also ehemals dominante Konzepte wie das der geteilten/gespaltenen Stadt oder der „Quartered City“ abzulösen. Basierten diese noch auf der Annahme einer klassenmäßigen Polarisierung städtischer Gesellschaften, bleibt bislang unklar, ob mit Fragmentierung auch eine neue

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Qualität von Sozialstruktur benannt werden soll, oder ob der Begriff lediglich der Beschreibung veränderter (kleinräumiger) sozial-räumlicher Muster dient, die ehemalige Segregationsformen ablösen.30 Insbesondere in der Literatur zu ‚Megastädten‘ kommt die Annahme der akzentuierten Fragmentierung zum Tragen. Nicht nur scheinen gesellschaftliche Strukturen ungleicher, komplexer und vielschichtiger, auch bilden sich in den weiten Stadträumen eine Vielzahl an verschiedenen und unterschiedlich stark vernetzten Nutzungsformen und Zentralitäten heraus, die nicht zuletzt auch eine kohärente politische Regulierung in Frage stellen. Wenn Manuel Castells sog. Megacities als „discontinuous constellations of spatial fragments, functional pieces, and social segments“ (Castells 1996, 404f) bezeichnet, so wird darin zum einen deutlich, dass der Bezug zur Fragmentierung vor allem räumlich gedacht ist, zum anderen, dass eine neue Aufspaltung oder Aufteilung auch funktionaler und sozialer Art in diesen Städten zu verzeichnen ist. In der Stadtforschung taucht der Fragmentierungsbegriff also insgesamt weniger als analytisches Konzept, denn als (empirische) Problemzuweisung auf. In der Auseinandersetzung mit der bestehenden Megastadtforschung (Kapitel A.I) konnte bereits gezeigt werden, dass damit so unterschiedliche Dinge benannt werden wie die (negativ bewertete) Aufteilung von politisch-institutionellen Verantwortungsbereichen (Figueroa 1996), oder auch die Abschottung reicher Stadtbewohner_innen (Low 2005), die als Ausdruck sozialen Misstrauens und als Reaktion auf die Angst vor Gewalt gelesen wird (Moser 2005). Andernorts wird mit Fragmentierung der Zusammenhang zwischen Polarisierung und Informalisierung auf der einen Seite, und abnehmender Kohäsion auf der anderen Seite hergestellt (Kraas/Nitschke 2006). Diesen Aussagen über den Zusammenhang zwischen ‚megastädtischen‘ Besonderheiten und sozialer, räumlicher und politischer Fragmentierung liegen in unterschiedlichem Grad empirische Untersuchungen/Befunde zugrunde, ganz generell lässt sich das Fragmentierungsnarrativ aber eher als These, denn als Analyseergebnis bezeichnen. Die französische Soziologin Françoise Navez-Bouchanine unterscheidet in ihrer Aufarbeitung sozialwissenschaftlicher Fragmentierungskonzepte grundlegend zwischen sozialer bzw. gesellschaftlicher Fragmentierung, städtischer (physisch-räumlicher und sozial-räumlicher) Fragmentierung und politischer Fragmentierung (Navez-Bouchanine 2003a; Navez-Bouchanine 2003b). Als soziales Phänomen stelle Fragmentierung einen neu akzentuierten Sozialstrukturbegriff dar. Er sei auf Auflösungsprozesse von kollektiven Bindungen bezogen, die zu einer Neugruppierung entlang anerkannter kollektiver Identitäten 30 Interessant wäre hier sicher eine erweiterte raum- und stadttheoretische Diskussion des Begriffs der „fragmentierten Polarisierung“ von Enzo Mingione (1991).

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führten (Navez-Bouchanine 2003b). Als städtisches Phänomen rückten dagegen morphologische, territoriale und geographische Strukturen in den Blick (ebd.) – und damit die Frage, wie diese im Zusammenhang mit sozialen Strukturen stehen. Als politisches Phänomen werden dezentralisierende Tendenzen und Verschiebungen in Machtverhältnissen von der Autorin benannt (etwa durch die Pluralisierung politisch-administrativer Ebenen oder den Rückzug des Staates). In ihrer Auseinandersetzung mit verschiedenen Fragmentierungsbegriffen in der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung zeigt Navez-Bouchanine, dass, erstens, ein Großteil der Studien zu räumlich(-morphologischer) Fragmentierung von Städten diesen Prozess mit Vorstellungen von Chaos in Zusammenhang bringt. Die Spaltung und Ablösung verschiedener Teile der Stadt führt zu internen Grenzziehungen, welche mit der (geplanten und gedachten) Einheit der Stadt brechen und zu „Juxtapositionen sehr begrenzter und geschlossener, sozial spezialisierter Räume“ führen (ebd.: 57, Übers. JH). Eine zweite Perspektive auf die räumliche Fragmentierung von Städten besteht darin, diese als einen ungeordneten Entwicklungsprozess zu behandeln, der zur Herausbildung mosaikartiger Stadtstrukturen ohne identifizierbare Zentralität führt. Schließlich weist NavezBouchanine noch auf eine dritte Stoßrichtung in der Forschung zu stadträumlicher Fragmentierung hin, innerhalb derer diese weniger als ein Prozess der Unordnung erscheint, sondern vielmehr als eine willkürlich-zufällige Multipolarisierung. Diese würde zu einer irregulären, fraktalen Morphologie der Städte führen, ohne dabei eine bestimmende und bestimmbare Ordnung zu produzieren. Ungeachtet der Unterschiede zwischen diesen drei Formen, hält sie den grundsätzlichen Konsens fest, wonach Fragmentierung etwas mit Un- oder UmOrdnen zu tun habe. Das Bild der geplanten, geordneten Stadt löst sich auf. Letztlich knüpft sich daran häufig eine normative Interpretation dieses Vorgangs, nämlich entweder als Chaos oder als positiv bis neutral besetztes Stadtmosaik. Inwiefern unterscheidet sich Fragmentierung dabei von klassischen Formen der Segregation? Als einer der zentralen Bezugspunkte stadtsoziologischer Forschung bezieht sich Segregation auf die Herausbildung sozial (v.a. ethnisch und sozioökonomisch) distinkter und mehr oder weniger homogener (insbesondere residentieller, aber auch funktionaler) räumlicher Teilbereiche innerhalb einer Stadt. Navez-Bouchanine zufolge gibt es mindestens zwei Aspekte, nach denen sich Fragmentierung von Segregation unterscheidet: Zum einen insofern, als sich Fragmentierung klassifizieren lässt als „das Aufbrechen, die Umkehrung, das Zerbrechen eines sozialen und politischen Ensembles, während Segregation als ein hierarchisches aber einheitliches Organisationsprinzip erscheint“ (ebd.:62,

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Übers. JH).31 Zum anderen steht für Navez-Bouchanine die Fragmentierung stärker im Zusammenhang mit dem Wandel öffentlicher Räume als dem residentieller Strukturen, worauf sich der Segregationsbegriff dagegen vorrangig beziehe. Als eine der bestimmenden Größen innerhalb der Forschung zur ‚fragmentierten Stadt‘ ist hierbei die fortschreitende Privatisierung und Überwachung öffentlicher Räume zu sehen (s. etwa Siebel & Wehrheim 2003). In diesem Zusammenhang stellen Angst und Unsicherheiten treibende Faktoren für Privatisierungs- und ‚Gating‘-Tendenzen dar (vgl. Low 2005). Letztere stellen wohl eine der häufigsten empirischen Referenzen im Kontext der (städtischen) Fragmentierungsdebatte dar. Gerade hierin ist aber eine starke Parallele zur Segregationsforschung zu erkennen, wenn gezeigt wird, dass sozial extrem homogene residentielle Einheiten den städtischen Raum kennzeichnen und strukturieren. Fragmentierung wird dabei zur Beschreibungsformel für die exklusive und elitäre Fortifizierung, in deren Fokus Ausschluss und Dis-Konnektivität stehen. 32 Diese Verständnisse von Fragmentierung lassen sich aber nicht übereinbringen mit dem zuvor theoretisch entwickelten, dialektischen Verständnis von Fragmentierung als simultanem Prozess des Aufbrechens und Neuordnens zugleich. Worin kann nun das analytische Potential des Fragmentierungsbegriffs für die Stadtforschung liegen? c) Städte als widersprüchliche Einheiten, oder: Fragmentierung als Heuristik der Stadtanalyse In einem allgemeineren Verständnis von städtischer Fragmentierung, welches sich nicht lediglich auf Segregation bezieht, wird unterschieden zwischen der Fragmentierung als Prozess, als räumlichem Phänomen bzw. Zustand und einer 31 Wenn also Nachbarschaften nicht mehr als sozial homogen, sondern als „space[s] of difference rather than of commonality“ Mommaas 1996:209 verstanden werden müssen, so wird das Prinzip residentieller Segregation mindestens in Frage gestellt. 32 Ansätze innerhalb dieser Forschungsperspektive, die Fragmentierung als das neue sozial-räumliche Muster heutiger (Groß-)Städte klassifizieren (so etwa die „MikroFragmentierung“ bei Caldeira (2003) oder die „Multi-Fragmentierung“ bei Fischer & Parnreiter 2002), versäumen dabei leider meist zu klären, worin der qualitative Unterschied liegt zur Segregation. Es scheint, dass damit lediglich eine stärker ausgeprägte, kleinräumigere Segregation gemeint ist, die nicht mehr eine klassische Zentrum-Peripherie-Ordnung zum Ausdruck bringt, sondern einen höheren Grad an Komplexität der städtischen Raumstruktur. Fragmentierung ist dann einfach eine neue Form der Segregation, ein Aufbrechen der bisherigen räumlichen Aufteilung einer Stadt (vorrangig im Hinblick auf residentielle Strukturen).

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Fragmentierung in Bezug auf die Wahrnehmung bzw. das Erleben der Stadt, die eben nicht (mehr) als Ganze betrachtet und erlebt wird: „[F]ragmentation in the urban discourse is […] used in two ways: 1) as a generating process or a way of operating in the city, and 2) as a spatial phenomenon or state. Although most references to fragmentation within urban literature fall into these two main categories, there is a third worth considering: 3) fragmentation as an urban experience; as a way of experiencing or perceiving the city.“ (Kozak 2008:241, Hvh. i. O.)

Diese Unterscheidung ist deshalb interessant, weil sie zu der zuvor getroffenen von Fragmentierung als Prozess (Wandel) und als Zustand (hier: räumliches Phänomen) noch die Wahrnehmung von Stadt berücksichtigt. Dementsprechend unterscheidet der Stadtforscher Daniel Kozak drei Dimensionen der Analyse im Zusammenhang mit Fragmentierung: eine diskursive, um in Erfahrung zu bringen, wie Fragmentierung konzipiert wird; eine sozial-räumliche, die untersuchen soll, wie Fragmentierung erfahren/erlebt wird ; sowie eine physisch-räumliche, die beschreiben soll, inwiefern die gebaute Umgebung als fragmentarisch wahrnehmbar ist (Kozak 2008). Fragmentierung als räumliches Phänomen wird dementsprechend im Kontext von Sozialität und Materialität und deren Wechselverhältnis verstanden. Die drei Dimensionen nach Kozak koinzidieren nicht zufällig mit den Lefebvreschen Dimensionen der Produktion gesellschaftlicher Räume, dem konzipierten, wahrgenommenen und dem gelebten Raum. Lefebvre legt die Gleichzeitigkeit von Fragmentierung und Homogenisierung als grundlegende Tendenzen der Produktionslogik (kapitalistischer, abstrakter) gesellschaftlicher Räume dar (Lefebvre 2002). Analog zu Lefebvre wäre der Fokus nicht auf das Produkt (also die einzelnen Fragmente oder ‚die fragmentierte Stadt an sich‘), sondern auf die Herstellungspraxis derselben zu legen. Damit rücken Alltagspraktiken ebenso wie Wahrnehmungen, Vorstellungen und Diskurse in den Vordergrund. Resümierend lässt sich in der Auseinandersetzung mit Fragmentierung also zwischen einem epistemologisch-methodologischen Begriff und einem empirischen Begriff unterscheiden. Erkenntnistheoretisch ist damit auf die Grundlegung verwiesen, dass sich uns ‚das Ganze‘ bzw. ‚gesellschaftliche Totalität‘ nur fragmentarisch erschließt (Lefebvre). Daraus ist auch eine methodologische Konsequenz zu ziehen: Dasjenige, welches als gänzlicher Bezugspunkt gesetzt wird, ist nur rekonstruierbar über seine physisch- und sozialräumliche, diskursiv und imaginative sowie alltagspraktische Herstellung, die nicht voneinander zu lösen sind. Als empirischer Begriff verweist Fragmentierung sowohl auf einen Prozess als auch auf ein räumliches Phänomen in der Auseinandersetzung mit

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Städten. Wenn wir Fragmentierung nun als heuristischen und damit erkenntnisleitenden Begriff verstehen, dann wird es möglich, die Beziehung zwischen dem epistemologischen und dem empirischen Charakter von Fragmentierung in den Blick zu nehmen. Mit einem solchen, raumtheoretisch fundierten Verständnis von Fragmentierung können die physisch- und sozialräumlich, diskursiv und imaginativ sowie alltagspraktisch hergestellten Verbindungen und Trennungen innerhalb einer Stadt untersuchbar gemacht werden. Es ist dann nicht das ‚abstrakte Ganze‘, welches untersucht wird, sondern die in sich differente Praxis der Herstellung dieses ‚Ganzen‘ – sowohl in körperlich-materieller wie symbolischimaginativer Form. Dem analytischen Potential des heuristischen Begriffs Fragmentierung liegt dementsprechend gerade das (widersprüchliche) Verhältnis zwischen den Verbindungen und Trennungen zugrunde, die in der raumbezogenen Praxis hergestellt werden.33 Die beständige und widersprüchliche Herstellung von Verbindungen und Trennungen in den Blick zu nehmen, heißt, Städte als widersprüchliche Einheiten zu begreifen. Dabei interessiert gleichermaßen, wie über Verdichtung und Homogenisierung Einheit(en) und Zusammenhängen produziert werden, und wie durch Grenzziehungen Heterogenität und Differenzen akzentuiert werden. Diese simultane, widersprüchliche Dynamik lässt sich mit dem Begriff der Fragmentierung begreifen, der so eine dialektische gesellschaftstheoretische Perspektive mit den raumtheoretischen Ebenen der Stadtanalyse verbindet.

33 Dementsprechend ist die – wenn auch empirisch begründete – Definition Kozaks abzulehnen, wonach städtische Fragmentierung „implies an organisation of space – understood as both a process and a resulting spatial state – in which impermeable boundaries and enclosure have a central role. It is a state of disjointing and separation which is often coupled with socio-economic and/or ethnic divisions. A fragmented city is one in which the ability to use and traverse space is dominated by the principle of exclusivity and there is a reduction in the number of places of universal encounter.“ (Kozaka 2008, 256, Hvh. JH) Die Fragen der Grenzziehungen und Exklusivität sind zentral für Fragmentierung, aber eben nicht alles. Werden sie darauf reduziert, verliert der Begriff seinen heuristischen Wert.

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3. S TADT - RÄUMLICHE K ONFIGURATION , POLITISCH PLANERISCHE K ONZIPIERUNG UND ALLTAGS PRAKTISCHE H ERSTELLUNG GROSSER S TÄDTE Wenn wir die bisherigen Ausführungen zusammenfassen, so erhalten wird ein recht umfassendes Bild der relevanten Aspekte und ihrer Zusammenhänge für die vergleichende Untersuchung von ‚Megastädten‘: Aus der bisherigen Forschung zu sogenannten Megastädten haben sich vier Themenbezüge herausgestellt (s. Kapitel A.1): soziale Ungleichheit und Lebensverhältnisse, städtische Ökonomie, Vulnerabilität und Risiken, sowie lokale Politik und Verwaltung. Quer zu diesen Themen verlaufen die raumtheoretischen Bezüge der konkreten Materialität, der Repräsentationen des Städtischen und der städtischen Alltagspraxis. Das heißt, dass alle vier Themenbereiche als konkrete (physisch- und sozialräumliche) Materialität begreifbar sind, die uns aber in Form diskursiver (planerischer, wissenschaftlicher) und imaginativer (individueller, kollektiver) Repräsentationen zugänglich sind und in städtischer Alltagspraxis entlang von Orten (ihren Nutzungen und Bewertungen) hergestellt werden. Anders gesagt: Soziale Ungleichheiten, Lebens- und ökonomische Verhältnisse, Vulnerabilitäten und Risiken, wie auch Politik und Verwaltung werden (konkret) materiell, diskursiv und praktisch hergestellt. Die grundlegende These, die sich aus der bisherigen Forschung zu den heute größten Städten ableiten lässt, lautet: In den sogenannten Megastädten kommt es zu einer gesellschaftlichen Fragmentierung, welche einen bisher bestehenden gesamtstädtischen (und damit: materiellen, symbolischen und praktischen) Zusammenhang im Hinblick auf die genannten Themen in Frage stellt. Diese These ist allerdings insofern fragwürdig, weil sie einen ‚gesamtstädtischen Zusammenhang‘ quasi normativ-ontologisch setzt, der durch das demographische Wachstum und damit verbundene strukturelle Veränderungen als in Auflösung befindlich erachtet wird. In einem erweiterten und analytischen Verständnis von Fragmentierung als dekonstruktivem und zugleich rekonstruktivem Prozess, der sowohl Trennungen als auch Verbindungen produziert, soll diese normative Setzung von einer Suchbewegung abgelöst werden: Wenn Städte als soziale Räume verstanden werden können, die immer entlang von Grenzziehungen – und damit Ein- und Ausschlüssen – produziert werden, dann ist der Ausgangspunkt einer Stadtanalyse nicht ‚das Ganze‘, welches zertrennt und zerteilt wird, sondern dann sind es die Prozesse und Praktiken der Konzipierung, der Wahrnehmung und des Erlebens, welche diese Trennungen und Verbindungen herstellen. Das Ganze ist dann immer schon widersprüchlich, weil es nur in Trennungen und Verbindungen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten besteht.

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Nicht vom ‚Ganzen‘ auszugehen wirft aber die Frage auf, welche ‚Teile‘ in den Blick genommen werden, um Rückschlüsse auf das ‚Ganze‘ ziehen zu können. Wendet man den analytischen Fragmentierungsbegriff auf die raumtheoretischen Ebenen an, dann lassen sich folgende zentrale Fragen ableiten, die uns den konkreten Untersuchungsdimensionen näher bringen (graphische Darstellung S. 136): • Konkrete Materialität einer Stadt: Welche Verbindungen und Trennungen

werden entlang der physisch-räumlichen und sozial-räumlichen Strukturen wahrnehmbar? Trennungen bzw. eine Aufteilung des städtischen Raums in dieser Hinsicht werden klassischerweise in der Segregationsforschung berücksichtigt. Will man auch die Verbindungen in den Blick nehmen, dann bieten sich Zentren und Zentralitäten als gleichermaßen ordnende und bindende Elemente des städtischen Raumes an. • Repräsentationen des Städtischen: Inwiefern werden in den Vorstellungen über eine Stadt und in den Konzipierungen einer Stadt Verbindungen und Trennungen hergestellt? Konzipierungen beziehen sich dabei auf (machtvolle) Gestaltungsentwürfe, die insbesondere dem politisch-planerischen Diskurs entstammen, aber auch auf den wissenschaftlichen Beschreibungen und abgeleiteten Handlungsempfehlungen etwa beruhen. Auf der Seite der Vorstellungen geht es um die in den Zuschreibungen und Charakterisierungen einer Stadt und ihrer Teile hergestellten Trennungen und Verbindungen aus der Sicht der Nutzer_innen und Bewohner_innen. • Städtische Alltagspraxis: Welche Verbindungen und Trennungen werden über die Nutzung des städtischen Raums und die damit zusammenhängenden Bedeutungen bzw. Bedeutungszuordnungen produziert? Das Nutzen im Sinne eines Aneignens, Befahrens, Durchquerens u.a. bringt dabei die körpergebundene Praxis in Bezug auf den städtischen Raum zum Ausdruck. Die symbolische Dimension der Alltagspraxis findet sich dagegen in den Bedeutungen (das Erfahren von Stadt und ihren Teilen bzw. Orten, die Zuordnung von Bedeutungen, die Stadt als semantische Struktur von bedeutungstragenden Orten). Wenn wir an dieser Stelle die bisherigen Erkenntnisse rekapitulieren, so lassen sich weitreichende Schnittmengen aufzeigen: Die Auseinandersetzung mit der bisherigen Megastadtforschung hat gezeigt, dass insgesamt von einer ausgeprägten Diversifizierung in ökonomischer und funktionaler Hinsicht, von einer verstärkten Aufgliederung im politisch-administrativen und stadt-räumlichen Sinn sowie von einer akzentuierten ungleichen Heterogenisierung in sozialer Hinsicht

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ausgegangen wird. Die stadtsoziologische Thematisierung der Relevanz von Stadtgröße lässt sich in den drei Aspekten einer strukturellen Differenzierung (sozial- wie physisch-räumlich), einer veränderten sozialen und politischen Organisation sowie der Herausbildung einer spezifischen ‚Stadtkultur‘ zusammenfassen. Und schließlich wurden theoretisch die drei Ebenen der konkreten Materialität (physisch- wie sozial-räumlich), der Repräsentationen des Städtischen (Vorstellungen und Konzipierungen) sowie der städtischen Alltagspraxis (Nutzungen und Bedeutungen) unterschieden. Diese Ebenen stellen eine Umsetzung der raumtheoretischen Perspektive auf Städte dar, die von der Lefebvreschen Triade von sozialem, mentalem und physischem Raum inspiriert ist. Sie erlauben es, Aspekte der sozialen, politischen und ‚kulturellen‘ Herstellung konkreter gesellschaftlicher Räume in den Blick zu nehmen, ohne die Inhalte aus der soziologischen Forschung über westliche Großstädte zu übertragen. In der Perspektive des analytischen Fragmentierungsbegriffs richtet sich der Blick dabei auf die Verbindungen und Trennungen, die auf diesen Ebenen produziert werden. Während in der stadtsoziologischen Thematisierung von Größe ein veränderter Modus von Verbindungen und Trennungen zum Ausdruck kommt, bezieht sich die bisherige Auseinandersetzung mit ‚Megastädten‘ einzig auf die Produktion verstärkter Trennungen. Eine erweiterte, analytische Perspektive auf diese Städte wäre hier also einzulösen. Bei der Skizzierung der theoretischen Ebenen einer Analyse von Städten ist deutlich geworden, wie unauflösbar der Zusammenhang der Dimensionen untereinander ist. Das macht eine forschungspraktische Operationalisierung nicht leicht. Ein möglicher Zugang ist es, für eine systematische Bearbeitung die Frage zu stellen, wer (oder was) jeweils in den Blick der Forschung rückt: Im Hinblick auf die konkrete Materialität ist kein Akteur damit verbunden, sondern der städtische Raum selbst. Die Repräsentationen des Städtischen rücken die Konzipierungen seitens von Wissenschaftler_innen, Politiker_innen und Planer_innen in den Fokus, aber auch die Vorstellungen der Bewohner_innen und Nutzer_innen. Bei der städtischen Alltagspraxis sind wiederum die Bewohner_innen und Nutzer_innen angesprochen, sowohl in ihrer körpergebundenen Aneignung etc. des städtischen Raums als auch mit den Bedeutungszuschreibungen, die sie dabei vornehmen. Hier tritt ein Problem zutage, nämlich, dass es keine objektive Beschreibung des städtischen Raumes geben kann – es sind vielmehr spezifische Wahrnehmungen, die im Reden über die physisch- und sozial-räumlichen Strukturen desselben aufscheinen. Aus Gründen der forschungspraktischen Handhabbarkeit wird in der vorliegenden Untersuchung der wissenschaftliche Diskurs über die physisch- und sozial-räumlichen Strukturen der Städte nachvollzogen,

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um die stadt-räumliche Konfiguration der Städte in den Blick zu nehmen.34 Im Hinblick auf die Konzipierungen wird die politisch-planerische Sichtweise fokussiert und schließlich werden die Repräsentationen und die Alltagspraxis der Bewohner_innen und Nutzer_innen unter der Perspektive auf die alltagspraktische Herstellung der Städte zusammengefasst untersucht. Empirisch ergibt sich damit ein Dreischritt entlang der stadt-räumlichen Konfiguration, der politischplanerischen Konzipierung und der alltagspraktischen Herstellung der Städte. Welche spezifischen Aspekte werden hierunter verstanden bzw. untersucht? 3.1 Stadt-räumliche Konfiguration Die stadt-räumliche Konfiguration steht in direktem Verhältnis zur konkreten Materialität, die aber nur über spezifische Perspektiven vermittelt erschlossen werden kann. Wenn hier der Fokus auf die wissenschaftlichen Repräsentationen gelegt wird, so werden die physisch-räumliche und sozial-räumliche Dimension der konkreten Materialität einer Stadt über die sozialwissenschaftliche Analyse derselben rekonstruiert. Dass die physisch-materielle Dimension mit der sozialräumlichen Struktur eng zusammenhängt, ist bereits ausgeführt worden; sie ist also nur im Zusammenhang mit der Produktion sozialräumlicher Differenzen relevant – nicht zuletzt, weil einzelnen Orten entlang ihrer sozioökonomischen Prägungen unterschiedliche Bedeutungen zugeordnet werden. Wenn nun in Bezug auf die stadt-räumliche Konfiguration der Städte nach Verbindungen und Trennungen gesucht wird, so stellt sich die Frage, inwiefern sich sozial, funktional und städtebaulich spezifische Muster der Aufteilung des städtischen Raumes, und inwiefern sich sozial, funktional und städtebaulich verbindende Elemente erkennen lassen. Die Soziologie untersucht stadt-räumliche Trennungen bzw. Aufteilungen vorrangig im Rahmen von Segregationsanalysen. Städte sind durch spezifische Muster insbesondere sozialer Segregation geprägt als Ausdruck der je wirksamen Machtverhältnisse zwischen den sozialen Gruppen in der Stadt und ihren dadurch bedingten Aneignungsmöglichkeiten von konkreten Orten. Soziologische Segregationsforschung unterscheidet primär zwischen zwei Formen: der sozialen (vorrangig residentiellen) und der funktionalen Segregation (vgl. (Häußermann & Siebel 2004). Auch zentrale Stadtmodelle, wie das der konzentrischen Kreise (Burgess) oder das der Quartered City (Marcuse), enthalten diese Formen in ihrer Unterscheidung von spezifischen Teilen der Städte: Diese Teile

34 Der Begriff der Konfiguration wird hier gewählt, da er kein bestimmtes, sondern ein offenes Verhältnis der konstituierenden Elemente benennt.

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beziehen sich auf soziale Gruppen und Wohnweisen oder die Funktionen, welche die Nutzungsweisen bestimmen. Es ist also eine zentrale Frage der Stadtsoziologie, wie und nach welchen Kriterien städtische Räume von den sie produzierenden und reproduzierenden sozialen Praktiken strukturiert werden im Sinne einer als Ordnung erkennbaren Aufteilung. Ausgehend von der in der bisherigen Megastadtforschung begründeten Überlegung, dass soziale Ungleichheit in ‚Megastädten‘ besonders akzentuiert ist, wäre anzunehmen, dass sich auch Segregationsmuster in ‚Megastädten‘ in spezifischer Weise von denen in kleineren Städten mit geringeren Ungleichheitswerten unterscheiden. In der vorliegenden Untersuchung wird diese Dimension anhand der sozialwissenschaftlichen Perspektive auf die untersuchten Städte bearbeitet, wobei es nicht um das statistische Ausmaß von Segregation (etwa im Sinne von Segregationsindices) geht, sondern um die identifizierbaren bzw. identifizierten Muster. Bleibt die Frage, was die Teile zusammenhält. Nehmen wir als Beispiel das Leitbild der funktionalen Stadt, wo die Frage klar beantwortet ist: Es ist das Verkehrs- und Transportsystem. Das Straßennetz, die Wege, die Bahnlinien etc. sind also die Verbindungslinien zwischen den Teilen, seien sie nun funktional oder sozial bestimmt. Das scheint zunächst eine sehr plausible Antwort, aber es ist lediglich eine mechanische oder mechanistische Antwort auf die Frage nach den Verbindungen. Einer über Verkehrswege (körperlich) hergestellten Verbindung liegt aber das strukturelle Moment zugrunde, dass Orte aus bestimmten Gründen von den sie nutzenden Menschen miteinander verbunden werden. Das verweist auf gewisse Eigenschaften der Orte, aber auch darauf, welche Bedeutung(en) diese Eigenschaften für die sie nutzenden Menschen haben. Die vorliegende Arbeit geht beiden Aspekten nach: Während die Bedeutungszuordnungen und Nutzungsweisen Gegenstand der alltagspraktischen Herstellung sind, wird im Rahmen der stadt-räumlichen Konfiguration untersucht, wie sich die Städte entlang der sie prägenden Orte und ihrer Eigenschaften und Funktionen unterscheiden. Die Bindungsaspekte stadt-räumlicher Strukturen werden damit an Zentren und Zentralitäten festgemacht. Die Überlegung lässt sich zum Beispiel mit Georg Simmel herleiten, für den die räumliche Fixierung, als eine der „Grundqualitäten der Raumform“, mit der Herausbildung eines „Drehpunktes“ einhergeht, „der ein System von Elementen in einer bestimmten Distanz, Wechselwirkung, gegenseitigen Abhängigkeit festhält“ (Simmel & Rammstedt 1992:708). Unter anderem benennt Simmel hierfür das „Bewußtsein der Dazugehörigkeit“ als zentrale Wirkung. Auch den Verkehr benennt er hier als organisiert um einen Drehpunkt (in diesem Fall die Stadt selbst). Im Abstrakten Sinn ist auch das Urbane selbst mit Lefebvre als Zentralität zu verstehen – als „centrality in space, assembly in space, encounters in space, a dense and differential

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social space“ (Merrifield 2013:171). Als normative Bezugsgröße ist das Urbane hier durch Verbindendes gekennzeichnet, wenn auch nicht durch Homogenität. In Bezug auf den physisch-sozialen Raum der Stadt gilt, dass es in größeren Städten i.d.R. neben einem Hauptzentrum eine gewisse Anzahl weiterer Zentralitäten gibt, die häufig sozial und funktional spezialisiert sind. Dem Hauptzentrum von Städten kommt dabei meist eine besondere Bedeutung zu, sowohl in alltagspraktischer wie symbolischer Hinsicht. Mit der Annahme eines aufgelösten städtischen Gesamtzusammenhangs in ‚Megastädten‘ geht die Überlegung einher, dass sich diversifizierte Subzentren ausbilden, die möglicherweise sozialspezifisch sind, aber einzelne Teilgebiete der Städte zu eigenständigen, autonomen Regionen werden lassen. Letztlich hieße das, dass über die räumlichen Bindungen wiederum Trennungen produziert werden. Auch hier basiert die Untersuchung prinzipiell auf den Auseinandersetzungen in der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung, um die Besonderheiten der untersuchten Städte im Hinblick auf ihre Zentralitätsstrukturen herauszuarbeiten. 3.2 Politisch-planerische Konzipierung Auf der Ebene der diskursiven Herstellung von Städten stehen die politischplanerischen Konzipierungen emblematisch für machtvolle Gestaltungsentwürfe einer Stadt. Die lokal-staatliche Raumplanung ist nicht einfach eine technische Problemlösungsinstanz, sondern sie nimmt eine „aktive politische Rolle“ (Reuter 2000:14) ein. Zudem bringt sie eine durch den Status des Expert_innenwissens sanktionierte Vorstellungsnorm über das Städtische zum Ausdruck, das heißt auch, dass es in der Planung „grundsätzlich um das Städtische“ (Lehrer 2004) geht. Welche Probleme identifiziert und welche Lösungsansätze formuliert werden, orientiert sich an einem Maßstab des Städtischen, wie es für gestaltens- und erhaltenswert erachtet wird. Untersucht man die diskursiv hergestellten Fragmentierungsdynamiken eines städtischen Raumes im Rahmen der politisch-planerischen Konzipierung desselben, dann stellt sich die Frage, in welcher Art und Weise Einheit, Ganzheit und Zusammenhänge wie auch Aufteilungen, Differenzierungen und Spaltungen desselben im Rahmen der politisch-planerischen Problemidentifikation und Lösungsfindung formuliert werden. Die bisherige ‚Megastadtforschung‘ geht bislang von einer Verringerung eines gesamtstädtischen Zusammenhangs als Folge der enormen Stadtgröße aus, was die Annahme aufwirft, dass von politisch-planerischer Seite kein städtischer Gesamtzusammenhang mehr konzipiert wird (sowohl als Problemidentifikation als auch als Lösungsansatz). Nun stellt sich aber erstens die Frage, ob die Komplexität von Steuerung und Gestaltung de

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facto auf die Größe zurückgeführt wird und die Größe tatsächlich als ursächliche Problemzuweisung oder zumindest als ursächlich für bestimmte städtische Verhältnisse ausgemacht wird. Zweitens ist es wiederum nicht nur die Frage nach den Aufteilungen, Trennungen etc., die untersucht werden soll, sondern ob sich sowohl neue Formen der Konzipierung von Verbindungen als auch von Trennungen ausmachen lassen, unabhängig davon ob sie von den Akteur_innen selbst explizit mit der Größenthematik in Verbindung gebracht werden, oder nicht. Um die politisch-planerische Konzipierung von unterschiedlich großen Städten im Hinblick auf die Frage nach Differenzen und Gemeinsamkeiten der Fragmentierungsdynamiken zu untersuchen, bedarf es also zumindest zweier Untersuchungsdimensionen: • Zum einen die Perzeption von Größe durch die politisch-planerischen Ak-

teur_innen, um herauszuarbeiten, welche Entscheidungsparameter und welche Faktoren die Stadtpolitik und -planung beeinflussen und welchen Stellenwert Größen- und Wachstumsrelevante Aspekte dafür haben. • Zum anderen die übergeordneten Steuerungs- und Gestaltungsansätze, um herauszuarbeiten, inwiefern darin gesamtstädtische Zusammenhänge hergestellt werden, oder nicht. Die bisherige Forschung zu ‚Megastädten‘ betont die eingeschränkte Plan- und Regierbarkeit derselben und setzt den Akzent damit auf die Trennungen bzw. die Auflösung eines gesamtstädtischen Zusammenhangs. In diesem Kontext ist besonders interessant, ob und in wie weit Dezentralisierungsbemühungen umgesetzt werden, um den Aufteilungen des gesamtstädtischen Zusammenhangs gerecht zu werden bzw. diese zu hervorzubringen und gestalten. Auf der anderen Seite bleibt die Frage, auf welcher Grundlage sich die Planung weiterhin als Steuerungs- und Gestaltungsinstanz eines gesamtstädtischen Zusammenhangs versteht und woran dieser in den übergeordneten Plänen und Leitlinien festgemacht wird – sowohl im Hinblick auf Problemidentifikationen als auch im Hinblick auf die Lösungsansätze. 3.3 Alltagspraktische Herstellung Die alltagspraktische Herstellung soll schließlich den Blick der Bewohner_innen und Nutzer_innen auf die untersuchten Städte aufgreifen. Insofern als sowohl Repräsentationen des Städtischen als auch städtische Alltagspraxis darin eingehen, werden hierfür Vorstellungen über sowie Nutzungsweisen und Bedeutungszuordnungen zu den jeweiligen Städten und ihren Teilen (Orten) berücksichtigt. Würde man die starke These der bisherigen Megastadtforschung einer Fragmen-

134 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT

tierung als einseitiger Aufspaltung auf diesen Bereich anwenden, so müsste von einer akzentuierten Ausdifferenzierung lokaler Lebenskontexte im Hinblick auf die Nutzungsweisen und damit einer sozialen Segmentierung der Stadt nicht nur in konkreter, sondern auch in symbolischer Hinsicht ausgegangen werden. In den Vorstellungen über die Städte wäre dann das Imaginieren einer (kohäsiven) Gesamtstadt wohl zumindest erschwert und stattdessen dürften Bilder der Aufteilung und Aufspaltung dominieren bzw. gar nicht erst auf das verbindende Moment eines gesamtstädtischen Kontexts rekurriert werden. Auch hier soll die Perspektive auf Fragmentierungsdynamiken in die Untersuchung von Differenzierung und Trennungen und von Verbindungen und Vereinheitlichungen gleichermaßen umgesetzt werden. Die bisherigen Perspektiven auf ‚Megastädte‘ legen nahe, dass die Größe eine Erfahr- und Erlebbarkeit der Städte als ‚Ganze‘ unmöglich macht. Dabei ist es eigentlich irreführend, von Erfahrbarkeit zu sprechen: Erfahrung lässt sich schließlich nicht abschalten oder verhindern. Und dennoch ist damit benannt, dass mit der enormen Größe der ‚Megastädte‘ in Frage steht, ob diese im Rahmen körperlicher und kognitiver Erfahrungsbezüge noch als gesamtstädtischer Kontext hergestellt werden. Das würde bedeuten, dass ‚Megastädte‘ entlang der Alltagspraktiken in einer Weise reorganisiert würden, die auf der Ebene der Gesamtstadt vorrangig Trennungen und Aufspaltungen produziert. Städtischer Alltag als Erfahrungsbezug würde dann nur noch im Hinblick auf einzelne Teile hergestellt und wahrgenommen. Schon Großstädte werden aber im Alltag ihrer Bewohner_innen kaum in Gänze genutzt, im Alltag sind meist nur Bruchteile wirklich von Bedeutung. Was für einen Unterschied setzt die These also in Bezug auf das partielle Erfahren und Erleben einer Stadt zwischen Groß- und ‚Megastädten‘? Der Unterschied hat vor allem damit zu tun, in welchem Verhältnis diese Bruchteile, die im Alltag eine Rolle spielen, zum ‚Ganzen‘ stehen. Die Bruchteile sind Orte und die mit ihnen verbundenen Praktiken. Soziale und funktionale Nutzungsweisen ebenso wie individuelle Wahrnehmung ordnen den Orten Bedeutung(en) zu. Je relevanter ein Ort ist, desto größer wird die Bandbreite an sozialen und funktionalen Nutzungsweisen und somit auch die Heterogenität an damit verbundenen Erfahrungen und Bedeutungen sein. Wenn wir also in Bezug auf die körperbezogene Nutzung der Städte die alltäglichen Orte der Bewohner_innen und Nutzer_innen heranziehen, so interessieren dabei sowohl die Verbindungen, welche durch die Bewegung der Körper zwischen Arbeiten, Wohnen und Freizeit hergestellt werden, als auch die Aufteilungen des städtischen Raumes, welche darin zum Ausdruck kommen. In einem deutlichen, aber sicher nicht immer direkten Zusammenhang mit der körperbezogenen Nutzung des städtischen Raums stehen die Bedeutungszuordnungen der

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Stadt und ihrer Teile/Orte. Um die Zuschreibungen, welche die Bewohner_innen und Nutzer_innen vornehmen, auf die darin produzierten Verbindungen und Trennungen hin zu untersuchen, sollen die alltäglichen Attribuierungen der unterschiedlichen städtischen Ebenen erfragt werden, was sowohl einzelne lokale Kontexte als auch Bewertungen des gesamtstädtischen Kontextes betrifft. Die Vorstellung als Teil der Repräsentationen des Städtischen schließlich umfassen die Art und Weise, wie die Nutzungs- und Wahrnehmungsweisen der Städte sich zu Erzählungen über die Städte verdichten lassen und wie in den Narrativen über den Alltag in diesen Städten Kategorisierungen vorgenommen werden, die Größenbezüge und/oder Verbindungen und Trennungen akzentuieren. Die vorliegende Arbeit stellt also den von der bisherigen Forschung geprägten Begriff von der ‚Megastadt‘ in Relation zu der stadt-räumlichen Konfiguration, der politisch-planerischen Konzipierung und der alltagspraktischen Herstellung von (einer) ‚megastädtischen Wirklichkeit(en)‘. Die nachfolgende Graphik gibt die Überlegungen zu den theoretischen Ebenen, Dimensionen und den daraus abgeleiteten Untersuchungsdimensionen in Bezug auf die Forschungsfrage nach den Gemeinsamkeiten und Differenzen unterschiedlich großer Städte wieder. Die Verbindungen zwischen den theoretischen Dimensionen und den Untersuchungsdimensionen sind dabei nicht als ausschließlich zu betrachten. Die konkrete Materialität in ihrer physisch-räumlichen und sozial-räumlichen Dimension wird vorrangig mit der stadt-räumlichen Konfiguration untersucht, ist aber auch Bezugspunkt für die körperbezogene Nutzung im Rahmen der alltagspraktischen Herstellung. Während die politisch-planerischen Konzipierungen in der zweiten Untersuchungsdimension im Fokus stehen, sind die wissenschaftlichen Konzipierungen Grundlage für die Betrachtung der stadt-räumlichen Konfiguration. Und auch wenn für die politisch-planerische Ebene Konzipierungen im Vordergrund stehen, so lassen sich die Aussagen der Akteur_innen nicht davon trennen, dass diese auch immer Bewohner_innen der Städte selbst sind und ihre eigenen (gleichermaßen persönlichen wie gesellschaftlichen) Vorstellungen mit einfließen lassen. Inwiefern schließlich die Vorstellungen, Nutzungen und Bedeutungszuordnungen von den diskursiven Konzipierungen durchdrungen sind – insbesondere, wie darin mediale Bilder Einzug halten –, bleibt mit diesem Untersuchungsdesign leider ausgespart. Letztlich bleibt damit auch ein Stück weit die Frage unbeantwortet, welche ideologischen Seiten der Produktion des städtischen Raumes auszumachen sind, die in einem stärker diskursiv ausgerichteten Forschungsdesign sicher besser berücksichtigt werden könnten.

Untersuchungs‐ perspektive 

Untersuchungs‐ dimensionen 

Theoretische  Dimensionen 

Theoretische  Ebenen 

 

Sozial‐ räumlich 

Vorstellungen 

Perzeption von  Größe   Steuerung und  Gestaltung      Politisch‐planerische  Konzipierung 



Konzipierungen 

Städtische  Repräsentationen 





Nutzungen 

Alltägliche Orte und  Attribuierungen  Nutzungs‐, Wahr‐ nehmungsweisen  und Erzählungen    Alltagspraktische  Herstellung 

Bedeutungen 

Städtische  Alltagspraxis 

Differenzen & Konkordanzen im Hinblick auf Fragmentierungsprozesse (Herstellung von Verbindungen und Trennungen) in  Städten unterschiedlicher Größe 

  Stadt‐räumliche  Konfiguration 

 Segregation   Zentren und  Zentralitäten   

Physisch‐ räumlich 

Konkrete  Materialität 

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Abbildung 1: Ebenen und Dimensionen der Untersuchung unterschiedlich großer Städte

C Brasilianische ‚Groß‘- und ‚Megastädte‘ im Vergleich

Was in den vorangegangenen Kapiteln als konzeptioneller Rahmen für eine Städtevergleich entwickelt wurde, der an der Frage orientiert ist, wie sich unterschiedlich große Städte auf Konkordanzen und Differenzen hin untersuchen lassen, soll nun im Vergleich von vier brasilianischen Städten umgesetzt werden. São Paulo, Rio de Janeiro, Porto Alegre und Recife werden entlang ihrer stadträumlichen Konfiguration, den jeweiligen politisch-planerischen Konzipierungen und der alltäglichen Herstellung untersucht und daraufhin verglichen, wie sich die Art und Weise, wie dabei jeweils Verbindungen und Trennungen im Sinne von Fragmentierungsdynamiken produziert werden, unterscheidet. Ein Vergleich von ‚Megastädten‘ und Großstädten in Brasilien bietet sich aus mehreren Gründen an. Zunächst ist die Verstädterung in Brasilien relativ weit fortgeschritten mit einem Anteil der städtischen Bevölkerung von über 80 Prozent1. Das Wachstum der Städte, das insbesondere in den 1950er bis 1980er Jahren durch massive Stadt-Land-Wanderungen extrem hoch war – mit Raten bis zu 60 Prozent (Bähr & Mertins 1995:38) – ist stark zurückgegangen (2007 lag es bereits nur noch bei 1,33 Prozent (United Nations Human Settlements Programme (UN-Habitat) 2007:346)). Da hohe Wachstumsraten unter Umständen Besonderheiten hervorrufen (vgl. Kapitel A.1.1), sind abgeschwächte Dynamiken zu bevorzugen, um eine Beeinflussung durch starkes Wachstum ausschließen zu können. Als bevölkerungsreiches Land (knapp 191 Millionen Menschen im November 2010, IBGE2) weist Brasilien zudem eine ganze Reihe von Millionenstädten auf. Zwei davon – São Paulo und Rio de Janeiro – gelten als

1

Aus den Daten des brasilianischen Instituts für Statistik (IBGE) lässt sich für das Jahr

2

Brasilianisches Amt für Statistik

2010 eine Verstädterungsquote von 84,4 % berechnen.

138 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT

sogenannte Megastädte.3 Inwiefern bieten sich die ausgewählten brasilianischen Städte nun insbesondere für den hier ausgearbeiteten Städtevergleich an? Wie können die Untersuchungsdimensionen erhoben werden? Und was lässt sich, schließlich, empirisch zeigen in Bezug auf die stadt-räumliche Konfiguration, die politisch-planerische Konzipierung sowie die alltägliche Herstellung der Städte?

1. Z UR U MSETZUNG

DES

S TÄDTEVERGLEICHS

1.1 Auswahl unterschiedlich großer Städte: Historische Dimensionen Wie den vergleichsmethodologischen Überlegungen (B.1) zu entnehmen ist, handelt es sich bei dem Vergleich unterschiedlich großer Städte mit dem Ziel einer Bestimmung von größenrelevanten Unterscheidungen um eine Kombinati-

3

Mehr als eine Stadt dieser Größenordnung haben neben Brasilien nur wenige andere Länder: In den USA sind es New York und Los Angeles, wobei bereits L.A. in der Stadt selbst weniger als vier Millionen Einwohner umfasst und damit nicht mehr zweifelsfrei zuzuordnen ist. Auch Japan verfügt über mehrere extrem große Ballungsgebiete, neben Tokyo selbst sind das Kansai (das aber der polyzentrische Agglomerationsraum Osaka-Kyoto-Kobe ist, dessen größte Stadt keine drei Millionen Einwohner umfasst, auch hier ist also eine zweifelsfreie Zuordnung schwierig) und Kanagawa (das allerdings innerhalb des Ballungsraumes Tokyo liegt). Gegen die Auswahl der USA oder Japans spricht außerdem, dass ‚Megastädte‘ heute vorrangig als ein Phänomen des ‚Globalen Südens‘ diskutiert werden. In China spricht ebenfalls trotz des Vorhandenseins einiger ‚megastädtischer‘ Agglomerationen einiges gegen eine Auswahl für die hier angestellte Untersuchung: Zunächst einmal sind Eigenheiten aufgrund der zentralistischen Stadtentwicklungsplanung zu erwarten; die noch geringe Verstädterungsquote (52,6%) spricht außerdem dafür, dass die anhaltende Dynamik der Verstädterung und des Städtewachstums noch vielfältige Veränderungen mit sich bringt; grundsätzlich würden sich aber Shanghai und Hongkong eignen, Peking als Hauptstadt könnte bereits einen Sonderstatus einnehmen (daneben gibt es noch einige Stadtregionen, die als polyzentrische Stadtregionen viele Millionen Einwohner umfassen). Schließlich finden sich noch in Indien viele Millionenstädte, die für einen solchen Vergleich sehr gut in Frage kämen (Mumbai, Delhi, Kolkata, Bengaluru und Hyderabad). Problematisch ist dabei lediglich die extrem niedrige Verstädterungsquote von ca. 30% und die anhaltende Entwicklungsdynamik in diesem Kontext.

C B RASILIANISCHE ‚G ROSS ‘-

UND

‚M EGASTÄDTE ‘

IM

VERGLEICH

| 139

on aus Konkordanz- und Differenzmethode. Im Gegensatz zur bisherigen Megastadtforschung soll innerhalb eines gemeinsamen Städtenetzwerks nach Differenzen zwischen unterschiedlich großen Städten im Hinblick auf die darin wirksamen Fragmentierungsdynamiken gesucht werden. Wenn nun der nationale Rahmen – Brasilien – als ‚gemeinsamer Kontext‘ gewählt wird, so handelt es sich gegenüber einem Vergleich von Städten aus verschiedenen Ländern um ein ‚most similar‘-Design. Übergeordnete historische, rechtliche, politische, sprachlich-kulturelle u.a. Aspekte sowie die angesichts nationaler Ökonomien bedeutsamen nationalen Städtenetzwerke stellen relevante Bestandteile dieses Bezugsrahmens dar. Gleichzeitig ist klar, dass städtische Entwicklungen lokal und regional, historisch, politisch und kulturell auch innerhalb nationaler Kontexte durchaus stark differieren können – diese Differenzen sind aber selbst Teil eines nationalen Referenzrahmens. Vom Prinzip her ist die Kombination aus Konkordanz und Differenz so zu verstehen, dass ein gemeinsamer Kontext gewählt wird, innerhalb dessen verschieden große Städte miteinander zu vergleichen sind, wobei sich die je ähnlich großen Städte möglichst stark voneinander unterscheiden sollen (im Rahmen dessen, was der gemeinsame, nationale Kontext als Unterschiede zulässt). Verschieden groß heißt im Rahmen von Megastadtforschung, dass Städte, die als ‚Megastädte‘ gelten, mit Städten, die als ‚Großstädten‘ gelten, in Relation zueinander gesetzt werden sollen. Nun sind gerade die quantitativen Definitionen unklar, zumal sich die Ansätze auch danach unterscheiden, ob sie die Metropol- oder Agglomerationsregionen als Bemessungsgrundlage nehmen, oder nur die Kernstädte. Gemeinsamer Nenner ist aber, dass eine Stadt mit über 5 Millionen Einwohner_innen in der Kernstadt und mit über 10 Millionen in der Agglomeration in der Forschung als ‚Megastadt‘ gehandelt wird. Ein solcher, qualitativer Vergleich zielt keineswegs auf kausale Bestimmungen gegenüber der Größe und schon gar nicht darauf, ab welcher Größe Unterscheidungen auszumachen wären. Wie die Zusammenfassung bisheriger empirischer Städtevergleiche mit dem Ziel, Größe als Faktor zu isolieren, gezeigt hat, ist dies ein wenig aufschlussreiches Unterfangen (s. Kapitel A.2). Die Bedeutung von Stadtgröße steht in komplexen Wechselbeziehungen mit einer Vielzahl anderer Aspekte, weshalb es nur darum gehen kann, größenrelevante‘ Unterscheidungen zu identifizieren. Systematische Differenzen zwischen den verschieden großen Städten innerhalb desselben Kontextes können in diesem Vergleichsdesign als größenrelevant erachtet werden. Das gleiche gilt für systematische Konkordanzen zwischen den ansonsten (im Rahmen desselben Kontextes) möglichst differenten Städten ähnlicher Größe.

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Ausgangspunkt des Vergleichs bildet die Auswahl zweier als ‚Megastädte‘ geltender Städte: São Paulo, die größte Stadt Brasiliens, hat über elf Millionen Einwohner_innen im Stadtgebiet und knapp 20 Millionen im Großraum, Rio de Janeiro, die zweitgrößte Stadt, etwa sechs Millionen im Stadtgebiet und ca. zwölf Millionen im Großraum. Da die beiden Städte trotz des ihnen gemeinsamen ‚Megastadtstatus‘ recht unterschiedlich groß sind, lassen sich Konkordanzen nicht per se als größenrelevant betrachten – nur insofern, als sie systematische Differenzen zu den kleineren Städten des Vergleichsdesigns aufweisen. Beide Städte sind die Hauptstädte der gleichnamigen Gliedstaaten, bei keiner der beiden handelt es sich aber um die brasilianische Hauptstadt (wenngleich Rio de Janeiro bis 1960 diesen Status innehatte). Relevant ist außerdem, dass sich beide Städte innerhalb desselben (portugiesischen) Kolonialsystems entwickelt haben, wobei beide nicht im alten Zentrum der portugiesischen Kolonie im heutigen Nordosten des Landes liegen.4 Trotz dieser Übereinstimmungen weisen sowohl die historische Entwicklung als auch die aktuellen strukturellen Merkmale beider Städte weitgehende Differenzen auf. São Paulo war bis ins 19. Jahrhundert eine abgelegene kleine, von Jesuiten gegründete Siedlung.5 Im 19. Jahrhundert begann dann der rasche Aufstieg zuerst zum Zentrum der brasilianischen Kaffeeproduktion und damit der brasilianischen Exportwirtschaft;6 später zum Zentrum der industriellen Ent4

Das koloniale Zentrum lag aufgrund der Zuckerrohrproduktion bis weit in das 18. Jahrhundert im Nordosten des Landes. Erst im Zuge der Verlagerung des Hauptanbaugebietes auf die südlicher gelegenen Kaffeeplantagen brachte eine stärkere Konzentration auf den südöstlichen Landesteil, der beide Städte umfasst.

5

Weitab vom kolonialen Zentrum der Zuckerplantagen im Nordosten des Landes blieb das Dorf lange unbedeutend und abgeschieden. So war etwa die damalige Verkehrssprache der Region das Tupi-Guarani, die Sprache der dort ansässigen Indios, die damals noch die Mehrzahl der Einwohner bildeten (Rolnik 2003:14f.). Im 18. Jahrhundert bildete São Paulo den Ausgangspunkt für die Erkundungen des brasilianischen Hinterlandes durch die bandeirantes, „organisierte Trupps von Paulistanos [BewohnerInnen der Stadt São Paulo, J.H.], die ins Hinterland vordrangen, um indianische Arbeitskräfte zu fangen, zu rauben und entflohene SklavInnen zurückzuholen.“ (Novy 1997:260) An die einstige Dominanz der indigenen Kultur erinnern heute nur noch viele der Orts- und Flussnamen.

6

Im Unterschied zu den vorherigen Entwicklungsphasen im Zusammenhang mit dem Zuckeranbau und dem Bergbau, wurden die Gewinne aus der Kaffeeproduktion vielfach in produktive Tätigkeiten und nicht in Luxuskonsum investiert, was nicht nur zu einem Ausbau der Infrastruktur, sondern auch zur Entwicklung einer lokalen (zunächst Konsumgüter-, später auch verarbeitenden) Industrie führte (Novy 1995:25).

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UND

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wicklung des Landes. Gleichzeitig entwickelte sich die Stadt zum Finanzzentrum des Landes. Die Prosperität der Region ließ sie zum Mittelpunkt der Migrationsbewegungen werden, sowohl der Einwanderung als auch der späteren Binnenmigration, was zusammen mit dem (zunehmenden) natürlichen demographischen Wachstum zu einer explosiven Bevölkerungszunahme führte.7 An Besonderheitsstatus steht die Stadt Rio de Janeiro São Paulo nicht nach – aber die Bezüge dafür sind andere. Beide Städte sind unhinterfragt die wichtigsten städtischen Zentren Brasiliens, die eine insbesondere aufgrund ihrer (historischen und aktuellen) Wirtschaftskraft (São Paulo), die andere vorrangig basierend auf ihrer (historischen und aktuellen) politischen und kulturellen Bedeutung (Rio de Janeiro). Diese funktionalen Zuordnungen sind gleichwohl lediglich Chiffren, denn beide Städte sind letztlich nicht weniger als die zentralen Referenzen brasilianischer Stadtentwicklung. Während aber São Paulo im Laufe des 20. Jahrhunderts seine Bedeutung zunächst ausbauen, dann konsolidieren konnte, blickt Rio auf eine jüngere Geschichte zurück, die vom Rückgang der Bedeutung des städtischen und metropolitanen Zentrums erzählt. Aufgrund der günstigen Hafenlage im Südosten des Landes nahm die Stadt bereits früh eine wichtige 7

Die mit der Krise einsetzende Deindustrialisierung seit den 1980er Jahren brachte einen enormen Verlust an Arbeitsplätzen mit sich. Vor allem die formellen Beschäftigungsverhältnisse haben seither stark abgenommen (Novy 1997:278). So war 2004 etwa die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung in São Paulo dem ‚informellen‘ Sektor zuzurechnen (Borin 2004:54). Im Zuge der Deindustrialisierung bzw. Verlagerung der Industrie aus der Stadt São Paulo in die umliegenden Städte der Metropolregion Região Metropolitana de São Paulo (RMSP) kommt es insgesamt zu einer Restrukturierung der städtischen Ökonomie, die auch mit demographischen und morphologischen Veränderung einher geht. Diese ökonomischen Restrukturierungen zeitigen Effekte in mehrfacher Hinsicht. Einerseits ist São Paulo heute nicht mehr die „ökonomische Lokomotive Brasiliens“ (Torres 2004a:101) in Bezug auf die Schaffung von Arbeitsplätzen; die Stadt ist genauso wenig noch der zentrale Anziehungspunkt für Migrationszuströme (ebd.). Es ist die städtische Peripherie, die in den letzten zwei Jahrzehnten immer mehr zum Ort der ökonomischen und demographischen Entwicklung geworden ist. Diese „Peripherisierung“ der Bevölkerung (Pasternak Taschner & Bógus 1999:37) geht zum einen mit der Deindustrialisierung der zentraleren Gebiete einher, zum anderen aber auch mit der Verortung von klassischen städtischen Konflikten aus dem Zentrum an die „städtische Grenze“ (Torres 2004a:102). Gleichwohl verliert die Stadt nicht an Bedeutung, denn neue, moderne ökonomische Sektoren konzentrieren sich nun in der Stadt und machen aus ihr das Kontrollzentrum der modernen brasilianischen Dienstleistungsökonomie (nicht zuletzt auch basierend auf der Wissensproduktion, die ebenfalls in São Paulo konzentriert ist).

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Rolle im Kolonialsystem ein und wurde ab 1763 brasilianische Hauptstadt.8 Mit der Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1888 war auch eine große Herausforderung für die brasilianische Gesellschaft verbunden, die sich durch die Armensiedlungen deutlich in der Stadtentwicklung Rio de Janeiros abzeichnete. 9 In zweifacher Hinsicht setzt die Krise in Rio noch vor dem „verlorenen Jahrzehnt“10, den 1980er Jahren, ein (Lago 2007:280). Zum einen mit der verstärkten ökonomischen Konkurrenz, in der die Stadt insbesondere seit den 1940er Jahren mit São Paulo steht – damit verbunden ist der Verlust der industriellen Wettbewerbsfähigkeit und der Attraktivität für Unternehmenssitze. Zum anderen mit dem Verlust des Hauptstadtstatus 1960, womit sich auch ein Wandel der Beschäftigungsstruktur vollzog, da ein relevanter Teil der Arbeitsplätze in Administration, Verwaltung und Regierung sukzessive abgezogen wurde. Insgesamt führten diese Entwicklungen dazu, dass die Stadt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die geringsten Wachstumsraten unter den brasilianischen Metropolen aufweist (ebd.). Darüber hinaus zeitigt die Krise der 1980er Jahre auf Rio de Janeiro einige spezifische Auswirkungen (vgl. Ribeiro 1999: 15ff): Traditionell war die städtische Ökonomie stark vom Dienstleistungssektor geprägt, was sich noch verschärft durch die Konzentration der Spitzenindustrie für dauerhafte

8

1763 löst Rio de Janeiro die im heutigen Nordosten gelegene Stadt Salvador da Bahia als Hauptstadt des „Estado do Brasil“, der südlichen Hälfte der portugiesischen Kolonie, ab. Bis 1960 bleibt die Stadt das politische Zentrum Brasiliens in seiner wechselhaften Geschichte zwischen Kolonie und Vizekönigreich, Monarchie (1822-1889), Diktaturen (1889-1894, 1930-1945, 1964-1985) und Republiken (1894-1930, 19451964, 1985-heute). Die Regierung Juscelino Kubitschek (1956-1961) setzte die Idee einer im Zentrum des Landes gelegenen Hauptstadt mit dem Bau der Stadt Brasília in die Realität.

9

Ender der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts datieren die ersten favelas in Brasilien, die seither als sichtbares Zeichen einer ungleichen und exkludierenden Gesellschaft gelten und sich in Rio de Janeiro insbesondere mit dem Zuzug der ehemaligen Sklaven ausbreiteten: Bis 1920 zählte man bereits 26 der illegalen Siedlungen (Barke, Escasany & O'Hare 2001). Als erste Favela gilt der Morro da Providência, einem Hügel, auf dem sich die aus dem Canudos-Krieg zurückgekehrten Söldner niederließen, um auf Zuteilung des versprochenen Wohnraumes zu warten. Eine an den Hängen wachsende Pflanze, die im Volksmund „favella“ genannt wurde, wurde in der Folge namengebend für illegale Siedlungsformen auf schwierigem Baugrund (vgl. Hehl 2011: 41).

10 Betitelung der 1980er Jahre in Lateinamerika (Alonso 2004), womit insbesondere die Schuldenkrise und ihre Auswirkungen auf die ökonomische Entwicklung der Länder gemeint sind.

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Konsumgüter in São Paulo, wohingegen die Industrie in Rio de Janeiro sich immer mehr auf den lokalen Markt beschränkt. Bei den Großstädten wurden zwei Städte ausgewählt, Porto Alegre und Recife, die eine gleichhohe Bevölkerungszahl, ansonsten aber recht unterschiedliche Merkmale aufweisen. Porto Alegre, Hauptstadt des südlichsten Gliedstaates Rio Grande do Sul, mit etwa 1,4 Millionen Einwohner_innen, weist einige Ähnlichkeiten mit São Paulo auf:11 Die Stadt befindet sich im südlichen Teil Brasiliens, der ebenso wie die südöstliche Region des Landes um São Paulo nicht zum ehemaligen kolonialen Zentrum im Nordosten gehörte. Beide Regionen wurden um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert stark von europäischer Immigration geprägt, was sie von den nördlicheren Landesteilen unterscheidet: Die südlichen und südöstlichen Landesteile standen insbesondere ab dem späten 19. Jahrhundert unter einem siedlungskolonialen Einfluss, während der nördliche Osten insbesondere durch die früheren ausbeutungskolonialen Strukturen und die damit verbundene Einführung von schwarzafrikanischen Sklaven durch die Portugiesen geprägt war.12 Porto Alegre ist die jüngste der hier behandelten Städte.13 Im 18. Jahrhundert von azorischen Siedlern gegründet, war die Stadt einige Zeit lediglich vom Handel mit deren Subsistenzüberschüssen geprägt (Barcellos 2004:68), im 19. dann auch mit den neu hinzukommenden deutschen und später auch italienischen Siedlern, die auch zur Entwicklung einer die nördlichen Stadtteile prägenden Industrie beitrugen (Ferraz de Souza 1999). In den 1960er Jahren entstehen verstärkt neue industrielle Zentren nördlich der Stadt (v.a. in Canoas, Sapucaia und Esteio), was die ökonomische und demographische Bedeutung der nördlichen Metropolregion noch unterstreicht (Barcellos 2004:69). In den 1970er Jahren war die Metropolregion bereits durch eine diversifizierte Industrie gekennzeichnet, die von der traditionellen Schuhproduktion (Novo Hamburgo) bis hin zu Raffinerie, Chemie, Kommunikationstechnik und Elektronik, aber auch Metallverarbeitung und Mechanik (in Canoas und umliegenden Städten) reicht (ebd.). 11 Der Vergleich zwischen São Paulo und Porto Alegre dient also auch der Klärung, ob unter ähnlichen Bedingungen strukturelle Unterscheidungen auffindbar sind, die auf den Größenunterschied der beiden Städte zurückzuführen sind. Wenn allerdings von einer allgemeinen Typik der ‚Megastadt‘ in Brasilien gesprochen werden soll, dann muss ebenso überprüft werden, ob die behauptete Differenz zwischen Groß- und ‚Megastadt‘ auch unter weniger ähnlichen Bedingungen aufrechterhalten werden kann. 12 vgl. die Unterscheidung zwischen Siedlungs- und Ausbeutungskolonialismus bei Jürgen Osterhammel (1995). 13 Erst im 18. Jahrhundert wurde die Region um Flusslagune des Guaíba-Sees dem portugiesischen Territorium zugerechnet.

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Recife, im nordöstlichen Staat Pernambuco gelegen, ist mit ca. 1,5 Mio. Einwohnern etwa gleich groß wie Porto Alegre und auch eine Hafenstadt. Allerdings handelt es sich bei Recife um eine der ältesten Siedlungen, die sich ab dem 16. Jahrhundert im kolonialen System entwickelte und bis Anfang des 20. Jahrhunderts Brasiliens bedeutendster Hafen war (insbesondere für Zucker und Baumwolle). Diese Position verlor die Stadt erst mit dem Aufstieg der Region um São Paulo und dem Hafen von Santos im Zuge des Kaffeehandels (Alves 2009:24). Vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Entwicklung der Stadt geprägt von den Strukturproblemen und der Verarmung der Region im Zuge des Rückgangs des Zuckerrohranbaus und ökonomischen Bedeutungsverlustes der Region mit der Erstarkung der Industrie in den südlicheren Teilen Brasiliens – und vom ‚Bevölkerungsexport‘ in diese. Gleichwohl hat Recife heute eine herausragende Stellung im Nordosten Brasiliens, nicht zuletzt durch die privilegiert Lage im Zentrum eines relativ dichten Städtenetzwerks entlang der Küste zwischen Salvador da Bahia und Fortaleza. Historisch also ein zentraler Ort für den Handel im Kolonialsystem, später vor allem von Bedeutungsrückgang und Strukturproblemen geprägt, so ist Recife heute ein (auf den regionalen Markt ausgerichtetes, Miranda 2004:124) Zentrum für moderne Dienstleistungen und fungiert als Verteilungszentrum in der Nordostregion Brasiliens (Bitoun, Miranda & Souza 2006:13). Entsprechend der Kombination aus Konkordanz- und Differenzmethode folgt die Untersuchung mehreren Vergleichslogiken: Konkordanzen: • Alle vier unterschiedlich großen Städte haben sich zumindest in jüngerer Zeit innerhalb desselben Städtenetzwerks und unter ähnlichen Bedingungen entwickelt. Identifizierbare Ähnlichkeiten in den aktuellen Entwicklungstendenzen zwischen allen vier Städten lassen sich damit auf den gemeinsamen, nationalen Kontext zurückführen. • Innerhalb der vier Städte wurden je zwei verschieden große Städte mit ähnlichen historischen Entwicklungsparametern ausgewählt: So sind São Paulo und Porto Alegre Städte, die sich erst in jüngerer Zeit und deshalb weniger im Zusammenhang mit den kolonialen Strukturen entwickelt haben, als die beiden nördlicher gelegenen Städte, Rio de Janeiro und Recife. Ähnlichkeiten zwischen São Paulo und Porto Alegre einerseits und Rio de Janeiro und Recife andererseits können also mit ähnlichen historischen Entwicklungsparametern in Verbindung gebracht werden.

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Differenzen: • Die vier ausgewählten Städte haben sich innerhalb desselben Städtenetzwerks unter denselben ‚Makrobedingungen‘ entwickelt. Auf dieser übergeordneten Ebene stellt die Größendifferenz den einzigen Unterschied dar mit dem weitere Unterscheidungen in Verbindung gebracht und identifiziert werden können. • Es wurden zwei Großstädte ausgewählt, die sich einzig in punkto Größenverhältnisse stark ähneln – sowohl im Hinblick auf die Kernstädte selbst (Porto Alegre und Recife) als auch auf die jeweiligen Metropolregionen. Ansonsten stellen sie innerhalb Brasiliens ‚most different cases‘ dar. Sie sind in gänzlich unterschiedlichen Regionen und damit historischen Entwicklungskontexten verortet. Ähnlichkeiten können von daher auf demographischstrukturelle Ähnlichkeiten zurückgeführt werden. Die Untersuchung wird eine Aussage darüber ermöglichen, wie die beiden größten Städten Brasiliens (São Paulo und Rio de Janeiro) in Bezug auf ihre stadträumliche Konfiguration, ihre politisch-planerische Konzipierung sowie ihre alltagspraktische Herstellung Ähnlichkeiten aufweisen, die sie von den kleineren Städten unterscheidet bzw. was sich als Besonderheit der größten Stadt (São Paulo) herausstellen lässt, die sich so in keiner der anderen Städte wiederfindet. Diese Unterscheidungen können weder kausal noch statistisch mit der Stadtgröße in Zusammenhang gebracht werden. Somit ist auch nicht der Effekt von (demographischer) Größe Gegenstand der Untersuchung, sondern die Differenzen in den genannten Dimensionen der Produktion dieser städtischen Räume. 1.2 Demographische und sozioökonomische Dimensionen der ausgewählten Städte im Vergleich a) Demographische Entwicklung Ein vergleichender Blick auf die demographische Entwicklung in den vier Städten und ihren jeweiligen Metropolregionen zeigt, dass die Zuwachsraten zwischen den 1960er Jahren und 2000 in allen Städten (wie in den Großstädten Brasiliens überhaupt) beständig abgenommen haben. Generell sind die heutigen Wachstumsraten als gering, aber stabil anzusehen. Unter den hier untersuchten Städten haben sich die Werte angeglichen: der Bevölkerungszuwachs für die Zeitspanne von 2000-2010 liegt in São Paulo, Rio de Janeiro und Recife bei 8% und in Porto Alegre bei 7%.14 Das starke migratorische Wachstum der 1940er

14 Eigene Berechnungen nach Zensusdaten 2010 (Quelle: IBGE).

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bis 1960er Jahre ist zurückgegangen und Migrationsströme haben sich teilweise sogar umgekehrt.15 Recife weist in den Phasen der starken Verstädterungsdynamik deutlich geringere Wachstumsraten auf als die südlich gelegenen Städte und lag bis in die 1980er Jahre immer unter den Werten von Porto Alegre, was sich aber seit den 1990er Jahren umgekehrt hat. In Rio de Janeiro lässt sich anhand der demographischen Entwicklung nachvollziehen, dass die durch den erst ökonomischen (gegenüber der rasanten Entwicklung São Paulos) und dann auch politischen Bedeutungsverlust (angesichts des Verlustes des Hauptstadtstatus zugunsten Brasílias im Jahr 1960) induzierte Stagnation noch vor den krisenhaften 1980er Jahren in Brasilien einsetzt. Demographisch äußert sich das in der bereits in den 1970er Jahren abnehmenden Dynamik. Insgesamt kann man sagen, dass sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts die demographische Entwicklung der beiden hier untersuchten Großstädte, Porto Alegre und Recife, wie auch die ihrer jeweiligen Metropolregionen stark ähneln. Dabei hat die Stadt Recife mittlerweile die Stadt Porto Alegre sowohl in Wachstumsraten als auch Bevölkerungszahl überholt, während das Gegenteil der Fall ist im Hinblick auf die Metropolregionen. Unterschiedlich sind dagegen die demographischen Entwicklungen in den beiden ‚Megastädten‘: Seit den 1950er Jahren haben sich die beiden auseinanderentwickelt, wobei São Paulo so stark gewachsen ist, dass die Stadt heute eine fast doppelt so große Einwohnerzahl hat im Vergleich zu Rio de Janeiro. Damit ist die Stadt São Paulo fast ebenso groß wie die gesamte Metropolregion von Rio de Janeiro. Das Verhältnis von Stadt zu Metropolregion ähnelt sich aber sowohl zwischen den Großstädten, deren Metropolregionen etwa 2,5mal so groß sind wie die Städte, als auch zwischen den ‚Megastädten‘, deren Metropolregionen etwa 1,8mal so groß sind wie die jeweiligen Städte. Im Hinblick auf die Wachstumsdynamik lassen sich aber alle vier Städte heute als Städte mit dynamischem Wachstum (vgl. Hall/Pfeiffer 2000:189) beschreiben. Das Wachstum hat sich abgeschwächt, wobei das deutlicher der Fall ist für die jeweiligen Kernstädte als für die Metropolregionen.

15 Von den aus dem trockenen und armen Nordosten vor einigen Jahrzehnten in den Südosten Abgewanderten kehren heute viele wieder zurück in ihre Heimatregionen. Gleichzeitig sind neue Migrationsströme hinzugekommen, insbesondere in São Paulo, wo mittlerweile ein nicht unwesentlicher Teil an MigrantInnen aus anderen südamerikanischen Ländern, etwa aus Bolivien, lebt. Im Jahr 2009 wurde die vierte Amnestie seit 1980 von der brasilianischen Regierung ausgesprochen, von der insgesamt über 40.000 irreguläre MigrantInnen profitierten, wovon allein 80% auf den Bundesstaat São Paulo entfielen. Die größte Gruppe waren die Bolivianischen MigrantInnen (vgl. Milesi & Andrade o.J.).

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Abbildung 2: Bevölkerungsentwicklung 1960-2010 in den Städten und jeweiligen Metropolregionen (eigene Darstellung nach Zensusdaten 2010)

20000000 RMR Recife

18000000

RMPA Porto Alegre

16000000

RMRJ Rio de Janeiro

14000000

RMSP São Paulo

12000000 10000000 8000000 6000000 4000000 2000000 0 1950

1960

1970

1980

1991

2000

2010

Setzt man die Bevölkerungsentwicklung in Relation zur Siedlungsfläche, erhält man relevante Hinweise auf die Bevölkerungsdichte der Städte: Die mit Abstand geringste Fläche hat Recife, was bei einer Bevölkerungszahl von 1,5 Millionen eine fast ebenso hohe Dichte ergibt wie in São Paulo. Diese ist in São Paulo am höchsten und 2,6mal so hoch wie die Porto Alegres, der Stadt mit der geringsten Bevölkerungsdichte unter den hier ausgewählten.

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Tabelle 2: Einwohnerzahlen, Fläche und Bevölkerungsdichte in den Städten und Agglomerationsräumen16   Bevölkerung  Stadt (Zensus  2010) Bevölkerung  Metropolregion  (Zensus 2010)  Fläche Stadt  (Zensus 2010)  Fläche Agglome‐ ration (Ojima  2007: 284)  Dichte Stadt  (Zensus 2010)  Dichte Agglome‐ ration (Ojima  2007: 284) 

São Paulo 11,25 Mio

Rio de Janeiro 6,32 Mio

Porto Alegre 1,4 Mio

Recife  1,5 Mio 

19,68 Mio

11,71 Mio

3,96 Mio

3,69 Mio 

1.523 km²

1.200 km²

497 km²

218 km² 

4.034 km²

5.128 km²

1.566 km²

973 km² 

7.388 EW/km²

5.266 EW/km²

2.838 EW/km²

7.038 EW/km² 

4.363 EW/km²

2.120 EW/km²

2.194 EW/km²

3.327 EW/km² 

Im Hinblick auf die Agglomerationsräume der Städte erlaubt eine Untersuchung aus dem Jahr 2007 eine interessante Einschätzung der Dispersion, verstanden als Streuungsgrad von Bevölkerung, Bausubstanz und Infrastruktur (Ojima 2007:288f.):17 Sie ist sehr gering in São Paulo (die Agglomeration ist also sehr kompakt), relativ niedrig in Recife und relativ ausgeprägt in Rio und Porto Alegre (die im brasilianischen Vergleich zwar Durchschnittswerte aufweisen, aber weniger kompakt sind als Rio und São Paulo). Die Angaben zu den Bevölkerungsdichten und Flächen in der Tabelle deuten bereits darauf hin.18 16 Quellen: Observatório das Metrópoles / IBGE Censo 2010; Eigene Berechnungen Porto Alegre und Rio de Janeiro 1991 und 2000 auf der Grundlage der Fläche von 2010 17 Basierend auf den Zensusdaten von 2000 untersucht Ojima die „städtischen Agglomerationen“ der jeweiligen Kernstädte, weshalb hier nicht die Kürzel der administrativen Metropolregionen (RMSP, RMRJ, RMPA, RMR) verwendet werden. 18 Satellitenaufnahmen zeigen eindrucksvoll, wie sich die Siedlungsstruktur zwischen den vier untersuchten Städten unterscheidet. Sie zeigen die dichte und kompakte Besiedelung der Region São Paulos im Vergleich zur Region Rio de Janeiros. Erkennbar wird aber auch, dass die geringe Dichte in Rio de Janeiro vor allem in der Spreizung des Siedlungsgebietes durch zwei Naturschutzgebiete begründet liegt. Die zwischen dem Norden und dem Süden/Südwesten liegende, unbesiedelte Landschaft ist gleichzeitig eine Trennung der überwiegenden Wohnorte der städtischen Reichen am südlichen Küstenstreifen und der dichten Wohngebiete der Arbeiter_innen nach Norden. Eine ähnliche Differenz zeigt sich bei den beiden Großstädten: Erkennbar ist die Streuung der Besiedelung Porto Alegres (eine Erweiterung des Ausschnittes nach

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b) Einkommens-, Beschäftigungs- und Wohnverhältnisse Für die Begründung möglicher Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den untersuchten Städten wichtiger als die morphologisch-topographische Beschaffenheit sind sozioökonomische Merkmale, über die sich die städtischen Gesellschaften kennzeichnen lassen. Soziale Ungleichheit nimmt in Brasilien besondere Ausmaße an. In den 1980er und 1990er Jahren lag der Gini-Koeffizient19 Brasiliens sowohl deutlich über dem Lateinamerikanischen als auch über dem subsaharischen Mittel (Ferreira 2000:132). Seither verzeichnet das Land ein fast durchgängig sinkendes Ungleichheitsmaß.20 Generell sind die städtischen Werte höher als die Werte ländlicher Regionen; die Ungleichverteilung ist demnach in den Städten stärker ausgeprägt.21 Nicht nur Ungleichheit, auch Armut ist mehr und mehr zum städtischen Phänomen geworden: War Armut zuvor ein primär ländliches Phänomen, so ist sie heute fast ebenso verstädtert wie die Gesamtbevölkerung. Um die Jahrtausendwende lebten über 80% der Brasilianer_innen und knapp 80% der brasilianischen Armen in Städten (UN-HABITAT 2010:5). Insgesamt weisen die Einkommens-, Beschäftigungs- und Wohnverhältnisse in

Norden hin würde die lineare Besiedelung entlang des Flusslaufes und der Eisenbahnlinie zeigen) sowie ihre Unterbrechungen vor allem nach Süden und Südosten hin. Dagegen weist Recife eine sehr kompakte Form auf, die sich entlang des Küstenstreifens ausdehnt, während das Hinterland der Metropolregion weitgehend dünn besiedelt und ländlich ist. Diese Unterschiede zwischen den beiden ‚Megastädten‘ einerseits und den beiden ‚Großstädten‘ andererseits sind relevant für die Begründung einzelner Differenzen zwischen Städten ähnlicher Größe hinsichtlich der räumlichen, politischplanerischen und sozialen Konfigurationen der Städte zeigen. 19 International angewandtes, statistisches Maß der (Netto-)Einkommensverteilung. Indices bis 0,4 gelten als „Normalverteilung“, Werte ab 0,5 deuten auf eine (starke) Ungleichverteilung hin. 20 Die höchsten Werte erreichte der Koeffizient Ende der 1980er Jahre (0,63), um nach einem Rückgang auf 0,58 Anfang der 1990er bis zum Ende der 1990er Jahre noch einmal auf 0,60 zu steigen Paes de Barros u.a. 2007:8. Nach den jüngsten Zensusdaten des brasilianischen Instituts für Statistik (IBGE) von 2010 liegt der Wert bei 0,53. Der Gini-Koeffizient Deutschlands liegt in den letzten Jahren kontinuierlich bei 0,29 (Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder). 21 2000 lag der Gini-Index in Recife bei 0,68 (im Gliedstaat Pernambuco bei 0,624), in Rio de Janeiro und São Paulo bei 0,62 (in den jeweiligen Gliedstaaten bei 0,58 und 0,566) und in Porto Alegre bei 0,61 (im Gliedstaat Rio Grande do Sul bei 0,566). Quelle für städtische Werte: Araujo 2005:6, Quelle für Werte der Gliedstaaten: IBGE/Zensus 2000.

