Gebrauch als Design: Über eine unterschätzte Form der Gestaltung [1. Aufl.] 9783839428801

With the spread of digital technologies, users can increasingly determine where digital objects are deployed, and what f

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German Pages 248 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Kurzbeschreibung
1. Einleitung
2. Von der Funktion zum Medium
3. Aneignung provozieren
4. Bedeutung konstruieren
5. Gespräch, Gebrauch, Bedeutung
6. Potenzial und Aktualität
7. «Form» und Gegenstand
8. Anhang
Abbildungsverzeichnis
Literatur
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Gebrauch als Design: Über eine unterschätzte Form der Gestaltung [1. Aufl.]
 9783839428801

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Katharina Bredies Gebrauch als Design

Design | Band 5

Katharina Bredies studierte Produktdesign an der Hochschule für Künste Bremen. Sie lehrt und forscht als Designwissenschaftlerin an der Universität der Künste Berlin.

Katharina Bredies

Gebrauch als Design Über eine unterschätzte Form der Gestaltung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Katharina Bredies, Berlin, 2013. © Katharina Bredies Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2880-7 PDF-ISBN 978-3-8394-2880-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | v Kurzbeschreibung | vii 1

Einleitung | 1

2

Von der Funktion zum Medium | 9 2.1

Die «Form» und ihre anderen Seiten | 9 «Form» und Funktion «Form» und Kontext «Form» und Medium Zusammenfassung

2.2

Design-Kompetenz und Design-Verantwortung | 21 Starke Trennung: Design als Problemlösen Schwache Trennung: Design als professionelle Praxis Prozessphasen: Design als Variation

2.3

Probleme mit der Trennung von Design und Gebrauch | 34 Wissen und Entwurf Perfekte Passung Entfähigen Simulieren

2.4

Ein Prozessmodell zum Vergleich konstruktivistischer Designansätze | 46 Jonas’ generisches Prozessmodell Vergleich von «Antizipation des Gebrauchs» und «Repräsentation der Benutzer»

ii | Gebrauch als Design

3

4

2.5

Vier Wege zum konstruktivistischen Design | 52 Benutzerorientiertes Design (boD) Partizipatives Design (pD) Nichtintentionales Design (niD) Kritisches Design (kD)

2.6

Die Brücken über die Lücken | 56 Benutzerorientiertes Design: Warten auf die nächste Iteration Partizipatives Design: Flächendeckende Zusammenarbeit Nichtintentionales Design: Nicht viel Reflektion in Aktion Kritisches Design: Debatten anstoßen

2.7

Schlussfolgerungen | 65

Aneignung provozieren | 67 3.1

Aufnahme, Aneignung, Umnutzung | 68 Designempfehlungen zur Aneignung

3.2

Aneignung im experimentellen Design | 75 Entwerfen als Forschungspraxis Irritation als Designstrategie Form und Gegenstand

3.3

Von Theoriekonzepten zu Gestaltungsannahmen | 90 Formverschiebung durch Irritation Prozessorientierte und strukturorientierte Gegenstände Situationsabhängigkeit

3.4

Gestaltungsannahmen und Forschungsfragen | 94

Bedeutung konstruieren | 97 4.1

Konstruktion im Material | 98 Elektronische Textilien Transfer als Designmethode Funktionale Analogien

4.2

Die Prototypen | 106 Wavecap Undercover

Inhalt | iii

Shuffle Sleeve Prototypen, keine Produkte

5

6

4.3

Die «objektive» Bedeutung | 121 Objektive Hermeneutik Rekonstruktion aus Designsicht Rekonstruktion aus Benutzersicht

4.4

Konstruktion im Gebrauch | 125 Die Interpreten Die Interviewsituation

4.5

Auswertungskategorien | 127 Ähnlich, leicht abweichend, stark abweichend Mittelbare und unmittelbare Eigenschaften

4.6

Zusammenfassung | 134

Gespräch, Gebrauch, Bedeutung | 137 5.1

Antizipation und Abweichung | 137 Vorwissen und Abduktion Mittelbare und unmittelbare Eigenschaften Struktur und Prozess Situationsabhängigkeit

5.2

Die Ausprägung der Interfaces | 150 Wavecap Undercover Shuffle Sleeve

5.3

Zusammenfassung | 157

Potenzial und Aktualität | 159 6.1

Kognition | 159 «Graded structure», Features und Dimensionen Gegenstandseigenschaften und Konzeptzuordnung Zusammenfassung

6.2

Semiose | 168 Die Peirceschen Zeichenklassen Interaktion als Zeichenproduktion Abduktion, Induktion, Deduktion

iv | Gebrauch als Design

Die «Grundlage» der Zeichenproduktion Zusammenfassung

7

8

6.3

Netzwerke | 182 Die Unersetzbarkeit des konkreten Dings Die Vertrautheit des Unmittelbaren Kognitive Kompetenzen Zusammenfassung