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den vier untersuchten Städten nur teilweise größenrelevante Unterscheidungen auf, was in der folgenden vergleichenden Darstellung gezeigt wird. In sozioökonomischer Hinsicht bestätigt sich in den statistischen Daten zu diesen Bereichen vor allem die regionale Ungleichheit Brasiliens: Porto Alegre im wohlhabenderen, industriell geprägten Süden und Recife im ärmeren, ländlich-agrarisch, historisch von kolonialen (Ausbeutungs-)Verhältnissen stark geprägten Nordosten bilden dabei die Pole im Hinblick auf viele der sozioökonomischen Indikatoren. Diese regionale Polarisierung hat zwar in den letzten Jahrzehnten teilweise abgenommen (was vor allem auf Verschlechterungen in São Paulo zurückzuführen ist). Aber die statistischen Werte zu Einkommensverteilung, Armut, Lebenserwartung, Alphabetisierung und Wohnverhältnissen verweisen weiterhin auf regionalen Disparitäten innerhalb Brasiliens. Größenrelevante Unterscheidungen zeigen sich zum einen in Bezug auf Wertschöpfung und mittlere Einkommen – Werte also, die sich nicht auf Ungleichverteilung sondern auf die Mittelwerte beziehen. Zum anderen finden sich teilweise größere Übereinstimmungen zwischen Porto Alegre und Recife einerseits und São Paulo und Rio de Janeiro andererseits im Hinblick auf die Anteile bestimmter Beschäftigungsarten. • Das statistische Ungleichheitsmaß in Form des Gini-Koeffizienten ist für

Recife am höchsten (2000 betrug er 0,68), und es ist in Rio und São Paulo gleich hoch (0,62) (PNUD Brasil 2005); • Das mittlere Einkommen ist in Recife am niedrigsten, am zweitniedrigsten in Rio de Janeiro, am zweithöchsten in São Paulo, am höchsten in Porto Alegre;22 • Die Wertschöpfung (pro Kopf) ist in São Paulo deutlich am höchsten, dann folgen Rio de Janeiro, Porto Alegre und Recife, wo diese deutlich am niedrigsten ist;23 • Das durchschnittliche pro-Kopf-Einkommen ist am höchsten in Porto Alegre, dann folgen São Paulo, Rio de Janeiro und schließlich Recife;24 22 Das mittlere Einkommen beträgt in Recife 3.755,53 R$, in Porto Alegre 4.879,95 R$, in São Paulo 4.776,94 R$ und in Rio de Janeiro 4.402,35 R$. (Quelle: IBGE Zensus 2010) 23 Die pro Kopf-Wertschöpfung beträgt in Recife 15.903,18 R$, in Porto Alegre 26.312,45 R$, in Rio de Janeiro mit 28.405,95 R$ und in São Paulo 35.271,93 R$. (Quelle: IBGE 2009) 24 Was die durchschnittlichen pro-Kopf-Einkommen betrifft, so lag Recife im Jahr 2000 knapp unter 400 R$ und damit im Mittel der Nord(ost)hauptstädte – die süd(öst)lichen Werte liegen allesamt darüber und spiegeln somit das regionaler Gefälle in Brasilien

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• Die relative Verteilung der Einkommen nach sozialen Lagen ist in allen Städ-

ten sehr ungleich und wiederum am stärksten ausgeprägt in Recife. Dabei ist es insgesamt zu einer Angleichung gekommen, vor allem aufgrund der Zunahme von Ungleichheit in São Paulo;25 • Der Anteil der Privathaushalte mit einem pro-Kopf-Einkommen von bis zu einem Viertel des gesetzlichen Mindestlohnes26 ist in Recife am höchsten, in Porto Alegre dagegen am niedrigsten. Dafür ist in Porto Alegre der Anteil an Haushalten mit einem pro-Kopf-Einkommen von mindestens fünf Mindestlöhnen am höchsten, während dieser in Recife am niedrigsten ist. Für São Paulo und Rio de Janeiro ist dieses Verhältnis hingegen recht ähnlich. Die häufig entgegengesetzte Position Porto Alegres und Recifes zeigt sich auch in den Untersuchungen der universitären Forschergruppe des Observatório das Metrópoles, die eine Reihe sozial-räumlicher Beschäftigungs- und Gebietstypen

wider: Porto Alegre 709 R$, Rio de Janeiro 596 R$, São Paulo 610 R$). Während das Wachstum des pro-Kopf-Einkommens in den 1990er Jahren in São Paulo relativ niedrig war (1,44% p.a.), war es in den anderen drei Städten hoch (am höchsten für Porto Alegre mit 3,4%) und lag um 3% p.a. (Araujo 2005:4). 25 In Recife war im Jahr 2000 das durchschnittliche Haushaltseinkommen des obersten Fünftels 51mal so hoch wie das im untersten Fünftel (für die anderen drei Städte lag der Multiplikator bei 33) Araujo 2005:5. Die 1990er Jahre brachten in allen vier Städten eine stärkere Akzentuierung der Ungleichverteilung mit sich. Insgesamt verzeichneten überall die oberen Lagen relative Zugewinne an Einkommen, während die unteren Lagen relative Verluste hinnehmen mussten. Nur in São Paulo haben die unteren Einkommensgruppen sowohl absolut als auch relativ an Einkommen verloren, während die oberen Lagen sowohl absolut als auch relativ an Einkommen gewannen (ebd.). Für das Jahr 2000 kann festgehalten werden (Araujo 2005:6): Die relativen Anteile der untersten 20% haben sich auf etwa 2% des Einkommens angeglichen, wobei die Verluste in São Paulo am höchsten waren. Die obersten 20% aggregieren in Porto Alegre 64%, in Recife 73%, in Rio de Janeiro und in São Paulo jeweils 66%. In São Paulo hat sich das Missverhältnis zwischen unterstem und oberstem Fünftel deutlich verschlechtert, in Rio de Janeiro ist das Verhältnis am stabilsten geblieben. Insgesamt hat es sich zwischen Rio, São Paulo und Porto Alegre angeglichen. In Recife hat sich die im Vergleich schon 1991 deutlich stärker ausgeprägte Einkommensdifferenz noch weiter verschlechtert. 26 Seit Januar 2012 622,- R$, was heute etwa 235,-€ entspricht. Zwischen 2010 und 2012 lag er allerdings bei 510,- R$ (zwischen 190,- und 230,- € etwa über den Zeitverlauf), dies ist auch der Bezugswert für die vorliegende Untersuchung.

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in den jeweiligen Metropolregionen unterscheiden.27 Im Jahr 2000 war die räumliche sozioökonomische Verteilungsstruktur in den beiden Städte höchst unterschiedlich (Porto Alegre s. Mammarella & Barcellos 2008b:8, Recife s. Bitoun, Miranda & Souza 2006:43): Während in der Metropolregion Recife die unqualifizierten Arbeiter_innen bzw. unteren Einkommensschichten überwiegen, bilden in Porto Alegre die qualifizierten Arbeiter_innen die stärkste Gruppe.28 Mit dem stärkeren industriellen Profil, das vor allem für die nördliche Metropolregion Porto Alegres gilt, sind eine Vielzahl an Beschäftigungsmöglichkeiten in diesem Bereich verbunden. Dagegen finden sich etwa im Tourismus, der für die Metropolregion Recifes (Olinda und Recife selbst) charakteristisch ist, viele unqualifizierte Dienstleistungsbereiche wieder, während die Industrie in der RMR nur schwach vertreten ist. Das wirtschaftliche Profil der beiden Städte bzw. Metropolregionen ist also sehr unterschiedlich. Überhaupt finden wir im wirtschaftlichen Profil der Städte und jeweiligen Metropolregionen einen viel prägnanteren Grund für die sozioökonomischen Unterschiede und Ähnlichkeiten: Während Recife und Rio de Janeiro stark von Dienstleistungen geprägt sind, kommt in Porto Alegre und São Paulo dem industriellen Sektor ein stärkeres Gewicht zu.29 Daten des IBGE zeigen, dass sich im Hinblick auf die Berufsgruppen in den verschieden großen Städten einige strukturelle Differenzen nachvollziehen lassen: So sind vor allem die Anteile an qualifizierten Arbeiter_innen, Installateur_innen und Monteur_innen in São Paulo und Rio de Janeiro höher als in den beiden kleineren Städten, wohingegen die mittleren oberen Beschäftigungen in den beiden kleineren Städten höhere Anteile einnehmen. Schließlich zeigt sich auch eine Übereinstimmung in der verschwindend geringen Bedeutung von Beschäftigungsverhältnissen in landwirtschaftlichen Bereichen in São Paulo und Rio de Janeiro, während in den beiden kleineren Städten ein zumindest erkenn27 Diese Daten gelten für die Metropolregionen, also nicht nur für die Kernstädte. Für São Paulo sind diese entweder nicht berechnet oder nicht publiziert worden, denn in der neuesten Veröffentlichung der Forschergruppe zu São Paulo wird nur eine Zuteilung dieser Kategorien für die Städte der Metropolregion São Paulos ohne São Paulo (die lediglich als „Kernstadt“ ausgewiesen wird) durchgeführt (Bógus & Pasternak 2009). 28 In der Metropolregion Porto Alegre überwiegt die Kategorie der qualifizierten Arbeiter_innen (operário, 44,49%), während in Recife deutlich die Kategorie der einfachen und unqualifizierten Arbeiter_innen bzw. unteren Einkommensschicht (popular, 52,76%) dominiert. 29 Das starke industrielle Gewicht kommt in Porto Alegre aber nur in der Metropolregion zum Ausdruck, in der Stadt selbst zeigt sich der stärker industrielle Charakter lediglich in São Paulo.

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barer Anteil auszumachen ist. Insgesamt lässt sich von einer leicht akzentuierten Bedeutung des landwirtschaftlichen Bereiches in den beiden (kleineren) Großstädten sprechen, was mit dem im Kontext von Topographie und Morphologie identifizierten größeren Ausmaß landwirtschaftlicher Flächen übereinstimmt. In São Paulo leben anteilsmäßig am wenigsten Menschen (10,0% Gesamtanteil) in Wohnformen, die als „subnormale Siedlungseinheiten“30 im Zensus gewertet wurden. Die geringere durchschnittliche Anzahl an Wohneinheiten pro Siedlungseinheit verweist darauf, dass die prekären Wohnformen kleinteiligere Bestandteile des Stadtraums darstellen, also verteilter, gleichwohl dichter bewohnt werden, was der insgesamt höheren Bevölkerungsdichte in São Paulo entspricht. So weisen in Rio de Janeiro (19,9% Gesamtanteil) die Siedlungseinheiten durchschnittlich etwa 560 Wohneinheiten auf, ein ähnlicher Wert wie in Porto Alegre (11,0% Gesamtanteil) mit ca. 520 Wohneinheiten pro Siedlungseinheit. Recife weist nicht nur den höchsten Gesamtanteil (21,8%), sondern auch den höchsten durchschnittlichen Wert an Wohneinheiten pro Siedlungseinheit auf mit ca. 940. Dagegen beträgt der Wert in São Paulo nur ca. 350. „Subnormale Siedlungseinheiten“ sind also in Recife durchschnittlich am größten, während sie in São Paulo im Durchschnitt am kleinsten sind. Bei der durchschnittlichen Belegung (Bewohner_innen pro Wohneinheit) hingegen liegt der Wert am höchsten in São Paulo (3,6), gefolgt von Recife und Porto Alegre (je 3,4) und schließlich Rio de Janeiro (3,3). Für diese Tatsache macht die Architektin und Stadtforscherin Suzana Pasternak nicht zuletzt die Topographie der Städte verantwortlich (Pasternak Taschner 2001:13). Insgesamt ist Recife unter den hier untersuchten Städten diejenige mit den schlechtesten Werten sozialer und sozioökonomischer Indikatoren. Die Stadt und ihre Metropolregion waren seit den 1990er Jahren besonders stark von Unterbeschäftigung und ökonomischer ‚Informalität‘ geprägt (Bitoun, Miranda & Souza 2006:25). Unter den brasilianischen Metropolen ist die Lebenserwartung in Recife die niedrigste (2000 lag sie bei 68,8 Jahren, was etwa dem brasilianischen Mittel von damals entsprach). Die Anteile an armen Haushalten und ‚subnormalem Wohnen‘, Sterblichkeitsraten, Analphabet_innenraten, um nur einige zu nennen, sind durchweg höher als in den drei anderen Städten. Die regionalen 30 Daten aus der Zensuserhebung 2010. Die Kategorie der „subnormalen Wohneinheiten“ wurde 1991 zum ersten Mal in einer Volkszählung erhoben und beinhaltet alle „irregulären Siedlungen, die als Favelas, […] grotas, baixadas, comunidades, vilas, ressacas, mocambos, palafitas unter anderem bekannt sind“, die aus mindestens 51 irregulären und unterversorgten Wohneinheiten bestehen und auf (privatem und öffentlichem) Bodenfremdeigentum errichtet sind (Quelle: bras. Amt für Statistik, IBGE). Zur Erhebung dieser Daten wird verstärkt mit Satellitenbildern gearbeitet.

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Unterschiede in Brasilien zeigen sich darin deutlich. An den Daten zur Zusammensetzung der Bevölkerung und zu den sozioökonomischen Differenzierungen lassen sich aber keinerlei Rückschlüsse auf strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den Städten jeweils ähnlicher Größe ziehen. Vielmehr sind die regionalen Entwicklungsparameter (und die damit einhergehenden ökonomischen Profile der Städte) die aussagekräftigsten Bezüge, was sich darin offenbart, dass häufig Recife und Porto Alegre die entgegengesetzten Werte innerhalb der vier Fälle aufweisen. Bezüglich der Wohnverhältnisse zeigt sich also ein deutlicher Zusammenhang mit regionalen Ungleichheiten. Aber auch topographische Verschiedenheiten der Städte spielen eine Rolle. Die nachfolgende Tabelle gibt einen Überblick über die wichtigsten hier dargestellten Merkmale der Städte im Vergleich. Tabelle 3: Überblick über allgemeine räumliche und sozioökonomische Dimensionen der untersuchten Städte   Dichte Dispersion 

São Paulo sehr hoch sehr niedrig

Infrastrukturelle  Kompaktheit  Ausdehnung 

hoch 

Metropolregio‐ nale Konzentra‐ tion 

Soziale Un‐ gleichheit 

360°, kom‐ pakt, ausge‐ dehnt  Entwicklung  von konzent‐ risch hin zu  fragmentiert mittel bis  niedrig (Ten‐ denz: abneh‐ mend; starke  Zentren in der  RMSP) hoch 

Rio de Janeiro mittel relativ ausge‐ prägt hoch

Porto Alegre niedrig relativ ausge‐ prägt niedrig

Recife  sehr hoch  relativ niedrig 

Ausdehnung  entlang von  Achsen; Zwei‐ teilung: Zent‐ rum/Süden vs.  Peripherie 

PA‐Stadt:  gestreut;  RMPA: linear  (Norden) 

hoch

niedrig

kompakt (v.a.  Küste)  Weitgehend  homogene  Ausbreitung in  Armensied‐ lungen  hoch 

hoch

mittel

sehr hoch 

mittel 

1.3 Methodisches Vorgehen Die theoretisch hergeleiteten Untersuchungsdimensionen können nun im Wissen um die Besonderheiten der ausgewählten Städte im Rahmen eines konkreten Untersuchungsdesigns spezifiziert werden. Die Analyse der stadt-räumlichen Konfiguration, der politisch-planerischen Konzipierung und der alltagspraktischen Herstellung der vier brasilianischen Städte erfolgt in einem Methodenmix

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aus Sekundärdatenanalyse, Dokumentenanalyse, leitfadengestützten Expert_inneninterviews, sowie einer teilstandardisierten, offenen Befragung. Grundsätzliche Quelle der Interpretationen ist aber nicht zuletzt die brasilianische Stadtforschungsliteratur selbst. Die vergleichende Betrachtung der stadt-räumlichen Konfiguration der vier Städte basiert vorrangig auf der brasilianischen Stadtforschungsliteratur, worin die wissenschaftliche Konzipierung der physisch- und sozial-räumlichen, konkreten Materialität der Städte zum Ausdruck kommt. Ergänzt werden diese Analysen durch Beschreibungen, die im Rahmen von Begehungen der Städte während der Feldforschungsphase erstellt wurden. Für die Frage nach den Trennungsaspekten des städtischen Raumes wird die brasilianische Stadtforschung in ihren Erkenntnissen zur Segregation in den Städten herangezogen. Die Kurzcharakterisierungen der Städte haben gezeigt, dass die Ungleichheitswerte weniger nach Stadtgröße differieren, sondern die Unterschiede zwischen den Städten vielmehr regionale Ungleichheiten in Brasilien zum Ausdruck bringen. Eine stärker akzentuierte Segregation (im Sinne von Segregationsindices) ist daher in Bezug auf die Größenspezifik nicht anzunehmen. Vielmehr steht zur Frage, ob sich zwischen den Städten unterschiedliche Muster der (insbesondere residentiellen) Segregation erkennen lassen. Im Hinblick auf die Verbindungen rücken die Stadtzentren – sowohl das (historische) Zentrum und verschiedene Formen von Zentralität in den Städten – in den Fokus. Auch hierfür werden Feldbeschreibungen und Analysen der brasilianischen Stadtforschung ergänzend herangezogen. Die Untersuchung der politisch-planerischen Konzipierung der Städte basiert auf Interviews mit Expert_innen aus den Stadtverwaltungen sowie auf Dokumentenanalysen und brasilianischer Forschungsliteratur zu politischer Dezentralisierung. Dabei fußt die Untersuchung der Perzeption von Größe ausschließlich auf den Expert_inneninterviews, während die Gestaltung im Sinne von Plan- und Regierbarkeit auf verschiedenen Datentypen beruht:31 Als Ausdruck einer Konzipierung der Stadt als Ganzer und damit als Herstellung von übergeordneten Zusammenhängen werden nicht nur diesbezügliche Sichtweisen aus den Expert_inneninterviews herangezogen, sondern die gesamtstädtischen Masterpläne und die dafür relevanten Dokumente (insbesondere die im Vorfeld der Erstellung dieser Pläne entwickelten Stadtanalysen seitens der Stadtregierungen) analysiert. In Bezug auf die Dezentralisierungsbemühungen als Ausdruck einer verstärkten Konzipierung von städtischen Aufteilungen soll der Schwerpunkt nicht so sehr auf stadt-räumlichen, sondern auf institutionellen und genuin politischen Fragen der Dezentralisierung liegen. Hierfür rücken Fragen der Beteiligung in den Fokus: Inwiefern werden von den Expert_innen aus Politik und Planung spezifi31 Für die Unterscheidung zwischen Perzeption und Gestaltung s. Kapitel B.3.2.

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sche ‚Beteiligungskulturen‘ im Sinne einer politischen Dezentralisierung ausgemacht? Ein für die brasilianische Stadtentwicklung weitreichender Ansatz ist dabei der partizipative Bürgerhaushalt. Inwiefern sich an den unterschiedlichen Weisen der Umsetzung der Bürgerhaushalte in den Städten unterschiedliche Konzipierungen von Trennungen und Verbindungen in den Städten ausmachen lassen, wird hierbei untersucht. Die Analyse der alltagspraktischen Herstellung der untersuchten Städte basiert ausschließlich auf einer im Rahmen der Feldforschung durchgeführten teilstandardisierten Befragung. Dabei werden die alltäglichen Nutzungen des städtischen Raums durch die Bewohner_innen (und Besucher_innen) zwischen Arbeit, Wohnen und Freizeit erhoben sowie die alltäglich vorgenommenen Attribuierungen der Städte und lokalen Kontexte aus der Gesamtzahl der Interviews berücksichtigt. Städte werden hier als sozial produzierte räumliche Formen und damit widersprüchliche und eben nicht abgeschlossene Gebilde klar konturierter Praktiken verstanden. Sie entwickeln sich damit in der Umsetzung, Durchsetzung und Aushandlung konfligierender Ansprüche auf Stadt, womit nicht nur politische (bzw. politisch-institutionelle) Auseinandersetzungen gemeint sind, auch nicht nur ökonomische und sozioökonomische Differenzen, sondern auch die Behauptung, Aneignung, (Über-)Formung, Gestaltung und Bedeutungszuweisung städtischer Orte im Rahmen alltäglichen städtischen Lebens. Das heißt, dass die Nutzungsweisen und Sichtweisen in und auf eine bestimmte Stadt von ihren Bewohner_innen und Gestalter_innen sich immer auch widersprechen werden. Welche unterschiedlichen, zum Teil widersprüchlichen Vorstellungen ausgemacht werden können und wie die Nutzer_innen diese begründen, wird anhand von charakteristischen Narrativen erarbeitet. Wie die Befragungen – sowohl die teilstandardisierten Straßeninterviews wie auch die leitfadengestützten Expert_inneninterviews – inhaltlich aufgebaut wurden und welcher Logik die Auswahl der Untersuchungsorte bzw. Befragten folgt, sei im Folgenden kurz erläutert. a) Expert_inneninterviews Bei den befragten Expert_innen handelt es sich vorrangig um langjährige, leitende Fachkräfte unterschiedlicher Ressorts der Stadtverwaltungen.32 Für die Ein32 Die Gesprächssituation variierte zum Teil je nach der Funktion und Anzahl der Interviewpartner_innen. Obwohl in der Regel leitende Fachkräfte der Ressorts angeschrieben bzw. kontaktiert wurden, gab es Fälle, in denen dem Interview in der Agenda eine wichtigere oder weniger wichtige Bedeutung beigemessen wurde, sodass manche Ressorts den Termin mit dem/der (politischen) Ressortleiter_in ansetzten, andere wiederum das Interview nicht leitenden Fachkräften zuteilten. Auch wurden manche

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schätzung der Expert_innen ist relevant, dass diese zwar zu ihrem spezifischen Arbeitsbereich befragt wurden und unter einen klassischen, wissenssoziologisch begründbaren Expert_innenbegriff subsumiert werden können (vgl. Liebold & Trinczek 2009). Gleichwohl müssen die Äußerungen auch als Einschätzungen der Stadt gesehen werden, in der die Befragten selbst als Privatpersonen leben. Sie nehmen diese also auch im Sinne einer mehr oder weniger starken Identifikation mit dem Ort sowie einer Beeinträchtigung eigener alltäglicher Bedürfnisse wahr. Ihre persönlichen Einschätzungen und Bewertungen fließen je nach Relevanz für das Arbeitsgebiet mehr oder weniger stark in ihre professionelle Arbeit mit ein. In den Expert_innengesprächen wurde dieser Tatsache Rechnung getragen, indem explizit und gleich zu Beginn des Gesprächs nach persönlichen Einschätzungen gefragt wurde. Diese Vorabfrage sollte es ermöglichen, die persönlichen von den professionellen Sichtweisen abzusetzen, und zwar ohne von den weiteren Interviewfragen bereits beeinflusst zu sein. Der Leitfaden für die Interviews – die zwischen den thematischen Ressorts zum Teil variierende Fragen enthielten – folgte prinzipiell einem vierteiligen Aufbau: 1. Allgemeine, persönliche Beschreibung der jeweiligen Stadt (Hauptmerkmale, ‚Typisch Paulistano/Carioca/Porto Alegrense/Recifense‘33); 2. Themenspezifische Fragen zum Arbeitsfeld (dabei Berücksichtigung der allgemeinen Merkmale, ungleiche Zugangschancen bzw. Berücksichtigung durch die Politik unterschiedlicher Gruppen, räumliche Verteilungsstruktur, Interessenartikulation spezifischer Gruppen); 3. Vergleichsebenen: Städtenetzwerk, Bedeutung unterschiedlicher Politikebenen; 4. Persönliche Einschätzungen: eigener Alltag in der Stadt (inklusive sozialer Netzwerke), Nutzungsbereiche bzw. Frage nach der Abgrenzung der Stadt. Für die Auswertung berücksichtigt wurden insgesamt 18 Interviews, je vier in Rio de Janeiro und Porto Alegre, je fünf in São Paulo und Recife, um Aussagen aus den entsprechenden Ressorts auszuwerten.34 In Rio de Janeiro sind dies Interviews als Gruppengespräche geführt, die aus entsprechenden Ressortentscheidungen resultierten. Die Mehrzahl der Interviews fand dennoch als Einzelinterviews mit leitenden Fachkräften statt. 33 Paulistano – aus São Paulo Stadt; Carioca – aus Rio de Janeiro Stadt; Porto Alegrense – aus Porto Alegre; Recifense – aus Recife. 34 Insgesamt konnten mit 38 Personen 28 Expert_inneninterviews durchgeführt werden, davon sechs in São Paulo, sechs in Rio de Janeiro, sechs in Porto Alegre und zehn in Recife. Dadurch konnten die Ressorts Wohnen, Partizipation und Dezentralisierung, Arbeit und Wirtschaft, Stadtplanung und -entwicklung, ‚öffentliche Ordnung‘, Umwelt und Regierungskoordination abgedeckt werden. Da nicht an allen Orten Interviews in denselben Ressorts durchgeführt werden konnten (aufgrund von Non-

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das Wohnressort (SMH), das Ressort für Stadtplanung und -entwicklung (SMU), das Ressort für öffentliche Ordnung (SEOP), sowie das Städtische Institut für Stadtentwicklung (IPP, mit einem Fokus auf ökonomische Fragen). In Porto Alegre das Ressort für Stadtplanung und -entwicklung (SPM), das Ressort für Industrie und Handel (SMIC), das Ressort für lokale Governance (SMGL), sowie das Amt für die Kontrolle des Partizipativen Bürgerhaushalts (Observatório da Cidade). In Recife das Wohnressort (SEHAB), das Stadtplanungs- und -entwicklungsamt (Dirurb), das Amt für städtische Kontrolle (Dircon), das Ressort für Sozialhilfe (SMAS), sowie das Ressort für partizipative Planung und Entwicklung (SPPDU). In São Paulo schließlich das Wohnressort (SEHAB), das Ressort für Stadtplanung und -entwicklung (SMDU), das Ressort für Wirtschaftsentwicklung und Arbeit (SMTrab), das Ressort für Sozialhilfe (SMAS), sowie das Ressort für Partizipation und Partnerschaft (SMPP). Dabei wurden Aussagen der Expert_innen zu acht Themenbereichen separiert, die in der Folge offen kodiert wurden: Allgemeine Besonderheiten der jeweiligen Stadt; Politische Entscheidungsstrukturen und -parameter; Räumliche Organisation, Struktur und Zentralität; Stadtgröße und Wachstum; Städtische ‚Mentalität‘, Charakteristika der Bewohner_innen und Identitätsbezüge; Städtisches Zusammenleben; Themenspezifische Probleme, Herausforderungen, Charakteristika; Vergleiche mit anderen (Groß-)Städten, Gemeinsamkeiten und Abgrenzungen. Im Hinblick auf die Fragestellungen erwiesen sich insbesondere die folgenden Bereiche als aussagekräftig: • ‚Politische Entscheidungsstrukturen und -parameter‘, • ‚Stadtgröße und Wachstum‘ sowie • ‚Themenspezifische Probleme‘ (Wohnen, Planung, Ökonomie, Soziale, Betei-

ligung).35 Die offenen Kodierungen dieser Bereiche wurden daraufhin zu Aussagen und Kategorien verdichtet, worauf die vorliegende Darstellung beruht. b) Teilstandardisierte, offene Befragung Die Auswahl der Untersuchungsorte erfolgte nach dem Prinzip, alltägliche zentrale Orte der Städte zu identifizieren, die von bestimmten sozialen Gruppen genutzt werden. Dafür wurden erstens verschiedene Orte in den historischen Zentren der Städte ausgewählt; zweitens wurden Orte in den verschiedenen response oder dem fehlenden Vorhandensein spezifischer Ressorts), wurden in der Auswertung nicht alle berücksichtigt, um größtmögliche Schnittmengen zu erreichen. 35 Die Interviewnummerierung ist der Liste im Anhang zu entnehmen.

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Subzentren mit ihren unterschiedlichen sozialen und damit auch gewerblichen Profilen ausgewählt; und drittens wurden Orte der Freizeit identifiziert, die häufig auch einen gemischten Charakter tragen und von verschiedenen Gruppen genutzt werden. Die Orte decken dabei insgesamt folgendes Spektrum ab: • • • •

Historisches Zentrum; Hoch- und niedrigpreisige Subzentren; Peripherie/Außenbezirke; Metropolregion.

Für die Interviews im Zentrum, in Subzentren, in der Peripherie sowie der Metropolregion variierten die Fragen in den Fragebögen zum Teil. So wurden die in der Metropolregion Befragten sowohl nach Einschätzungen zur ‚eigenen‘ Stadt als auch zur Kernstadt der Metropolregion gebeten. Zwischen zentralen und peripheren Befragungsorten variierten die Fragen zum Zentrum und zu Subzentren leicht. Die Identifizierung der Orte erfolgte in der ersten Feldphase (Juli bis Oktober 2009) in Gesprächen mit lokalen Stadtforscher_innen sowie in den Expert_inneninterviews in den Stadtverwaltungen; auch ein Pretest der Fragebögen fand in dieser Phase statt.36 In der zweiten Feldphase (Februar bis April 2011) konnten dann insgesamt 210 Straßeninterviews an 40 Orten durchgeführt werden. Die Bedeutungen und allgemeinen Bewertungen des Lebens in den untersuchten Städten sollten anhand der Sichtweisen derjenigen untersucht werden, welche sich tagtäglich mit Vor- und Nachteilen des Stadtlebens in São Paulo, Rio de Janeiro, Porto Alegre und Recife konfrontiert sehen, weil sie die städtischen Orte und ihre Verbindungen in ihrem Alltag überhaupt erst herstellen. In Straßeninterviews wurden dementsprechend Fragen sowohl in Bezug auf die Stadt als generellem Kontext gestellt als auch in Bezug auf die Stadtteile sowie auf die direkte Nachbarschaft.37 36 Dabei erwiesen sich sowohl manche Fragen als nicht zielführend, aber auch manche Befragungsorte als ungeeignet, da die Interviews mindestens zehn Minuten in Anspruch nahmen, aber zum Teil bis zu 30 Minuten dauerten, da manche Befragte die Interviewsituation zu Gesprächssituationen ausbauten. Dadurch musste ein gewisser Verweilcharakter am Ort gegeben sein – entweder durch die Tätigkeit des/der Befragten am Ort oder durch die Umgebung (Sitzplätze, verfügbarer Platz). 37 Diese Unterscheidung hat mehrere Effekte: Während die Frage nach Bedeutungen und Bewertungen der ‚Stadt‘ das Problem hat, nicht klären zu können, was mit ‚Stadt‘ jeweils gemeint ist (das Zentrum, die Metropolregion, die administrative Einheit der Kommune, die genutzten Orte innerhalb der Stadt etc.) verhält es sich bei den kleine-

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Insgesamt enthielten die Fragebögen vier Fragenkomplexe: 1. Typische sowie spezifisch positive und negative Zuschreibungen von Charakteristika der Stadt, Metropolregion und des eigenen (Wohn-)Stadtteils;38 2. Bewertungen des Zusammenlebens und Einschätzung von Gemeinsamkeiten der Bewohner_innen auf der Ebene der Nachbarschaft, des Stadtteils, sowie der Stadt selbst;39 3. Die ren Einheiten ‚Viertel‘ und ‚Nachbarschaft‘ grundsätzlich weniger vieldeutig. Zwar können immer noch die örtlichen Bezüge variieren, und in den Interviews stellten sich auch sprachliche Besonderheiten teilweise als Unklarheit dar (etwa, wenn ein_e Befagte_r von ihrem/seinem ‚bairro‘ – also Viertel – mit Bezug auf eine Stadt in der Metropolregion sprach). Dennoch ist der Bezug auf die konkrete Lebenswelt der befragten Person direkter. Probleme, die etwa im Hinblick auf die ‚Gesamtstadt‘ gesehen werden bzw. zum Ausdruck gebracht werden, können stark medial vermittelt sein, während im Hinblick auf die Einschätzungen der Nachbarschaft und des Wohnviertels vermehrt konkrete persönliche Erfahrungen als Hintergrund dienen. 38 In der Einstiegsfrage des Fragebogens sollte der folgende Satz vervollständigt werden: ‚São Paulo [Rio de Janeiro, Porto Alegre, Recife] ist eine Stadt, die...‘ (Erklärungen: Was fällt Ihnen als erstes ein, wenn Sie an [São Paulo] denken? Was ist aus Ihrer Sicht typisch für [São Paulo]?) Damit sollten die Assoziationen der Bewohner_innen selbst abgefragt werden. Dabei ist nicht nur interessant, ob mit der jeweils bewohnten Stadt negative oder positive Aspekte verbunden werden, sondern auch, welche Themen sich als dominant erweisen. Im zweiten Schritt wurden die Interviewpartner_innen darum gebeten zu spezifizieren, was aus ihrer Sicht positiv und negativ am Leben in der jeweiligen Stadt ist. Zum Abschluss des Fragebogens wurde schließlich noch eine fiktive Annahme vorangestellt: Die Befragten wurden gebeten, einer bzw. einem fiktiv hinzuziehenden Familienangehörigen Hilfestellungen zur Eingewöhnung zu bieten. Dafür sollten sie drei Sätze vervollständigen, wovon der eine auf die Besonderheit der Stadt zielte (‚Du wirst sehen, das Leben hier ist anders, weil…‘), einer auf Dinge, an die man sich vor Ort gewöhnen müsse (‚Hier muss man sich gewöhnen an…‘), sowie der dritte auf die Eigenheiten der lokalen Bevölkerung (‚Die Leute hier sind typischerweise…‘). Die abschließende Frage bildeten Tipps zur Arbeitssuche. Der Fragebogen war damit eingerahmt von Fragen, in welchen die interviewten Personen allgemeine Einschätzungen zum Alltagsleben und zu spezifischen Vor- und Nachzügen in den jeweiligen Städten abgeben sollten. Der dritte Fragenkomplex des Fragebogens bezog sich auf das Wohnviertel der Befragten. Der Frage nach dem bewohnten Stadtteil folgten nacheinander die Fragen zu den positiven und negativen Aspekten des Lebens dort. 39 Auf der Ebene der Nachbarschaft wurden zusätzlich Fragen zu Nachbarschaftshilfe gestellt, um die generellen Bewertungen, die nicht selten auch unspezifischer Natur waren, inhaltlich zu kommentieren. Zum Abgleich wurde außerdem danach gefragt,

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Relevanz spezifischer Orte in Bezug auf Wohnen, Arbeit, Freizeit und Einkäufe;40 4. Persönliche Angaben zu Alter, Geschlecht, Bildung, Beruf, zur Haushaltsgröße und dem Haushaltseinkommen sowie der Anzahl der im Haushalt berufstätigen Personen. In São Paulo konnten insgesamt 69 Interviews an 15 Orten, in Rio de Janeiro 55 Interviews an acht Befragungsorten, in Porto Alegre 45 Interviews an acht Befragungsorten und in Recife 45 Interviews an neun Befragungsorten durchgeführt werden.

2. S TADT - RÄUMLICHE K ONFIGURATION : T RENNUNGEN UND V ERBINDUNGEN IM S TADTRAUM 2.1 Segregationsmuster Residentielle Segregation in brasilianischen Städten wurde bis in die 1980er Jahre im Rahmen des mittlerweile klassischen Zentrum-Peripherie Modells diskutiert (Lago 2007:277f.). Die sozialräumliche Struktur brasilianischer und allgemein auch lateinamerikanischer Städte war charakterisiert durch ein funktionales, ökonomisches und – für die Wohlhabenden – auch residentielles Zentrum, dem eine weitläufige Peripherie gegenüberstand, die das Zuhause der soge-

welche persönlichen Werte des Zusammenlebens und welche Ziele den Befragten wichtig seien, sowie von welchen Menschen oder Gruppen sie sich abgrenzen würden. Auf der Ebene der Stadtteile wurde zusätzlich nach spezifischen Sorgen gefragt, nach der Einschätzung von Gründen für bestehende Probleme sowie ob und worin Lösungen dafür gesehen würden. Hier wurde auch danach gefragt, inwiefern sich aus der Sicht der Befragten die Stadtregierung um die genannten Probleme kümmere bzw. worin Gründe gesehen würden, dass sie sich nicht bemühe um Lösungsfindungen. Zudem wurde nach nichtstaatlichen Organisationen gefragt, die sich um Viertelanliegen kümmerten. 40 Im Hinblick auf die Wohnorte wurde sowohl nach dem aktuellen, als auch nach möglicherweise ehemaligen und zukünftig gewünschten Orten gefragt. Bei den Einkaufsorten wurde nach Lebensmitteln, Kleidung, Haushaltswaren und Elektrogeräten differenziert, um den täglichen vom nicht-täglichen Bedarf zu unterscheiden. Außerdem sollen die Interviewten angeben, mit welchen Orten sie ein Unsicherheit- oder Sicherheitsempfinden verbinden. Schließlich sollten einige Angaben zur Bedeutung und zu den Nutzungsweisen und der Frequenz des Zentrums gemacht werden.

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nannten classes populares41 bildete. Diese Peripherie ist vor allem durch die immensen Migrationsströme der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewachsen und wurde vielfach als ‚ungeordnete‘ Verstädterung beschrieben (vgl. Carreras i Verdaguer 2004), gezeichnet von der ‚Abwesenheit‘ des Staates und der miserablen Ausstattung mit Infrastruktur und öffentlichen Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser. Seit einiger Zeit werden die Veränderungen in Brasiliens Städten als eine Auflösung der Zentrum-Peripherie-Struktur interpretiert, und als Wandel hin zu einer sozialen ‚Fragmentierung‘ der Raumkonfiguration (Barcellos 2004:67): Während sich die Favelas auf der einen Seite weiter ausdehnen und es zu einer Annäherung sozial unterschiedlicher residentieller Gebiete kommt, entwickeln sich neue, kleinräumigere Formen der Segregation insbesondere durch die Enklavenbildung der Reichen (sowohl residentiell als auch konsumorientiert) (ebd.). Gleichzeitig ist die Peripherie immer noch da und sie wächst weiterhin: Die Ausdehnung der Favelas hat in São Paulo, aber nicht nur dort, vorrangig mit dem Wachstum und der Verdichtung in der Peripherie zu tun (vgl. UNHABITAT 2010). Zwar geht mit zunehmender Distanz zum Zentrum eine steigende Rate an Hauseigentum einher, aber auch Überbelegung und geringe Wohnqualität nehmen mit der Distanz zu (Ribeiro 2002:92). Armut war immer schon ein Kennzeichen der städtischen Peripherien, und obwohl das nun nicht mehr ausschließlich der Fall ist, kann man nicht von einer generellen Verbesserung, sondern eher von einer Vervielfältigung der Exklusionsmechanismen sprechen (Bitoun & Bezerra da Silva 2006:52). Die brasilianische Forschung 41 Classes populares (wörtliche Übersetzung: ‚Volksklassen‘) kann als gängiger Sammelbegriff für Arbeiter_innenklasse, Industrieproletariat, ‚informell‘ selbständig/ autonom und prekär Beschäftigte, sowie Lumpenproletariat gelten. Das Adjektiv ‚populares‘ wird ebenso verwendet zur sozialen Charakterisierung von Wohnvierteln: Bairros populares sind allerdings nicht als Armenviertel zu übersetzen (auch wenn diese zu den bairros populares gehören), sondern ebenfalls als Sammelbegriff für (informelle, semi-formelle und formelle) Wohnviertel der (informellen, semi-formellen und formellen) Arbeiter_innen zu sehen. Wenngleich sich sowohl im sozialwissenschaftlichen als auch allgemeinen Sprachgebrauch die dreiteilige Unterscheidung in classes alta, média und baixa/popular – also obere, mittlere und untere bzw. ‚VolksKlasse‘ durchgesetzt hat, sind diese nicht gleichzusetzen mit dem Schichtbegriff in der deutschsprachigen Soziologie (soziale Schicht wäre mit camâda social zu übersetzen, ein Begriff, der gleichwohl auch verwendet wird in der brasilianischen Soziologie). Insofern ist die Übersetzung als ‚Unterschicht‘ für classes populares nur eingeschränkt richtig, wird aber in Ermangelung eines anderen Begriffs hier teilweise verwendet.

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vermag auch zu zeigen, dass sich die Segregation insbesondere in den 1990er Jahren, obgleich allgemeine Armutsniveaus gesunken sind und das Bildungsniveau insgesamt gestiegen ist, verschärft und auch auf mittlere Einkommensbereiche ausgedehnt hat (s. Torres 2004b:46). Zwar haben nicht zuletzt staatliche Investitionen in den 1990er Jahren Ungleichheiten im Sinne von Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und Einrichtungen reduziert, insbesondere im Hinblick auf Bildung, Abwasser- und Abfallentsorgung sowie Wasserversorgung. Eine „Isolierung der sozialen Gruppen“ habe aber zugenommen (ebd.: 50). Was also die Segregation vor allem verstärkt hat, sind die Prozesse der sozialen Homogenisierung einzelner Siedlungen – so sind die Gegenden der Reichen in den 1990er Jahren exklusiver geworden, während sich die ärmeren Gegenden entdiversifiziert haben (ebd.:49; s. auch Caldeira 2003 und Villaca 2001). Einige sozialräumliche strukturelle Veränderungen sind also in allen der hier untersuchten Städten nachzuweisen sind: (1) Enklavenbildung der Wohlhabenden, (2) verstärkt kleinräumige Segregation und damit zusammenhängende soziale Homogenisierung auf einer sublokalen Ebene, bei (3) gleichzeitiger sozioökonomischer Heterogenisierung auf der Ebene der Gesamtstadt werden als generelle Tendenzen für alle größeren Städte Brasiliens besprochen, unabhängig von den zwischen ihnen bestehenden Größenunterschieden. Das Ausmaß dieser Entwicklungen unterscheidet sich jedoch augenscheinlich im Zusammenhang mit der Größe. So weisen etwa für den Geographen Marcelo Lopes de Souza kleinere Großstädte wie Recife und Curitiba42 nur eine „embryonale“, „sozialpolitisch-räumliche“ ‚Fragmentierung‘ auf, die nur in São Paulo und Rio de Janeiro als tiefgreifende Entwicklung bezeichnet wird (Souza 2005 [1999]:334). a) São Paulo Für São Paulo unterscheidet die Anthropologin Teresa Pires do Rio Caldeira (Caldeira 2003:211) drei Phasen residentieller Segregation: Die erste Phase ab Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1940er Jahre hinein zeichnet sich durch eine 42 Porto Alegre ließe sich hier ohne weiteres hinzufügen, der Autor untersucht die Stadt aber in seiner Studie über die „metropolitane Herausforderung“ nicht. Diese hochinteressante Studie diskutiert die städtischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der großen Metropolen Brasiliens (die immer auch Metropolregionen sind) vor dem Hintergrund von Kriminalität und Drogenkartellen und den damit in Verbindung gebrachten Aspekten von Segregation, ‚Fragmentierung‘ und der Frage der Regierbarkeit, wie auch der Mobilisierung sozialer Bewegung und lokaler Initiativen. Für den Autor ist völlig klar, dass insbesondere Rio de Janeiro, aber auch São Paulo besondere Orte darstellen, an denen die untersuchten Entwicklungen in unvergleichlich stärkerem Ausmaß eine Rolle spielen.

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Konzentration der unterschiedlichen sozialen Gruppen in einem relativ kleinen städtischen Gebiet aus, innerhalb dessen diese Gruppen lediglich durch ihre unterschiedlichen Wohnungstypen voneinander getrennt lebten. Während der zweiten Phase zwischen den 1940er und den 1980er Jahren wird als vorherrschendes Segregationsmuster die Zentrum-Peripherie-Achse gesehen. Im Gegensatz zur vorherigen Konzentration sind die sozialen Gruppen darin nicht mehr nur durch ihre Wohnformen, sondern auch durch große physische Distanzen voneinander getrennt – Haushalte mit mittleren und höheren Einkommen wohnen in zentralen Lagen, wo sie von der guten Infrastruktur profitieren. Haushalte mit niedrigeren Einkommen wohnen dagegen in der infrastrukturell stark benachteiligten und sich auf den Zugang zu Arbeit, Einkommen und Grundversorgung nachteilig auswirkenden Peripherie.43 Seit den 1980er Jahren zeichnet sich laut Caldeira eine neue, dritte Form der Segregation ab, die darin besteht, dass zwar die physischen Distanzen zwischen den unterschiedlichen sozialen Gruppen abnehmen, gleichzeitig aber die Trennungsmerkmale in Form von Mauern, Sicherheitsanlagen u.a. immer präsenter werden. Dadurch würden Begegnungen oder gar Interaktionen zwischen den verschiedenen Gruppen verhindert (Caldeira 2003).44 Der Auflösung der Zentrum-Peripherie-Achse wirken gleichwohl auch politisch-regulative Prozesse entgegen, die eine ‚Revitalisierung‘ der zentralen Gegenden bewirken sollen.45 Ebenso finden immer wieder verstärkt Räu43 Die Zentrum-Peripherie-Struktur ist allerdings auch von grundlegenden Veränderungen des Zentrums selbst geprägt. Zwar leben Wohlhabende konzentriert in zentralen Lagen der Stadt, aber nicht im historischen Zentrum selbst. Während sich also neue residentielle und dienstleistungsorientierte Zentralitäten der Wohlhabenden in einer ‚erweiterten Zentrumsregion‘ herausbilden, wird das historische Zentrum selbst zu einem Ort, der von Arbeit, Handel und Wohnen der Armen geprägt ist. 44 Teresa Pires do Rio Caldeira zeichnet ein umfassendes Bild der Exklusionsprozesse, vor allem im Hinblick auf die sich abschottenden hohen Einkommensschichten (in Brasilien wird das Phänomen der exklusiven Wohnanlagen, die rund um die Uhr bewacht werden und für die Bewohner_innen teilweise vom Friseur bis zum Supermarkt alles bereithalten, als ‚Verbunkerung‘ (bunquerização) bezeichnet). Als Gründe für die wachsende soziale Ungleichheit (die sich unter anderem in dem steigenden Ginikoeffizienten ausdrückt – von 1981 knapp 52 % stieg er bis 1991 auf knapp 59 %) nennt sie beispielsweise den wirtschaftlichen Abschwung, die Deindustrialisierung und die Ausweitung des dritten Sektors. Obwohl sich die (infrastrukturellen) Verhältnisse in der Peripherie bessern würden, verarmten die Arbeiter_innen dort weiter (Caldeira 2003:255). 45 Bis Januar 2013 war das für São Paulo wohl prestigeträchtigste Projekt in dieser Hinsicht das ‚Nova Luz‘, welches eine grundlegende Erneuerung der zentralen Ge-

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mungen besetzter Immobilien im Zentrum statt. Es ist also insgesamt zwar eine graduelle Abkehr vom Zentrum-Peripherie-Modell zu erkennen, gleichwohl muss es noch als prinzipiell gültig betrachtet werden (vgl. auch Rolnik & Frúgoli Jr. 2001:56). Mit diesen Veränderungen sind gleichermaßen Prozesse der Homogenisierung und der Heterogenisierung städtischer Räume verbunden, wodurch ein diskontinuierlicher städtischer Raum entsteht (vgl. Marques & Bitar 2002). So etwa in der Zona Leste (Ostregion), wo sich innerhalb der traditionell stark von Arbeiter_innen geprägten Viertel kleine, neue Teilgebiete höherer Einkommen gebildet haben, wie in Mooca, Tatuapé oder der Vila Formosa – zum einen durch den Aufstieg dort wohnender Haushalte, aber auch durch den Zuzug neuer Haushalte (ebd.:128–129). Zum anderen würden diese Entwicklungen aber auch ermöglicht durch die Aktivitäten des Immobilienmarktes im Rahmen kleinerer Projekte als Ergebnis langsamer Aufstiegs- und Aufwertungsprozesse (ebd.). Gleichzeitig finden sich immer mehr enklavenartige Siedlungen der Reichen v.a. in der Westregion von São Paulo und der RMSP. Und schließlich entstehen in den Zwischenräumen Favelas, welche die Gebiete besezten, die vom Markt nicht in Wert gesetzt werden aufgrund von Lage oder Beschaffenheit (ebd.:130). Auch wenn diese Darstellung sich in ein Modell konzentrischer Kreise46 einfügen ließe, so produzierten die Favelas in den Zwischenräumen doch einen heterogenen, diskontinuierlichen Raum, wie die beiden Autoren betonen. Andernorts werden diese neuen Formen der Spaltungen und Trennungen interpretiert als Infragestellung das öffentlichen Lebens und der Idee einer einheitlichen Stadt (Frúgoli Jr. 2006:39). Hieran zeigt sich, dass ‚Fragmentierung‘ als Auflösung eines ‚Ganzen‘ begriffen wird: Die Stadtforscher_innen konzipieren eine klare, wenn auch ungleiche Struktur des städtischen Raumes als ‚Ganzes‘, während die gestreute Ungleichheit im städtischen Raum wenig Einheit zu suggerieren scheint. Aber wirken sich die Aufteilungen des städtischen Raumes und die Unterbrechungen der physischen Mobilität innerhalb des Stadtraumes auch tatsächlich im Sinne gend um den Hauptbahnhof (Estação Luz) São Paulos vorsah. Damit gingen massive Konflikte um Vertreibungen und eine ‚Säuberungspolitik‘ eines Gebietes, das als ‚Crackland‘ (cracolândia) bezeichnet wird, einher. 46 Die Stadtplanerin Suzana Pasternak unterteilt São Paulo in fünf konzentrischen Ringe: dem zentralen Ring, dem inneren Ring, dem intermediären Ring, dem externen und dem peripheren Ring und folgt damit dem sozialökologischen Verständnis von Stadt der Chicago School (Pasternak Taschner & Bógus 2004). Zwar lassen sich tatsächlich homogene Tendenzen für diese Ringe nachweisen, Marques und Bitar plädieren allerdings für eine kleinräumigere Perspektive.

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einer sozialen Segmentierung aus? Diese These wird etwa von dem spanischen Geographen Carles Carreras i Verdaguer vertreten, der neben den klassischen, sozioökonomischen Segregationsmechanismen den Einfluss der europäischen und asiatischen Migration vom Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts dafür verantwortlich macht. Aus seiner Sicht manifestiert sich städtische Zugehörigkeit im Alltagsleben auf der Ebene der Viertel, wodurch es eine Vielzahl an Zugehörigkeiten gebe, jede mit „ihrem Viertel“ und „ihrer Stadt“ (Carreras i Verdaguer 2004:312–313).47 Das sind keine neuen Einsichten, aber gerade für die in São Paulo sehr prägende italienische und japanische Einwanderung gilt etwa, dass die spezifischen lokalen Kontexte immer weniger ausschließlich für die jeweilige soziale Gruppe von Bedeutung sind.48 Wenn es heute migrantische lokale Kontexte gibt, die unvernetzte und exkludierte ‚Welten‘ darstellen, so sind das zum einen die neueren bolivianischen Einwanderer_innen, insbesondere im Gebiet östlich des Zentrums, wo sich die Textilindustrie befindet (Brás und angrenzende Gebiete). Zum anderen ist es weiterhin die (heute südliche, zuvor 47 Die Irritation angesichts voneinander getrennter und sozial wie funktional differenzierter Bereiche ist weder spezifisch noch neu: Die klassische, aber positiv bewertete These der Stadtsoziologie sozialökologischer Prägung, lautet ja, dass es zur Herausbildung von in sich homogenen „natural areas“ (Park) bzw. eines „Mosaiks sozialer Welten“ (Wirth) kommt. Wirth ergänzt in Durkheimscher Manier, dass dies die Möglichkeit eines anomischen Zustands in sich birgt (vgl. Fischer 1972). „Komplexe und widersprüchliche Fragmentierungen“ (Carreras i Verdaguer 2004: 313), bei denen sich soziale und administrative Grenzziehungen überlagern und dadurch in immer anderen Bezügen zueinander stehen, mögen nicht den Kern eines anomischen Zustands treffen, dennoch ist die Frage des Zusammenhalts angesichts unabhängiger TeilWirklichkeiten immer wieder aufgeworfen worden. So auch bei Sennett, der im New York der 1980er Jahre fragt, wie das großstädtische Leben eine die Selbsterfahrung bereichernde Fremderfahrung sein kann. Das ist auch der normative Hintergrund vor dem er ‚Stadterfahrung‘ diskutiert, die dann negativ bewertet wird, wenn die Unterschiede nicht mehr miteinander in Austausch treten, sondern sich mit Nichtbeachtung strafen Sennett 1991:168. 48 So ist beispielsweise das alte italienische Viertel Bixiga im Zentrum São Paulos zu einem sehr charakteristischen Viertel für die Stadt ganz allgemein geworden, das zwar weiterhin eine italienisch geprägte Infrastruktur aufweist (insbesondere mit den traditionellen Restaurants und Bars), aber im Laufe des 20. Jahrhunderts sich zum Künstler- und Bohême-Viertel entwickelte. Oder das – ebenfalls im Zentrum gelegene – japanische Viertel Liberdade, das zwar bis heute noch stark japanisch geprägt ist, dessen sonntäglicher Markt aber ein beliebter Treffpunkt (vorrangig der gebildeten Mittelschicht) ist und das auch eine der touristischen Attraktionen São Paulos darstellt.

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östliche) Peripherie, in der insbesondere die große Gruppe der Binnenmigrant_innen aus dem brasilianischen Nordosten eine prägende Rolle spielt. Im Grunde besteht die ‚Fragmentierung‘ für den Geographen Carreras i Verdaguer gerade in der Parallelität und im Ineinandergreifen von drei Prozessen (ebd.:311–313): • Physisch-territoriale Aufspaltungen (diese macht er insbesondere an Flussläu-

fen und Verkehrswegen fest, womit auch die Bedeutung von räumlicher Mobilität für die Frage der physisch-territorialen Aufspaltungen deutlich wird, vgl. auch Barcellos 2004); • Sozial-lokale Homogenisierungen (im Sinne der Herausbildung von Nachbarschaften und lokalen Kontexten, die auf sozialer Homogenität beruhen und sich in ‚Räume der Reichen‘ – gesicherte Wohnhäuser und Gated Communities – und ‚Räume der Armen‘ – den ‚cortiços‘49 im Zentrum, den Favelas und Sozialbauten in der Peripherie – unterteilen lassen); • Funktionale Spezialisierung (unterteilt in Entscheidungszentren, industrielle Gebiete, Dienstleistungs- und Freizeiteinrichtungen). Für Carreras i Verdaguer hängt die so identifizierte ‚Fragmentierung‘ mit dem rapiden Wachstum zwischen 1950 und 1980 zusammen. Dabei sei es zu einer „scheinbar unorganisierten Überlagerung der Fragmente gekommen, oder vielmehr: zu einer Ordnung die nicht aufscheint“ (Carreras i Verdaguer 2004:311, Übers. JH). Fragmentierung wird damit zum Ausdruck einer Stadtentwicklung, die weniger mit der Auflösung eines (geordneten) ‚Ganzen‘ zu tun hat, denn mit der fehlenden Herstellung eines solchen. Dem Verständnis von Fragmentierung als Aufspaltung lassen sich dagegen die Autor_innen Rolnik und Frúgoli Jr. zuordnen. Räumliche Veränderungen werden mit den identifizierten ökonomischen Veränderungen in Verbindung gebracht: Auf der einen Seite löse sich der alte ‚Riss‘ zwischen der industriellen Stadt im Norden, Westen, Osten und Südosten und der reichen Stadt im Südwesten auf, da alte industrielle Bereiche umgenutzt würden für Wohnen, Handel und Freizeit. Auf der anderen Seite produzierten die Großinvestitionen im Dienstleistungsbereich (Einkaufszentren, ‚Hypermärkte‘ u.a.), einen sozial zerteilten städtischen Raum, in dem sich Enklaven ausbildeten, was negative Auswirkungen 49 Cortiços sind im klassischen Sinne Slums – degradierte Wohnblocks im Stadtzentrum, in denen unter hygienisch äußerst prekären, sozial deklassierten sowie persönlich häufig unsicheren Bedingungen auf engstem Raum Familien unterster Einkommen leben, die aber auf die häufig überteuerten Unterkünfte angewiesen sind, da sie die Nähe zu ihren Arbeitsplätzen ermöglichen.

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auf die traditionellen Einkaufs- und Servicezentren habe (Rolnik & Frúgoli Jr. 2001:48–49). Den Grund dafür sehen sie in den „widersprüchlichen Effekte[n] der neuen Ökonomie“ (ebd.). Sie ist also der Auslöser für eine ‚Fragmentierung‘, die gleichermaßen als Aufhebung der alten Spaltung der Stadt und als Separierung neuer Konsum-, Dienstleistungs- und Wohnorte wirkt. Sozioökonomisch bleibt die Spaltung, räumlich verändert sich ihr materieller Niederschlag, was die räumlichen Distanzverhältnisse sozialer Ungleichheiten verändert. Interessant daran ist, dass die von der industriellen Produktion gezogene Grenze als zwar spaltend erscheint, gleichzeitig aber zumindest einen kohärent strukturierten städtischen Raum beschreibt. Der Blick auf die alte, industrielle Grenzziehung ist also einer, der diese Grenzziehung zwar als Spaltung auffasst, dennoch kommt der Grenze darin auch immer schon eine verbindende Funktion zu. Sie gleicht fast einem Bindemittel zwischen den ansonsten so ungleichen Welten der Reichen und der Armen. Den neuen Grenzziehungen hingegen wird eine rein isolierende Funktion zugeordnet, indem sie Inseln des Reichtums produzieren, welche zwar untereinander in Verbindung stehen, aber nicht mit den direkt angrenzenden Räumen der Armen.50 Beide Fragmentierungsverständnisse beschränken sich auf nur einen Aspekt des Prozesses, liefern aber hinsichtlich der Gleichzeitigkeit und Überlagerung einer Vielzahl an Unterteilungen wichtige Einsichten in die aktuellen strukturellen Veränderungen in São Paulo. Die Tatsache, dass sich die Einteilung in konzentrische Ringe nicht mehr aufrecht erhalten lässt, scheint den Gedanken der Auflösungsprozesse zu unterstützen: Einzelne, von bestimmten sozialen, physisch-materiellen oder funktionalen Merkmalen geprägte Teile der Stadt lassen sich nicht in ein klares räumliches Muster einfügen, sondern folgen einer komplexen Vielfalt an Lokalisierungsstrategien. Dadurch ergibt sich eine städtische Struktur, die weniger ein ‚Mosaik unterschiedlicher Welten‘ im Sinne kleiner, sich abwechselnder Cluster darstellt, sondern vielmehr ein komplexes System miteinander verwobener und doch getrennter Spektren. 50 Dieses Verständnis von Fragmentierung als insuläre Grenzziehungen ist m.E. problematisch. Wenn ich auch die Beschreibung der Effekte der Neustrukturierung des städtischen Raumes als weniger (großflächig) kontinuierlich teile, so äußert sich Fragmentierung, wie sie hier verstanden wird, in sowohl trennenden als auch verbindenden Momenten. Die Verbindungen mögen genauso instrumentell und machtbestimmt sein wie im Spaltungsmodell, aber ihre alltägliche Herstellung bestimmt die räumliche Struktur der Stadt genauso. Hier zeigt sich auch, wie eng der Fragmentierungsbegriff mit dem der Grenzziehung zusammenhängt. Auch Grenzziehung ist nicht einseitig als Ausschluss, sondern als Ein- und Ausschluss produzierende Praktik zu verstehen, wobei die Grenze sowohl Verbindendes als auch Trennendes zum Ausdruck bringt.

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Den Begriff des Spektrums wähle ich hier, um zweierlei zu verdeutlichen: Zum einen handelt es sich dabei nicht um gänzlich homogene Bereiche, sondern um Bandbreiten von sich in gewissen Merkmalen ähnelnden sozialen Gruppen und den von ihnen produzierten Räumen. Zum anderen handelt es sich nicht um einzelne, konkrete Lokalisierungen, sondern aufgespannte Räume, die eine Vielzahl an Verortungen und Formen der Verbindung und Vernetzung beinhalten. Dabei kommt es zu Überlappungen, die Orte produzieren, welche nicht spezifischen Gruppen zuzuordnen sind und in sich verschiedene Spektren bzw. ein Spektrum an Praktiken und Akteuren beinhalten. Was ist damit gemeint? An São Paulo lässt sich zeigen, dass das, was als ‚Fragmentierung‘ beschrieben wird, funktionale und soziale Spektren produziert, die getrennt-verbundene Alltagswelten beschreiben. Funktionale Spektren sind sozial differenziert: Von speziell für bestimmte sozioökonomische Gruppen vorgesehenen Shopping Malls und Freizeiteinrichtungen, bis hin zu der Vielzahl unterschiedlicher Zentren, die sich in ihrem Angebot an bestimmte Gruppen richten.51 Soziale Spektren nehmen je nach Lokalisierung in der Stadt sehr unterschiedliche Ausdrucksformen an: In der Innenstadt leben die Armen unter extrem prekären Bedingungen (Obdachlosigkeit, cortiços), in der Peripherie ist ihre Wohnsituation größtenteils durch die Favelas beschrieben.52 Die jeweiligen Wohnsituationen bringen auch je eigene Probleme für den Alltag mit sich – Prekarität durch Überbelegung, durch Unsicherheit, Gewalt und Kriminalität, durch hohe Distanzen, schwierige Zugänglichkeit und eingeschränkte Mobilität sowie durch den eingeschränkten Zugang zu sozialen Diensten und Infrastrukturen. Mittlere Einkommensgruppen finden sich innerstädtisch sowohl in großen Mietshäusern (meist mit Pförtner und zumindest minimalen Sicherheitsbarrieren) als auch in alten Beständen von Einfamilienhäusern. Diese Bestände nehmen allerdings immer stärker ab aufgrund der voranschreitenden Inwertsetzung zentrumsnaher Lagen und der damit verbundenen Vertikalisierung, wie etwa im nordwestlich des Zentrums gelegenen Bezirk Lapa. Randstädtische Siedlungen der unteren Mittellagen können aber auch sog. loteamentos clandestinos sein, die zwar feste Bauten und Eigenheime darstellen, aber häufig auf illegale Verkäufe

51 Entsprechend der sozialen Gruppen, von denen sie aufgesucht werden, variiert auch die Art und Weise, wie sie an Verkehrsinfrastrukturen angebunden sind. So gibt es Einkaufszentren, die fast ausschließlich privatmotorisiert erreicht werden können, genauso aber auch solche, die besonders gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht werden können. 52 Diese Aufteilung gilt so nicht für Rio, wo sich Favelas innerstädtisch wie randstädtisch finden.

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und Parzellierungen in der Phase extremen und unkontrollierten Wachstums zurückgehen.53 Die Wohlhabenden wohnen in innerstädtischen Lagen fast ausschließlich in abgesicherten und luxuriösen, zum Teil mit Schwimmbad, Fitnesseinrichtungen und anderen Versorgungsleistungen des alltäglichen Bedarfs ausgestatteten Hochhäusern. Je weiter randstädtisch die Immobilienprojekte liegen, desto häufiger trifft man Großprojekte an, zum Teil in Verbindung mit integrierten Einkaufszentren, und in den peripheren Lagen auch horizontale Gated Communities. Diese Darstellung würde ausreichen, um für eine kleinräumig organisierte, soziale Segmentierung zu argumentieren. Aber die sicht- und spürbare soziale und funktionale Separierung in São Paulo wird konterkariert durch die Verbindungen, die zwischen den Teilen bestehen. Denn die unteren Einkommensgruppen leben in unmittelbarer Nähe zu den Wohlhabenden, denen sie vielfältige Dienstleistungen erbringen. Die physisch-räumliche Restrukturierung äußert sich in einer kleinräumigen, sozial-lokalen Homogenisierung und sozial-funktionalen Spezialisierung. Dadurch werden in São Paulo höchst ungleiche Spektren produziert, die auf sozial und funktional spezialisierten Orten basieren, welche räumlich extrem diskontinuierlich sind. Diese räumliche Diskontinuität verleitet zu der Annahme, dass es sich lediglich um Aufspaltungsprozesse handele. Verbindungen werden aber insbesondere entlang alltäglicher ökonomischer Tätigkeiten hergestellt, welche in der Auseinandersetzung mit der Zentrenstruktur noch zu berücksichtigen sein wird. Insgesamt stellt die heutige residentielle und funktionale Segregation ein verändertes Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen den sozialen Lagen und ihren Alltagspraktiken dar, das sozial extrem ungleiche und räumliche diskontinuierliche Spektren produziert. b) Rio de Janeiro Segregation ist in Rio de Janeiro ein historisch hoch relevantes Thema und wurde bereits als eigenes Modell, als „modelo carioca54 de segregação“ (Ribeiro 2002:87) bezeichnet. Zwei Aspekte sind hierfür zentral: (i) die Bedeutung der innerstädtischen Regionen und (ii) das Verhältnis von physischer Nähe und sozialer Distanz. 53 Von lotes = port. Parzellen – daher der Begriff der loteamentos: Horizontale Siedlungsflächen, die auf kleinen und kleinsten Parzellen beruhen. Wenn irreguläre Parzellierung, dann als ‚loteamentos clandestinos‘ bezeichnet. Diese Praxis der Siedlungsentwicklung hatte in den Jahren der Bevölkerungsexplosion in den Städten dazu geführt, dass ein großer Teil in den meist peripheren Siedlungen zwar Immobilieneigentum hatte, aber keinen gültigen Titel für den Grund besaß. 54 Übersetzung: ‚aus Rio de Janeiro (Stadt) stammend‘.

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(i) Die brasilianische Stadtforschung bekräftigt die besondere Bedeutung der einzelnen Regionen innerhalb der Stadt (insbesondere Norden, Süden und subúrbios55), indem sie diese als Repräsentanten für je spezifische Werte und Lebensformen beschreibt.56 Die Referenz zu einer der Regionen gehe damit über rein räumlich-örtliche Verweise hinaus: „Rio de Janeiro Stadt weist eine markante ideologische Teilung des Raumes auf. Die Nordzone, die Südzone und die Außenbezirke sind mehr als einfache geographische Referenzen, sie sind Repräsentationskategorien, welche die Menschen entlang von Werten und Lebensweisen unterscheiden, die spezifische Verhaltensformen definieren, und sich

,

in spezifischen Formen städtischer Segregation niederschlagen.“ (Gabriel Sant Anna 2000:149, unter Verweis auf Ribeiro 1998:116, Übers. JH)

Die Dreiteilung der innerstädtischen Regionen kann als historisch bezeichnet werden. Schon in den 1930er Jahren wird Rio de Janeiro als in dieser Form ‚stratifiziert‘ beschrieben (Abreu 1988:94). Kennzeichnend dafür sind der reiche Süden, die mittleren Einkommen nördlich des Zentrums sowie im ‚alten‘ Süden (Copacabana) und schließlich die armen Außenbezirke (subúrbios). Grundsätzlich, so der Sozialwissenschaftler Ribeiro, sei die sozial-räumliche Struktur der RMRJ dementsprechend auch recht klassisch (Ribeiro 2002:81): In der Kernstadt Rio und den darin befindlichen Küstengebieten befinden sich die höheren Sozialsegmente sowie eine Konzentration von Infrastrukturen und städtischen Leistungen – zusätzlich zum kulturellen Wert, der diesen Gegenden beigemessen wird (ebd.). Diese klare Aufteilung hat sich aber im Laufe des 19. Jahrhunderts zusehends verändert und so brechen heute zwei Faktoren dieses klassische Bild: Die Präsenz von mittleren Einkommensgruppen in den peripheren Gebieten sowie die Favelas in Gebieten der oberen Einkommenssegmente (ebd.). Darin zeigt sich eine Vorwegnahme der Veränderungen, die heute in allen größeren brasilianischen Städten zu erkennen sind. (ii) Als historischem Prinzip liegt der territorialen Organisation der Stadt – charakterisiert über die vor allem in der Südregion typische sozial-räumliche 55 Außenbezirke; der Begriff wird in Rio de Janeiro äquivalent zum Begriff der Peripherie in São Paulo verwendet. 56 Die besondere Bedeutung lokaler Identität wird für die Stadt Rio de Janeiro hervorgehoben, auch im Verhältnis zur umgebenden Metropolregion, insofern als es keine Vorstellung einer gemeinsamen regionalen Identität, Kohäsion und „territorialen Solidarität“ gebe (Davidovich 2001:69). Insgesamt ist die regionale (demographische, ökonomische) Konzentration auf die zentrale Stadt ist in der RMRJ deutlich ausgeprägter als in der RMSP (Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística 2008).

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Topographie mit den abwechselnden Hügeln (morros) der Favelas und den an den Buchten (und Stränden) gelegenen Reichenvierteln – eine hohe soziale Distanz bei gleichzeitig großer geographischer Nähe zugrunde, deren Ausdruck die Nähe von Favelas und Reichenviertel sei (ebd.:87). Die Anthropologin Mariana Cavalcanti geht in ihrer Interpretation dieses so grundlegenden Verhältnisses soweit, die physische Nähe und soziale Distanz gar als Grundlage des Sozialen in Rio zu bezeichnen (Cavalcanti 2004:67). Diese Interpretation unterstützt auch die Einschätzung des Sozialwissenschaftlers Luiz César de Queiroz Ribeiro, dem zufolge Rios Gesellschaft nur verstanden werden kann, wenn man das Verhältnis zwischen ‚Asphalt‘ (als Signum für die wohlhabende Bevölkerung, welche sich reguläre, infrastrukturell und baulich gut ausgestattete Wohnungen leisten kann) und Morro berücksichtigt. Obwohl die ‚Favela-Frage‘ das vorrangige Thema sei in den Debatten um Probleme sozialer Kohäsion und Risiken der gesellschaftlichen Spaltung, so sei es doch das Modell der Segregation insgesamt, welches „als eine Art Laboratorium der alltäglichen Produktion von Mitgefühl und Sympathie und, in manchen Fällen, der sozialen Solidarität“ gedient habe: „Die sozialen Welten des ‚Asphalts‘ und des ‚Hügels‘ beobachten sich, stellen sich einander gegenüber, aber leben miteinander und sind beide dazu genötigt, den Raum der Stadt und den selben kulturellen Raum untereinander zu teilen.“ (Ribeiro 2002:87, Übersetzung JH) Das lässt sich so deuten, dass die städtische Gesellschaft gleichermaßen gespalten wie verbunden ist, und zwar nicht auf eine rein machtbezogene, sozialstrukturelle Art, sondern vielmehr im Rahmen einer gleichermaßen dissoziativen wie interaktiven Reziprozität, die räumlich und kulturell eingebettet ist. In einer etwas früher datierten Untersuchung zeigt der Autor, dass die Unterschiede zwischen Favela/Morro und Bairro (Viertel) bzw. Asphalt sich nicht durch Berufspositionen, Ausbildungsdifferenzen oder soziodemographische Charakteristika erklären lassen. Es handele sich dabei vielmehr um eine soziale Spaltung, die nicht über den Arbeitsmarkt oder entlang der bekannten Differenzierungs-, Segmentierungs- und Einkommensdiskriminierungsmechanismen produziert würde (Ribeiro 1999:24). Anders gesagt: Die Trennung zwischen den unterschiedlichen Wohnformen hat als Ausdruck der sozialen Spaltung eine hohe symbolische Bedeutung und wird über Bedeutungszuschreibungen reproduziert. Die Favela selbst ist in Rio de Janeiro weder sozial noch ökonomisch ein homogenes Gebilde. In seiner Untersuchung der Rocinha, einer der größten Favelas Südamerikas, zeigt der Stadtforscher Gerônimo Leitão, dass sich die Favela zu einer heterogenen Erscheinung entwickelt hat, insbesondere über die Entstehung eines eigenständigen Immobilienmarktes. Sie ist eben nicht mehr nur

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der prekäre Wohnort von Binnenmigrant_innen, sondern weist eigene städtische Mechanismen der räumlichen Organisation auf mit interner Segregation, einem diversifizierten lokalen Handel, aber auch eigenständigen Gewerbeformen vom Baugewerbe bis hin zu kulturellen und Unterhaltungseinrichtungen (Leitão 2007:136ff). Insgesamt komme es zu einer ‚classemedização‘, einer Durchdringung der Favela von der Mittelschicht, womit eine soziale Heterogenisierung verbunden ist. Das war zum einen bedingt durch den Zuzug einer verarmenden Mittelschicht in den 1990er Jahren, die belastenden Steuerzahlungen (auf Immobilien) zu entfliehen suchte (ebd.:141). Zum anderen zeigt sich darin die verstärkte sozioökonomische Entwicklung innerhalb der Favelas selbst. Leitão zitiert die ehemalige Leiterin des städtischen Amtes für Soziale Dienste, aus deren Sicht Favelas in Rio heute keine Armutsorte mehr sind, sondern Handelsplätze und komfortable Wohnorte und damit ‚informelle‘ Städte innerhalb der ‚formellen‘ Stadt (ebd.:148). Dass eine solche eigenständige Entwicklung möglich wurde, kann auch damit in Verbindung gebracht werden, dass sich die Politik gegenüber den Armensiedlungen im Laufe der letzten Jahrzehnte deutlich verändert hat. In den 1960er und 1970er Jahren resultierte die repressive Haltung gegenüber den Siedlungen in einer Vielzahl von Räumungen und machte die Favela zu einem extrem unsicheren, prekären Lebensort. Heutige Ansätze sind dagegen von Bestrebungen geprägt, diese ‚irregulären‘ bzw. ‚unkontrollierten‘ Orte zu ‚regularisieren‘ bzw. zu kontrollieren. Die Aussicht darauf, dass die ‚informelle‘ Besiedelung eines Gebietes nicht jeden Moment von Seiten des Staates aufgehoben wird, ermöglicht es, langfristige Perspektiven zu entwickeln. Der Wechsel der Politik basiert einerseits darauf, dass man diese Orte als elementaren Bestandteil des städtischen Raumes von Rio akzeptiert hat, was als integrative Politik im Hinblick auf Bürgerrechte interpretiert wird, auch wenn der Bürgerschaftsstatus der betreffenden Bewohner_innen weiterhin prekär bleibt (Cavalcanti 2004:77). Auf der anderen Seite sind damit aber auch neue Repressionen bzw. Kontrollformen verbunden: Aktuellste Entwicklung in dieser Hinsicht ist seit 2008 das Programm der ‚Befriedung‘ mit der Einrichtung von ‚Einheiten der Befriedungspolizei‘ (Unidades de Polícia Pacificadora – UPP). Der Soziologe Luiz Antonio Machado da Silva bezeichnet sie als instrumentelles, ‚konjunkturelles Projekt‘ in Abgrenzung zu einer substantiellen Politik der Inklusion (Silva 2010). In einzelnen Favelas werden unter vorheriger Ankündigung Polizeistützpunkte errichtet, welche die Gebiete der Kontrolle durch die Drogenbanden entziehen sollen. Die Kritik des Soziologen Luiz Antonio Machado da Silva bezieht sich darauf, dass diese ‚Pazifizierung‘ für die Gesamtstadt umgesetzt werden müsste: Zum einen führt die Vertreibung der organisierten Drogenkriminalität aus diesen Gebieten

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lediglich zur Verlagerung des Problems, da die Banden in periphere Gebiete ausweichen, wo Konflikte mit den dort kontrollierenden Milizen57 zu erwarten sind. Zum anderen verstärkt der punktuelle Einsatz der ‚Befriedungspolizei‘ in den innenstädtischen und vor allem in den in der Südregion gelegenen Favelas den gespaltenen Charakter der Stadt. Zum Ausdruck kommt darin auch das Bestreben, die Gebiete der Wohlhabenden und des Tourismus vor der Nähe zur Kriminalität zu sichern, während die Bevölkerung in peripheren Lagen darunter eher leidet denn davor geschützt wird, so Silva. Das Verhältnis zwischen ‚Asphalt‘ und morro hat nicht zuletzt etwas mit Kriminalitätsangst zu tun. Damit hängt auch eine neue Form der Stigmatisierungserfahrung zusammen, denn während sich kollektive Identität in Favelas und in der Peripherie zuvor über die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse und zum ‚einfachen Volk‘ (identidade popular) gebildet habe, erfolge die Identitätsbildung heute unter den Vorzeichen einer ‚Kultur der Angst‘ und einer damit zusammenhängenden, neu abgewerteten sozialen, kulturellen und politischen Bedeutung dieser Orte (Ribeiro 1999:25). Insgesamt kann man wohl von einer schizophrenen Entwicklung sprechen: Auf der einen Seite wird den Favelas als Siedlungsformen mittlerweile der Status als legitimer bzw. zu legalisierender Bestandteil des städtischen Raumes auch von der Politik zugesprochen. Auf der anderen Seite findet eine verstärkte Kriminalisierung statt, die den Ort zum zentralen Bezugspunkt sozialer Kriminalitätsangst und politischer (polizeilicher und militärischer) Kriminalitätsbekämpfung macht. Daneben zeigen sich auch in Rio de Janeiro widersprüchliche Tendenzen, die ein Bild simultaner Homogenisierung und Heterogenisierung zeichnen. Die Entwicklung in den Favelas hin zu selbstorganisierten Vierteln innerhalb der Städte verstärkt einerseits die Trennungen, da sie eben nicht mehr nur Wohnorte darstellen, sondern eigenständige Märkte ausgebildet haben, die eine gewisse ökonomische Autarkie herstellen. Andererseits verringert sich der Trennungscharakter dadurch, dass auch neue (marktmäßige, konsum- und produktionsorientierte) Verbindungen zwischen der ‚formellen‘ und der ‚informellen‘ Stadt entstehen. Mit Blick auf die Gesamtstadt hat die großflächige Segregation des Zentrum-Peripherie-Modells, das nie so ausgeprägt war wie in São Paulo, abgenommen. Gleichzeitig fördern Abschottungstendenzen der Reichengebiete die kleinräumige Segregation, die begleitet ist von einer Akzentuierung der Einkommenskonzentration (vgl. Ribeiro 2002:85). Die Stadtplanerin Luciana Corrêa do Lago macht diese Tendenz vor allem an der Tatsache fest, dass Wohn- und Einkaufsviertel mittlerer Einkommenslagen 57 Private und paramilitärische Organisationen, die vor allem in der Peripherie Rios zu einem großen Sicherheitsproblem für die ansässige Bevölkerung geworden sind.

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in abgeschotteter Form in Gebieten entstehen, die zuvor klassische Arbeiter_innen- und Armenviertel waren (Lago 2007:279). Dadurch würden aber auch neue Formen lokaler Ökonomie geschaffen – insbesondere ‚informelle‘ über die ein- und abgrenzenden Mauern hinweg.58 Die Autorin untersucht diese Tendenzen in Bezug auf die Mobilität der städtischen Armen, die sie von einer ambivalenten Entwicklung geprägt sieht: Der immer stärker formell-marktmäßigen Organisation der Wohnräume unterer Einkommensgruppen steht der Rückbau des formellen Arbeitsmarktes, also eine Reduzierung stabiler Arbeitsverhältnisse (mit der Folge reduzierter Kreditfähigkeit und eingeschränkten Möglichkeiten des Zugangs zu Wohnraum) gegenüber (ebd.:276). Arbeitslosigkeit und damit verbundene größere Immobilität könnten als Verstärkung der ZentrumPeripherie-Dichotomie gesehen werden. Insgesamt bezeichnet die Autorin diese neue Form der Segregation als exkludierende ‚Fragmentierung‘, der gegenüber sie das alte Zentrum-Peripherie-Modell als „ungleich integriert“ (ebd.:278) kennzeichnet. Auch hier kommt also das Verständnis zum Tragen, wonach die ‚alte‘ Segregation ein zwar gespaltenes, aber doch verbundenes Muster darstellt, während die neueren Tendenzen als ausschließlich Trennungen produzierende ‚Fragmentierung‘ gelesen werden (für São Paulo vgl. (Rolnik & Frúgoli Jr. 2001). c) Porto Alegre Anders als die meisten anderen brasilianischen Städte weist Porto Alegre keine extremen Polarisierungstendenzen auf: Die beiden Soziologinnen Rosetta Mammarella und Tanya M. de Barcellos charakterisieren die Agglomeration als fordistische Industriestadt, in der Arbeiter_innen und eine ausgedehnte Mittelschicht dominieren (Mammarella & Barcellos 2005:146). Dabei zeige sich eine klare Trennung zwischen den Gebieten der Arbeiter_innen und denen der hochqualifizierten Berufstätigen, was der Trennung in Handarbeit und intellektuelle Arbeit gleich komme (ebd.). Auffällig ist, dass die oberen Segmente fast ausschließlich in Porto Alegre selbst lokalisiert sind, während sich die klassischen Arbeiterregionen vor allem im Norden der Metropolregion (Novo Hamburgo und São Leopoldo) befinden. Mittlere Beschäftigungs- und Einkommensgruppen hingegen sind stark über den Raum verteilt und heben dadurch diesen Gegensatz (teilweise) auf. 58 Lago führt in ihrer Ausführung darüber, wie diese neue Form der Segregation gekennzeichnet ist, aus, dass diese „Fragmentierung“ exkludierend sei, im Gegensatz zum „ungleich integrierten Zentrum-Peripherie-Muster“ (Lago 2007: 278, Hvh. JH). Diese Einschätzung lässt sich in Einklang bringen mit der Unterscheidung der französischen Soziologin Navez-Bouchanine (s. B.2.3).

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Untersuchungen zur Herausbildung von Gated Communities (condomínios fechados) in Porto Alegre belegen mehrfach, dass die Zunahme dieser Siedlungsformen seit den 1990er Jahren mit einer Konzentration reicher Bevölkerungsteile auf bestimmte Teile der Stadt einhergeht (Mammarella & Barcellos 2008a; Koch 2008).59 Dagegen ist die ausgeprägte Zunahme mittlerer Einkommensgruppen mit einer Ausdehnung derselben auf weite Teile der Stadt verbunden (Mammarella & Barcellos 2008b:15).60 Insgesamt haben wir es also mit einer deutlichen Zunahme der Mittelschicht zu tun, und zwar in einer stadträumlich gestreuten Weise, die eine Heterogenisierung mit sich bringt (auch in Porto Alegre vielfach in den zuvor stark von unteren Einkommensgruppen geprägten peripheren Lagen). Parallel zur Zunahme der horizontalen Gated Communities in südlichen Gebieten (abseits der klassischen, vertikalisierten Elitengebiete nordöstlich des Zentrums) nehmen fast ausschließlich auch ‚irreguläre‘ Siedlungen zu (insgesamt nimmt deren Anteil in der RMPA ab) (Mammarella 59 Innerhalb der RMPA sind diese auf Porto Alegre selbst konzentriert, verteilen sich aber über das Stadtgebiet. Klare Schwerpunkte liegen aber auf dem Kerngebiet nordöstlich des Zentrums sowie in der südlichen Peripherie (im Masterplan von 1999 im Bereich der ‚Gartenstadt‘) (Koch 2008:105). Im Kerngebiet nordöstlich des Zentrums um das Luxus-Einkaufszentrum Porto Alegres herum befinden sich vor allem hochwertige Kondominien und Einfamilienhäuser, wie auch die Eliteschulen Porto Alegres. In diesen Vierteln (Boa Vista, Chácara das Pedras, Três Figueiras, Vila Jardim) zeigt sich im Zeitraum von 1991-2000 eine starke sozioökonomische Homogenisierungstendenz (ebd.). 60 In ihren Untersuchungen zur Entwicklung der Herausbildung von Gated Communities (condomínios fechados) in Porto Alegre weisen die Autorinnen darauf hin, dass sich in der Kernstadt Porto Alegre selbst sowohl der höchste Anteil an ‚irregulären‘ Siedlungen als auch der an privatisierten Wohnsiedlungen der Reichen befindet (Mammarella & Barcellos 2008a:15). Dabei habe der Anteil des oberen Einkommenssegments zwischen 1991 und 2000 leicht abgenommen, während sich die Wohngebiete dieser sozialen Gruppe aber gleichzeitig ausdehnten (Mammarella & Barcellos 2008b:13). Die Gebiete selbst sind geographisch relativ stark konzentriert und sozial sehr homogen – ganz im Gegenteil zu den Wohngebieten der mittleren Segmente, deren Anteil sich in den 1990er Jahren von etwa 13% auf knapp 25% ausgeweitet habe (Mammarella & Barcellos 2008b:15). Das untere Einkommens- und Beschäftigungssegment hat dagegen anteilsmäßig abgenommen (2000 waren es 15,5% der arbeitenden Bevölkerung der RMPA). Dieses Segment zeichnet sich durch eine sehr typische und klare (sozial homogene) Charakterisierung aus, von den Autorinnen als „klassische Kombination [aus] unspezialisierten Dienstleistern, Hausangestellten, Straßenverkäufern und Gelegenheitsarbeitern“ (Mammarella & Barcellos 2008b:22) bezeichnet.