6.4

Formverschiebungen beobachten | 186

«Form» und Gegenstand | 191 7.1

Schlussfolgerungen | 192 Praxis Ausbildung Forschung

7.2

Gebrauch, Kritik, Partizipation | 204 Partizipatives Design Kritisches Design Seltsame Sachen und kritischer Gebrauch

7.3

Offene Fragen zur Methode | 208 Beobachtung und Dokumentation von Bedeutungen Rahmenbedingungen Interpreten

7.4

Design als eine Form der Forschung | 211

Anhang | 213 8.1

Fragebogen zur Auswahl der Interpreten | 213

8.2

Halbstrukturierter Fragebogen als Interviewleitfaden | 216

8.3. Abbildungsverzeichnis | 219 8.4. Literatur | 221

Danksagung

Dafür, dass ich diese Arbeit durchführen konnte, bin ich einigen Personen zu Dank verpflichtet. Zuallererst möchte ich Prof. Dr. Wolfgang Jonas danken, der mich überhaupt erst mit Designtheorie und -forschung vertraut machte und der mich mit den Menschen zusammenbrachte, die mir ermöglichten, eine wissenschaftliche Arbeit in diesem Fach anzugehen. Prof. Dr. Gesche Joost und Prof. Dr. Rosan Chow sind neben ihm die zwei Personen, die meine Dissertation formal und inhaltlich maßgeblich beeinflusst haben, indem sie mich in langen Stunden der Diskussion angeleitet, unterstützt und ermutigt haben und sich furchtlos mit mir zusammen durch alle wirren Zwischenstadien meiner Arbeit hindurchgearbeitet haben. Ohne sie wäre ich nicht so weit gekommen, und wenn doch, dann mit deutlich schlechterem Ergebnis. Christian Weber danke ich für das gewissenhafte Aufspüren der stilistischen Stolpersteine in diesem Text, und für all seine inhaltlichen Anregungen und hilfreichen Gespräche im Verlauf der Arbeit, die mir sehr geholfen haben. Außerdem danke ich Prof. Dr. Kristian Bredies für seine freundliche und flinke Hilfe bei der Formatierung dieses Dokuments. Ich bin auch den Studierenden dankbar, die mich im Laufe meines Promotionsprojekts unterstützt haben: Jan-Erik Stange, der für meine Pilotstudie mit mir zusammen entworfen, gebaut und interviewt hat; Ramyah Gowrishankar und Paula Kassenaar, die mir in ihrer Praktikumszeit beim Entwurf und bei der Umsetzung des Undercover und des Shuffle Sleeve assistiert haben; Sebastian Wolf und Marc Ferrer Almirall, die Unterstützung bei der Android- und Arduino-Programmierung geleistet haben; und Joshua Marr, der die Interpretationssitzungen vorbereitet, betreut und dokumentiert sowie die Inspirationsquellen für die drei Prototypen visuell für mich rekonstruiert hat. Es war eine Freude, mit ihnen zu arbeiten. Berlin, im Juli 2014 Katharina Bredies

Kurzbeschreibung

Benutzerorientiertes Design stellt heutzutage einen Kanon an wissenschaftlich geprägten Methoden und Prozessen bereit, der sicherstellen soll, dass neue Produkte auf die Bedürfnisse ihrer Benutzer und die anvisierte Anwendungssituation zugeschnitten werden können. Teil dieser Methodik ist häufig, dass Designer stellvertretend für die Benutzerinnen den Gebrauch antizipieren, und darin die Benutzer im Designprozess selbst repräsentieren. Damit geht implizit eine Rollenverteilung von Designern und Benutzern einher, bei der Designerinnen neue Variationen für Produkte herstellen, die von Benutzerinnen angenommen oder abgelehnt werden. Alternative Designansätze wie z.B. das partizipative Design, die eine gleichberechtigte Rollenverteilung vorsehen, sind trotz ähnlich langer Entwicklungszeit im Vergleich zum benutzerorientierten Ansatz marginal geblieben. Ähnlich wie das experimentelle Design bringt der Gebrauch aber auch selbst neue Anwendungen und Umgangsweisen hervor, was innerhalb benutzerorientierter Designprojekte jedoch immer nur im Nachhinein Beachtung findet. Partizipatives oder kritisches Design haben daher bereits die Frage aufgeworfen, welche Entwurfsprozesse und -produkte den Nutzerinnen mehr Freiheit zur Interpretation und Aneignung von Gegenständen im Gebrauch geben können. Gerade bei neuen Technologien, bei denen ein optimaler Anwendungszweck und -zusammenhang noch nicht festgelegt sind, bieten sich experimentelle Designprozesse zudem an, um das Potenzial solcher Technologien möglichst breit auszuschöpfen. Es fehlen jedoch nach wie vor ausreichend dokumentierte Methoden, um Aneignung im Gebrauch zu provozieren, und Begriffe, um sie als eine Art von Design zu charakterisieren. Ziel meiner Arbeit ist es, zur Schärfung von beidem beizutragen. Dazu vergleiche ich zunächst die Vorgehensweise des benutzerorientierten Designs mit der des partizipativen, nicht-intentionalen und kritischen Designs, deren jeweilige Methodiken Alternativen zur Antizipation von Gebrauch und Repräsentation von