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& Barcellos 2008a:21). Diese Entwicklung verweist darauf, dass der Süden zur dynamischsten Expansionsregion geworden ist und dass mit dieser Transformation, zumindest übergangsweise, eine starke Heterogenisierung der Gebiete einhergeht. Insbesondere die städtebauliche Dimension der Gated Communities wird dabei als ‚Fragmentierung‘ im Sinne einer baulichen Diskontinuität beschrieben (Koch 2008). Diesem Verständnis fügt die Architektin Mirian Regina Koch in ihrer Untersuchung der Gated Communities in Porto Alegre allerdings als mögliche Folgen dieser Bau- und Lebensformen eine ganze Reihe von sozialräumlichen Veränderungen hinzu, die den bewachten Wohnkomplexen in der Literatur zugeschrieben werden: „soziale und räumliche Segregation und Exklusion, die Privatisierung des öffentlichen Raumes, der Verlust öffentlichen Lebens und der Bedeutung des öffentlichen Raumes, die Fragmentierung und Segmentierung des städtischen Gewebes, die Schwächung des Gemeinwesens im Verhältnis zur Privatisierung öffentlicher Dienste, und andere“ (ebd.:100, Übers. JH). Das Autor_innenkollektiv um die Geographin Vanda Ueda kennzeichnet diese Entwicklungen nicht als Segregation, sondern als „Auto-Isolierung“ der oberen Segmente, die – im Rahmen der horizontalen Siedlungen in periphereren Lagen – „neue Verstädterungen“ und „neue Peripherien“ darstellten (Ueda, Coser & Goçalves 2005). Als solche würden sie dem Bedürfnis nach Sicherheit, Mindestqualitätsstandards, Freizeit- und Grünflächen der Zielgruppe gerecht; vorrangiger Selektionsmechanismus sei zwar der Preis, aber auch für Porto Alegre, das gerne als eine der lebenswertesten Städte Brasiliens angeführt wird, führen die Autor_innen Kriminalität und Unsicherheit als maßgebliche Faktoren an. Insgesamt werden die Entwicklungstendenzen in Porto Alegre hin zu einer metropolitanen Dekonzentration und einer sozialen Segmentierung auch als ‚Fragmentierung‘ einer vielfältigen Gesellschaft gelesen (Soares 2006:137ff). Obwohl damit in der Literatur lediglich der Aspekt der Diskontinuität und der (Auf-)Teilung vorrangig deskriptiv festgehalten wird, zeigt sich an der Gesamtveränderung, dass wir es wiederum mit simultanen Homogenisierungs- und Heterogenisierungsprozessen zu tun haben. d) Recife Trotz der sozialstrukturell recht deutlichen Unterschiede zwischen Recife und den drei anderen Städten, lassen sich einige ähnliche Merkmale der räumlichen Organisation erkennen. Insgesamt ist der städtische Raum weitläufig von Armensiedlungen geprägt – das gilt besonders für die äußeren Gebiete. Aber auch in den innenstädtischen Lagen finden sich viele Wohnbereiche der Armen in direkter Nachbarschaft zu wohlhabenden Wohngegenden, was die hohe sozial-

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räumliche Disparität dieser Teile der Stadt begründet. Die Analyse Recifes entlang des konzentrischen Ringmodells ergab dementsprechend, dass der innere Ring extreme soziale Disparitäten aufweist, der intermediäre Ring heterogen zusammengesetzt ist, und der äußere, periphere Ring dagegen extrem homogen arm ist (Araujo 2005:21ff). Die Geographin Lívia Izabel Bezerra de Miranda61 verweist darauf, dass Recife grundsätzlich geprägt ist von einer starken Land- und Machtkonzentration der landwirtschaftlichen Elite. Daraus resultiere die beständigen Reproduktion eines Zusammenlebens zwischen sozialen Gruppen, welches von hoher geographischer Nähe bei sozialer Distanz geprägt ist (Miranda 2004:125).62 Das übergreifende Ergebnis ihrer Analyse der Segregation in Recife ist also eine sozialräumliche Ordnung, welche derjenigen Rios gleicht – bei allen materiellen und topographischen Unterscheidungen. Hier wie dort fällt damit das Augenmerk vor allem auf die innenstädtischen Gebiete, während die homogen armen, peripheren Gebiete dafür nicht berücksichtigt scheinen. 41% der Bevölkerung werden der ‚Volksklasse‘63 (classe popular) zugeordnet, die sowohl im Zentrum als auch in den Gebieten städtischer Expansion sowie in der nicht-ländlichen Peripherie wohnen (ebd.:139). Aber auch mittlere Einkommensgruppen wohnen in peripheren Lagen, genauso wie sich Armensiedlungen in den südlichen Küstengebieten der Wohlhabenden (10% der Beschäftigten) und im nordwestlichen Reichenzentrum befinden (ebd.). Wie in den drei anderen hier betrachteten Städten sind die Reichen stark konzentriert auf wenige Gebiete der Stadt, wohingegen die Zunahme mittlerer Einkommensgruppen eher mit einer Streuung derselben über 61 In ihrer kritischen Reflexion über den Gebrauch des Begriffs der Segregation schließt sich die Autorin der Auseinandersetzung in einer französischen Publikation („La ségrégation dans la ville“, erschienen 1994 bei L’Harmattan, herausgegeben von Jacques Brun und Catherine Rhein) an. Darin wird sowohl aus soziologischer wie auch geographischer Sicht über die Begriffsdehnung reflektiert und daran erinnert, dass der Begriff ursprünglich auf eine aktive Handlung der Segregierung von anderen rekurrierte. Damit sei Segregation als intentionale, machtvolle Praxis der (räumlichen) Diskriminierung zu verstehen (was etwa die Diskussionen um „Auto-Segregation“, also die freiwillige Einhegung innerhalb von Gated Communities, so die Autorin, ad absurdum führe). 62 Daneben prägen die sozial-räumliche Struktur der Stadt der Autorin zufolge eine diversifizierte Ökonomie, in der Handel und Dienstleistungen wiewohl deutlich dominieren und die von hoher ‚Informalität‘ geprägt ist (55% der arbeitenden Bevölkerung werden dem ‚informellen Sektor‘ zugerechnet). Der Industrie kommt eine nur geringe Bedeutung zu, größtes Entwicklungspotential weist der Tourismus auf. 63 S. Fußnote 41.

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das städtische Gebiet einhergeht. Auch in Recife ist also eine Homogenisierungs-Heterogenisierungsdynamik der Siedlungsgebiete im sozial-räumlichen Sinn zu verzeichnen. Zur Heterogenisierung tragen dabei auch die peripheren, bisher ländlichen Gebiete bei: Diese sind immer weniger landwirtschaftlich geprägt, was den Rückgang des Zuckerrohranbaus und die Ausbreitung städtischer Beschäftigungsverhältnisse widerspiegelt (ebd.). Klassische Stadt-LandUnterscheidungen werden Miranda zufolge dadurch immer weniger relevant, wohingegen sich hybride Räume entwickeln, in denen sich städtische und ländliche Produktionsformen überlagern. Damit nehme die Komplexität der städtischen Struktur zu, und die Artikulationen zwischen den einzelnen Bereichen und ihre Abhängigkeiten untereinander werden diversifiziert (ebd.:140). e) Segregationsmuster im Vergleich In der Gegenüberstellung von Rio de Janeiro und São Paulo zeigt sich, dass die beiden Städte ähnliche Veränderungen durchlaufen im Hinblick auf sozialräumliche Strukturen. Auch die damit einhergehenden Phänomene und Effekte scheinen sehr ähnlich zu sein, v.a. die großräumige Heterogenisierung und soziallokale Homogenisierung. Nur die Ausgangslage weicht voneinander ab. In São Paulo wird der Ausgangspunkt für heutige Entwicklungen in einem tendenziell als kohäsiv (Rolnik & Frúgoli Jr. 2001) interpretierten Zentrum-PeripherieModell bzw. einem zumindest für kohärent befundenen Modell konzentrischer Kreise (Pasternak Taschner & Bógus 1999) gesehen. In Rio de Janeiro stellt dagegen das stadt-räumliche Homogenitäts-Heterogenitäts-Verhältnis bereits den Ausgangspunkt dar. Hier werden Auflösungstendenzen sozialer Art hervorgehoben, die vorherige Einheit schien mehr über kollektive Identitäten hergestellt zu sein, die zwar unterschiedlich, aber doch im Austausch miteinander waren. Ganz ähnlich wie in São Paulo finden sich auch in Rio de Janeiro die als ‚anormale Dezentralisierung‘ bezeichneten Heterogenisierungstendenzen in einer zuvor homogen armen Peripherie wieder. Anders als in São Paulo weisen hier aber auch die Veränderungen in den Favelas auf eine soziale Heterogenisierung innerhalb lokaler Kontexte hin. Insofern scheinen die sozial-räumlichen Ambivalenzen in Rio de Janeiro schon historisch und auch angesichts aktueller Veränderungen ausgeprägter zu sein. Insgesamt zeigen sich in Porto Alegre, Recife und Rio de Janeiro klare soziale Homogenisierungsprozesse in den Gebieten des oberen Segments und deren Konzentration in der Kernstadt. Das unterscheidet die drei Städte von São Paulo, das in dieser Hinsicht möglicherweise die Entwicklungsrichtung angibt – zumindest für einen städtischen Raum wie er sich dort charakterisieren lässt: kompakt, dicht und in alle Richtungen expansiv. Die Diversifizierung und die Produktion

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übereinander gelagerter Abhängigkeits- bzw. gegenseitiger Beeinflussungsverhältnisse verschiedener sozialer Gruppen sind relevant für die Frage, ob für die Großstädte ähnliche Fragmentierungsdynamiken identifizierbar sind wie in den sogenannten Megastädten. Die Betonung des Arbeitercharakters unterscheidet Porto Alegre maßgeblich von Recife, dessen Region von Dienstleistungen (inklusive Tourismus) und Handel einerseits und Landwirtschaft andererseits geprägt ist und kaum Industrie aufweist. In Teilen lassen sich hier größere Übereinstimmungen zwischen Porto Alegre und São Paulo finden, auch wenn die Homogenität der Arbeiterviertel insgesamt rückläufig ist und die Forschung betont, dass es vielmehr zu einer Diversifizierung gerade dieser Gebiete kommt. Eine strukturelle Ähnlichkeit weisen die beiden Großstädte Porto Alegre und Recife dennoch in der Entwicklungstendenz der noch ländlichen Gebiete auf: Für Porto Alegre kommen Mammarella und Barcellos auch zu dem Ergebnis, dass in den ländlichen Gebieten unspezialisierte Dienstleistungsbeschäftigungen immer mehr Gewicht gegenüber den landwirtschaftlichen Arbeitsbereichen gewinnen (Mammarella & Barcellos 2008b). Damit ist die für Recife veranschlagte Diversifizierung in dieser Form auch hier gültig. Darin unterscheiden sich die beiden Städte auch tatsächlich strukturell von den beiden ‚Megastädten‘, wo landwirtschaftliche Bereiche eine völlig vernachlässigbare Kategorie darstellen.64 2.2 Zentren und Zentralitäten Städte weisen eine Vielzahl an Zentralitäten auf – selbst wenn von monozentrischen Strukturen die Rede ist, gibt es meist neben dem historisch-gewachsenen Hauptzentrum eine Reihe untergeordneter zentraler Orte. Auf der Ebene der stadt-räumlichen Konfiguration lassen sich drei verschiedene Zentrentypen vorläufig unterscheiden, die aber noch durch die Nutzungen und Bewertungen der Bewohner_innen im Rahmen der alltagspraktischen Herstellung zu ergänzen sein werden: historische Zentren, die neuen Elitezentren sowie Subzentren. Insgesamt haben wir es aktuell mit einer flexiblen, dienstleistungsorientierten ökonomischen und sozialen Restrukturierung von Zentralität zu tun (vgl. Frúgoli Jr. 2006). Diese Zentrenspaltung zeigt sich aber in unterschiedlicher Weise mit

64 Auffällig ist, dass in den internationalen Diskussionen um ‚Megastädte‘ gerade die Bedeutung von ‚urban agriculture‘ und den hybriden Räumen (städtisch-ländlich) eine große Rolle spielen, etwa für Kairo oder Jakarta. Hier gilt diese Feststellung also gerade umgekehrt nicht für die sogenannten Megastädte, sondern für die kleineren Großstädte.

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unterschiedlich stark ausgeprägten Zentralitäten. Gleichzeitig spielen die historischen Zentren weiterhin eine prägende Rolle.65 a) Historische Zentren Historische Zentren sind zumeist funktional und angebotsmäßig, darüber hinaus auch teilweise sozial hochgradig diversifizierte Orte. Schematisch verkürzt ließe sich eine Abfolge der Entwicklung der historischen Zentren in brasilianischen Städten wie folgt darstellen: Im Kontext der Sklavenhaltergesellschaft waren die historischen Zentren noch öffentliche Räume, die von sämtlichen sozialen Gruppen genutzt wurden und in denen es zum Austausch dieser kam (vgl. Rolnik 2003). Mit dem kapitalistisch-industriellen Zentrum-Peripherie-Modell kam es zu einer starken und physisch distanzierten Segregation der sozialen Gruppen. Parallel dazu sind die Eliten auf Orte außerhalb des historischen Zentrums gewandert, was zu einer sozialen Homogenisierung der historischen Zentren führte, die mit Desinvestitionen und Degradierungserscheinungen verbunden war.66 Eine sehr deutliche Erscheinungsform sind die vielen leerstehenden Wohnimmobilien in den Zentren brasilianischer Städte. Seit einigen Jahren zeigen sich auch hier Tendenzen der Re-Kapitalisierung der Zentren, allerdings weniger im Hinblick auf Wohn- denn auf Gewerbenutzung. Historisch betrachtet kommt es in São Paulo Ende des 19. Jahrhunderts zur Spaltung des historischen Zentrums in das traditionelle auf der Ostseite des Anhagabaú und das ‚neue‘ Zentrum auf dessen Westseite (vgl. hierzu Villaça 65 Die Untersuchung der Zentren und Zentralitäten müsste eigentlich um eine Berücksichtigung der Peripherien und Ränder ergänzt werden. Als Peripherie lassen sich Orte definieren, die von sämtlichen Vorzügen des Zentrums bzw. der Zentren weit entfernt sind (vgl. Kowarick 2007). Die Entfernung äußert sich nicht nur als geographische Distanz, sondern auch in der Abwesenheit von Angeboten der Grundversorgung. Grundlegende Veränderungen von ‚Peripheralität‘ deuten sich bereits in der Diskussion der Segregation an: In allen Städten kommt es zu einer physisch-geographischen Annäherung, die ein verändertes Nähe-Distanz-Verhältnis von Zentralität und Peripheralität zur Folge hat. Für die vorliegende Untersuchung wurden mit Segregation und Zentralität die beiden Bezüge ausgewählt, die in besonders akzentuierter Form räumliche Trennungen und Verbindungen zum Ausdruck bringen, weshalb auf eine ergänzende Betrachtung von Peripherien und Rändern hier verzichtet wird. 66 Dem Prinzip nach ähnelt dieser Prozess auch dem, was in europäischen Stadtzentren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts passierte. Ein wesentlicher Unterschied besteht aber darin, dass es dabei nicht zu einer Suburbanisierung der mittleren und oberen Einkommen kam, sondern sich in Zentrumsnähe neue residentielle wie ökonomische Konzentrationen der Wohlhabenderen bildeten.

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2001:263ff; Frúgoli Jr. 2006). Ausschlaggebend für diese Entwicklung waren planerische Eingriffe Anfang des 20. Jahrhunderts angesichts des für zu eng und begrenzt befundenen ehemaligen Stadtkerns sowie ein Ausbau des Straßensystems, das dem Interessen des wachsenden industriellen Bürgertums nach Individualverkehr nachkam (Frúgoli Jr. 2006:53). In den 1960er Jahren schließlich wird die Region um die Avenida Paulista und Rua Augusta zum ‚Neuen Zentrum‘ deklariert, das, anders als das sozial und funktional heterogene historische Zentrum, ein spezialisiertes Zentrum darstellte: die Av. Paulista auf Kinos, Büros und Banken, die Rua Augusta auf Geschäfte des gehobenen spezialisierten Bedarfs (Villaça 2001:265).67 Auch wenn die Zentrenentwicklung São Paulos häufig als Verschiebung bezeichnet wird, so sind die beiden Zentren eher als komplementär und als – vorrangig soziale bzw. sozioökonomische – Zentrenspezialisierung zu verstehen: Die Av. Paulista ist im Großen und Ganzen zum neuen Zentrum der Wohlhabenden geworden, während das historische Zentrum, zumindest was das Konsumangebot betrifft, den Arbeiter_innen und Armen überlassen wurde. Heute lassen sich im historischen Zentrum vor allem Billigwaren und Ramsch erwerben, insbsondere im Einzel- und Großhandel in der Umgebung der zentralen Markthalle.68 Die kaufkräftigen Schichten, und mit ihnen die Investitionen, wanderten ab. Dieser Verlagerung ging mit der starken Binnenmigration der 1950er und 1960er Jahre und dem Zuzug vor allem von Armen aus dem Nordosten des Landes ein Prozess zuvor, der als ‚Popularisierung des Zentrums‘69 (ebd.:59) bezeichnet werden kann. Der Soziologe Heitor Frúgoli Jr. bezeichnet die Überlebensstrategien der vielen Mittellosen und Arbeitssuchenden im Zentrum als Beitrag zu einer Heterogenisierung des Straßenlebens. Dieses Straßenleben war zunehmend geprägt von Straßenhändler_innen, Kräuter-, Los- und Grillfleischverkäufer_innen, von Prostituierten, Predigern und Straßenkünstler_innen u.v.m. 67 Damit, so Villaça weiter, sei der Grundstein gelegt worden für einen völlig neuen „Zentrentyp“, der sich im Laufe der darauf folgenden Jahrzehnte herausbildete (Villaca 2001:265): Das sog. erweiterte Zentrum (Centro Expandido). Der Geograph ordnet damit diesem Zentrumstyp eine große Bedeutung zu, wogegen einzuwenden ist, dass das ‚erweiterte Zentrum‘ fast ausschließlich eine administrative (etwa in Bezug auf die Verkehrsrichtlinien) Einheit ist, aber keinen konkreten Alltagsraum bildet. Stattdessen bestehen weiterhin mehr und weniger (sozial wie funktional) spezialisierte Zentren. 68 Der Mercado Municipal selbst bietet eher Lebensmittel und Feinkost für höhere Einkommen an und ist auch touristisch aufgewertet worden; umgangssprachlich wird er auch Mercadão, ‚großer Markt‘, genannt. 69 Im Brasilianischen popularização von popular, zu dt. ärmlich, einfach, s. Fußnote 41.

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(vgl. Frúgoli Jr. 2006:58f.). Außerdem wird das Zentrum stark in Verbindung gebracht mit sozialen Problemen wie Obdachlosigkeit und Drogenabhängigkeit.70 Aber nicht die ‚Popularisierung‘ ist aber als Grund für die einsetzende Degradierung und Wertminderung des historischen Zentrums zu sehen. Vielmehr ist es der Wegzug der finanzkräftigen Gewerbe und Anwohner_innen, der mit privaten und öffentlichen Desinvestitionen einherging und dadurch diese Entwicklung begünstigte (ebd.). Insgesamt ist das geschäftige Tagtreiben im Zentrum von einer sozialen und funktionalen Heterogenität geprägt, wie man sie sonst an wohl keinem Ort in São Paulo wiederfindet. Dazu gehört auch, dass sich dort weiterhin ein großer Teil kommunaler und bundesstaatlicher Regierungsgebäude71 sowie die Börse befinden. Und schließlich gibt es im Zentrum auch eine Reihe öffentlicher Plätze, die nicht nur Durchgangs-, sondern auch Verweilcharakter haben.72 Damit ist es von einer großen Vielfalt an Nutzungsformen, Funktionen und sozialen Gruppen geprägt. Im Hinblick auf die Alltagsrelevanz für die Bewohner_innen São Paulos kann also kaum von einer Verlagerung des Zentrums gesprochen werden. Es ist ein Ort, der weder seine Bedeutung noch seine komplexe Vielfalt und das alltägliche Nebeneinander von Ungleichem verloren hat (Kowarick 2007).73 Damit ist es auch ein Ort, der für die Dynamik 70 Letzteres gilt vor allem für einen Teil des historischen Zentrums, der diffamierend Cracolândia (‚Crackland‘) genannt wird. 71 In den 1990er Jahren befanden sich noch knapp 80% der Beschäftigungsverhältnisse in der Verwaltung im alten Zentrum, die knapp 27% der Beschäftigungsverhältnisse innerhalb dieses Zentrums ausmachten (Frúgoli Jr. 2006:60). 72 Die Praça da República, wo sich Geschäftsmänner in der Mittagspause von den zum Teil seit Jahrzehnten dort arbeitenden Schuhputzern bedienen lassen; der Praça Antônio Prado an der Börse, wo Börsianer wie öffentliche Angestellte der umliegenden Verwaltungseinrichtungen ihre Mittagspause unter den Bäumen verbringen; der Anhangabaú, mittlerweile ein Grünstreifen, der auch in der Mittagspause zum Verweilen einlädt; oder der Largo São Bento, wo kleine Stände mit Lebensmitteln und Kunsthandwerk ihre Ware anbieten. 73 Der Soziologe Lúcio Kowarick (2007: 173f.) führt im Rahmen einer ethnographischen Studie im historischen Zentrum São Paulos eine ausführliche Beschreibung dessen durch, was sich dort alles konzentriert: Transport/Verkehr, dichte Infrastruktur, ein Großteil der 600.000 Bewohner_innen von sog. Cortiços, ca. 5.000 Obdachlose, tausende von Straßenhändler_innen und Müllsammler_innen, eine Vielzahl an einfachen Hotels und Restaurants, der Großhandel, Kleidungsindustrie mit mehreren Tausend Arbeitsplätzen, verschiedene migrantische Gebiete (bolivianisch, japanisch u.a.), Gebiete mit spezialisiertem Warenangebot (Maschinen- und Werkzeughandel, Elektronikwaren, Stoffwaren, Finanzdienstleister sowie verschiedene vom Straßenhandel ge-

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der Stadt insgesamt steht, der ökonomisch und sozial sowie in Bezug auf das kulturelle Erbe, Erinnerungen und Identitäten eine große Bedeutung für die Stadt und ihre Bewohner_innen hat (ebd.:176). Zugleich ist das historische Zentrum eines der – wenn nicht das – meist umkämpfte Gebiet in der Stadt. Seit Jahrzehnten fordern soziale Bewegungsorganisationen die Einhaltung der von der Verfassung garantierten ‚sozialen Funktion des (Immobilien-)Eigentums‘ ein und wenden sich damit gegen die Immobilienspekulation in zentralen Stadtlagen, um die massive Wohnungsproblematik in der Stadt zu lösen. Anders als in São Paulo ist der alte Stadtkern in Rio de Janeiro noch sichtlich erkennbar. Schon allein durch die bauliche Struktur, die noch vielfach vor dem für São Paulo so charakteristischen modernen Hochhausbau datiert, zeichnen sich die Grenzen des alten Stadtkerns ab. Innerhalb dieses Zentrums befinden sich der alte Regierungssitz sowie eine Vielzahl an Kirchen. Vor allem aber ist das Zentrum ein Ort geschäftigen Treibens und stellt bis heute die bedeutendste Konzentration von Arbeitsplätzen in der Stadt dar (Menegon u.a. 2009:12). Eine bedeutsamer Unterscheidung zwischen dem Zentrum von Rio und Recife einerseits und São Paulo und Porto Alegre andererseits, ist die Tatsache, dass die städtische Elite zu Blütezeiten der Stadt im 19. Jahrhundert nicht im Zentrum wohnte. Zum Teil wohnte sie in nahegelegenen Teilen westlich des Zentrums, zum größeren Teil aber außerhalb der Stadt (Villaça 2001:158). Trotz der agrarischen Grundlage der herrschenden Klasse Rios (und Recifes) innerhalb des Kolonialsystems, pflegte diese aber einen sehr städtischen Lebensstil (ebd.:161).74 Den Grund dafür verortet Villaça in dem Einfluss, den das kulturelle Leben durch die Anwesenheit des Hofes in der Stadt hatte, welcher sich insbesondere durch eine kosmopolitische, stark europäisch geprägte Ausrichtung definierte.75 Eine der grundsätzlichen Veränderungen, welche die brasilianische Forschung darlegt, ist die radikale Veränderung der Städte der patriarchalen Sklavenhaltergesellschaft mit der Entwicklung zur kapitalistischen Gesellschaft (vgl. prägte Straßenzüge). Außerdem der Hauptbahnhof der Stadt (Luz), ca. ein Drittel aller Bibliotheken, Museen, Kinos der Stadt und die Hälfte der Theater; 97.00 Studenten in 29 höheren Ausbildungsstätten sowie 102Tsd Schüler in 177 öffentlichen und privaten Schulen. 74 São Paulo – ebenso wie Porto Alegre – hat sich erst viel später von einer kleinen Ansiedlung zu einer Stadt entwickelt und ist damit weniger stark von den aristokratisch-herrschaftlichen Strukturen der Kolonialzeit geprägt gewesen. 75 Mit der Errichtung des europäischen Königshofes (1808) wurde Rio zum kulturellen Zentrum Brasiliens mit einer Vielzahl an institutionellen Einrichtungen wie Presse, Hochschule, Botanischer Garten, Bibliothek, Theater und Oper (Villaça 2001:159).

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Rolnik 2003; Villaça 2001:160). Die vormals prägende soziale Durchmischung wurde von einer Verlagerung der aristokratischen Wohnviertel an die Küste oder küstennahe Gebiete abgelöst. In Rio de Janeiro und Recife zeigt sich diese Veränderung in besonderem Maße, in Rio bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Dabei verlagerten sich zunächst die aristokratischen Wohnviertel an die Küste bzw. küstennahen Gebiete; auf diesen ersten Schritt folgten später eine Zweiteilung des Zentrums nach Süden hin und der Niedergang der nördlichen Teile des Zentrums: „[N]och zur Jahrhundertwende wies Rio Reichenviertel auf, die außergewöhnlich weit entfernt vom Zentrum waren, was einen offensichtlichen Kontrast zum zentralen Muster darstellt, das sich in São Paulo, Porto Alegre und Salvador im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelte. […] [N]ur die aristokratischen distanzierten Viertel in der Südregion [Zona Sul] blieben weiterhin von Familien mit hohen Einkommen bewohnt. Die der Nordregion [Zona Norte] […] verschwanden bald als Viertel der Familien dieser Schicht.“ (ebd.:170, Übers. JH)

Insgesamt muss Rio in Bezug auf die Degradierungstendenz des historischen Zentrums, wie sie praktisch alle großen, historischen Stadtzentren in Brasilien im Laufe des 20. Jahrhunderts erfahren haben, als Vorreiter gelten (vgl. ebd.:278).76 Dieser Prozess wurde außerdem dadurch verstärkt, dass sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Baden im Meer als neue Gewohnheit durchsetzt. Die hierdurch angeregte Ausdehnung elitärer Wohnbereiche entlang des Küstenstreifens hält bis heute an und bildet die Grundlage für die Herausbildung der ‚neuen Elitezentren‘. Porto Alegre zeichnet sich auf den ersten Blick durch eine sehr starke, auf den historischen Kern hin ausgerichtete Zentralität aus. Herzstück des historischen Zentrums bildet der Mercado Público, die große Markthalle in unmittelbarer Nachbarschaft zum alten Rathaus und einigen weiteren Gebäuden der Stadt sowie zur alten Hafenregion. Dieses Gebiet ist von einer Vielzahl an Einkaufsstraßen geprägt, die zu einem relevanten Teil als Fußgängerzone ausgewiesen sind. Außerdem finden sich rund um den Mercado Público sämtliche Endhaltestellen von Bus- und Bahnlinien, welche das Zentrum mit den übrigen Stadtteilen und der Metropolregion verbinden. Noch bis vor einigen Jahren war die 76 Der Autor betont, dass Wegzug und Desinvestitionen von Seiten der hohen Einkommensgruppen nicht durch Defizite der historischen Zentren ausgelöst wurden (Villaça 2001:297ff). Als Gründe nennt er stattdessen etwa die erhöhte individuelle Motorisierung, oder die Entwicklung touristischer Angebote abseits des Zentrums. Diese hängen sehr stark mit neuen Aktivitäten der Immobilienwirtschaft zusammen.

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Gegend um die Markthalle von einer Vielzahl an Straßenhändler_innen geprägt. Seit 2009 hat die Stadt festgelegt, dass ‚kleine Einzelhändler_innen‘ lediglich im sogenannten Camelôdromo77 verkaufen dürfen: Ein mehrstöckiger, roher Betonbau über einem Busbahnhof, in dem mehrere Hundert Händler_innen in den dichtgedrängten und aneinander gereihten Kleinstabteilen ihre Ware anbieten, von Elektronik über Kleidung bis hin zu Kinderspielzeug. Dieses Gebiet nördlich und östlich der Markthalle hat insgesamt ein niedrigpreisiges Warenangebot, was es zum (traditionellen) Handelszentrum der unteren Einkommenssegmente macht (ebd.:205). Südlich des Mercado Público befand sich einmal das Zentrum der städtischen Oberschicht.78 Auf Uferebene, parallel zum Flussverlauf und auf das Ufer der Guaíba-Bucht zulaufend, wo sich heute eines der wichtigsten öffentlichen Freizeitareale befindet, verläuft die alte Fußgänger- und Einkaufszone. Die Rua dos Andradas ist von repräsentativen Gebäuden gesäumt. Diese Einkaufsstraße im Zentrum Porto Alegres hat sich, wie in Rio die Rua do Ouvidor, lange als „Ort der Elite“ gehalten (ebd.:206). Seit den 1990er Jahren sind verstärkt Anstrengungen unternommen worden – die Einhegung des Straßenhandels war eine davon – die alte ‚Eleganz‘ des Zentrums wiederzugewinnen, etwa über die Einrichtung von Kulturzentren in restaurierten Gebäuden. Gleichzeitig stehen im Zentrum von Porto Alegre weiterhin viele Gebäude leer. Hierauf wird auch sichtbar mit den Hausbesetzungen durch soziale Wohnbewegungen hingewiesen. Nach Süden hin verläuft die Avenida Borges de Medeiros, welche über den Hügelkamm und hinab zur Cidade Baixa führt, dem alten Zentrum der Bohême und heutigen Ausgehviertel Porto Alegres. Auch dieser Teil des Zentrums ist Gegenstand symbolisch-territorialer Auseinandersetzungen, insofern als dort Konflikte zwischen jugendlichen ‚Alternativen‘ aus dem Zentrum und Jugendlichen aus der Peripherie bestehen: „[Die] in der Cidade Baixa, dem aufgeregten Zentrum des Nachtlebens eines großen Teils der Jugendlichen von Porto Alegre, vorgefallenen ‚territorialen‘ Konflikte zwischen Gruppen von Jugendlichen einer alternativen Kultur aus den zentralen Vierteln und den ‚Zugezogenen‘ aus der Peripherie zeigen die Verhandlungsschwierigkeiten zwischen verschiedenen kulturellen Normen und Verhaltensweisen und wie sehr die verkündeten hybriden Kulturen überhaupt erst noch ihre ‚Räume‘ in der Großstadt aushandeln müssen.“ (Soares 2006:140) 77 Von camelô = port. Straßenhändler 78 In Richtung des Hügelkamms, entlang dessen – auf der Rua Duque de Caxias – sich ein Teil der repräsentativen Gebäude befindet, so der Regierungspalast und die Kathedrale.

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Das heißt, dass das Zentrum und die zentralen Regionen weiterhin von unterschiedlichen sozialen Gruppen für sich beansprucht werden – und dass die unterschiedlichen Beanspruchungen miteinander in verschiedener Weise (symbolisch, ökonomisch, politisch), aber immer räumlich konfligieren.79 Das historische Zentrum von Recife schließlich ist in drei Viertel unterteilt (Campos 2002): Das Bairro do Recife, wo sich die Banken, Unternehmenssitze, spezialisierter Handel und gehobene Gastronomie, aber auch der Hafen und eine Großhandelsgegend befinden. Daneben ist das Zentrum auch Sitz einiger öffentlicher Einrichtungen (Stadtverwaltung, Arbeits- und Justizministerium, Bundesstaatliche Polizei). Und schließlich befinden sich viele Bauten, denen historischer Wert zugeschrieben wird, sowie die Altstadt mit ihren Bars und Restaurants. Zum historischen Kern gehören zwei weitere Viertel, das Bairro de Santo Antônio – von der Stadtforscherin Heleniza A. Campos als „Durchgangs- und Expansionsraum des Zentrums“ bezeichnet – und das Bairro de São José, das als Handelszentrum für verschiedene soziale Gruppen fungiert. Das gesamte Gebiet zwischen dem Mercado de São José (eine der ältesten und lange die größte Markthalle Brasiliens) und dem Hafen war immer ein reger Handels- und Geschäftsort, für den sowohl Groß- als auch Einzelhandel eine große Bedeutung spielen. Diese Aussage ist heute zwar immer noch gültig, muss aber eingeschränkt werden. Denn die Altstadt hat ihren Aufenthaltscharakter größtenteils verloren. Stellenweise ist sie stark touristisch umgewandelt worden und trägt ansonsten eher Durchgangscharakter (vgl. Campos 2002). Auch der ‚informelle‘ Handel spielt nach wie vor eine große Rolle und hat insgesamt vor allem in den 1990er Jahren zugenommen, gleichzeitig aber seinen Charakter verändert:80 Während er zuvor von einzelnen Händlerpersönlichkeiten bestimmt war, die ihn ‚personifizierten‘, ist heute ein umfangreicher ‚informeller Markt‘ daraus geworden, der allerdings auch eine große Anziehungskraft auf verschiedene Käufer_innengruppen und damit eine bedeutende Funktion für die Innenstadt hat. Die Entwicklung, welche die Bedeutung des Zentrums als Ort des Handels und Konsums aber am deutlichsten eingeschnitten hat, ist die Errichtung von Einkaufs79 In den letzten Jahren scheint das Zentrum auch als residentielles Ziel wieder attraktiv geworden zu sein für gebildete und junge Akademiker_innen (Quelle: Melo 2011). 80 Campos unterscheidet hierfür zwischen den traditionellen mascates (heute insbesondere alte, arme Händler_innen), den ambulantes, welche Lizenzen für bestimmte Zeiträume und Orte besitzen, den camelôs, die keinerlei Lizenzierung besitzen, sowie den siris, von außerhalb (insbesondere aus dem Sertão, der Trockenregion im Landesinneren) kommende Arbeitslose, welche Kleinsthandel betreiben, und schließlich den Markthändler_innen (Campos 2002).

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zentren. Größere Kaufhäuser sind in der Expansionsrichtung des Zentrums entstanden, entlang der Av. Boa Vista. Dezentralisierende Effekte hatte insbesondere die Errichtung des Shopping Boa Viagem im ‚neuen Elitezentrum‘ im Viertel Boa Viagem, das sich entlang der Küste ausdehnt und heute in starkem Maße das Stadtbild Recifes prägt, sowie des Shopping Tacaruna, das in nördlicher Richtung an der Grenze zwischen Recife und der Nachbarstadt Olinda liegt. Das Zentrum bleibt Handelsort für spezifische Produkte, ist damit allerdings auf diese Funktion reduziert, was sich auch darin äußert, dass das Zentrum nach Ladenschluss als verlassener und gefährlicher Ort gilt. Die Geographinnen Kátia Costa und Silvana Pintaudi interpretieren die Veränderungen im Zentrum Recifes als Teil zweier unterschiedlicher Strategien: Einerseits als Strategie der Rekonstruktion im Sinne einer ‚Vergangenheitssuche‘, wie sie sich im ‚Revitalisierungsprojekt‘ im historischen Stadtkern (Recife Antigo81) zeigt, sowie zweitens zur Schaffung eines ‚Neuen Recife‘ der modernen Konsumräume, repräsentiert durch die großen Shopping Center (Costa & Pintaudi 2004:285). Neben den Einkaufszentren hat auch die Verlagerung des zentralen Busbahnhofs zu einer deutlichen Verringerung der Zentrumsaktivitäten geführt. Seit den 1990er Jahren sind zwar viele ‚Revitalisierungs‘-Projekte umgesetzt worden, die aber nie die gewünschten katalysatorischen Effekte entwickelten. Ihre Wirkung, so die Stadtplanerin Norma Lacerda, ist zumeist auf die einzelnen Straßen, in denen interveniert wurde, beschränkt geblieben. Insgesamt haben die Abwanderungstendenzen von Unternehmen und Dienstleistungen das Zentrum so verändert, dass es sich angesichts der Degradierungserscheinungen und der baulichen Entwertung zur „zentralen Peripherie“ entwickelt habe (Lacerda 2007:624). Insgesamt lassen die Studien zu Recife keinen Zweifel daran, dass sich Bedeutung und Eigenschaften des historischen Zentrums in den letzten Jahren stark verändert haben. Der Interpretationsspielraum ist aber recht breit und reicht von der einfachen Feststellung, dass das Zentrum einen Funktionsverlust erlebt und nicht mehr von oberen Einkommenssegmenten genutzt würde (Costa & Pintaudi 2004) bis hin zur Kritik, dass das Zentrum nur noch in der Erinnerung als ein Ort des gesellschaftlichen Zusammenlebens bestehe (Lacerda 2007). Mit dem mate81 Die Rekonstruktion bzw. Restaurierung des historischen Stadtkerns von Recife mag einerseits als ‚Vergangenheitssuche‘ interpretiert werden, ist aber gleichzeitig eine außenorientierte Suche: Lacerda betont, dass für den Revitalisierungsprozess internationale Referenzen gelten, was sich insbesondere darin äußere, dass das Augenmerk mehr auf der Schaffung von Räumen der Mobilität denn auf der Schaffung oder dem Erhalt von Aufenthalts- und Begegnungsräumen liegt. Zudem zeige sich eine Unterordnung der Bedürfnisse der Bewohner_innen gegenüber den Verwertungsinteressen des Tourismus (Lacerda 2007:632).

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riellen Verlust ist in dieser Perspektive also auch ein kultureller wie sozialer Wertverlust verbunden. Lacerda führt diese Kritik auf eine nur noch konsumorientierten Politik zurück, die sich an den Bedürfnissen der oberen Einkommensgruppen orientiert und private Konsumorte ermöglicht. Die öffentlichen Orte würden dadurch zu Durchgangsorten degradiert, weil die Politik ihre Aufgabe der Inklusion und der Schaffung demokratischer Räume nicht mehr wahrnehme (Lacerda 2007).82 b) ‚Neue Elitezentren‘ Insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es in brasilianischen Großstädten zu Umstrukturierungen hinsichtlich der von den Reichen genutzten Zentren. Sowohl residentiell als auch ökonomisch bildeten sich zwar zentrumsnahe, aber von den historischen Zentren abgegrenzte Orte im Sinne ‚neuer Elitezentren‘. In diesem Zusammenhang ist in der brasilianischen Stadtforschungsliteratur häufig die Rede von ‚neuen Zentren‘ bzw. ‚Zentrumsverlagerung‘. Diese Terminologie wird hier nicht aufgegriffen, da trotz aller Zentralität dieser Orte die historischen Zentren zumindest für einen großen Teil der ärmeren Bevölkerung ihre wesentliche Funktion nicht eingebüßt haben. Gegenüber dem vielfältigen, heterogenen Charakter des historischen Zentrums von São Paulo ist das ‚Elitezentrum‘ um und auf der Avenida Paulista völlig anderer Gestalt. Nicht nur die architektonische und städtebauliche Gestaltung sind gänzlich verschieden. So ist das alte Zentrum ist relativ eng bebaut und von teils gewundenen Straßen geprägt, die die Plätze und zentralen Bauten wie das Theater, die Börse, den historischen Patio do Colégio, die Markthalle etc. miteinander verbinden. Die Bebauung folgt dem Auf und Ab der Topographie zwischen und um die ehemaligen Flusstäler des Anhangabaú und des Tamandu82 Interessant hierfür ist etwa die Darstellung eines Journalisten im Diário de Pernambuco, einer der großen regionalen Zeitungen, für den sich die Frage ‚gehen wir ins Zentrum‘ erübrigt hat, da sie schließlich mehrdeutig geworden sei: Während das historische Zentrum nur noch symbolischen Charakter habe, befinde sich das heute eigentliche Zentrum in der ‚Peripherie‘, nämlich in Form von einzelnen Bereichen der Viertel Casa Forte und Ilha do Leite (westlich/nordwestlich des alten Zentrums) und Boa Viagem (südlich, Küstenstreifen). Rafael Dias interpretiert die Veränderungen wir folgt: Das alte Zentrum sei degradiert und entleert, die alten sekundären Zentren (wie Casa Amarela und Encruzilhada) zurückgestuft und teilweise auch degradiert (auch wenn die Straßeninfrastruktur immer noch auf diese Zentren ausgerichtet ist), und die neuen Zentren infrastrukturell überfordert. Der Autor fasst diese Beobachtungen in der Bewertung zusammen, dass die alten sekundären Zentren ursprünglich überlokale Bedeutung hatten und heute auf den lokalen Markt reduziert worden seien (Dias 2010).

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ateí folgen. Dagegen sind die Av. Paulista und das daran anschließende Reichenviertel Jardim Paulista (Jardim = port. Garten) von einer RasterStraßenführung geprägt. Der schnurgerade Straßenzug ist gesäumt von modernen Hochhäusern, auf der Avenida selbst vorrangig Büros und Hotels, Wohnhochhäuser finden sich vor allem in den angrenzenden Quer- und Parallelstraßen der Jardins, der sog. Gärten83. Nur noch wenige der alten Villen der Kaffeebarone, die einst das Gesicht dieser Allee prägten, sind vorhanden. Funktional ist dieses Zentrum ebenso wie das historische Zentrum von einer gewissen Mischung geprägt; neben der Funktion als dem über Jahre dominanten Finanzzentrum (mit Ausnahme der Börse, die im historischen Zentrum verblieben ist) befinden sich auch hier wichtige kulturelle Einrichtungen84, sowie mehrere Einkaufszentren und diverse gastronomische Angebote. Gerade die Breite des Angebots in den Jardins macht es auch möglich, dass dortige Bewohner_innen für sich beanspruchen, dieses Gebiet kaum zu verlassen. Die Jardins werden außerdem eingerahmt von der Avenida Brigadeiro Faria Lima, wo sich unter anderem das älteste und prestigeträchtigste Einkaufszentrum Brasiliens, das Iguatemi, befindet. Zusammen mit der Avenida Rebouças und dem bekanntesten Park der Stadt, dem Parque Ibirapuera, bilden die Avenida Paulista und die Avenida Brigadeiro Faria Lima ein Viereck, innerhalb dessen sich ein großer Teil der bedeutenden Infrastruktur für die oberen und obersten Einkommenssegmente befindet. Dabei sind beide, das historische Zentrum und die Avenida Paulista öffentliche Räume, die für ihre Nutzer_innen auch Verweilcharakter haben. An beiden Orten finden zentrale kulturelle (etwa in Form des Straßenkarnevals) und politische Aktivitäten (Demonstrationen und Kundgebungen) statt, auch wenn sie sich in ihrem Erscheinungsbild stark unterscheiden. Während im historischen Zent83 Sammelumschreibung für die Viertel Jardim Paulista, Jardim América, Jardim Paulistano und Jardim Europa, deren Grundstückspreise zu den höchsten der Stadt gehören. 84 Allen voran das MASP, das Museum für Moderne Kunst im Vorzeigebau der modernen brasilianischen Architektur. Das Museum war 1968 vom alten Zentrum an die Av. Paulista verlegt worden und gilt damit als Vorreiter der Umzugsbewegung von Unternehmen und Banken aus dem alten Zentrum an die Av. Paulista in den 1970er Jahren (Frúgoli Jr. 2006:120f.). In einer Querstraße befindet sich zusätzlich der Espaço Unibanco resp. Itaú, einen von der brasilianischen Bank in vielen großen Städten betriebene Kultureinrichtung, die das bedeutendste Programmkino beherbergt. Außerdem findet sich auf der Av. Paulista die Buchhandlung Livraria Cultura, eine der wichtigsten brasilianischen Buchhandlungen, die nicht zuletzt auch als Treffpunkt eines belesenen Publikums dient.

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rum engere Straßen und Plätze dominieren, ist die Avenida Paulista zu beiden Seiten von einem breiten Trottoir gesäumt, auf dem sowohl tagsüber als auch nachts geschäftiges Treiben herrscht. Passanten arbeiten in den dort angesiedelten Unternehmens- und Bankzentralen, kaufen in den umliegenden Geschäften ein, welche sich größtenteils in den dortigen Shopping Malls befinden, oder Flanieren abends die breiten Gehwege entlang. Außer am Wochenende, wenn unterhalb des Museums für Moderne Kunst (MASP), einem spektakulären Niemeyer-Bau, und gegenüber Flohmärkte für Antiquitäten und Kunsthandwerk stattfinden, gibt es aber kaum einen öffentlichen Platz, der zum tatsächlich zum Verweilen einlädt. Insofern ist der öffentliche Raum dieses Zentrums mehr ein Durchgangsraum, denn ein Aufenthaltsort. Heute ist die breite Avenida vor allem eines der bekanntesten Wahrzeichen der Stadt, und sie gilt als Aushängeschild einer ‚nationalen Architektur‘ (Frúgoli Jr. 2006:115ff). Wirklichen Durchgangs-Charakter hat im Vergleich dazu das neueste ‚Zentrum‘ in São Paulo, die Avenida Engenheiro Luis Carlos Berrini (kurz: Avenida Berrini). Im Gegensatz zur Avenida Paulista befinden sich dort weniger eigenständige Konsum- und Freizeiteinrichtungen, sondern hauptsächlich Unternehmenssitze und unternehmensbezogene Dienstleistungen (wie z.B. Finanzgewerbe, Unternehmenszentralen sowie Lieferanten, Kuriere, Putzpersonal). Es handelt sich dementsprechend um ein hochspezialisiertes Zentrum, das abgesehen von seiner Bedeutung als Arbeitsort nur wenig Alltagsrelevanz für den Großteil der Bewohner_innen São Paulos hat. Da nicht zuletzt Quadratmeterpreise ausschlaggebend dafür waren, dass es zur Verlagerung der Immobilienaktivität und der Unternehmen von der Paulista auf die Berrini kam, befinden sich auf der Paulista heute eher kleinere Unternehmen. Entlang der Avenida Berrini und der Marginal Pinheiros (die parallel zur Av. Berrini verlaufende Ufermagistrale der Stadt) haben sich die großen, multinationalen Konzerne angesiedelt (Alessandri Carlos 2004:67–68).85 In Rio haben sich die neuen Elitezentren entlang des Küstengebiets in südlicher Richtung ausgedehnt. Während es zunächst die zentrumsnahen Gebiete waren (Glória, Catete, Flamengo), rückten immer weiter südlich gelegene Gebiete (Leme und Copacabana, dann Ipanema und Leblon) in den Fokus hoch85 Für sämtlich zentrale Gebiete São Paulos gilt allerdings, dass sie einen hohen Prozentsatz leerstehender Immobilien (2000:12% im historischen Zentrum, z.T. über 15% in neueren Zentralitäten) aufweisen, wovon ca. 20% residentiell und 80% kommerzielle bzw. Gewerberäume sind (Bomfim 2004:32). Während es möglich ist, die Leerstände in den „neuen“ Gebieten über die noch nicht erfolgte Absorption durch den Markt zu erklären (ebd.), sind die Leerstände im alten Zentrum wohl eher als Effekt von Immobilienspekulation – und von Desinvestitionen seitens der Regierung zu sehen.

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preisigen Elitewohnens mit dazugehörigen Gewerbestrukturen. Diese Verschiebung von Zentralität hat einen zwar nicht grundsätzlich, aber doch in den Effekten teilweise unterschiedlichen Charakter als in São Paulo: Während in São Paulo neue Zentren entstehen, die fast ausschließlich von Bedeutung sind für die oberen Einkommenssegmente, ist dieses Bild für Rio differenzierter zu betrachten. Denn mit der sich nach Süden hin ausbreitenden Zentralität entlang der Küste bildet sich ein Ort heraus, der dem alten Zentrum in seiner sozialen Differenzierung ähnelt: Copacabana. Anders als bei den ‚neuen Elitezentren‘ in São Paulo, kommt es in Copacabana zu einer – lebensstilbezogenen, wohnpolitisch und immobilienwirtschaftlich induzierten, residentiellen und sozioökonomischen – Durchmischung des Viertels. Hohe Bevölkerungszuwächse verzeichnete dieser Teil der Zona Sul insbesondere ab den 1950er Jahren (Copacabana mit 86%, Gávea mit 48%). Anders als in der sich horizontal ausdehnenden Peripherie musste an dem schmalen Küstenstreifen vertikal verdichtet werden (Abreu 1988:126ff).86 Maurício de Almeida Abreu führt in seiner Stadtentwicklungsgeschichte von Rio vier Gründe für diese von ihm als „Demokratisierung“ [sic] bezeichnete Entwicklung Copacabanas an: Das Gesetz gegen Zinswucher und die Regulierung der Anpassung von Raten- und Kreditzahlungen, die Einfrierung der Mieten, die fehlende Regulierung von Flächen und Formen der Wohnungen (ebd.). Damit waren Bedingungen geschaffen, die für Investoren eine ebenso hohe Gewinnerwirtschaftungsspanne erlaubten wie in der Peripherie, wo mit kleinen Parzellen gearbeitet wurde – wenn man nur eine hohe Anzahl kleiner und günstiger Wohnungen verkaufte. So kam es nach Abreu dazu, dass Copacabana zwar zu Beginn von den reichen Cariocas, dann aber sukzessive von mittlerer und unterer Mittelschicht besiedelt wurde (ebd.). Die hohen Einkommensgruppen wichen und weichen immer mehr nach Süden aus, in die etwas weniger gut zugänglichen Gebiete von Leblon und Lagoa, wo die spärliche Infrastruktur individuelle Transportmöglichkeiten nötig machte. Allerdings, so betont Abreu auch, waren zwar Handel und Dienstleistungen für hochpreisigen Konsum in der Zona Sul entstanden, die Arbeitsplätze der Mittelschicht aber verblieben im historischen Zentrum, was Herausforderungen für Verkehr und Transport darstellte. Durch die erhöhte Nachfrage und die Gestalt des städtischen Raumes in der Zona Sul entwickelte sich dort eine besondere Form von Segregation in ‚Streifen‘, die parallel zur Küste verlaufen: Die Oberschicht direkt am Küstenstreifen, Mittel- und untere Mittelschicht entlang der Handels- und Geschäftsstraßen 86 Ab 1946 lässt die Stadt die Bebauung mit bis zu 12 Geschossen zu, womit der Bauboom in Copacabana einsetzt.

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dahinter, sowie etwas weiter zurückgelegen weiteres Mittel- und obere Mittelschichtwohnen (Villaca 2001:178f.). Gleichzeitig zeigt sich in der Zona Sul in besonderer Weise das für Rio so prägende Phänomen, dass die Wohnbereiche der Armen und Reichen in unmittelbarer Nähe zueinander liegen. Die hügelige Topographie und die Tatsache, dass beide Gruppen über ökonomische Beziehungen miteinander verbunden sind und ihre Wanderungen im Stadtraum sich dadurch parallel zueinander vollziehen, hat zu einem sprichwörtlichen Auf und Ab der Wohnstruktur geführt (s. auch Kapitel C.2.2). Und obwohl das historische Zentrum noch eine sehr große Bedeutung spielt, zeigt sich in Rio dieselbe Form der Autarkie des ‚neuen Elitezentrums‘ wie in den ‚Gärten‘ (Jardins) von São Paulo, nämlich, dass Bewohner_innen der Zona Sul keine Notwendigkeit sehen, dieses Gebiet in ihrem Alltag zu verlassen. Die elitären Wohngebiete haben sich allerdings noch weiter nach Süden ausgedehnt. Weitab vom historischen Zentrum hat sich dort parallel zu den residentiellen Entwicklungen eine neue Zentralität herausgebildet, die erst in jüngerer Zeit auch über öffentliche Transportwege angebunden wurde: das Viertel Barra da Tijuca. Der Weg entlang der Küstenstraße führt durch Wald- und Hügelgebiete, die sehr unzugänglich und unbesiedelt sind. Relativ unvermittelt erreicht man dann das Viertel, das auf den ersten Blick wie ein Ferienresort anmutet. Inmitten einer grünen, von Bergen umrandeten Landschaft zwischen dem Strand und einer Lagune befindet sich das hochpreisige, stark vertikalisierte Viertel. Ähnlich wie das Handelszentrum an der Av. Berrini in São Paulo ist dieses Gebiet maßgeblich durch private Investoren entwickelt worden. Bis in die 1970er Jahre war das Gebiet noch sehr dünn und vorrangig ländlich besiedelt, zählte aber bereits im Jahr 2000 knapp 180.000 Einwohner (Silva 2006:168). Die Expansion in Barra da Tijuca geht insbesondere auf die Investitionen in Infrastruktur zurück, wie sie im Plan des Architekten und Planers Lúcio Costa (1969) vorgesehen waren, der damit die Ost-West-Verbindung zwischen dem Zentrum der Stadt, dem Zentrum in Santa Cruz und die Anbindung an das neue Geschäftszentrum in der Barra da Tijuca erreichen wollte (ebd.:166).87 Erst

87 Die rasche Expansion in Barra da Tijuca sieht Gabriela da Costa Silva vor allem darin begründet, dass das Gebiet von der Immobilienwirtschaft massiv als „neue Zona Sul“ beworben wurde sowie in der Tatsache, dass sich der größte Teil des Grundes in den Händen von vier großen Eigentümern befand (Silva 2006:167). Gleichzeitig fanden auch Investitionen von öffentlicher Seite statt, welche die Entwicklung begünstigten: Zum einen investierte die Bundesregierung in den 1970er und 1980er Jahren über die großen Immobilienunternehmen in den Wohnungsbau, zum anderen fand ein rasanter Ausbau der Transportwegeinfrastruktur zwischen 1962 und 1980 statt (ebd.). Prob-

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später, insbesondere seit den 1990er Jahren, hat auch ein verstärktes Wachstum an Favelas stattgefunden. In Rio hat sich also die ursprünglich relativ disperse räumliche Verteilung der städtischen Elite hin zu einer Konzentration der Wohlhabenden in den südlichen Küstengebieten entwickelt. Es ist vor allem die Attraktivität der Küstenlage, welche die Ortswahl der Wohlhabenden heute bedingt: „Alles weist darauf hin, dass die Strände in großem Maße verantwortlich sind für eine spezifische städtische Kultur, für einen unseren maritimen Städten eigenen Lebensstil.“ (Villaça 2001:188) Dabei hat Copacabana zunehmend seinen residentiellen Charakter verloren, nicht zuletzt aufgrund des Tourismus. Nicht nur Hotels, sondern auch Geschäfte, Restaurants, Bars und Kinos sind dadurch vermehrt entstanden. Letztlich ist durch die verschiedenen Tendenzen ein Mix entstanden, den die Oberschicht nicht nur akzeptiert hat, sondern der auch Bestandteil des propagierten liberalen Lebensstils der Bewohner_innen Rios, dem estilo carioca geworden ist. Diese Differenz mag auch im Zusammenhang stehen mit der Rolle, welche dem öffentlichen Raum in den Städten jeweils zugeordnet wird. Nach Villaça spielt der öffentliche Raum in Rio eine viel größere Rolle als in São Paulo – man halte sich mehr außerhalb von zu Hause auf: „Was am meisten Aufmerksamkeit erregt ist nicht so sehr die Mischung der sozialen Klassen – die offensichtlich besteht – sondern die Mischung der städtischen Funktionen und Aktivitäten. Die winzigen und kleinen Apartments treiben ihre Bewohner auf die Straßen und Strände, wo sich eine Sozialität entwickelt, die sich grundsätzlich von der in den Apartmentvierteln in São Paulo und Belo Horizonte herrschenden unterscheidet. Das Klima bevorzugt das Leben an der frischen Luft in einer Weise, dass die Leute den öffentlichen Raum intensiv nutzen und die Sozialität verändern. Die Bierrunde an der Ecke oder ‚vor dem Haus‘ hat sich institutionalisiert. Die Bürgerlichen der Südregion haben angefangen, diesen Typ Viertel zu akzeptieren und sogar die ‚Mischung‘ als einen Vorteil zu betrachten, der sich den ursprünglichen hinzufügt – dem Strand, dem Panoramablick und der angenehmen Brise.“ (ebd.:191, Übers. JH)

Darüber begründet sich im Süden Rios eben jener verallgemeinerter estilo carioca, der von einer sozialen und funktionalen Mischung geprägt ist und von den Medien so stark propagiert wird. Diesem ‚liberalen‘ Lebensstil aus Rio steht der

lematisch daran war aber, dass keine Kanalisation eingerichtet wurde, was zu massiven Verschmutzungen geführt hat.

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estilo careta88, der ‚nüchterne‘ Lebensstil aus São Paulo gegenüber. Beide gelten als Vorbilder und Bezugspunkte für die Lebensweise in anderen Städten: So beziehe man sich in Santos an der Küste des Bundesstaates São Paulo stolz auf den gepflegten carioca-Stil, während man sich in Campinas (im Hinterland von São Paulo) auf den paulistanischen Stil beziehe (ebd.:191). Daran wird auch deutlich, dass die hier angesprochenen Unterschiede städtischer Lebensstile nicht so sehr mit der Größe der Städte zu tun haben, sondern vielmehr mit den sonstigen lokalen Gegebenheiten. Vor allem aber verdeutlicht dies auch, dass sich die lokalen Gegebenheiten und Lebensstile gegenseitig beeinflussen, denn schließlich führt der propagierte Lebensstil eines careta auch zu anderen Bedürfnislagen und etwa einer raumgreifenderen Nachfrage am Immobilienmarkt, die sich von der des carioca unterscheidet. Ähnlich wie in São Paulo, ist in Porto Alegre im Laufe der zweiten Hälfte das residentielle und konsumbezogene Zentrum der Wohlhabenden stärker dem Verlauf der Anhöhen in der Stadt gefolgt und expandierte im Laufe der Jahre nach Ost-Nordost hin. Das ‚neue Elitezentrum‘ dieses Gebietes bildet das Nobeleinkaufszentrum Shopping Iguatemi mit der Avenida Nilo Peçanha, rund herum befinden sich einige der nobelsten Viertel der Stadt (Chácara das Pedras, Três Figueirs, Passo D‘Aréia). Diese Gebiete sind stark vertikalisiert und weisen zwar noch öffentliche Räume aus. So etwa den Parque Germânia, einen umzäunten Park, in dem private Sicherheitsdienste und Kameras für die Ordnung und Sicherheit der Anwohner_innen sorgen, welche den Park primär nutzen. Diese ‚öffentlichen Räume‘ habe also einen exklusiveren Charakter als die zentral gelegenen Ausflugs- und Freizeitgegenden entlang der Guaíba-Bucht oder im Parque da Farroupilha. Die Ausbildung von ‚neuen Elitenzentren‘ in Recife schließlich weist eine Besonderheit auf: Anders als in den restlichen Städten hat sich in Recife nicht ein vorrangiges Zentrum hoher Einkommenssegmente gebildet (ebd.:284). Stattdessen hat sich mit der Verlagerung des Elitezentrums von seinem historischen Gebiet entlang des Flusslaufes des Capibaribe, nordwestlich des traditionellen Hafenzentrums, hin zum Küstenstreifen in Boa Viagem ein zweites Zentrum 88 Careta heißt eigentlich Grimasse oder Fratze – umgangssprachlich wird der Begriff aber verschiedentlich verwenet für ‚Entzug‘, ‚auf dem Trockenen sitzen“, „Zigarette“ oder „antiquiert, aus der Mode“. Häufig wird „careta“ mit vorurteilsbelastet gleichgesetzt, von selbsternannten „Caretas“ selbst als abstinent (Drogen, Alkohol, Zigaretten), weder links noch rechts, in jedem Fall geht damit eine wertkonservative Komponente einher, aber auch „korrekt“ sein, etwa in Bezug auf den Beruf (erfolgsorientierte Komponente), auf Pünktlichkeit, und Regelbewusstsein etc. und damit auch „anders“ für brasilianische Verhältnisse.

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herausgebildet, das bereits in den 1970er und 1980er Jahren als zwar sozioökonomisch homogenes, aber vom Angebot her differenziertes Zentrum galt (Alves 2009:74). Die Einschätzungen dieser Zentrenentwicklungen gehen auseinander, denn wenngleich die Verlagerung zunächst als Zeichen einer allgemeinen Tendenz gelesen werden konnte, so hat sich die Verlagerung nie vollständig durchgesetzt (wie in Rio). Stattdessen ist das ‚alte Elitezentrum‘ weiterhin ein in sämtlichen Bereichen auf die hohen Einkommens- und Bildungsschichten orientiertes Zentrum: Arbeitsplätze (etwa mit einem relativ großen Komplex an (Privat-) Krankenhäusern), Freizeitangebot (Einkaufszentren und Parks) und die Apartmenthäuser der Wohlhabenden finden sich hier und das Gebiet dehnt sich weiterhin (in nordwestlicher Richtung) aus. Diese doppelte Elitezentralität Recifes wurde in früheren Studien mal als Übergangsstadium interpretiert (Villaça 2001:284), mal hat sie keine Berücksichtigung erfahren (Brandão 1983, so zit. in Alves 2009:74). Heute scheinen sich beide Zentralitäten relativ ausgewogen zu entwickeln, nicht zuletzt weil die Immobiliendynamik entlang des Flusslaufes seit den 1980er Jahren angesichts des gesenkten Überflutungsrisikos anzog (ebd.:83). Einer Erhebung aus dem Jahr 1998 zufolge, welche die Präferenzen für die Wohnortwahl abfragte, sind sowohl die zentrumsnäheren (Graças, Aflitos, Espinheiro) als auch die etwas weiter entfernten (Casa Forte, Parnamirim) Viertel dieser Gegend vor allem aufgrund ihrer Wertsteigerung attraktiv (s. ebd.:80).89 c) Subzentren Neben historischen Zentren und den ‚neuen Elitezentren‘ gibt es eine Reihe an Subzentren, die sich in der Regel als traditionelle, dezentrale Handelskonzentrationen entwickelt haben. Heute sind sie zumeist niedrigpreisige Handels- und 89 Welche Bedeutung die Freizeitorientierung für die neuen Zentralitäten entlang des Küstenstreifens hat zeigt sich daran, dass die Nähe zum Strand für viele in diesen Vierteln die Wohnortwahl begründet (zwischen 25 und 36% der Befragten aus diesen Vierteln geben diesen Grund an). Erst nachrangig werden Infrastruktur (zwischen 8 und 25%) und noch nachrangiger die Nähe zum Arbeitsplatz (zwischen 5 und 18%) und die Wertsteigerung (zwischen 8 und 16%) genannt. Überdeutlich wird die Bedeutung der Nähe zum Arbeitsplatz und der Infrastruktur nur in den Zentrumsvierteln (zwischen 55 und 60% der Befragten, was die höchsten Werte insgesamt sind) – aber auch in den einkommensschwächeren Gegenden und den Subzentren spielen diese Faktoren eine große Rolle (zwischen 30 und 40%). Diese beiden Faktoren sind damit insgesamt die am häufigsten genannten, spielen aber eine deutlich untergeordnete Rolle für die Nobelviertel. Kaum Bedeutung hatte in der Befragung 1998 noch die Nähe zu Shopping Centers –diese Werte dürften sich bis heute verändert haben.

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Gewerbezentren, die teilweise auf bestimmte Waren spezialisiert sind, meist aber ein diversifiziertes Angebot aufweisen und als Alternative zum Hauptzentrum für die unteren Einkommenslagen fungieren können. In São Paulo gibt es eine Vielzahl solcher Subzentren, wobei vor allem drei hervortreten, die ein funktional diversifiziertes Angebot aufweisen und sozioökonomisch vor allem auf mittlere und untere Einkommenslagen ausgerichtet sind: Lapa im Westen, Brás im Osten sowie Santo Amaro im Süden. Lapa und Santo Amaro weisen eine starke Zentralität und ein breites Angebot von Lebensmitteln und Gebrauchswaren und stellen wichtige Drehpunkte für Transportverbindungen dar.90 Ein spezialisiertes Subzentrum mit gleichwohl hoher Zentralität stellt das östlich des Zentrums gelegene Brás dar. Die dort ansässige Textilindustrie und der damit verbundene Handel bedingen die Spezialisierung auf Textilien und Billigwaren. Mit dem größten Großhändlermarkt Brasiliens für Billigwaren, der Feira da Madrugada (port. Morgenmarkt) stellt Brás nicht nur innerhalb São Paulos, sondern auch über die Grenzen der Stadt und des Gliedstaates São Paulo hinweg eine Zentralität dar: Für den Wareneinkauf kommen Händler_innen aus allen Teilen Brasiliens in Bussen hierher. Neben diesen klassischen Subzentren ist eine Vielzahl an Einkaufszentren entstanden, die in der Regel sowohl der Geschäftsstruktur als auch der Verkehrsanbindung nach eine soziale bzw. sozioökonomische Spezialisierung aufweisen. Damit gibt es in São Paulo recht viele Bezugspunkte, die mit dem Begriff ‚Zentrum‘ in Verbindung gebracht werden. Weil es nicht mehr eindeutig ist, wovon die Rede ist, wenn man heute in São Paulo beispielsweise sagt ‚ich fahre ins Zentrum‘, gibt es einen eigenen, umgangssprachlichen Begriff für das historische Zentrum: Centrão (port. ‚großes Zentrum‘). Dieses bleibt bis heute das am stärksten diversifizierte Zentrum. Das Finanz- und Kulturzentrum entlang und um die Av. Paulista ist ein zumindest sozial spezialisiertes, aber auch in der Angebotsstruktur eingeschränktes Zentrum. Das Unternehmenszentrum entlang der Av. Berrini schließlich ist hochspezialisiert. Ich widerspreche damit verschiedenen Darstellungen in der Literatur, welche das historische Zentrum, die Av. Paulista und die Av. Berrini gerne als ‚die drei Zentralitäten‘ von São Paulo charakterisieren (so etwa Carreras i Verdaguer 2004). Mindestens so bedeutsam wie die Avenida Berrini sind die drei genannten Subzentren, weshalb eigentlich von den ‚sechs Zentralitäten‘ São Paulos die Rede sein müsste. Außerdem pflichte ich damit Darstellungen bei, welche die Bedeutung des historischen Zentrums hervorkehren (so Villaça 2001 und Kowarick 2006) – es ist immer noch das Zentrum. 90 In Lapa über Bus und Bahn, in Santo Amaro befindet sich einer der größten Busbahnhöfe, der die Schnittstelle zwischen der südlichen Peripherie und der ‚Stadt‘ darstellt.

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Auch Rio weist neben dem Hauptzentrum und den neuen Elitezentren eine Reihe weiterer Zentralitäten auf. Die traditionellen Subzentren mittlerer und unterer Einkommenslagen liegen nördlich des Zentrums in Richtung der Hafenund Industriezone.91 Außerdem finden sich im Nordwesten einzelne Knotenpunkte des Siedlungsstreifens entlang der Zugverbindung bis nach Santa Cruz, allen voran Bangu und Campo Grande. Die innenstädtischen Zentren nördlich des Hauptzentrums wie Brás de Pina sind lebhaft und dicht und weisen eine Dominanz insbesondere von Kleidungsgeschäften auf. Dagegen erweckt das peripher gelegene Subzentrum von Campo Grande den Anschein eines kleinstädtischen Zentrums. Die Breite des Angebots ist bei weitem nicht so groß wie im historischen Zentrum von Rio, aber es ist ein durchaus diversifiziertes, eigenständiges Handelszentrum. Insgesamt ist dort ein Anziehungspunkt für die Bewohner_innen einer weiteren Umgebung entstanden, dessen Bedeutung durchaus über die Stadtgrenzen von Rio hinausgeht. In Porto Alegre sind zwei Subzentren hervorzuheben: Südöstlich des historischen Zentrums befindet sich die Avenida da Azenha. Das Subzentrum besteht aus einer langgezogenen Straße, die von kleinteiliger und niedriggeschossiger Bebauung gesäumt ist und eher kleineres und diversifiziertes Gewerbe beherbergt. Nach Westen hin schließen sich Wohnviertel der mittleren Preislagen an. Nördlich des ‚neuen Elitezentrums‘, in der Umgebung des Einkaufszentrums Iguatemi, liegt mit der Avenida Assis Brasil ein weiteres Subzentrum, wo sich – anders als in der Avenida Azenha – weniger Kleinhandel denn größere Einkaufshäuser für untere Einkommenssegmente befinden. Tatsächlich bezeichnet Flávio Villaça Porto Alegre als die Metropolregion, welche in den 1970er Jahren „das drittgrößte Netz an Subzentren des Landes“ hatte (Villaca 2001:300). In seiner Auflistung von Einrichtungen und Gewerbe in den traditionellen Subzentren Navegantes, Azenha und Floresta in den 1930er Jahren lässt sich tatsächlich eine ziemlich große Angebotsbreite erkennen. Gleichwohl ist die Einschätzung einzuschränken, denn im Kontext der Metropolregion finden sich natürlich starke und eigenständige Zentren der angrenzenden Kommunen (wie in Canoas oder São Leopoldo). Gleichzeitig weist die Stadt Porto Alegre selbst im Vergleich mit São Paulo, Rio de Janeiro und Recife eine sehr starke Zentralität mit Blick auf das historische Zentrum auf. Obwohl Porto Alegre insgesamt einen dispersen Charakter der räumlichen Ausdehnung aufweist (ähnlich wie Rio), sind die Ränder der Stadt doch in starkem Maße vom historischen Zentrum abhängig. So finden sich zwar auch in den peripheren Vierteln Rubem Berta im Nordosten und Restinga im Südosten kleinere Handelszentralitäten, diese können aber (im Ge91 Insbesondere die Viertel Méier, welches aber in seiner Bedeutung gegenüber weiteren Zentren eher abgenommen hat, Brás de Pina und Madureira in der Zona Norte

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gensatz etwa zu Campo Grande im Nordwesten Rios) kaum als autark bezeichnet werden. In Recife lassen sich schließlich drei traditionelle Subzentren in den Vierteln Casa Amarela und Encruzilhada (beide nordwestlich), sowie Afogados (südwestlich) anführen.92 Für alle diese sekundären Zentren gilt, dass sie einmal große Marktplätze mit differenziertem Handel waren, die auch aus den noblen Vierteln an Markttagen Kunden anzogen, heute aber stärker reduziert sind auf den lokalen Handel (Dias 2010). Das zentrumsnähere Encruzilhada ist heute mehr auf mittlere Einkommensgruppen ausgerichtet, wenngleich auch hier einige Straßenverkäufer_innen ihre Ware anbieten. Auch in Casa Amarela findet das Geschäftstreiben in der Gegend um die alte Markthalle herum statt. Die Gegend ist aber deutlich weitläufiger und gleichzeitig dichter in Bezug auf Angebot, Vielfalt und Straßentreiben und wird von unteren wie mittleren Einkommenssegmenten frequentiert. Afogados schließlich ist ein reges Zentrum rund um einen dicht gedrängten Lebensmittelmarkt – tatsächlich ist die Gegend relativ stark spezialisiert auf Lebensmittel, aber nicht darauf beschränkt. Es ist ein deutlich auf untere Einkommenssegmente hin ausgerichtetes Subzentrum. d) Zentralitäten im Vergleich Im Hinblick auf Zentren und Zentralitäten lässt sich insgesamt die These von der größeren Dezentralität der ‚Megastädte‘ teilweise widerlegen, teilweise belegen: Allen Städten ist unabhängig von der Größe gemein, dass sich Subzentren ausbilden und dass die Hauptzentren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Funktionsverluste und Wertminderungen erfahren haben, auch wenn sie weiterhin mindestens in politischer und ökonomischer Hinsicht von großer Bedeutung sind. Der Bedeutungsverlust in den historischen Zentren der ‚Megastädte‘ hat aber früher eingesetzt (v.a. Rio) und sich deutlicher in sozialer Entmischung ausgewirkt (v.a. São Paulo). Porto Alegre und São Paulo können als einander entgegengesetzte Beispiele betrachtet werden: Das historische Zentrum war in Porto Alegre sowohl dauerhafter als auch heute wieder verstärkt durch sog. ‚Revitalisierungsbemühungen‘ seitens der Stadt (Einhegung des Straßenhandels und kulturelle Nutzung sowie Restaurierung historischer Bausubstanz) ein von den Bildungs- und Finanzeliten genutzter Ort. Dagegen hat in São Paulo eine starke soziale bzw. sozioökonomische Zentrenspezialisierung stattgefunden,

92 Hinzufügen ließe sich noch Beberibe (nördlich), das aber an Bedeutung deutlich abgenommen hat. Außerdem befindet sich mit Engenho do Meio eine weitere untergeordnete Zentralität in direkter Nachbarschaft zum Campus, der Cidade Universitária der staatlichen Universität im äußeren Westen der Stadt.

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auch wenn sie nicht in einem absoluten Bedeutungsverlust des historischen Zentrums resultiert. Große Ähnlichkeiten sind zwischen den historischen Zentren von Rio de Janeiro und São Paulo zu erkennen, auch dahingehend, dass beide heute stark umkämpft sind angesichts der erstarkten ‚Revitalisierungs- bzw. Requalifizierungsmaßnahmen‘. Porto Alegre und Recife sind in Bezug hierauf als Gegenbeispiele zu sehen, denn während in Porto Alegre die Strategie wirkungsvoll durchgesetzt wurde, wurden in Recife bislang nur wenig oder gegenteilige Effekte erzielt. Gemeinsam ist allen vier Städten, dass die historischen Zentren trotz Bedeutungsverlust und verstärkt durch aktuelle Inwertsetzungsstrategien eine hohe Zentralität haben. Die Bedeutung und der Charakter der Subzentren variiert dagegen stärker. Insbesondere zwischen São Paulo und Porto Alegre zeigt sich hier ein deutlicher Unterschied, insofern als São Paulo tatsächlich über eine Vielzahl an Subzentren verfügt, die auch einige Spezialisierungen aufweisen. Beide, sowohl Zentralitäten wie Subzentren beschreiben jeweils Gebiete, die mehrere Straßenzüge umfassen und eine diversifizierte Geschäfts- und Handelsstruktur aufweisen. In Porto Alegre finden sich dagegen zwei innerstädtische Subzentren, die als Verkehrsstraßen jeweils relativ starken Durchgangscharakter tragen und insgesamt eine geringere Zentralität haben. Derselbe Unterschied zeigt sich zwischen Porto Alegre und Rio de Janeiro, für Recife gilt aber nicht dasselbe wie in Porto Alegre. Dort besteht schon aufgrund der zwei von Villaça identifizierten ‚Elitezentren‘ eine besondere Zentrenstruktur. Auch die Subzentren haben eine traditionell stark konzentrierte Bedeutung, die sich auf Gebiete rund um einen traditionellen Marktplatz erstreckt. Dennoch hat die Anzahl der bedeutungsstarken Subzentren auch hier eher abgenommen. In beiden Städten gilt eher, dass große Einkaufszentren an Bedeutung zugenommen haben, was allerdings natürlich im selben und zahlenmäßig deutlicheren Maße für die beiden größeren Städte gilt. Für den Geographen Flávio Villaça sind es aber vor allem die sog. ‚Elitezentren‘, die zu einer neuen Unterteilung des städtischen Raumes führen. Diese bildeten sich nicht als funktionsdifferenzierte Komplexe aus, sondern als räumliche Ausdehnung residentieller und gewerblicher Gebiete hoher Einkommensgruppen (Villaca 2001). Villaça identifiziert dabei keinen qualitativen Unterschied zwischen den großen Städten Brasiliens, sondern einen graduellen: Rio de Janeiro gilt ihm als Vorreiter in dieser Hinsicht, Recife als ‚Schlusslicht‘ innerhalb dieser allgemeinen Entwicklungstendenz. Als zentrale Differenz zwischen São Paulo und Rio in Bezug auf residentielle Strukturen der Wohlhabenden führt Villaça die horizontale Anordnung der Gated Communities in São Paulo (mit dem Paradebeispiel Alphaville) im Gegensatz zur Vertikalisierung entlang des

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Küstenstreifens in Rio an, was für das gesamte Südgebiet bis zum Viertel Barra da Tijuca gelte (ebd.:182–185). Gründe dafür sieht er nicht auf der Seite der Produktion (Immobilienwirtschaft), sondern auf der Seite der Nachfrage. Die Unterschiede zwischen São Paulo und Rio sind aber nicht als grundsätzlich zu verstehen. Selbstverständlich wird auch in São Paulo in extrem hohem Maße vertikalisiert, und das bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Heute sind ca. 90% der Hochhäuser Wohnhochhäuser93 und das vertikalisierte, dichte Stadtbild São Paulos steht für dessen moderne, auf Stahl und Elektrizität basierende Industrie (Souza 2004b:30–32). Allerdings besteht ein Unterschied bei großen residentiellen Immobilienprojekten: In São Paulo sind die großen horizontalen Wohnanlagen wie Alphaville entlang der Stadtautobahnen charakteristisch, was die privatmotorisierte Anbindung an den südwestlichen Korridor gewährleistet.94 In Rio werden neue, vertikalisierte Residenzen entlang des Küstenstreifens erschlossen. Darin lässt sich auch eine Verbindung zwischen Lokalisierung und Nachfrage herstellen: Während in São Paulo Mobilität die Nachfrage zu bestimmen scheint, stehen in Rio Aspekte einer freizeitorientierten Lebensqualität im Vordergrund. Als stadtraumstrukturierendes Phänomen sind aber sowohl die Verschiebungen der zentralen Gebiete der Wohlhabenden (sowohl in ökonomischer wie residentieller Hinsicht) sowie die Durchsetzung von Großprojekten in nicht zentralen Gebieten in allen Städten zu beobachten. Die Betrachtung der Entwicklung von Zentralitäten in den vier hier untersuchten brasilianischen Großstädten zeigt, dass sich überall eine relevante Zahl an Subzentren gebildet hat. Zentralitäten wie Brás und Santo Amaro in São Paulo, Madureira und Campo Grande in Rio de Janeiro, Av. Azenha und Av. Assis Brasil in Porto Alegre, sowie Afogados und Casa Amarela in Recife bieten Arbeitsplätze und Einkaufsmöglichkeiten, welche die jeweilige Umgebung unabhängig, d.h. autark von den Infrastrukturen des Hauptzentrums machen können. Gleichwohl ist Villaça zuzustimmen, wenn er sagt, dass „[d]ie traditionellen Zentren unserer Metropolen, unabhängig von ihren offenkundigen ‚Verfallserscheinungen‘, […] weiterhin die strahlenden Mittelpunkte der städtischen räumlichen Organisation“ (Villaca 2001:246) sind. Hierfür spricht auch, dass die Zentren immer noch (und zwar trotz zum Teil massiven Rückgangs) mehr Arbeitsplätze beherbergen als jeder andere Ort und auch weiterhin die größten 93 Für Milton Santos (1994, so zit. in Souza 2004b:23) ein Zeichen der Bedeutung der Mittelschicht, auch befördert durch eine auf die Mittelschicht ausgerichtete Wohnpolitik. 94 Nach Villaça (2001:188) gelten für diese Wohnanlagen in São Paulo, aber auch in Porto Alegre und Belo Horizonte als Städte ohne Strand, zwei Kriterien: die Erreichbarkeit des Zentrums sowie die möglichst hoch gelegene Lokalisierung.

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Konzentrationen von Geschäften, Büros und Verwaltungs- und Regierungstätigkeiten darstellen.95 Obschon diese übergeordneten Entwicklungen – ähnlich wie im Kontext von Segregationsmustern – überall gelten, so zeigen sich doch auch grundsätzliche Unterschiede in Bezug auf die Zentrenstruktur, insbesondere in Bezug auf die Subzentren. Die beiden ‚Megastädte‘ weisen eine Vielzahl an diversifizierten und spezialisierten Subzentren auf, die sie deutlich unterscheiden von den schwachen innerstädtischen Subzentren in Porto Alegre und den wenigen, eher traditionellen Subzentren in Recife. Damit zeichnen sie sich durch eine Vielzahl an starken (Ver-)Bindungsorten aus, die dadurch gleichzeitig eine stärker akzentuierte Aufteilung des Stadtraumes bewirken. Insofern liegt der Effekt von Zentralitäten in einer zwar regionalen Bindung, die sich aber gesamtstädtisch als Trennung auswirkt, während insbesondere Porto Alegre mit dem historischen Zentrum eine weiterhin starke gesamtstädtische Bindungsfunktion aufweist. In ähnlicher Weise wirkt sich überall die Zentrenspaltung über die ‚Elitezentren‘ aus, die mit dem Bedeutungsverlust und der sozialen Entmischung der historischen Zentren einhergeht. 2.3 Über die stadt-räumliche Konfiguration der untersuchten Städte: Konkordanzen und Differenzen Die vorangegangenen Ausführungen zu Segregationsmustern sowie Zentren und Zentralitäten zeigen, dass sich die Beschreibungen der stadt-räumlichen Konfiguration der vier untersuchten Städte prinzipiell stärker ähneln als unterscheiden. Das gilt speziell mit Blick auf generelle Veränderungstendenzen und Segregationsmuster, sowie auf die Herausbildung von neuen ‚Elitezentralitäten‘, die ein stark strukturierendes Moment in den Städten darstellen. Auch im Hinblick auf die historischen Zentren der Städte lassen sich relevante Übereinstimmungen erkennen. Größenrelevante Differenzen ergeben sich vorrangig mit Blick auf die Herausbildung von Subzentren. Die prinzipiellen Konkordanzen lassen sich wie folgt zusammenfassen: • Unabhängig von den Größenunterschieden lassen sich in allen vier Städten

drei zentrale Veränderungen der stadt-räumlichen Struktur nachweisen: (1) Enklavenbildung der Wohlhabenden, (2) verstärkte kleinräumige Segregation und damit zusammenhängende soziale Homogenisierung auf einer sublokalen Ebene, bei (3) gleichzeitiger sozioökonomischer Heterogenisierung auf der Ebene der Gesamtstadt. Dabei variiert zwar die Bedeutung und das 95 Für São Paulo: vgl. Villaça 2001; Kowarick 2007; für Rio: vgl. Menegon u.a. 2009.

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Ausmaß dieser Veränderungen, aber auch hierin sind keine größenrelevanten Unterscheidungen zu erkennen. Während sich in São Paulo die Veränderungen vor dem Hintergrund einer kompakten Zentrum-Peripherie-Struktur abzeichnen, bildet in Rio de Janeiro das schon akzentuierte Homogenitäts-Heterogenitäts-Verhältnis den Ausgangspunkt (vorrangig in den südlichen Lagen, wo noble und arme Wohnviertel stark miteinander verwoben sind). Die identifizierten Auflösungstendenzen werden dementsprechend in der Forschung für São Paulo eher räumlich interpretiert, während sie für Rio als soziale Auflösung kollektiver Identitäten gesehen werden. Ganz ähnlich wie in São Paulo finden sich aber auch Rio de Janeiro die als ‚anormale Dezentralisierung‘ (Lago 2007:276) bezeichneten Tendenzen in einer zuvor sozial homogenen Peripherie. Abweichend von São Paulo weisen aber die sozialen Veränderungen in den Favelas auch auf eine soziale Heterogenisierung innerhalb lokaler Kontexte hin. Insofern scheinen die Ambivalenzen in Rio de Janeiro ausgeprägter zu sein, welche mit den generellen Veränderungen verbunden sind. Die Veränderungen in Porto Alegre und Recife sind in ihrem Ausmaß als geringfügiger zu bezeichnen als in den beiden ‚Megastädten‘. Zwar lassen sich klare Homogenisierungstendenzen in den Gebieten des oberen Segments erkennen (wobei in Recife zwei dieser Gebiete auszumachen sind im Unterschied zu den anderen Städten), auch wenn etwa in Porto Alegre traditionelle Arbeiterwohnviertel weiterhin als von einer hohen sozialen Homogenität gekennzeichnet beschrieben (Mammarella & Barcellos 2008b:25). Allen vier Städten ist gemein, dass die historischen Zentren trotz Bedeutungsverlust und verstärkt durch aktuelle Inwertsetzungsstrategien eine hohe Zentralität haben. Keine größenrelevanten Unterscheidungen sind mit der Herausbildung ‚neuer Elitezentren‘ verbunden. Nach Villaça ist hiermit eher ein gradueller Unterschied zwischen den großen Städten Brasiliens verbunden (Villaça 2001): Rio de Janeiro gilt ihm als Vorreiter dieser allgemeinen Entwicklungstendenz, Recife als ‚Schlusslicht‘.

Die größenrelevanten Differenzen zwischen den vier untersuchten Städten lassen sich in den folgenden Punkten zusammenfassen: • Zwischen den beiden Großstädten besteht eine Parallele in Bezug auf die

Heterogenisierungstendenzen, die sie von den ‚Megastädten‘ unterscheidet: In den ländlichen Gebieten erlangen unspezialisierte Dienstleistungsbeschäftigungen immer mehr Gewicht gegenüber den landwirtschaftlichen

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Arbeitsbereichen und es kommt (auch durch die residentiellen Entwicklungen) zu einer Diversifizierung peripherer, ehemals landwirtschaftlich geprägter Gebiete. • Obwohl sich in Bezug auf die historischen Zentren vorrangig Übereinstimmungen zwischen den verschieden großen Städten finden, weisen die beiden ‚Megastädte‘ doch Besonderheiten auf: Der Bedeutungswandel in den historischen Zentren hat hier früher eingesetzt (v.a. Rio) und sich deutlicher in sozialer Entmischung ausgewirkt (v.a. São Paulo) – beide Zentren werden auch heute stark umkämpft angesichts massiver ‚Revitalisierungsbemühungen‘ der Städte. Am schwächsten hat sich der Bedeutungswandel in Porto Alegre ausgewirkt, wo früh implementierte ‚Revitalisierungsbemühungen‘ seitens der Stadt entgegengewirkt haben. • Vor allem in São Paulo hat eine starke soziale bzw. sozioökonomische Zentrenspezialisierung stattgefunden, auch wenn sie nicht in einem absoluten Bedeutungsverlust des historischen Zentrums resultierte. • Größenrelevante Unterschiede weisen die untersuchten Städte vor allem im Hinblick auf ihre (dezentrale) Subzentrenstruktur auf: São Paulo und Rio de Janeiro unterscheiden sich durch ihre Vielzahl an bedeutsamen und diversifizierten Subzentren insbesondere von Porto Alegre, wo sich nur wenige und relativ schwache innerstädtische Subzentren zeigen, die starken Durchgangscharakter tragen. Für Recife gilt diese Unterscheidung nicht im selben Maß, da eine Reihe wichtiger Subzentren besteht. Gleichwohl hat die Anzahl der bedeutungsstarken Subzentren in beiden Großstädten eher abgenommen. Die stadt-räumliche Konfiguration der vier Städte weist insgesamt deutliche Ähnlichkeiten struktureller Veränderungstendenzen auf – die physisch- und sozialräumlichen Heterogenisierungsprozesse, die gemeinhin mit dem empirischen ‚Fragmentierungsbegriff‘ in der Stadtforschung belegt werden, sind überall wirksam.96 Auch Segregation in den Städten gleicht sich heute mehr und mehr an in Richtung stärker kleinräumiger Muster. Relevante Differenzen zwischen den Städten verschiedener Größe finden sich damit weniger in Bezug auf die sozialräumlichen (Auf-)Teilungsprozesse im Kontext von Segregation, denn im Hinblick auf die der Produktion von (Ver-)Bindungen über Zentralitäten. Dabei zeigt sich eine prinzipielle Dezentralität mit Zentrenspezialisierung in São Paulo und Rio de Janeiro, die für Porto Alegre nicht und für Recife mit der Re96 Auch was die generellen Charakteristika sozialer Ungleichheit, Einkommens-, Arbeits- und Wohnverhältnisse betrifft, so zeigen sich darin vielmehr die regionalen Unterschiede denn größenrelevante Aspekte über die vier Städte, s. Kapitel C.1.

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duktion der Anzahl an Subzentren immer weniger gilt. Welche alltagspraktischen Relevanzen damit verbunden sind, wird Gegenstand von Kapitel C.4 sein.

3. P OLITISCH - PLANERISCHE K ONZIPIERUNG : Ü BER DIE P ERZEPTION UND G ESTALTUNG VON S TADTGRÖSSE 3.1 Die Perzeption von Größe durch politisch-planerische Akteure a) Allgemeine politische Entscheidungsparameter Im Vergleich der politisch-planerischen Konzipierung der Untersuchungsstädte können allgemeine Parameter herausgearbeitet werden, welche aus Sicht der Befragten die kommunalen Politiken ausrichten. Diese Einschätzungen sind Ausdruck konkreter und institutionell gerahmter Vorstellungen über die lokale Politik.97 Die Aussagen der Befragten lassen sich in drei Kategorien zusammenfassen: (i) Bedingtheiten lokaler Politik, (ii) konzeptionelle Leitideen sowie (iii) die Rolle der Stadtpolitik/-regierung. (i) Bedingtheiten lokaler Politik meint jene Faktoren, die sich aus Sicht der befragten Expert_innen beeinflussend auf die Entscheidungsfindung und die Umsetzung lokaler Politik und Planung auswirken. Dabei kann grundsätzlich zwischen externen und internen Faktoren unterschieden werden. Externe stellen aus politisch-institutioneller Sicht nicht oder schwer beeinflussbare, der politischen Organisation selbst äußerliche Einflüsse dar. Interne Faktoren sind dagegen Einflüsse, die der Organisation oder den Akteur_innen der lokalen Politik selbst entspringen. Insgesamt ähneln sich die von den Befragten genannten Einflussfaktoren auf lokale Politik und Planung in auffälligem Maße; sie lassen sich den Bereichen ‚städtische Gegebenheiten‘, ‚Politikverständnis ‘ sowie ‚politische Kompetenzen und Ebenen‘ zuordnen. Es variiert aber die Beurteilung des Einflusses zwischen den Städten. In Rio de Janeiro und São Paulo beziehen sich die Befragten grundsätzlich eher negativ auf externe Faktoren. Städtische Gegebenheiten wie Größe und Wachstum werden dabei besonders betont, aber auch eine allgemeine politische Kultur des Konservativismus bzw. Klientelismus. In den beiden kleineren Städten beziehen sich die Expert_innen, wenn überhaupt, dann positiv auf exter97 Politische Entscheidungsparameter wurden nicht direkt abgefragt, sondern aus den themenspezifischen Fragen zum Arbeitsfeld und den Fragen zu Politikebenen herausgearbeitet. Zum Aufbau der Leitfadeninterviews siehe Kapitel C.1.

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ne Faktoren. Zusammenfassend lässt sich in Bezug auf die externen und internen Bedingungen lokaler Politik festhalten: ‚Städtische Gegebenheiten‘ werden überwiegend in den beiden ‚Megastädten‘ als Einflussfaktoren genannt. Interessant ist dabei, dass in São Paulo Größe und Diversität als Gegebenheiten sowohl negativ (Größe) als auch neutral (lokale Besonderheiten) behandelt wird, während in Rio de Janeiro die Dynamik (sowohl in demographischer als auch ökonomischer Hinsicht) problematisiert wurde.98 ‚Politikverständnis‘: Das Politikverständnis umfasst sowohl externe als auch interne Faktoren. Als extern wurde gewertet, wenn sich Befragte auf eine ‚allgemeine politische Kultur‘ bezogen, als intern solche Aspekte, die als ‚politischer Wille‘ umschrieben werden können. In den beiden Städten mit institutionalisierten Beteiligungsverfahren im Rahmen des Bürgerhaushaltes (Porto Alegre und Recife, s. Kapitel C.3.2) wird eine positiv bewertete ‚politische Gesprächskultur‘ hervorgehoben. Sie wird beider Orts nicht auf eine rein lokale, sondern auf eine regionale Tradition rückbezogen. Dagegen werden für São Paulo und Rio de Janeiro Konservativismus bzw. Klientelismus als Kennzeichen einer lokalen ‚politischen Kultur‘ angeführt. Diese Unterschiede in der Beurteilung wiederholen sich bei den Thematisierungen eines ‚politischen Willens‘. Die Befragten in den beiden ‚Megastädten‘ bezeichneten den politischen Willen als abhängig vom Wahlzyklus, während in Recife die grundsätzliche Dialogbereitschaft hervorgehoben wurde. ‚Kompetenzen und Ebenen‘: Während die äußeren Umstände von Politik und Planung in den beiden ‚Megastädte‘ von den Befragten als widrig gekennzeichnet wurden, stuften sie die notwendigen institutionellen Voraussetzungen als gegeben ein. Die positive Betonung lag dabei insbesondere auf den Fachkompetenzen der Verwaltungsmitarbeiter_innen, die sich oftmals politischen Konjunkturen ausgesetzt sehen. Dagegen wurde in Recife gerade die institutionelle Zuordnung von Kompetenzen als Problem ausgewiesen. (ii) Als konzeptionelle Leitideen werden in den Interviews über alle vier Städte hinweg vorrangig zwei Themen deutlich: Akteurspluralisierung und politisch-administrative Dezentralisierung. Mit Akteurspluralisierung ist gemeint, dass die unterschiedlichen, in die Entscheidungsprozesse und auch die Implementierung von konkreten Politiken involvierten Akteure immer mehr und vielfältiger werden (sie kann also mit Dezentralisierung einhergehen). Dezentralisierung reicht von der Abgabe administrativer Aufgaben an meist territorial de98 Tatsächlich zeigen aber die demographischen Daten der beiden Städte, dass São Paulo weiterhin (und besonders mit Blick auf die Metropolregion) demographisch stärker wächst als Rio de Janeiro.

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zentralisierte Verwaltungsstrukturen bis hin zur Abgabe politischer Entscheidungsmacht. Diese übergeordneten Themen können mehr als grundsätzliche Ausrichtung der lokalen Politik verstanden werden, die in den vier Städten aber unterschiedlich stark gewichtet werden. In São Paulo wird die Größe und territoriale Ausdehnung der Stadt als maßgeblicher Einflussfaktor auf die Notwendigkeit von Dezentralisierung genannt. Dabei lassen sich verschiedene Formen der Dezentralisierung entlang der Aussagen der Befragten unterscheiden, deren erfolgreiche Implementierung oder deren Notwendigkeit von der Stadtgröße mitbestimmt werden: eine akteursbezogene, eine wissensbezogene und eine territorial-institutionelle Dezentralisierung. So sei man auf NGOs als Akteure in der Peripherie angewiesen, um die Reichweite der Behörden zu ergänzen (akteursbezogene Dezentralisierung): „Diverse Nichtregierungsorganisationen, die in der Peripherie von São Paulo operieren, sind extrem wichtig für uns, denn sie erreichen de facto ein Publikum, das wir berücksichtigen wollen und das berücksichtigt werden muss.“ (I1)99

Zudem seien regionalisierte Kenntnisse vonnöten (wissensbezogene Dezentralisierung): „Also ich glaube, der Maßstab bestimmt vieles von dem, was du.. welche Ansätze du verfolgen können wirst, denn der Maßstab wird mich dazu nötigen zu dezentralisieren in São [Paulo]. Wir machen das hier, [...] [denn] das stärker regionalisierte Wissen ist entscheidend dafür, dass wir ein Ergebnis erzielen [können]. Und der Maßstab ist [dafür] wesentlich.“ (I11)

In jedem Fall handelt es sich aber um eine praxis- und implementierungsorientierte Dezentralisierung, welche aufgrund der Größe und Ausdehnung für nötig befunden wird, während die Formulierung von Politiken weiterhin zentral bewerkstelligt wird. Unter der territorial-institutionellen Dezentralisierung schließlich kann die Einrichtung lokaler Dependenzen der Ämter und ihrer Dienste verstanden werden. Sie unterscheidet sich von einer politischen Dezentralisierung, die zwar ebenso territorial organisiert sein kann, aber letztlich die Abgabe von Entscheidungsmacht und der Definition politischer Leitlinien meint. Als sozialintegrativer Mechanismus stellt sich die Dezentralisierung dar, wenn sie als Gegenteil einer „stigmatisierenden“ und „separierenden“ Politik (I11) und als Instrument einer bedarfsorientierten Politik (I26) angeführt wird. Kontraproduktiv im Hinblick auf eine territorial-institutionelle Dezentralisierung wirkt offen99 Die Interviewnummerierung ist der Liste im Anhang zu entnehmen.

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bar die Tatsache, dass rechtliche Vorschriften gerade dort entgegenwirken, wo der Bedarf besonders hoch ist: „Alle Regionen haben [Sozialhilfezentren], alle [sic]. Denn wir sind schon dezentralisiert. Das Problem ist Dienste in den Quellgebieten [in der südlichen Peripherie] einzurichten. [...] Weißt du, ich war schon in der Zona Sul, da aktivierst du eine Menge Partner, um einen Ort zu finden, den du mieten kannst, und du findest ihn nicht. [...] Neben dem politischen Willen trägt das auch dazu bei, du kriegst keinen.. Also, diese Quellgebiete, die Stadt kann nichts Irreguläres machen. Sie kann keinen Dienst einrichten auf irreguläre Weise. [...] Das ist eine Schwierigkeit. [Denn], je prekärer die Region im Hinblick auf das Territorium aus der Sicht, dass sie keine legalen Gebäude haben, umso mehr Schwierigkeiten hast du […] um etwas einzurichten. […] Es sind die Gesetzgebungen, die das verhindern.“ (I26)

Während also die akteursbezogene und die wissensbezogene Dezentralisierung wichtige Leitideen sind, die auch realisiert werden, handelt es sich bei der territorial-institutionellen Dezentralisierung um eine zwar nicht minder wichtige, aber nur eingeschränkt umgesetzte Leitidee. Im Hinblick auf die Akteurspluralisierung werden in São Paulo zum einen gezielt Partnerschaften mit zivilgesellschaftlichen (I26 und I10) und privaten (I10 und I2) Akteuren eingegangen. Damit sind je unterschiedliche Motive verbunden: Zivilgesellschaftliche und soziale Organisationen sollen die Funktionen einer generalistischen Politik um differenzierte Blickwinkel ergänzen: „[Diese Organisationen des Dritten Sektors] können genau dort ansetzen, wo die öffentlichen Behörden es nicht schaffen, hin zu gelangen. Ich glaube sie haben einen differenzierten Blick, einen Blick, den die Gesellschaft braucht. Also sind sie viel mehr, sie schaffen es, Dinge/Fragen zu sehen, die sich die Behörden nicht einmal vorstellen können. Und das ist ja auch nicht ihre Funktion, sich das vorzustellen.“ (I10)

Private Akteure sind dagegen nicht nur als Investoren relevant, sondern ersetzen staatliche Intervention, wie für das Beispiel der ‚Requalifizierungsprojekte‘ im Zentrum bemerkt wird: „Wir haben einen Rat gegründet, der sich Stadtumwandlung nennt, der aufgeteilt ist nach Projekten. Wir werden eine internationale Architekturausschreibung machen, das wird laufen. […] [Es soll] ein Projekt der Befähigung dieses Viertels [des Zentrums sein]. Anders gesagt: man zerstört, konstruiert, bewahrt, baut aus auf eine Weise, dass dieses Viertel zu einem modernen Viertel wird […] mit privaten Partnerschaften. Es ist nicht

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mehr der Staat, der umwandelt, sondern die Privatinitiative unter der Kontrolle des Staates.“ (I2)

In beiden Fällen ist es allerdings zumindest das Anliegen der Politik, auf die Entscheidungsmacht und grundsätzliche Kontrolle nicht zu verzichten, und lediglich die Umsetzung von anderen Akteuren bewerkstelligen zu lassen. Zum anderen werden auch Einfluss- und Lobbygruppen benannt, die eine Akteurpluralisierung betreiben.100 Insofern wird eine Reihe machtvoller Akteure ausgemacht, die sowohl informell als auch über Interessensvereinigungen Einfluss auf die Politik ausüben. Wie ungleich die Möglichkeiten der Einflussnahme sind zeigt sich an der Schilderung der bestehenden institutionalisierten Partizipationskanäle in São Paulo, den nach Bereichen und Themen organisierten ‚Kommunalen Räten‘: „[E]s gibt eine Kontrollausübung der Regierung über die Wahlen und über die Wahlvorschläge. Also .. insofern als sie die Wahlen unterstützen muss, sie muss die gesamte Infrastruktur stellen für die Wahlen, also, auf eine gewisse Weise kontrolliert sie das. Sie wird die Würfel so fallen lassen, dass bestimmte Personen gewählt werden. So hat sie die Kontrolle, denn sie weiß, dass dieser Rat alle Entscheidungen genehmigen muss. Denn in der Sozialhilfe ist es nicht anders als in anderen Politiken, alles muss durch den Rat durch. [...] Das ist Pflicht [in Brasilien]. [...] Es gibt einige Dinge, die sich bewegt haben, aber [der Rat] ist weit davon entfernt, auszuüben. […] zu sagen, dass [er] beschlussfassend ist, dass [er] das beschließt, was der Wille, was im Interesse der.. der ärmeren Bevölkerung sein sollte: Nein. Denn wer an diesen Räten teilhat ist nicht die ärmste Bevölkerung. Abgesehen von diesen drei [Repräsentanten der Nutzer_innen von öffentlichen sozialen Einrichtungen und Diensten], der Rest ist nicht arme Bevölkerung.“ (I26)

Auf der einen Seite ist hier also auch die Kontrolle seitens der Regierung ausschlaggebend, denn tatsächliche Abgabe von Entscheidungsmacht findet nicht statt. Auf der anderen Seite wird organisierten kollektiven Akteuren (Zivilgesellschaft, Unternehmerverbände u.a.) ein weit größerer Einfluss zugeschrieben als den Betroffenen. Insgesamt wird der Stellenwert der Partizipation von den Befragten deutlich eingeschränkt, da sie als (reines) Mittel zur Herstellung von 100 Da werden zum einen Organisationen genannt, hinter denen „hochkarätige Leute“ (I26) stünden, aber auch neue kollektive Akteure, die direkteren Einfluss auf die Politik nähmen als das etwa Soziale Bewegungen könnten. Als Beispiel dient hierfür ein Bündnis von Intellektuellen und Unternehmer_innen (Movimento Nossa São Paulo, ‚Bewegung Unser São Paulo‘), welches dem Bürgermeister einen Maßnahmenplan abgerungen habe und diesen auch zu kontrollieren imstande sei (I26).

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Rechtssicherheit (I26) und die Partizipationskultur als generell niedrig (I26) und teilweise „manipulativ“ (I10) bezeichnet wird.101 In Rio de Janeiro betonen die Befragten im Hinblick auf Dezentralisierung eine relativ hohe Zentralisierung der kommunalen Politik. Die Bandbreite der Einschätzungen dieser Zentralisierung reicht von deren schlichter Konstatierung (I17: „Ich würde sagen, dass unsere Entscheidungen in 90% der Fälle zentralisiert sind.“) bis hin zu Schilderungen einer Suchbewegung in Richtung dezentralerer Prozesse und Abläufe (I16 und I15). Dabei wird unterschieden zwischen einer territorialen, einer fachlichen und einer politischen Dezentralisierung. Erstere besteht aus lokalen Dependenzen der Ämter und Einrichtungen: „[…] unser Ressort war sehr zentralisiert. […] Wir haben ein Integrationsteam geschaffen, in dem wir Repräsentanten von uns haben, die mit den verschiedenen Territorien der Stadt im Dialog stehen, in den vielen Regionen, die differenziert sind, die spezifische Befunde aufweisen und, dementsprechend, spezifische Lösungen für ihre Probleme [benötigen]. Wir haben Fachkräfte, die bestimmte Territorien im Blick haben, aber auch politische Agenten, sozusagen Agenten des Dialogs mit den lokalen Repräsentationsformen der Gesellschaft in jedem Territorium von Rio de Janeiro.“ (I16)

Die fachliche Dezentralisierung geht in dieselbe Richtung, ist aber stärker an Personen und Aufgabenbereiche, denn an ‚Regionen‘ gebunden. Die politische Dezentralisierung wird dann zum einen als Dialogform zwischen dem zentralen Ressort und den lokalisierten Repräsentationsformen spezifiziert (in der Form ‚politischer Agenten‘). Zum anderen wird auf Dezentralisierung als politisches Projekt Bezug genommen: „[...] man hat einen ziemlich großen Aufwand betrieben in diesem Sinn [der Dezentralisierung] im ersten Mandat von César Maia [Bürgermeister von 1993-97 und von 2001-2009, JH]. Alle Ressorts mussten lokale Teams bilden, [...] manche Ressorts haben das nicht ansatzweise geschafft, und wenn sie es schafften, dann indem sie eine Fachkraft zur Verfügung stellten in dem Gebiet, also die spezifischeren Ressorts. Die anderen, größeren schafften das, die schaffen das ganz offensichtlich, also Wohnen, Gesundheit, also die größeren haben eine Dezentralisierung, aber tatsächlich hat es einen Rückbildungsprozess gegeben. Nein, also es gibt sie immer noch, die Dezentralisierung, und dieses, das erste Mandat von César Maia war sehr prägend, weil es eine extrem fachorientierte [technische] Verwaltung war und er hat dafür einen hohen politischen Preis gezahlt. [...] als er zurück101 Der „manipulative“ Charakter der Partizipation wird hier insbesondere als politische Größe gedeutet, insofern als eine ideologische Verschiebung hin zu Partizipationsansätzen der Arbeiterpartei (PT) identifiziert wird.

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kommt, gibt er der Dezentralisierung einen ziemlich politischen Anstrich. Das ist schwierig, das Politische und das Fachliche geraten manchmal in kleine Konflikte […] Dieser Prozess der Dezentralisierung ist keine Sache, er funktioniert, es muss dezentralisiert werden, weil man es nicht schafft, zentralisiert zu arbeiten, aber wir waren schon sehr dezentralisiert und viele Sachen sind zurückgekehrt, letztendlich aus Bequemlichkeit.“ (I15)

Dezentralisierung gleicht in diesem Beispiel allerdings eher einer Ausbildung lokaler Fachkompetenz. Als ‚politisches Projekt‘ erscheint sie nur insofern, als sie zu einem der Hauptmotive der lokalen Regierung gemacht wurde. Eine Dekonzentration von Entscheidungsmacht scheint damit aber nicht verbunden zu sein, und so überrascht es nicht, dass diese Art der Dezentralisierung als gescheitert benannt wird: Ein institutionelles Beharrungsvermögen („Bequemlichkeit“) und eine sich der politischen Logik gegenüberstellende Fachkompetenz werden dafür in obigem Zitat als ausschlaggebend aufgeführt. Der Re-Zentralisierung von Entscheidungsbefugnissen wirkt aber eine Pluralisierung von Akteuren im politischen Feld offenbar entgegen. Dabei werden sowohl Partnerschaften (etwa mit Nichtregierungsorganisationen wie im Falle der ‚Urbanisierungsprogramme‘ in Favelas) gezielt gesucht, als auch die Kompetenzen bereits bestehender Partner ausgeweitet.102 Akteursvielfalt kann auch in der Einflussnahme bestimmter Gruppen gesehen werden, wobei insbesondere ökonomische Interessengruppen benannt werden: „Ich würde sagen, dass die ökonomischen Gruppen immer einen großen Einfluss auf den lokalen Staat hatten. Ich glaube die einzige Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, ist durch eine größere Dynamik mit anderen Sektoren der Gesellschaft, die konfligierende Interessen damit haben, um so ein gewisses Gleichgewicht herzustellen.“ (I16)

Obwohl die Dezentralisierung in Recife für wenig ausgeprägt erachtet wird und, im Gegenteil, von einer relativ hohen politisch-institutionellen Zentralisierung ausgegangen wird, wird diese dennoch als geringer eingestuft als die in den größeren Städten wie Rio de Janeiro und São Paulo, (I21). Als Notwendigkeit wird Dezentralisierung etwa im Zusammenhang mit der Ressortaufteilung benannt: Stadtplanung, Stadtentwicklung und Umwelt etwa bildeten lange ein Ressort, nun sei es zur überfälligen Etablierung eines eigenständigen Umwelt-

102 So im Fall des zuvor als Forschungs- und Informationsinstitut fungierenden Instituto Pereira Passos, dem mit der stärkeren Betonung ökonomischer Aspekte mehr Kompetenzen eingeräumt wurden.

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ressorts gekommen.103 Selbstkritik im Hinblick auf den zentralisierten Charakter der Stadtregierung übt vor allem die Stadtplanung. Hier wird das Fehlen effektiver partizipativer Mechanismen beanstandet wird (I21). Grundmoment der Dezentralisierung bildet dabei offensichtlich die territorial-administrative Gliederung Recifes, deren Ziele in der Herstellung einer bedarfsorientierten Nähe (I27) sowie in der Erreichbarkeit der Verwaltung für die Bürger_innen (I18) liegen. Aus der Sicht der Stadtplanung wird allerdings auch auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Gesamtstadt zu denken – anstatt bei punktuellen Projekten und Planung zu verweilen (I21). Eine territoriale Dezentralisierung wird vor allem im Hinblick auf die Verkehrsinfrastruktur als notwendig erachtet, deren zentralisierte Organisation als hinderlich für die Stadtentwicklung und für die Mobilität in der Stadt gesehen wird. Politisch-institutionell wird außerdem auf eine temporäre Dezentralisierung von Verwaltungsstrukturen (I5) und auf die dauerhaft dezentral implementierten Programme (hier: Qualifizierungsprogramme, I5) verwiesen. Beide, Verwaltungsstrukturen und Programme, sind vermittelt über eine territoriale Aufteilung. Als politische Dezentralisierung können der Fokus auf Entbürokratisierung und Dialogformen gewertet werden, ebenso wie die Umsetzung von und die Suche nach Beteiligungsprozessen.104 Die Pluralisierung von Akteuren spielt in Recife zwar auch eine Rolle, unterscheidet sich aber von den in Rio de Janeiro und São Paulo identifizierten Aspekten. In den Darstellungen politischer Entscheidungsparameter gehen die Befragten vorrangig auf staatliche Akteure und die Beteiligung von Bürger_innen ein. Insbesondere bezieht man sich dabei auf die Repräsentant_innen lokaler Gemeinschaften im Rahmen institutionalisierter Partizipationsprozesse (vorrangig dem Bürgerhaushalt). Einzig im Bereich der Sozialhilfe scheint eine Selbstrepräsentation der Nutzer_innen und Betroffenen nicht gegeben (ähnlich wie in São Paulo, I23). Für einzelne Fragen (hier: informeller Handel, I18) spielen zwar auch Repräsentant_innen aus Handel und Industrie eine große Rolle ein, abgesehen aber von der Einbindung der Bevölkerung wird eine Akteurspluralisierung nicht eingefordert. Einzig für die Stadtverwaltung werden an einigen Stellen institutionelle Aufteilungen für notwendig befunden angesichts einer zu 103 Diese Entwicklung ist allerdings weniger als verwaltungslogische Restrukturierung zu werten, sondern als Konsequenz des Bedeutungsgewinns ökologischer Fragen, was für alle Städte gleichermaßen gilt. ‚Öffentliche Ordnung‘ und ‚Stadtplanung und -entwicklung‘ wurden auch im Rahmen der Interviews nicht auf der Ebene des übergeordneten Ressorts mit einbezogen, sondern auf der Ebene der Ämter. 104 Umgesetzt ist der partizipative Bürgerhaushalt, gesucht wird nach Möglichkeiten partizipativer Planungsverfahren.

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starken Konzentration von Bereichen innerhalb von Ämtern (I21 und I18). Wenn also die Pluralisierung weniger Gegenstand der Debatte zu sein scheint, so ist sie aber als Praxis nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Neben der Repräsentation von Bevölkerung und privatwirtschaftlichen Akteuren findet etwa auch in Recife – ganz ähnlich wie in Rio de Janeiro mit dem Instituto Pereira Passos – eine Kompetenzübertragung auf ein öffentliches Forschungs- und Informationsinstitut, das Instituto Pelópidas Silva statt. Wie in Recife, so wird schließlich auch in Porto Alegre aus der Sicht der Stadtplanung eine umfassendere Perspektive eingefordert. Diese Forderung richtet sich gegen die bestehenden punktuell-territorialen Politiken. Konkret haben wir es hier mit einem Gegenargument zur vorherrschenden Dezentralisierung zu tun, wenngleich die Forderung nach einer umfassenderen Perspektive durch die Stadtplanung einer grundlegenden politischen Dezentralisierung nicht entgegenstehen muss. Die Frage nach der Akteursvielfalt im politischen Feld wird hier vor allem mit der prinzipiellen Zusammenarbeit der drei, in den partizipativen Räten vertretenen, Sphären in Zusammenhang gebracht (Regierung, Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft). Dort, wo aktiv an einer größeren Akteursvielfalt gearbeitet wird, liegt der Fokus bei der Suche nach Partnern (anders als in São Paulo und in Rio de Janeiro) auf privater Eigeninitiative. So sollen im Rahmen des neu geschaffenen Ressorts für Lokale Governance „territoriale soziale Netzwerke [stimuliert und artikuliert werden] mit dem Ziel, die lokale Entwicklung und die soziale Inklusion der Gemeinschaften zu fördern, indem Aktionsgeist, Unternehmertum und Mitverantwortung angeregt werden“.105 Die damit verbundene Suche nach Partnern wird über die Notwendigkeit begründet („alleine kann die Regierung nicht“, I4), aber anders als in São Paulo und Rio de Janeiro liegt der Fokus zumindest diskursiv auf der gesamten Bevölkerung und nicht auf organisierten Gruppierungen wie Nichtregierungsorganisationen oder Interessensverbänden (vgl. Recife). (iii) Schließlich werden in den vier Städten unterschiedliche Vorstellungen über die Rolle der Politik und Planung hervorgehoben. Diese Frage betrifft zum einen das Verhältnis der zentralen stadtpolitischen Akteure, also der staatlichen, zivilgesellschaftlichen und privaten Kräfte. Zum anderen stehen damit die Funktion, welche die Stadtpolitik sich selbst zuordnet, und die inhaltliche Ausrichtung, die sie verfolgt, im Fokus. Dabei können aus den Aussagen der Befragten grundsätzlich vier Typen gewonnen werden, die in unterschiedlichem Ausmaß und Kombinationen in den einzelnen Städten identifiziert werden können: Eine Politik der Ordnung, die einen ex-post Charakter hat im Sinne einer nachträglichen (Wieder-)Herstellung von ‚geordneten Verhältnissen‘; eine Politik der 105 http://www2.portoalegre.rs.gov.br/smgl/default.php?p_secao=72, rev. 07.03.2013

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Kontrolle, die vor allem gegenwärtige städtische Entwicklungen überwacht und Abweichungen begleitend reguliert; eine Politik der Planung und Gestaltung, die einen ex-ante Charakter hat im Sinne der vorausschauenden Lenkung von Entwicklungen; sowie eine Politik der Vermittlung und Mobilisierung, die einen Dialogcharakter hat im Sinne eines aktiv gestalteten Verhältnisses zwischen lokaler Regierung und Bevölkerung. Für São Paulo oszillieren die Politikverständnisse zwischen Ordnung und Vermittlung. Es zeigt sich, dass die Ressorts je nach Arbeitsausrichtung auch unterschiedliche Rollenverständnisse ihrer bzw. der Behörden generell haben. Aus der Sicht der Wohnpolitik und der Stadtentwicklungspolitik wird ein Ordnungscharakter deutlich. Beim Wohnen steht die Formalisierung von informellen Siedlungen im Fokus, in der Stadtentwicklung die Erneuerung und Modernisierung insbesondere zentraler Regionen. Gleichzeitig richtet sich das Stadtentwicklungsressort (I2) an außerinstitutionelle Partner, welche als Investoren und „Modernisierungsagenten“ auftreten. Einen noch deutlicheren Vermittlungscharakter nimmt die Arbeitspolitik ein. Hier sieht sich die Stadt nicht in der Rolle präventiver und Beschäftigungsgenerierender Politik, sondern zieht sich zurück auf die reine Arbeitsvermittlung (als dritte Säule neben Qualifizierung und Unternehmensförderung). Von kommunaler Seite wird also weder das Arbeitsangebot (als welche man die Qualifizierungsarbeit verstehen könnte) noch die Arbeitsnachfrage direkt angesprochen, sondern lediglich zwischen der (Arbeit suchenden) Bevölkerung und den (privaten) Unternehmen vermittelt. Eine Vermittlungsfunktion ordnet man sich auch im Ressort für Soziales zu, wo die Vermittlung zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen und die Mobilisierung der Bevölkerung als wichtige Arbeitsbereiche genannt werden (I26). Auch wenn Ordnungsaspekte im Rahmen bestimmter Politikfelder also eine große Rolle spielen, so sind sie – zumindest auf der Ebene der Akteure – abgeschwächt durch den tendenziellen Rückzug der Stadtpolitik zugunsten privater Akteure. Ausgangspunkt für die Selbstverständnisse in Rio de Janeiro ist immer wieder die negative Bezugnahme auf eine unkontrollierte Wachstumsdynamik, sowie auf die Art und Weise der Landbesetzung und Infrastrukturentwicklung. Das mag erklären, warum die Befragten in Rio de Janeiro den Aspekt der Ordnung klar gegenüber dem Aspekt der Planung hervorheben. Der Planung wird gar eine gewisse Unmöglichkeit attestiert. Was de facto passiere, könne eher als ‚Aufräumarbeit‘ denn als Planung bezeichnet werden (I15). Diese ‚Aufräumarbeit‘ hat einen Ordnungscharakter im Sinne der Wiederherstellung von Ordnung und weniger einen begleitenden Kontrollcharakter gegenwärtiger Entwicklun-

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gen.106 Der Ordnungseifer der Kommunalregierung in Rio de Janeiro äußert sich auch in der Schaffung eines neuen Ressorts, dem Ressort für Öffentliche Ordnung (Secretaria Municipal de Ordem Pública, SEOP). Mittelbares Ziel dieses Ressorts ist die (Wiederherstellung einer) ‚Ordnung‘ der Stadt angesichts der vielfachen „Irregularitäten“ bezüglich der Bodennutzung, sei es im Hinblick auf Wohnen, Handel und Gewerbe oder den öffentlichen Raum.107 Tatsächlich spielt auch in anderen Bereichen die Regulierung von ‚Informalität‘ – v.a. des Wohnens – eine große Rolle. Der verstärkte Fokus auf sämtliche Aktivitäten, die als ‚(Wieder-)Herstellung von geordneten Verhältnissen‘ gelten können, hat nicht zuletzt mit den nahenden Großevents zu tun, die für Rio de Janeiro die größte Rolle spielen: die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Sommerspiele 2016. Der sicher stärkste Ausdruck dieser Ordnungspolitik ist die sogenannte ‚Befriedung‘ von Favelas.108 Aber auch mit der ‚Urbanisierung‘ der Favelas ist ein 106 Kontrolle, so zeigt auch die im nächsten Kapitel (2b) folgende Untersuchung der Bezüge zu Stadtgröße, wird in Rio de Janeiro als eine von der Größe der Stadt tendenziell unmöglich gemachte Funktion dargestellt (I15). 107 Notwendig sei dafür die Wiederherstellung der „Autorität“ der Behörden bzw. des „Respekts“ der Bevölkerung vor dieser. Endgültiges Ziel müsse es sein, die Präsenz des Staates wieder herzustellen und „kohärente Politiken“ umzusetzen. Damit verbunden ist auch die Diagnose, dass der Staat sich zurückgezogen habe, es unterlassen habe, „kohärente Politiken“ im Hinblick auf Wohnen, Verkehr, Einkommen und Wirtschaft zu entwickeln, unter dem Vorwand der Toleranz gegenüber „sozialen Problemen“ (I17). 108 Auch São Paulo hat einen der ‚Befriedungspolizei‘ ähnlichen Einsatz: Die ‚Operation Saturation‘ (Operação Saturação), ausgeführt von der Militärpolizei, eingesetzt von der Regierung des Bundesstaates São Paulo. Besonders betroffen von dieser ‚Operation‘ ist die Favela Paraisópolis, eine der bekanntesten und größten Favelas São Paulos, die direkt an eine der hochwertigsten Wohngegenden, Morumbi, angrenzt. Zum 01.03.2013 haben Bewohner_innen der Favela eine Dokumentation für den Bürgermeister von São Paulo vorbereitet, in der die Bedrohung, welche für die Bewohner_innen von der zweiten Besetzung seit 2009 ausgeht, belegt wird. Neben dieser ‚Operation‘ werfen auch die in den letzten Jahren vermehrt registrierten Brände in Favelas viele Fragen auf (das Ressort für Soziale, SMAS, gab einem Zeitungsbericht im September 2012 zufolge an, dass im Jahr 2012 knapp 1000 Familien obdachlos geworden waren im Zuge der Brände). Die Internet-Aktion Fogo no Barraco sammelt Daten über Brände und in Wert gesetzte Gebiete in São Paulo, die in einer interaktiven Google-Maps Karte festgehalten werden. Auch die Medien haben mittlerweile die die Frage aufgegriffen, ob diese Brände noch als zufällige Vor-

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Ordnungscharakter verbunden – der sich von reiner Repression insofern unterscheidet, als damit die Veränderung, aber nicht die Auflösung bestehender Strukturen verbunden ist. Gleichwohl trägt auch die Ordnungspolitik teilweise repressive Züge, nicht nur bei der „Befriedung“ von „besetzten“ Gebieten, sondern auch bei der Bekämpfung ‚informeller‘ Aktivitäten (z.B. der Verkauf von Raubkopien) und den wieder verstärkten Umsiedelungen.109 Die „Befriedungspolitik“ selbst, die ein Gemeinschaftsprojekt von Stadt und Bundesstaat ist, ist dabei nicht zufällig von einer recht bellizistischen Wortwahl geprägt: Ziel ist dabei die Wiederherstellung einer „territorialen Herrschaft“ (I16). Die Ausrichtung der Stadtpolitik in Recife stellt in allen Bereichen einen Kontrast zu der in São Paulo und Rio de Janeiro dar. So ist der Arbeitsbereich des ‚Ordnungsamtes‘ insgesamt als städtische Kontrolle konzipiert, das vorrangige Aufgabengebiet wird in der Überprüfung der planungsrechtlichen Bestimmungen gesehen. Im Wohnressort wird ein grundsätzlicher Ordnungscharakter auf ‚informelle‘ Siedlungen in Risikogebieten (etwa: Schwemmland und Uferbebauung) eingeschränkt (I19). An erster Stelle steht aber über die Ressorts hinweg die Dialoggestaltung: „In der aktuellen Verwaltung, sie ist eine Verwaltung, deren prinzipieller Punkt, deren politische Philosophie die Verhandlung, die Partizipation, die Interaktion ist, nicht wahr? Damit ist als Kennzeichen verbunden, dass wir immer zuhören, uns unterhalten, zum Dialog aufrufen, zur Beteiligung aufrufen, und das ist schließlich arbeitsaufwändiger als einfach zu sagen: Hier ist das Gesetz, halt es ein!“ (I18)

Zusätzlich zum Dialog kommt der Stadtpolitik aus der Sicht des Beteiligungsressorts die Mobilisierung für und die Gestaltung und Umsetzung der institutionalisierten Partizipation zu: „[Die Aufgabe] der Regierung ist es an erster Stelle, und das sag ich auch hier immer meinem Team, den Prozess maßgeblich anzukurbeln. Wir müssen die .. die Regierung ist der Agent, der.. Warum? Weil wir nicht einen Prozess von der Basis zur Regierung erlefälle gewertet werden können. Vorrangig scheinen sie in Favelas auszubrechen, die in stark in Wert gesetzten Gebieten liegen. Beklagt wird auch, dass die Ermittlungen kaum vorangetrieben werden. 109 Der verstärkte Charakter von Umsiedlungen steht dabei nicht im Kontext der zum Teil notwendigen Umsiedlungen im Rahmen der Wohnpolitik. Stattdessen sind die Umsiedlungen heute im Rahmen von großen Infrastrukturprojekten, die mit der Ausrichtung der Großevents (Fußballweltmeisterschaft und Olympia) begründet werden, verbunden.

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ben. Es ist anders. Wir versuchen als Regierung diese Idee umzusetzen. Das Programm umsetzen, umgesetzt haben wir es schon, die Idee aber zu konsolidieren ist ein Prozess. Was müssen wir also sein? Ein Stimulator. Und es ist auch Aufgabe der Regierung, den Prozess zu finanzieren. Also, alle infrastrukturellen Voraussetzungen und den Ablauf des Partizipationsprozesses [...]. Und es ist Aufgabe der Regierung, die Beschlüsse der Bevölkerung einzuhalten und die notwendigen Erläuterungen zu liefern, welche die demokratischen Räume des OP benötigen. Das sind die prinzipiellen Funktionen der Regierung.“ (I27)

Mobilisierung und Dialoggestaltung werden also innerhalb des Verwaltungsdiskurses die größere Bedeutung zugesprochen, wohingegen Kontrollfunktionen mit einem gewissen Pragmatismus versehen werden. Grundlegendes Moment der Stadtpolitik Porto Alegres schließlich ist, wie in Recife, eine intermediäre Funktion der staatlichen Akteure: Als Ziele werden der Dialogs mit und die Nähe zur Bevölkerung formuliert. Allerdings zeigt sich im Rahmen der ‚Lokalen Governance‘-Politik, dass sie sich vor allem als Vermittler zwischen lokalen Gemeinschaften und Unternehmen versteht und ihre Hauptaufgabe im Anregen privater Eigeninitiative sieht (I4). Auch in den Bereichen, die Kontrollaufgaben übernehmen, wird eine dialogische Herangehensweise betont – etwa in Bezug auf das Camelôdromo, das ‚Shopping Center‘ für den ‚formalisierten‘ Straßenhandel, dessen Errichtung ein umfangreicher Verständigungsprozess vorweggegangen sein soll. Der Vermittlungscharakter wird weniger deutlich in der Arbeitspolitik, wo nach den Angaben der SMIC der Fokus auf Qualifizierung liegt. Damit wird weniger eine korrektive, sondern präventive Intervention in den Arbeitsmarkt betont. Auch bei der ‚Eindämmung‘ des ‚informellen‘ Handels im Zentrum Porto Alegres soll ein „frühzeitiges“ Handeln die Politik anleiten. Das Zentrum ist seit langem der Fokus von Kontroll- und Ordnungsmaßnahmen – man könnte auch sagen, dass die von der Politik bezweckte (Wieder-)Herstellung von ‚Ordnung‘ bereits stattgefunden hat, so dass es nicht überraschend ist, dass der Fokus nunmehr stärker auf Kontrolle liegt. Das heißt, dass in Porto Alegre der Dialogcharakter der Regierung ebenso stark wie in Recife im Vordergrund steht, gleichzeitig wird aber auch der Kontrollcharakter stark hervorgehoben. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Befragten in beiden ‚Megastädten‘ einen negativen Blick auf die Bedingtheit lokaler Politik und Planung werfen, während diese in den beiden Großstädten überwiegend positiv eingeschätzt wird. Bezug genommen wird dabei auf Größe und Diversität in São Paulo, auf die Entwicklungsdynamik in Rio de Janeiro, aber auch auf Kennzeichen einer lokalen ‚politischen Kultur‘ (Konservativismus bzw. Klientelismus).

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Dem steht aber eine neutral-positive Bewertung der politisch-institutionellen Voraussetzungen lokaler Politik und Planung gegenüber, vor allem im Hinblick auf Fachkompetenzen und Kompetenzzuweisungen. Die ‚widrigen‘ Umstände, mit denen sich die lokale Regierung konfrontiert sieht, wirken hier als Legitimierung für mögliche Ineffektivitäten und das Fehlen von Lösungsansätzen. Lokale Politik und Planung wird dabei ihrem Verständnis nach aber auch tendenziell entkoppelt von den städtischen Gegebenheiten der Dimension und (Eigen-) Dynamik. Das ‚Ganze‘ der Stadt ist dann zwar Bezugspunkt, aber negativer Bezugspunkt der Politik und Planung. Nachfolgende Tabelle zeigt die zentralen Ergebnisse zu den konzeptionellen Leitideen. Administrative Dezentralisierung (territorial-institutionell) wird insbesondere in São Paulo hervorgehoben, während in den anderen Städten auf administrative Dezentralisierung mehr im Sinne einer best practice rekurriert wird – wenn überhaupt. Es wird aber auch deutlich, dass bei den unterschiedenen Formen der Dezentralisierung eine politische Dezentralisierung noch nicht einmal als Bezugsgröße auftaucht in São Paulo. In Rio de Janeiro wird sie zumindest angestrebt und in den beiden Großstädten in den institutionalisierten Beteiligungsverfahren umgesetzt. In São Paulo kann also auf eine hohe Zentralisierung politischer Entscheidungsmacht geschlossen werden, die von einer rein administrativen Dezentralisierung nur im Sinne erweiterter Verwaltbarkeit ergänzt wird. Tabelle 4: Konzeptionelle Leitideen  

São Paulo 

Rio de Janeiro

Porto Alegre

Recife 

Dezentrali‐ sierung 

„Absolute  Notwendigkeit“    Unterschei‐ dung:  akteursbezo‐ gen, wissensbe‐ zogen, territori‐ al‐institutionell aktuelle Ten‐ denz  (Regierung –  organisierte  Zivilgesell‐ schaft) 

Ziel (angesichts  hoher Zentrali‐ sierung)    Unterschei‐ dung:   territorial,  fachlich, poli‐ tisch aktuelle Ten‐ denz  (Regierung –  organisierte  Zivilgesell‐ schaft)

„Mittel zum  Zweck“ (bei  hoher Zentrali‐ sierung)    Auch: Beteili‐ gungsverfahren 

Ambivalenz  (infrastrukturell  notwendig,  planerisch  unnötig)    Auch: Beteili‐ gungsverfahren 

Institutionali‐ sierte Beteili‐ gunsprozesse  (Regierung ‐  Bevölkerung) 

Institutionali‐ sierte Beteili‐ gunsprozesse  (Regierung ‐  Bevölkerung) 

Akteursplu‐ ralisierung 

Was die Akteurspluralisierung betrifft, so wird die zunehmende Mitsprache unterschiedlicher politischer Akteure in den beiden ‚Megastädten‘ als gegeben betrachtet. Das wird nicht nur als Schwierigkeit, sondern auch als Chance begriffen; der Dialog mit privatwirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren

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steht dabei im Vordergrund, während die politisch nicht organisierte Bevölkerung nicht angesprochen wird. Gegenteiliges ist in Recife und Porto Alegre der Fall, wo institutionalisierte Beteiligungsverfahren im Vordergrund stehen. Akteurspluralisierung hat also in den beiden ‚Megastädten‘ zwar möglicherweise den Effekt einer tendenziellen Dekonzentration von Entscheidungsmacht, ist darin aber selektiv und nicht von einem basisdemokratischen Verständnis getragen, das potentiell alle Bewohner_innen der Stadt ansprechen würde, sondern sucht eher gezielt nach Partnern. Diese Einblicke lassen sich auch mit dem Rollenverständnis lokaler Politik und Planung, wie es in den Interviews zum Ausdruck gebracht wird, erklären. Fokus in den beiden Megastädten liegt auf einer ‚Wieder-/Herstellung geordneter Verhältnisse‘. Darin kommt eine zwar aktive, aber auch tendenziell repressive Haltung der Politik zum Ausdruck. Die großstädtischen Expert_innen bringen dagegen ein prinzipielles Dialogverständnis zum Ausdruck. Zumindest dem Anspruch nach ist dieses Verständnis umfassend, da es sich an potentiell alle Bewohner_innen der Städte richtet. Der Ordnungscharakter als aktive Rolle der Stadtregierung schwächt sich in beiden Großstädten zu einem Kontrollcharakter ab. Eine hohe Konzentration an Entscheidungsmacht lässt sich also für die beiden ‚Megastädte‘ als charakteristisch herausarbeiten. Sie basiert auf einer negativen Beurteilung der städtischen Gegebenheiten als von der lokalen Politik und Planung losgelöst, denen diese wiederum ordnend im Sinne einer nachträglichen Herstellung von Ordnung entgegentreten muss. b) Stadtgröße als Faktor der Stadtpolitik Größe in Bezug auf ihre Dimension und ihre Dynamik spielt in diversen Ausprägungen eine Rolle für die Stadtregierungen.110 In den Äußerungen der Befragten finden sich (i) rein quantitative oder graduelle Bezüge genauso wie qualitative Unterscheidungen, die damit verbunden werden. Letztere lassen sich in (ii) ma110 In den Interviews mit den Expert_innen konnten Bewertungen und Einschätzungen von Stadtgröße identifiziert werden. Hierfür wurde jede Bezugnahme auf Dimension und Dynamik der Befragten aufgegriffen und durch offenes Codieren verdichtet auf die in den Aussagen zum Ausdruck kommende Bezugnahme auf Größe und Wachstum. Die Leitfadeninterviews waren dabei so konzipiert, dass vor allem im Rahmen der themenspezifischen Fragen zum Arbeitsfeld (2.) und der persönlichen Einschätzungen (4.) gezielte Nachfragen gestellt wurden zur Bedeutung von Dimension und Dynamik in Bezug auf konkrete, thematisierte Fragen – sofern nicht in der Aussage bereits eine solche Bezugnahme erkennbar war. Zum Aufbau der Leitfadeninterviews siehe Kapitel A.IV.

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terielle, (iii) politisch-institutionelle und (iv) strukturelle Bedeutungen und Effekte von Stadtgröße unterteilen. (i) Unter quantitativen Aspekten der Stadtgröße wird eine reine Bezugnahme auf ein Mehr oder Weniger verstanden. Hierbei wird auf die Bevölkerungsgröße, die Ausdehnung sowie die sich dadurch ergebende Dispersion, aber auch die quantitative (pro Kopf-)Versorgungsleistung und das Ausmaß an Problemstellungen Bezug genommen. Graduelle Aspekte verbinden mit dem quantitativen Unterschied eine bedeutsame, wenn auch nicht kategoriale Unterscheidung. Stattdessen geht dabei mit dem quantitativen ein stufenweiser Unterschied einher. Hierunter sind Relationssetzungen wie die Bedeutung der Städte und ihre Vergleichbarkeit eingeordnet, aber auch Komplexität und ‚chaotische Entwicklung‘. Quantitative Aspekte und graduelle Effekte von Stadtgröße werden fast ausschließlich von Expert_innen in São Paulo und Rio de Janeiro benannt. In São Paulo werden in quantitativer Hinsicht insbesondere die territoriale Ausdehnung, aber auch Bevölkerungszahl, komplexe Problemstellungen und geringere pro-Kopf Versorgungsleistung problematisiert;111 in Rio de Janeiro wird neben der Bevölkerungszahl auch auf das gesteigerte Ausmaß der Problemstellungen und die Wachstumsgeschwindigkeit112 verwiesen. Für Porto Alegre wird dagegen die ‚geringe‘ Größe als Vorteil benannt (im Sinne der Erreichbarkeit unterschiedlicher Orte, I6), während die ‚geringe‘ Größe für Recife als Problem hinsichtlich der Ausdehnung gesehen wird (I18/I21). In gradueller Hinsicht werden in São Paulo auch positive bewertete Effekte der Größe benannt (politische und ökonomische Bedeutung und deren Verhältnismäßigkeit zur Größe, I11, I1), aber auch hier dominieren negative Zuschreibungen in den beiden größeren Städten.113 In Recife kommt vor allem eine Relationalität zum Ausdruck: zum 111 Streuung und Verdichtung werden im Hinblick auf die territoriale Ausdehnung gleichermaßen als Probleme gesehen (I11, I1). Dabei spielt das Phänomen an sich keine ausschlaggebende Rolle, sondern es sind vor allem zwei Effekte, welche die Ausdehnung mit sich bringt: Die institutionelle Notwendigkeit einer extremen Reichweite der Politik (s. institutionelle Bedeutungen und Effekte) sowie der negative Effekt auf die Mobilität (s. materielle effekte und Bedeutungen). 112 Ein eher anachronistischer Bezug, der mit der tatsächlichen Entwicklung Rios, die seit Jahrzehnten langsamer als die vieler anderer brasilianischer Städte, São Paulo eingeschlossen, nicht im Einklang steht. Aber natürlich wächst auch Rio de Janeiro in absoluten Zahlen immer noch beachtlich. 113 Negative Konsequenzen des Wachstums im Allgemeinen (I11); eine chaotische Gesamtentwicklung (I2); das besondere Ausmaß an Komplexität, das sich negativ auf das Ausmaß an Problemstellungen auswirkt (I26); die Produktion von Problemen auf „übergeordnetem Niveau“ (I16)

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einen zwischen der geringen Größe und der Verdichtung von Problemen, zum anderen zwischen der demographischen und ökonomischen Entwicklung.114 Verschwindend gering ist die Bedeutung von quantitativen Aspekten und graduellen Effekten von Stadtgröße insgesamt in Porto Alegre. Damit geht eine größenrelevante Unterscheidung zwischen den vier Städten einher, wobei vor allem für São Paulo eine zentrale (und negative) Bezugnahme auf Größe zu verzeichnen ist. (ii) Als materielle Bedeutungen und Effekte von Stadtgröße lassen sich aus den Interviews drei thematische Bezüge gewinnen: Finanzierungsaspekte, Infrastrukturen und städtische Umwelt. Problematisiert wird die materielle Seite von Größe auch hierzu fast ausschließlich von den Expert_innen in den beiden größeren Städten, in Rio de Janeiro und insbesondere in São Paulo. Dabei ist vor allen Dingen der Effekt der Ausdehnung auf Verkehr und Mobilität zu nennen, was in Rio de Janeiro als ‚Schlüsselfrage‘ (I14) ausgewiesen wird und in São Paulo neben der generellen Mobilitäteinschränkung durch die erhöhten Distanzen (I26, I11, I1) mit ungleichen Zugangschancen in Verbindung gebracht wird und so als doppelte Mobilitätseinschränkung bezeichnet wird (I26).115 Zu den Schwierigkeiten der Finanzierung wird auch die Überbelastung der administrativ-institutionellen Kapazitäten ergänzt. In den beiden kleineren Städten werden diese Effekte eher positiv gesehen bzw. wird gerade die geringere Größe hervorgehoben, insbesondere im Hinblick auf Nachhaltigkeit (I21). Damit wird die größenrelevante Unterscheidung bestätigt. (iii) Als politisch-institutionelle Bedeutungen der Stadtgröße lassen sich den Expert_inneninterviews drei Themenbereiche entnehmen: die Regier- und Verwaltbarkeit, die Ein- und Umsetzbarkeit politische Instrumente sowie die Reichweite der Politik.116 Die Befragten bringen hier lediglich Bedeutungen, also direkte Zusammenhänge von Größe und städtischer Regierung zum Ausdruck, und zwar in positiver Weise für Porto Alegre und Recife, in negativer Weise für 114 Dabei ist vom unausgeglichenen demographischen und ökonomischen Wachstum (I19) die Rede, sowie von der Frage der Vergleichbarkeit (insofern als Recife in Bezug auf Straßen- und StrandhändlerInnen eigentlich nur mit Rio vergleichbar wäre, I18) bzw. Unvergleichbarkeit (insofern als São Paulo als nicht vergleichbar gilt, I19). Größe per se wird nicht als Problem identifiziert. 115 Außerdem spielen Probleme der Nachhaltigkeit (I16) und Umweltverschmutzung (I10) sowie die Bereitstellungsproblematik beim Thema Infrastruktur angesichts der quantitativen Dimension (Verkehr, Energie und Beleuchtung, I1) eine Rolle. 116 Als institutionelle Bezüge wurden in den Interviews jene Aussagen gewertet, die Dimension und Dynamik der jeweiligen Stadt als relevant für die Effektivität der lokalen Regierung, Verwaltung und konkreter Instrumente derselben erachten.

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São Paulo und Rio de Janeiro. In den kleineren Städten werden dabei eine gute Verwaltbarkeit, ein effektiver Einsatz politischer Instrumente und deren Umsetzbarkeit mit der geringen Ausdehnung positiv in Verbindung gebracht (I6, I5, I27, I18). In den beiden größeren Städten werden dagegen eine eingeschränkte Regier- und Verwaltbarkeit, die Überbelastung institutioneller Kapazitäten sowie eine eingeschränkte Reichweite der Politik moniert.117 Wieder wird hier über den Diskurs der politisch-planerischen Akteur_innen also größenrelevante Unterscheidungen produziert. (iv) Als strukturelle Aspekte von Stadtgröße werden schließlich Nennungen der Befragten begriffen, die auf Differenzierung und Heterogenität, Interaktionen und Desintegration sowie auf die Lebensqualität in und die Erfahrbarkeit der Städte anspielen. Insbesondere in São Paulo werden solche strukturellen Bedeutungen der Stadtgröße für die Politik und Planung als erhöhte Heterogenität und Komplexität dargestellt, wodurch eine Bearbeitung bestimmter Probleme durch die Stadtregierung erschwert würde. So wird insbesondere die sozialräumliche Differenzierung hervorgehoben: „[…] Die Stadt trägt viele andere Städte in sich. Und die Leute organisieren sich in derjenigen Stadt, innerhalb derer sie ein Gemeinschaftsleben haben. Das heißt, sie [die Stadt, São Paulo] könnte eigentlich viel größer sein. Manche Probleme sind dagegen universell. Der Verkehr ist ein Problem, das alle trifft, die Luftverschmutzung auch. Wenn man also den Verkehr und die Umwelt weglässt, so sind die anderen Fragen alle punktuell, es sind alles interne Mini-Städte. Das wäre nicht, das wäre unmöglich zu verwalten. [...]“ (I10)

Auch im Hinblick auf strukturelle Effekte von Stadtgröße bewerten die Expert_innen der Stadtverwaltungen ihre Städte unterschiedlich: Während in Recife und Porto Alegre eine relativ hohe Lebensqualität und (politisch-kulturelle) Homogenität wahrgenommen werden, bemerken die Befragten für Rio de Janeiro und São Paulo stärker desintegrative Wirkungen auf der Ebene sozialer 117 In Rio de Janeiro wird Größe im Rahmen der eingeschränkten Regier- und Verwaltbarkeit verantwortlich gemacht für Schwierigkeiten bei der Kontrolle von Regelbrüchen in der Stadtentwicklung, weshalb für eine größere Ungenauigkeit in den Regularien plädiert wird: „[...] indem man die Norm sehr detailliert macht, würde ich sagen, führt man letztlich die Irregularität herbei, weil man die Anwendung des Gesetzes so kompliziert macht, dass die Leute es aufgeben, sich danach zu richten. Und weil die Kontrollkapazität in einer Stadt dieser Größe nur mangelhaft ist, provoziert man das am Ende.“ (I15) Dabei wird nicht nur die Kontrolle problematisiert. Auch die Möglichkeiten, Lösungen für Probleme zu finden, werden als eingeschränkt wahrgenommen (I16).

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Interaktionen. Hier werden ‚mangelndes Bürgerbewusstsein‘ (I11), ein fehlendes Zugehörigkeitsgefühl (I10) und ein Klima der Unsicherheit und des Misstrauens (I10) beanstandet, sowie die extreme Ungleichheit und daraus erwachsende Unzufriedenheit und Gewalt (I16). In São Paulo wird außerdem die Erfahrbarkeit der Stadt in Frage gestellt, was sich auch negativ auf den möglichen Kenntnisstand über eine Stadt und damit die Bearbeitbarkeit durch Politik und Planung auswirke (I11). Insgesamt zeigen sich hier also deutliche Differenzen bei der Bezugnahme auf die Stadtgröße von Seiten der politisch-planerischen Akteur_innen. Dabei ist es weniger die Tatsache, dass die Befragten sich dazu äußern, sondern in welcher Weise die Bezugnahme auf Stadtgröße in ihrem Diskurs über die jeweilige Stadt wirkt: Die vorrangig negative Bezugnahme auf Stadtgröße in São Paulo und Rio de Janeiro wirkt legitimatorisch für eine Stadtpolitik, die vielfach als defizitär angesehen wird (konservative, klientelistische, an Wahlen ausgerichtete Politik, nachträgliche Herstellung von Ordnung). Die häufig positive Bezugnahme auf Stadtgröße in den beiden Millionenstädten Porto Alegre und Recife dagegen lässt angesichts der sehr affirmativen Haltung der Befragten gegenüber der Stadtpolitik, deren Handlungsspielraum als bearbeitbar erscheinen. Sie erweckt so den Anschein einer Konstellation, innerhalb derer institutionelle und strukturelle Bedingungen in einem Entsprechungsverhältnis stehen. 3.2 Die Gestaltung von Größe – Planungsentwürfe und Dezentralisierungsbemühungen Lokale Politik und Planung werden in dieser Arbeit in ihrem Verhältnis zur Größe der ausgewählten Städte untersucht. Darunter wird aber nicht verstanden, dass sich Politik und Planung und die Größe einer Stadt bzw. die Stadt selbst als Kontext oder als Gegebenheit gegenüber stehen. Stattdessen geht es darum, wie die politisch-planerischen Akteure die Städte, die sie in ihrem Tun zu gestalten suchen, wahrnehmen und wie die Gestaltungsversuche sich auf diese Wahrnehmungen beziehen. Nachdem sich das vorangegangene Kapitel dem Thema der Perzeption und den von den befragten Akteuren identifizierten Bedeutungen der Stadtgröße gewidmet hat, geht es im Folgenden um die Frage der Gestaltung. Sie wird anhand von (a) Planungsentwürfen als Versuche der Konzipierung von Gesamtzusammenhängen im Lichte der jeweiligen Planungsverständnisse und (b) Dezentralisierungsbemühungen als Aufteilung von Entscheidungsmacht im Sinne einer Herstellung von Regierbarkeit über Beteiligung untersucht.

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a) Planung als Konzipierung eines ‚Ganzen‘? Entwirft sich die Planung in den Städten als Vorstellung vom ‚Ganzen‘? Stellt sie über die Entwürfe von der jeweiligen Stadt Gesamtentwürfe her, die etwas Verbindendes charakterisieren und herstellen? In Brasilien sind seit 2001 alle Städte mit mehr als 20.000 Einwohnern qua gesetzlichem Estatuto da Cidade (Stadtstatut) dazu verpflichtet, einen Plano Diretor zu entwerfen. Laut Estatuto da Cidade ist der Plano Diretor das „grundlegende Instrument der Politik zur Stadtentwicklung und -erweiterung“ (Art. 40, Übers. JH).118 Es handelt sich dabei also um strategische und gesamtstädtische Rahmen- bzw. Masterpläne. In einem partizipativen Prozess soll eine grundlegende ‚Diagnose‘ der jeweiligen Stadt erstellt werden. Darauf aufbauend werden Schwerpunkte und Instrumente der mittel- und langfristigen Stadtentwicklung festgelegt. Diese Pläne sind also in besonderer Weise als Ausdruck eines Denkens der Stadt als ‚Ganzer‘ zu sehen – zumindest ist das der Auftrag, der sich an die Stadtplanung damit richtet. Freilich gehen die Pläne auch mit Flächennutzungsbestimmungen einher, die als räumliche Unterteilung gedacht werden können. Was hier aber am Verständnis der Pläne interessiert und in den Kontext der Untersuchung von Größenunterschieden zwischen den vier Städten gestellt wird, ist die Grundvorstellung von den Städten als Gesamtbezugsrahmen für die Planung. Diese konkrete Aufgabe der Planung steht im Kontext ihres prinzipiellen Selbstverständnisses. Der Stadtplanungsforscher Carlos E. Sartor hebt hervor, dass die Orientierung an internationalen (westlichen) Vorstellungen der Stadtentwicklung historisch wie aktuell ausgeprägt ist (Sartor 2000).119 In jüngerer 118 Die Ausarbeitung von Planos Diretores, die als strategische und gesamtstädtische Rahmen- bzw. Masterpläne betrachtet werden können, hat in Brasilien viel Aufmerksamkeit erhalten. Das ist zunächst darauf zurückzuführen, dass der Prozess vorbereitet wurde durch detaillierte Analysen der jeweiligen Städte. Zum zweiten wurden in die ambitionierten, gesamtstädtischen Masterpläne starke Hoffnungen und weitreichende Erwartungen gelegt. Und schließlich, drittens, aufgrund der Enttäuschung, die der Erkenntnis folgte, dass die Pläne zwar als visionär, aber doch illusionär zu sehen sind, insofern als aus ihnen keinerlei praktische Konsequenzen hervorgegangen sind (s. Martins 2003; Villaca 2005). Dennoch kann der Prozess der Ausarbeitung als exemplarisch gesehen werden im Hinblick auf die Formulierung von Sichtweisen auf und Visionen für die hier untersuchten Städte. 119 Für Rio de Janeiro arbeitet Sartor die unterschiedlichen, historischen Bezüge der Stadtplanung an internationalen (westlichen) Tendenzen heraus, angefangen von der der Orientierung an den Haussmann’schen Boulevards (Passos, 1902-1906), über den ersten umfassenden Vorschlag zu einer modernen Remodellierung der Stadt (Agache, 1926), über einen dem Funktionalismus und der autogerechten Stadt ver-

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Zeit zeigt sich in seiner Analyse des Programa Rio Cidade (PRC, 1993-2008) ein paradigmatischer Wandel: Zum einen ziele das Programm nicht auf eine radikale Stadterneuerung, sondern auf punktuelle ‚Requalifizierung‘ (ein nicht ungewöhnlicher Ansatz im internationalen Vergleich); zum anderen sei damit eine Rückkehr zur ‚planerischen Intuition‘ verbunden – anders als in der auf exakten Berechnungen und multidisziplinären Blickwinkeln beruhenden Planung; und schließlich würden die Straßen wieder als qualitative, nicht rein funktionale Räume begriffen. Die Stadt wird darin eben nicht mehr in ihrer ‚Gänze‘ als geordnete Struktur, sondern als Chaos betrachtet wird, was den Blick auf die einzelnen Teile (Straßen, Viertel) rückt, welche zu ordnen sind. Die Orte werden zu Elementen der Ordnung von Diversität und verlieren ihren Charakter als Orte der Begegnung (ebd.:78–80). Daran kritisiert er die punktuelle Projekthaftigkeit der Planung, welche einen übergeordneten Blick für die Stadt aufgibt. Hinzufügen ließe sich, dass aus dieser Logik heraus das ‚Ganze‘ das Chaos ist, während die Einzelteile (Fragmente) Gegenstand einer punktuell ordnenden Planung sind. Spiegelt sich ein solcher Blick auf die Städte in den Selbstverständnissen der Planung wieder? Oder lassen sich andere Verständnisse eines Denkens von Gesamtzusammenhängen im Kontext der Entwürfe der Städte erkennen? Aus den Interviews lässt sich entnehmen, dass sich in Rio de Janeiro der bereits im Rollenverständnis der Politik identifizierte Ordnungscharakter auch im schriebenen Plan (Doxiadis, 1963), bis hin zum multidisziplinären, auf statistischen Berechnungen beruhenden Ansatz (Plano Urbanístico Básico, 1977). Sartors grundlegende Kritik am PRC zielt darauf ab, dass sich das PRC vom Modell einer modernen, als inklusiv gedachten Stadt verabschiedet, und stattdessen auf punktuelle Interventionen im Rahmen von Projektarbeit und auf Ästhetisierung statt soziale Fragen setzt. Fraglich bleibt dabei, inwiefern das Modell der inklusiven modernen Stadt wirklich jemals alltagsrelevante Bedeutung erlangt hat. Ausgangspunkt des PRC sei die Problematisierung, dass mit den vorherigen Ansätzen der Stadtplanung das Tätigkeitsfeld derselben entleert worden sei. Dementsprechend ziele das PRC vor allem auf eine Wiederbelebung eben jenes Tätigkeitsfeldes im Rahmen projektbezogener Baudurchführung (ebd.:67f.). Inhaltlicher Ausgangspunkt des Programmes sei die städtische Unordnung und das Chaos, wovon insbesondere öffentliche Plätze geprägt wären. Aus der Sicht der Ordnung und „Requalifizierung“ einzelner Orte heraus erscheint die Stadt als ‚Ganze‘ dann nur noch aus planerischer Sicht konstituiert, nicht als gesellschaftlich oder sozial gedachtes ‚Ganzes‘ (ebd.:74ff.). Darin angelegt sei zwar der Vorschlag einer (territorialen) Dezentralisierung durch die Stärkung von Viertelstrukturen. Allerdings verbergen sich dahinter einzig die Stärkung bereits bestehender Zentralitäten, und nicht die Neuschaffung von Zentralitäten, weshalb bestehende Infrastrukturungleichheiten betont würden (ebd.:77).

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Planungsverständnis bestätigt. Zentraler Bezugspunkt der Planung ist das Thema ‚Informalität‘, insbesondere im Hinblick auf Wohnen. Damit ist zunächst das „ungeordnete“ und „informelle“ Siedeln in Form der Favelas gemeint. Doch beschränken sich ‚Informalität‘ und ‚Unordnung‘ nicht allein auf die berühmten Armensiedlungen auf den Hügeln, sondern schließen auch irreguläre Entwicklungen im Rahmen hochpreisiger Immobilienprojekte mit ein. Was leitet dabei die Planung in ihrem Vorgehen an, was sind ihre Ziele? Sowohl im Ressort für ‚Öffentliche Ordnung‘ als auch dem für Stadtplanung selbst kann die Herstellung von Integration über Regularien als Prinzip ausgemacht werden. Regulative Mechanismen werden also zum Hauptbezugspunkt einer städtischen Integration gemacht. Die „Demokratie der Unordnung“ solle in eine egalitäre Durchsetzung öffentlicher Ordnung übersetzt werden, unabhängig vom Einkommen oder den sozialen Beziehungen derer, die gegen diese verstoßen. Aber genauso solle Armut nicht mehr als Entschuldigung für informelles Bauen geltend gemacht werden können – ob hier tatsächlich eine ‚Demokratie‘ der ordnenden Interventionen greift, ist fraglich angesichts ausgeprägt klientelistischer Verhältnisse und starker Machtasymmetrien. Obwohl die Regularien starker Bezugspunkt sind für die Stadtplanung, scheint sich die tatsächlich umgesetzte Planung von der regelgeleiteten Integration eher zu distanzieren. Von der befragten Expertin wird sie als technizistischer Vorgang interpretiert (I15). Damit verweist sie auf die von Sartor besprochenen punktuellen Ansätze, die einer umfassenden Lösung zwar gegenüberstehen, aber nicht widersprechen. Auch die Umsetzung einer umfassenderen Planung wird in Rio als wenig effizient eingestuft (I15). Hier kommt die Rahmenplanung im Kontext der Masterpläne ins Spiel. Der Masterplan von Rio de Janeiro habe als generelles Gesetz im Vergleich zu anderen Masterplänen einen geringen Detaillierungsgrad, und sei deshalb hochgradig abhängig von weiteren Regularien. In Rio de Janeiro stehen sich also die grundsätzliche Ausrichtung der Planung an der ‚Informalität‘ und deren Formalisierung einander gegenüber – oder besser: nebeneinander. Wie bereits in der Untersuchung zur Rolle der Stadtregierung herausgearbeitet, handelt es sich hierbei um einen Ansatz, der als ‚Ordnung statt Planung‘ beschrieben werden kann. Dort, wo präventive Maßnahmen getroffen werden könnten, scheinen sie nicht realisiert zu werden. Die prinzipielle Ausrichtung an den Regularien erscheint zwar in sich logisch und stimmig, aber konkrete Praxis und theoretische Ausrichtung stehen in einem unklaren Verhältnis zueinander und widersprechen sich zuweilen. Dabei zeigt sich ein Missverhältnis zwischen den tatsächlich umgesetzten, punktuellen Ansätzen und der von Sartor (2000) als unerreicht aber notwendig erachteten umfassenden Perspektive bei der Entwicklung von Lösungsansätzen.