viii | Gebrauch als Design

Benutzern aufweisen. Darauf aufbauend schlage ich eine systemtheoretische Konzeption von «Irritation» vor, die als Grundlage für einen nicht-antizipierenden, nichtrepräsentierenden Gestaltungsprozess dient, bei dem der Zweck des Designprodukts bewusst offen gelassen wird. Dieser Prozess umfasst Designstrategien zur semantischen Verfremdung, die im Bereich elektronischer Textilien beispielhaft umgesetzt werden. Anhand von drei Prototypen differenziere ich zudem zwei Design-Parameter aus, deren Einfluss auf die Aneignung von Interfaces evaluiert werden soll, namentlich die Struktur-Prozess-Ausprägung und die Situationsabhängigkeit eines Gegenstands. Die von mir konstruierten Prototypen wurden in partizipativen Designsitzungen von Benutzern interpretiert und diese Interpretation anschließend von mir mit den Assoziationen und Einflüssen verglichen, die ich auf den Designprozess und meine eigene Deutung zurückführen konnte. Die Resultate dieses Vergleichs habe ich anschließend zu theoretischen Konzepten aus der ökologischen Kognitionspsychologie, der pragmatistischen Semiotik nach Charles Sanders Peirce und der Akteurs-NetzwerkTheorie nach Bruno Latour in Beziehung gesetzt. Ergebnis der Studie sind eine klar umrissene Begrifflichkeit, anhand derer sich Design im Gebrauch identifizieren und differenzieren lässt, sowie konkrete Vorschläge zur Weiterentwicklung kritischer und partizipativer Designansätze in Designpraxis, -ausbildung und -forschung. Die Arbeit selbst dient darin als Beispiel für «Forschung-durch-Design», bei der Gestaltungshandlungen integraler Bestandteil des Erkenntnisprozesses sind.

1 Einleitung

Seit einigen Jahrzehnten etablieren sich die Designwissenschaften als selbständige akademische Disziplin mit eigenen Forschungsmethoden. Gerade in der jüngeren Debatte um die Designforschung ist das Modell der «Forschung-durch-Design» (oder «research-through-design») entwickelt und präzisiert worden1 , das Design gleichzeitig als Forschungsgegenstand und – in der Entwurfstätigkeit – als Medium wissenschaftlicher Erkenntnis vorsieht. Die vorliegende Arbeit ist als Forschungsprojekt konzipiert und durchgeführt worden, das eine solche enge Verknüpfung von

1 | Als früher Vorläufer der Idee wird häufig Christopher Frayling mit seiner Unterscheidung in «research into, through and for design» genannt (Christopher Frayling. «Research in art and design». In: Royal College of Art Research Papers 1.1 [1993], S. 1–5), die in der Folge vor allem von Alain Findeli (Alain Findeli. «Die projektgeleitete Forschung: Eine Methode der Designforschung». In: Swiss Design Network Symposium. Basel: HGK Basel, 2004, S. 40–51; Alain Findeli u. a. «Research through design and transdisciplinarity: A tentative contribution to the methodology of design research». In: «Focused» – Current Design Research Projects and Methods. Swiss Design Network Symposium 2008. Bern: Swiss Design Network, 2008, S. 67– 91) und Wolfgang Jonas (Wolfgang Jonas. «Research through DESIGN through research - a problem statement and a conceptual sketch». In: Wonderground. Proceedings of the 2006 Design Research Society Conference. Lissabon: Design Research Society, 2006; Wolfgang Jonas. «Design research and its meaning to the methodological development of the discipline». In: Design Research Now. Hrsg. von Ralf Michel. Basel: Birkhäuser, 2007, S. 187–206) geschärft wurde und mittlerweile als Begriff festen Eingang z.B. in den Bereich der Mensch-MaschineInteraktion gefunden hat (John Zimmerman, Jodi Forlizzi und Shelley Evenson. «Research through design as a method for interaction design research in HCI». In: Proceedings of the SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems. CHI ’07. New York: ACM, 2007, S. 493–502).