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In São Paulo wird der Ordnungs- und Kontrollcharakter durch die Planung verstärkt, wobei der zentrale Bezugspunkt das ‚Chaos‘ ist. Dabei ist das ‚Chaos‘ ein umfassendes Prinzip, das sich nicht ausschließlich auf den Bereich der ‚Informalität‘ bezieht, sondern Verkehr, Gesundheit, Hygiene, Einrichtungen/Behörden und Erholung/Freizeit und [gemeinschaftliches] Zusammenleben) umfasst. Das Chaos wird als grundlegende Kraft charakterisiert, der sich die Planung gegenüber sieht: „Für uns schafft die Stadtplanung die Voraussetzungen für die Entwicklung einer menschlichen Siedlung. […] [Aber] [m]an bekommt das Gefühl, dass wir immer ein bisschen hinter den Dynamiken hinterher rennen. Heute haben wir begonnen, zu versuchen, dahin zu kommen. Mit heute meine ich bis vor 30 Jahren. Wir versuchen, vor dem Chaos anzukommen. Das ist nicht einfach. […] Das Chaos hat eine unglaubliche Fähigkeit, sich zu installieren. […] Wir würden gerne die Ankunft des Chaos antizipieren. […] Alle Planer versuchen entweder vorher anzukommen [...] oder zu organisieren.“ (I2)

Manche Formen des Chaos seien dabei augenscheinlicher als andere. Im Grunde läuft es darauf hinaus, dass die Planung eine Ordnungsfunktion übernimmt, weil eine tatsächliche „Planung“ im Sinne der Schaffung von „Voraussetzungen“ für eine geordnete Siedlungsentwicklung angesichts der unberechenbaren Entwicklung (und hier wird insbesondere migratorisches Wachstum genannt) nicht greifen kann. Aus den Äußerungen des Befragten der Stadtplanungsbehörde São Paulos lassen sich drei unterschiedlich realisierte Funktionen der Planung ableiten: Die eigentliche Kontrollfunktion der Planung besteht in der Perspektive des Befragten in einer Kombination aus Antizipation, Reorganisation und Gestaltung. Dabei steht die antizipierende, vorausschauende Kontrollfunktion mit dem Ziel einer mischfunktionalen, dezentralen Stadtstruktur, in der prinzipiell die Nähe von Arbeiten und Wohnen gegeben ist, im Vordergrund. Die mögliche Gestaltungs- und Bereitstellungsfunktion der Planung besteht im Einwirken auf eine Dezentralisierung mit dem Ziel der Entwicklung von Zentralitäten, um funktionale Trennungen zu vermeiden und funktionale Mischung (wieder-) herzustellen. Die Funktion der Planung ist dabei, alle notwendigen Bedingungen für diese Siedlungsentwicklung bereitzustellen. Die tatsächliche bzw. verwirklichte Funktion der Planung schließlich besteht in der (Wieder-)Herstellung von Ordnung, etwa über die ‚Re-Qualifizierung‘ („abreißen, konstruieren, beibehalten, konservieren, ausbauen“, I2) degradierter Gebiete, mit Schwerpunkten auf dem Zentrum sowie auf ehemals industriellen Arealen. Dabei spielt die Kooperation mit privaten Partnern eine wichtige Rolle. Denn die tatsächliche Umsetzung von Requalifizierungsmaßnahmen wird Investoren überlassen. Hier

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spiegelt sich also das prinzipielle Rollenverständnis der lokalen Politik, das in Kapitel C.3.1 gezeigt werden konnte. In São Paulo steht der Planung also mit dem ‚Chaos‘ ein umfassenderes Entwicklungsprinzip gegenüber als in Rio de Janeiro, mit seiner ordnungspolitischen Fixierung auf das Problem der ‚Informalität‘ des Wohnens. Auffallend ist, dass sowohl das ‚Chaos‘, als auch die ‚Informalität‘ des Wohnens in den Äußerungen der Befragten wie quasi naturgegebene Prinzipien erscheinen. Die Planung gleicht dann einer Sisyphusarbeit, auch wenn eine Umkehrung prinzipiell nicht unmöglich scheint. Tatsächlich findet sich die Planung in einer ordnenden Rolle (in der Wortwahl des Befragten: „organisierenden“), während die antizipierende Kontrolle ihr offenbar unmöglich erscheint. Gestaltungspotentiale scheinen mehr und mehr aus der staatlichen Hand in private Hände gegeben zu werden. Auch in Recife erhält der Kontrollcharakter der Planung eine starke Betonung. Der primäre Schwerpunkt der Planung gilt auch hier der ‚Informalität‘. Anders als in Rio liegt der Fokus jedoch nicht auf dem ‚informellen‘ Wohnen, sondern auf dem ‚informellen‘ Handel, insbesondere dem der Straßenhändler_innen im Zentrum.120 Dabei wird gleichzeitig problematisiert, dass die Kontrolle des informellen Handels kein dienlicher Ansatz sei, um das ‚Problem‘ zu lösen, weshalb die eigentliche Politikverantwortung dafür beim Arbeitsressort gesehen wird. Der Fokus liegt weniger auf der sozialen Dimension, denn auf der ökonomischen, insbesondere mit Blick auf den Tourismus. Die Befragte räumt ein, dass die Straßenhändler_innen aufgrund ihrer geringen Interessenorganisation kaum Einflussnahme ausüben könnten gegenüber den organisierten Interessen der Unternehmer_innen und Arbeitgeber_innen.121 Die negative Entwicklung 120 Ähnlich der Perspektive auf ‚informelle Siedlungen‘ in Rio gilt dieser als besonderes Kennzeichen der Stadt. Seine extreme Ausprägung, etwa im Vergleich zu Rio de Janeiro, wird begründet mit der hohen Armut und den Arbeitspendlern aus dem Bundesstaat und der Metropolregion. Bewertet wird er ausschließlich negativ, als starke Beeinträchtigung des öffentlichen Raumes und der Mobilität in der Stadt, schwerpunktmäßig im Zentrum. Verdeutlicht wird das an der Tatsache, dass die Händler Straßen und Gehwege schwierig passierbar machen. 121 „Interviewerin – Eine Sache ist mir jetzt aufgefallen, denn die Aktionen der ‚Städtischen Kontrolle‘ sind ja mehrheitlich ausgerichtet auf die Bevölkerung mit niedrigen Einkommen, allein schon deshalb, weil sie betroffen sind dadurch, dass sie diejenigen sind, die in diesen informellen Aktivitäten arbeiten. Aber wer als organisierte Gruppe auftaucht, wer starke Interessen artikuliert, das sind andere, die Unternehmer, Arbeitgeber? – Weil das heute ziemlich das Bild der Stadt, das man hat, beeinflusst, und das in einer Stadt, die sich über einen touristischen Kalender definiert. Du

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des Zentrums wird aber nicht ausschließlich auf den ‚informellen‘ Handel zurückgeführt. Für das Stadtplanungsamt stellt diese Entwicklung einen Schwerpunkt ihrer Beschäftigung dar, gerade weil sich die Elitezentralitäten in zunehmendem Maße zu autarken Regionen entwickeln würden und das Zentrum so einen Funktionsverlust erleidet.122 In den Fokus der Interventionen des Stadtplanungsamtes rückt im Rahmen der ‚Requalifizierung‘ des Zentrums die Beibehaltung traditionellen Handels sowie die Rückführung zu Wohnnutzung und die Planung öffentlicher Plätze und Grünflächen. Neben ‚Informalität‘ und Zentralität liegt der dritte Schwerpunkt schließlich auf Mobilität, insbesondere auf dem Ausbau und der weniger ungleich verteilten Anbindung an den öffentlichen Verkehr. Angesichts dieser Umstände und Schwerpunktsetzungen nimmt die Planung in ihrem Verständnis eine konzeptionelle und ausgleichende Ordnungsfunktion ein. Mit konzeptionell ist hier gemeint, dass Alternativen entwickelt werden für die Verkehrsproblematik wie auch für die Problematik des ‚informellen‘ Handels. Mit ausgleichend ist hier gemeint, dass zwar die bestehende Form des Handels kontrolliert und verboten werden soll, aber nicht ohne Alternativen für die Händler_innen zu schaffen (im Sinne eines Camelôdromos, eines ‚Volksshopping-Centers‘ wie in Porto Alegre). In Recife steht also auch ‚Informalität‘ im Vordergrund, die sowohl als strukturelles (infolge von Armut) als auch als kulturelles (infolge einer „Kultur der Eigengesetzlichkeit“, I18) Phänomen eingehst ins Zentrum der Stadt, und das Bild, das man hat, das ist kein angenehmes Bild, nicht mal für die, die hier leben. […] Also, dieses Bild einer degradierten, dreckigen Stadt [...]. Also ich denke, dass diese degradierte Stadt, ihr Zentrum mit diesem Armutsanstrich, den der informelle Handel mit sich bringt, das stört ziemlich. Und das ist eine Bombe, die jederzeit explodieren kann auf eine traumatische Art und Weise, wenn man sich nicht darum kümmert, nicht wahr? Und dann ist es effektiv so, dass derjenige... wenn man sich besser organisiert, so hat man auch eine größere Chance Vorteile zu erwerben, als wenn man sich nicht organisiert. Insofern als sie [die informellen Händler] sich nur organisieren, wenn sie sich eingeengt fühlen… Also, ich glaube, es ist eine Reihe von Sachen, fehlende Bildung, Ausbildung, und so.“ (I18) 122 „Zum Beispiel im Viertel von Boa Viagem, ich kann da sein und muss es nicht verlassen, ich kann mein ganzes Leben dort erledigen. Von der Arbeit bis zum Wochenmarkt, es gibt alles. Auf die gleiche Weise, wenn ich in die Zona Norte gehe, das Viertel Casa Forte ist heute […], es war mal viel stärker ein Wohnviertel. Aber heute wird es auch immer autonomer, nicht wahr? Und damit geben wir immer mehr das Zentrum der Stadt auf, und das ist eine aktuelle Sorge von uns heute, die Revitalisierung des Zentrums. So wie in allen Metropolen auch, nicht wahr?“ (I21)

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geordnet wird. Angesichts des betonten Beharrungsvermögens der Bewohner_innen Recifes wird auch eine erzieherische Funktion der Planung hin zu mehr ‚Regelbewusstsein‘ gefordert (I18). Dieser Ordnungs- und Erziehungscharakter wird noch ergänzt durch den Versuch einer Reorganisation städtischer Zentralitäten, wobei das Problem nicht zuletzt bei den höheren Einkommensgruppen gesehen wird. Insgesamt scheint aber der Fokus der Planung doch deutlich auf den Armen zu liegen. Ein tatsächlich antizipierender Planungs- und Entwicklungscharakter wird nicht sichtbar, aber auch nicht problematisiert. In Porto Alegre dagegen steht gerade der antizipierende Charakter der Stadtplanung im Fokus. Interessanterweise lassen sich in Porto Alegre recht konträre Ausgangsbedingungen ausmachen, denen sich die Planung gegenübersieht: Eine hohe Zentralität des Zentrums im Hinblick auf Verkehr sowie ein geringer Anteil der „informellen Stadt“ (der auf 30% beziffert wird). Expansionsprobleme scheinen ebenfalls nicht gegeben, insbesondere mit Blick auf das Hauptentwicklungsgebiet im Süden der Stadt. Als Schwerpunkte der Tätigkeit lassen sich im Stadtplanungsressort die Themen Wohnen, Verkehr und Zentrum identifizieren. Dabei wird ‚Informalität‘ zwar thematisiert und problematisiert, allerdings geht es dabei nicht direkt um das Wohnen (oder den Handel), sondern um die städtebauliche, formalistische Dimension von ‚Informalität‘ – der durch Veränderungen der Regelwerke bzw. deren „Flexibilisierung“ zu begegnen sei.123 Die nahende Austragung der Fußballweltmeisterschaft 2014 wird auch in Porto Alegre zum Bezugspunkt, und zwar als städtebauliche Chance für große Investitionen und Interventionen – obwohl nur wenige Spiele in Porto Alegre ausgetragen würden. Wie in den anderen Städten auch, sind die sportlichen Großereignisse zu

123 „Ich glaube, dass die größte Herausforderung [heute] ist, glaube ich, einen Entwicklungsprozess der Stadt zu garantieren, ohne die Lebensqualität der zukünftigen Generationen zu beeinträchtigen. Dieses Gleichgewicht müssen wir finden. Und wir haben sicherlich, wie die anderen Städte im Land, ein ziemlich signifikantes Wohndefizit. Die Regierung hat jetzt erst kürzlich eine Leitung zur Prüfung der Bodenregulierung eingerichtet. Wir haben ein Kernprogramm zur städtebaulichen Analyse, denn der erste Schritt der Bodenregulierung ist die städtebauliche Regulierung. Zu dieser Frage arbeiten wir schwerpunktmäßig, indem wir eine Vielzahl von ‚Sondergebieten von Sozialem Interesse‘ [AEIS] einrichten als legaler Mechanismus, ein Werkzeug, das die Flexibilisierung der Gesetzgebung erlaubt, um einige Regionen von der Informalität zur Legalität zu bringen, so manche Situation in der Stadt, was illegale und irreguläre Siedlungen beinhaltet, aber auch besetzte Gebiete in Selbstproduktion, um nicht Invasionen zu sagen, nicht wahr.“ (I6)

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einer Legitimierung für große, konflikthafte Infrastrukturprojekte geworden, die zur Umsiedlung einer beachtlichen Zahl an Menschen geführt haben.124 In der Ausrichtung der Planung offenbart sich ein drastischer Wandel, der mit der Ausarbeitung des neuen Masterplans (ausführlich dazu im nächsten Teilkapitel) einhergeht: Während zuvor der Fokus auf Porto Alegre als kompakter Stadt lag, ist man heute von dieser Vorstellung weggekommen hin zum Slogan „Alles ist Stadt“. Die wenig verdichteten Gebiete werden dabei nicht mehr als ländliche, sondern als städtische Entwicklungsgebiete betrachtet. Gerechtfertigt wird diese städteplanerische, konzeptionelle wie rechtliche Veränderung über die Orientierung an den „tatsächlich existierenden“, also „gesellschaftlich produzierten“ Nutzungs- und Entwicklungsformen.125 Bezweckt wird damit insgesamt eine Flexibilisierung der Planung, die nicht mehr in allumfassenden Plänen denkt, sondern sich als gesellschaftlicher Aushandlungsprozess versteht. Diskursiv erscheint diese Planungskonzeption also als eine Ausrichtung entlang der gesellschaftlichen Notwendigkeiten – auch ein partizipativer Planungsprozess sei in Planung – de facto scheint aber eher die lukrative residentielle Wohnentwicklung im Süden der Stadt davon zu profitieren.126

124 Man schätzt die Zahl der für die Bauten verdrängten oder zwangsumgesiedelten Menschen auf insgesamt 170.000 in Brasilien – was Grund genug dafür war, eine Sondersitzung des UNO-Menschenrechtsrates dazu einzuberufen (Comitê Popular da Copa 2011:6). 125 „[Es] wird immer gesagt, dass der vorherige Plan, den wir hatten, ein Plan war, der die halbe Stadt grün angemalt hatte, ohne zu schauen, was sich unter diesem Grün befand. [...] Denn unter diesem Grün der Karte gibt es Tausende von irregulären Wohnsiedlungen, die du auf andere Weise betrachten musst. Also war eine Sache, die dieser Masterplan gemacht hat, das gesamte Territorium als städtisch zu betrachten, um diese informelle Stadt berücksichtigen zu können.“ (I6) 126 „Sogar der Ausdruck ‚Alles ist Stadt‘ führt zu ein wenig Verwirrung, denn es scheint als ob die Stadt [nur] Konzentration wäre. Den Begriff müsste man debattieren. Aber dass alles städtisch ist bedeutet, dass das gesamte Territorium rechtlich gesehen städtisch ist. Und damit können die Behörden darüber verfügen im Sinne von Planung über das gesamte Territorium. Denn vorher war ein Teil städtisch und einer ländlich, es gab städtisch-intensiv mit höherer Dichte und extensiv mit kontrollierter Dichte oder ländlich. Und jetzt ist alles rechtlich städtisch, was heißt, dass du auch für das ländliche Gebiet Politiken haben kannst. Auch über die Stadtregierung, denn zuvor fiel es unter nationale Jurisdiktion. Also konnte die Stadt keine Regeln vorschlagen für die Bodennutzung, denn das war an den INCRA gebunden, das Nationale Institut der Landreform.“ (I6)

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Die Stadtplanung in Porto Alegre richtet sich also primär an der städtebaulichen und planungsrechtlichen Entwicklungsperspektive Porto Alegres aus. Dabei spielt die ‚Informalität‘ zwar eine Rolle, aber mehr als rechtliches, denn als soziales Problem. Stärker als in den anderen Städten kommt hier der Planung ein offensichtlich planender Charakter zu – angesichts der großen Entwicklungsgebiete im Süden der Stadt kein überraschender Aspekt, in einer Stadt, die viel weniger mit sozialen Problemen des Ausmaßes von Recife oder Rio de Janeiro oder São Paulo zu kämpfen hat. Gleichwohl scheint der Jargon der Gesellschaftlichkeit der Planung in seiner abstrakt-rechtlichen Umsetzung an den Realitäten vorbei zu gehen: Soziale Organisationen kritisieren etwa die gepriesenen AEIS (Sondergebiete von Sozialem Interesse) als billige, isolierte, infrastrukturell miserabel angebundene Orte in der (vor allem südlichen) Peripherie der Stadt, mit der eine Reproduktion sozial-räumlicher Segregation verbunden sei (Dossiê Comitê Popular da Copa, Januar 2011). Die Planung in Porto Alegre kann also insgesamt mit einer Organisations- und Entwicklungsfunktion gesehen werden, die sich zwar diskursiv an gesellschaftlicher Produktion und Inklusion ausrichtet, de facto aber eher Gegenteiliges zu bewirken scheint – nicht zuletzt angesichts der massiven Entwicklungen von Privatinvestoren in den hochwertigen Gebieten und den sowohl kommunal als auch national finanzierten Wohnprojekten in der Peripherie, die seit Jahren vor allem im Süden der Stadt entstehen. Woran orientieren sich nun die Master- bzw. Rahmenpläne der untersuchten Städte, welche Leitideen werden darin verfolgt und inwiefern können sie als Denken der Städte als ‚Ganze‘ interpretiert werden? Dokumentengrundlage sind dabei der Plano Diretor de Desenvolvimento Urbano e Ambiental – PDDUA von Porto Alegre aus dem Jahr 1999 (überarbeitet zwischen 2007 und 2009), der Plano Diretor Estratégico – PDE von São Paulo aus dem Jahr 2002, der Plano Diretor de Desenvolvimento da Cidade do Recife – PDCR aus dem Jahr 2006, sowie der Plano Diretor de Desenvolvimento Urbano Sustentável do Município do Rio de Janeiro – PCRJ von 2011 (Revision des ursprünglichen Plano Diretor Decenal – PDD von 1992). Die einzige Thematik, die in allen vier Plänen gleichermaßen als Problem identifiziert wird, ist die der Infrastruktur respektive des ungleichen Zugangs zu städtischen Einrichtungen. Dabei wird der Bedarf an zusätzlicher Infrastruktur in Porto Alegre auf die Gebiete der Stadt beschränkt, wo hohe pro Kopf-Kosten entstehen, während in Recife eine generelle „Inkohärenz der Infrastruktur“ identifiziert wird, und in Rio de Janeiro die Verdichtung in Gebieten mit ungenügender Infrastruktur problematisiert wird. Recife und São Paulo wiederum betonen beide den ungleichen Zugang zu städtischen Einrichtung bzw. deren ungleiche Verteilung im Stadtgebiet. Auffällige Differenzen sind:

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• Umweltaspekte werden zwar stadtübergreifend in den Planwerken themati-

siert, allerdings in sehr unterschiedlicher Weise: Während in São Paulo das Zusammenspiel von gebauter Umwelt und Naturgefahren (Überschwemmungsrisiko durch Bodenversiegelung) thematisiert wird, taucht die Umweltfrage in Rio als (von ‚irregulären Besetzungen‘) bedrohte natürliche Ressource auf. In den beiden Großstädten wird das Thema zwar aufgelistet, erfährt aber keine gesonderte Berücksichtigung. • Nur in Porto Alegre spielt fehlende Dichte (vor allem in peripheren und ländlichen Gebieten) und akzentuierte Zentralität (vor allem im Hinblick auf das Transportsystem) eine Rolle, während alle anderen Städte das gegenteilige Problem benennen: Die Abnahme demographischer (und ökonomischer, so in Rio und São Paulo) Dichte in zentralen Gegenden und Bevölkerungszuwachs in peripheren und nur geringfügig ausgestatteten (oder von Umweltrisiken betroffenen)127 Gebieten.128 • Kosten- und Zeitaufwand des öffentlichen bzw. Individualverkehrs werden lediglich in São Paulo und Rio explizit als Probleme benannt. Das Thema Transport spielt zwar auch in Porto Alegre eine Rolle, wird aber im Hinblick auf dessen auf das Zentrum ausgerichtete Verkehrsstruktur problematisiert. • Nur in São Paulo und Rio de Janeiro wird der Bevölkerungsrückgang im Zentrum problematisiert. Der PDDUA Porto Alegres fokussiert besonders auf partizipative Regierungsstrukturen. Partizipation ist nicht nur der zuvorderst benannte Grundsatz des Plans, sondern stellt im Gesamttext einen zentralen und häufigen Bezugspunkt dar.129 Der Plan strebt explizit keine Vollständigkeit an, sondern fokussiert auf 127 Umweltrisiken entstehen etwa in Gebieten, die von Überschwemmungen oder Erdrutschen gefährdet sind. Das betrifft zum Teil auch informelle Siedlungen in Naturschutzgebieten. 128 Diese Beobachtung lässt sich in Einklang bringen mit den Darlegungen zur räumlichen Konfiguration der Städte: Porto Alegre stellt als disperse Stadt mit geringer Dichte ein relativ unzusammenhängend besiedeltes Gebiet dar, das von hoher Zentralität und schwachen Subzentren im städtischen Gebiet geprägt ist. Rio dagegen ist zwar ebenfalls dispers, weist aber ein zumindest größtenteils dicht zusammenhängendes Siedlungsgebiet auf. São Paulo und Recife dagegen stellen extrem dichte Siedlungsgebiete dar. 129 Im Masterplan rühmt man sich auch als wohlgeplante Stadt – die noch der ein oder anderen Verbesserung bedürfe angesichts neuerer Entwicklungen wie etwa des Wachstums informeller Siedlungsstrukturen, der fehlenden Dichte in manchen Ge-

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einzelne Themengebiete (insbesondere fehlende Dichte und überbetonte Zentralität im Transportwesen), zuzüglich der bereits im Titel als Schwerpunkt angegebenen ökologischen Fragen. Ein weiterer zentraler Aspekt scheint die Konservierung des Kulturerbes im Stadtzentrum zu sein. Diese klare Schwerpunktsetzung ist der stärkste Unterschied zwischen dem PDDUA und den anderen Masterplänen, da sowohl in São Paulo, als auch in Rio und Recife eine deutlich breitere Vielfalt an Politikfeldern behandelt wird. Obwohl die Stadt Recife sich zu einem der Vorzeigebeispiele für den partizipativen Bürgerhaushalt in Brasilien entwickelt hat (Braga & Felix Braga 2008), wird auf diesen kaum explizit Bezug genommen – im Gegensatz zu Porto Alegre, wo der beständige Rekurs fast schon redundant wirkt. Tatsächlich wurde in Recife die explizite Bezugnahme aus dem Entwurf entfernt, in der Gesetzesvorlage war schließlich nur noch die Rede von der „Integration partizipativer Strukturen in den Ausarbeitungsprozess des jährlichen Haushaltes“. Dennoch erscheint eine effektive Partizipation im Rahmen lokaler Politik als Belang und zwar sowohl in der Diagnose zentraler Probleme als auch bei der Darlegung der zentralen Grundsätze der Stadtplanung und -entwicklung. Hauptthemen sind die Flächennutzung und (infrastrukturelle) Zugänglichkeit. Der PCRJ von Rio de Janeiro wurde harsch kritisiert von Seiten von Stadtforschungsexperten, insbesondere angesichts der technokratischen und beteiligungslosen Ausarbeitung (entgegen der Richtlinie des Estatuto da Cidade), sowie angesichts der repressiven Haltung gegenüber Favelas und irregulären Siedlungen (IPPUR 2010).130 Zentrale Aspekte sind Wohnen (insbesondere ‚Substandardwohnen‘), irreguläre Bodennutzung und Landbesetzungen im Zusammenhang mit Verdichtung, sowie ökologische Aspekte. Vereinfachend wird zwischen der „natürlichen Stadt“ im Sinne topographischer und Naturgegebenheiten und der „gebauten Stadt“ differenziert, eine detaillierte Unterscheidung von Zonen findet sich nur im Anhang. Der Kritik, dass der Plan einzelne Themen sehr generalistisch bearbeite, wird unter anderem damit begegnet, dass das Gegenteil für eine Stadt der Größe Rio de Janeiros schwer möglich sei: bieten oder der starken Dominanz des Stadtzentrums im Hinblick auf öffentlichen Nahverkehr. 130 Wesentlicher Kritikpunkt war dabei die Tatsache, dass es keinen breiten Dialog gegeben hatte zur Identifizierung und Formulierung von zentralen aktuellen Problemen, mit denen sich die Stadt konfrontiert sieht, dem grundlegenden Ausgangspunkt der Erarbeitung des Masterplans. Im Gegensatz zur Ausarbeitung des vorherigen PDD von 1992 geschah die Identifizierung der Schlüsselaspekte des neuen Plans allein durch Regierungs- und Planungsbeamte, was sicherlich zum rein technischen und allgemeinen Charakter des neuen Plans beitrug.

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„Also, [...] der Masterplan enthält mehr Prinzipien und generelle Ziele und die Instrumente, die allgemeineren, Maßnahmen und alles in Bezug auf die sektoralen Politiken, und dann verweist er, gibt an, welche Art Instrumente umgesetzt werden sollen. Manche kritisieren das, aber es war sehr schwer, wir haben es nicht geschafft mehr ins Detail zu gehen mit dem Plan, zum Teil auch, weil wir keine Unterstützung hatten […], wir mussten die Revision in sehr kurzer Zeit produzieren […]. Ich würde auch sagen, dass es nicht nur das ist, denn es ist wirklich schwierig, dass der Plan in einer so großen Stadt es schafft, sagen wir, ‚selbstanwendbar‘ zu sein, das schafft man nicht. [...] Städte dieser Größe, würde ich sagen, haben keine andere Wahl als den Masterplan in regionale Pläne aufzuteilen.“ (I15)

Tatsächlich setzt der PDE von São Paulo zwar Schwerpunkte (Arbeit und Soziales, öffentliche Räume, Versorgung und Infrastruktur, Wohnen), greift aber insgesamt eine große Bandbreite an Themen auf. Einerseits kann diese Breite als Anliegen der Regierung gelesen werden, ein umfassendes Planwerk zu erstellen, das sich sämtlichen kommunalen Politikfeldern widmet. Andererseits waren im Vorfeld auch viele Problemstellungen im Rahmen eines partizipativen Prozesses identifiziert worden. Zwischen den zuvor identifizierten Problemen und der tatsächlichen Berücksichtigung im PDE bestehen allerdings bisweilen deutliche Unterschiede.131 Vergleicht man die vier Städte im Hinblick auf die Art und Weise sowie die Inhalte der Ausarbeitung der Masterpläne, so lassen sich einige Schlussfolgerungen im Hinblick auf Besonderheiten und Ähnlichkeiten ziehen: Beide ‚Megastädte‘ weisen Ähnlichkeiten inhaltlicher Art auf: bei der Identifizierung von zentralen Problemen bezüglich der Bedeutung ökologischer Aspekte, der Abnahme von Zentralität (oder vielmehr der Bedeutungsabnahme der Zentren in demographischer und funktionaler Hinsicht), sowie im Hinblick auf Transport 131 So war etwa die reduzierte Bedeutung des Zentrums problematisiert (insbesondere im Hinblick auf den Bevölkerungsrückgang) und über die sog. Revitalisierungsmaßnahmen diskutiert worden. Dieses Anliegen spielt allerdings im PDE keine Rolle. Außerdem war die Zentralisierung von Entscheidungsmacht als eines der entscheidenden Probleme der Kommunalregierung herausgearbeitet worden, ein Thema, das im Plan selbst fast ignoriert wird. Auch Partizipationsprozesse, die als ein zentraler Aspekt von Dezentralisierungsbemühungen politischer Macht auf kommunaler Ebene in Brasilien gesehen werden können, finden hier kaum Berücksichtigung – lediglich auf die gemischt zusammengesetzten kommunalen Beiräte wird in einem kleinen Abschnitt Bezug genommen. Allerdings wird auf die Dezentralisierung der Verwaltung eingegangen, die auch mit der Einrichtung einer Vielzahl regional dezentraler administrativer Sub-Einheiten umgesetzt worden ist.

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und Verkehr (bzw. den monetären und zeitlichen Kosten des Verkehrs). Obwohl ökologische Probleme über unterschiedliche Phänomene definiert werden, so sind sie doch viel expliziter betont und vor allem spezifiziert als in den beiden kleineren Städten. Weniger betont werden in den beiden ‚Megastädten‘ dagegen politisch-institutionelle Fragen und partizipative Entscheidungsstrukturen im Gegensatz zu den beiden kleineren Städten. Im Fall von São Paulo wird zwar die Zentralisierung von Entscheidungsmacht problematisiert, doch daraus folgt keine Auseinandersetzung mit Lösungsansätzen im Masterplan. In Rio wird hingegen eher die Notwendigkeit von stärkerer Kontrolle hinsichtlich der Landfrage, des Wohnens und der Verdichtung unterstrichen. Dichte und Zentralität werden in Porto Alegre und den beiden ‚Megastädte‘ gegensätzlich behandelt: In Porto Alegre wird vor allem die fehlende Verdichtung in peripheren Gebieten sowie eine überakzentuierte Zentralität vor allem im Hinblick auf Transport/Verkehr identifiziert. In São Paulo und Rio de Janeiro steht hingegen die Problematisierung von Verdichtung in peripheren Regionen und die ‚Entdichtung‘ in zentralen Gebieten im Vordergrund. Wie lässt sich das nun interpretieren vor dem Hintergrund der Frage, ob die Planung als Konzipierung eines ‚Ganzen‘ verstanden wird bzw. inwiefern hierüber Verbindungen hergestellt werden, welche die Städte als Gesamtzusammenhang erkennen lassen? Die Planungsselbstverständnisse und die darin zum Ausdruck kommenden Charakterisierungen der jeweiligen Städte sind sehr aufschlussreich in dieser Hinsicht. Sowohl in São Paulo als auch in Rio de Janeiro wird mit dem „Chaos“ bzw. der ‚Informalität‘ als „Demokratie der Unordnung“ ein übergeordnetes Prinzip der städtischen Entwicklung entworfen, welchem die Planung gegenübersteht. Konzipiert werden die Städte also über die Gegenpole der Unordnung und der Ordnung. Die Antworten, die in den Masterplänen formuliert werden, unterscheiden sich aber: Während in São Paulo eine breite Ausrichtung an allgemeiner Stadtentwicklung mit dem Fokus auf Arbeit und Soziales, Wohnen und öffentliche Räume sowie Versorgung und Infrastruktur erfolgt, ist der Plan in Rio technokratisch eingeengt auf die Regulierungsfrage – die Bearbeitbarkeit und Planbarkeit wird hier für eine Stadt dieser Größendimension verneint. Auch in Recife erhält die ‚Informalität‘ in der Darstellung als „Kultur der Eigengesetzlichkeit“ (sprich: Regelmissachtung) eine übergeordnete Funktion für die städtische Gesellschaft. Gleichzeitig wird sie damit auf die Einhaltung von Regeln rückbezogen, was eine formalistische Interpretation ist, die wir auch in Porto Alegre finden. Auch zwischen den beiden Großstädten unterscheiden sich aber die Antworten, die in den Masterplänen formuliert werden: Während der Plan Porto Alegres ebenfalls technokratisch ausgerichtet ist an Landnutzungsfragen, setzt der Plan Recifes mit einer sozialpolitischen Ausrichtung und

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der betonten Notwendigkeit einer demokratischen Verwaltung auf eine dezidiert politische Ausrichtung. Damit scheint sich zunächst keine größenrelevante Differenz abzuzeichnen. Allerdings spricht ein letzter Aspekt für eine solche: Während in beiden Großstädten mit der demokratisch-partizipativen Gestaltung lokaler Politik politisch-institutionelle Fragen im Vordergrund stehen, vermeiden es die Pläne in den beiden ‚Megastädten‘ auf diese Aspekte einzugehen, auch wenn in São Paulo im Vorfeld gerade die politische Zentralisierung als Problem identifiziert worden war. Es scheint als würde der umfangreiche PDE São Paulos diese zu zementieren, indem er zwar sämtliche thematischen Bereiche aufzugreifen sucht, sie aber ohne Rücksicht auf die politische Dezentralisierungsfrage bearbeitet. Dem ‚Chaos‘ wird also eine starke zentrale Planungsgewalt entgegengesetzt. Der PDDMR Rios dagegen setzt nicht auf einen umfassenden Ansatz, sondern übersetzt die Ohnmacht gegenüber der „Demokratie der Unordnung“ in einen formalistischen Regulierungsansatz. Während als Bindeglied zwischen der Unordnung und der Ordnung in den beiden ‚Megastädten‘ die (überforderte) Planung gesetzt wird, greifen die Planungsinstanzen in den beiden Großstädten stärker auf eine Vermittlung über demokratisch-partizipative Strukturen zurück (auch wenn letztlich das Ergebnis einer formalisierten Stadt dasselbe zu sein hat). b) Dezentralisierung als Beteiligung Der Rückgriff auf demokratisch-partizipative Strukturen ist nicht nur eine weniger zentralistische Version lokaler Politik und Planung, er stellt gleichzeitig eine unterteilte Konzipierung derselben dar, weil die unterschiedlichen (sub)lokalen Realitäten und Bedarfe sowie die Interessen und Artikulationsmöglichkeiten als different anerkannt und aufgegriffen werden (können). Wenn politische Dezentralisierung als eine Aufteilung politischer Entscheidungsmacht verstanden werden kann, dann sind partizipative Mechanismen eine relevante Komponente dezentralen lokalen Regierens (vgl. Souza 2004a). Die Kommunalpolitik in Brasilien blickt mancherorts auf eine mehr als zwanzigjährige Erfahrung mit institutionalisierten Beteiligungsverfahren zurück. Was darunter verstanden wird und inwiefern sie eingesetzt werden, um ein dezentrales, den konkreten lokalen Bedürfnissen angepasstes Regieren zu ermöglichen, variiert aber. Dezentralisierung erfordert nicht nur die Übertragung von Geldern, sondern auch eine Veränderung der politisch-institutionellen Strukturen auf den verschiedenen Regierungsebenen. Nach Celina Souza geht dezentrales lokales Regieren auf kommunaler Ebene in Brasilien einher mit drei unterschiedlichen Typen von Partizipation (Souza 2004a): 1. Kommunale Beiräte (Conselhos Municipais – in der Regel zu bestimmten politischen Feldern wie Gesundheit, Bildung, Sozialfürsorge, Beschäftigung und Einkommen oder Armutsreduktion, aber auch auf spezifische

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soziale Gruppen wie Kinder, Jugendliche oder Ältere Menschen ausgerichtet); 2. Partizipativer Bürgerhaushalt; 3. nachfrageorientierte Programme (eher in kleineren, ländlichen Kommunen, weshalb diese hier vernachlässigt werden). Die Kommunalen Beiräte hätten tatsächlich kaum Entscheidungsmacht und auch ihre Möglichkeiten zur Rechenschaftseinforderung seien sehr eingeschränkt, betont Souza. Im Gegensatz zu den Beiräten, die auf bundesstaatlicher Gesetzgebung fußen, sind die Bürgerhaushalte hingegen das Ergebnis lokaler Regierungsinitiativen. Sie haben breite Umsetzung erfahren und große nationale wie internationale Sichtbarkeit entwickelt.132 Welche Resultate der Prozess des partizipativen Bürgerhaushaltes generieren kann, hängt von einer ganzen Reihe an Faktoren ab: der politischen Partei, welche das Instrument einführt; dem Mobilisierungs- und Organisationsgrad der lokalen Zivilgesellschaft und sozioökonomischen und demographischen Merkmalen der jeweiligen Kommune (Souza 2004a). Zudem ist die Erfahrung der Umsetzung des OP (Abkürzung für Partizipativer Bürgerhaushalt in Brasilien von port. Orçamento Participativo) nicht stabil, da viele der Städte, in denen der OP eingeführt wurde, den Prozess wieder beendet haben.133 Wie wird Partizipation nun im Sinne einer institutionalisierten Beteiligung der Bürger_innen an politischen Willens- und Entscheidungsbildungsprozessen verstanden?134 Aus der Sicht der befragten Expertin in São Paulo stellt sich das Verhältnis zwischen Konzeption und Praxis der Beteiligungsverfahren als ein höchst ambivalentes dar. Die Unterscheidung wird normativ getroffen: Eine „spontane und echte“, rein ‚praktische‘, frei von theoretischen Überlegungen und auf einem Zugehörigkeitsgefühl beruhende Partizipation wird positiv beurteilt. 132 Während zwischen 1986 und 1989 nur zwei brasilianische Städte partizipative Bürgerhaushalte einführten, erhöht sich diese Zahl schon in der nächsten Legislaturperiode zwischen 1989 und 1992 auf zwölf. Zwischen 1993 und 1996 steigt die Anzahl abermals auf 36 und im Jahr 2000 liegt sie bereits bei 140 Städten FNPP 2002 (so zit. in Souza 2004a). 133 Ämter bzw. Ressorts für Partizipation und Beteiligung im Rahmen lokaler Politik bestanden zum Zeitpunkt der Untersuchung nur in São Paulo, Porto Alegre und Recife. Die Untersuchung basiert dementsprechend auf den Interviews in diesen drei Städten. In Rio de Janeiro finden sich kaum Ansätze einer institutionalisierten Beteiligungspolitik. 134 Dieser Frage wird im Folgenden aus der Sicht der befragten ExpertInnen aus den jeweiligen Ressorts für Partizipation innerhalb der kommunalen Regierungen nachgegangen. Dabei werden die aus dem Material gewonnenen Kategorien von „Konzipierung versus Praxis“, „allgemeine Beteiligungskultur“ und die „Rolle der Politik“ aus den jeweiligen Sichtweisen dargelegt.

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Ihr negatives Gegenüber findet sich in der theoretisch elaborierten, aber praktisch „autoritären und manipulativen“ Partizipation, die in Brasilien der häufigere Fall sei. Institutionalisierte Partizipation erscheint dabei – vor allem angesichts des historischen Kontextes der Diktatur – als neuartiges Phänomen, welches in seiner institutionalisierten Form weniger auf freiwilligem Engagement gründet, sondern auf einem Zwang zu Partizipation (I10).135 Hier wird also die in Brasilien größtenteils realisierte Form der Beteiligung als „manipulativ“ und damit als konträr zum Demokratieverständnis betrachtet. Insofern sei es die Aufgabe der Politik, eine Überwindung dieser Form herbeizuführen. Auffällig unklar ist dabei das Verhältnis der Schaffung von Beteiligungsstrukturen „von oben“ und der Gestaltung der Beteiligungskulturen „von unten“. Letztlich läuft die Aufgabenbeschreibung darauf hinaus, dass die Aufgabe des Ressorts – insbesondere der für Fragen des „[Gemeinschaftlichen] Zusammenlebens, der Partizipation und des sozialen Unternehmertums“ geschaffenen Koordinierungsstelle (Conpares) – vor allem in der Vermittlung zwischen Privatinitiative, Bevölkerung und Regierung liegt.136 Gleichzeitig sieht die Befragte ein fehlendes Zugehörigkeitsgefühl bei der Bevölkerung São Paulos. Das würde bedeuten, dass „echte“ Partizipation, die ja gerade auf einem solchen Zugehörigkeitsgefühl beruhen soll, tendenziell unmöglich scheint. In jedem Fall aber erscheint das Verhältnis zwischen einer Beteiligungspraxis der Bevölkerung „von unten“ und der Konzipierung von Beteiligungsverfahren „von oben“ eine allgemeine Crux und, speziell im Fall von São Paulo, ungeklärt zu sein. Ein gänzlich anderes Verständnis von Partizipation kommt in Recife zum Ausdruck.137 So werden der Partizipation im Rahmen des Bürgerhaushaltes vor 135 Empirisch stellt die Befragte dabei ein „Modell Curitiba“ (spontan und echt, auf Zugehörigkeitsgefühl basierend) dem „Modell Porto Alegre“ (theoretisch elaboriert, praktisch autoritär und manipulativ) gegenüber. 136 „Hier arbeiten wir daran, der Exekutivarm zu sein, der die Zusammenarbeit mit Privatinitiative und Bevölkerung herstellt. [...] Das Ressort versucht auf der einen Seite mit den Behörden zu arbeiten, auf der anderen Seite mit der Privatinitiative, auf der anderen Seite der Dritte Sektor, die sozialen Bewegungen, oder die direkte Beteiligung der Bevölkerung. [...] Also, der Conpares macht diese Verwaltung der Partizipation, indem er versucht, neue Formeln und Mechanismen zu finden, damit es diesen Dreisatz gibt, [damit] Zivilgesellschaft, Behörden und Privatinitiative zusammen gehen.“ (I10) 137 Dabei kann nicht als qualitativer Unterschied gewertet werden, dass viel konkretere Vorstellungen vermittelt werden, denn anders als in São Paulo beziehen sich die Äußerungen fast ausschließlich auf die konkret institutionalisierte Form des Partizipativen Bürgerhaushaltes. Als qualitativer Unterschied kann aber gewertet werden,

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allem drei Funktionen zugeordnet: die der Kontrolle der Regierung, der Verbesserung von Stadtentwicklung, sowie die, dem „Willen der Gesellschaft“ Ausdruck zu verleihen. Letzteres würden die am Prozess teilnehmenden Bürger_innen gewährleisten (I27). Dabei wird auch hier die konkrete Praxis von der theoretisch-ideologischen Konzipierung unterschieden, insofern als erstere ständig zu überarbeiten sei, während die Leitsätze als ideologische Grundlage stabil blieben. Gleichzeitig wird die Praxis nicht rein positiv bewertet, da sie als Bestandteil einer „repräsentativen Demokratie“ zu sehen sei, wodurch lange bzw. langwierige Entscheidungsprozesse entstünden. Als Gegenmodell und Ziel wird die „direkte Demokratie“ entworfen, zu deren Erreichung der Partizipative Bürgerhaushalt einen Schritt in die richtige Richtung darstelle. Während in der repräsentativen Demokratie in diesem Verständnis lange Entscheidungswege zum Problem werden, liegt der Charakter der direkten Demokratie in einer „Befreiung und Unabhängigkeit“ der Bevölkerung, wird also mit einem explizit emanzipatorischen Gedanken versehen. Interessanterweise scheint es sich dabei viel eher um eine Emanzipation „von oben“ zu handeln, wenn die Regierung als „der große Agent“ dieses Prozesses beschrieben wird.138 Auch in Porto Alegre wird die bestehende (‚ideologische‘) Partizipationsform des Bürgerhaushaltes mit einem demokratischen Verständnis bzw. dessen Realisierung in Verbindung gebracht. Dennoch existieren in Porto Alegre zwei Vorstellungen von Beteiligung nebeneinander: Die konkrete und institutionalisierte Form des Bürgerhaushaltes und die Idee der ‚lokalen Governance‘ im Sinne einer Förderung von Eigeninitiative. Dem ‚alten‘ Verständnis nach bündelt bzw. verbindet der Bürgerhaushalt die verschiedenen demokratischen Akteure und Interessen in der Stadt (I4). Dem ‚neuen‘ Verständnis der Governance zufolge ist diese Form zu stark an die Interessen einer bestimmten sozialen Gruppe (die untere Einkommensgruppe) gebunden, und ihr wird eine Aktivierung allgemeiner Eigeninitiative entgegengesetzt. Inwiefern damit weniger Eiwelches Verhältnis zwischen Bevölkerung und Regierung darin zum Ausdruck kommt. 138 „[Die Aufgabe] der Regierung ist es an erster Stelle, […] der Agent [zu sein]. Warum? Weil wir nicht einen Prozess von der Basis zur Regierung erleben. Es ist anders. Wir versuchen als Regierung diese Idee umzusetzen. Das Programm umsetzen, umgesetzt haben wir es schon, die Idee aber zu konsolidieren ist ein Prozess. Was müssen wir also sein? Ein Stimulator. Und es ist auch Aufgabe der Regierung, den Prozess zu finanzieren. […]. Diese Finanzierung heißt nicht individuelle Finanzierung. Wir akzeptieren prinzipiell nicht, [...] jedwede Form der Begünstigungen für Abgeordnete zu zahlen. Ich kann [ja] nicht den finanzieren, der mich kontrolliert, sonst wird er mich nicht kontrollieren.“ (I27)

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geninteressenlogik verbunden ist bleibt unklar. Klar dagegen ist, dass die Veränderung auch bedeuten soll, dass nicht nur die Problemidentifizierung von den Betroffenen aus stattfindet, sondern auch eigenständige Lösungsansätze angegangen werden (I4). Die recht unterschiedlichen Rollen, welche die Regierung jeweils spielt, könnten einmal als ‚Ermöglichung‘ eines institutionalisierten demokratischen Dialogs zwischen den unterschiedlichen sozialen Akteuren und der Politik (Bürgerhaushalt) betrachtet werden. Unabhängig von der tatsächlichen Relevanz und Reichweite innerhalb der lokalen politischen Realität, stellt der Partizipative Bürgerhaushalt eine weithin sichtbare Innovation kommunaler Regierungs- und Verwaltungsprozesse dar. In Porto Alegre ist man stolz auf die Rolle, welche die Stadt für die Entwicklung dieses Instruments in Brasilien und darüber hinaus gespielt hat. Dem Instrument selbst wurden eine Vielzahl an Vorzügen zugeschrieben, darunter Armutsreduktion und Inklusionskraft angesichts der hohen sozialen Ungleichheit in brasilianischen Städten. Porto Alegre war eine der ersten Städte in Brasilien, die den Bürgerhaushalt eingeführt haben und blickt heute auf eine mehr als 20-jährige Erfahrung zurück.139 Selbstverständlich haben in der Zwischenzeit viele verschiedene Städte unterschiedlicher Größe und Bedeutung den Bürgerhaushalt eingeführt und somit zu einer großen Bandbreite an Erfahrungen mit dem Instrument geführt. Dennoch bleibt Porto Alegre eine Art Mythos des Besonderen anhaften, auch deshalb, weil vielerorts die Implementierung nicht annähernd so dauerhaft war wie in der südbrasilianischen Großstadt. Eine Untersuchung der

139 In der brasilianischen Literatur zur Thematik hat es ausführliche Auseinandersetzungen mit der Besonderheit von Porto Alegre und der dort identifizierten politischen Kultur gegeben (Avritzer 2003). Der besonders basisdemokratische Charakter der politischen Kultur des brasilianischen Südens wird von Seiten der Politik nur allzu gerne betont. Und es ist sicher nicht von der Hand zu weisen, dass zur Durchund Umsetzung, und vor allem zur dauerhaften Weiterentwicklung eines solchen Instruments ein hoher politischer Wille gegeben sein muss. Das allein reichte aber nicht aus, und so ist es wohl nicht zuletzt der besonderen Konstellation politischer Akteure in Porto Alegre zuzuschreiben, welche 1989 zur Implementierung und in den darauf folgenden Jahren zu dessen Weiterbestehen geführt hat. Insofern ist also der OP zu sehen „[…] als Ergebnis eines komplexen lokalen sozialen und politischen Szenarios sowie des Zusammenwirkens einer Vielzahl intervenierender Variablen im Verhältnis zwischen kommunalen Regierungskräften (Exekutive wie Legislative) und der lokalen Bevölkerung, insbesondere den Protagonisten der sogenannten kommunitaristischen Bewegungen Porto Alegres.“ (Fedozzi 1997, Übers. JH)

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OP-Erfahrungen in Brasilien zwischen 2001 und 2004 aus dem Jahr 2006140 zeigt, dass der Bürgerhaushalt weit davon entfernt ist, ein „brasilianisches Phänomen“ zu sein – eher ist es ein süd- und südostbrasilianisches Phänomen, wo 80% der OP-Städte verortet sind (140 im Jahr 2000). Zudem ist das Instrument stark verbunden mit den Kommunalregierungen der brasilianischen Arbeiterpartei (PT – Partido dos Trabalhadores).141 Derselben Studie zufolge besteht auch eine Verbindung zwischen der Größe der Kommunen und der Kontinuität der OP-Erfahrung, insofern als Städte mit mehr als 500.000 Einwohnern eine sehr geringe Kontinuität aufweisen. São Paulo ist ein Beispiel für die geringe Kontinuität, wo die Regierung Marta Suplicy (2001-2004, PT) den OP im Jahr 2002 eingeführt hatte, ihr konservativer Nachfolger im Amt aber, José Serra (PSDB), das Instrument als „PTMarketing“ verunglimpfte und mit Amtsantritt abschaffte. Die Forschung zum Bürgerhaushalt in São Paulo betont politisch-institutionelle Faktoren für die fehlgeschlagene Erfahrung mit dem Instrument (Dias 2006).142 Anders als die Nachfolgeregierung in São Paulo, führte in Porto Alegre der erste Regierungswechsel seit 1989 im Jahr 2005 nicht zur Abschaffung des OP. Der Kandidat des PPS, José Fogaça, betonte vielmehr, dass der OP eine Errungenschaft der Bürger_innen Porto Alegres sei, unabhängig von jeder Partei.143 In Recife hat sich 140 Die Studie wurde durchgeführt von Leonardo Avritzer, so zitiert von Ricci 2009. 141 In der Mandatsperiode von 2001 bis 2004 waren 60% der OP-Fälle in PT-regierten Städten zu finden. Damit hängt auch zusammen, dass Regierungswechsel in den meisten Fällen zu Veränderungen oder zur Abschaffung des OP führten, was sich in der hohen Diskontinuitätsrate widerspiegelt: Nur 38,7% der OP-Fälle zwischen 2001 und 2004 sind kontinuierliche Weiterführungen der OP-Erfahrungen aus der Mandatsperiode zwischen 1997 und 2000. 142 Obwohl im dritten Jahr nach dessen Einführung bereits 82.000 Menschen innerhalb der Verfahren teilgenommen hatten, sei es ein relativ isoliertes Programm innerhalb der Kommunalregierung geblieben, ohne die notwendige Verschränkung mit verschiedenen Sektoren – und ohne von allen Regierungsakteuren fraglos mitgetragen zu werden (ebd.). Das mag auch teilweise erklären, warum Marta Suplicy in ihrem Wahlkampf keinen Bezug auf das Instrument nahm. Mit dem aktuellen Regierungswechsel (seit Januar 2013 ist mit Fernando Haddad erneut ein PT-Politiker regierender Bürgermeister) sind die Erwartungen wieder gestiegen, der Bürgerhaushalt könnte wieder eingeführt werden. 143 Angesichts der diskontinuierlichen Erfahrungen dieses Instruments kann diese Sichtweise als möglicherweise notwendige Entkoppelung gesehen werden. Die Erfahrungen der Büger_innen mit dem OP in den letzten Jahren deuten jedoch auf eine verstärkte Bürokratisierung hin, die als Bedeutungsverlust und reduzierte reelle Par-

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der Partizipative Bürgerhaushalt in den letzten zehn Jahren zu einem Modellfall entwickelt. Während bis 2001 der öffentliche Haushalt lediglich für Beratung offen war, machte sich die PT-Regierung unter João Paulo ab 2001 die Etablierung und Weiterentwicklung des OP-Prozesses zum zentralen Anliegen. Erklärtes Ziel war es auch, das politische Bewusstsein in der Bevölkerung Recifes zu stärken (Braga & Felix Braga 2008).144 In Rio de Janeiro ist der Bürgerhaushalt wiederum eine sehr viel umstrittenere Angelegenheit. Im Jahr 2002 fügte der Bürgermeister César Maia145 dem II PECRJ (Zweiter Strategischer Plan der Stadt Rio de Janeiro) einen Beratungsprozess im Sinne eines öffentlichen Haushaltes bei. Dieser war allerdings als Top-down-Prozess organisiert, der von den regionalen Sub-Präfekturen koordiniert wurde (Cardoso 2009).146 Die neue Regierung unter Eduardo Paes (PMDB, seit 2009, 2012 mit über 64% der Stimmen im ersten Turnus wiedergewählt) zeigte keine weiterreichende Überzeugung, einen tatsächlich partizipativen Prozess zu etablieren: So sollte es etwa „öffentliche“ Sitzungen zur Thematik geben, die aber nur sehr kurzfristig bekanntgegeben wurden, eine leichte Verschiebung hin zu partizipativen Politikansätzen wurde angesichts der im Jahr 2012 bevorstehenden Wahlen (Jornal Extra, 25.07.2011) als „Partizipationskampagne“ bezeichnet. Weder in São Paulo, noch

tizipation an Entscheidungsprozessen empfunden wird. 2009 konnten hierzu Beobachtungen und Gespräche durchgeführt werden, sowohl innerhalb einer lokalen Struktur des OP (Cristal), als auch beim Anlass der 20 Jahr-Feier des Bürgerhaushalts, organisiert durch die Stadt, wo auch der damalige Bürgermeister eine Rede anlässlich dieses Jubiläums hielt – und die auch schon im Wahlkampf proklamierte Sichtweise auf den Bürgerhaushalt zum Ausdruck brachte. 144 Im dritten Mandat der PT-Regierung (bis 2012) wurden die Bedeutung und die Intensität der lokalen Demokratie ebenso sehr betont von Regierungsbeamten wie in Porto Alegre. Die Forschung kritisiert weiterhin die Unterteilung in administrative Regionen angesichts der hohen und kleinräumigen „sozialen und ökonomischen Fragmentierung“ (Braga & Felix Braga 2008:44), die als Hinderungsgrund einer sinnvollen Verteilung bzw. Erarbeitung von Bedürfnisprioritäten gesehen wird. 145 Zu dem Zeitpunkt war der heute zur Partei der Demokraten (DEM) gehörende Politiker Mitglied des PTB, der Arbeiterpartei (nicht zu verwechseln mit dem PT, der großen Partei der Arbeiter). 146 In den Haushalt von 2003 wurden 55 der Vorschläge aus diesem „partizipativen Prozess“ eingefügt, was 1% des Gesamthaushaltes entsprach (Cardoso 2009). Der Rest der Vorschläge sollte in den folgenden Jahren behandelt werden – weshalb auch weitere Partizipation für überflüssig befunden wurde, da die Vorschläge ja bereits erarbeitet worden waren und sukzessive abgearbeitet werden sollten.

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in Rio ist also der Bürgerhaushalt jemals als dauerhaft institutionalisierter Prozess eingeführt worden, um Entscheidungsmacht zu dezentralisieren. Obwohl die Stadtgröße von der bereits erwähnten Studie aus dem Jahr 2006 (Avritzer, so zit. in Ricci 2009) als beeinflussende Variable erhoben wurde und es vorstellbar erscheint, dass mit der größeren Anzahl an administrativen SubEinheiten und in den Prozess involvierten Menschen die Koordinierung eines solchen Prozesses deutlich komplexer wird, so können die hier dargelegten Entwicklungen des Bürgerhaushalts in den vier Städten nicht mit deren Größe in Verbindung gebracht werden. Das effektive Funktionieren des Bürgerhaushaltes ist – wenig überraschend – vor allem an adäquate institutionelle Strukturen und Regierungskonstellationen (vor allem insofern als mit der Einführung des OP institutionelle Reformen des legislativen politischen Rahmens gefordert sind).147 Dennoch äußert sich in dem ideologisierten Partizipationsverständnis und dem Unwillen der Regierungen in São Paulo und Rio de Janeiro, darüber die politischen Entscheidungsfindungen zu dezentralisieren, eine spezifische Herangehensweise. Für sich genommen ist damit noch keine Größenrelevanz gegeben, erst darüber, dass die Akteure vielfach auf die städtischen Gegebenheiten rekurrieren, um ihre Handeln zu legitimieren, wird eine solche diskursiv hergestellt.

147 Angesprochen sind hierüber keine ökologischen Faktoren, sondern genuin politische, welche die Fragen lokaler Demokratie berühren. Innerhalb dieses Rahmens ist der Bürgerhaushalt in Brasilien weniger als administratives Instrument denn als ideologische Angelegenheit behandelt worden, die insbesondere an eine politische Partei gebunden ist, den PT. Historisch gesehen war das auch der Fall – der Bürgerhaushalt hat sich gleichwohl zu einem ‚Best Practice‘-Instrument entwickelt, was auch als Argument angeführt wird von anderen (konservativen) Regierungsparteien, nicht zuletzt, um zu einer ‚Ent-Ideologisierung‘ beizutragen. Das zeigt sich etwa in São Paulo, wo der Nachfolger José Serras, Gilberto Kassab, mit diesem Argument eine Wiedereinführung in Betracht zog. Parallel zu diesen Strategien der ‚EntIdeologisierung‘ hat sich der Bürgerhaushalt aber auch tatsächlich zu einem routinierten bürokratischen Prozess entwickelt, innerhalb dessen über einen nur sehr kleinen Anteil des kommunalen Haushaltes entschieden wird – von Bürger_innen, die zum Großteil bereits politisch mobilisiert sind, insbesondere über lokale Bewohner_inneninitiativen.

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3.3 Über die politisch-planerische Konzipierung der Städte: Konkordanzen und Differenzen Die Ergebnisse zur politisch-planerischen Konzipierung der vier Städte lassen sich wie folgt thesenartig zusammenfassen: Negative Bedingtheit lokaler Politik und Planung: Sowohl externe als auch interne Bedingungen, denen sich lokale Politik und Planung gegenüber sehen, werden in den ‚Megastädten‘ São Paulo und Rio de Janeiro negativ bewertet, während sie in den beiden Großstädten überwiegend positiv eingeschätzt werden. Dabei wird Bezug genommen auf städtische Gegebenheiten (Größe und Diversität in São Paulo, Dynamik in Rio de Janeiro), aber auch auf Kennzeichen einer lokalen ‚politischen Kultur‘ (Konservativismus und Klientelismus). Neutral-positiv bewertet werden hingegen die institutionellen Voraussetzungen lokaler Politik und Planung, vor allem im Hinblick auf Fachkompetenzen und Kompetenzzuweisungen. In diesem Gefälle zwischen der Betonung ‚widriger externer Bedingungen‘ und ‚adäquate institutionelle Voraussetzungen‘ kann einerseits eine Legitimierungsstrategie gesehen werden nach dem Motto: ‚Selbst wenn das, was wir tun, nicht zu den gewünschten Effekten führt, so liegt das nicht an uns, sondern an den widrigen Bedingungen, denen wir uns gegenüber sehen.‘ Andererseits ist darin auch eine relevante Bezugnahme auf die Dimension und (Eigen-) Dynamik städtischer Entwicklungen zu sehen, in der die lokale Politik und Planung ihrem Verständnis nach tendenziell entkoppelt wird von den städtischen Gegebenheiten. Das ‚Ganze‘ der Stadt ist dann zwar Bezugspunkt, aber negativer Bezugspunkt der Politik und Planung. Akteurspluralisierung als aktuelle Tendenz: In den beiden ‚Megastädten‘ werden Tendenzen der Zunahme bzw. der Mitsprache unterschiedlicher politischer Akteure (insbesondere: die organisierte Zivilgesellschaft, aber auch Interessenverbände von Unternehmer_innen) als gegeben betrachtet. Die Einbindung der nicht organisierten Bevölkerung wird eher negativ beurteilt, der Dialog nicht gesucht, sondern die Verantwortungsübertragung auf andere, benennbare Akteure. Anders in Recife und Porto Alegre, wo institutionalisierte Beteiligungsverfahren im Vordergrund stehen. Dabei äußert sich die Akteursperspektive der Befragten immer auch in einer Orientierung an der ‚gesamten Bevölkerung‘ und den möglichen Gestaltungsformen eines institutionalisierten Interessenaustauschs. Dieser integrativen Politik steht ein segmentärer Zuschnitt der Politik in den beiden ‚Megastädten‘ gegenüber. Territorial-administrative Dezentralisierung als Ziel und Notwendigkeit: Institutionelle (administrative) Dezentralisierung wird in São Paulo als absolute Notwendigkeit angesichts einer bereits existierenden territorialen Dezentralisie-

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rung bzw. Aufteilung erkannt. In Rio de Janeiro wird Dezentralisierung zwar als Zielvorgabe formuliert, die aber am Beharrungsvermögen institutioneller Zentralisierung scheitert. In Recife und Porto Alegre schließlich finden sich Verweise auf zentralisierte Strukturen, aber auch auf die Notwendigkeit zentraler Lösungsansätze. Administrative Dezentralisierung steht also insbesondere in São Paulo im Fokus, während die anderen Städte auf eine solche Dezentralisierung mehr im Sinne einer best practice rekurrieren – wenn überhaupt. Lokale Politik als Wiederherstellung von Ordnung: In den beiden ‚Megastädten‘ werden Rollenverständnisse der lokalen Politik und Planung zum Ausdruck gebracht, die vor allem einer ‚Wieder-/Herstellung geordneter Verhältnisse‘ dienen. Das gilt insbesondere für Rio de Janeiro (‚Ordnung statt Planung‘), aber auch in São Paulo (‚zwischen Ordnung und Vermittlung‘). Darin kommt eine zwar aktive, aber tendenziell repressive und jedenfalls zentralistische Haltung der Politik zum Ausdruck. Das Vermittlungsverständnis in São Paulo nähert sich zwar dem prinzipiellen Dialogverständnis in den beiden Großstädten, Porto Alegre und Recife, an, besteht aber de facto mehr in einem tendenziellen Rückzug der Stadtpolitik zugunsten privater Akteure. Viel stärker als in den beiden ‚Megastädten‘ nehmen die Dialoginitiativen der lokalen Politik und Planung in Porto Alegre (vermittelnd) und Recife (mobilisierend) auf die Bevölkerung Bezug und können somit zumindest dem Anspruch nach als umfassend gelten. Die dagegen auf organisierte zivilgesellschaftliche und private Akteure orientierte Vermittlung in São Paulo ist dagegen partiell, weil sie sich nur an bestimmte Teile richtet.148 Bezugnahme auf Bedeutungen und Effekte von Stadtgröße: Die Akteure stellen eine größenrelevante Differenz dadurch her, dass insbesondere in São Paulo, aber auch in Rio de Janeiro eine deutliche (und negative) Bezugnahme auf Größe zu verzeichnen ist. Stadtgröße wird in São Paulo und Rio de Janeiro vor allem im Sinne von Ausdehnung und Verkehr problematisiert. In den beiden kleineren Städten werden diese Effekte eher positiv gesehen bzw. wird gerade die geringere Größe hervorgehoben. In den kleineren Städten werden dagegen eine gute Verwaltbarkeit, ein effektiver Einsatz politischer Instrumente und deren Umsetzbarkeit mit der geringen Ausdehnung positiv in Verbindung gebracht. Im Gegensatz dazu wird die politische Effektivität in den beiden ‚Megastädten‘in Frage gestellt. Dabei werden eine eingeschränkte Regier- und Verwaltbarkeit, 148 Das gilt zwar zum Teil auch für Porto Alegre, diese Einschränkung wird aber dadurch ausgeglichen, dass einzig dort auch ein gestalterisch-planerisches (ex-ante) Verständnis der Stadtregierung benannt wird, welches Zielvorstellungen über die Gesamtentwicklung formuliert. Der Ordnungscharakter als aktive Rolle der Stadtregierung schwächt sich in beiden Großstädten zu einem Kontrollcharakter ab.

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die Überbelastung institutioneller Kapazitäten sowie eine eingeschränkte Reichweite der Politik moniert. Heterogenität, Komplexität und Desintegration: Insbesondere in São Paulo werden der Stadtgröße erschwerende Effekte im Hinblick auf Heterogenität und Komplexität für Politik und Planung zugeschrieben. Desintegrative Wirkungen auf der Ebene sozialer Interaktionen identifizieren politisch-planerische Akteure sowohl in São Paulo als auch in Rio de Janeiro. Dagegen werden in Recife und Porto Alegre hohe Lebensqualität und (politisch-kulturelle) Homogenität hervorgehoben. Planung als Ordnung von Chaos und Informalität: Sowohl in São Paulo als auch in Rio de Janeiro wird mit dem ‚Chaos‘ sowie der ‚Informalität‘ ein allgemeines Prinzip städtischer Entwicklung formuliert, dem sich die Planung gegenübersieht. In Verbindung mit den ‚widrigen externen Bedingungen‘, welche die Stadtgröße (und das Wachstum) hervorruft, entwickelt diese Argumentation legitimatorische Wirkung auf die stark ordnungsbezogene Planungsausrichtung. Auch in Recife wird die ‚Informalität‘ als Prinzip dargestellt, Interventionen seitens der Planung richten sich aber nur auf einzelne Aspekte (Handel in der Innenstadt) bzw. erhalten eine ‚erzieherische‘ Dimension. Das Selbstverständnis der Planung, welches in den Interviews zum Ausdruck kommt, unterscheidet sich am stärksten in Porto Alegre, wo eine Organisations- und Entwicklungsfunktion hervorgehoben wird. Städtische Gegebenheiten als zentrale Aspekte der Masterpläne: Bei allen Unterschieden zwischen den Konzipierungen der Städte im Rahmen der Masterpläne zeigt sich als Übereinstimmung zwischen den beiden ‚Megastädten‘, dass die Themen Transport und Verkehr sowie der problematisierte Bedeutungs- und Bevölkerungsverlust der zentralen Gebiete hervorgehoben werden. Dagegen lässt sich in den kleineren Städten eine Betonung von politisch-institutionellen Fragen feststellen, insbesondere im Hinblick auf die Beteiligungsverfahren. Geringe Institutionalisierung partizipativer Mechanismen: Die Erfahrungen mit dem Partizipativen Bürgerhaushalt sind instabil bzw. wechselhaft für São Paulo, es findet sich keine Institutionalisierung in Rio de Janeiro, während Porto Alegre und Recife hochgradig institutionalisierte Beteiligungsverfahren haben. Der zentrale Grund dafür liegt in der Dauerhaftigkeit der jeweiligen Regierungen der Arbeiterpartei, welche den Bürgerhaushalt als Instrument der Gestaltung lokaler Demokratie bisher bevorzugt eingesetzt hat. Das Selbst- und Rollenverständnis von Politik und Planung wird aber in den beiden ‚Megastädten‘ vielfach mit externen Bedingungen, insbesondere städtischen Gegebenheiten wie demographische und territoriale Größe, in Zusammenhang gebracht. Darin lässt sich mindestens ein nachrangiger Grund für den untergeordneten Dialogcharakter der

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Regierungen in den beiden Städten sehen, der sich in der geringen Institutionalisierung partizipativer Mechanismen äußert. Wie lassen sich nun die Ergebnisse der Untersuchung der politischplanerischen Konzipierung der vier Städte vor dem Hintergrund der Fragmentierungsperspektive einordnen? Für die beiden ‚Megastädte‘, vor allem aber für São Paulo, wird in dieser Hinsicht eine gewisse Ambivalenz deutlich: Da ist auf der einen Seite die Diagnose einer stärkeren Bedeutung der Teile und deren unabhängige, selbstbezügliche Entwicklung, die als entkoppelt von einer zentralen Planungsinstanz und von einer politisch und sozial verfassten ‚Gesamtstadt‘ problematisiert wird. Auf der anderen Seite wird die Aufgabe der Politik und Planung gerade in der Herstellung eines Gesamtzusammenhangs gesehen, das Übertragen von Entscheidungsmacht wird häufig eher als kontraproduktiv gesehen. Nur im Hinblick auf das Alltagsgeschäft der Verwaltung wird eine Dezentralisierung im pragmatischen Sinne wirklich für notwendig erachtet. Das Verhältnis zwischen (sozialräumlicher) Stadt und (politischer) Kommune erscheint in den beiden kleineren Städten dagegen viel weniger ambivalent und wird hergestellt über die zentral geleistete (und leistbare) Kontrolle einerseits und den auf einer gewissen politischen Dezentralisierung beruhenden Dialog zwischen Regierung und Bevölkerung andererseits.

4. A LLTAGSPRAKTISCHE H ERSTELLUNG : N UTZUNG W AHRNEHMUNG DER S TÄDTE UND IHRER O RTE

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Die Untersuchung der alltagspraktischen Herstellung der unterschiedlich großen Städte hat zwei Aufgaben: Erstens sollen die alltäglichen Orte, ihre Nutzungsweisen und die Zuschreibung von Bedeutungen, welche von den Bewohner_innen der Städte vorgenommen werden, daraufhin untersucht werden, inwiefern sich über typische Nutzungs- und Wahrnehmungsweisen alltäglicher Orte sowie über alltägliche Attribuierungen größenrelevante Unterschiede zwischen den Städten herausstellen. Die ersten beiden Teilkapitel beinhalten dementsprechend allgemeine Darstellungen des empirischen Materials aus den Straßeninterviews. Dabei entsteht ein Überblick über die Antworten der Befragten zu den von ihnen genutzten Orten in den Städten sowie zu den von ihnen vorgenommenen Zuschreibungen und Bewertungen. Erkennbar wird dabei auch, dass ein stärker partiales Erleben der Städte nicht mit weniger starken Vorstellungen über

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die jeweilige Stadt als Gesamtzusammenhang einhergeht.149 Zweitens soll die damit verbundene Komplexitätsreduktion aufgehoben werden, indem aus den Interviews mit Bewohner_innen, die aus sehr ungleichen sozialen wie örtlichen Kontexten heraus die Städte erfahren, charakteristische Erzählungen herausgearbeitet werden. Im Hinblick auf die Größenrelevanz geht es aber auch hier darum, inwiefern der Größe und damit verbundenen Aspekten über die Nutzungs- und Wahrnehmungsweisen Bedeutung zugeordnet wird. Während die typischen Nutzungs- und Wahrnehmungsmuster vereinfacht erkennen lassen, welche Aspekte in den Interviews am deutlichsten hervortreten, geben die charakteristischen Darstellungen einzelner Befragter Aufschluss über die differierenden, teilweise ja sehr widersprüchlichen Sichtweisen auf die Städte und über ihre Begründungen. Damit wird die reduktionistische Darstellung der typischen Nutzungs- und Wahrnehmungsmuster wieder aufgebrochen, um den Differenzierungen und Widersprüchen in der alltagspraktischen Herstellung der untersuchten Städte gerecht zu werden.150 4.1 Alltägliche Orte a) Arbeits-, Wohn- und Freizeitorte Grundsätzlich zeigt sich anhand der örtlichen Nutzungsmuster der Befragten eine relevante Unterscheidung zwischen ‚Megastädten‘ und Großstädten. Diese lässt sich prinzipiell als stärker regionale Alltagsstrukturierung in den beiden ‚Megastädten‘ fassen gegenüber einer stärker gesamtstädtischen bzw. auch met-

149 Bei den über die Straßeninterviews im Rahmen einer teilstandardisierten Befragung generierten Daten handelt es sich um qualitative Daten. Die Befragung stellt keine repräsentative Erhebung dar, sondern verfolgt das Ziel, anhand bedeutsamer Orte und den diese Orte nutzenden Bewohner_innen der Städte typische Nutzungs- und Wahrnehmungsformen zu identifizieren (s. Kapitel C.1). Die in angegebenen Häufigkeiten sind immer nur in Bezug auf die Befragten zu verstehen, nicht auf die gesamte Bevölkerung. Die so erfolgte Aufbereitung des Materials erlaubt die Identifikation typischer Sichtweisen entlang der von den Befragten zum Ausdruck gebrachten Alltagsnutzung (v.a. Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Konsum) und der subjektiven Wahrnehmungen des alltäglichen Lebens im Hinblick auf positive, negative etc. Aspekte in den Städten. 150 Die alltagspraktische Herstellung kann damit auch als Muster differierender individueller Erfahrungen einer Stadt gesehen werden, die aber eben immer auch soziale Erfahrungen entlang der unterschiedlichen, aber auch ungleichen Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Nutzung, Wahrnehmung und Beurteilung städtischer Orte sind.

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ropolregionalen Alltagsstrukturierung in den beiden Großstädten, wo gleichzeitig auch die Zentren deutlichere und umfassendere Bezugspunkte darstellen. Darauf weisen die Distanzverhältnisse hin, die zwischen den Orten für Arbeits-, Konsum- und Freizeittätigkeiten und dem Wohnort bestehen. Die Angaben der Befragten wurden danach sortiert, ob sie im selben Stadtteil, in derselben städtischen Region (Süd-, Nord-, West- oder Ostzone oder Zentrum), in weiterer Distanz (zwischen Peripherie und Zentrum oder zwischen angrenzenden Städten der Metropolregion und der jeweiligen Stadt u.Ä.) oder in weiter Entfernung (zwischen Orten außerhalb der Metropolregion bzw. zwischen Orten in der Metropolregion, die in gänzlich verschiedenen Teilbereichen derselben sind) liegen.151 Wichtig an den Relationen ist nicht, wie weit die absoluten Distanzen sind, sondern wie die einzelnen Bereiche der Städte in Verbindung miteinander gesetzt werden durch die Alltagspraktiken (hier: alltägliche räumliche Mobilität) der Bewohner_innen. Die Distanz zwischen Peripherie und Zentrum in Porto Alegre oder Recife etwa mag in absoluten Zahlen der Distanz zwischen angrenzender Region und Zentrum in São Paulo oder Rio de Janeiro entsprechen. Trotzdem ist sie als Verbindung zwischen relativ weit entfernten Gebieten der Stadt zu werten. Unter diesen Voraussetzungen ergeben sich für die alltäglichen Verbindungen zwischen Wohn- und Arbeitsorten in den vier Städten folgende Verhältnisse (Abb. 3):

151 Die Zuordnungen sind bewusst ‚weich‘ gewählt. Denn bei der unterschiedlichen Größe und damit dem Ausmaß der Distanzen kann es sich nur um relative Verhältnisse handeln. In der einen Stadt mögen 45 Minuten zwischen Arbeits- und Wohnort als weitere Distanz begriffen werden, während in der anderen 45 Minuten als geringe Distanz aufgefasst werden. Auch sind die Stadtteile und Viertel unterschiedlich groß, wir haben es also nicht mit eindeutigen Kategorien zu tun. So müssen etwa zwei völlig unterschiedliche Realitäten derselben Kategorie zugeordnet werden: Ein wohlhabender junger Mann aus Recife gab an, außerhalb der Metropolregion zu arbeiten und befand dieses Pendeln aber nicht für schlimm, da er mit dem Auto innerhalb von 45 Minuten bereits am Arbeitsort sei. Eine junge Frau aus der Nordwestlichen Metropolregion Rio de Janeiros gab dagegen an, in die südöstliche Metropolregion versetzt worden zu sein und 2,5 Stunden einfache Strecke von Wohn- zu Arbeitsort unterwegs zu sein – beide wurden der Kategorie „große Entfernung“ zugeordnet.

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Abbildung 3: Arbeits- und Wohnorte der Befragten (Anzahl der Einfachnennungen der beschäftigten Befragten, São Paulo n=64, Rio de Janeiro n=43, Porto Alegre n=34, Recife n=39) 30

Arbeits‐ und Wohnorte der Befragten

25 20

selber Stadtteil

15

selbe Region

10

weitere Distanz entfernte Distanz

5 0 Sao Paulo

Rio de Janeiro

Porto Alegre

Recife

Damit zeigt sich eine Tendenz dahingehend, dass die Befragten in den beiden größeren Städten innerhalb derselben Region arbeiten und wohnen, während in Porto Alegre und Recife eine Tendenz zu weiteren Distanzverhältnissen besteht. In den beiden kleineren Städten und Metropolregionen scheint die Nutzung umfassender Teile der Gesamtstadt bzw. Metropolregion alltagsrelevanter zu sein als in den beiden ‚Megastädten‘, wo sich der Alltag typischerweise – zumindest im Hinblick auf Arbeiten und Wohnen – auf einzelne Regionen beschränkt. Dieses Verhältnis äußert sich in ähnlicher Weise in Bezug auf Freizeit und Konsum (Abb.4). Wir haben es also auch in Bezug auf die Distanzverhältnisse zwischen Wohn- und Freizeitorten mit einer Betonung der relativen Nahbereiche durch die Befragten in den beiden ‚Megastädten‘ zu tun. Im Umkehrschluss heißt dies, dass die beiden Großstädte von den befragten Bewohner_innen auch freizeitbezogen typischerweise räumlich umfassender genutzt werden. Damit ist verbunden, dass im alltäglichen Erleben der Bewohner_innen ein größerer Teil der Stadt Bedeutung erlangt – oder zumindest in den Bereich der Erfahrbarkeit rückt. Dagegen nehmen viele der befragten Bewohner_innen der beiden ‚Megastädte‘ eine mehr oder weniger bewusste räumliche Einschränkung auf ihre relativen Nahbereiche im Alltag vor.

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Abbildung 4: Freizeit- und Wohnorte der Befragten (Anzahl der Mehrfachnennungen152, São Paulo n=71, Rio de Janeiro n=85, Porto Alegre n=58, Recife n=75) 40 35

Freizeit‐ und Wohnorte der Befragten

30 25

selber Stadtteil

20

selbe Region

15

weitere Distanz

10

entfernte Distanz

5 0 Sao Paulo

Rio de Janeiro

Porto Alegre

Recife

Schließlich wurde auch erhoben, welche Distanzverhältnisse sich zwischen den Wohnorten der Befragten und den von ihnen angegebenen Orten des Konsums bestehen. Dabei wurde zwischen Orten für Lebensmitteleinkäufe, Kleidungseinkäufe und langfristigeren Konsumgütern wie Möbel, Haushalts- und Elektrogeräte unterschieden. Wenig überraschend geben die Befragten an, Lebensmittel üblicherweise im eigenen Viertel oder gar in der Wohnstraße oder Nachbarschaft einzukaufen. Hier zeigt sich kein unterscheidbares Profil zwischen den Städten, sondern, wenn überhaupt, für Einkommensgruppen.153 Auch die Angaben von Einkaufsorten für Möbel, Haushalts- und Elektrogeräte zeigen ein Profil, dass sich kaum zwischen den Städten unterscheidet: In der Regel werden diese selte152 Inhaltlich gesehen entfallen viele der freien Nennungen auf ‚zu Hause‘, ‚im Viertel auf dem Platz‘ oder ‚beim Sport‘, ‚im Park‘ (São Paulo: Ibirapuera, Porto Alegre: Parque da Redenção und Gasômetro) oder ‚Bars und Kneipen‘ – viele der Befragten nennen aber auch Einkaufszentren und Kinobesuche als bevorzugte Freizeitbeschäftigungen. Sehr deutlich stellt der Strand den vorrangig genannten Freizeitort in Recife (32 Nennungen) und Rio de Janeiro (29 Nennungen) dar. 153 Die wenigen Ausnahmen sind entweder Angaben von Haushalten mit mittleren bzw. niedrigeren Einkommen, die in benachbarte Viertel/Stadtteile zu günstigeren Supermärkten fahren (also über ein Auto verfügen) oder Wohlhabendere, die für spezielle Lebensmittel auch weitere Distanzen auf sich nehmen.

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ner benötigten Waren in den Stadtteilen oder Regionen gekauft, in denen sich auch der Wohnort befindet.154 Interessante Unterscheidungen zwischen den Städten zeigen sich vielmehr im Hinblick auf Kleidungseinkäufe (s. Abb. 5). Auch hier zeigt sich also, dass in den beiden größeren Städten – in Rio de Janeiro mit einer noch deutlicheren Tendenz als in São Paulo – der Fokus der Befragten auf dem relativen Nahbereich, insbesondere auf der Region liegt, während in Porto Alegre und Recife die nähere Umgebung zwar auch als Einkaufsort frequentiert wird, aber ebenso auch weitere Distanzen überbrückt werden dafür. Gründe hierfür mögen in der Struktur bzw. Vielfalt des lokalen Angebots liegen. Dieses hängt aber elementar mit der Frage der Dezentralisierung respektive Zentralisierung von Gewerbe und der alltäglichen räumlichen Mobilität zusammen. Im folgenden Unterkapitel wird deshalb auf die Bedeutungen von Zentren und Subzentren, wie sie von den Befragten zum Ausdruck gebracht wurden, eingegangen. Abbildung 5: Wohn- und Einkaufsorte (Kleidung) der Befragten (Anzahl der Mehrfachnennungen, São Paulo n=65, Rio de Janeiro n=55, Porto Alegre n = 41, Recife n=51) 35

Wohn‐ und Einkaufsorte (Kleidung)

30 25 selber Stadtteil

20

selbe Region

15

weitere Distanz

10

entfernte Distanz

5 0 Sao Paulo

Rio de Janeiro

Porto Alegre

Recife

154 Der überwiegende Teil der Befragten gab die üblichen Kaufhausketten (Casas Bahia, Ponto Frio) an, die mitunter auch in den näher gelegenen Einkaufszentren aufgesucht werden.

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Die Ausführungen zu den stadträumlich-alltäglichen Nutzungsweisen im Hinblick auf Arbeits-, Wohn- und Freizeit- bzw. Konsumorte lassen sich wie folgt zusammenfassen: Während die befragten Bewohner_innen der beiden ‚Megastädte‘ sich typischerweise auf die relativen Nahbereiche (Aktivitäten im selben Stadtteil oder derselben Region wie Wohnort) konzentrieren, spielen für die befragten Bewohner_innen der Großstädte weitere Distanzverhältnisse eine ebenso große Rolle wie die Nahbereiche. Hierin scheint sich die These von einer im Alltag akzentuierten Aufteilung des Stadtraumes zu bestätigen, weil zumindest das körperliche Erleben auf Ausschnitte dessen, was als Gesamtstadt wahrnehmbar ist, beschränkt bleibt. b) Zentren und Subzentren Die Bedeutung von städtischen Subzentren unterscheidet sich grundlegend zwischen den untersuchten Städten: Sie ist ausgeprägt in São Paulo und Rio de Janeiro, sie ist deutlich weniger akzentuiert in Recife und im Vergleich verschwindend gering in Porto Alegre. Zunächst scheint sich darin die These der stärkeren stadt-räumlichen Aufteilung der Städte wiederum zu bestätigen. Allerdings lässt die Empirie auf eine Unterscheidung zwischen regionalen und überregionalen Subzentren schließen; dort, wo regionale Subzentren besonders bedeutsam sind, findet sich eine Bestätigung der These. Auf überregionale Subzentren aber, die zwar nicht zum Hauptzentrum der Stadt gehören, aber dennoch eine überregional genutzte Infrastruktur darstellen, trifft das nur bedingt zu. Zwar handelt es sich dabei um eine Aufspaltung von Zentralität, aber nicht um eine räumliche Reorganisation in Form autarker Stadtregionen. Die zwei unterschiedlichen Phänomene können einmal als alltägliche, räumliche Dezentralisierung (regionale Subzentren), einmal als alltägliche, räumliche Plurizentralisierung (überregionale Subzentren) verstanden werden. Konkret gestaltet sich die Akzentuierung von Subzentren in den vier Städten wie folgt: Am deutlichsten treten regionale Subzentren wie Santo Amaro, Lapa oder Brás als alltagsrelevante Orte in São Paulo hervor; gleichzeitig nimmt Brás eine überregionale Bedeutung ein (vorrangig für Kleidungs- und Textilwareneinkäufe). In Rio de Janeiro spielen Subzentren ebenfalls eine wichtige Rolle, allen voran Campo Grande,155 aber auch die nördlichen Subzentren (Penha, Madureira). Deutlich weniger akzentuiert finden sich die Nennungen von Subzentren in Recife, auch wenn Casa Amarela (im Nordwesten) und auch Afogados (südlich) eine Rolle für Einkäufe spielen. Fast verschwindend gering sind 155 Wobei hier nicht ausgeschlossen werden kann, dass dieser Ort auch deshalb mehr Betonung erfahren hat als andere, weil ein relevanter Teil der Befragten aus der nordwestlichen Region Rio de Janeiros kommt.

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dagegen die Nennungen von Subzentren wie Azenha und Assis Brasil in Porto Alegre, die allenfalls als regionale Subzentren begriffen werden können. Abbildung 6: Aktivitäten im Zentrum im Vergleich (Anzahl der Nennungen) 30

Aktivitäten im Zentrum

25 20 15

Sao Paulo (n=68)

10

Rio de Janeiro (n=75)

5

Porto Alegre (n=68) Recife (n=59)

0

Das heißt, dass die Einschränkung der These einer Reorganisation einzelner Teile hin zu autonomen Gebieten über die bestehenden überregionalen Subzentren vor allem für São Paulo gilt. Das östliche Subzentrum Brás stellt ein überregionales Subzentrum dar, wodurch Plurizentralität hergestellt wird. Diese (über Arbeit und Konsum hergestellte) Plurizentralität ist ein entscheidendes Merkmal der Unterscheidung zwischen São Paulo als (kompakter) ‚Megastadt‘ und den anderen (kleineren) Städten. In Rio de Janeiro wird eine solche Plurizentralität annäherungsweise anhand des südlichen Küstenviertels Copacabana hergestellt.156

156 Die als ‚neue Elitezentren‘ (s. Kapitel C.2) bewerteten Wohn- und Arbeitsgebiete der Wohlhabenden wurden hier nicht als Subzentren gewertet. Das liegt zum einen darin begründet, dass diese als Konsumorte kaum über den Stadtteil hinaus Bedeutung haben – die reichen Bewohner_innen dieser Stadtteile sind häufig von ihren Freizeit- und Konsummustern (z.T. auch Arbeitsaktivitäten) stark auf ihren jeweiligen Stadtteil fokussiert. Die weniger Wohlhabenden von auswärts hingegen kommen nicht so sehr zum Einkaufen, sondern vor allem, um ihre Freizeit dort (am Strand, im Shopping Center ohne zu konsumieren etc.) zu verbringen. Zum anderen hat sich bereits im Rahmen der Untersuchung der räumlichen Konfiguration der

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Unabhängig von der Größe der Städte bringen die Befragten aber auch eine hohe Bedeutung der jeweiligen Stadtzentren zum Ausdruck. Insgesamt geben deutlich mehr Befragte an, dass das Zentrum der Stadt für sie eine hohe Bedeutung habe und sie es regelmäßig frequentieren, als das Gegenteil. Wodurch erhält das Zentrum aber seine Bedeutung, welchen Aktivitäten wird dort vorrangig nachgegangen? In Bezug auf Einkäufe hat das Zentrum in allen Städten eine hohe Bedeutung hat. Da diese Aktivität für São Paulo, Rio de Janeiro und Porto Alegre etwa gleichbedeutend für die befragten Bewohner_innen war, kann sie als Spezifikum für diese Städte ausgeklammert werden. Nicht so für Recife aus, wo den Einkäufen eine extrem hohe Bedeutung für das Zentrum zukommt.157 • São Paulo: Arbeit/Ausbildung – das Zentrum lässt sich damit beschreiben als

ein Ort, der vorrangig von seinem funktionalen Notwendigkeitscharakter bestimmt ist. • Rio de Janeiro: Freizeit & Erledigungen – das Zentrum erhält damit einen ambivalenten Charakter zwischen Notwendigkeit und Spontaneität158, wobei davon auszugehen ist, dass der Notwendigkeitscharakter aufgrund der geringeren Anzahl an Interviews im Zentrum tendenziell unterbetont ist. • Porto Alegre: Freizeit – das Zentrum hat einen relativ hohen Spontaneitätscharakter, d.h. neben den Einkaufsaktivitäten wird es vielfach in der Freizeit genutzt.159 • Recife: Einkauf & Freizeit – aufgrund der extrem hohen Bedeutung des Zentrums für Einkaufaktivitäten kann auch dem Zentrum von Recife ein ambivalenter Charakter zwischen Notwendigkeit und Spontaneität zugewiesen werden. Die nachfolgende Tabelle führt die Ergebnisse zu Zentren und Subzentren in den untersuchten Städten noch einmal im Überblick zusammen:

Städte gezeigt, dass sich die unterschiedlich großen Städte hierin nicht wesentlich unterscheiden. 157 Eine plausible Erklärung liegt hier sicher in der weniger gut ausgestatteten Peripherie bzw. umliegenden Städten der Metropolregion. 158 Spontaneität begriffen als ohne äußere Anregung bzw. Notwendigkeit. 159 Zwar kommt auch der Angabe von arbeitsbezogenen Aktivitäten eine hohe Bedeutung zu, diese ist aber angesichts der großen Anzahl an Interviews innerhalb des Zentrums (20 von 45) möglicherweise als überbetont zu betrachten.

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Tabelle 5: Räumliche Alltagsstrukturierung, Zentralitätsgefüge und Zentrumsfunktionen der untersuchten Städte   Zentralitätsge‐ füge 

Zentrumsfunkti‐ onen 

São Paulo  Plurizentrali‐ tät und aus‐ geprägte  Dezentralität Funktionaler  Notwendig‐ keitscharakter 

Rio de Janeiro Ausgeprägte  Dezentralität,  angedeutete  Plurizentralität Zwischen Not‐ wendigkeit und  Spontaneität 

Porto Alegre Hohe inner‐ städtische  Zentralität 

Recife Dezentrale  Zentralität 

Spontanei‐ tätscharakter 

Zwischen  Notwendig‐ keit und  Spontaneität 

Überregionale Subzentren sind also offenbar eine Frage der Größe; beide ‚Megastädte‘ weisen ein gestreutes Zentralitätsgefüge im Hinblick auf die Alltagsbedeutung für ihre Bewohner_innen auf mit starken Subzentren, die auf eine Unterteilung des städtischen Raumes und damit auf eine Bestätigung der gängigen These von eine stärkeren Aufteilung hinweisen. Gleichzeitig bilden sich zusätzliche Knoten in der Stadt aus, die überregional bedeutsame Bindungsmomente darstellen und damit ein Gegenmoment zu den ansonsten stark auf regionale Alltagsstrukturierung ausgerichteten Nutzungsweisen der Bewohner_innen darstellen. Nun könnte man annehmen, dass die historischen Zentren dadurch weniger bedeutsam werden im Hinblick auf notwendige Funktionen, aber im Vergleich zeigt sich Gegenteiliges: Je weniger dezentral das innerstädtische Zentralitätsgefüge ist, desto stärker der Spontaneitätscharakter des eigentlichen Zentrums. Umgekehrt erhält das Zentrum in São Paulo einen fast ausschließlichen Notwendigkeitscharakter von den Befragten, obwohl andere Zentralitäten viele Funktionsbezüge übernehmen. 4.2 Alltägliche Attribuierungen Welche Orte die Bewohner_innen aus welchen Gründen nutzen, ist eine Frage – welche Bedeutungen sie ihnen zuschreiben, worin sie Vorzüge erkennen und was ihnen Sorge bereitet in Bezug auf die städtischen Kontexte, innerhalb derer sie sich bewegen, eine andere. Damit lassen sich Nutzungs- und Wahrnehmungsweisen verbinden zur Erfahrung städtischen Alltags. Im Folgenden werden alltägliche Attribuierungen aus den Interviews herausgearbeitet im Sinne allgemeiner Zuschreibungen und Bewertungen von Stadtspezifika, sowie von lokalen Kontexten im Sinne ortsbezogenen Sicherheits- und Unsicherheitsempfindens.

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a)

Allgemeine Zuschreibungen und Bewertungen von Stadtspezifika Die allgemeinen Zuschreibungen können unterschieden werden nach eindeutig positiven oder negativen Aspekten, nach Aspekten, die sich auf städtische Gegebenheiten und Dynamik, auf städtische Funktionen oder auf persönliche Bezugspunkte der Befragten beziehen (s. Tabelle im Anhang). Grundsätzlich zeigt sich dabei eine Differenz zwischen São Paulo und den drei anderen Städten: Während in den drei kleineren Städten positive Nennungen überwiegen (insbesondere im Hinblick auf die städtische Umwelt und auf Qualitäten der Bewohner_innen der Städte), weist São Paulo eine klare Bezugnahme zu städtischen Gegebenheiten auf, die größtenteils negativ bewertet werden. So werden in São Paulo werden kaum dezidiert positive Aspekte benannt (z.B. Belebtheit, Diversität, Entwicklung und Wachstum). Es stehen solche Aspekte im Vordergrund, die sich dem Themenfeld der städtischen Gegebenheiten und Dynamik in negativer Weise zuordnen lassen (v.a. Menschenmenge, Hektik, Stress, Größe, Durcheinander, Unordnung, Verschmutzung). Außerdem werden einzig in São Paulo städtische Funktionen, insbesondere in Bezug auf die städtische Ökonomie (v.a. Arbeit), aber auch auf die politische Funktion als Hauptstadt und als wichtiger Bezugspunkt im politischen System Brasiliens, hervorgehoben. Für Rio de Janeiro, Porto Alegre und Recife gilt, dass deren Bewohner_innen ganz allgemein überwiegend positive Aspekte mit ihren Städten verbinden. In besonderem Ausmaß gilt das für Rio de Janeiro und Porto Alegre. Die Attribuierungen zu Recife zeigen relativ gestreute Bewertungen, auch wenn die positiven überwiegen. Dabei werden in Rio de Janeiro und Recife häufig touristische Motive reproduziert: In Recife zeigt sich das anhand der kulturellen Bezüge und der architektonischen Attraktivität; in Rio de Janeiro mit dem Slogan Cidade Maravilhosa (die ‚Wundervolle Stadt‘, welche hier als unspezifisch positiv gewertet wurde), sowie dem Rekurs auf die attraktive städtische Umwelt. Eine weitere Ähnlichkeit zwischen Rio de Janeiro und Recife ist, dass die negativ benannten Aspekte größtenteils auf das Thema Gewalt und Unsicherheit entfallen. Bezüge zu städtischen Gegebenheiten, die in Zusammenhang mit der Größe gebracht werden können, spielen bei den Befragten also eine große und vorrangig negative Rolle in São Paulo, eine relevante, aber positive Rolle in Recife, kaum eine Rolle in Porto Alegre und keine Rolle in Rio de Janeiro. Hervorzuheben ist weiterhin, dass die Befragten ausschließlich in den beiden Großstädten auf Wachstum und Entwicklung der Städte eingehen. Insgesamt zeigt sich entlang der positiven Zuschreibungen zeigt sich ein recht heterogenes Bild der untersuchten Städte. Sie lassen sich unterteilen in die Kategorien ‚Produktion‘ (Arbeit, Bildung und Information), ‚Konsum‘ (Angebotsvielfalt und -nähe, Han-

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del und Gewerbe), ‚Rekreation‘ (Strand, Freizeitwert allgemein, Unterhaltung/Kino/Bars, Einkaufszentren, Sportgelegenheiten, Parks), ‚Städtische Gegebenheiten und Umgebung‘ (Natur/Schönheit/touristische Orte, Größe/Bedeutung, Diversität/Vielfalt, Sauberkeit/Sicherheit, Klima/Wetter), ‚Persönliche Beziehungen‘ (‚die Leute‘, Familie, Biographie) sowie ‚unspezifische Angaben‘ (alles/vieles, nichts). Die negativen Aspekte weisen insgesamt eine geringere Bandbreite auf und ähneln sich auch stärker zwischen den Städten, sie umfassen die Kategorien ‚Städtische Gegebenheiten‘ (Verkehr/öffentlicher Transport, Überfüllung/Größe, Verschmutzung/Lärm, Stress/Hektik, Distanzen, Favelas, fehlende Infrastruktur), ‚Soziale und politische Gegebenheiten‘ (Politik, (fehlende) Arbeitsmöglichkeiten, Gesundheit/Bildung (Mangel), Ungleichheit/Armut, Heterogenität, ‚Leute‘), ‚unspezifische Aspekte‘ (nichts, unspezifische Angabe) sowie ‚Gewalt und Kriminalität‘ (allgemein, Überfälle/Schießereien/Drogen, Gefahr/Angst/Unsicherheit). In São Paulo liegt der Schwerpunkt der positiven Aspekte auf Produktion und Konsum, wodurch ein insgesamt stark über ökonomische Aspekte definiertes Alltagsleben zum Ausdruck kommt. Positiv hervorgehoben werden vor allem die Arbeitsmöglichkeiten in der Stadt sowie jene Konsumbereiche und deren Zugänglichkeit, welche den alltäglichen Bedarf abdecken.160 Auch in der Frage nach den Angaben gegenüber einer fiktiven familiären Person, die hinzuzöge, wurde mit der positiven Situation auf dem Arbeitsmarkt das klassische Motiv der Binnenmigration reproduziert. Auch Hektik und Stress spielten hier zwar eine Rolle, aber generell waren die Stadtzuschreibungen gegenüber einer hinzuziehenden Person eher positiv.161 In Rio de Janeiro ergeben die Zuschreibungen ein anderes Bild: Im Vordergrund stehen für die Befragten hier der Freizeitwert der Stadt sowie die sozialen Beziehungen (vor allem unspezifisch in Bezug auf die Bewohner_innen Rios allgemein). In Porto Alegre liegt zwar eine leichte Betonung auf der städtischen Umgebung, aber auch Beziehungen und Konsum wer160 Die Nennung von Einkaufszentren wird unter ‚Rekreation‘ eingeordnet, da damit in der Regel weniger Bedarfsorientierte, denn freizeitorientierte Besuche verbunden sind. 161 ‚Stell dir vor, ein Cousin/eine Cousine aus xy zieht hierher. Bitte vervollständige die Sätze: 1. Du wirst sehen, hier ist das Leben anders, weil … 2. Man muss sich gewöhnen an … 3. Die Leute hier sind … 4. Wie würdest du ihmIhr helfen bei der Arbeitssuche?‘ Wichtig ist für diese Frage, dass die genannten Aspekte immer in Relation gesetzt werden, denn die Frage impliziert, dass die fiktive Person andernorts gelebt habe und sich nun an den Ort São Paulo gewöhnen bzw. ein Leben dort beginnen müsse. Für São Paulo wurde in der Regel Rio de Janeiro als Herkunftsort veranschlagt, während in allen anderen drei Fällen São Paulo den Bezugsort darstellte.

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den hier betont; insgesamt sind die positiven Nennungen hier eher gestreut. In der zweiten Stadt mit Strand liegt die Betonung wiederum auf dem Freizeitwert; beide Male, sowohl in Rio de Janeiro als auch in Recife, ergibt sich diese Dominanz über die Nennungen des Strandes als Bezugspunkt. Große Ähnlichkeit wiesen die Antworten auf die Fragen der fiktiven hinzuziehenden Person in Rio de Janeiro und Porto Alegre auf: In beiden Städten betonten mit Abstand die meisten der Befragten, dass die vorrangige Besonderheit der jeweiligen Stadt in den Menschen und der Art und Weise des Zusammenlebens bzw. der Interaktionen zwischen den Menschen liege.162 In den beiden Großstädten wurden vor allem ‚größenrelevante‘ Unterschiede zu São Paulo hervorgekehrt: Sowohl im Hinblick auf Arbeitsplätze, als auch auf allgemeine Größe sowie Hektik und Stress gaben die Menschen in Recife und Porto Alegre einen Unterschied zu São Paulo als entscheidend an. Darin mag sich zwar auch ein Bezug zur Größe der eigenen Stadt verbergen, vorrangig spiegelt sich darin aber wohl das Bild, welches Brasilianer_innen von São Paulo haben. Wirklich größenrelevante Unterscheidungen lassen sich hier also nicht identifizieren. Die vorrangigen Themen im Rahmen der negativen Aspekte sind ‚Gewalt‘ und ‚städtische Gegebenheiten‘. Dabei liegt der Schwerpunkt in São Paulo (und Porto Alegre) klar auf letzteren und zwar besonders auf Verkehr und Transport, während in Rio de Janeiro (und Recife) Gewalt und Kriminalität vorrangig betont werden. Verkehr wird zwar auch in Rio de Janeiro als Gesamtproblem identifiziert, größenrelevante Bezugspunkte werden jedoch fast ausschließlich in São Paulo genannt. Die beiden Großstädte, vor allem Recife, weisen eine eher gestreute Bandbreite der identifizierten Probleme auf. Städtische Gegebenheiten werden zwar auch in Rio de Janeiro, Porto Alegre und Recife als negativ wahrgenommen, die positiven Bezüge (vorrangig über den Freizeitwert und die Attraktivität der städtischen Umgebung) bilden aber in diesen Städten ein starkes Gegengewicht zu den negativen Einschätzungen. In São Paulo wird dagegen die negative Sichtweise auf städtische Gegebenheiten von den Befragten in Verbindung mit der Größe und Dynamik des Städtischen gebracht. Auch bei den Antworten gegenüber der fiktiven hinzuziehenden Person, welches die gewöhnungsbedürftigen Aspekte des Alltagsleben seien, wurden in São Paulo erneut am deutlichsten Aspekte hervorgehoben, die in negativer oder neutraler Weise die städtischen Gegebenheiten hervorheben. Verkehr und Transport, Hektik und Stress, Lärm, Chaos, Verschmutzung, Überfüllung und Menschenmengen, aber auch ‚die Stadt/der Ort an sich‘ wurden hier genannt. In Rio de Janeiro wird 162 Eine etwas nachrangige, aber immer noch bedeutende Rolle spielten in Rio de Janeiro Bezüge zum Freizeitwert der Stadt und der natürlichen Schönheit sowie unspezifische Postulierungen als schlichtweg ‚besser‘.

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ebenfalls das bereits unter den negativen Aspekten hervorgehobene Thema der Gewalt und Kriminalität als am meisten gewöhnungsbedürftig identifiziert. Die ‚Leute‘ und der Umgang miteinander bzw. das Zusammenleben sind aus Sicht der Befragten die zweitstärkste Gewöhnungskategorie, auch Klima und Wetter werden hervorgehoben. In Porto Alegre und Recife stellen dagegen ‚die Leute‘/das Zusammenleben und das Klima/Wetter die relevanten Bezüge dar. In Porto Alegre werden insbesondere die Menschen163, ihr Umgang miteinander, ihre Sprache, Tradition und Kultur sowie ein als eigenständig wahrgenommener ‚Rhythmus‘ genannt. In Recife sind es ebenfalls die Menschen, ihr Umgang miteinander und ihre Tradition, aber ebenso stark wird auch das Klima/Wetter gemacht. In den ‚Megastädten‘ wird also als gewöhnungsbedürftig vorrangig das betrachtet, was schon zuvor als besorgniserregend oder schwierig eingestuft wurde, in den Großstädten heben die Befragten dagegen eher Aspekte des Zusammenlebens und spezifischer traditioneller bzw. kultureller Bezüge hervor. b) Sicherheits- und Unsicherheitsempfinden Gewalt und (Un-)Sicherheit können als zentrale Themen in allen Städten gesehen werden. Es handelt sich gleichzeitig um sehr komplexe Themen, deren Bedeutung sich nicht in statistischen Raten zu Kriminalität und Kriminalitätsbekämpfung abbilden lassen. Politische und mediale Instrumentalisierung zur Generierung von Aufmerksamkeit sind ebenso alltäglich wie die Erfahrung von gewalttätigen, kriminellen Handlungen und die Angst davor seitens der Bewohner_innen. Die wohl wichtigste öffentliche Debatte umkreist die Frage nach der Verortung von Gewalt, Kriminalität und Unsicherheit generierenden Aktivitäten. Schnell sind die üblichen Verdächtigen genannt in der quasi automatischen Verbindung von Favelas und organisierter Drogenkriminalität. Für die Regulierung von (Un-)Sicherheit ist dieser Automatismus dankbar, denn er macht jedwede Gegenmaßnahme an diesen Orten per se zur Bekämpfung von Gewalt und Kriminalität. Für den Alltag der Bewohner_innen aber ist dieser Automatismus ungültig, denn sie machen nicht nur unterschiedliche Erfahrungen mit Gewalt und Kriminalität (so ist für manche Polizeigewalt der größere Unsicherheitsfaktor), sondern ordnen der Thematik auch unterschiedliche Bedeutungen zu. Um diesem Aspekt Rechnung zu tragen, wurde im Rahmen der Befragung offen danach gefragt, mit welchen Orten die Interviewpartner_innen ein Gefühl der Sicherheit, mit welchen sie dagegen ein Gefühl der Unsicherheit in Verbindung brächten. Wie zu erwarten entfallen in allen vier Städten die meisten Nen163 Häufig als Gaúchos (port. Bewohner_innen des Staates Rio Grande do Sul) benannt, womit also eigentlich weniger eine Spezifik Porto Alegres benannt ist, denn eine regionale Spezifik des südlichen Gliedstaates.

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nungen von Orten des Sicherheitsempfindens auf das Zuhause. In Übereinstimmung mit der Tatsache, dass sich das Leben der Befragten zu einem großen Teil in ihren jeweiligen Vierteln und Stadtteilen abspielt, steht die für São Paulo und für Rio de Janeiro zweithäufigste Nennung von Nachbarschaft und Viertel als Orte der Sicherheit. Allerdings spielen diese in Porto Alegre und Recife eine ähnlich große Rolle – insofern ist hiermit zumindest der Tendenz nach kein Unterschied zu erkennen. Gleichbedeutend als Orte des Sicherheitsempfindens sind in den beiden Großstädten jedoch die Einkaufszentren, die in São Paulo keinerlei und in Rio de Janeiro nur vernachlässigbar wenige Nennungen erfahren. Hervorzuheben ist in Porto Alegre, dass hier auch das Zentrum von den Befragten häufig als Sicherheitsort genannt wird. Andererseits ist das Zentrum auch der häufigste Bezugspunkt für ein diffuses, d.h. an keinen konkreten Orten oder Merkmalen festgemachtes Unsicherheitsgefühl. Fast ein Drittel der Nennungen von Unsicherheitsorten in Porto Alegre entfallen auf das Zentrum (ohne konkrete Örtlichkeiten zu benennen). Besonders hervorzuheben ist für Porto Alegre die Verbindung von Unsicherheitsempfinden und Tageszeit: Viele der Befragten in Porto Alegre gaben an, dass sie sich vor allem nachts unsicher fühlten. Diese Zeitangabe spielt zwar auch in Rio de Janeiro eine Rolle, ist aber in keiner der vier untersuchten Städte so ausgeprägt wie in Porto Alegre. Insgesamt äußern die Befragten in Porto Alegre ein geringeres Unsicherheitsempfinden. Vernachlässigbar wenige Befragte gaben an, sich ‚überall‘ unsicher zu fühlen, hingegen entfallen viele der Nennungen auf ‚nirgends‘. Insbesondere in Rio de Janeiro und Recife kommt dagegen der Angabe ‚überall‘ eine besondere Bedeutung zu. In São Paulo ist das historische Zentrum am stärksten mit Unsicherheitsempfinden verbunden. Dabei werden vielfach konkrete Orte benannt (vor allem Cracolândia und die Straße 25 de Março). Auch Subzentren wurden in São Paulo mehrfach als Unsicherheitsorte genannt, was in Porto Alegre und Recife gar nicht genannt wurde (angesichts ihrer geringeren Bedeutung keine Überraschung). Zwar spielte auch in Rio de Janeiro und Recife das Zentrum als Unsicherheitsort eine große Rolle, anders als in São Paulo wurden hierbei allerdings keine konkreten Orte benannt. In Rio de Janeiro werden außerdem Favelas und comunidades carentes (‚Armensiedlungen‘) als Unsicherheitsorte hervorgehoben, die in den anderen Städten kaum, in São Paulo sogar gar nicht genannt werden. Das Unsicherheitsempfinden erweist sich also als diffuser und verallgemeinerter in Rio de Janeiro und Recife, wo die Antwort ‚überall‘ und unspezifische Ortsangaben deutlich überwiegen. Dagegen erweist es sich in São Paulo und Porto Alegre als konkreter und weniger dominant. Hierin lässt sich keine grö-

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ßenrelevante Unterscheidung der Städte erkennen. Die einzig auffällige Beobachtung in dieser Hinsicht ist, dass die Einkaufszentren als Sicherheitsorte fast ausschließlich in den Großstädten Porto Alegre und Recife genannt wurden. So zeigt sich insgesamt, dass einzig in São Paulo der Größe Bedeutung zugeordnet wird im der alltäglichen städtischen Bedingungen. Worin sich aber die beiden ‚Megastädte‘ im Gegensatz zu den Großstädten ähneln, ist, dass für beide zwar entlang der Nutzungsweisen starke räumliche Aufteilungen produziert werden, die aber mitnichten eine weniger konkrete Vorstellung vom ‚Ganzen‘ bedingen. Im Gegenteil, denn die Attribuierungen der beiden ‚Megastädte‘ sind sehr deutlich mit bestimmten Bildern verbunden. Sie lassen sich für São Paulo vorrangig als negative Dynamik im Hinblick auf Verkehr und Hektik und als neutrale Funktionalität im Hinblick auf Arbeit umschreiben. Für Rio de Janeiro werden Bilder einer positiven Atmosphäre im Hinblick auf Menschen und Umgebung und einer negativen Gefährdung durch Gewalt und Kriminalität hervorgerufen. Dagegen weisen die beiden Großstädte teilweise sogar (deutlicher für Recife als für Porto Alegre) stärker gestreute oder unspezifische Attribuierungen auf. Das heißt also, dass die räumlich produzierten Trennungen im Alltag keine direkte Auswirkung hat auf die Möglichkeiten von der Vorstellung dessen, was die Stadt als ‚Ganze‘ denn sei. Anders gesagt: Die Erfahrbarkeit ist dadurch nicht beeinträchtigt. Inhaltlich zeigen sich aber deutliche Unterschiede dabei, wie die Städte erfahren werden, was im Folgenden als typische Nutzungs- und Wahrnehmungsweisen zusammengefasst wird. 4.3 Typische Nutzungs- und Wahrnehmungsweisen der Städte Für die einzelnen Städte zeigen sich also inhaltlich typische Nutzungs- und Wahrnehmungsweisen, die in den Interviews besonders stark hervorgetreten sind. São Paulo164 ist eine Stadt, in der das Alltagsleben vor Ort geprägt ist durch

164 In São Paulo ist für die Erarbeitung typischer Attribuierungsweisen das obere Einkommenssegment tendenziell unterrepräsentiert. Interviewt wurden etwa zu gleichen Teilen Personen mit einem pro Kopf-Einkommen, das unter dem Median von ca. 1,5 Mindestlöhnen (Quelle: IBGE, Zensus 2010) oder in einem mittleren Segment über dem Median liegt. In nur sechs von 68 Interviews wurde ein Einkommen angegeben, das weit über dem Median liegt und dem oberen Einkommenssegment zuzuordnen ist. Es ist zudem offensichtlich, dass diejenigen aus den oberen Einkommenssegmenten, die hier befragt werden konnten, eine positive Einstellung gegenüber der Stadt haben und sich auch nicht davor scheuen, die öffentlichen Räume zu frequentieren (etwa das Zentrum). In den anderen untersuchten Städten konnten wohlhaben-

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São Paulos ‚Stadt-Sein‘ und die damit verbundenen Situationen. Im Vordergrund stehen dabei Dynamik und Größe der Stadt und damit verbundene Aspekte wie Verkehr, Stress/Hektik und Überfüllung. Diese Aussage ist beileibe nicht als Tautologie zu verstehen: Was die Bewohner_innen als prägend empfinden, ist mitnichten immer schon ‚städtisch‘, wie der Vergleich mit Rio de Janeiro und den beiden kleineren Großstädten zeigt. Die stärkste Auswirkung auf die Gemütslage der Bewohner_innen São Paulos hat das Empfinden von Hektik und Stress. Dabei verweisen die Befragten auf Hektik und Stress nicht nur als allgemeine Zuschreibung, sondern auch als Besonderheit des Stadtlebens und als zugeschriebene persönliche Eigenschaft der Bewohner_innen São Paulos. Als ‚Imperative des Alltagslebens‘165 in der Stadt gehen Hektik und Stress vor allem mit der Verkehrs- und Transportsituation einher. Umso weniger überraschend ist es, dass sich genau daran die gegenwärtigen Proteste (Juni 2013) entzünden. Der typische Tenor der städtischen Zuschreibungen ist aber nicht nur von diesen negativen Aspekten geprägt, sondern muss auch als neutral beschrieben werden: Insbesondere die ökonomischen Funktionen der Stadt werden von den Bewohner_innen zu positiven oder neutralen Zuschreibungen verarbeitet. Das Arbeitsangebot und die Angebotsvielfalt in sämtlichen Konsumbereichen sind die typisch positiven Attribuierungen der Stadt. Die Bewertungen des Zusammenlebens auf den drei Ebenen Nachbarschaft, Viertel und Stadt lassen erkennen, dass die Wahrnehmung der Mitmenschen mit den Umständen der Interaktionssituation zusammenhängt: Dort, wo Nähe und Kommunikation auf Dauer gestellt sind (Nachbarschaft und Viertel), werden die Anderen und die Interaktionsformen mit ihnen positiv bewertet. Dort, wo die äußeren Umstände (Arbeitsbezug, Gewalt, Ungleichheit, Größe, Unordnung, Hektik und Stress) negativ bewertet werden, gehen auch die Menschen in Distanz zueinander und werden zur Begründung eines für schwierig erachteten Zusammenlebens. Das Zusammenleben wird dabei – und das ist für das hier Untersuchte hervorzuheben – aber vor dem Hintergrund der äußeren Umstände de Bewohner_innen deshalb leichter befragt werden, da dort öffentliche Orte gegeben sind (vor allem Parks und Strände), die von diesen auch frequentiert werden und die keine Einschränkungen für die Befragung darstellten. Befragungen in Einkaufszentren wurden sowohl aus konzeptionellen (Interviews wurden an öffentlichen Orten geführt, während Einkaufszentren halböffentliche Räume sind) als auch aus Gründen der Praktikabilität verworfen. Die einzige Schlussfolgerung, die wir hieraus ziehen können, ist, dass es einen Rückzug der Wohlhabenden São Paulos in private Konsumorte gibt, der stärker ausgeprägt ist als in den anderen Städten. 165 Als ‚Imperative des Alltagslebens‘ lassen sich die Angaben zu der Frage verstehen, woran man sich wohl gewöhnen müsse, wenn man in die Stadt zöge.

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bewertet. Dabei ist es nicht die Bewertung selbst, die Aufschluss gibt über eine mögliche Größenrelevanz, sondern der inhaltliche Bezug, der dafür hergestellt wird: Während es in São Paulo typischerweise größenrelevante Umstände sind (Größe, Überfüllung, Hektik und Stress, Unordnung), die der negativen Bewertung als Grundlage dienen, sind es in Recife stärker soziale und politische Verhältnisse (allen voran Ungleichheit und Gewalt), welche die negative Bewertung begründen. In Rio de Janeiro und Porto Alegre, wo die äußeren Umstände (Attraktivität der Umgebung) besonders positiv bewertet werden, erscheinen den Befragten auch ihre Mitmenschen in einem anderen Licht und tragen zu den positiven Bewertungen bei. Tabelle 6: Typische Attribuierungen von São Paulo, Rio de Janeiro, Porto Alegre und Recife

Spezielle Zuschreibungen 

Allgemeine Zuschreibungen 

 

 

  São Paulo 

Rio de Janeiro 

Porto Alegre 

Recife 

allgemein 

Bewegung und  Dynamik:  Menschen‐ menge, Hektik,  Stress, Größe  (neutral/  negativ)    1.Arbeit  2.Angebot  (Vielfalt) 

Unspezifisch  positiv (v.a.  ‚maravilhosa‘/  wunderbar) 

Unspezifisch  positiv 

Unspezifisch  bzw. Attraktivi‐ tät (positiv) 

1.Strand/Natur,  besondere  (Freizeit‐) Orte  2.Leute 

1.Natürliche  Gegebenheiten  (Strand, Klima)  2.Freizeitwert 

Negative  Zuschrei‐ bungen 

1.Verkehr und  Transport  2.Überfüllung  und Größe  3.Gewalt 

Gewalt 

1.Natürliche  und städtische  Gegebenheiten  2.Angebotsviel‐ falt    1.Städtische  Gegebenheiten  (v.a. Verkehr  und Transport)  2.Gewalt  3.Nichts/  unspezifisch 

Besonder‐ heiten 

1.Arbeitsmarkt  (positiv)  2.Hektik und  Stress (negativ) 

Leute und  Zusammen‐ leben (pos.) 

Gewöh‐ nungsbe‐ dürftiges  

1.Verkehr und  Transport  (negativ)  2.Hektik und  Stress (negativ) 

1.Gewalt  (negativ)  2.Leute,  Interaktionen,  Zusammenle‐ ben und  Umgang  (positiv) 

Positive  Zuschrei‐ bungen 

Leute und  Zusammen‐ leben (pos.)  (auch: weniger  Hektik und  Stress)  Leute, Zusam‐ menleben,  Interaktionen,  Kultur und  Tradition  (positiv) 

1.Städtische  Gegebenheiten  (v.a. Verkehr  und Transport)  2.Gewalt  3.Soziale und  politische  Gegebenheiten    Unspezifisch  (besser, aber  auch weniger  Arbeitsmög‐ lichkeiten)  1.Leute,  Zusammen‐ leben, Interak‐ tionen, Kultur  und Tradition  (positiv)  2.Klima und  Wetter (positiv) 

Bewertungen des Zusam‐ menlebens 

266 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT Nachbar‐ schaft  Viertel 

Stadt   

(Un‐) Sicherheit 

Sicherheits‐ orte 

Unsicher‐ heitsorte 

Gut: Personen  und Interakti‐ onsformen  Gut: Personen  und unspezi‐ fisch 

Gut: Personen  und Interakti‐ onsformen  Gut: Interakti‐ onsformen und  Personen 

Gut: Personen  und Interakti‐ onsformen  Gut: Interakti‐ onsformen und  unspezifisch 

Schwierig:  Personen und  äußere Um‐ stände  1.Zu Hause  2.Nachbar‐ schaft und  Viertel 

Gut: Personen 

Gut: Personen 

1.Zu Hause  2.Nachbar‐ schaft und  Viertel 

1.Zu Hause  2.Nachbar‐ schaft und  Viertel  3.Einkaufs‐ zentren  1.Zentrum  (unspezifisch)  2.Nachts  3.nirgends 

Zentrum  (spezifisch und  unspezifisch)  (auch: überall  bzw. nirgends) 

1.Überall  2.Zentrum  (unspezifisch)  3.Favelas /  Armensiedlun‐ gen (unspezi‐ fisch) 

Gut: Personen  und Interakti‐ onsformen  Schwierig:  Interaktions‐ formen (äußere  Umstände und  Personen)  Schwierig:  Personen und  äußere Um‐ stände  1.Zu Hause  2.Nachbar‐ schaft und  Viertel  3.Einkaufs‐ zentren  1.überall  2.Zentrum  (unspezifisch) 

Der typische Schwerpunkt der Aktivitäten liegt in São Paulo auf dem Nahbereich: Sowohl dem Stadtteil, den man bewohnt, als auch der Region (Süden, Osten, Westen, Norden, erweitertes Zentrum) kommt für den Alltag in räumlicher Hinsicht eine große Bedeutung zu. Das Zentrum selbst ist zwar relevant, aber vor allem im Hinblick auf funktionale Notwendigkeiten (Arbeiten, Einkaufen). Es ist gleichzeitig der deutlichste konkrete Bezugspunkt für Unsicherheitsempfinden in der Stadt. Während also das Hauptzentrum eine geringere Bedeutung in der alltäglichen Nutzung erfährt, ist es gleichwohl ein starker symbolischer Bezugspunkt, wenn auch negativ. Die regionalen Subzentren verstärken die Fokussierung auf den Nahbereich, andererseits stellt die tendenziell plurizentrale Struktur überregionaler Subzentren (Brás) eine Einschränkung dieser Nahbereichsfokussierung dar.166 Im Gegensatz zu São Paulo stellen die typischen Attribuierungen der Bewohner_innen Rio de Janeiros keinen direkten Bezug zu den städtischen Gegebenheiten her. Allgemeine Zuschreibungen sind in Rio de Janeiro in aller Regel 166 Die differenzierenden Interviewdarstellungen im Rahmen der charakteristischen Erzählungen werden zeigen, dass diese ‚typischen Attribuierungen und Nutzungsweisen des städtischen Raumes‘ in São Paulo sich insbesondere bei Befragten mittleren und jüngeren Alters aus ärmeren Verhältnissen finden. Es zeigt sich aber auch, dass Stress, Hektik und Verkehrsproblematik übergreifende Narrative sind, unabhängig von der finanziellen Situation oder der Wohnlage der Befragten.

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positiv und beziehen sich vorrangig auf die natürliche Umwelt und Attraktivität der Stadt, die den hohen Freizeitwert derselben begründen. Eine Vergleichbarkeit der alltagspraktischen Herstellung der beiden Städte ergibt sich daher vor allem entlang der Nutzungsweisen des städtischen Raumes: Sowohl in Bezug auf die Zentrenstruktur als auch die Fokussierung auf den Nahbereich ähneln sich die beiden Städte. Dabei steht in Rio de Janeiro eine grundsätzlich positive Bewertung der Menschen und ihres Umgangs miteinander dem umfassenden Gefühl der Unsicherheit gegenüber. Diese Ambivalenz äußert sich nicht zuletzt darin, dass beide Wahrnehmungen als ‚Imperative des Alltagslebens‘ und damit als gewöhnungsbedürftig behandelt werden.167 Die Bewertungen des Zusammenlebens auf den drei Ebenen Nachbarschaft, Viertel und Stadt lassen ebenfalls erkennen, dass die Wahrnehmung der Mitmenschen mit den Umständen der Interaktionssituation zusammenhängt: Auf allen Ebenen wird das Zusammenleben positiv bewertet, wobei den Interaktionen selbst mehr Gewicht auf der Ebene von Nachbarschaft und Viertel zukommt, während auf der Ebene der Stadt persönliche Eigenschaften der Cariocas als positiver Bezug im Vordergrund stehen. Die äußeren Umstände im Sinne der Attraktivität der Umgebung hängen zusammen mit positiven Sichtweisen auf die zugeschriebenen Eigenschaften der Bewohner_innen und ihres Umgangs miteinander (offen, kontaktfreudig u.a.). Gleichwohl liegt auch hier der typische Schwerpunkt der Aktivitäten auf dem Nahbereich: Sowohl dem Stadtteil, in dem man wohnt, als auch der Region kommt für den Alltag in räumlicher Hinsicht eine große Bedeutung zu. Auch als Orte des Sicherheitsempfindens bilden diese lokalen Kontexte ein Gegengewicht zu dem ansonsten umfassenden Unsicherheitsgefühl. Dieses wird aber auch mit spezifischen Orten verbunden: Genannt werden Zentrum und Armensiedlungen (Favelas), was gegenüber dem verallgemeinerten Unsicherheitsgefühl (‚überall‘) eine Konkretisierung darstellt, auch wenn meist keine spezifischen Orte benannt werden. Insgesamt bleibt in Rio de Janeiro also ein diffuseres Unsicherheitsgefühl bestehen. Die typischen Attribuierungen der Bewohner_innen Porto Alegres stellen einen Bezug zur natürlich attraktiven Umgebung der Stadt genauso wie zu städtischen Gegebenheiten (Angebotsvielfalt) und zu den in der Stadt lebenden Menschen und ihrem traditionsbewussten Umgang miteinander her. Wie in Rio de Janeiro sind die allgemeinen Zuschreibungen in aller Regel positiv und meist unspezifisch. Auf der Ebene der Zuschreibungen nimmt Porto Alegre sozusagen 167 Wie in São Paulo zeigt sich bei den Interviews in Rio, dass der größte Kontrast zu diesen typischen Nutzungs- und Wahrnehmungsweisen von einem wohlhabenden Mann mittleren (höheren) Alters wiedergegeben wird

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eine Position zwischen São Paulo und Rio de Janeiro ein. Die Stadt unterscheidet sich aber von den beiden ‚Megastädten‘ deutlich entlang der Nutzungsweisen des städtischen Raumes: sowohl in Bezug auf die Zentrenstruktur (zentralisierte Kernstadt, dezentrale Metropolregion) als auch die gestreute Nutzung des städtischen Raumes. Die Aktivitäten sind also typischerweise gestreut: Sowohl dem Stadtteil, in dem man wohnt, als auch der Region wie auch weiteren Teilen der Stadt kommen für den Alltag in räumlicher Hinsicht eine große Bedeutung zu. Orte des Sicherheitsempfindens stellen wie in den beiden größeren Städten die lokalen Kontexte dar, hinzukommen die Einkaufszentren. Das Unsicherheitsgefühl wird in Porto Alegre typischerweise unspezifisch auf das Zentrum und auf Nachts bezogen. Prinzipiell ist das Unsicherheitsempfinden aber nicht sehr hoch, da die Angabe ‚nirgends‘ nicht untypisch ist. Dem Zentrum von Porto Alegre kommt ein hoher Spontaneitätscharakter zu. Das mag zunächst verwundern, wird aber dadurch verständlich, dass trotz der relativ großen Bedeutung für Einkaufs- und Arbeitsaktivitäten auch die Freizeitorte im Zentrum (insbesondere Parks) gerne genutzt werden. Im Hinblick auf Notwendigkeiten erscheint die Metropolregion tatsächlich stärker dezentral organisiert zu sein, der Freizeitwert der Kernstadt mit ihren attraktiven (auch touristischen) Orten wird dadurch aber nicht geschmälert. Stärker noch als in Rio de Janeiro liegt in Porto Alegre der Fokus auf den Menschen und ihren Umgangsformen als (vorrangig) positivem „Imperativ des Alltagslebens“. Betont werden dabei vor allem kulturelle Traditionen. Auch hier lassen die Bewertungen des Zusammenlebens auf den drei Ebenen Nachbarschaft, Viertel und Stadt einen Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung der Mitmenschen und den Umständen der Interaktionssituation erkennen: Auf allen Ebenen wird das Zusammenleben positiv bewertet, wobei den Interaktionen selbst mehr Gewicht auf der Ebene von Nachbarschaft und Viertel zukommt, während auf der Ebene der Stadt persönliche Eigenschaften der Gaúchos (BewohnerInnen des Gliedstaates) als positiver Bezug im Vordergrund stehen. Die typischen Attribuierungen der Bewohner_innen Recifes schließlich ähneln teilweise den inhaltlichen Bezügen, die in Rio de Janeiro festgestellt wurden: Ausgehend von einer grundsätzlich unspezifisch positiven Bewertung stehen die natürliche Umgebung der Stadt und ihre Attraktivität (Strand und Architektur) sowie der daraus resultierende hohe Freizeitwert im Vordergrund der positiven Zuschreibungen. Die Schnittmenge der Attribuierungen zwischen Porto Alegre, Rio de Janeiro und Recife stellt die positive Bezugnahme auf die in der Stadt lebenden Menschen und ihren Umgang miteinander dar. Letzterer wird wie in Porto Alegre zwar an einer kulturellen Traditionsorientierung fest-

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gemacht und erscheint gleichsam als ‚Imperativ des Alltagslebens‘, bezieht sich aber nicht auf traditionelle Haltungen der Bewohner_innen, sondern auf kulturelle Bezüge wie Musik und Karneval. Gleichwohl spielen städtische Gegebenheiten eine stärkere Rolle, und zwar in negativer Weise. Damit ergibt sich auch für Recife auf der Ebene der Zuschreibungen quasi eine Position zwischen São Paulo und Rio de Janeiro. Allerdings fällt die Bewertung der städtischen und äußeren Umstände, anders als in Porto Alegre, vorrangig negativ auf: Sowohl städtische als auch soziale und politische Gegebenheiten werden von den Bewohner_innen typischerweise kritisch beurteilt. Vorrangige Unterschiede zu den beiden größeren Städten lassen sich, wie in Porto Alegre, entlang der Nutzungsweisen des städtischen Raumes belegen: Sowohl in Bezug auf die Zentrenstruktur (zentralisierte Kernstadt, zentralisierte Metropolregion) als auch die gestreute Nutzung des städtischen Raumes unterscheidet sich Recife von den beiden ‚Megastädten‘. Die Aktivitäten sind also auch hier typischerweise gestreut: Sowohl dem Stadtteil, in dem man wohnt, als auch der Region und weiteren Teilen der Stadt kommen für den Alltag in räumlicher Hinsicht eine große Bedeutung zu. Orte des Sicherheitsempfindens stellen wie in den anderen drei Städten die lokalen Kontexte dar, hinzukommen – wie in Porto Alegre – die Einkaufszentren. Entsprechend der größeren Bedeutung des Gewalt-Motivs zeigt sich wie in Rio de Janeiro ein diffuses Unsicherheitsgefühl, das teilweise konkretisiert wird über einen (unspezifischen) Zentrumsbezug. Dem Zentrum selbst kommen sowohl ein Notwendigkeits- als auch ein Spontaneitätscharakter zu, hierin ähneln sich wiederum Recife und Rio de Janeiro. Eine mögliche Erklärung für diese Parallele ist die Struktur der Metropolregion der jeweiligen Städte: Sowohl in Rio de Janeiro als auch in Recife lässt sich diese als auf die Kernstadt hin zentralisiert beschreiben. Durch die (noch) stärker zentralisierte Struktur als in Porto Alegre ließe sich der Notwendigkeitscharakter erklären. Wiederum zeigt sich ein Zusammenhang zwischen der Bewertung der äußeren Umstände und den Bewertungen des Zusammenlebens: Lediglich auf der Ebene der Nachbarschaft wird das Zusammenleben typischerweise positiv bewertet auf der Grundlage von Personen und Interaktionsformen. Sowohl auf Viertel- als auch auf Stadtebene erachten die Bewohner_innen Recifes das Zusammenleben für schwierig. Augenfällig ist dabei (neben dem Personen- und Interaktionsbezug) der Bezug zu den äußeren Umständen, die typischerweise negativ beurteilt werden. Anhand der dominanten Nutzungs- und Wahrnehmungsweisen der untersuchten Städte lassen sich einige Besonderheiten erkennen, die mit der Größe der Städte variieren. Zunächst hat sich gezeigt, dass die räumliche Alltagsstruk-

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turierung im Hinblick auf Wohnen, Arbeiten und Freizeit, aber auch Konsum in den beiden ‚Megastädten‘ regional, in den beiden Großstädten gesamtstädtischer ausgerichtet ist. Die (historischen) Zentren stellen in den beiden kleineren Städten deutlichere und umfassendere Bezugspunkte dar, während die Hauptzentren in São Paulo und Rio de Janeiro einen stärkeren Notwendigkeitscharakter tragen. Diesen Ergebnissen entspricht die größere Bedeutung der Subzentren in São Paulo und Rio de Janeiro. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der bloßen alltäglich-räumlichen Dezentralisierung im Sinne regionaler Subzentren und der alltäglich-räumlichen Plurizentralisierung im Sinne überregionaler Subzentren, die umfassende Zentrenfunktionen einnehmen, die denen des Hauptzentrums entsprechen. Letzteres gilt ausschließlich für die beiden ‚Megastädte‘, wobei für Rio de Janeiro eine Einschränkung vorzunehmen ist. Denn die Zentralität, welche als überregionales Zentrum (Copacabana bzw. Südregion) gelten kann, ist gleichzeitig eine Zentralität der Wohlhabenden. Sie ist zwar weniger exklusiv als die entsprechenden residentiellen und ökonomischen Zentralitäten São Paulos, das stellt aber prinzipiell kein Unterscheidungsmerkmal zwischen den Städten unterschiedlicher Größe dar. In allen vier untersuchten Städten bestehen solche Orte innerhalb der Städte (neben den historischen Zentren) als strukturelle Machtzentralitäten: Sie haben unterschiedlichen Erscheinungsformen (vorrangig: horizontale wie vertikale Wohnkomplexe, Shopping Malls, Bürokomplexe), dehnen sich aber immer dominant und expansiv in den Städten aus. Diese Zentralitäten mögen zwar aufgrund von Beschäftigungsverhältnissen für diverse soziale Gruppen von Bedeutung sein. Darüber hinaus werden sie aber fast ausschließlich von den Wohlhabenden genutzt, die vor Ort leben und sich zum Teil in ihrem Alltagsleben auch fast vollständig auf diese Orte beschränken. (Tabelle 7 zeigt die für die Städte je typischen Nutzungsweisen der alltäglichen Orte und ihre funktionalen Bedeutungen im Überblick) In Bezug auf die von den Bewohner_innen vorgenommenen Attribuierungen lassen sich für São Paulo die zumeist negativen, vorrangig auf städtische Gegebenheiten und damit mittel- wie unmittelbar auf die Größe der Stadt bezogenen Zuschreibungen hervorheben. Auch das Zusammenleben wird in São Paulo häufig an äußeren Umständen festgemacht und dabei zumeist negativ beurteilt. Auf gesamtstädtischer Ebene werden die städtischen Gegebenheiten also fast ausschließlich in São Paulo hervorgehoben. Denselben Stellenwert nimmt in Rio de Janeiro der gesamtstädtische Bezug zu Gewalt ein – ein Problembezug, der in allen Städten auf der Ebene der lokalen Kontexte ähnlich hervorgehoben wird. Keine größenrelevante Unterscheidung lässt sich dagegen im Hinblick auf Sicherheits- und Unsicherheitsempfinden in den untersuchten Städten erkennen. Sicherheitsempfinden ist überall vorrangig auf den Nahbereich bezogen – das

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Zuhause, die Nachbarschaft, das Wohnviertel. Unsicherheitsempfinden ist vorrangig auf die (Haupt-)Zentren bezogen, wobei das Unsicherheitsempfinden in São Paulo und Porto Alegre generell eher konkret (Orte, Tageszeiten) und insgesamt geringer ausfällt, während es für Rio und Recife diffuser und verallgemeinerter gilt. Tabelle 7: Typische Nutzungsweisen des städtischen Raumes in São Paulo, Rio de Janeiro, Porto Alegre und Recife  

  São Paulo 

Rio de  Janeiro 

Porto Alegre 

Recife  In weiterer  Distanz  Im selben  Stadtteil oder  in derselben  Region  Im Viertel 

Distanz‐ verhält‐ nisse 

Arbeits‐ und  Wohnort  Freizeit‐  und Wohn‐ orte 

In derselben  Region  Im selben  Stadtteil 

In derselben  Region  Im selben  Stadtteil 

Einkäufe 

Lebensmit‐ tel  Möbel‐ und  Haushalts‐ geräte  Kleidungs‐ einkäufe 

Im Viertel 

Im Viertel 

In weiterer  Distanz  Im selben  Stadtteil oder  in derselben  Region  Im Viertel 

Im Stadtteil  bzw. in der  Region 

Im Stadtteil  bzw. in der  Region 

Im Stadtteil  bzw. in der  Region 

Im Stadtteil  bzw. in der  Region 

In der Region 

In der Region  oder im  Stadtteil  Sowohl  Notwendig‐ keits‐ als auch  Spontaneitäts‐ charakter  Dezentralität 

In weiterer  Distanz 

In weiterer  Distanz 

Spontaneitäts‐ charakter 

Sowohl  Notwendig‐ keits‐ als auch  Spontaneitäts‐ charakter  Geringe  Bedeutung 

Zentrum 

Funktionaler  Notwendig‐ keitscharakter 

Sub‐ zentren 

Dezentral und  plurizentral  (regionale und  überregionale  Subzentren) 

Geringe  Bedeutung168 

In allen Städten außer São Paulo bilden ‚die Leute‘ und ‚Interaktionsformen‘ (Art und Weise des Umgangs miteinander) relevante, positive Bezugskategorien.

168 Damit stehen sich in Porto Alegre der reine Spontaneitätscharakter des Zentrums und eine geringe Bedeutung von Subzentren entgegen! Diese Ambivalenz des Zentrums lässt sich mit verschiedenen Aspekten in Verbindung bringen: Zum einen ist die Metropolregion Porto Alegre stark dezentral strukturiert, insofern kommt der Kernstadt innerhalb der Metropolregion eine geringere Bedeutung zu. Zum anderen wurde bereits im Kontext der räumlichen Konfiguration der Städte auf die reduzierte Bedeutung der Subzentren in Porto Alegre hingewiesen. Insofern scheint die hier zum Ausdruck kommende Ambivalenz diese strukturellen Befunde zu bestätigen.

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Es erscheint gewagt, das mit der Größe in Zusammenhang zu bringen. Aber das empirische Material legt eine Interpretation nahe: Die Bedeutung von und die Offenheit gegenüber Austausch und Interaktion mit potentiell Fremden scheint in Relation zur Bedeutung des öffentlichen Raumes bzw. öffentlicher Orte zu stehen. Denn sowohl die stadt-räumliche Konfiguration der Städte, aber auch die Nutzungsmuster zeigen eine hohe Bedeutung öffentlicher und sozial gemischt genutzter öffentlicher Orte in Rio de Janeiro (Strand, Straße), Porto Alegre (Parks) und Recife (Strand). 4.4 Charakteristische Erzählungen über die untersuchten Städte Wenn mit den typischen Mustern der Nutzung und Wahrnehmung eine starke Verallgemeinerung vorgenommen wurde, so soll diese im Folgenden wieder aufgebrochen werden. Um den Blick auf die Erzählungen über die Städte wieder zu differenzieren, wurden charakteristische Erzählungen zu Narrativen verdichtet, die sowohl inhaltliche als auch soziale Kontraste deutlich machen. Einige Narrative sind sehr stadtspezifisch, andere produzieren Überschneidungen zwischen den Städten, wie der Überblick in der folgenden Abbildung zeigt. 169 Auffällige Schnittmengen stellen etwa die Bindungsnarrative dar. Dabei handelt es sich um Erzählungen, die einen starken Ortsbezug herstellen im Sinne eines ‚sense of belonging‘, der aber an unterschiedlichen Dingen festgemacht wird. In Porto Alegre stehen die Beziehungen zu anderen Menschen im Vordergrund, in Rio sind es ebenfalls Beziehungen, aber genauso auch die Lebensqualität der städtischen Gegebenheiten, in São Paulo dagegen werden nur die Stadt bzw. städtischen und lokalen Gegebenheiten hervorgehoben. Insofern hat die Bindung an den Ort in São Paulo und Rio einen deutlicheren Stadtbezug als in Porto Alegre. Eine ähnliche Abstufung lässt sich für die soziokulturellen Besonderheiten zeigen, die einen starken Identitätsbezug herstellen: Während in Porto Alegre und Recife positive kulturelle und Traditionsbezüge hervorgehoben werden (Familienwerte, Gemütlichkeit, Musik), stehen mit dem Carioca-Motiv

169 Es gibt ein einziges Narrativ, das sich durchgängig über die Städte hinweg zeigt: Das Narrativ der Vernachlässigungspolitik. Die überwiegende Mehrzahl der Interviewzusammenfassungen weist Bezüge zur Politik auf, die fast immer als interesseloser Akteur gesehen wird – sowohl aus wohlhabender Sicht mit dem Argument, der Staat kümmere sich eben um die Mittellosen bzw. um die ärmeren Stadtteile, als auch aus Sicht der Ärmeren und Armen, die dem Staat seine Ausrichtung an den Interessen der Reichen vorwerfen.

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(bras.: jemand oder etwas, der/die/das aus Rio Stadt kommt) in Rio de Janeiro ambivalente Aspekte im Vordergrund (Kommunikativität, Gewaltbereitschaft, Freiheit und Individualismus), die sehr spezifisch für die Stadt als solche zu gelten haben. Diese soziokulturellen Besonderheiten sind in allen drei Städten dominante Erzählungen, auf die häufig in der ein oder anderen Form rekurriert wird. Gleiches gilt für das Entwicklungsnarrativ in Porto Alegre und Recife – sie bringen zum Ausdruck, dass die Befragten in den beiden Großstädten diese als in Veränderung befindlich wahrnehmen, sowohl was das Wachstum angeht als auch im Hinblick auf soziale Dynamiken, sowohl negativ als auch positiv. Abbildung 7: Überblick der Narrative zu São Paulo, Rio de Janeiro, Porto Alegre und Recife (dunkle Kästchen entsprechen dominanten Narrativen)

Unruhe/ordnung

Unruhe/ordnung

Größen- bzw. Stadtbezug

Unsicherheit Funktionen und Möglichkeiten Ungleichheit

Bindung

São Paulo

Zentrumsorientierung

Entwicklung

Soziokulturelle Besonderheiten

Soziokulturelle Besonderheiten

Bindung

Bindung

Rio de Janeiro

Porto Alegre

Unsicherheit

Entwicklung

Ungleichheit

Soziokulturelle Besonderheiten

Recife

Neben diesen Parallelen zwischen den beiden Großstädten – die insofern deutlich sind, weil es sich jeweils um die dominanten Narrative handelt – zeigen sich aber weitere Ähnlichkeiten zwischen Rio de Janeiro und Recife über das Ungleichheits- und das Unsicherheitsnarrativ. Ersteres ist vor allem in Rio de Janeiro dominant. Selbstverständlich spielen in allen Städten Referenzen zu Gewalt, Kriminalität und daraus resultierende Unsicherheit eine Rolle. Dass die

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Erzählung über die Stadt davon aber dominiert würde im Sinne eines Narrativs ist nur in Rio und Recife der Fall, und auch dort erweist sich das Narrativ insgesamt nicht als dominant. Eine letzte Übereinstimmung zeigt sich zwischen São Paulo und Recife durch das Unruhe- bzw. Unordnungsnarrativ. Zwar wird beiderorts Unordnung zum Thema gemacht, aber für São Paulo, wo dieses Narrativ äußerst dominant ist, stehen sowohl positiv als auch negativ bewertete Aspekte einer städtischen Unruhe (Hektik und Stress, aber auch Diversität und Dynamik) im Vordergrund. Auffällig ist, dass in São Paulo zum einen nur eine geringe Bandbreite an Narrativen aufscheint, zum anderen, dass sowohl das Unruhe-/Unordnungsnarrativ als auch das Narrativ der Funktionen und Möglichkeiten einen starken Größen- und Stadtbezug aufweist und auch das Bindungsnarrativ einen stärkeren Bezug zu städtischen Gegebenheiten aufbaut, als das in den anderen Städten der Fall ist. Eine Besonderheit zeigt sich auch in Porto Alegre mit dem Narrativ der Zentrumsorientierung, welches angesichts der ausgeprägten Monozentralität der Stadt nicht weiter verwundert, sondern diese als alltagsrelevant bestätigt. Im Folgenden werden die einzelnen Narrative anhand konkreter Interviews aufgezeigt. a) Bindung Wie bereits angedeutet, ergeben sich die Differenzierungen innerhalb des Bindungsnarrativs über die Bezugnahme auf örtliche bzw. städtische Gegebenheiten einerseits und Beziehungen zu anderen Menschen andererseits. Erstere werden vor allem in São Paulo und auch in Rio de Janeiro betont, letztere vor allem in Porto Alegre und auch Rio de Janeiro. 1. Bindung an den Ort – „São Paulo ist toll, ich bin hier geboren […] nur über meine Leiche gehe ich hier weg!“170 (Interview SP_7_Jardim Ângela171) Die 43-jährige Eisverkäuferin bringt zwar auch ganz allgemein eine positive Bewertung São Paulos zum Ausdruck, vor allem aber betont sie ihre starke lokale Bindung an das Wohn- und Arbeitsviertel in der südlichen Peripherie. Absolut im Vordergrund steht die Angebotsvielfalt, die als Alleinstellungsmerkmal der Stadt beschrieben wird. Ihre räumlichen Bewegungs- und Nutzungsmuster entsprechen der als typisch dargestellten Kombination: An erster Stelle kommt das Nahgebiet, das Viertel sowie das regionale Subzentrum (Santo Amaro). Gleichzeitig hat selbst das Hauptzentrum eine Bedeutung, und zwar insbe170 Das vorangestellte Zitat stellt immer die erste Interviewäußerung der Befragten dar auf die offene Frage danach, was ihre jeweilige Stadt für sie persönlich kennzeichne. 171 Kennzeichnungen der Interviews enthalten folgende Informationen: „Stadt_Interviewnummer_Interviewort“.

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sondere für Einkäufe, während sich sämtliche Freizeitaktivitäten auf die Region im Süden der Stadt beziehen. Die Stadt São Paulo bewertet sie grundsätzlich positiv („toll“), was sie damit begründet, dass sie hier geboren sei. Positiv ist aus ihrer Sicht vor allem die Angebotsvielfalt („es gibt alles, was man braucht“), mit der Stadt verbindet sie nichts Negatives, auch nicht mit ihrem Viertel, dessen Vorzüge seien, dass es vieles in der Nähe gebe (Shopping und Kino) und man nicht „den Ozean überqueren“ müsse, um diese Dinge zu erreichen. Das Zentrum São Paulos sei weit weg, sie fahre aber dennoch etwa einmal im Monat zum Parque Dom Pedro, um dort einzukaufen (Klamotten, „Krimskrams“, Schulmaterial). Da aber jetzt auch in der Nähe weitere Läden geöffnet hätten, sei die Bedeutung des Zentrums für diese Einkäufe geringer geworden. Das Gefühl der Unsicherheit kennt sie nicht, denn überall, wo sie hinkommen wolle, da komme sie auch hin – Sicherheit verbindet sie gleichwohl mit ihrem Viertel, wo sie wohnt und aufgewachsen ist, und wo man sich in der Nachbarschaft hilft. Ungewöhnlich ist hier, dass die von den meisten Befragten betonten Einschränkungen durch Hektik/Stress und Verkehr nicht zum Tragen kommen, was darüber mitbegründet sein mag, dass die Eisverkäuferin im Wohnviertel selbst arbeitet und dadurch weniger mit den übergeordneten ‚Imperativen des Alltagslebens‘ in Verbindung kommt.

Obwohl hier eine positive Bindung zur Stadt und auch zum Zentrum der Stadt aufgebaut wird, resultiert das Verhalten der Frau aus der südlichen Peripherie in der Herstellung von Trennungen. Der „Ozean“ wird nicht (mehr) überquert, das Angebot, durch welches sich die Stadt prinzipiell auszeichnet, kommt immer näher und macht die regionale Alltagsstrukturierung perfekt. Eine starke Bindung an den Ort tritt auch in der folgenden Erzählung zu Rio hervor, in der sich auch die typischen Bezüge für die positiven Bewertungen und Zuschreibungen der Stadt durch ihre Bewohner_innen zeigen: Die Menschen, ihr Umgang miteinander, die natürliche Schönheit der Stadt und ihr Freizeitwert. 2. Lokale Beziehunge – „Rio de Janeiro ist hübsch“ (Interview RJ_17_Campo Grande) Die 17-jährige ist Mitarbeiterin eines Informatikgeschäfts in Campo Grande, dem Subzentrum in der nordwestlichen Peripherie von Rio de Janeiro. Die Stadt selbst rückt in ihren Beschreibungen in den Hintergrund (sie ist einfach „hübsch“) – zumal das Zusammenleben auf Stadtebene als schwierig deklariert wird. Im Vordergrund stehen ihre persönlichen Beziehungen, nicht zuletzt, weil sie zwischenzeitlich mit ihrer Familie nach São Paulo gezogen war und nun offenkundig froh ist, wieder in ihrer vertrauten Umgebung zu sein. Städtische Gegebenheiten sind gleichwohl Bezugspunkte für die junge Frau, allerdings nur in negativer Weise: Zwar stellt die herrschende Gewalt den stärksten negativen Bezugspunkt dar, aber auch Infrastrukturen (Transport, Kanalisierung) werden hier als erschwerende Bedingungen genannt. Die lokale Bindung der jungen Frau kommt nicht

276 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT zuletzt in ihrer fast ausschließlichen Fokussierung auf die nordwestliche Region Rio de Janeiros zum Ausdruck. Allerdings scheint weniger die (Un-)Erreichbarkeit des Zentrums dafür ausschlaggebend, sondern die bewusste Entscheidung dagegen bzw. für die eigene Region. Selten frequentiere sie das Zentrum etwa für Kleidungseinkäufe. Auch der Süden der Stadt mit den Stränden rückt angesichts der hohen Bedeutung ihrer lokalen, persönlichen Bindungen in den Hintergrund – relevant ist ausschließlich das, was sie direkt umgibt.

Neben dieser Bindung, die vorrangig über die persönlichen Beziehungen hergestellt ist, bildet aber auch die städtische Umwelt und ihre Lebensqualität eine wichtige Referenz: 3. Lebensqualität – „Rio de Janeiro tausche ich für keine andere Stadt“ (Interview RJ_29_Barra) Diese Erzählung geht aus dem Interview mit einer 35-jährigen Mitarbeiterin in einer Personalabteilung mit Abitur hervor, die in Jacarepaguá lebt, dem nördlich an das südwestliche Reichenviertel Barra da Tijuca angrenzenden Stadtteil. Ihr jetziger Wohnort ist von ihrem Herkunftsort, der nördlichen Peripherie Rio de Janeiros, ein großer Schritt hin zur Erreichung ihres Wohnzieles – am Strand im Südwesten der Stadt zu leben. Darin kommt auch der Strand als alltagsrelevanter Bezugspunkt zum Ausdruck. Die Cariocas spielen zwar eine Rolle, aber insgesamt wird ein stärkerer Bezug zur Stadt selbst aufgebaut. Im Vordergrund steht die Stadt als Ort hoher Lebensqualität. Die regionalen Differenzen in Rio de Janeiro werden von der Befragten betont: Aus ihrer Sicht teilt sich die Stadt mindestens in den Süden und das Zentrum auf der einen Seite, und die Nordwestregion auf der anderen Seite. Gleichzeitig bewertet sie die Ungleichheiten nicht als unüberbrückbar, sondern kehrt eine zumindest prinzipielle Solidarität der Bewohner_innen Rio de Janeiros hervor.

Eine starke Bindung an den Ort, aber fast ausschließlich entlang der sozialen Beziehungen, findet sich schließlich in Porto Alegre: 4. Beziehungen – „Da gibt es viele gute Sachen“ (Interview PA_27_Canoas) Die Bindung an den lokalen Kontext zeigt eine 67-jährige Rentnerin, die früher als öffentliche Angestellte in der Stadtverwaltung in Canoas arbeitete und heute in São Leopoldo, der nördlichen Metropolregion lebt. Für sie steht der lokale Kontext im Vordergrund, eine Zentrumsorientierung ist nicht identifizierbar. Porto Alegre beschreibt sie anhand der „vielen guten Sachen“, die es dort gebe (Restaurants, Museen). Im Alltag sieht sie aber wenig Grund, um dorthin zu fahren. Vielmehr orientiert sich ihr gesamtes Alltagsleben an dem Ort, mit dem sie ihre Familiengeschichte und persönlichen Bekanntschaften verbindet

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(Canoas). Auch für sie ist Porto Alegre prinzipiell positiv besetzt. In ihren Zuschreibungen zeigen sich typische Bezüge. Dabei stehen aber Freundschaften und persönliche Beziehungen im Vordergrund, die sie mit der Metropolregion verbinden. Insofern fällt die Bewertung Porto Alegres selbst relativ knapp und lediglich hinsichtlich der Angebotsvielfalt (v.a. Gastronomie) aus. Differenzen zum typischen Muster ergeben sich über ihre Nutzungsweisen des städtischen Raumes: Zwar überbrückt sie durch ihren Umzug in die entfernte Metropolregion weitere Distanzen, um an den Ort zurückzukehren, an dem sie lange gelebt und gearbeitet und ihre persönlichen Netzwerke noch hat. Aber die Kernstadt selbst spielt nur eine sehr untergeordnete Rolle.

An dieser Erzählung zeigt sich die Position Porto Alegres zwischen São Paulo und Rio de Janeiro im Hinblick auf die Zuschreibungen: Städtische Gegebenheiten spielen eine Rolle (insofern als die Angebotsvielfalt in Porto Alegre betont wird), aber vorrangig bilden die persönlichen Beziehungen die Grundlage für positive Bewertungen. Für die ältere Frau aus der peripheren Metropolregion sind einzig die Distanzen zwischen ihrem neuen Wohnort und ihrem zentralen Bezugsort, Canoas, ein Problem. Mit der starken Dezentralisierung der Metropolregion geht allerdings auch die geringe funktionale Notwendigkeit der Kernstadt einher. b) Sozio-kulturelle Besonderheiten Das Narrativ der soziokulturellen Besonderheiten bildet eine akzentuierte Schnittmenge zwischen Rio de Janeiro, Porto Alegre und Recife (und damit einen deutlichen Kontrast zu São Paulo). Dennoch unterscheiden sich die Erzählungen auch: So sind die Erzählungen in Porto Alegre und Recife stark Werteund Traditionsbezogen, während das Carioca-Motiv in Rio de Janeiro auch Stadtbezüge offenlegt. Dieses Carioca-Narrativ, die Hervorhebung der besonderen Eigenschaften der Menschen aus Rio de Janeiro, zieht sich durch alle Erzählungen hindurch, unabhängig vom Alter, von der finanziellen Situation oder der Wohnlage der Befragten. Die vorrangig dabei zum Ausdruck kommenden Bezüge sind Offenheit, Kommunikativität und Solidarität, aber auch malandragem (gewitzte Gaunerei) und Voreingenommenheit. Die folgenden beiden Erzählungen drücken trotz der allgemeinen Übereinstimmung über das Carioca-Narrativ zwei unterschiedliche Perspektiven aus: Einmal steht der kommunikative Aspekt über soziale Unterschiede hinweg im Vordergrund, im zweiten Beispiel äußert sich über die Bezüge zu Freiheit und Individualismus eine stärker selbstbezügliche Verwirklichung der damit verbundenen positiven Atmosphäre in der Stadt, worin auch die Spaltung der Stadt betont wird.

278 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT 1. Kommunikation & Gewalt – „Rio hat ein fröhliches Volk“ (Interview RJ_40_Ipanema) Der 27-jährige Stadtpolizist mit Abitur lebt alleine in Tijuca, einem traditionellen Mittelschichtsviertel westlich des Zentrums, und verfügt über ein Gehalt von 1-3 Mindestlöhnen. Für ihn ist Rio vor allem durch sein „fröhliches Volk“ gekennzeichnet, was auch den positiven Aspekt des Lebens in der Stadt ausmacht, die lächelnde und fröhliche Art der Cariocas. Negativ sei aber die Gewalt. Auch das Zusammenleben in der Stadt bewertet er positiv und macht das an der Tatsache fest, dass „die Leute aus der Zona Sul mit den „Leuten von den morros“ (damit sind die Favelas auf den Hügeln der Stadt gemeint) reden würden, dass man also miteinander kommuniziere. Diese prinzipielle Kommunikativität sei auch die Gemeinsamkeit der Menschen in Rio. Insgesamt bringt dieser junge Mann den überwiegenden Teil der typischen Attribuierungen zum Ausdruck. Im Vordergrund stehen die beiden ‚Imperative des Alltagslebens‘: Die Gewalt als negativer Aspekt, die Menschen als positiver Bezugspunkt für das Leben in der Stadt. Interaktion, Kommunikation, gerade über Klassenlagen hinweg, scheint aus dieser Sicht das Kennzeichen des Lebens in der Stadt zu sein.172

Den typischen Mustern entsprechend wird also das Verbindende – über die Ungleichheiten hinweg – von den Menschen hergestellt. Dabei wird aber auch die prinzipielle Trennung zwischen den unterschiedlichen Lebensrealitäten im wohlhabenden Süden der Stadt auf der einen Seite und den nördlichen Gebieten und den morros auf der anderen Seite deutlich. Noch deutlicher wird diese in der folgenden Erzählung: 2. Freiheit & Individualismus – „Rio ist voller Glück“ (Interview RJ_32_Barra) Der 46-jährige, promovierte Systemanalyst eines Contact-Center-Unternehmens lebt alleine in Barra da Tijuca mit einem Einkommen von über 20 Mindestlöhnen. Für ihn ist die Stadt Rio de Janeiro schlicht „super feliz“, voller Glück. Besonders positiv hebt er die 172 Der Alltag dieses jungen Mannes aus der unteren Mittelschicht ist klar auf zentrale und südliche Lagen der Stadt ausgerichtet. Dabei kommt auch der Notwendigkeitsund Spontaneitätscharakter des Zentrums zum Ausdruck. Er macht zwei typische Ortsbezüge deutlich: Der Süden der Stadt als Lebensziel – die Favela („morros“) als Unsicherheitsort. Insgesamt kommt ein starkes Aufstiegsmotiv im Interview zum Tragen, wobei die Herkunft aus einem armen Nordviertel von Rio de Janeiro zwar genannt wird, aber keinen Bezugspunkt mehr darzustellen scheint. Bezugspunkt ist vielmehr das Aspirierte – der Süden der Stadt. Einzig bei den Einkäufen orientiert er sich bei den frequentierten Orten an den Notwendigkeiten und aktuellen finanziellen Möglichkeiten. Kleidung kauft er etwa nicht im Süden der Stadt, sondern im Zentrum bei den Straßenhändlern. Das Zentrum ist insofern wichtig: zum Einkaufen, um „etwas zu erledigen“, aber auch zum Zeitvertreib (er nennt das Ausgehviertel Lapa).

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Menschen, die Cariocas hervor, negative Aspekte nennt er keine. In seinem Viertel sei es vor allem der Strand, der so positiv ist – negativ sei lediglich, dass es kaum Eckkneipen gebe (verglichen mit Copacabana, Ipanema und Leblon, wo die Eckkneipen und die Fußläufigkeit gerne als Kennzeichen hervorgehoben werden). Das Zusammenleben in der Nachbarschaft bewertet er als inexistent – er sei ja schon etwas älter, am Strand kenne er zwar ein paar Leute, aber wo er wohne, spreche er mit niemandem. Es sei auch schwierig, die Leute zu mobilisieren für Belange des Viertels, da sie immer sehr um ihr Geld besorgt wären. Übereinstimmungen mit typischen Aspekten finden sich in der grundsätzlich positiven Bewertung der Stadt, in Bezug auf die natürliche Umgebung (Strand), in den positiven Zuschreibungen der Cariocas sowie im Spontaneitäts- und Notwendigkeitscharakter des Zentrums (wenngleich letzterer nicht auf Einkäufe/Erledigungen, sondern auf seine Arbeit bezogen ist). Die positive Sichtweise auf das Leben in der Stadt ist nicht verwunderlich, ist der Befragte doch finanziell in der Lage, die Nachteile auszugleichen: Zentrales Thema ist für ihn der Verkehr („erstens Verkehr, zweitens Verkehr und drittens: Verkehr“) – das ist insbesondere deshalb interessant, weil er als alleinstehender Vielverdiener sich zwei Wohnorte in der Stadt leistet, um eben diesem Problem aus dem Weg zu gehen: Unter der Woche lebt er im zentrumsnahen Mittelschichtsviertel Tijuca (sein Arbeitsort liegt im Zentrum), am Wochenende im Reichenviertel Barra da Tijuca am Strand. Das bringt aber auch mit sich, dass er ein von seinen jeweiligen Nachbarschaften sehr losgelöstes Leben führt – ein Zusammenleben kann es aus seiner Sicht in den distanzierten Wohnkomplexen auch nicht geben.173 In seiner Betonung von materiellen, freiheitlichen und individualistischen Aspekten des Lebens in Rio de Janeiro kommt ein sehr selektives Carioca-Sein zum Ausdruck. Die Bewohner_innen Rios sind auch aus seiner Sicht der Hauptgrund, weshalb Rio so lebenswert ist, in ihrer „bewussten Wahl“ des Wohnortes kommt eine grundsätzliche positive Einstellung gegenüber der Stadt zum Ausdruck, die hier quasi als Gemeinsamkeit angeführt wird. Diese Wahlfreiheit hat der Befragte selbst zwar in einem ausgeprägten Maße in seinem Leben realisiert, für die weitaus meisten bleibt die freie Wahl des Wohnorts allerdings ein Lebenstraum.

Die Trennung der Stadt (hier zwischen Zentrum und dem von hoher Lebensqualität gekennzeichneten Süden) wird also überwunden durch die individuellen finanziellen Möglichkeiten. Wenn das Carioca-Motiv insgesamt recht deutlich an die städtischen Gegebenheiten gebunden bleibt, so zeigt sich bei den soziokulturellen Narrativen in Porto Alegre ein etwas anderes Bild. In der Bezugnahme auf die Gaúcho-Spezifik spielen Traditions- und Wertebewusstsein eine

173 Diese Einschätzung findet sich sowohl in São Paulo als auch in Rio de Janeiro, wenn auch das Motiv des fehlenden Zusammenlebens nicht durchgängig von den in Wohnkomplexen lebenden Befragten so stark gemacht wird.

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wichtige Rolle in Porto Alegre.174 Weil die Rede von der Gaúcho-Spezifik sich so ubiquitär durch die Erzählungen zieht wurde sie hier nicht als Narrativ unterschieden. Ähnlich Gewalt und Unsicherheit: Sie stellen zwar wichtige Bezüge dar, können aber nicht als Unterschiede setzendes Narrativ betrachtet werden. Es wird zwar größtenteils positiv bewertet, kann aber auch ambivalente, konservative und volkstümliche Züge tragen. Insofern ergeben sich Unterschiede über den Traditionsbezug. Die beiden nachfolgenden Interviews mit zwei älteren Männern aus sehr unterschiedlichen sozialen Lagen bringen die positive Bezugnahme zum Ausdruck. Im Narrativ der Zentrumsorientierung (s.u.) findet sich dagegen die Erzählung einer jungen Frau, die sich in negativer Weise auf den Traditionsbezug äußert. Dass das Alter hier eine maßgebliche Rolle spielt ist anzunehmen – die soziale Lage jedenfalls scheinbar nicht. 3. Niedriger Lebensstandard – „Hier ist ein Paradies“ (Interview PA_45_Brique/ Redenção) Der 66-jährige Rentner lebt in der Peripherie der Stadt, ist in keiner vorteilhaften finanziellen Situation und ermöglicht sich über Straßenverkauf einen Zuverdienst. Dennoch ist Porto Alegre für ihn ein „Paradies“. Er betont besonders stark die traditionelle Prägung sowohl des Ortes durch die regionalen Gewohnheiten als auch die „Art der Bevölkerung“ selbst. Traditionen stellen dabei vor allem den Bezug zwischen der Stadt und dem Land her. Die Kriminalität, welche Porto Alegre als große Stadt gleichwohl aufweise, tritt hinter den positiven Aspekten zurück, obwohl auch negative Entwicklungen im Verhalten der Menschen gesehen werden (etwa der „fehlende Respekt“, der von den Eltern an die Kinder weitergegeben würde). Die lokale Regierung wird im Sinne einer Vernachlässigungspolitik berücksichtigt, wie in den anderen Städten auch.175 Letztlich tritt aber alles hinter den grundsätzlich positiven Blick zurück, den dieser Mann auf seinen Wohn- und Lebensort im Kontext eines positiven Lebensgefühls wirft. Dabei weist er ein sehr stark gestreu174 Die Rede vom Gaúcho als Bezugnahme auf besondere Eigenschaften der Menschen aus Porto Alegre durch einen großen Teil der Erzählungen zieht – unabhängig vom Alter, von der finanziellen Situation oder der Wohnlage der Befragten. Obwohl der/die Gaúcho/Gaúcha nicht im engeren Sinne die BewohnerInnen Porto Alegres, sondern die des Gliedstaates Rio Grande do Sul kennzeichnet, wird niemals von ‚Porto Alegrenses‘ gesprochen – der Zusammenhang zwischen der Hauptstadt und dem Gliedstaat selbst wird auch mehrfach in den Verbindungen zwischen Stadt und Land, zwischen städtischen und ländlichen Gepflogenheiten gesehen. Das stellt einen maßgeblichen Unterschied zum Carioca-Narrativ dar. 175 Dieses Motiv ist praktisch ubiquitär in allen Interviews zu finden, über alle Städte und sozialen Lagen hinweg. Insofern wurde es in der Auswertung, die primär an Unterscheidungsmerkmalen interessiert ist, nicht berücksichtigt.

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tes Nutzungsprofil der Stadt auf, das die Peripherie, das Zentrum und die Metropolregion umfasst. Weniger starke Betonung erfährt dagegen der Nahbereich, denn in der Nachbarschaft identifiziert er kein gegenseitiges Vertrauen und keine Solidarität. Vertrauen und Sicherheit sind insgesamt Themen, die nicht besonders positiv hervorgekehrt werden, eine gewisse Maturität im Umgang mit dem Stadtleben scheint er für angebracht zu halten, um sich nicht der potentiell überall begründeten Unsicherheit bzw. Gefahr auszusetzen. Auch im Zentrumsbezug unterscheidet sich der Mann tendenziell vom typischen Muster, denn für ihn liegt kein Akzent auf dem Spontaneitätsbezug. Das Zentrum ist für ihn schlicht für alle Aktivitäten von großer Bedeutung.

Das Verbindende wird in dieser Erzählung vor allem auf Stadtebene und in Bezug auf das Traditionsbewusstsein der Menschen verortet. Zwar werden deshalb Momente der individuellen Gefährdung (Gewalt) und der kollektiven Bindungslosigkeit (fehlendes Vertrauen und Solidarität auf lokaler Ebene) nicht ignoriert, aber sie treten hinter den positiven Aspekten zurück. Insgesamt scheint das (positive) Traditionsnarrativ vor allem bei männlichen und älteren Befragten zu dominieren und das unabhängig von ihrer finanziellen Situation, wie die folgende Interviewzusammenfassung zeigt. 4. Hoher Lebensstandard – „Porto Alegre ist eine Stadt, in der es sich gut lebt“ (Interview PA_8_Germânia) Der 53-jährige (Industrie-)Unternehmer ist Anwohner des Parque Germânia, einer Gegend hochpreisiger Wohnkomplexe im Nobelviertel Moinhos de Vento. Porto Alegre bezeichnet er als eine „gastliche/heimelige“ Stadt, in der es sich gut lebe. Positiv hebt er die Möglichkeit, leicht Freundschaften zu schließen, sowie die Familientradition (etwa das Grillen zu Hause oder die Freunde einzuladen) hervor. Negativ vermerkt er die sich verändernde Sicherheitslage. Ihn sorgt die Sicherheit im Viertel: Besonderen Bezugspunkt stellt für ihn die Situation im Park dar, wohin am Wochenende Leute „de bondinho“ kämen – ugs. für Gruppen aus der Peripherie bzw. betrügerische Menschen. Eine Lösung für die Sicherheitslage müsse aber die „Gemeinschaft“ finden, denn die lokale Politik kümmere sich um die Viertel, die viel größere Probleme hätten. Auch dieser (wohlhabende) Mann aus dem reichen Nordwesten der Stadt bewertet Porto Alegre prinzipiell positiv – und macht dies wiederum vor allem an der Art und Weise des Umgangs und den traditionellen Gewohnheiten der „gaúchos“ fest. Dabei betont er den Zusammenhang zwischen Stadt und Land, der von vielen Menschen in Porto Alegre über ihre biographischen Verbindungen in das Hinterland des Gliedstaates hergestellt würde. Damit wird auch ein anderes Lebensgefühl verbunden, das sich in den auf öffentliche Räume ausgerichteten Freizeitaktivitäten (Parks) und familienbezogenen Gewohnheiten äußert. Für ihn selbst stimmt das aber nur in eingeschränktem Maße. Denn während seine Zuschreibungen stark

282 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT den typischen Attribuierungen ähneln, weist er ein untypisches Nutzungsmuster des städtischen Raumes auf: Sein Aktionsradius bezieht sich fast ausschließlich auf private und halböffentliche Orte (der „halböffentliche“ Park im Viertel, die Einkaufszentren, das Zuhause und Aktivitäten mit Familie und Freunden) sowie auf den engeren Nahbereich innerhalb des wohlhabenden Viertels, was sich auch in der extrem vernachlässigbaren Orientierung auf das Zentrum äußert.