2 | Gebrauch als Design

Forschungs- und Gestaltungspraxis erprobt. Damit ist sie selbst ein experimentelles Beispiel für einen Ansatz, der als origineller Beitrag der Designwissenschaften zur Wissenschaftslandschaft gelten kann. Meine Forschungsfrage widmet sich daher grundlegenden Fragen zu Design als Tätigkeit, die ich anhand eines Designprojekts im Bereich der Mensch-Maschine-Interaktion (MMI) bzw. des Interfacedesigns bearbeite. Darin wird der Designprozess auf die Gebrauchssituation erweitert und damit designerisches Handeln in der kreativen Aneignung von Gegenständen identifiziert. Der reibungslose Gebrauch eines materiellen Gegenstands im Alltag ist für Designer besonders im Bereich der MMI zu einem wichtigen Erfolgskriterium ihrer Arbeit geworden. Gerade in interdisziplinären Teams sehen sich Gestalterinnen dabei in der Rolle von «Benutzeranwälten», die in der Entwurfsphase die Interessen späterer Nutzer einbringen. Dazu gehört in der Regel auch, die Gestaltung eines Gegenstands für den vorgesehenen Gebrauch zu optimieren und Missverständnisse und Gebrauchsfehler zu vermeiden. Dazu muss die Designerin sich in die späteren Benutzer hineindenken und deren Verständnis vorwegnehmen. Methodisch wird diese Vorgehensweise unter anderem als benutzerorientiertes Design oder Usability bezeichnet2 . Zumindest im Bereich der Mensch-Maschine-Interaktion und der Entwicklung interaktiver Produkte und Services wird das benutzerorientierte Design heutzutage als vorbildliche Praxis betrachtet. Dadurch wird ein neuer Designentwurf durch benutzerorientiertes Entwerfen3 stärker an bestehenden Gebrauchsgewohnheiten und etablierten Bedeutungen orientiert. Die Selbstwahrnehmung der Gestalter, wie sie sich in Methoden und Projekten ausdrückt, bewegt sich dabei zwischen zwei Polen: Einerseits dem Bemühen, die eigene Verantwortung mit wissenschaftlichen Mitteln und Prozessen zu untermauern, und andererseits dem Versuch, die alleinige Entscheidungsgewalt über die Bedeutung des entworfenen Gegenstands aufzuteilen4 .

2 | Als Beispiele für diese benutzerorientierte Methodik seien hier Abbe Dons Plädoyer für Benutzeranforderungen und Alan Coopers Abhandlung über Benutzerbeobachtung genannt. Siehe Alan Cooper und Robert Reimann. «Understanding Users: Qualitative Research». In: About Face 2.0. The Essentials of Interaction Design. 2. Auflage. Indianapolis: Wiley, 2003. Kap. 4, S. 39–54; Abbe Don und Jeff Petrick. «User requirements. By any means necessary». In: Design Research. Methods and Perspectives. Hrsg. von Brenda Laurel. Cambridge: MIT Press, 2003. Kap. 2, S. 70–81. 3 | «Benutzerorientiertes Design» nenne ich im folgenden Text den Ansatz, der im englischen Sprachraum als «user-centered design» und manchmal auch austauschbar als «human-centered design» bezeichnet wird. 4 | Die Anstrengung um standardisierte, zuverlässige Designprozesse, die den Bedürfnissen späterer Benutzer gerecht werden, schlägt sich u.a. in einer entsprechenden ISO-Norm zum

Einleitung | 3

R EPRÄSENTATION G EBRAUCHS

DER

N UTZER

UND

VORWEGNAHME

DES

Die Routine darin, die Benutzung der eigenen Produkte vorauszudenken und dafür selbst in die Rolle von Benutzern zu schlüpfen, ist gemessen an der recht kurzen Geschichte des Designs selbst noch recht jung. Historisch gesehen kann man feststellen, dass die Antizipation des Gebrauchs und die Repräsentation des Benutzers umso wichtiger geworden sind, je mehr professionelle Designer bereit oder gezwungen waren, ihre Entscheidungsgewalt zu teilen. Das benutzerorientierte Design hat seinen Status als vorbildliche Praxis nach wie vor inne, wird aber durch alternative und neuere methodische Entwicklungen im Design zunehmend ergänzt und erweitert. Durch diese alternativen Ansätze wird mittlerweile, direkt oder indirekt, die repräsentative Rolle wie auch die antizipative Fähigkeit des Designers zunehmend infrage gestellt: Seit der Moderne hat sich die Aufgabe der professionellen Gestalter vom Experten für Form und Gebrauch ausdifferenziert und erlaubt nun auch die Rolle des informierten Repräsentanten der Benutzer oder sogar des lediglich gleichgestellten Akteurs am Diskurs über den Gebrauch. Entsprechend haben sich die Maßstäbe zur Bewertung von Gegenständen vervielfacht: Neben der Funktion haben die Anwendungstauglichkeit oder die ethisch-politische Angemessenheit von Gestaltungsergebnissen an Bedeutung gewonnen. Diese alternativen Designprozesse und -bewertungsmaßstäbe weisen auf eine positive Entwicklung hin, sind allerdings in der Berufspraxis noch eher die Ausnahme. Auch im theoretischen Diskurs haben wir es schon länger mit einem allgemeinen Designbegriff zu tun, der alle Arten von geplanten Eingriffen – und damit professionelles planendes Handeln im Allgemeinen – umfasst. Damit stellt sich auch die Frage, wie die Gestaltungsarbeit und Verantwortung zwischen Benutzern (als Experten in der Anwendung) und Designern (als Experten in der Gestaltung) verteilt wird. Eine konstruktivistische Sicht auf Design und Gebrauch lässt sich wiederum soweit zuspitzen, dass auch die Bedeutungskonstruktion der Benutzerin im Gebrauch derjenigen in der Gestaltung strukturell ähnelt. Wie Menschen ein Objekt im Umgang und in einem bestimmten Nutzungskontext deuten und ihm dadurch Bedeutung verleihen, wird nur zu einem Teil durch den Gegenstand vorgegeben und kann als kreative Leistung verstanden werden.

«human-centered design» nieder. Siehe International Organization for Standardization. ISO 13407: Human centred design processes for interactive systems. 1999.

4 | Gebrauch als Design

D ESIGN

GEHT IM

G EBRAUCH

WEITER

Diese Art des kreativen Gebrauchs wird inzwischen häufig als «Aneignung» bezeichnet und hat in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit erfahren, sowohl im Software-Bereich, als auch in Form des produktbasierten «nicht-intentionalen Designs»5 , das in Form von alltäglichen Beobachtungen vielen Produktgestalterinnen immer wieder als Inspirationsquelle dient. Der Designprozess wird in der Benutzung also fortgeführt: Benutzer konstruieren aktiv die Bedeutung von Gegenständen durch die Benutzung. Da es sich um weitgehend unberechenbare und zufällige Reaktionen handelt, ist allerdings unklar, wie diese kreative Leistung in den Designprozess mit eingebunden werden kann. Etablierte Designmethoden konzentrieren sich darauf, den Bedeutungsprozess vorwegzunehmen, und beziehen die Benutzer in den Designprozess mit ein. Abweichungen im Gebrauch werden dabei nicht systematisch erforscht. Die repräsentative und antizipative Rolle des Designers bleibt weitgehend unangetastet. Bei derartigen Designprojekten mit Benutzerbeteiligung wird deutlich, dass antizipierende Designprozesse sich nicht für jede Art von Problemstellung gleichermaßen anbieten. Insofern das Designproblem und der Anwendungszweck eines zu entwerfenden Artefakts bereits festgelegt sind, ist ein benutzerorientierter Entwurf sicher hilfreich. Wenn es dagegen darum geht, den Möglichkeitsspielraum neuer Formen zu erkunden, ist die Vorwegnahme des Gebrauchs tendenziell unzuverlässig, weil der Anwendungszusammenhang noch nicht feststeht. Gerade bei neuen Technologien, bei denen potenzielle sinnvolle Anwendungskontexte erst noch erprobt werden müssen, ist eine Orientierung an der Einbettung in bestehende Gebrauchssituationen kontraproduktiv, sofern sie den Blick auf alternative Anwendungen verstellt. Bei unbekannten Produkten ist die Wahrscheinlichkeit, das Benutzerverhalten zuverlässig vorherzusagen, außerdem viel geringer. Wenn dann Abweichungen vorwiegend als Fehler wahrgenommen werden, entwertet dies die Aneignungsleistung der Benutzer.

F ORSCHUNGSZIEL Ziel des in dieser Arbeit dargestellten Forschungsprozesses war es einerseits, mehr über konkrete Gestaltungskriterien zu erfahren, die eine offene Aneignung des De5 | Mit diesem Begriff bezeichnen Uta Brandes und Michael Erlhoff spontane alltägliche Umnutzungen von Gegenständen. Siehe Uta Brandes und Michael Erlhoff. Non intentional design. Köln: Daab, 2006.