Hierin wird also ein bemerkenswerter Unterschied zum vorhergehenden Interview deutlich: Obwohl beide am Traditionsbewusstsein der Bewohner_innen Porto Alegres das primäre Bindungsmotiv für die Stadt festmachen, bringt der Unternehmer darin zwei gegenläufige Handlungsbezüge zum Ausdruck: Zum einen sei das Traditionsbewusstsein auf die öffentlichen Räume der Parks ausgerichtet – zum anderen auf den Rückzug in den privaten Familienbereich. Letzteres (in Kombination mit der Halböffentlichkeit des Parks im Viertel) stellt den offenbar handlungsrelevanteren Bezugspunkt für ihn dar, im Unterschied zur vorhergehenden Erzählung. Eine bemerkenswerte Parallele zwischen den beiden Erzählungen stellt aber die über das traditionelle gaúcho-Motiv hergestellten Verbindungen zwischen Stadt und Land dar, was eine Besonderheit für Porto Alegre ist. Dieses in Porto Alegre so starke Traditionsnarrativ fehlt in Recife, stattdessen wird mit dem Kulturnarrativ ein anderer Akzent soziokultureller Besonderheiten gesetzt. Zwar wird häufig auf die lokale Kultur Bezug genommen, allerdings wird dies weniger mit Zuschreibungen zu den Bewohner_innen selbst verknüpft. Die kulturelle Spezifik hat mehr mit der Stadt selbst, der grundsätzlichen Atmosphäre sowie Musik und Karneval als Ausdruck einer aktiven Kulturszene. 5. Gemütlichkeit – „Recife ist [die Stadt der] Brücken, Architektur“ (Interview RE_29_Olinda) Aus dem Vergleich Recifes mit anderen Städten resultiert im Interview mit einem 33jährigen Touristenführer aus Olinda das Narrativ der Gemütlichkeit. Es stellt zum einen eine Relation zwischen der Stadt Recife und der Metropolregion her, zum anderen wird Recife selbst dieses Attribut zugeschrieben. Hervorstechendes Merkmal sowohl seines Wohnortes Olinda als auch Recifes ist immer die (schöne) Architektur. Der Unterschied zwischen den beiden Städten bemisst sich an der Dynamik Recifes gegenüber der fehlenden wirtschaftlichen Entwicklung Olindas, was eine ruhige „Schlafstadt“ ohne Stress sei. Die Dynamik Recifes ist aber eher negativ belegt: viel Verkehr, kein Zusammenleben, was zählt, ist nur das „Geld“. Im Vergleich aber mit São Paulo wird Recife zur „gemütlichen Schlafstadt“, wo man „arbeiten und das Meer sehen“ und gemütlich leben könne. Als

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wichtige Merkmale nennt er weiterhin Kunst, Kultur und Nachtleben. Deutlich wird hier, dass innerhalb der Metropolregion Dynamik und Entwicklung in Recife verortet werden, während die Städte der Metropolregion häufig als „Schlafstädte“ bezeichnet werden. 6. „Recife ist Karneval“ (Interview Re_4_Afogados) Die Aktivitäten des „autonomen“ Transporteurs/Fahrers sind weit gestreut, für ihn steht dementsprechend die Verkehrsproblematik im Vordergrund. Der 41-Jährige lebt in einem vierköpfigen Haushalt in Ibura, einem im Süd-Südwesten gelegenen Stadtviertel. Gleichwohl bezieht sich seine Kritik nicht nur auf Verkehrsinfrastruktur, sondern insbesondere auf Wasserversorgung und Kanalisation. Recife steht für ihn vor allem für „Karneval“. Positiv am Leben seien die „einfachen Leute“ in der Stadt, negativ erscheint ihm dort nichts. An seinem Viertel schätzt er, dass es dort „viele Busoptionen“ gebe, dagegen sei der Zugang zu Wasser zu bemängeln. In seiner prinzipiell positiven Sichtweise auf die Stadt und ihre Bewohner_innen kommen insgesamt typische Attribuierungen zum Ausdruck, auch wenn Bezüge zu Interaktionen und Menschen in den Hintergrund treten.

Eine Besonderheit in Recife stellt sicher die Betonung der kulturellen Aspekte dar, diese sind gleichzeitig eine Begründung für die Streuung der Nutzung des städtischen Raumes vieler Befragter: Die Frequentierung des Zentrums und der Stadt Olinda steht in vielen Fällen in Verbindung mit dem dort zugänglichen kulturellen Angebot in Form von Konzerten, Bars und größeren Festivitäten. c) Ungleichheit In Rio de Janeiro steht den menschlichen Gemeinsamkeiten über das CariocaNarrativ ein zweites, wenn auch weniger dominantes Narrativ entgegen: das der sozialen Ungleichheiten. Darin enthalten sind klare Unterscheidungen zwischen Armen und Reichen, zwischen Unter-, Mittel- und Oberschicht sowie zwischen sozialen Klassen. Soziale Ungleichheiten finden sich aber auch im Narrativ der geteilten Stadt, welches sich stärker auf die stadträumliche Seite der Ungleichheiten bezieht: Der Süden der Stadt ist dabei der stärkste Bezugspunkt, und zwar sowohl von den dort Lebenden als auch von denjenigen, die den Wunsch haben, dort einmal leben zu können. 1. Die Ambivalenz der Cariocas – „Die wundervolle Stadt“ (Interview RJ_22_Madureira) Das Interview mit einem 21-jährigen Metallarbeiter mit abgeschlossener Oberstufe eröffnet ähnliche Bezüge wie das Gespräch mit dem Stadtpolizisten (s.o.), stellt diese aber stärker in den Kontext von Ungleichheiten. Diesen Ungleichheiten stehen zwar die menschlichen Gemeinsamkeiten der Cariocas gegenüber, sie können oder werden jedoch nicht kommunikativ überwunden – im Gegenteil, die Angst und das Misstrauen angesichts

284 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT von Gewalt und Kriminalität erschweren die Kommunikation: Der junge Mann lebt in einem Viertel im peripheren Norden von Rio; die Stadt ist für ihn zwar „maravilhosa“ angesichts der natürlichen Schönheit, aber auch von Gewalt geprägt. Seine eigene Nachbarschaft bezeichnet er als „inferior“ (minderwertig). Aufgrund des hohen Gewaltaufkommens gebe es kein Vertrauen. Vertrauen ist dementsprechend eingeschränkt auf den Bekanntenkreis. Auf das Viertel bezogen und auch auf der Stadtebene fällt seine Einschätzung zum Zusammenleben positiver aus. Man sei aufmerksam und es gebe eine Gemeinsamkeit der Cariocas, einen „jeito de ser“, eine Art zu sein, nämlich „brincalhão, alto astral“: immer zu Scherzen aufgelegt und froh ob der schönen Stadt, in der man lebe. Er selbst grenzt sich ab von gut gestellten Leuten, die sich „um nichts scheren, nicht gucken“. Das betreffe auch Leute aus der Mittelschicht, die glaubten, „dass sie niemals von niemandem abhängen“ würden und isoliert seien. Gleichwohl ist der Süden der Stadt der Ort, an den er gerne ziehen würde, wenn er die finanziellen Mittel dafür hätte.

Diese Erzählung zeigt im Kontrast zu denen des Carioca-Narrativs die starken Ambivalenzen, die in den Zuschreibungen der Bewohner_innen Rio de Janeiros hervortreten. Der junge Mann aus armen Verhältnissen in der nördlichen Peripherie beschreibt die Stadt zwar über die unspezifisch positive Wendung der Cidade Maravilhosa. Strand, Klima und natürliche Schönheit vermögen aber nicht, wie sich an den übrigen Äußerungen zeigt, die Lebensqualität in der Stadt herzustellen und über die sozialen Ungleichheiten hinwegzutäuschen. Obwohl er die ignorante und antisoziale Einstellung von Bessergestellten kritisiert, nimmt er selbst starke Bewertungen vor: Sein eigenes Wohnviertel stellt zwar einen starken Bezugspunkt für sein Alltagsleben dar, seine Nachbarschaft selbst bewertet er aber als „minderwertig“. Daran wird nicht zuletzt auch die Spaltung der Stadt deutlich, die nicht direkt, aber indirekt über soziale und räumliche Kategorisierungen (auch: Favelas als Unsicherheitsorte) zum Ausdruck kommt. Schließlich kommt auch hier das Aufstiegsmotiv über den Süden der Stadt als Wunschwohnort zum Tragen. Die Ambivalenz zwischen den sozioökonomischen Ungleichheiten auf der einen und den grundsätzlich kommunikativen und solidarischen Zügen auf der anderen Seite, welche den Bewohner_innen Rios zugeschrieben werden, äußert sich auch in der folgenden Erzählung eines Malers aus der nördlichen Metropolregion. Das Trennende wird aber noch stärker hervorgehoben, was sich darin äußert, dass die lokale Gemeinschaft den stärksten Bezugspunkt darstellt. 2. Kaufkraft vs. Solidarität – „Rio ist Strand“ (Interview RJ_5_Uruguaiana) Der 42-jährige Maler mit mittlerem Schulabschluss lebt in der (armen) nördlichen Metropolregion in São João de Meriti (SJM) in einem vierköpfigen Haushalt und arbeitet (als

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einziger des Haushalts) in Jacarepaguá, im Südwesten der Stadt. Ebenso wie in São Paulo bringt auch hier der Bewohner der Metropolregion zum Ausdruck, dass diese positiv von größerer Ruhe gekennzeichnet sei, dass aber die Verkehrs- und Transportsituation schwierig sei. Den Umgang der Menschen miteinander in Rio de Janeiro bewertet er prinzipiell positiv - insbesondere für die Orte, die er frequentiert. Die Leute hingegen mit höherer Kaufkraft dächten von sich selbst, dass sie „Könige“ seien. Diese soziale Ungleichheit, die ihren Ausdruck im Umgang miteinander findet, identifiziert er nicht auf den Ebenen von Nachbarschaft und Viertel: In der Nachbarschaft sei das verbindende Moment, dass alle derselben Klasse angehörten. Auch im ganzen Viertel sieht er das Zusammenleben aus denselben Gründen positiv, sagt aber, dass die Leute dahingehend unterschiedlich seien, dass es manche mit höheren Einkommen gebe, wenngleich man sich untereinander helfe. Der Maler aus der nördlichen Metropolregion aus armen Verhältnissen entwirft also ein weniger positives Bild des Zusammenlebens der Menschen in Rio de Janeiro. Sein Schwerpunkt liegt auf den unterschiedliche Einkommenslagen und der zum Teil fehlenden Solidarität zwischen diesen Lagen. Gleichwohl sind die Menschen und ihr offener und kommunikativer Umgang miteinander ein aus seiner Sicht charakteristisches und positives Merkmal der Stadt. Dabei tritt besonders die Ambivalenz zwischen der Ungleichheit auf der einen und der Kommunikativität und Solidarität auf der anderen Seite hervor als Grundmotiv der Beurteilung der städtischen Gesellschaft Rio de Janeiros durch die Bewohner_innen der Stadt. Die Ambivalenz zeigt sich also auch in dieser Darstellung, trotz hoher Bedeutung der Ungleichheit.

Am deutlichsten wird die Spaltung der Stadt im Interview mit einer älteren Bewohnerin von Copacabana hervorgehoben: 3. Die geteilte Stadt – „Rio hat Magie“ (Interview RJ_37_Copacabana) Die 63-jährige Hostelbetreiberin lebt und arbeitet in ihrem Hostel in Copacabana. Die Stadt ist aus der Sicht der Befragten „magisch“ – sie könne die Aussage zwar nicht für die Gesamtstadt treffen, aber zumindest in Süd-Rio gebe es alles, und das Tag und Nacht. Negativ sei lediglich, dass es an Polizei fehle. Weiter hebt sie in ihrem Viertel die „Leichtigkeit“ und „Kommunikation“ im Alltag hervor, die Ernährungslage sowie die Tatsache, dass alles 24h erreichbar ist – was es auch für ältere Menschen einfacher mache, weshalb sie das Viertel als „das Viertel des 3. Lebensalters“ bezeichnet. Negativ sei natürlich die fehlende Sicherheit, wie in ganz Rio und „ganz generell“. Die Befragte bringt eine für den Süden Rios typische Sichtweise zum Ausdruck: Zwar räumt sie ein, dass diese privilegierte Lage nicht verallgemeinert werden könne, gleichzeitig beruht ihre gesamte Einschätzung der Stadt auf ihrem lokalen und privilegierten Blick. Das Positive ist gerade, dass man nirgends anders hin müsse, um ein angenehmes Leben zu führen. Das Unangenehme, die Ungleichheiten, lösen sich vermeintlich am Strand. Diese pauschale Rede von der

286 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT Gleichheit aller am Strand wird aber konterkariert durch ihre prinzipielle Betonung von Ungleichheiten und Differenzen, die insgesamt überwiegen und diesen Satz als Floskel entlarven.

Dabei wird die starke Trennung zwischen dem Süden und ‚dem Rest der Stadt‘ deutlich, die zwar vermeintlich am Strand überwunden werden könne, was aber über die Unterschiede nicht hinwegzutäuschen vermag. Deutlich macht die ältere Dame aus dem Süden auch ihre lokale Bindung, die aber vor allem funktional hergestellt wird denn über persönliche Beziehungen. Die Spaltung der Stadt ist auch in Recife ein auffälliges Narrativ. Zwar bringt die nachfolgende Befragte keine prinzipiell negative Perspektive auf die Stadt zum Ausdruck, auch sind ihre Aktivitäten deutlich gestreut zwischen der nordwestlichen Peripherie, dem Zentrum und den südlichen Stränden. Sie betont aber vorrangig die sozialen Trennungsmerkmale. 4. „Recife hat von allem etwas“ (Interview RE_26_Casa Amarela) Die 14-jährige Lotteriescheinverkäuferin neben dem Markt von Casa Amarela geht in die 8. Klasse und lebt in einem sechsköpfigen Haushalt in Nova Descoberta, einem nördlichnordwestlichen Außenbezirk von Recife. Für das Mädchen ist die Stadt Recife vor allem „bewegt/hektisch“ – es gebe „von allem etwas“ – insgesamt lautet ihr Urteil: „normal“. Typisch fällt ihre Bewertung des Zusammenlebens aus: gut in der Nachbarschaft, schwierig im Viertel und in der Stadt. Sorge bereitet ihr die Sicherheit (überall); sie habe gelernt den Leuten zu misstrauen. Auf der Nachbarschaftsebene habe man auch einiges miteinander gemein: Die Probleme, das „schmale Gehalt“ sowie die „Art zu denken“. Dagegen schätzt sie, dass es in Recife etwa 30% der Menschen seien, die „die Art zu denken“ miteinander teilten, wobei sie sich von Menschen abgrenzt, die „in besseren Umständen“ leben als sie selbst. Diese Unterscheidung trifft sie auch im Hinblick auf ihr Unsicherheitsempfinden: Unsicher fühle sie sich, „wenn ich an einem Ort ankomme, der nichts für mich ist“ – sicher dagegen „in der Nähe, da wo ich es kenne“. Dabei ist ihr Aktionsradius nicht nur auf den Nahbereich beschränkt, sondern das Zentrum hat insbesondere als Konsum- und Freizeitort eine große Bedeutung.

Was an dieser Darstellung auch deutlich wird, ist, dass die Wahrnehmung von Trennendem auch mit dem Unsicherheitsempfinden zu tun hat. d) Unsicherheit Neben dem Ungleichheitsnarrativ bilden die Erzählungen zur Unsicherheit als überwiegender Kennzeichnung des städtischen Alltags eine Schnittmenge zwischen Rio de Janeiro und Recife. In Rio wird das Thema als negativer ‚Imperativ

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des Alltagslebens‘ (als Aspekt, an den man sich gewöhnen müsse, wenn man neu in die Stadt hinzuzieht) praktisch von allen Befragten thematisiert. Unterschiede ergeben sich erst in den Bezugspunkten für ein diffuses oder konkretes Unsicherheitsgefühl. Die Favela als Metapher für Gewalt und als Bezugspunkt des Unsicherheitsgefühls ist dabei ebenfalls ein Motiv, das sich relativ unabhängig von Einkommen und Alter zeigt. Gleichwohl gibt es Erzählungen von einem Unsicherheitsempfinden, das über die fast schon routinehafte Nennung von Gewalt als Problem und Gefahr hinausgeht. 1. „Strand, Corcovado, Zuckerhut“ (Interview RJ_44_Niterói) Die 51-jährige Gesundheitsbeamtin hat die Schule nur bis zur 4. Klasse besucht und lebt in einem siebenköpfigen Haushalt in São Gonçalo (Lagoinha, östliche Metropolregion). Niterói (die Nachbarstadt von Rio, wo das Interview stattfindet) verbindet sie mit Einkäufen und Freizeit – Rio mit dem Strand und den touristischen Orten. Das Zusammenleben in der Metropolregion wird hier negativ bewertet, während in Rio „alles“ und prinzipiell positiv ist. Die Gewalt ist ein Hauptgrund für die negative Bewertung. Im Vordergrund stehen aber die Effekte der Gewalt: das Misstrauen der Leute, die Tatsache, dass sich „keiner um niemanden“ schere: „ninguém é de ninguém“. Aus der Sicht dieser Frau aus der östlichen Metropolregion gab es früher einmal gute Gründe, die für die Metropolregion sprachen: Ursprünglich sei es dort ruhiger und weniger gewalttätig als in Rio gewesen. Nachdem diese Vorteile aus ihrer Sicht nicht mehr gegeben sind, erweist sich Rio in ihrer Darstellung als die lebenswertere Stadt, die über ihre touristische Attraktivität genauso wie über ein positiveres Zusammenleben der Menschen charakterisiert sei. Insofern finden sich auch hier wieder die drei zentralen Bezugspunkte: Gewalt, natürliche Umgebung, Menschen. Obwohl – oder gerade weil – sie bereits an vielen verschiedenen Orten gelebt hat, mehrere Städte der Metropolregion kennt und regelmäßig das Zentrum von Rio de Janeiro frequentiert, hat sie einen entmutigten Blick auf die Sicherheitslage in der Metropolregion und bringt in besonderem Ausmaß das typische diffuse Unsicherheitsgefühl („überall“) zum Ausdruck.

Bedeutsam ist hier die Unterscheidung zwischen der Metropolregion und der Kernstadt Rio de Janeiro. Während für Rio verbindende Momente über die Menschen und ihre Interaktionsformen sowie über positiv besetzte Orte (touristische Attraktivitäten) benannt werden, ist die Metropolregion als zusammenhangslos aufgrund der fehlenden Vertrauensbasis der Menschen dargestellt. Die Bewertungen sind also mit Trennungen verbunden, während über die alltäglichen Nutzungsweisen viele, wenngleich nur oberflächliche Verbindungen hergestellt werden.

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Aufgrund der hohen Bedeutung von Gewalt im Alltag, wie sie schon in den typischen Mustern zum Ausdruck gekommen ist, ist die Parallele zwischen Recife und Rio de Janeiro über das Unsicherheitsnarrativ nicht überraschend. Die beiden folgenden Erzählungen stellen zwei unterschiedliche Perspektiven darauf dar, einmal aus der Sicht einer Bewohnerin der Metropolregion, einmal aus der Sicht einer wohlhabenden Bewohnerin des südlichen Küstenviertels. 2. Bewegung & Handel – „Recife ist Handel“ (Interview Re_2_Afogados) Die 19-jährige Mitarbeiterin eines Veranstaltungsunternehmens mit Abitur lebt in einem vierköpfigen Haushalt in Paulista (nördlich an Olinda angrenzende Stadt). Für die junge Frau ist Paulista schlicht eine „Kleinstadt“, während Recife aus ihrer Sicht vor allem von Handel geprägt ist. Positiv am Leben in der Metropolregion sei, dass es dort ruhiger zugehe – negativ dagegen die „Zugänglichkeit/Erreichbarkeit“. Angesichts ihres gestreuten Aktivitätsprofils kommt der Erreichbarkeit aber kein verhindernder Charakter zu: Die junge Frau hat ein weit gestreutes Nutzungsprofil; wohnhaft in der nördlichen Metropolregion, arbeitet sie südlich des Zentrums in Recife und ihre Freizeitorte sind gestreut von Olinda (nachts und Strand) über den Shopping Tacaruna (nördlich in Recife) bis nach Boa Viagem im südlichen Recife (Strand). Auch ihre Einkaufsorte sind auf die verschiedenen Teile der Stadt und Metropolregion verteilt. Dementsprechend wenige persönliche Bindungen sieht sie auf nachbarschaftlicher und Viertelebene. Aber auch auf Stadtebene fallen ihre Bewertungen nicht sehr positiv aus: In Paulista sei das Zusammenleben der Menschen mittelmäßig – die Stadt sei ja nicht so groß und es gebe auch nicht so viel Hektik. In Recife dagegen gebe es kein Zusammenleben – dort gebe es nur Arbeit und Hektik. Als größtes Problem erachtet sie das Thema Sicherheit, das überall gilt und für das sie auch keine Lösungsmöglichkeit sieht. Für diese junge Frau steht das Empfinden von Unsicherheit zwar im Vordergrund, aber sie gleicht es nicht aus durch eine Fokussierung auf den lokalen Kontext. Mit ihrem breit gestreuten Nutzungsprofil von Metropolregion und innerhalb der Stadt Recifes bringt sie die typischen Nutzungsweisen der Großstadt und ihrer Metropolregion zum Ausdruck. Einen starken Bezugspunkt stellt außerdem der (rege) Handel in Recife dar: Nicht nur liegt darin ihre Attribuierung der Stadt begründet, auch ihr diffuses Unsicherheitsempfinden („überall“) wird durch das Sicherheitsempfinden in den Geschäften durchbrochen.

Obwohl die junge Frau also einen hohen Verknüpfungsgrad der Stadt und der Metropolregion in ihrem Aktivitätsprofil herstellt, ist ihre Wahrnehmung von einer über Hektik und Unsicherheit begründeten Bindungslosigkeit geprägt – und damit auf die städtischen Gegebenheiten bezogenen.

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3. „Recife ist gewalttätig und hübsch“ (Interview RE_13_Boa Viagem) Die natürliche Umgebung wird im Interview mit einer 38-jährigen Lehrerin mit Hochschulabschluss deutlich hervorgehoben. Sie lebt in einem zweiköpfigen Haushalt im reichen Küstenviertel Boa Viagem (der Ehemann ist Geschäftsmann). Für die Frau aus besseren Verhältnissen stehen die positiven Attribuierungen der Stadt dem generellen Empfinden von Unsicherheit gegenüber: Recife ist für sie eine „gewalttätige“, aber „hübsche“ Stadt, die „ihre Schönheit bewahrt“. Am liebsten möge sie den Strand – für negativ erachtet sie die „schlecht erzogenen Leute“ in der Stadt. An ihrem Viertel hebt sie hervor, dass „alles dort wie in der Ersten Welt ist“; es gebe alles und es sei, als ob man in den USA wäre. Aufgewachsen ist sie dagegen in einem „Außenbezirk“ (Estância im Südwesten der Stadt), aber der Ort ist heute für sie nur noch ein negativer Bezugspunkt. Sorgen bereiten ihr die „Überfälle“, die es aber überall gebe aufgrund des nicht ausreichenden Polizeischutzes, der Arbeitslosigkeit, der fehlenden Bildung und Erziehung.

Im guten Lebensstandard der Frau mittleren Alters in ihrem Wohnviertel im südlichen Küstenabschnitt kommt hier eine Teilung der Stadt zum Ausdruck. Dieser beruht nicht zuletzt auf der persönlichen Erfahrung des sozialen Aufstiegs. e) Entwicklung Eine besondere Auffälligkeit der beiden Großstädte im Verhältnis zu den ‚Megastädten‘ ist die Bezugnahme auf die Entwicklung der jeweiligen Stadt. Dort, wo die Entwicklung als vorrangig negative bewertet wird, steht das Entwicklungsnarrativ im Widerspruch oder in Gegensätzlichkeit zum positiv bewerteten Traditionsbezug. Es wird aber auch positiv auf die Entwicklung der Verhältnisse Bezug genommen. 1. Positive Entwicklung – „Porto Alegre ist einfach zu verstehen“ (Interview PA_20_Rubem Berta) Die 76-jährige Frau ist eine alte Bewohnerin des nördlich-peripheren Viertels Rubem Berta und war dort über einen langen Zeitraum auch als „liderança comunitária“, Gemeinschaftsleiterin/lokale Führungsaktivistin aktiv. Das Viertel Rubem Berta beschreibt sie als „Basis für alles“, es gebe alles (Transport, Märkte, Apotheken) und man lebe zusammen mit den Bescheidenen und Einfachen, Reiche gebe es dort nicht. Das Viertel selbst habe sich sehr entwickelt, am Anfang habe es nichts gegeben, nur einen Bus. Da habe man sich zunächst für den Transportausbau eingesetzt. Heute kümmere sich auch die Stadtregierung, das sei am Anfang aber nicht so gewesen. Heute müsse man auch nicht mehr wie früher zur Av. Assis Brasil für Besorgungen, und Schulen gebe es mittlerweile ebenfalls genug - außer ein Gymnasium/eine Oberstufe. Sorgen würden ihr im Viertel aber noch die Themen Gesundheit und Arbeit bereiten, nicht für sich selbst, aber sie sehe, dass

290 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT es anderen diesbezüglich nicht so gut gehe. Diese ältere Frau, die aus dem Hinterland als junge Frau nach Porto Alegre zog und ihre Ausbildung, ein Arbeits- sowie ein politisch aktives Leben in einem peripheren Viertel im Norden verbracht hat, hat einen prinzipiell positiven Blick auf die Stadt. Diese hat sich aus ihrer Sicht vor allem in politischer und städtebaulicher Sicht positiv entwickelt. Auf der nachbarschaftlichen und Viertelebene zeigen sich insbesondere infrastrukturelle Fortschritte (und damit auch die Berücksichtigung durch die Politik), aber ebenso Rückschritte im Zusammenleben der Menschen. Darin äußert sich eine differenzierte Perspektive auf positive und negative Entwicklungen. Eine weitere Entwicklung, die sich anhand ihrer Erzählung nachvollziehen lässt, ist die Bedeutungsabnahme der Subzentren: Durch die bessere Ausstattung auch peripherer Viertel scheint die Frequentierung des (in diesem Fall) nördlichen Subzentrums nicht mehr nötig – wobei wenig wahrscheinlich ist, dass auch jüngere Menschen in Rubem Berta ihre Besorgungen ausschließlich auf Viertelebene erledigen. Der Aktionsradius der Frau beschränkt sich (immer mehr) auf den lokalen Kontext, außer für Freizeitaktivitäten, die sie mitunter ins Zentrum führen – woran sich dessen Spontaneitätscharakter zeigen lässt. Das Zentrum ist gleichzeitig Bezugspunkt für das Gefühl von Unsicherheit als auch für die positiven Eigenschaften der Stadt Porto Alegre.

Anders als in São Paulo und Rio de Janeiro, wo die kontrastierenden Interviews zum typischen Attribuierungs-und Nutzungsmuster vor allem bei älteren und bessergestellten Männern gefunden wurden, trifft dies hier auf eine ältere und ärmere Frau zu. Das Entwicklungsnarrativ hängt allerdings weniger mit dem Alter der Befragten zusammen, denn die beiden folgenden Erzählungen bringen die Sichtweisen zweier jüngerer Männer zum Ausdruck. Beide machen allerdings negative Entwicklungstendenzen aus. Dabei werden die Veränderungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen und Bezüge zu sozialer Ungleichheit stärker hervorgekehrt als von der älteren Frau. Auch in diesen Interviews lassen sich viele kontrastierende Aspekte zur typischen alltagspraktischen Herstellung der Stadt erkennen. 2. Aufstiegsmelancholie – „Porto Alegre ist aufgewühlt“ (Interview PA_11_Azenha) Der 34-jährige Taxifahrer lebt in Ipanema, einem Mittelschichtviertel im südlichen Porto Alegre. Positiv bewertet er das Klima und die Sicherheit in der Stadt, insbesondere im Vergleich mit anderen Orten, an denen er als ehemaliger Fußballprofi gelebt habe (v.a. Rio de Janeiro). Weder in der Nachbarschaft noch auf Viertelebene identifiziert er ein aktives Zusammenleben der Menschen: Jeder bleibe für sich, kümmere sich um sich selbst, mische sich nicht in die Angelegenheiten der anderen ein. Es sei nicht wie in einem „bairro humilde“, einem einfachen/bescheidenen Viertel, das kenne er von früher in Guarujá, wo es eine Gemeinschaft gegeben habe. Deutlich macht der Befragte hier vor

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allem, dass ihm diese Art der Interaktionsformen im Nahbereich fehlt. Trotzdem, wenn er es sich aussuchen könnte, dann würde er natürlich gerne nach Moinhos de Vento (dem Reichenviertel im Norden) ziehen, aber das sei unerreichbar. Auch in seiner Freizeit orientiert er sich an vielen unterschiedlichen Orten: Zum Schlendern/Bummeln auch in den Einkaufszentren der Wohlhabenden, seinen Konsum orientiert er aber an den Orten „wo es erschwinglich ist“. Als Taxifahrer arbeitet er vielerorts. Freizeit verbringt er „dort, wo es erschwinglich ist“ – Cidade Baixa, Zona Sul/Süden, aber zum Schlendern/Bummeln würde er auch mal in den Shopping Iguatemi gehen. In Moinhos de Vento könne man aber nicht essen gehen, das sei zu teuer. Als jemand, der einen finanziellen Aufstieg durch professionelles Fußballspiel erreicht hat und dadurch andere Teile Brasiliens und der Welt gesehen hat, und der auch einen sozialen Aufstieg (mindestens) für seine Kinder erreicht hat, die jetzt auf Privatschulen gehen, bewertet er das Leben in Porto Alegre immer anhand von Vergleichen: Zwischen den unterschiedlichen Einkommensgruppen und ihren Sichtweisen und Wertigkeiten, zwischen der Stadt und anderen Städten. Allerdings wird der soziale Aufstieg mit einer menschlich-sozialen Verschlechterung gleichgesetzt: Positive Zwischenmenschlichkeit verortet er in ärmeren Vierteln und bei den „einfachen Leuten“ – mit dem sozialen Aufstieg ist auch der Einstieg in die Welt der Distinktionen und der Distanzierung verbunden.

In der Erzählung kommt eine gewisse Aufstiegsmelancholie zum Ausdruck, möglicherweise auch als Ernüchterung darüber, dass der Aufstieg nicht weit genug realisiert scheint. Denn als Konsequenz wird die Herauslösung aus einem solidarischen Gemeinschaftsgefüge empfunden. Die Stadt tritt als Bezugspunkt hinter dieser Fokussierung auf Beziehungen und Interaktionsformen zurück: Sie wird nur über einzelne Orte wahrgenommen, die jeweils bestimmte soziale und funktionale Merkmale tragen. Das ist auch deshalb bemerkenswert, da der Taxifahrer potentiell die Stadt weitläufig frequentiert, was auch in seinen Freizeitaktivitäten der Fall ist, wobei es aber immer nur einzelne Orte sind, auf die Bezug genommen wird. 3. Negative Entwicklung der Ungleichheit – „Porto Alegre ist die Schlüsselstadt“ (Interview PA_4_Mercado) Der 35-jährige Mechaniker wohnt in Alvorada, einer nördlich gelegenen Nachbarstadt. Allerdings lebt er dort nur, weil er sich ein eigenes Haus leisten konnte und nicht mehr zur Miete wohnen wollte. Das sei zuvor der Fall gewesen in der Zona Norte von Porto Alegre, von wo er stammt. Alvorada selbst habe nichts besonders Positives, keine Attraktivität, es sei einfach ein Rückzugsort (refúgio) für diejenigen, die in Porto Alegre arbeiten. In der Metropolregion zu wohnen sei gut aufgrund der Wohnbedingungen und weil es nah an Porto Alegre sei, der Schlüsselstadt (cidade chave), wo es so vieles gebe. Insgesamt habe

292 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT sich die Situation zwar schon gebessert, schlecht sei allerdings, dass man sich für alles Notwendige von dort fortbewegen müsse. Deshalb würde er auch lieber zentraler in Porto Alegre wohnen, aber das wäre eine Frage des Geldes. Er grenzt sich aber ab von der oberen Klasse, zum Beispiel von „Leuten, die in Moinhos de Vento leben“. Dazu führt er aus, dass diejenigen die ein hohes Einkommen hätten, die classe alta, sehr anders wären, in einer anderen Welt lebten und dass er spüren würde, wenn er dort hinginge, dass er nicht Teil dessen sei. Außerdem geht er auch darauf ein, dass die Menschen sich in ihren Häusern einschließen würden, dass die Häuser verschlossen seien aufgrund der Angst, was immer schlimmer würde, weshalb auch die Kommunikation untereinander fehlen würde. Die wichtigsten Werte für das Zusammenleben würden eben fehlen („o importante ‘ta faltando“), der Respekt, sich gegenseitig zu helfen – und das nicht deshalb, weil die Leute nicht wollten, sondern weil sie Angst hätten. Die Angst und die fehlende Kommunikation ergänzt er noch um die konsumistische Einstellung der Leute, welche das Zusammenleben schwächt.

Wie der Taxifahrer, so hat auch dieser Mann aus der nördlichen Peripherie/Metropolregion einen weiten Aktionsradius. Der maßgebliche Unterschied zwischen den beiden Männern mittleren Alters ist die Realisierung des sozialen Aufstiegs. Während sich einmal die negative Entwicklung auf die individuelle Veränderung bezieht, richtet sich hier der Blick auf kollektive Entwicklungsaspekte, die aber ebenso in einer verringerten Bindung resultieren. Der starke Bezug zur traditionellen Gemeinschaft (weniger im Hinblick auf ärmere Bevölkerungsgruppen, sondern im Gegensatz zwischen städtischen und ländlichen Lebensstilen) steht im Kontrast zu neueren Entwicklungen, die mit sozialen Ungleichheiten und Kriminalitätsangst in Verbindung gebracht werden. Das Trennende wird also in den städtischen und sich negativ entwickelnden Interaktionsformen gesehen. Die daraus resultierende Isolierung wird als allgemeines Problem charakterisiert, auch wenn der Befragte diese besonders für obere Einkommenslagen hervorhebt, von denen er sich abgrenzt. Porto Alegre selbst wird definiert über die regionale Bedeutung – auch persönlich bleibt die Stadt zwar der wichtigste Bezugspunkt für den Alltag, finanzielle Aspekte stehen aber einer grundlegend positiven Einschätzung im Weg. Das Verbindende der Stadt kann also nur in einer funktionalen Bezugnahme gesehen werden. Es ist als bezeichnend für Porto Alegre zu sehen, dass diese von der typischerweise sehr positiven Bewertung der Stadt abweichenden Erzählungen die negative Beurteilung als jüngere Entwicklung beschreiben. Das Entwicklungsnarrativ stellt eine bedeutende Schnittmenge zwischen Porto Alegre und Recife dar, das in Recife (ebenfalls) als ungleiche soziale Entwicklung, aber auch als ungleiche regionale Entwicklung thematisiert wird.

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4. Ungleiche soziale Entwicklung – „Recife ist vor allem in den Dingen gewachsen, die nichts taugen“ (Interview RE_7_Dom Vital) Die 65-jährige öffentliche Angestellte mit Abitur lebt alleine in Boa Viagem, einem Reichenviertel im Süden der Stadt, und verfügt über 3-5 Mindestlöhne. Ihre Tochter arbeitet bei der größten brasilianischen Fluggesellschaft (TAM), lebt in São Paulo und hat die Wohnung für sie erworben – sie selbst gibt an, dass ihr Lebensstil offensichtlich nicht übereinstimmt mit dem ihrer Nachbarn, die sie manchmal für eine Hausangestellte und nicht für eine Bewohnerin hielten. Sie wirft einen sehr ambivalenten Blick auf Recife und bringt darin – wenn auch nicht inhaltlich in allen Aspekten – die typischen Wahrnehmungs- und Nutzungsweisen zum Ausdruck. Auf der einen Seite sieht sie Entwicklungen in der Stadt, während sie aber darüber spricht, fallen ihr vor allem negative Aspekte ein, woraufhin sie schlussfolgert, dass in Recife am Ende nur die Probleme zunähmen: Recife ist aus ihrer Sicht eine wachsende Stadt, dessen Bevölkerung aber arm sei und keine Arbeit habe und wo es viele Drogenabhängige (Klebstoff) und Perspektivlosigkeit gebe. Insofern sei Recife vor allem in den Aspekten gewachsen, die „nichts taugen“. Den positiven Gegenaspekt zu diesen Problemen und Entwicklungen stellt die – gleichbleibend – schöne natürliche Umgebung der Stadt dar: Klima und Strand bringen einen hohen Freizeitwert mit sich, wodurch die Stadt trotz der Probleme als lebenswert erscheint, wenn auch bei allgemein niedrigem Lebensstandard. Die sozialen Verhältnisse sind nicht nur von Armut, Perspektivlosigkeit, Drogen und Gewalt geprägt. Den sozialen Problemen stehen die Bessergestellten der Stadt gegenüber, von denen sich die Befragte selbst abgrenzt, aber auch die Abgrenzung zu spüren bekommt in ihrer Nachbarschaft. Damit spricht sie eine prinzipielle Ungleichheit an, die sich im Verhalten und in den Wertvorstellungen der Menschen äußert: Zwischen den „einfachen Leuten“ und denen, die dem äußeren Schein mehr Bedeutung zuordnen. Insofern ist das „Lebenssystem“ in Recife, wie sie es nennt, ein ambivalentes. Den typischen Attribuierungen entsprechend ist das Thema Gewalt und Kriminalität für die Befragte von großer Bedeutung – Unsicherheit ist ein diffuses Empfinden, das mit dem öffentlichen Raum in Verbindung gebracht wird. Wirkliche Sicherheit gibt es nur in der Gemeinschaft (oder „im Himmel“). Obwohl ihr der öffentliche Raum als Unsicherheitsbezug gilt, ist das Zentrum für sie ein wichtiger Bezugspunkt. In ihrem Viertel dagegen, in dem sie sich sozial nicht zugehörig fühlt, meidet sie den Außenraum.

Insgesamt bezieht sich das Narrativ der ungleichen sozialen Entwicklung und der negativen Dynamik in diesem Fall aber auf den städtischen Kontext. Diese sozial ungleiche Entwicklung innerhalb Recifes findet ihre Entsprechung in der Thematisierung von Entwicklungsungleichheiten auf (metropol-) regionaler Ebene:

294 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT 5. Ungleiche regionale Entwicklung – „Recife ist sehr entwickelt“ (Interview RE_45_Jaboatão) Die 48-jährige Verkäuferin hat die Schule bis zur 8. Klasse besucht und lebt in einem zweiköpfigen Haushalt in Jaboatão (Vista Alegre) in der Metropolregion. Das Leben dort ist für sie deshalb positiv, weil sie Arbeit hat und die Leute hier „sehr gut und gemütlich“ seien (ursprünglich kommt sie aus Recife und vergleicht das damit). Problemtisch sei allerdings, dass in Jaboatão alles „rückwärts“ laufe, während sich Recife in jeder Hinsicht entwickele. Sie habe schon in mehreren Vierteln in Jaboatão gelebt, geboren und aufgewachsen sei sie aber in Recife (Engenho do Meio im Westen der Stadt). Jetzt habe sie ihr eigenes Zuhause – am liebsten würde sie aber zurück nach Engenho do Meio (Recife) ziehen. In der Nachbarschaft sei das Zusammenleben mittelmäßig: Man müsse wissen, wie man Freundschaften schließt. Das Wohnviertel stellt den einzig positiven Bezugspunkt dar, in Bezug auf Jaboatão sei das Zusammenleben dagegen schwierig, im Zentrum fehle es an Polizeiüberwachung. In Recife sei das Zusammenleben eher gut. Für sie waren ihre ehemalige Nachbarschaft und ihre Arbeitssituation dort besser. Die Befragte empfindet die Differenz zwischen Metropolregion und Recife als eine zwischen Stillstand und Dynamik. Recife ist aus dieser Sicht der Entwicklungspol, sowohl Transport und Verkehr als auch das Zusammenleben der Menschen seien dort besser. Dabei hat der Stillstand eine positive Kehrseite: die Gemütlichkeit. Dass auch die Dynamik in Recife eine negative Kehrseite hat, lässt sich nur erahnen, wenn sie zu Beginn des Interviews die positiven Aspekte des Lebens in der „gemütlichen“ Metropolregion der Stadt Recife gegenüberstellt. Aus finanziellen Gründen kann diese Frau das Zentrum im Alltag nur wenig frequentieren, auch ansonsten ist ihre Mobilität relativ eingeschränkt, wenngleich sie arbeitsbedingt und zum Einkaufen regelmäßig die Metropolregion verlässt. Dadurch entspricht das Bewegungsprofil einerseits dem typischen Nutzungsprofil in ihren Bedeutungszuordnungen, nicht aber in den de facto realisierten Nutzungen.

Beide Frauen haben in ihrem eigenen Leben Veränderungen erfahren, die sie eine negative Entwicklungsperspektive auf die Stadt und ihre Metropolregion werfen lassen. Wie in Porto Alegre ist mit der negativen Entwicklungstendenz etwas Trennendes verbunden, und zwar selbst dann, wenn damit individueller Aufstieg oder Besserstellung verbunden sind. 6. Kultur der Rückständigkeit – „Recife ist Kultur“ (Interview RE_10_Casa Forte) Der 64-jährige Einkaufsleiter im Ruhestand mit nicht abgeschlossenem Studium lebt in einem dreiköpfigen Haushalt in Jaqueira. Der Mann lebt im Nordwestkorridor von Recife, dem zweiten ‚Elitezentrum‘ in der Stadt. Recife ist aus seiner Sicht vor allem durch „Kultur“ gekennzeichnet – positive Aspekte des Lebens gebe es viele: die „Kultur“, den „Strand“, „wenig Regen“ und „nette Leute“. Als problematisch hebt er dagegen die „Un-

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reife der Leute“ bzw. der Gesellschaft hervor und betont, dass sie noch viel zu lernen hätten. Auf nachbarschaftlicher Ebene sieht er ein schwieriges Zusammenleben, denn die Leute seien vor allem misstrauisch. Das Viertel hingegen bewertet er in dieser Hinsicht positiv. Auf der Ebene der Gesamtstadt wiederum sieht er kein oder nur wenig Zusammenleben aufgrund des „niedrigen Bildungsniveaus“ in der Stadt. Gleichwohl habe man in Recife eine Gemeinsamkeit, das sei der „bairrismo176 im guten Sinne“ – also ein positiver Lokalpatriotismus. Auf der anderen Seite gebe es „genügend Schlaumeier, die immer zeigen wollen, was sie sind“ – er grenzt sich also gleichzeitig ab von den Bessergestellten, die sich nach unten hin distinguieren. Der „bairrismo“ verweist auf eine Zurückgezogenheit auf den lokalen Kontext bzw. Nahbereich, was sich in einigen seiner Angaben zu Nutzungsweisen spiegelt. Der Alltag des älteren Herrn im Ruhestand, der zuvor in der Metropolregion in einem multinationalen Konzern gearbeitet hat, spielt sich nämlich vorrangig an den drei Orten der Wohlhabenden ab: am Park im Viertel, in den Einkaufszentren („in allen“, das Gute sei dort, dass es klimatisiert ist) oder am Strand in Boa Viagem. Auch Einkäufe könnten im Viertel und im Einkaufszentrum gut erledigt werden. Zum Zentrum sagt er, „wer in den besseren Vierteln wohnt, hat sich sehr abgewandt vom Zentrum“. Er selbst gehe zwar noch immer hin, er merke aber, „dass die anderen nicht gehen“. Es sei nicht wirklich wichtig, vor allem sei es „nicht gut gepflegt“, dennoch möge er es, dort in den Straßen zu gehen und „den Handel dort zu beobachten“.

Mehr aus empathischer Gewohnheit denn aus tatsächlicher Relevanz stellt dieser Befragte in seinen Aktivitäten noch Verknüpfungen zwischen dem historischen Zentrum und den Orten der Wohlhabenden in der Stadt her. Anders als die beiden Frauen zuvor betont er das Fehlen einer „sozialen Entwicklung“ – auch wenn ein gewisses lokales Beharrungsverhalten über den „bairrismo“ für ihn positiv konnotiert ist. Wenn darin das Gemeinschaftsstiftende zu sehen ist, so kommen parallel dazu aber noch eine Reihe von Abgrenzungen in der Erzählung zum Ausdruck, allen voran gegenüber hochnäsigen Gutgestellten und der bildungsfernen Masse. f) Unruhe und Unordnung Unruhe und Unordnung finden sich in den Erzählungen zu São Paulo und Recife. In São Paulo stellt das Unruhenarrativ (zusammen mit dem Funktions- und Möglichkeitennarrativ) die deutlich überwiegende Erzählung dar. Verschiedene 176 Bairrismo leitet sich von ‚Viertel‘ (bairro) ab, was die Übersetzung „Lokalpatriotismus“ nicht ganz trifft. Damit ist eine positive Einstellung gegenüber dem lokalen Kontext verbunden, der auch als Beschränkung aufgefasst wird – weshalb dieser Befragte die Notwendigkeit sieht, in seiner Aussage bairrismo auf die positive Konnotation zu spezifizieren.

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soziale Situationen geben Anlass, Unruhe als primäre Zuschreibung zu benennen, die aber unterschiedlich bewertet wird, nämlich als Stress, als Unordnung und als Diversität: 1. Stress – „São Paulo ist in einer kritischen Situation“ (Interview SP_8_Jd. Ângela) Die junge und arme Frau, eine 24-jährige Angestellte mit Hochschulreife, die in der vom Zentrum São Paulos weit entfernten südlichen Peripherie lebt, wirft einen sehr negativen Blick auf die Stadt. Ihr Alltag ist vor allem durch Stress geprägt – einzig auf nachbarschaftlicher Ebene sieht sie positive Aspekte. (Fehlende) Infrastrukturen und politische Vernachlässigung lassen sie den lokalen Kontext negativen bewerten, neben der Hektik und den „schlechten Menschen“. Besonders hebt sie die „Überfüllung“ in der Stadt, die sie vor allem im Verkehr verortet, sowie Hektik und Stress hervor. Die typischen Imperative des Alltagslebens werden hier also zum Ausdruck gebracht und dabei klar in den Kontext der städtischen Gegebenheiten gestellt („Überfüllung“, infrastrukturelle Gegebenheiten).177

Die Unruhe São Paulos ist aus der Sicht dieser jungen Frau also klar mit städtischen Gegebenheiten verbunden – der Blick aus der extremen Peripherie macht deutlich, welche Hindernisse (Infrastrukturen und politische Vernachlässigung) 177 In drei Aspekten weicht diese Darstellung allerdings von der als typisch charakterisierten Nutzungs- und Wahrnehmungsweisen der Stadt ab: Vor allem ist die Darstellung in verstärktem Maße negativ – die junge Frau wohnt in zweifacher Hinsicht in der Peripherie, einmal in der Peripherie São Paulos, aber gleichzeitig in der Peripherie der angrenzenden Stadt, Itapecerica da Serra. Sie beklagt die infrastrukturellen Zustände vehement und bringt darin zum Ausdruck, dass ihr Wohnort in der doppelten Peripherie vollständig vernachlässigt sei von Seiten der Politik. Ein zweiter abweichender Aspekt ist die eher negative Bezugnahme zu Arbeitsmöglichkeiten. Der Arbeitsbezug erscheint weniger als positive Größe, die die negativen Aspekte des Stadtlebens zumindest aufwiegen könnte, vielmehr als zusätzliche Sorge, weil es aus ihrer Sicht nicht leicht ist, Arbeit zu finden. Die dritte Abweichung findet sich in der ausschließlich negativen Bezugnahme auf das Zentrum. Mit ihrem Ausruf auf die Frage, welche Bedeutung das Zentrum der Stadt für sie habe – „Du meine Güte!“ – macht sie klar, welch vernachlässigbare Bedeutung das Zentrum der Stadt für sie hat. Andererseits wird die Anziehungskraft des überregionalen Subzentrums Brás deutlich, denn obwohl sie zum Zentrum selbst nur negativ (auch als Unsicherheitsort) Bezug nimmt, ist das östliche Subzentrum ein Ort, den sie kennenlernen möchte. Bestandteil ihres Alltags ist gleichwohl keiner der zentralen Orte, dieser spielt sich ausschließlich in der südlichen und südwestlichen Region São Paulos ab, woran die regionale Alltagsstrukturierung der Stadt deutlich wird.

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wahrgenommen werden, um überhaupt dazu in der Lage zu sein, von möglichen positiven Aspekten der Dynamik der Stadt zu profitieren. Es wird daran auch deutlich, dass diese Hindernisse klare Trennungen produzieren, denn weder bezogen auf die Stadt noch auf eine lokale Gemeinschaft werden Bindungsmomente zum Ausdruck gebracht. Das folgende Beispiel ist in mancher Hinsicht ähnlich – es handelt sich um zwei Frauen, Mutter und Tochter, die in der Metropolregion São Paulos leben und die Unruhe der Stadt zwar negativ beurteilen, aber mit dem Blick von ‚außen‘ weniger vehement, sondern als ungeordneten Tumult. 2. Unordnung – „São Paulo ist viel Tumult“ (Interview SP_59_Diadema) Zwei Frauen, die 48-jährige Tochter und ihre 74-jährige Mutter, beide Hausfrauen, die jüngere mit abgebrochener Oberstufe, die ältere mit abgebrochener Mittelstufe, wohnen in einem Viertel mit dem Namen Eldorado in Diadema. Beide stammen aus mittleren Einkommensverhältnissen und leben in der ärmeren Metropolregion. In ihren Beschreibungen konstruieren sie eine klare Differenz zwischen dem Leben in der Metropolregion (ruhig, gemütlich) und dem in São Paulo (tumultartig, Kriminalität). Im Gegensatz zur negativ bewerteten Kernstadt der Metropolregion halten sie Diadema für eine sich positiv entwickelnde Stadt. Die negative Bewertung insbesondere des Zentrums von São Paulo ist nicht mit Unkenntnis gleichzusetzen, die vorherigen Beschäftigungsverhältnisse der Tochter weisen einen hohen Grad an Verwobenheit mit den zentralen Regionen der Kernstadt auf.

Hier wird ebenfalls eine klare Trennung zum Ausdruck gebracht, diesmal aber zwischen dem lokalen Kontext und der Stadt bzw. der Metropolregion. Damit ist eine willentliche Entscheidung verbunden, weder finanzielle Situation noch Unkenntnis halten die beiden Frauen davon ab, São Paulo als Bezugspunkt im Alltag einzubauen. Eine neutralere Beurteilung erfährt das Zentrum – sowohl in seiner Funktion für die Stadt als auch für die eigenen (kulturellen und Arbeits-) Bezüge – in nachfolgendem Interview: 3. Diversität und Dynamik – „São Paulo ist facettenreich“ (Interview SP_68_Zentrum) Die 29-jährige Architektin und plastische Künstlerin mit Festanstellung in der Organisation „Viva o Centro“ wohnt in einem zweiköpfigen Haushalt im Reichenviertel Jardim Paulista. Die junge Frau, deren Leben sich primär in den zentralen Gebieten São Paulos abspielt und die sich auch beruflich mit dem Zentrum und der Stadt auseinandersetzt, bewertet São Paulo vor allem neutral im Hinblick auf die Diversität der Stadt. Denn sie verbindet sowohl negative als auch positive Aspekte mit der Dynamik („Lebendigkeit“ – „Stress“) und mit der Diversität („facettenreich“ – „soziale Ungleichheit“). Interessant ist hier, dass das Zusammenleben bzw. der Umgang der Menschen miteinander auf keiner der

298 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT Ebenen positiv bewertet wird. Die Kommunikation unter den Menschen scheint eingeschränkt, und die Betonung liegt eher auf Interessenkonflikten. Darin besteht in Bezug auf die Nachbarschaft die einzig deutliche Abweichung vom typischen Muster – denn wo sonst der Nahbereich sowohl in zwischenmenschlicher als auch freizeitorientierter Weise favorisiert wird, sieht diese Befragte kein Zusammenleben. Angesichts der Tatsache, dass es sich um eine junge, gutverdienende Frau handelt, die in einem der Reichenviertel der Stadt lebt (das finanzielle Profil der Menschen im Viertel hebt sie dementsprechend auch als Gemeinsamkeit hervor) erscheint diese Bewertung wenig abwegig: Wohnen findet in diesen Vierteln vor allem in überwachten Wohnblocks statt.

Die junge Akademikerin bringt also eine ambivalente Sichtweise auf die Unruhe der Stadt zum Ausdruck, denn sie verbindet sowohl positive als auch negative Aspekte damit. Dabei bilden eher die positiv besetzten städtischen Merkmale verbindende Momente – Trennendes wird auf der Ebene der Interaktionen verortet, die von Ungleichheiten und Interessenkonflikten geprägt sind. Die Dominanz des Unruhenarrativs in São Paulo bringt also einerseits die grundsätzliche Bedeutung und (häufig negative) Bezugnahme auf die städtischen Gegebenheiten zum Ausdruck – zum anderen zeigen die Interviews, dass die Unruhe auch zur Beschreibung der sozialen Verhältnisse bzw. Interaktionen dient. Auch in Recife lässt sich diese Perspektive teilweise nachvollziehen, obwohl hier die Unruhe als Ungeordnetheit dezidiert mit den städtischen Gegebenheiten in Verbindung gebracht wird: 4. Ungeordnethei – „Recife ist [hat viel] Müll“ (Interview RE_25_Casa Amarela) Der 22-jährige Angestellte am Markt (Auf- und Abladen von Lastwagen) im nordwestlichen Subzentrum Casa Amarela lebt in einem sechsköpfigen Haushalt in Alto José do Bonifácio, einem armen Wohnviertel nördlich von Casa Amarela. Der junge Mann charakterisiert Recife recht bündig über „Müll“ – thematisiert damit also Unordnung respektive Verschmutzung. Positiv sei „nur der brega“ – also ein kulturelles Moment [regionale, volkstümliche Schlagermusik]. Negativ hebt er den Transport hervor. Er nennt die „Busse“ als schlechten Aspekt des Alltagslebens in Recife. In seinem Viertel ist das Positive wiederum „os brega“ (die brega-Leute) – negativ benennt er die „vielen Morde“. Unordnung im Sinne von Verschmutzung, aber auch in Bezug auf das Zusammenleben wird von diesem jungen Mann hervorgehoben. Auch die Betonung von Gewaltaspekten lässt sich damit in Zusammenhang bringen, wie auch die Problematisierung von Verkehr und Transport. Typisch positiv betont er kulturelle Aspekte und das Klima. Für ihn selbst hat das Zentrum nur eine sehr untergeordnete Rolle, sein Alltag spielt sich vor allem in der nordwestlichen Region Recifes ab, was aber durchbrochen wird von seiner freizeitbezogenen Streuung von Aktivitäten (brega-Feste „überall“).

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Verbindungen werden hier über eine freizeitbezogene Aktivität, über kulturelle Momente hergestellt. Der städtische Alltag hingegen ist von Trennendem geprägt: Verkehr und Transport stellen eher Behinderungen dar, das Zentrum ist kein positiver Bezugspunkt – aber auch die lokale Umgebung wird eher negativ beurteilt. g) Funktionen und Möglichkeiten Eine Spezifik São Paulos ist der deutliche Bezug auf die Funktions- und Möglichkeitsvielfalt in der Stadt. Im Gegensatz zum Unruhe- und Unordnungsnarrativ kommt hier also vorrangig das Positive der Stadtaspekte zum Vorschein. Aber nicht nur, denn der Funktionsbezug gewinnt auf der Interaktionsebene eher negative Bedeutung. Unter das Funktionsnarrativ fallen vier Erzählungen, angefangen beim „anti-sozialen Funktionieren der Menschen“ über zwei unterschiedliche Erzählungen von der primären Funktion der Arbeit bis hin zur instrumentell-funktionalen Erzählung von der Stadt als Quelle materiellen Besitzes. 1. Vom anti-sozialen Funktionieren der Menschen – „São Paulo ist [das Ergebnis der] destruktive[n] Bewegung der Menschheit“ (Interview SP_33_Brás) Aus der Sicht eines 24-jährigen Angestellten im Telefonkundendienst mit mittlerer Schulbildung aus der östlichen Peripherie stellt sich die Situation in São Paulo sehr negativ dar. Der junge Mann weicht zwar in einigen Punkten von den typischen Nutzungs- und Wahrnehmungsmustern ab – insbesondere in der Betonung von Bildungsaspekten. Auch für ihn liegen aber die negativen Aspekte, die er gar als „destruktiv“ bezeichnet, vor allem in städtischen Gegebenheiten (öffentliches Transportsystem und „Überfüllung“) und den Interaktionsformen der Menschen („roboterhaft“, also unpersönlich) begründet. Dabei ist der Arbeitsbezug in der Stadt nicht nur negativ (schwierige Arbeitssuche), sondern auch von einem potentiellen Angebot an Arbeitsmöglichkeiten geprägt („es gibt Industrie“). Insgesamt weist der junge Mann aus der östlichen Peripherie dennoch einen starken und positiven Bezug zur zentralen Region auf – im Gegensatz zur südlichen Peripherie ist die östliche deutlich besser angeschlossen über das öffentliche Transportsystem. Es stellt für ihn einen vielfältig genutzten und von einem großen Angebot geprägten Ort dar, auch wenn er den städtischen Kontext per se negativ bewertet. Damit liegt der Schwerpunkt auf der Art und Weise der Menschen und ihres Umgangs miteinander, der hier als „roboterhaft“ – unpersönlich, unkommunikativ, funktional – beschrieben wird.

Zwar ist hier ein infrastrukturell-funktionaler Zusammenhang der Stadt gegeben – aber ein sozialer Zusammenhang geht damit nicht einher. Um die Begründungszusammenhänge besser verstehen zu können, lassen sich zwei weitere

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Interviews heranziehen, die ebenfalls mit jüngeren Befragten aus peripheren und ärmeren Verhältnissen geführt wurden. Sie weichen insbesondere in ihrer übergeordneten Bewertung der Stadt vom vorherigen Interview ab, da sie neutrale bzw. positive Sichtweisen stark machen. Dabei wird São Paulo – trotz aller problematischen Aspekte, die mit den typischen Zuschreibungen korrespondieren – stärker als Ermöglichungsraum beschrieben. Für einen jungen Mann aus dem Süden der Stadt (er lebt trotz eines niedrigen Haushaltseinkommens in einem genuin mittel- und oberschichtsgeprägten Viertel, das für ihn einen starken Bezugspunkt darstellt) hat São Paulo insgesamt eine sehr funktionale Komponente: 2. Arbeit I – „São Paulo ist nur zum Arbeiten...“ (Interview SP_5_Lapa) Der 29-jährige technische Angestellte mit Abitur lebt schon immer in Interlagos, einem im Süden der Stadt gelegenen Viertel mittlerer und oberer Einkommenslagen. Er entscheidet sich für die Beschränkung auf einen lokalen/regionalen Kontext (den Süden). Denn obwohl er eine Reihe anderer Orte in der Stadt zu frequentieren scheint, da er „überall“ von der Arbeit eingesetzt werde (nach eigener Aussage kennt er „alles“), so ist er in seinem Privatleben ausschließlich auf Interlagos fixiert, sowohl im Hinblick auf das genannte Freizeitangebot (Parks, Shopping Interlagos) als auch auf die Einkaufsmöglichkeiten. Auch sämtliche persönliche Bindungen verortet er in Interlagos, obwohl seine Freundin nordwestlich des Zentrums lebt (wo das Interview stattfindet). Damit ist die Beschränkung nicht als Einschränkung (etwa im Sinne von Unerreichbarkeit) zu verstehen, sondern als bevorzugte Option.

Hieran wird deutlich, wie über funktionale Aspekte stadtweite Verbindungen hergestellt werden, während persönliche Bindungen nach Möglichkeit eine Beschränkung auf den lokalen Kontext erfahren. Ganz anders der folgende junge, gut ausgebildete und gut verdienende Mann aus der südöstlichen Metropolregion São Paulos: 3. Arbeit II – „São Paulo ist Arbeit, es hängt aber davon ab…“ (Interview SP_65_Santo André) Der 31-jährige, gut verdienende Bauunternehmer lebt in einem vierköpfigen Haushalt in Parque Jaçatuba, einem wohlhabenden Viertel in Santo André in der südöstlichen Metropolregion São Paulos. Er arbeitet im Zentrum, weshalb es wenig überraschend ist, dass der Verkehr für ihn ein relevantes negatives Thema darstellt. Wie viele andere charakterisiert er das Leben in der Metropolregion als „ruhiger“ – auch hier deutet sich insgesamt an, dass die Probleme vielfach an äußeren Umständen festgemacht werden (Beleuchtung, Verkehr). Arbeitsfokus und Individualismus als Bezüge für die Interaktionsformen der

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Menschen tragen neutrale und negative Konnotationen, aber auch positive im Hinblick auf eine „offenere“ Einstellung der Menschen. Eine interessante Abweichung zum typischen Muster ist hier, dass positive Interaktionsformen eher auf gesamtstädtischer Ebene gesehen und weniger am Wohnort bzw. in den lokalen Kontexten verortet werden. Zwar stellen die Stadt in der Metropolregion und auch das Wohnviertel für diesen jungen Mann einen „ruhigen/gemütlichen Ort“ dar, wo es einfacher sei, „Sachen zu finden“ und alles in der Nähe sei. Aber wirklich von Bedeutung ist für ihn nur das Zentrum von São Paulo, und das sowohl in Bezug auf Arbeiten, Einkäufe als auch Freizeit: „Ich mache praktisch alles dort, wohne nur im Haus meiner Eltern“.

Der junge Mann stellt also Verbindungen in jedweder Hinsicht her: In all seinen Aktivitäten ist er auf die zentrale Region der Kernstadt ausgerichtet und auch in seinen persönlichen Einschätzungen erfährt das Zusammenleben dort eine positivere Bewertung als in seinem lokalen Kontext. Dieser dient aber immerhin noch als Rückzugsort. Mit dem nachfolgenden Interview, das gleichzeitig den schärfsten Kontrast zum typischen Muster darstellt, kommt erneut ein Blick auf die Stadt zum Ausdruck, der aus der Position eines gut verdienenden Mannes formuliert wird, für den das Zentrum eine hohe Alltagsrelevanz hat: 4. „São Paulo ist Geld“ (Interview SP_42_República) Der 53-jährige Anwalt lebt in einem dreiköpfigen Haushalt in Chácara Inglesa, einem Reichenviertel südlich des Zentrums. São Paulo charakterisiert er mit der schlichten Zuschreibung: „São Paulo ist Geld“. Positiv sei, dass es „alles“ in São Paulo gebe, negativ sei der Verkehr. Aus der Sicht dieses wohlhabenden Mannes gestaltet sich das Leben in São Paulo in aller Regel problemlos. Warum auch nicht – sowohl seine Nachbarschaft als auch sein Viertel sieht er als von einem positiven Umgang der Menschen miteinander geprägt, und er selbst hat das, was er für besonders relevant für das Leben in São Paulo betrachtet: Geld. Er selbst entspricht dabei auch seiner eigenen Beschreibung der Bewohner_innen São Paulos, diese würden typischerweise viel über materielle Dinge und Arbeit sprechen. Ungewöhnlich stark ist die (positive) Orientierung am historischen Zentrum, das für ihn einen wichtigen Bezugspunkt darstellt – wenngleich sich seine Wohn- und Freizeitorte auf den Süden bzw. Südwesten der Stadt, den Quadranten der Reichen, beziehen.

Wenngleich sich inhaltlich das Motiv auch auf die Stadt als Ermöglichungsraum bezieht – in den meisten anderen Punkten stellt die nachfolgende Erzählung einen Kontrast zu dem eben gehörten älteren Mann dar:

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5. Möglichkeiten – „São Paulo ist nicht nur schick, sondern auch noch revolutionär!“ (Interview SP_1_Lapa) Die 15-jährige Schülerin lebt seit ihrer Geburt in Jaraguá im peripheren Nordwesten São Paulos und geht in Pompéia, im westlichen (erweiterten) Zentrum, zur Schule, wo sie im ersten Jahr der Oberstufe ist. Auf die Frage, wie sie São Paulo als Stadt beschreiben würde, antwortet sie mit der ungewöhnlichen Wendung: „além de ser chique, é revolucionária!“ („São Paulo ist nicht nur schick, sondern auch noch revolutionär!“), worin letztlich auch eine Zuschreibung von Dynamik zu sehen ist. Positiv hebt sie dabei die Freizeitmöglichkeiten hervor (Parks, Einkaufszentren, Schwimmbäder), negativ die Luftverschmutzung („nachts kann man die Sterne nicht sehen“). Optionen stehen also auch für diese junge Schülerin aus der nordwestlichen Peripherie São Paulos im Vordergrund, und sie bringt darin einen sehr positiven Blick auf ihre Stadt zum Ausdruck. Während die Angebotsvielfalt den stärksten positiven Bezugspunkt darstellt, macht sie negative Bezüge an äußeren Umständen fest, allen voran der Verschmutzung und Kriminalität. Auch Verkehr und Konflikte sieht sie als Gründe dafür, warum es auf städtischer Ebene keinen positiven Umgang miteinander gebe. Hektik und Verkehr sind also auch hier, bei aller positiven Grundeinstellung, wichtige negative Bezüge, die sie für gewöhnungsbedürftig erachtet. Das Zentrum selbst hat für sie keine Bedeutung, außer als Ort, den sie auf ihren täglichen Wegen durch die Stadt passiert. Dennoch wird an ihren Darstellungen deutlich, dass sie mehr Bezug herstellt zu den zentralen Regionen der Stadt: Während ihr Wohnviertel und die Umgebung eher als gefährlich eingestuft werden – trotz der persönlichen Bindung an die dort lebenden Menschen – sind das Subzentrum Lapa, das Zentrum selbst und der zentrumsnahe Stadtteil, in dem sich ihre Schule befindet, positive Referenzen für ihren Alltag. Auch ihr Umzugswunsch in die zentrale Region, wo sich die Schule befindet, verrät, welche Vorstellungen sie vom Leben mit den zentralen Orten verbindet. Sozialer Aufstieg hat dabei vor allem denn Zweck ihr die Nähe zu den von ihr als positiv dargestellten Referenzen des Lebens in São Paulo zu ermöglichen Menschlich grenzt sie sich dagegen vehement ab von den („hochnäsigen“) besser gestellten Schulkameradinnen.

Die Stadt und die in ihr gegebenen Möglichkeiten sind also aus dieser Sicht das Verbindende – und zwar trotz der sozialen Differenzen, die zwischen denen, die aus begünstigter Situation darauf Zugriff haben und denen, die (wie die Befragte) sich die Möglichkeiten erst erarbeiten müssen. Aber es wird auch deutlich, dass die Möglichkeiten, welche die Stadt bietet, klar verortet werden: im Zentrum.

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h) Zentrumsorientierung Wenig überraschend angesichts der hohen innerstädtischen Zentralität Porto Alegres, findet sich ein solches Narrativ als Spezifik der Stadt. Die zwei folgenden Erzählungen – beide von jungen Frauen – bringen in relativ typischer Weise eine positive Perspektive auf die Stadt zum Ausdruck. Sie unterscheiden sich allerdings darin, in welchem Ausmaß das Leben der Frauen auf das Zentrum der Stadt bezogen ist und wie sie ihre lokalen Kontexte von Nachbarschaft und Viertel bewerten. 1. Aus Sicht der Peripherie – „Ich mag es“ (Interview PA_19_Restinga) Eine starke Orientierung auf die Stadt, genauer: das Zentrum weist das Interview mit einer 23-jährigen Telefonistin mit Abitur auf, die in einem achtköpfigen Haushalt in Restinga, der südlichen Peripherie Porto Alegres, lebt. Obwohl ihre Aussagen weitestgehend übereinstimmen mit der typischen alltagspraktischen Herstellung der Stadt, nimmt sie nicht positiv auf das Traditionsnarrativ Bezug, sondern stellt die „Volkstümlichkeit“ der Bewohner_innen Porto Alegres eher in den Kontext einer (ungehobelten) Einfachheit. Auch das Zusammenleben bewertet sie insgesamt negativ. In sämtlichen anderen Bezügen und Nutzungsmustern des städtischen Raumes (gestreut, da sie in der Peripherie wohnt, ihr Leben aber auf das Zentrum der Stadt orientiert ist) bringt sie aber das typische Nutzungsmuster zum Ausdruck. Dabei betont sie in ihrer recht pauschalen, aber persönlichen Bewertung der Stadt („ich mag es“) vor allem freizeitbezogene Aspekte positiv, wobei die touristische Attraktivität eine Rolle spielt. Die Gewalt stellt für sie den vorrangig negativen Aspekt dar, was angesichts ihres Wohnviertels, für das das Problem besonders relevant sei, nachvollziehbar ist. Aber auch die Distanz zum Stadtzentrum, das sowohl eine Bedeutung für ihre Arbeit als auch für ihre Freizeit hat, stellt sich problematisch für sie dar.

Mit der Betonung des eher neutral-negativen, volkstümlichen Charakters der Menschen in Porto Alegre setzt sich die junge Frau von den übrigen Befragten ab, die nur gelegentlich ein konservatives Moment mit der prinzipiell traditionsbewussten, positiven menschlichen Art verbinden. Damit geht eine relevante Unterscheidung einher: Das Verbindende verortet die junge Frau nicht bei den Menschen und Interaktionsformen, sondern in den städtischen Funktionen, welche sie in ihren Aktivitäten nutzt und die allesamt im Zentrum verortet sind – in der Peripherie betont sie dagegen Gewalt und ein schwieriges Zusammenleben.

304 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT 2. Aus Sicht der Metropolregion – „Porto Alegre ist von allem ein bisschen“ (Interview PA_42_Camelôdromo) Die 22-jährige Verkäuferin und Besitzerin eines Verkaufsstandes im Camelôdromo lebt schon immer in Cachoeirinha in der Metropolregion. Sie bezieht sich in ihrer Zentrumsorientierung allerdings weniger auf freizeitbezogene Aspekte, denn auf städtische Gegebenheiten (Diversität und Angebot). Porto Alegre hätte „von allem ein bisschen“, benannt werden von ihr Drogen und die Polizeipräsenz auf der Straße. Das Leben in der Metropolregion kennzeichnet sie positiv über die Transportanbindung und die Nähe zu allem. Die junge Frau aus „einfachen“ Verhältnissen bringt einerseits eine starke lokale Bindung an Nachbarschaft und Viertel zum Ausdruck. Auf der anderen Seite ist ihr Alltagsleben stark auf das Zentrum der Stadt ausgerichtet, da sie dort einen festen Verkaufsstand kleiner Waren hat und außer Lebensmitteleinkäufen alles erledige. Insgesamt bewertet sie die Stadt zwar positiv, allerdings weniger im Hinblick auf das Zusammenleben der Menschen. Mit Porto Alegre scheint sie ein relativ instrumentelles Verhältnis zu verbinden – wirklich engagiert dagegen wirkt sie auf lokaler Ebene, wo ihre Familienangehörigen sind und wo sie sich auch politisch (Bürgerhaushalt) einsetzt. Dennoch (oder erst recht?) betrachtet auch sie Vernachlässigungspolitik als charakteristisch für die lokale Regierung – allerdings nicht als spezifisch lokales Problem, sondern als eines, das überall in Brasilien grassiert.

Auch hier wird die Zentrumsorientierung vorrangig funktional festgemacht, Interaktionsformen sind eher negativer Bezugspunkt auf städtischer Ebene. Als Unterschied ist aber die Bindung an den lokalen Kontext zu nennen. Insofern findet eine Trennung statt, die zwischen der Stadt/dem Zentrum als funktionaler Notwendigkeit und dem lokalen Kontext als kollektivem Bezugspunkt verläuft. i) Verbindungen und Trennungen in den Erzählungen Eine Zusammenfassung der Narrative für die einzelnen Städte ergibt das folgende Bild: In São Paulo stellen die unterschiedlichen Narrative zur alltagspraktischen Herstellung der Stadt keinen gravierenden Unterschied oder Widerspruch zu den als typisch dargestellten Nutzungs- und Wahrnehmungsformen dar. Vielmehr bringen sie die schon als typisch gekennzeichneten Aspekte zum Ausdruck. Einzig die starke Bindung an den Ort (die Stadt, aber auch der lokale Kontext im Sinne des Wohnviertels) stellt einen Unterschied zu den bisherigen Darstellungen dar. Auch negative Bezüge verlieren an Bedeutung, wenn man die einzelnen Darstellungen der Befragten betrachtet. Die Bedeutung der städtischen Gegebenheiten, die alltagsräumliche Nahbereichsfokussierung und die dadurch vorgenommene und hergestellte Segmentierung des städtischen Raumes finden wir

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aber verdeutlicht. Vor allem in den Bewertungen der einzelnen Motive kommen Bindungs- oder Trennungsaspekte zum Ausdruck: Positiv-neutrale Funktionen (Arbeit und Geld) sowie Möglichkeiten bringen Verbindungsaspekte zum Ausdruck Sie stehen vorrangig bei solchen Befragten im Vordergrund, die aus mehr oder weniger gesicherten finanziellen Verhältnissen sprechen und in ihrem Alltag mehr oder weniger bequem größere Teile des städtischen Raumes durchqueren und erleben. Trennungen finden sich vorrangig im Unruhenarrativ: Stress, Unordnung, aber auch eher neutral bis positive Bewertungen von Diversität und Dynamik bringen verstärkt das Trennende des städtischen Alltags zum Ausdruck – aber auch die Funktionslogik kann sich in anti-sozialer Weise äußern. Das Bindungsnarrativ selbst schließlich kann als sowohl als auch beschrieben werden: Zwar ist über die Biographie und ein prinzipielles Zugehörigkeitsgefühl ein Verbindungsmoment gegeben, das aber durch die primär lokale Bindung teilweise aufgelöst wird. Die Narrative der alltagspraktischen Herstellung von Rio de Janeiro bringen in besonderem Maße Ambivalenzen zum Ausdruck. In ihren Erzählungen äußern die Befragten sowohl stark positive wie negative Bewertungen. So findet sich auch innerhalb der jeweiligen Narrative sowohl Trennendes als auch Verbindendes. Die starken Bezüge zu den Menschen in der Stadt etwa stehen für beides: Kommunikativität, Solidarität und Offenheit des Carioca-Seins, auch über sozioökonomische Ungleichheiten hinweg – diese begründen aber auch das prinzipiell Trennende, wenn Ignoranz und Eigensinn bei Wohlhabenden und im Süden der Stadt lebenden Menschen verortet werden. Das Motiv taucht auch in São Paulo auf (etwa bei dem jungen Mädchen aus der nordwestlichen Peripherie, die eine Schule in Zentrumsnähe besucht und sich dort von den selbstüberzeugten wohlhabenderen Mitschülerinnen abgrenzt), ist aber bei weitem nicht so dominant wie in Rio de Janeiro. Rio ist dementsprechend eine gespaltene Stadt – auch wenn sowohl räumlich als auch sozial (in der an den öffentlichen Orten stattfindenden Kommunikation) Verbindungen hergestellt werden, die für ebenso charakteristisch erachtet werden. Wie in São Paulo, so liegt im Bindungsnarrativ auf die Stadt bezogen eher etwas Trennendes: Im Vordergrund stehen die individuellen Bezugspunkte, die zumeist spezifisch lokalisiert sind. Über die allgemeinen Bezüge (die Cariocas, die natürliche Umgebung) wird aber auch die Bindung an die Stadt als Gesamtbezug deutlich. Mit der Akzentuierung des Unsicherheitsgefühls – welches sich in São Paulo interessanterweise nicht abzeichnet – ist schließlich eine Auflösung sozialer Bindungen verbunden. Wo Misstrauen und Angst die Menschen in ihrem Umgang miteinander prägen, tritt das Verbindende in den Hintergrund. Allerdings zeigt das Narrativ auch, dass das, was als naturalisierte positive Umwelt Rio de Janeiros bezeichnet werden kann, dem entgegen-

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zuwirken scheint. Eine Parallele ergibt sich damit zwischen dem Funktionsnarrativ der anti-sozialen Beziehungen São Paulos und dem Unsicherheitsnarrativ des Misstrauens – beide führen zu veränderten Umgangsformen. Auch in den Narrativen Porto Alegres zeigen sich die unterschiedlichen Aspekte, die für die typischen Nutzungs- und Wahrnehmungsmuster herausgearbeitet wurden. Interaktions- und Personenbezug äußern sich im Traditionsnarrativ in besonderer Weise, aber auch im Entwicklungsnarrativ und dem Bindungsnarrativ kommt diese Komponente der Verbindung innerhalb der alltagspraktischen Herstellung Porto Alegres zum Ausdruck. Von großer Bedeutung scheinen aber Veränderungen zu sein, und zwar sowohl auf individuell-biographischer und kollektiv-sozialer Ebene (Aufstiegsmelancholie und Ungleichheit) als auch auf städtischer Ebene (positives Entwicklungsnarrativ). Vor dem Hintergrund eines starken Wertekonsenses, auf den der hohe Traditionsbezug (Familie, Bräuche) schließen lässt, wird erklärbar, warum sich die primär negative Entwicklungsbewertung auf die Veränderungen der Interaktionsformen hin zu dissoziativen Verhältnissen bezieht. Wie in Rio de Janeiro stellen die residentiellen Orte der Wohlhabende(re)n Bezugspunkte für dieses Befremden dar, auch wenn sie die Orte der Aspiration darstellen. Die Stadt selbst – und mit ihr die städtischen Gegebenheiten – stellt eher einen nüchternen Bezugspunkt dar. Ausgeprägte Bewertungen der Stadt kommen selten zum Ausdruck, außer in den recht unspezifischen Bezügen zu einer schönen natürlichen Umgebung. In Porto Alegre sind also die Werte- und Traditionsbezüge mit den ihnen zugehörigen Interaktionsmustern das Verbindende, während die Entwicklungen eher in eine ungleiche, traditionsunbewusste und trennende Richtung weisen. Die Stadt ist dabei eher die neutral-positive Folie, die aber immerhin im Rahmen der Alltagsaktivitäten mehr verbunden denn getrennt wird. Ähnlich wird in Erzählungen zu Recife deutlich, dass Entwicklung und Veränderungen eine große Bedeutung haben, wenn auch in negativer Hinsicht. Anders als in Porto Alegre sind es aber nicht die Interaktionsformen, sondern die sozialen Gegebenheiten und die Produktion ungleicher Räume, die aus unterschiedlichen Entwicklungsdynamiken resultieren. Als positive Bezugspunkte bleiben dann – wie in Rio – die natürliche Umgebung und Attraktivität inklusive Freizeitwert sowie – wie in Porto Alegre – ein kultureller Traditionsbezug, der aber vor allem mit Musik und Karneval in Verbindung gebracht wird. Darin ist denn auch das Verbindende zu sehen, während in Entwicklung, Unsicherheit, Unordnung und Ungleichheit das Trennende betont wird.

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4.5 Über die alltagspraktische Herstellung unterschiedlich großer Städte: Konkordanzen und Differenzen Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung anhand der teilstandardisierten Straßeninterviews lassen sich wie folgt thesenhaft zusammenfassen: • Regionale Alltagsstrukturierung: Die Bewohner_innen der beiden ‚Megastäd-









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te‘ beschränken sich in ihren alltäglichen Aktivitäten stärker auf die relativen Nahbereiche (im selben Stadtteil oder derselben Region wie Wohnort). Dagegen spielen für die Bewohner_innen der Großstädte weitere Distanzverhältnisse eine ebenso große Rolle wie die Nahbereiche. Hohe räumlich-funktionale Dezentralisierung: Starke regionale Subzentren nehmen mit der Größe zu. Beide ‚Megastädte‘ weisen ein gestreutes Zentralitätsgefüge im Hinblick auf die Alltagsbedeutung für ihre Bewohner_innen auf. Plurizentralisierung: Überregionale Subzentren sind eine Frage der Größe. Vorrangig in São Paulo, tendenziell in Rio de Janeiro findet sich damit ein Gegenmoment zu den ansonsten stark auf regionale Alltagsstrukturierung ausgerichteten Nutzungsweisen der Bewohner_innen. Notwendigkeitscharakter des Zentrums: Je weniger dezentral das innerstädtische Zentralitätsgefüge ist, desto stärker ist der Spontaneitätscharakter des eigentlichen Zentrums. Umgekehrt erhält das Zentrum in São Paulo einen fast ausschließlichen Notwendigkeitscharakter, obwohl andere Zentralitäten viele Funktionsbezüge übernehmen. Städtische Gegebenheiten als Bewertungsgrundlage: Bezüge zu städtischen Gegebenheiten, die in Zusammenhang mit der Größe gebracht werden (können), hängen sowohl mit der Größe (vorrangig in São Paulo) also auch mit einer allgemeinen negativen Bewertung derselben zusammen (gilt hier für São Paulo und Recife). Die Einschätzung lokaler Kontexte (Nachbarschaft und Viertel) lässt keine maßgeblichen Unterscheidungen erkennen. Negative Bewertungen des Zusammenlebens: Bewertungen des Zusammenlebens im Sinne der Interaktionsformen hängen sowohl mit der Größe (vorrangig in São Paulo, wo die Bewertungen in stärkerem Ausmaß an den äußeren Umständen festgemacht werden) als auch mit der allgemeinen negativen Beurteilung der Lebensqualität (in Recife) zusammen. Das Unsicherheitsempfinden weist keine Größenrelevanz auf: Es ist diffus und verallgemeinert in Rio de Janeiro und Recife, konkreter (im Sinne spezifischer Orte) und weniger dominant in São Paulo und Porto Alegre.