Einleitung | 5

signprodukts erlauben. Andererseits ging es mir darum, einen experimentellen Designprozess auszuprobieren, der alternative Rollenverteilungen hinsichtlich Design und Gebrauch vorsieht. Damit nehme ich eine Entwicklung auf, die in der zunehmenden Annäherung von «critical design» und «participatory design» bereits begonnen hat und auf eine Ausbreitung experimenteller und ergebnisoffener Entwurfsmethoden außerhalb des akademischen Zusammenhangs hinausläuft. Zum designwissenschaftlichen Diskurs lege ich eine Begriffsklärung von «Design im Gebrauch» vor, die verstehen helfen soll, welche Formen von Gebrauch näher am Design oder weiter davon entfernt verortet werden können. Zwar sind die Grenzen der Design-Profession ständig in Bewegung; das heißt, sie stehen im Grunde weit offen durch Amateurdesign und Do-It-Yourself-Bastelkultur. Andererseits grenzen sich ausgebildete Designer, die ihren professionellen Vorsprung rechtfertigen müssen, umso sorgfältiger von den Amateuren ab. Zwischen dem einen und dem anderen Extrem brauchen wir eine bessere Verständigung darüber, wie sich die spontane Umnutzung eines Designamateurs und die gezielte Entwicklung von innovativen Ideen durch einen erfahrenen Profi zueinander verhalten. Ein weiterer Aspekt meiner Arbeit ist das Verhältnis von (wissenschaftlicher) Gewissheit und Unsicherheit in einem ergebnisoffenen Designprozess, der darin teilweise komplementär zum benutzerorientierten Design angelegt ist. Während mit dem benutzerorientierten Design ein Ansatz vorliegt, der die Unsicherheit im Design mithilfe wissenschaftlicher Gewissheit zu minimieren versucht, läuft das «irritierende» Design, das ich vorschlage, auf ein gezieltes Verunsichern und Verändern (wissenschaftlich) anerkannter Gewohnheiten und Erkenntnisse hinaus. Damit möchte ich den Bewegungsspielraum von Designern wieder erweitern, ohne die durch das benutzerorientierte Design gewonnene Systematik komplett aufzugeben. Das Variieren von Form betrachte ich hierfür als Kernkompetenz der Designerinnen, und als wichtigen Beitrag der Designforschung zu den Methoden der Wissensgenerierung in den Wissenschaften.

R ELEVANZ Als junge Forschungsdisziplin muss sich die Designwissenschaft ihr Vertrauen noch erarbeiten. Die Offenlegung des eigenen Arbeitsprozesses, die ich hier versuche, ist eine Maßnahme, um aus der Perspektive der Gestalterin heraus die Gestaltungshandlungen zu beschreiben und nachvollziehbar zu machen. Anders als die Ingenieurswissenschaften, in denen anwendungsoffenes Entwerfen als sinnvolle Vorgehensweise akzeptiert ist, wird sie im Design häufig noch als nutzlose Spielerei abgetan. In beiden

6 | Gebrauch als Design

Fällen wird der Fokus der Gestaltung verschoben: Es wird nicht nach einer Lösung für ein bereits bekanntes und beschriebenes Problem gesucht («Lösungsdesign»), sondern das Design von «Lösungen» ermöglicht die Identifikation und Beschreibung von Problemen («Problemdesign»). Während diese umgekehrte Vorgehensweise des «Problemdesigns» im naturwissenschaftlich beeinflussten technischen Design weitgehend akzeptiert wird, fehlt ihm im soziokulturell orientierten Interface-Design noch die Anerkennung. Deswegen ist es immer noch notwendig, «designerische» Strategien wie den spielerischen Umgang mit Erwartungen sowie neuen Interaktionsmustern im Gebrauch besser zu untersuchen. Erst eine transparente Darstellung und ein besseres Verständnis verleihen diesen Methoden eine vergleichbare Seriosität.

I RRITIERENDES D ESIGN In Kapitel 2 gehe ich darauf ein, wie unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe im Design die Gestaltungspraxis und die Beziehung zum «Benutzer» geprägt haben und welche professionelle Rollenzuschreibung sie implizieren. In dem Ausmaß, in dem eine sozialkonstruktivistische bzw. radikalkonstruktivistische Weltsicht die Gestaltungshandlungen prägt, ist eine Trennung von Design und Gebrauch im Hinblick auf die Akteure, Schauplätze und Zeitpunkte nicht mehr tragfähig. Die faktische Trennung von Design und Gebrauch, die durch die Industrialisierung verstärkt und durch Designmethoden zumindest teilweise aufgefangen wurde, stellt die Anwender dieser Methoden dabei sowohl vor Umsetzungs- als auch vor analytische und definitorische Probleme. Anstatt den Gebrauch zuverlässig vorauszuahnen, benötigen Gestalterinnen Anhaltspunkte dafür, wie sie für eine produktive «Aneigung» und Umnutzung entwerfen können, die im Gebrauch vonstatten geht. Kapitel 3 widmet sich den bisherigen, vielfältigen Bedeutungen des Begriffs der Aneignung, den damit verbundenen bereits bestehenden Designempfehlungen, und beschreibt diejenige Lesart, die ich für meine eigene Studie zugrunde gelegt habe. Außerdem lege ich hier die Bezugstheorien offen, die für meine Perspektive prägend waren, vor allem die Einflüsse aus der sozialen Systemtheorie nach Niklas Luhmann und dessen Interpretation durch Wolfgang Jonas. Die Begrifflichkeiten, die ich zur Übersetzung des theoretischen Konzepts in die empirische Studie heranziehe, werden hier definiert, um die daraus abgeleiteten Untersuchungsannahmen möglichst nachvollziehbar darstellen zu können. Besonders zentral ist hier der Begriff der Irritation, der mir als Brücke zwischen dem analytisch geprägten, systemtheoretischen Verständnis, und der produktiven Irritation in Form von Design-Artefakten dient. Die Beschreibung des entwurfsem-

Einleitung | 7

pirischen Teils in Kapitel 4 nimmt dabei Bezug auf die Arbeitsweise des «critical design», «design noir» oder «affective computing». Die Interpretationssitzungen, in denen Interpreten den Bedeutungsspielraum der entworfenen Prototypen ausloteten, stehen mit partizipativen Methoden einerseits und der Vorgehensweise der «objektiven Hermeneutik» andererseits in Verbindung. Beide Teile der empirischen Studie setze ich in Kapitel 5 in Bezug zueinander und ziehe dabei Schlüsse auf das Potenzial der Prototypen für abweichende Deutungen. Dieser Teil der Auswertung bezieht sich unmittelbar auf die Objekteigenschaften, die im Gestaltungsprozess bestimmt werden. In Kapitel 6 diskutiere ich die Ergebnisse der empirischen Studie in den theoretischen Begrifflichkeiten dreier Felder, die wirksame Erklärungsansätze liefern: Die ökologische Kognitionsforschung, das semiotische Kategoriensystem nach Charles Sanders Peirce, und die Akteurs-NetzwerkTheorie nach Bruno Latour. Auf Grundlage meiner Analyse formuliere ich abschließend in Kapitel 7, welche Kombination an Gestaltungsmerkmalen und Rahmenbedingungen begünstigend für eine abweichende Aneignung im Gebrauch sein könnte, und welche Schlussfolgerungen für Designpraxis, -forschung und -ausbildung daraus zu ziehen sind.

2 Von der Funktion zum Medium

Im Laufe der Geschichte haben sich Designer in unterschiedlicher Art und Weise mit dem Gebrauch ihrer Produkte auseinandergesetzt. Der Blickwinkel ist dabei immer breiter geworden und schließt nun nicht mehr nur die funktionale und formale Gestaltung, sondern auch die Problembeschreibung und Prozessgestaltung mit ein. Den Benutzern wird mehr Mitspracherecht und damit auch Designkompetenz zugesprochen. Dennoch werden in der professionellen Produktentwicklung Design und Gebrauch häufig immer noch voneinander getrennt. Diese Trennung wird dem veränderten Anspruch von Designern, Benutzer als aktive Interpreten und die Benutzung als konstruktiven Akt zu begreifen, nicht immer gerecht. Sie ist auch deswegen methodisch und theoretisch durchaus kritisch zu sehen, weil sie die Kernkompetenz von Design, das Variieren von Artefakten, empfindlich beschränkt. Erst wenn man Gebrauch als eine Phase des Designprozesses betrachtet, und den Anspruch auf Kontrolle und Vorausahnen des Gebrauchs aufgibt, eröffnen sich neue Möglichkeiten, für originelle Aneignung zu gestalten.

2.1 D IE «F ORM »

UND IHRE ANDEREN

S EITEN

Design hat unter seinen vielen Einflüssen, aus denen es hervorgegangen ist, auch Wurzeln in der Kunst und im Ingenieurswesen, die bis heute aufrechterhalten werden. Kunst kann immer als Selbstzweck betrieben werden und muss keinem Gebrauch dienlich sein. Technische Gegenstände sind jedoch in der Regel auch dafür gemacht, um für etwas benutzt zu werden. Das technisch orientierte Design befasst sich deshalb auch mit dem Gebrauch von Gegenständen und mit der Frage, wie man die Dinge funktionstüchtig macht. Sowohl die formalästhetische Erscheinung als auch