308 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT • Die charakteristischen Narrative zeigen, dass sich trotz aller Unterschiedlich-



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keit im Detail, die beiden Großstädte ähneln: Sowohl in Porto Alegre als auch in Recife werden Tradition respektive Kultur auf der einen, eine (nicht ausschließlich, aber vorrangig) negative Perspektive auf Entwicklungstrends auf der anderen Seite als dominante Erzählstränge deutlich. Das ist insbesondere vor dem Hintergrund der großen strukturellen Differenzen zwischen den beiden Städten interessant. Damit unterscheiden sich die Großstädte grundsätzlich von den ‚Megastädten‘, denn das Carioca-Narrativ, welches dem noch am nächsten kommt und auch in den typischen Wahrnehmungsmustern bereits eine Rolle gespielt hat, ist weniger ein traditionelles Motiv denn interaktionsbezogen. In diesem Interaktionsbezug liegt denn auch die prinzipielle Unterscheidung zwischen den beiden ‚Megastädten‘. Während in Rio de Janeiro also Interaktionen (prinzipiell positiv) und soziale Verhältnisse (vorrangig negativ) zum Hauptbezugspunkt gemacht werden, stechen für São Paulo genuin städtische Gegebenheiten als Bezugspunkte hervor. Zwar sind auch Hektik und Stress als Motive des Unruhenarrativs sowie die anti-soziale Komponente des Funktionsnarrativs interaktionsbezogen, der Fokus liegt aber eher auf deren städtischen Merkmalen. Städtische Gegebenheiten und Funktionsbezug: São Paulo Interaktionsbezug und soziale Verhältnisse: Vorrangig Rio de Janeiro, negativ in São Paulo (tendenziell negativ in Recife) Positiver Werte- und negativer Entwicklungsbezug in den beiden Großstädten.

São Paulo grenzt sich demnach sowohl im Hinblick auf Nutzungs- und Wahrnehmungsmuster als auch auf Zuschreibungen und Erzählungen von den kleineren Städten ab. Für Rio de Janeiro gilt dies eingeschränkt für die Nutzungsmuster und dominanten Narrative, auch wenn sich für letztere einige zentrale Übereinstimmungen zu Recife (Ungleichheit und Unsicherheit) ergeben. Auf der Ebene von Wahrnehmungen, Zuschreibungen und Erzählungen zeigen die Aussagen der Befragten also zum Teil deutliche Übereinstimmungen der beiden Großstädte auf. Teilweise stimmen die Merkmale Recifes mit denen der beiden ‚Megastädte‘ überein, sodass São Paulo und Porto Alegre im stärksten Kontrast zueinander stehen (die wiederum auf struktureller Ebene als relativ ähnlich beschrieben werden konnten). Über Wahrnehmungen und Zuschreibungen werden in allen vier Städten, unabhängig von der Größe, Trennungen und Verbindungen gleichermaßen produziert. Allerdings beziehen diese sich nur in São Paulo in besonderer Weise auf städtische Gegebenheiten. Über die Nutzungsweisen werden in São Paulo, aber

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auch in Rio de Janeiro tatsächlich lokale bzw. regionale Lebenskontexte produziert, die aber eben nicht mit darauf reduzierten symbolischen Bedeutungszuschreibungen korrespondieren.

D ‚Megastädte‘ zwischen Begriff und Wirklichkeit

Die Entwicklung und das Wachstum der sogenannten Megastädte hat spätestens seit den 1990er Jahren verstärkt Aufmerksamkeit sowohl im medialen und politischen als auch im wissenschaftlichen Diskurs auf sich gezogen. Diesem Interesse steht allerdings, das war der Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung, ein noch ungenügendes Verständnis gegenüber, was unter einer solchen Stadt zu verstehen sei. Das ungeklärte Spannungsfeld zwischen dem Begriff der ‚Megastadt‘ und der damit benannten sozialen Wirklichkeit drängt die Frage auf, ob diese Städte spezifische Lebensbedingungen und klar benennbare Effekte produzieren, die sie zu besonderen soziale Gebilden mit besonderen politischen Fragen machen. Mit anderen Worten: Bilden diese Städte distinkte Räume, deren soziale Verhältnisse in besonderer Weise räumlich organisiert, politisch gestaltet und im Alltag hergestellt werden? Aufbauend auf einem solchen raumtheoretischen Verständnis und einer methodologischen Begründung eines Städtevergleichs als Kombination aus Differenz- und Konkordanzlogik wurde empirisch untersucht, wie das mit dem Begriff Bezeichnete sozial hergestellt wird. Als heuristisches, erkenntnisleitendes Konzept wurde dafür der Begriff der Fragmentierung nicht als empirisches Phänomen, sondern als grundlegende, widersprüchliche, räumlich artikulierte gesellschaftliche Dynamik der simultanen Herstellung von Verbindungen und Trennungen eingeführt. Auch wenn hier eine definitorische Frage im Vordergrund steht, sollen ‚Megastädte‘ nicht als faktische Phänomene deklariert werden. Größe ist – das hat nicht zuletzt der Überblick über die diesbezüglichen Forschungen gezeigt – kein absoluter Maßstab. Obwohl in der vorliegenden Untersuchung unterschiedlich große Städte miteinander verglichen wurden, so ging es darum, zu zeigen, wie die Größe der Städte als relevanter Bezugspunkt wahrgenommen, konzipiert und erfahren wird. Es geht dann nicht darum, ab welcher Größe sich strukturelle Veränderungen abzeichnen, sondern ob sich hinter der ‚Megastadt‘ und den

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damit implizierten Größenverhältnissen Spezifika in der gesellschaftlichen Herstellung von Begriff und Wirklichkeit dieser Städte erkennen lassen. Nicht der Effekt von Größe ist Gegenstand der Untersuchung, sondern die Differenzen in den räumlichen Konfigurationen, den politisch-planerischen Konzipierungen und den alltagspraktischen Herstellungen unterschiedlich großer Städte. Damit gelangt die Arbeit zu einer vorläufigen Bestimmung, die angelehnt ist an die Erfahrungen sozialer Wirklichkeit, wie sie von den befragten Bewohner_innen und Akteur_innen in Politik und Planung zum Ausdruck gebracht werden und mit den konkret materiellen Strukturen der Städte in Zusammenhang stehen. Der bisher von der Forschung geprägte Begriff wird mit der materiellen, konzeptuellen und alltagspraktischen Herstellung der in Frage stehenden ‚megastädtischen Wirklichkeit(en)‘ abgeglichen. Diese Rückbindung der empirischen Ergebnisse an die aus der bisherigen Forschung zu ‚Megastädten‘ entnommenen Bestimmungen sowie an die allgemeinen Überlegungen zur Relevanz von Stadtgröße und die (stadt-)soziologische Theoriebildung dazu nimmt dieser Schlussteil der Arbeit vor.

1. Ü BER

BRASILIANISCHE

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Indem die Untersuchung von ‚Megastädten‘ als Vergleich unterschiedlich großer Städte in Brasilien (São Paulo, Rio de Janeiro, Porto Alegre und Recife) konzipiert wurde, lassen sich einige von der bisherigen Megastadtforschung deklarierten Aspekte als nicht größenrelevant zurückweisen, andere bekräftigen und weitere hinzufügen. Insbesondere weist die von der bisherigen Forschung zu ‚Megastädten‘ ausgewiesene Spezifik räumlicher Diskontinuitäten über Segregationsmuster im Vergleich der brasilianischen Städte sehr ähnliche Entwicklungstendenzen auf – und zwar größenunabhängig. Stattdessen zeigen die Ergebnisse, dass die Unterschiede eher in der alltäglichen räumlichen Nutzungsstruktur und der politisch-planerischen Konzipierung der Städte gegeben sind. Die alltägliche räumliche Nutzungsstruktur ist dabei in São Paulo und Rio de Janeiro deutlich dezentraler, während die politischen Steuerungsansätze sich durch eine stärkere Zentralisierung kennzeichnen, als es in den beiden Großstädten, Porto Alegre und Recife der Fall ist. Die verbreitete These von der ‚fragmentierten Megastadt‘ im Sinne einer Aufteilung in stadt-räumlicher Hinsicht lässt sich auf der Grundlage des Vergleichs unterschiedlich großer Städte in Brasilien zurückweisen. Das liegt insbesondere am sozial- und funktional-räumlichen Spektrum der Wohlhabenden (vgl. C.2.1). Bewachte Wohnkomplexe, Einkaufszentren, Handels- und Dienstleis-

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tungszentren sind zwar über die von den Armen erbrachten Dienstleistungen vom Pförtner bis zur Haushaltshilfe in ökonomischer Hinsicht mit der sie umgebenden Stadt verbunden, aber sie bilden ein selbstbezügliches Netz, das expandiert und streut. In dieser Hinsicht haben wir es also mit einer Angleichung der großen Städte zu tun, die in einem veränderten Nähe-Distanz-Verhältnis zwischen sozial Ungleichen resultiert. Stattdessen sind es die stadt-räumlichen Verbindungen, worüber sich Unterscheidungen zwischen verschieden großen Städten zeigen. Stadt-räumliche Verbindungen werden über Zentralitäten produziert. Dabei findet sich zwar in allen untersuchten Städten eine gewisse Zentrenspezialisierung und Dezentralisierung bzw. Ausbildung von Subzentren, weshalb sich auf einer rein deskriptiven Ebene wiederum eine stadt-räumliche Konkordanz benennen ließe. Allerdings wird vor allem im Zusammenhang mit alltäglichen Nutzungs- und Wahrnehmungsstrukturen sowie Bedeutungszuordnungen im Sinne der alltagspraktischen Herstellung der untersuchten Städte deutlich, dass in São Paulo durch die sowohl überregionalen wie regionalen Subzentren eine pluri- und dezentrale Struktur gegeben ist; in Rio findet sich eine zumindest dezentrale Struktur über die regionalen Subzentren. Dagegen handelt es sich bei Porto Alegre und Recife, den beiden kleineren Städten, um nutzungsmäßig relativ stark zentralisierte (Kern-)Städte. 1 Auffällig ist, dass sich die Differenz tatsächlich nur über die Kernstädte ergibt, denn im Hinblick auf die Metropolregionen weisen Porto Alegre und São Paulo als dezentrale Stadtregionen Konkordanzen auf, ebenso wie Rio de Janeiro und Recife als stark zentralisierte Metropolregionen einander ähneln. Für die Betrachtung der Zentren und Zentralitäten von Städten ist deshalb grundsätzlich zwischen elitären Machtzentren einerseits und den alltäglich über Nutzungen und Bedeutungszuweisungen produzierten Zentralitäten andererseits zu unterscheiden. Letztere weisen eine Größenspezifik auf, während erstere ein strukturelles (Groß-)Stadtphänomen darstellen. Im Hinblick auf die analytische Perspektive der Fragmentierung heißt das, dass die Trennungen verstärkt von den Wohlhabenden in der Stadt hergestellt werden, während die Gesamtzusammenhänge stärker von den Arbeiter_innen hergestellt werden, die den städtischen Raum durchqueren und bewältigen müssen und dadurch in seinen Zusammenhängen körperlich herstellen. Diese Zusammenhänge werden von den Bewohner_innen der Städte in umfassenderer Weise in den Großstädten hergestellt, während die Nutzungsweisen von São Paulo und Rio de Janeiro eine stark regionale Alltagsstrukturierung 1

Recife ist tendenziell dezentraler als Porto Alegre.Die dezentrale Struktur bzw. stärkere Zentrenspezialisierung in Recife gilt auch im Hinblick auf die ‚Elitezentren‘, wie sie von Villaça (2001) analysiert werden.

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aufweisen. Das bedeutet, dass im Alltag der Bewohner_innen relativ weitere Distanzen eine größere Rolle spielen und sie so größere Teile der Städte miteinander verbinden. Damit ist zwar das ‚räumliche Erleben der Gesamtstädte‘ in den ‚Megastädten‘ eingeschränkter als in den Großstädten, das heißt aber nicht, dass diese weniger deutlich wahrgenommen werden und auch entfernte Orte mit Bedeutung belegt werden. Im Gegenteil bestehen in den beiden ‚Megastädten‘ zum Teil präzisere Vorstellungen bzw. Zuschreibungen zu den Städten insgesamt. Diese mögen medial vermittelt und ideologisiert sein, das ändert aber nichts an ihrer Alltagsrelevanz. Beide Städte gehen mit starken Referenzen einher, die in Rio de Janeiro sehr ambivalent sind – einerseits positiv im Hinblick auf die natürliche Umgebung der Stadt und die Menschen und Interaktionen, andererseits negativ im Hinblick auf Gewalt und Ungleichheiten. In São Paulo sind sie mehrheitlich neutral oder positiv auf städtische Funktionen und Möglichkeiten oder negativ auf die städtischen Gegebenheiten und damit einhergehenden Interaktionsformen bezogen, die geprägt sind von Stress, Hektik und Verkehr. In São Paulo, wo mit der de- und plurizentralen Struktur anzunehmen wäre, dass das Hauptzentrum eine nur vernachlässigbare Bedeutung hat, ist das Zentrum ein sehr bedeutsamer Ort als Bezugspunkt der Bewohner_innen – wenn auch häufig nicht in praktischer, so doch in symbolischer Weise. Mit den starken Zuschreibungen in São Paulo geht auch eine deutliche Bewertung einher: Die städtischen Gegebenheiten spielen eine sehr zentrale Rolle für die Wahrnehmung der Stadt selbst, und zwar in negativer Weise. Einen wichtigen Bezugspunkt für die alltäglichen Stadtzuschreibungen bilden in Rio de Janeiro, Porto Alegre und Recife die vor Ort lebenden Menschen und die Art und Weise des Zusammenlebens. Sie werden in der Regel positiv bewertet, während sie in São Paulo, diesmal in Abgrenzung zu Rio de Janeiro, eher in den Kontext schwieriger städtischer Gegebenheiten und damit einhergehender dissoziativer Verhaltensweisen gebracht werden. Dabei wird vor allem an Rio de Janeiro, aber auch an Porto Alegre und Recife deutlich, welche Bedeutung hierfür konkrete öffentliche Räume spielen, die Verweilcharakter haben. Denn wo ein temporär unbewegtes Aufhalten nicht ermöglicht wird (São Paulo), stehen Hektik und Stress und das Unvermögen, sich aufeinander einzulassen, im Vordergrund. Es lässt sich also festhalten, dass im Rahmen der alltagspraktischen Herstellung der Städte zwar charakteristische Unterscheidungen zwischen São Paulo und Rio de Janeiro einerseits und Porto Alegre und Recife andererseits bestehen: Diese größenrelevanten Unterscheidungen beziehen sich auf die Zentrenstruktur und auf die über die Nutzungsweisen des städtischen Raums produzierte Alltags-

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strukturierung. Allerdings steht diesem konkret-praktischen Erleben die symbolische Bedeutungszuweisung und Attribuierung der Städte entgegen. Eine soziale Segmentierung findet also über die konkreten, ortsbezogenen Praktiken statt, nicht aber im Sinne symbolischer Bedeutungszuweisungen. Zudem finden sich in Bezug auf die alltagspraktische Herstellung der Städte Differenzen zwischen Rio de Janeiro und São Paulo, welche eine Spezifik São Paulos gegenüber den anderen Städten begründen: Nicht nur ist das Erleben der ‚Gesamtstadt‘ elementar (in negativer Weise) mit den städtischen Gegebenheiten verbunden. Auch die Interaktionsformen werden als dissoziativ beschrieben und sind Bezugspunkt negativer Zuschreibungen und Bewertungen des Alltagslebens der Bewohner_innen. Aus den Narrativen wurde allerdings auch deutlich, dass in dieser Hinsicht eine gewisse Ambivalenz für Rio de Janeiro gilt – einerseits sind die Menschen und ihre Umgangsformen zentraler Bestandteil positiver Attribuierungen der Stadt, andererseits sind Kommunikation und Solidarität auch negative Bezugspunkte im Rahmen der über soziale Lagen hinweg reichenden Interaktionen. Und schließlich weisen die Interviews in Porto Alegre und Recife auf Entwicklungen in dieselbe Richtung hin, die vor dem Hintergrund traditioneller und kultureller Wertekonsense negativ bewertet werden, insbesondere in Porto Alegre, wo soziale Ungleichheiten eine im Vergleich sehr geringe Rolle spiel(t)en. Die negative Bezugnahme auf städtische Gegebenheiten wiederholt sich im Hinblick auf die politisch-planerische Konzipierung der Städte für São Paulo und bestärkt die sich abzeichnende ‚megastädtische‘ Tendenz (im Sinne der Bezugnahme auf die Größe) in Rio de Janeiro: Als externe Faktoren werden diese nicht nur in politisch-planerische Entscheidungen einbezogen, sondern auch legitimierend für eine Ausrichtung von Politik und Planung herangezogen, die als nachträgliche (Wieder-)Herstellung von ‚Ordnung‘ bezeichnet werden kann. Dagegen zeichnen sich die beiden Großstädte durch dialoghafte (Mobilisierung und Vermittlung) und begleitend kontrollierende Politik- und Planungsverständnisse aus. Geordnet wird in den beiden ‚Megastädten‘ örtlich selektiv; es fallen also bestimmte Orte (etwa das Zentrum oder die informellen Siedlungen im südlichen Quellgebiet in São Paulo) in den Fokus der Regulierung. Dezentralisierung wird lediglich in territorial-administrativer Hinsicht bedeutsam. Dagegen weisen die politisch-planerischen Akteure der beiden Großstädte ein recht instrumentelles Verhältnis zu administrativer Dezentralisierung auf. Stärker betont werden hier institutionalisierte Verfahren der politischen Dezentralisierung im Sinne der Abgabe von Entscheidungsmacht (Beteiligungsverfahren),

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was wiederum für São Paulo und Rio de Janeiro nicht gilt.2 Politische Dezentralisierung ist also widersprüchlich im Hinblick auf die ‚megastädtische‘ politischplanerische Konzipierung, denn die Akteur_innen der Megastadtregierungen sehen sowohl die Aufteilung als auch die Wahrung einer zentralistischen Entscheidungsmacht als Notwendigkeit. Eine wichtige Schnittstelle zwischen den Bewertungen aus der Alltagsperspektive und aus politisch-planerischen Kontexten heraus stellt die Thematik Transport und Verkehr dar, die aufgrund der seit 2012 immer wieder (und über soziale Differenzen hinweg) artikulierten Proteste explizit erwähnt sei. Zwar kann das öffentliche Transportsystem als offensichtlichstes Mittel zur (körperlichen) Herstellung von Verbindungen der physisch-räumlichen Stadt gesehen werden, als solches ist es aber prekär bzw. dysfunktional, insbesondere in São Paulo und Rio de Janeiro. Aus dem Bindemittel wird dementsprechend ein Hinderungsgrund für körperliche Praktiken der Herstellung eines internen Zusammenhangs der Stadt. Wenn in den Diskussionen um die aktuellen Proteste also Verwunderung über das vermeintlich kleine Ventil einer Fahrpreiserhöhung ausgedrückt wird, dann verkennt das die zentrale Rolle, welche das Thema für die Bewohner_innen der Städte hat. Es ist vielmehr vorhersehbar, dass dieses Thema als eines, das alle betrifft, zu der Empörung beiträgt, welche so viele Brasilianer_innen vor allem in São Paulo und Rio de Janeiro auf die Straßen führt. Die erarbeiteten charakteristischen Merkmale lassen sich in folgender Begriffsbestimmung zusammenfassen: • In brasilianischen Städten wird eine ‚megastädtische‘ Relevanz von Größe

stadt-räumlich hergestellt durch simultane Prozesse der Konzentration und Ausdehnung sowie der Zentralisierung und Dezentralisierung. Dadurch entstehen plurizentrisch-dezentrale Stadträume, die kompakt und trotzdem ungleich sind, was durch die Prekarität insbesondere des öffentlichen Transportsystems nicht abgefedert wird. Das Hauptzentrum ist nicht bedeutungslos geworden, nimmt aber vor allem einen Notwendigkeitscharakter im Alltag ein, auch wenn es symbolisch immer noch (und mit den verstärkten Ökonomisierungs- und Kulturalisierungstendenzen der sogenannten Revita2

Mit der ‚neuen‘ Regierung unter Fernando Haddad wurde in São Paulo ein erneuter Versuch der Institutionalisierung partizipativer Strukturen im Hinblick auf den Haushalt gestartet – ergänzt durch eine langfristige Perspektive auf die Planung der Stadt. Die Diskussionen begannen 2013/2014, die Umsetzung 2015 – zu diesem Zeitpunkt war die Forschung für das vorliegende Buch bereits abgeschlossen. Insofern finden diese neueren Entwicklungen hier keine Berücksichtigung.

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lisierungen wieder) eine große Bedeutung hat. Verbindungen werden dabei insbesondere über die Plurizentralisierung (überregionale Subzentren ebenso wie die historischen Zentren) hergestellt, Trennungen über die Elitezentren (letzteres gilt aber ebenso für die Großstädte). • In brasilianischen Städten wird eine ‚megastädtische‘ Relevanz von Größe politisch-planerisch hergestellt durch eine Ambivalenz in der politischplanerischen Konzipierung: Aus der mit der Stadtgröße in Verbindung gebrachten negativen Bedingtheit lokaler Politik und Planung (‚widrige‘ Bedingungen) leitet sich ein zentral-regulativer Ordnungscharakter her. Gleichzeitig können die ‚widrigen‘ Bedingungen als Legitimierungsgrundlage für die in Frage gestellte politische Effektivität der Gestaltungsansätze und damit der Regierbarkeit gelten. Dieser zentralisierenden Regulierung steht die Notwendigkeit der Dezentralisierung entgegen, die lediglich administrativ-territorial umgesetzt wird. Politisch im Sinne einer Abgabe von Entscheidungsmacht findet sie nur selektiv (und intransparent) über neue privatwirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Akteure statt, nicht aber im Sinne einer Beteiligung. Der zentralistische Entscheidungs- und Ordnungscharakter lokaler Politik und Planung stellt ein Verbindungmoment dar, während Trennungen nicht politisch, sondern nur administrativ im Sinne einer dezentralen Verwaltungsstruktur hergestellt werden, die über die Wahrnehmung verschiedener eigenständiger Teile der Stadt begründet wird. • Schließlich wird in brasilianischen Städten eine ‚megastädtische‘ Relevanz von Größe alltagspraktisch hergestelltdurch eine Ambiguität der Nutzungsmuster und Attribuierungen. Denn im Hinblick auf die alltäglichen Nutzungsweisen stellen die Bewohner_innen innerstädtische, regionale Bezugsräume her, die sich um dezentrale, regionale Subzentren (und Elitezentren) entwickeln. In ihren Attribuierungen nehmen sie dagegen auf die Städte als Ganze Bezug, wobei städtische Gegebenheiten mit negativ bewerteten Unruhemomenten (wie Hektik und Stress) verbunden sind, aber auch positiv über die Funktionen (v.a. Arbeit) verstanden werden. Verbindungen werden in diesem Zusammenhang also vor allem durch die starken kollektiven Vorstellungen hergestellt, die auch einen direkten Bezug zu städtischen Gegebenheiten formulieren, Trennungen dagegen über die regionale Alltagsstrukturierung. Die folgende Tabelle gibt die hier zusammengefassten Verbindungs- und Trennungsdynamiken im Unterschied zu den ‚Großstädten‘ wieder:

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Tabelle 8: Verbindungs- und Trennungsdynamiken (Fragmentierung) in brasilianischen Groß- und Megastädten ‚Megastädte‘

‚Großstädte‘

Verbindungen  Plurizentralisierung (überregionale Subzentren und historische Zentren)  Zentralistischer Entscheidungs- und Ordnungscharakter lokaler Politik und Planung  Starke (stadtbezogene) kollektive Vorstellungen   

Monozentralisierung: historische Zentren Zentraler Kontrollcharakter und Dialoggestaltung Metropolregionale Alltagsstrukturierung und starke regionale (über die Stadt hinausweisende) traditionelle kollektive Identitätsbezüge

Trennungen  Elitezentren  Wahrnehmung eigenständiger Teile der Stadt und Notwendigkeit der administrativen Dezentralisierung  Regionale Alltagsstrukturierung  Elitezentren  Dezentrales Politikverständnis (institutionalisierte Partizipation)

Insgesamt ist die Widersprüchlichkeit und Simultaneität von Verbindungs- und Trennungsprozessen vor allem in São Paulo, aber auch in Rio de Janeiro akzentuiert: stadt-räumlich durch die Gleichzeitigkeit von Dezentralisierung und Plurizentralisierung (SP); politisch-planerisch durch die Wahrnehmung einer hohen Notwendigkeit von Dezentralisierung und gleichzeitig extrem geringer Institutionalisierung in dieser Hinsicht (SP und RJ); alltagspraktisch durch die regionalisierten Nutzungsmuster und starken gesamtstädtischen Zuschreibungen – die allerdings nur für São Paulo mit den städtischen Gegebenheiten (u.a. Angebotsvielfalt, Diversität, Dynamik) in Verbindung gebracht werden.

2. V ON DER W IRKLICHKEIT ZUM B EGRIFF : M ÖGLICHKEITEN EINES ALLGEMEINEN S TADTTYPUS DER ‚M EGASTADT ‘ 2.1 Auf Definitionssuche: Eine Präzisierung Angesichts der in Städten weltweit doch so ähnlichen Strukturveränderungen scheint es nur logisch von allgemeinen Charakteristika großer Städte zu sprechen – und nicht so sehr die Unterscheidungen zu betonen, die zwischen ihnen beste-

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hen. Der Blick auf brasilianische Großstädte zeigt aber, dass es für ein wirkliches Verständnis der strukturellen Veränderungen genauso wie der bestehenden Verhältnisse notwendig ist, genau hinzusehen. Die bisherige Megastadtforschung, wie sie in Kapitel A.1 dargelegt wurde, weist auf eine Reihe an Besonderheiten dieser Städte hin, die sich mit der empirischen Untersuchung dieser Arbeit teilweise belegen, teilweise widerlegen lassen. Der bisherige Forschungsstand wurde in A.1.2 in acht Aussagenkomplexen verdichtet, die nun anhand der Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung diskutiert werden. 1. ‚Megastädte‘ werden als polyzentrische Agglomerationsräume bezeichnet, die einen hohen Grad an ökonomischen Verflechtungen aufweisen (Castells 1996). Sie werden als die neue, räumliche Form der Weltwirtschaft beschrieben (Soja 2000, Castells 1996), in der es zu Funktionsverdichtung, extremer Ungleichheit und „endlosen Mustern“ (Castells 1996:404f.) der Segregation und sozialen Segmentation komme. Der Vergleich der vier Metropolregionen der hier untersuchten Städte macht deutlich, dass deren räumlich-funktionale Struktur recht unterschiedlich ist, darin aber keine Größenrelevanz zu erkennen ist: Während Porto Alegre und São Paulo dezentrale und industriell geprägte Metropolregionen bilden, sind die Metropolregionen von Recife und Rio de Janeiro relativ stark zentralisiert auf die (touristisch, von einfachen Dienstleistungen geprägten) Kernstädte hin. Für die Agglomerationsräume selbst zeigt sich hier also keine Größenspezifik, sondern eher eine an die metropolregionale Ökonomie gebundene Spezifik. Stattdessen ergeben sich innerstädtisch (also innerhalb der jeweiligen Kernstädte, die hier untersucht wurden) größenrelevante Unterscheidungen anhand der über Zentralitäten produzierten Verbindungen: Vor allem im Zusammenhang mit alltäglichen Nutzungs- und Wahrnehmungsstrukturen sowie Bedeutungszuordnungen wird deutlich, dass wir in São Paulo eine pluri- und dezentrale Kernstadt und in Rio de Janeiro eine zumindest dezentrale Struktur vorfinden, während die beiden Großstädte Ökonomische Verflechtungen stellen einen blinden Fleck der vorliegenden Untersuchung dar. Statt der globalen und ökonomischen Strukturverflechtungen standen die lokalpolitische Konzipierung, die alltägliche Erfahrung städtischer Wirklichkeiten und die darin erkennbare Relevanz von Stadtgröße im Vordergrund der Untersuchung. Von einem höheren Verflechtungsgrad und einer stärkeren Präsenz eines internationalen Sektors ist mit Sicherheit auszugehen. Die Perspektive auf Fragmentierungsdynamiken im Sinne von Verbindungen und Trennungen scheint geradezu augenscheinlich in diesem Kontext zu sein, wo von simultaner Konnektivität und Diskonnektivität die Rede ist. Ein vertiefender

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Blick auf diese Prozesse dürfte noch deutlicher das Machtgefälle und die Produktion von Ungleichheiten in den Blick rücken. Die Funktionsverdichtung spielt tatsächlich nicht nur strukturell, sondern auch in der alltäglichen Perspektive der Bewohner_innen der Städte eine wichtige Rolle. In der Regel wird sie positiv bewertet als Ermöglichungsaspekt (v.a. Arbeit). Sie erhält aber auch negative Zuschreibungen, denn die Interaktionsformen der Menschen, die sich als Fremde in der Stadt begegnen, werden als ‚antiemotional‘ beschrieben. Als Spezifik zeigen sich weniger die polyzentrischen Agglomerationsräume, sondern die innerstädtisch polyzentrisch-dezentralen Strukturen.3 Insbesondere über funktionale Verdichtungen äußern sich Bindungsaspekte des Städtischen, sowohl im Hinblick auf die Zuschreibungen der Bewohner_innen als auch über die darüber produzierten funktionalen Zentralitäten. 2. Eine der zentralen Aussagen der Forschung ist, dass die Strukturveränderungen in heterogeneren städtischen Räumen resultieren, die beispielsweise als „diskontinuierlich“ (Castells 1996) oder „amorph“ (Silver 2008) beschrieben werden. Bislang war vor allem im Rahmen von geographischer Forschung von räumlichen Fragmentierungsprozessen die Rede, die als Aufspaltung und Auflösung von Gesamtzusammenhängen beschrieben worden sind. Aus den hier gewonnenen Erkenntnissen muss zurückgewiesen werden, dass es sich hierbei um eine Spezifik von Megastädten handelte. Gerade die stadt-räumlichen Veränderungsprozesse im Hinblick auf physisch- wie sozialräumliche Strukturen weisen weitreichende Ähnlichkeiten auf. Das hängt nicht zuletzt mit den sozialstrukturellen Charakteristika zusammen: Nicht nur statistisch weisen die sozialen Ungleichheiten und Lebensverhältnisse zwischen den Städten große Ähnlichkeiten auf; auch die Art, wie diese sich auf die Produktion der konkreten Materialität der Städte auswirken, ähnelt sich immer mehr. In allen untersuchten Städten werden heute aus großräumigen Segregationsmustern vermehrt kleinräumig sich manifestierende, soziale und funktionale Spektren (s. Kapitel C.2), welche zu einer verstärkten Heterogenisierung des städtischen Raumes führen. Damit ist zwar die der These zugrundeliegende Beobachtung prinzipiell richtig; sie stellt aber keine Differenz zwischen den unterschiedlich großen Städten dar. Die Aufteilungen und Trennungen in räumlicher Hinsicht, die als Grundlage der Fragmentierungsthese bisher galten, sind also genau der Bezugspunkt, über 3

In der Untersuchung hat sich gezeigt, dass die Agglomerationsräume von Recife und Rio de Janeiro stark zentralisiert sind auf die Kernstadt, während die Agglomerationsräume von São Paulo und Porto tatsächlich als polyzentrisch zu bezeichnen sind. Intern sind die beiden Großstädte aber ähnlich zentral-dezentral organisiert.

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den sich keine qualitative Differenz ungleich großer Städte entfaltet. Ihre Ursache hat diese Konkordanz in den ähnlichen Raumproduktionen der Wohlhabenden: Ihr selektives Raumverhalten produziert eine tatsächlich räumlich unterteilte Stadt entlang von bewachten Wohnkomplexen, Einkaufszentren, Handels- und Dienstleistungszentren. Diese Orte sind zwar nicht unverbunden mit den weiteren Orten, Menschen und Produktionszyklen der Stadt, aber sie bilden ein selbstbezügliches Netz, das expandiert und streut. Diese tatsächlich von Auflösung und Auftrennung gekennzeichneten Orte aber als pars pro toto für die gesamte Stadt zu nehmen, gliche einer sozial blinden Vorstellung von Stadt.4 Die stadt-räumliche Heterogenität ähnelt sich also zwischen den unterschiedlich großen Städten deutlich und ist demnach kein spezifisches Merkmal der Megastädte. Diskontinuierlich ist eine passende Beschreibungsformel dafür, denn es handelt sich um immer stärker kleinräumige soziale und funktionale Spektren im Wechsel. „Amorph“ ist dagegen eine irreführende Beschreibung, denn gestaltlos oder unstrukturiert ist der Wandel der räumlichen Konfiguration der großen Städte nicht. Vielmehr sind die großen Städte – und zwar unabhängig ob Groß- oder Megastadt – immer stärker heteromorph im Sinne von vielgestaltig. Produziert wird diese Heteromorphisierung der Städte über die Simultaneität der Verbindungs- und Trennungsprozesse. 3. Im Rahmen der Global City-Forschung werden vor allem die Megastädte des sogenannten ‚globalen Südens‘ als „periphere Knotenpunkte“ (Parnreiter 1998) bezeichnet, in der es zu einer Simultaneität verschiedener ‚Entwicklungsniveaus‘ komme. Globale ökonomische Strukturverflechtungen standen nicht im Fokus der Arbeit, es ist aber sicher richtig, davon auszugehen, dass Megastädte in besonderer Weise auch als globale, und nicht nur als nationale oder regionale Knotenpunkte gelten können. Folgt man der Global City-Forschung (s. A.1), so ist darin aber keine Größenrelevanz zu sehen, sondern eher eine Folge der hohen primacy-Werte eines großen Teils der heute existierenden Megastädte. Eine relativierende Aussage kann aber hinsichtlich der Simultaneität verschiedener ‚Entwicklungsniveaus‘ getroffen werden. Hier ist der stark strukturierende Einfluss auf die untersuchten Städte durch die ‚Elitezentralitäten‘ zu nennen. Nicht nur strukturell sind damit besondere Machtzentren verbunden, die gleichzeitig auf höchst unterschiedliche ökonomische Verhältnisse verweisen: Denn dort konzentriert sich nicht nur ein hoher Anteil formeller, hochgradig technisierter, qualifizierter und gut bezahlter Beschäftigungsverhältnisse, sondern auch 4

Damit fände eine Verallgemeinerung der Lebensweise der Reichen statt, wogegen in der vorliegenden Arbeit eine Vielfalt an Perspektiven und Lebensweisen im Sinne eines genaueren Hinsehens und Differenzierens einbezogen wurde.

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‚informeller‘, körperlicher, gering oder nicht-qualifizierter und schlecht bezahlter Beschäftigungsmöglichkeiten. Auch in der Wahrnehmung der Lebensverhältnisse äußert sich darin eine Unterscheidung zwischen ‚Welten‘. So verweisen Interviewpartner_innen in Recife genauso wie in Rio de Janeiro auf den „Erste Welt“-Status ihrer Lebensverhältnisse in den Nobelvierteln ihrer Städte. Die Simultaneität äußert sich hier als Parallelität, als ein gleichzeitiges, aber voneinander losgelöstes Nebeneinander, auch wenn die ‚eine Welt‘ von der ‚anderen Welt‘ getragen wird durch die vielfältigen Dienstleistungen, die den hohen Lebensstandard erst ermöglichen. Darin ist aber keine Größenrelevanz zu erkennen, der strukturierende Effekt der ‚Elitezentralitäten‘ äußert sich in Großgenauso wie in Megastädten. 4. Ein großer Teil der Forschung geht davon aus, dass sich ‚Megastädte‘ durch eine höhere soziale Ungleichheit auszeichnen (Bronger 1997, 2004; Kraas & Nitschke 2006; Castells 1989; Gilbert 1996a/b u.a.), die sich auch darin äußert, dass sich die globale „Zentrum-Peripherie-Differenz“ (Parnreiter 1998) in die Städte verlagert. Das statistische Ausmaß der sozialen Ungleichheit lässt zumindest für die ausgewählten vier Städte auf keine Größenrelevanz schließen. Wie bereits in den Kurzcharakterisierungen der Städte (s. C.1) gezeigt werden konnte, bringen die Ungleichheitswerte vorrangig regionale Unterschiede innerhalb Brasiliens zum Ausdruck. Sicher sind ‚Megastädte‘ von einer sehr hohen Ungleichheit geprägt. Das ist vorrangig deshalb der Fall, weil in ihnen nicht nur ein großer Teil geringund nicht-qualifizierter, in jedem Fall aber gering bezahlter Arbeitsverhältnisse, sondern eben auch ein großer Anteil an hochqualifizierten, -technisierten und bezahlten Kontroll- und Finanzbereichen verortet ist. Dieser Unterschied zwischen Groß- und Megastädten ist aber eher als graduell zu beschreiben, denn in Großstädten besteht diese Differenz ebenso, wenn auch in weniger ausgeprägtem Maße. Auch in den alltäglichen Nutzungs- und Wahrnehmungsweisen äußert sich keine Spezifik über die Perspektive auf Ungleichheiten: Dort, wo sie statistisch gesehen stärker ausgeprägt sind, werden auch die stärkeren alltagsrelevanten Referenzen darauf zum Ausdruck gebracht (Rio de Janeiro und Recife). 5. Die Lebensverhältnisse in den ‚Megastädten‘ werden charakterisiert durch einen hohen Anteil selbstorganisierter Lebensbereiche (Soja 1991), eine hohe Variation von Wohn- und Beschäftigungsverhältnisse (Gilbert 1996a), eine bessere Leistungsversorgung (ebd.) und ein hohes Stauaufkommen (El Araby 2002; Figueroa 1996). Es lässt sich aber kein grundsätzlicher, direkter Zusammenhang zwischen der Verkehrsproblematik oder dem Wohnen und der Größe von Städten erkennen, auch wenn mit steigender Stadtgröße in der Regel steigende Bodenpreise verbunden sind.

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Ob der Anteil selbstorganisierter Lebensbereiche in Megastädten höher ist, wurde hier nicht explizit untersucht – angesichts der in den Städten vorgefundenen Verhältnisse scheint es aber unwahrscheinlich, dass sich daran eine Spezifik von Megastädten festmachen lässt. Denn unabhängig von der Größe spielen die lokalen Kontexte eine große Rolle, in denen Selbstorganisation im Hinblick auf den Reproduktionsbereich bedeutend sein dürfte.5 Auch was die Wohn- und Beschäftigungsverhältnisse betrifft lässt sich aus den Daten (s. hierzu vor allem die sozioökonomischen Kurzcharakterisierungen) keine Größenspezifik herauslesen. Die Begründung für Unterschiede ist vielmehr im Kontext von sozialen Ungleichheiten und städtischen Ökonomien zu finden.6 In Bezug auf die bessere Leistungsversorgung lassen sich aus der Untersuchung eine Relativierung und eine Bestätigung ableiten: Die brasilianische Stadtforschung zeigt, dass die beiden megastädtischen Agglomerationen von einer kompakten Infrastruktur gekennzeichnet sind, wohingegen sich die beiden großstädtischen Agglomerationen als stärker gestreut bzw. dispers in dieser Hinsicht erweisen (vgl. Ojima 2007). Bestätigt wird das durch die Problematisierung einer inkohärenten Infrastruktur durch die Befragten in den beiden Großstädten. Obwohl die infrastrukturelle Ausstattung grundsätzlich besser ist in den größeren Städten, weisen die befragten Expert_innen für Rio de Janeiro und São Paulo allerdings auf eine ungleiche Verteilung von öffentlichen Versorgungsleistungen hin. Während über die quantitativen Seiten des Stauaufkommen und Verkehrsverhältnisse anhand dieser Untersuchung keine Aussage getroffen werden kann, zeigt sie aber eine deutliche Alltagsrelevanz der Thematik auf. Zwar werden auch in der Großstädten aus der Sicht derer, die in den peripheren Lagen der Städte leben, Distanzverhältnisse und damit verbundene Transportschwierigkei5

Einen interessanten Hinweis auf die größenunspezifische Bedeutung der Selbstorganisation des Produktionsbereiches liefern die Aussagen der Befragten zur Arbeitssuche: An erster Stelle steht überall die offizielle Arbeitsagentur, worauf die direkte Kontaktaufnahme mit Unternehmen folgt. Am drittwichtigsten sind in São Paulo aber spezifische Orte (vor allem die Subzentren), die zur Arbeitssuche aufgesucht werden, während in Rio de Janeiro, Porto Alegre und Recife viel eher Freunde, Bekannte und andere persönliche Kontakte aktiviert werden. Das entspricht auch der in der bisherigen Megastadtforschung getroffenen Aussage, dass in Megastädten eher formelle als informelle Beschäftigungsverhältnisse anteilsmäßig mehr Gewicht haben als in kleineren Städten (s. Punkt 6).

6

So ähneln sich die Anteile des ‚subnormalen Wohnens‘ und der Anteile an Beschäftigten im Dienstleistungsbereich eher zwischen Rio de Janeiro und Recife auf der einen und São Paulo und Porto Alegre auf der anderen Seite.

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ten in Verbindung gebracht sowie aus der Sicht von Politik und Planung auf Besonderheiten des Transportsystems (in Porto Alegre: Zentralisierung) hingewiesen. Als durchgängiges (São Paulo) oder akzentuiertes (Rio de Janeiro) Problem taucht dieser Bezug aber in den beiden Megastädten auf. Die Besonderheit der Verhältnisse in dieser Hinsicht muss nicht unbedingt im Ausmaß des Problems liegen, wohl aber in der problematisierten und als Einschränkung wahrgenommenen Bedeutung dessen durch die Bewohner_innen der Städte. Überhaupt lassen sich anhand der Wahrnehmung der Lebensverhältnisse und der Attribuierungen der Städte viel deutlichere Unterschiede erkennen als bei den statistisch-quantifizierbaren Ausprägungen derselben. Dabei unterscheidet sich die Wahrnehmung der lokalen Kontexte nicht größenabhängig, wohl aber die Wahrnehmung gesamtstädtischer Merkmale. Insbesondere in São Paulo geraten die städtischen Gegebenheiten in viel stärkerem Maße in den Fokus der Bewertungen – positiv mit Funktionsbezug wie negativ mit Bezug zu der in den städtischen Situationen liegenden Unruhe. Die Bezugnahme bleibt aber nicht auf deren pragmatische Effekte (etwa: erreichen eines Arbeitsplatzes) beschränkt, sondern spielt in der Wahrnehmung der Bewohner_innen insbesondere eine Rolle für Interaktionsverhältnisse, die etwa als funktional, anti-emotional, hektisch, stressbelastet, gewaltsam oder ungleich beschrieben werden. Eine prinzipiell positive Einschätzung der Lebensqualität (wie in Rio de Janeiro) kann einer solchen Bewertung entgegenwirken, wodurch sich aber keine Auflösung, sondern vielmehr eine stärkere Ambivalenz ergibt. 6. Im Hinblick auf die städtische Ökonomie wird ein zwar anteilsmäßig nicht größerer informeller Markt angenommen, da auch formelle Beschäftigungsverhältnisse eine große Rolle spielen. Es wird aber von einer großen Heterogenität des ‚informellen Sektors‘ ausgegangen. Zudem wird eine Besonderheit in der Verbindung städtischer und ländlicher Ökonomien veranschlagt. Auf Beschäftigungsverhältnisse wurde in den obigen Punkten bereits verschiedentlich eingegangen. Die statistischen Daten zu den Städten bestätigen, dass die niedrig qualifizierten, aber formellen Arbeitsverhältnisse einen größeren Anteil einnehmen in den beiden Megastädten als in den Großstädten (IBGE Zensus 2010, s. Tabelle im Anhang). Zur größeren Bandbreite und Verschiedenartigkeit informeller Beschäftigungsverhältnisse liefert die vorliegende Arbeit keine Ergebnisse, da ökonomische Organisationsformen des Alltagslebens nur mittelbar in die Untersuchung eingeflossen sind. Sicherlich liegt hierin eine fruchtbare Perspektive für weitere Forschungen. Dagegen zeigt sich die Verbindung ländlicher und städtischer Ökonomien nach den amtlichen statistischen Daten eben nicht als Merkmal der Megastädte, sondern, im Gegenteil, als Merkmal der beiden Großstädte. Das ist insbesondere bemerkenswert in Bezug

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auf Rio de Janeiro. Anders als São Paulo, wo sowohl die Stadt als auch die Metropolregion von einer extrem kompakten und dichten Bebauung geprägt sind, ist Rio de Janeiro weitläufig von Wald- und Grünflächen gekennzeichnet. Trotzdem ist der Anteil der Landwirtschaft geringer und wird auch von politischplanerischen Akteur_innen (anders als in Porto Alegre und Recife) nicht als Besonderheit aufgeführt. 7. Im Hinblick auf Vulnerabilität gegenüber (Umwelt-)Risiken wird von einer prinzipiell größeren Verwundbarkeit aufgrund der massiven Infrastrukturen ausgegangen, ebenso wie von einer höheren Wahrnehmung von Risiken (auch: Kriminalität und Gewalt), die insbesondere medial geschürt wird. Kriminalität und Gewalt werden dabei vor allem mit den stärker akzentuierten sozialen Ungleichheiten in Verbindung gebracht. Dem steht aber die Einschätzung entgegen, dass die institutionellen Kapazitäten zur Bekämpfung von Risiken in ‚Megastädten‘ höher seien als andernorts. Es wird also von einer höheren ‚Störanfälligkeit‘ bei größerer ‚Widerstandsfähigkeit‘ (Resilienz) ausgegangen. Auch in Bezug auf Vulnerabilität, Kriminalität und Gewalt wurden die Städte in dieser Arbeit nicht auf das statistisch messbare Auftreten hin untersucht. Aussagen können aber getroffen werden über die Wahrnehmung des Risikos, von Katastrophen oder Gewalteinwirkung bzw. Kriminalität betroffen zu sein. Wie die Befragung gezeigt hat, scheint das Unsicherheitsempfinden in Rio de Janeiro und Recife eher diffus und unabhängig von der Situation des oder der Befragten zu sein. Hier zeichnet sich also eher ein Zusammenhang mit den Ungleichheitswerten ab als mit der Größe der Städte. Die Wahrnehmung von Umweltrisiken wurde nicht gesondert untersucht. Aus den negativen Zuschreibungen lässt sich nur annehmen, dass diese in São Paulo ebenso wie in Recife eine Rolle in der Wahrnehmung spielen (Überschwemmungen), während in Rio de Janeiro das Thema der Gewalt alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die Ergebnisse schränken die Annahme der Megastadtforschung aber in Bezug auf die institutionellen Kapazitäten zumindest teilweise ein. Zwar nehmen die politisch-planerischen Expert_innen in São Paulo und Rio de Janeiro die politisch-institutionellen Strukturen in der Regel als angemessen wahr; diese legitimierende Sichtweise wird aber von einer Bezugnahme auf widrigen Umstände der städtischen Gegebenheiten begleitet, was sich wiederum legitimierend gegenüber den Schwächen der politisch-institutionellen Kapazitäten auswirkt. Wenn also aus der Megastadtforschung zu Vulnerabilitäten und Risiken heraus formuliert werden konnte, dass das Vertrauen in die institutionellen Fähigkeiten, Lösungen zu finden, ein wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit Risikowahrnehmung und sozialem Zusammenhalt ist (Horlick-Jones 1995), dann weisen die Ergebnisse eher auf ein fehlendes Vertrauen hin. Im Gegensatz dazu stehen

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tatsächlich die Verwaltungen der beiden kleineren Städte – in denen die befragten Expert_innen ein hohes Maß an Vertrauen in die Angemessenheit und Angepasstheit der lokalen Regierungs- und Steuersysteme erkennbar ist. Diese Perspektiven stammen aus den Politik- und Verwaltungsstrukturen selbst; die Bewohner_innen der Städte äußern sich fast durchgängig und ohne Unterschied mit einem sehr niedrigen Vertrauen gegenüber den staatlichen Akteuren und Einrichtungen. Dieses Verhältnis von Vertrauen in Lösungskapazitäten und Problemwahrnehmung und die damit verbundenen Effekte für eine politische und soziale Ordnung sind sicher ein relevantes Feld für weitere Forschungen. 8. In Bezug auf Politik und Verwaltung wird von einem Verlust der Regierund Steuerbarkeit ausgegangen, insgesamt informelleren Prozessabläufen und schwierigen/unklaren Kompetenzzuweisungen. Die Reaktionen darauf würden zwischen der ‚Vereinheitlichung‘ (die aber mit dem Wachstum nicht Schritt halten könne) und der Dezentralisierung oszillieren, sowohl als Praxis als auch als Notwendigkeit. Mit der enormen Ausdehnung ist eine Schwierigkeit der Bestimmung, insbesondere politischer Grenzen, verbunden (Soja 2000). Einen wichtigen Bereich für die Unterscheidung von Megastädten stellen ohne Zweifel Politik und Verwaltung dar. Ob ein tatsächlicher Verlust von Regier- und Steuerbarkeit gegeben ist oder nicht bzw. wie dieser aufzuzeigen wäre – entscheidend ist nicht zuletzt der Umstand, dass ein solcher Verlust seitens der politisch-planerischen Akteure zum Ausdruck gebracht wird. Damit kann eine Legitimierungsstrategie der von den Befragten problematisierten geringen Effektivität der lokalen Verwaltungen verbunden sein, in jedem Fall handelt es sich dabei aber um ein Problembewusstsein in Politik und Planung. Überhaupt sind die Politik- und Planungsverständnisse in den beiden Megastädten hier von der (Wieder-)Herstellung von ‚Ordnung‘ angeleitet; auf den wahrgenommenen Verlust wird also mit akzentuierten, zentral gesteuerten Eingriffen reagiert. Insofern haben wird es eher mit ‚Vereinheitlichungsstrategien‘ zu tun als mit Dezentralisierung. Dezentralisierung findet zwar statt, aber nur in einem territorialadministrativen Sinn. Die Übertragung von Entscheidungskompetenzen erfolgt dagegen nicht im Rahmen demokratischer, formeller Prozesse, sondern über die Einbeziehung (nicht demokratisch legitimierter) neuer privatwirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure. Es bestätigen sich also zumindest die Wahrnehmung eines Verlustes an Regier- und Steuerbarkeit, die informelleren Prozessabläufe (durch Akteurspluralisierung) und die Ambivalenz von ‚Vereinheitlichung‘ und Dezentralisierung, wenn auch das Gewicht eher auf ersterer liegt. Kein erhöhtes Problembewusstsein konnte dagegen im Hinblick auf Kompetenzzuweisungen und administrative Abgrenzungen identifiziert werden. Die Abgrenzungen variieren eher im

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Rahmen individueller – möglicherweise auch kollektiver – Alltagsbestimmungen. Mit der empirischen Untersuchung brasilianischer ‚Groß- und Megastädte‘ lassen sich die Definitionsbestimmungen, wie sie der bisherigen Megastadtforschung zu entnehmen sind, präzisieren und ergänzen. Als Schwerpunkte der Bestimmung von ‚Megastädten‘ finden sich aus soziologischer Perspektive: • Plurizentrisch-dezentrale Städte, wobei zu unterscheiden ist zwischen einer

alltagspraktischen Regionalisierung, der Herausbildung überregionaler Subzentren und einer Aufspaltung entlang von Machtzentren (die vor allem ökonomisch über die hohen Einkommenslagen und deren Wohn- und Arbeitszentralitäten produziert werden) – letztere ist aber keine Spezifik von ‚Megastädten‘. • Die Lebensverhältnisse in ‚Megastädten‘ sind von einem ungleichen Zugang zu Versorgungsleistungen geprägt. Dieses Problem wird nur zum Teil institutionell bewältigt; keine Erleichterung des Zugangs wird aber über das öffentliche Transportsystem hergestellt. Die prinzipielle Funktion dieses Systems – die Herstellung von Zugänglichkeit und physisch-räumlicher Verbindungen – wird damit nur eingeschränkt umgesetzt. • Beurteilt werden die Lebensverhältnisse in ‚Megastädten‘ (hier insbesondere São Paulo) ausdrücklich über städtische Gegebenheiten. Dabei spielen Unsicherheiten zwar eine Rolle, diese hängen aber eher mit der Wahrnehmung von Kriminalität und Gewalt und letztlich auch mit der Wahrnehmung von Ungleichheit zusammen. Auf individueller und kollektiver Ebene zeigen sich folgende Effekte: Das Empfinden von Hektik und Stress sind deutliche Bezugspunkte und es ist von funktionalen Interaktionsformen die Rede, die solidarischen oder emotionalen Bindungen entgegenstehen. Die lokalen Kontexte sind davon in der Regel ausgenommen und sie bilden häufig positive Bezüge der Zugehörigkeit. Zwar finden sich in den Großstädten keine gegenteiligen Aussagen, aber von hoher Relevanz sind dort kulturelle Werte- und Traditionsbezüge, welche für die Interaktionen noch als Leitbezüge ausgemacht werden. • Auf der Ebene von Politik und Verwaltung lässt sich die Wahrnehmung eines Verlustes an Regier- und Steuerbarkeit, die Zunahme informellerer Prozessabläufe (durch Akteurspluralisierung) und die Ambiguität von ‚Vereinheitlichung‘ (vorrangig) und Dezentralisierung bestätigen. Die Alltagspraktiken sind also stärker verortet innerhalb eingeschränkter Teile der Städte – die Gesamtstädte sind aber deshalb nicht weniger starke Bezugs-

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punkte für die Wahrnehmung. Im Gegenteil: Die Lebensverhältnisse werden vorrangig über städtische Gegebenheiten als gesamtstädtische Merkmale beurteilt. In ihrer Ambivalenz zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung sind eher die Verwaltungen als ‚amorph‘ zu bezeichnen, nicht aber die stadträumlichen Strukturen. 2.2 Qualitative Dimensionen der Stadtgröße: Eine Aktualisierung In der Auseinandersetzung mit Größe als Bezugspunkt für stadtsoziologische Forschung wurden drei Aspekte unterschieden: physisch-materielle, funktionale und symbolische. Von der Bevölkerungsgröße und Ausdehnung der Städte einmal abgesehen, die als deskriptive Merkmale den Ausgangspunkt darstellen, richtet sich der Fokus auf die qualitativen Unterscheidungen, die damit einhergehen. Der physisch-materielle Aspekt von Größe verweist dabei auf die stadträumliche Beschaffenheit. In dieser Hinsicht stellt die Größe der Städte aber offenbar keinen qualitativen Unterschied her: Die großen Städte, egal ob ‚mega‘ oder nicht, stellen heteromorphe Räume dar, in denen simultane Prozesse der Konzentration (Verbindung) und Dekonzentration (Trennung) wirken. Diese Prozesse haben aber im Hinblick auf die (interne) funktionale Struktur der Städte einen Effekt: Es bilden sich in den Megastädten plurizentrisch-dezentrale Strukturen heraus, die in der Simultaneität von regional-lokaler Konzentration und überregionaler Verbindung über die jeweiligen Zentren bzw. Subzentren bestehen. Insofern wird zwar alltagspraktisch vor allem die funktionale Dekonzentration bestätigt, aber auch überschrieben von einem sozial genauso wie symbolisch, also auf der Bedeutungsebene hergestellten, gesamtstädtischen Zusammenhang. Die historischen Zentren der Städte stellen überall einen wichtigen Bezugsort dar, sind aber auch mit unterschiedlichen Bedeutungen verbunden. Während sie in den hier untersuchten ‚Großstädten‘ offenbar mit einem stärkeren Spontaneitätscharakter belegt sind – also nicht nur für notwendige Besorgungen und Tätigkeiten, sondern auch in der Freizeit alltäglich genutzt werden –, sind die historischen Zentren in den (hier untersuchten) ‚Megastädten‘ von einem stärkeren Notwendigkeitscharakter geprägt. Für Louis Wirth ist einer der zentralen Effekte des Zusammenwirkens von Größe und Heterogenität in der Herausbildung formaler Lenkungs- und Kontrollmechanismen (statt solidarischer Gemeinschaften) zu sehen (vgl. Vortkamp 2003). Auch bei Georg Simmel findet sich in der Auseinandersetzung mit der quantitativen Bestimmtheit sozialer Gruppen die Ausbildung neuer „Maßregeln, Formen und Organe“ (Simmel 1992:63). Beide Male wird also eine formale

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Organisation zur qualitativen Bestimmung quantitativer Unterschiede herangezogen. Die Untersuchung der brasilianischen Städte scheint dagegen eher auf einen widersprüchlichen Effekt mit zunehmender Größe zu verweisen: Gerade in politisch-planerischer Hinsicht werden sowohl formelle als auch informelle ‚Lenkungs- und Kontrollmechanismen‘ eingeführt, wobei die formellen hoch zentralisiert sind, die informellen aber in einer selektiven Dezentralisierung bestehen. Neben den genannten stadt-räumlichen Aspekten ergeben sich vier Bereiche, innerhalb derer die Untersuchung größenrelevante Differenzen in der Art und Weise der Herstellung von Verbindungen und Trennungen herauszuarbeiten vermochte, und die noch gezielter zu beforschen wären: (1) die Wahrnehmung der städtischen Bedingungen; (2) die Ansätze der Gestaltung; (3) die Bezugnahme zum Ort; (4) die Beurteilung allgemeiner Interaktionsformen. (1) Wahrnehmung der städtischen Bedingungen: Sowohl die alltäglichen Attribuierungen der Bewohner_innen als auch die Perzeption seitens der politischplanerischer Akteur_innen weisen darauf hin, dass die beiden größeren Städte (São Paulo und Rio de Janeiro) eher in ihren spezifisch städtischen Gegebenheiten zum Bezugspunkt gemacht werden – zumeist in negativer Hinsicht, aber auch im Hinblick auf positiv-neutrale Funktionen im Sinne eines Ermöglichungsnarrativs. (2) Ansätze der Gestaltung: Die Ansätze der Gestaltung sind geprägt von der Perzeption widriger Bedingungen und des Verlustes an Regier- und Steuerbarkeit in den beiden untersuchten ‚Megastädten‘. Diese Wahrnehmung resultiert in widersprüchlichen Gestaltungsansätzen, die einerseits zentral, ordnend und formal regulieren, andererseits ‚informalisierte‘, auf private ebenso wie zivilgesellschaftliche Akteure übertragene Entscheidungs- und Umsetzungsstrategien beinhalten. (3) Bezugnahme zum Ort: Für die untersuchten Städte besteht in der Art und Weise und in den Bezugspunkten für lokale Zugehörigkeits- bzw. Bindungsmomente ein qualitativer Unterschied zwischen São Paulo und den drei weiteren Städten. Im Vordergrund stehen funktionale Aspekte (wie Arbeitsmöglichkeiten) und städtische Gegebenheiten (wie Angebotsvielfalt). Dagegen werden in den anderen Städten Bezüge hergestellt über persönliche Beziehungen und die Art, wie sich die Menschen in diesen Städten miteinander in Beziehung setzen. Die Bindung an den Ort ist also einmal pragmatisch hergestellt, das andere Mal emotional. Die Stadt selbst, mit den ihr zugeschrieben Attributen, ist stärkerer Bezugspunkt in der pragmatischen Bindung, während die emotionale sich zwar auch an positive Attribute des Ortes (etwa ‚schön‘) knüpft, sich aber vor allem auf das soziale Zusammenleben bezieht.

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(4) Beurteilung allgemeiner Interaktionsformen: Im Vergleich brasilianischer ‚Mega- und Großstädte‘ deutet sich eine Unterscheidung nach Funktionalität und Wertebezug an. Weder Funktionalität noch Wertebezug als Bezug für Interaktionen müssen auf solidarischen und engen Beziehungen fußen. Aber beim Wertebezug steht ein ideeller Konsens als Bindungsmoment mit den anderen Bewohner_innen zumindest als potentiell abrufbare Gemeinsamkeit im Hintergrund, während die Funktionalität einen rein pragmatischen und mechanistischen Bezug für Interaktionen mit potentiell Fremden herstellt. Bindungen oder Gemeinsamkeiten werden hier eher über die alltäglich erlebten Schwierigkeiten im Umgang mit der städtischen Umwelt hergestellt, deren Bestandteil die schwierigen Umgangsformen aber auch sind, geprägt von Hektik und Stress. Schließlich ist noch ein Aspekt nennenswert, den weiterzuverfolgen lohnend erscheint: An verschiedenen Stellen in dieser Arbeit wurden zwei Bezugspunkte von Größe unterschieden, die Dimension und die Dynamik. Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Dynamik der Stadtentwicklung (als Prozesscharakter von Größe) eher bei den Befragten in den kleineren Großstädten eine Rolle zu spielen scheint: In der Wahrnehmung verringert sich darüber die Herstellung eines Wertekonsenses, wie das Beispiel von Porto Alegre, aber auch die negativen Entwicklungsvisionen in Recife belegen. In São Paulo weisen die Aussagen darauf hin, dass die Dynamik dagegen als intrinsisches Moment der Stadt und des städtischen Alltagslebens selbst wahrgenommen wird.

3. A USBLICK Der Anspruch der Arbeit bestand darin, qualitative Differenzen herauszuarbeiten, die eine soziologisch fundierte, qualitative Bestimmung von ‚Megastadt‘ über deren diskursive, symbolische und praktische Herstellung erlauben – und nicht darum, herauszufinden, wie wahrscheinlich es ist, dass sich ‚Groß- und Megastädte‘ immer in der analysierten Weise unterscheiden. Die vorläufige Bestimmung, die sich hieraus für Brasilien ableiten lässt, ist angelehnt an die Erfahrungen sozialer Wirklichkeit, wie sie in den untersuchten Städten von den befragten Bewohner_innen und zentralen Akteur_innen in Politik und Planung zum Ausdruck kommen und mit den konkret materiellen Strukturen der Städte in Zusammenhang stehen. Diese empirisch begründete Begriffsbestimmung zu überprüfen und in Relation zu setzen mit Differenzen, die andernorts zwischen unterschiedlich großen Städten hergestellt werden, ist der in der Vergleichslogik bereits angelegte Anknüpfungspunkt der Arbeit.

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Aus den gewonnen Erkenntnissen ergeben sich aber genauso – auch im Abgleich mit der bisherigen Forschung zu den sogenannten Megastädten – inhaltliche Fragen, die den Weg in weitere Forschungen weisen können: So ist etwa der Zusammenhang zwischen den Besonderheiten der städtischen Ökonomien (als einem zentralen Funktionsbezug) und der alltäglichen Stadterfahrung noch weitgehend ungeklärt. Damit hängt auch die Frage nach den ökonomischen Organisationsformen des Alltagslebens zusammen – vor allem im Hinblick auf die Frage der Selbstorganisation. Mit der Frage nach der Selbstorganisation als Gegenpol zu einer widersprüchlichen Politik und Planung hängt auch die nach Resilienz und Dissidenz im Sinne einer Widerstandsfähigkeit zusammen. Wenn das Vertrauen in die Lösungskapazitäten mit der Problemperzeption sowohl auf Seiten der Bevölkerung als auch auf der der politisch-planerischen Akteure gering ist, dann sind auch die Effekte für die politische und soziale Organisation zu hinterfragen. Und schließlich verweist die Frage nach der Selbstorganisation auf das Verhältnis von staatlich-offiziellen Lösungsansätzen für wahrgenommene Probleme und widerständigen Praktiken. Konflikthafte Positionen zur Frage nach dem ‚Recht auf Stadt‘ (Lefebvre) kommen verschiedentlich in politischem Widerstand zum Ausdruck: in Form organisierter Kollektive wie sozialen Bewegungen oder in der Form spontanen Protestes, wie er sich angesichts der Dysfunktionalität des öffentlichen Transportsystems in brasilianischen Städten formiert(e). Die Konflikte stehen aber auch im Kontext einer immer stärker von Partikularinteressen bestimmten Stadtentwicklung, wie sich im Umgang mit den (bevorstehenden) Großevents der Fußballweltmeisterschaft und der Olympischen Spiele gezeigt hat und zeigt. Ob besondere Spezifika im Kontext von Stadtgröße (im Hinblick auf den sozialen Alltag wie auch den politisch-planerischen Umgang damit) in veränderter Weise in Mobilisierungspotentiale umsetzbar sind, mag ein weiterer Untersuchungskomplex für kritische Stadtforschung sein.

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Dank

Wenn ich mit meiner Arbeit auch nur ein stückweit zu einem Verständnis brasilianischer Städte beitragen kann, so nur deshalb, weil ich über viele Jahre hinweg mit Aktivist_innen und Freund_innen den konkreten und umkämpften städtischen Alltag in Brasilien gelernt, geschaut und geteilt habe: Insbesondere Carminha, Jesus, Lizandra, Marco, Maria und Leandro, sowie Abraão, Antônio José, Boni, Cida, Creuza, Dito, Donizete, Edileuza, Gegê, Graça, Joaquim, Jorge, Lúcia, Manoel, Neti, Paulo, Raimundo, Regina, Sidnei und Socorro gilt mein Dank. Ihnen sei dieses Buch gewidmet – stellvertretend für alle, die mich in Gesprächen und Interviews im Rahmen meiner Forschung haben schauen lassen und stellvertretend für alle, die sich der Ausgrenzung in brasilianischen Städten entgegensetzen. Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die ich im Dezember 2013 am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität verteidigt habe. Mein Dank gilt meiner Erstgutachterin Marianne Rodenstein, die mich überhaupt erst dazu motiviert hat, die weiteren wissenschaftlichen Fragen zu verfolgen, die mir von den brasilianischen Städten aufgeworfen zu werden schienen – und es sich dabei nicht zu einfach zu machen. Meiner Zweitgutachterin, Sybille Frank, danke ich sehr für die große Unterstützung zum Ende der Arbeit und die wertvollen Hinweise zur Überarbeitung derselben – und nicht zuletzt für einen bereichernden Arbeitskontext, in dem die Fertigstellung der Arbeit erfolgen durfte. Mein Dank gilt auch Birgit Blättel-Mink, Frank Eckardt, Josef Esser, Norbert Gestring, Thomas Lemke und Uta Ruppert, sowie den Darmstädter Kolleg_innen für ihre Nachfragen und Hinweise in unterschiedlichen Phasen meiner Arbeit. Viele, mir nahestehende Personen, haben zu einem besseren Gelingen dieses Unterfangens beigetragen. Meinen Frankfurter Kolleg_innen und Freund_innen danke ich nicht nur für tatkräftige Unterstützung, sondern auch für die vielen humorvollen und ernsthaften Gespräche über kritische Standpunkte. Allen

358 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT

Freund_innen und familiären Helfer_innen sei gedankt für Ihre Bereitschaft, sich durch das Geschriebene zu pflügen und daraus möglichst lesbare Texte zu machen, aber vor allem für ihr Dasein und ihre Unterstützung in vielfältiger Weise: Andreas Hoerning, Christian Volk, Elina Stock, Ellen Springer, Henning Gießen, Karl Hoerning, Maria Backhouse, Maria Brauner, Marit Rosol, Nina Wolf, Sibylle Schlatter, Stefanie Grohs, Susanne Martin und Thorsten Thiel. Unbeschreiblicher Dank gilt meiner Mutter, Diana Hoerning. Und schließlich ist nicht nur diese Arbeit, sondern mein Leben und Denken insgesamt in der vielfältigsten Weise, die ich mir vorstellen mag, bereichert mit und durch Christian Volk und unsere Tochter, Moira.

Abkürzungsverzeichnis

Verwendete Abkürzungen: OP Orçamento Participativo (Partizipativer Bürgerhaushalt) PA Porto Alegre PDE Plano Diretor Estratégico (Strategischer Masterplan, SP) PECRJ Plano Estratégico da Cidade do RJ (Strateg. Masterplan RJ) PMDB Partido do Movimento Democrático Brasileiro (Brasilianische Partei der Demokratischen Bewegung) PPS Partido Popular Socialista (Sozialistische Volkspartei) PRC Plano Rio Cidade ([Stadtentwicklungs-]Plan der Stadt Rio) PSDB Partido da Social Democracia Brasil (Partei der Sozialdemokratie Brasilien) PT Partido dos Trabalhadores (Partei der Arbeiter) PUB Plano Urbanístico Básico (Grundlegender Urbanistischer Plan, RJ) RE Recife RJ Rio de Janeiro RMPA Região Metropolitana de Porto Alegre RMR Região Metropolitana do Recife RMRJ Região Metropolitana do Rio de Janeiro RMSP Região Metropolitana de São Paulo SP São Paulo Verwendete brasilianische Bezeichnungen: Carioca (Bewohner_in) Aus der Stadt Rio de Janeiro kommend Cortiço Pensionshaus (innerstädtische Slums) Estatuto da Cidade Stadtstatut (Nationales Gesetz, 2001) Favela bras. Armen- bzw. Hüttensiedlung Gaúcho (Bewohner_in) Aus dem Bundesstaat Rio Grande do Sul kommend Loteamento Irreguläre Siedlungen (Parzellierungen) Clandestino

360 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT

Morro Paulistano Plano Diretor Popular Subúrbio Zona Leste Zona Norte Zona Oeste Zona Sul

Favela (wörtl. Hügel; vorrangige Bezeichnung in Rio de Janeiro) (Bewohner_in) Aus der Stadt São Paulo kommend Gesamtstädtischer Masterplan ‚volkstümlich‘, ‚einfach‘ in Bezug auf Klasse, Unterschicht, aber auch: Siedlungen Außenbezirk (in Rio de Janeiro äquivalent für Peripherie) Ostregion (Städte werden administrativ in Zonen eingeteilt) Nordregion Westregion Südregion

Anhang

Tabelle 9: Anzahl und Anteil (%) der Beschäftigungen nach Bereichen (eigene Darstellung nach Zensus 2010)  

São  Paulo 



Rio de  Janeiro 



Porto  Alegre 



Gesamtanzahl der Beschäf‐ tigten  Landwirtschaft, Fisch‐ fang, Waldwesen  Industriegewerbe  Versorgungsleistungen  (Elektrizität, Gas, Was‐ ser, Abwasser, Abfall)  Baugewerbe 

Re‐ cife 



5.549.787 

100 

2.922.822 

100 

728.252 

100 

661.05 2 

100 

18.447 

0,3 

9.299 

0,3 

5.306 

0,7 

4.510 

0,7 

632.391 

11,4 

208.747 

7,2 

46014 

6,3 

44500 

6,7 

37.757 

0,7 

30.535 

1,0 

8.456 

1,2 

9.544 

1,4 

296.069 

5,3 

172.723 

5,9 

43.676 

6,0 

37.270 

5,6 

Handel und Reparatur  von Fahrzeugen  Transportwesen, Lage‐ rung und Post  Bewirtung und Beher‐ bergung  Information und Kom‐ munikation  Finanz‐ und Versiche‐ rungssektor (und zuge‐ ordnete Dienstleistun‐ gen)  Immobiliensektor 

968.020 

17,4 

518.136 

17, 7 

125.569 

17, 2 

139.02 9 

21, 0 

291.645 

5,3 

163.768 

5,6 

33.048 

4,5 

29.504 

4,5 

225.697 

4,1 

141.522 

4,8 

29.022 

4,0 

27.698 

4,2 

195.760 

3,5 

92.732 

3,2 

23.315 

3,2 

14.473 

2,2 

190.444 

3,4 

74.070 

2,5 

22.920 

3,2 

12.530 

1,9 

47.066 

0,9 

25.073 

0,9 

9.071 

1,3 

2.623 

0,4 

Professionelle, techni‐ sche und wissenschaftli‐ che Tätigkeiten  Verwalterische Tätigkei‐ ten und zugeordnete  Dienstleistungen  Öffentliche Verwaltung  und Sicherheit  Bildungssektor 

329.634 

5,9 

162.862 

5,6 

50.655 

7,0 

26.613 

4,0 

424.143 

7,6 

179.342 

6,1 

40.584 

5,6 

43.840 

6,6 

166.682 

3,0 

192.251 

6,6 

48.657 

6,7 

50.866 

7,7 

291.617 

5,3 

186.520 

6,4 

51.556 

7,1 

42.302 

6,4 

362 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT Gesundheit und soziale  Dienste  Kunst, Kultur, Sport 

295.378 

5,3 

184.039 

6,3 

60.330 

8,3 

43.676 

6,6 

73.210 

1,3 

52.287 

1,8 

15.470 

2,1 

9.883 

1,5 

andere Tätigkeiten und  Dienste  Hausangestellte 

173.320 

3,2 

108.096 

3,7 

25.339 

3,5 

23.225 

3,5 

374.512 

6,8 

206.832 

7,1 

38.968 

5,4 

54.697 

8,3 

Internationale Organisa‐ tionen  ungenau spezifizierte  Aktivitäten 

785 

0,0 

399 

0,0 

202 

0,0 

17 

0,0 

517.212 

9,3 

213.589 

7,3 

50.097 

6,9 

44.253 

6,7 

Tabelle 10: „Subnormales Wohnen“ (eigene Darstellung nach Zensusdaten 2010)

1

 

São Paulo 

Rio de  Janeiro 

Porto  Alegre 

Recife 

Gesamtanzahl ‚subnormaler Sied‐ lungseinheiten‘  Gesamtanzahl privater Wohneinhei‐ ten in ‚subnormalen Siedlungsein‐ heiten‘  Anteil an Gesamtzahl  privater Wohneinheiten  (%)  davon mit Wasseranschluss (%)  davon mit Elektrizität (%)  davon mit Elektrizitätsanschluss  ohne Zähler (%)  davon mit monatlichem pro Kopf‐ HH‐Einkommen bis 1/4 Mindestlohn  (%)  davon mit monatlichem pro Kopf‐ HH‐Einkommen über 5 Mindestlöh‐ ne (%)  Gesamtbevölkerungszahl in ‚sub‐ normalen Wohneinheiten‘  Anteil an Gesamtbevöl‐ kerungszahl (%)  davon Männer (%)1 

1.020 

763 

108 

109 

355.756 

426.965 

56.024 

102.392 

10,0 

19,9 

11,0 

21,8 

97,64 

96,30 

98,06 

90,75 

99,74 

99,83 

99,68 

99,60 

15,72 

18,25 

39,97 

15,42 

8,37 

7,50 

9,11 

18,28 

0,45 

0,58 

0,70 

0,76 

1.280.400 

1.393.314 

192.843 

349.920 

11,4 

22,0 

13,7 

22,8 

48,87 

48,77 

48,58 

47,39 

Der Männeranteil liegt in allen vier Städten in den „subnormalen Siedlungseinheiten“ über dem Stadtwert: 46,83% in Rio, 46,16% in Recife, 46,39% in Porto Alegre und 47,35% in São Paulo – die Differenz ist also am deutlichsten in Porto Alegre (2,19%), wo der Frauenanteil am zweithöchsten ist (53,61%). Am gerinsten ist die Differenz zwischen dem Frauen- und Männeranteil in der Gesamtstadt und in den „subnormalen Wohneinheiten“ in Recife (1,23%), wo der Frauenanteil am höchsten ist mit 53,84%, gefolgt von São Paulo (1,52%) und Rio de Janeiro (1,94%), wobei São Paulo die Stadt mit dem ausgeglichensten Verhältnis von Frauen und Männern ist (Frauenanteil 52,65%). (Quelle: Zensus 2010, IBGE)

A NHANG

davon Frauen (%)  davon älter als 5 Jahre und alphabe‐ tisiert (%)  davon ‚weiß‘(%)  davon ‚schwarz‘ (%)  davon ‚mischhäutig‘ (%) 

51,13 

51,23 

51,42 

52,61 

82,03 

84,15 

82,75 

79,53 

38,76 

33,11 

59,97 

28,96 

8,78 

16,30 

18,98 

10,67 

51,87 

49,55 

20,29 

59,37 

| 363

Tabelle 11: Liste der interviewten Expert_innen und Interviewnummerierung   São  Paulo 

Ressort  Kommunales  Ressort für Arbeit  (SMTrab) 

 

Kommunales  Ressort für  Stadtentwicklung  (SMDU)  Kommunales  Ressort für  Umwelt (SMVA)  Kommunales  Ressort für  Partizipation und  Kooperation  (SMPP)  Kommunales  Ressort für  Wohnen (SEHAB)  Kommunales  Ressort für  Sozialhilfe (SMAS) 

 

 

 

 

Rio de  Janeiro 

 

 

 

 

Sonderressort für  solidarische  ökonomische  Entwicklung  (SEDES)  Ressort für  Umwelt (SMAC) 

Kommunales  Institut für  Stadtentwick‐ lung: Instituto  Pereira Passos  Kommunales  Ressort für  Stadtplanung und  ‐entwicklung  (SMU)  Kommunales 

Befragte  Fernando  Cerqueira  de  Oliveira  (plus  Kollegin)  Luiz  Laurent  Bloch 

Funktion  Programm‐ koordinator  ‚São Paulo  Inclui‘ 

Datum  20.07.2009 

Stellver‐ tretender  Ressortleiter 

21.07.2009 

Alejandra  Maria  Devecchi  Maria  Isabel  Pereira 

Kabinett‐ chefin 

Violêta  Saldanha  Kubrusly  Ivone  Pereira da  Silva  Rosemary  Gomes 

Altamiran do  Fernandes  Moraes  Sérgio  Guimarãe s;  Paula  Serrano  Marlene  Ettrich 

Jorge 

Koordinatorin 

I1

I2 14.08.2009 

I9 19.08.2009 

I10 Leitende  Fachberaterin 

21.08.2009 

Koordinatorin  des ‚Obser‐ vatório de  Política Social‘  Koordinatorin 

08.10.2009 

I11 I26 01.09.2009 

I12 Stellvertre‐ tender  Ressortleiter 

I13

03.09.2009 

Leiter der  Informations‐ stelle  Kabinettschefin 

I14

Koordinatorin 

15.09.2009 

11.09.2009 

I15 Ressortleiter; 

15.09.2009 

364 | ‚M EGASTÄDTE ‘ ZWISCHEN B EGRIFF UND W IRKLICHKEIT

Porto  Alegre 

 

 

Bittar;  Pierre Batista;  Alexandre  Caroli 

Sonderressort für  Öffentliche  Ordnung (SEOP) Kommunales  Ressort für Polit.  Koordination und  lokale Gover‐ nance (SMGL)  SMGL 

Rodrigo  Bethlem 

Kommunales  Ressort für  Industrie und  Handel (SMIC)  Kommunales  Ressort für  Stadtplanung  (SPM) 

 

 

SMGL 

 

Kommunales  Ressort für  Umwelt (SMAM) 

Recife 

 

   

2

Ressort für  Wohnen (SMH) 

Kommunales  Ressort für  Wohnen (SEHAB) 

Stellvertre‐ tender  Ressortleiter;  Kommuni‐ kation  Ressortleiter 

I16

16.09.2009 

I17

Carlos  Eduardo  Macedo 

Fachkraft des  ‚Observatório‘ 

28.07.2009  

Regina  Machado  

Programm‐ koordinatorin  ‚Governança  Solidária  Local‘ 

28.07.2009 

Idenir  Cecchim 

Ressortleiter 

29.07.2009 

Márcio  Bins Ely;  Paulo  Afonso da  Rosa  plus Mitarbei‐ terin  Júlio Pujol 

Ressortleiter;  Leiter  Stadtentwick‐ lung

29.07.2009 

Politische  Koordination 

30.07.2009 

José  Francisco  R.  Furtado;  Luiz A.  Carvalho  Jr.;  Reginaldo  Bidigaray  Onildo  Romão 

Leiter für  Umwelt;    Leiter SUPPJ    Kabinetts‐ beamter

07.08.2009 

24.09.2009 

I3

I4

I5

Amt für Städti‐ sche Kontrolle  (Dircon)2  Umweltamt  (Dirmam) 

Maria  José de  Biase  Mauro  Buarque 

Direktor für  Soziale  Kommuni‐ kation  Direktorin für  Städtische  Kontrolle  Direktor für  Umwelt 

Stadtentwick‐ lungsamt (SMU) 

Taciana  Sotto  plus  Mitarbeiterin

Leitende  Direktorin für  Stadtentwick‐ lung 

I6

I7 I8

I19 23.09.2009 

I18 25.09.2009 

I20 25.09.2009 

I21

Die drei Ämter: Dircon, Dirmam und Dirurb gehören alle zum Kommunalen Ressort für Partizipative Planung, Bauvorhaben und Stadtentwicklung.

A NHANG

 

 

 

 



Ressort für  Politische Koor‐ dination und  Regierung (SCPG)  Kommunales  Ressort für  Sozialhilfe (SMAS) 

Henrique  Leite 

Leitender  Berater 

02.10.2009 

Karina  Antunes 

02.10.2009 

Ressort für  Menschenrechte  und Bürgersi‐ cherheit (SDHSC)  Ressort für  Wissenschaft,  Technologie und  Wirtschafts‐ entwicklung  (SCTDE)  Ressort für  Partizipative  Planung, Städte‐ bau, Stadtent‐ wicklung und  Umwelt (SPPDU) 

Amparo  Araújo 

Koordinatorin  Soziale  Grundsich‐ erung  Ressortlei‐ terin 

Carlos  Rocha 

Fachkoordi‐ nator  Ökonomie 

03.10.2009 

Marcelo  Olímpio 

Koordinator  für Dezentra‐ lisierung 

01.10.2009 

I22

I23 02.10.2009 

I24

I25

I27

| 365

Urban Studies Karsten Michael Drohsel Das Erbe des Flanierens Der Souveneur – ein handlungsbezogenes Konzept für urbane Erinnerungsdiskurse Februar 2016, 286 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3030-5

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Sandra Maria Geschke Doing Urban Space Ganzheitliches Wohnen zwischen Raumbildung und Menschwerdung

September 2015, 422 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3121-0

2013, 360 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2448-9

Judith Knabe, Anne van Rießen, Rolf Blandow (Hg.) Städtische Quartiere gestalten Kommunale Herausforderungen und Chancen im transformierten Wohlfahrtsstaat Juli 2015, 274 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2703-9

Jörg Heiler Gelebter Raum Stadtlandschaft Taktiken für Interventionen an suburbanen Orten 2013, 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2198-3

Daniel Nitsch Regieren in der Sozialen Stadt Lokale Sozial- und Arbeitspolitik zwischen Aktivierung und Disziplinierung 2013, 300 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2350-5

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