10 | Gebrauch als Design

der instrumentelle Nutzen spielen im Design eine Rolle. Je nach Gestaltungsaufgabe ist das Verhältnis zwischen beiden Komponenten unterschiedlich gewichtet. Wie gut sich ein Gegenstand im Gebrauch bewährt, hängt stark davon ab, in welcher Situation er verwendet wird. Wenn der instrumentelle Nutzen eines Dings eine große Rolle spielt und im Gestaltungsprozess beachtet werden muss, richtet der Gestalter entsprechend stärker seinen Blick auf die Anwendungssituation und über das eigentliche zu gestaltende Objekt hinaus. Was die historische Entwicklung von Design angeht, sind mit der Zeit unterschiedliche Modelle entstanden, wie Gebrauch, Benutzer und Gegenstände im Designprozess behandelt werden. In der Frühphase der Industrialisierung war es üblich, dass der Gebrauch von der Designerin normativ festgelegt wurde, durch eine intendierte «Funktion» bzw. einen intendierten Zweck eines Artefakts. Diese Funktion war auch damals schon abhängig von der formalästhetischen Erscheinung, weil sich letztere darauf auswirkt, ob und wie ein Gegenstand in einem bestimmten Anwendungskontext verstanden und benutzt wird. Dieses Zusammenspiel wurde in später entstandenen Designansätzen daher auch nicht mehr in erster Linie aus der instrumentellen Funktion heraus bestimmt, sondern auch z.B. aus den symbolischen Bedürfnissen nach Status und Repräsentation. So lässt sich besonders die deutsche Entwicklung als eine Schwerpunktverschiebung deuten: vom Fokus auf die Nützlichkeit im Funktionalismus, über die Betonung der Begehrlichkeit der Objekte als Produkte, hin zur Orientierung an ihrer Gebrauchstauglichkeit1 . Diese historische Entwicklung kann man als eine Veränderung der Gegenbegriffe zum Begriff der «Form» im Design beschreiben2 . Drei dieser jeweiligen Gegensatzpaare, die für Design und Gebrauch besonders prägend waren und sind, möchte ich hier aufgreifen: Form und Funktion, Form und Kontext sowie Form und Medium. Diese drei Gegenüberstellungen sind nicht vollkommen unabhängig voneinander oder überschneidungsfrei. In der analytischen Abgrenzung werden die Implikationen von funktionsorientierter, kontextorientierter und medienorientierter Haltung für das Design jedoch deutlicher. Zugleich soll der Vergleich klar machen, dass wiederum das Setzen anderer Gegenbegriffe zur Form andere Gestaltungsstrategien zur Folge

1 | Der Vorschlag, die drei Aspekte «usable, desirable and useful» als Anhaltspunkte für die Entwicklung von Produkten zu nehmen, macht Buchanan im Zusammenhang mit dem Vorschlag, den Zweck von Designobjekten in der Ausbildung früh zu thematisieren. Siehe Richard Buchanan. «Design Research and the New Learning». In: Design Issues 17.4 (1999), S. 3–24, S. 13. 2 | Siehe Gustel Barth und Wolfgang Jonas. «Innovative Gestaltung von Elektromobilität – Conversion Design, Purpose Design oder Transformation Design?» In: Das Elektroauto. Hrsg. von Stephan Rammler und Marc Weider. Berlin: Lit, 2011. Kap. 5, S. 57–80.

Von der Funktion zum Medium | 11

haben kann. Die drei genannten stehen dabei zunächst stellvertretend für wichtige und immer noch einflussreiche Umgangsweisen mit Gebrauch: Der funktionsorientierten, der benutzerorientierten und der gesellschaftsorientierten. 2.1.1 «Form» und Funktion: Früher deutscher Funktionalismus Die Differenzierung in Produktion und Gestaltung, die im Zuge der Industrialisierung geschah, hat mit dazu beigetragen, dass Design als eigene Profession entstanden ist. Sie vergrößerte gleichzeitig den Abstand zwischen der Gestaltung und dem Gebrauch von Gegenständen, bei der die Designer und Produzenten nicht identisch mit den Benutzern sind. In der Frühphase waren Designer allerdings noch überwiegend mit der Form und Ästhetik massenproduzierter Alltagswaren betraut3 . Sie bezogen sich auf den existierenden Gebrauch bestenfalls informell und auf Grundlage eigener Erfahrungen, etwa indem sie existierende Umgangsweisen aufgriffen. Die Form des Gegenstands wurde lediglich angepasst, um eine ästhetisch ansprechende Erscheinung auch bei industrieller Produktionsweise sicherzustellen, und nicht so sehr, um die Handhabung zu verändern. Designklassiker aus der Zeit des Bauhauses demonstrieren den innovativen Einsatz von neuen Produktionstechniken für Gebrauchsgegenstände – wie etwa der Wassily Chair, Wagenfelds Tischlampen oder Teekessel –, übernehmen aber den Gebrauch dieser Produkte in der Regel von den Vorläufern. «Benutzer» wurden als eine Art statistische Größe einbezogen, die individuelle Unterschiede weitgehend ausblendete. Die allgemeingültige «gute Form» orientierte sich vielmehr an einer idealen Passung der «Funktion» eines Gegenstands und seiner «Form»4 .

3 | Das Problem der industriellen Form – in Abgrenzung zur handwerklichen Formgebung – trat im Zusammenhang mit Massenproduktion auf. In Deutschland kann der 1907 gegründete Werkbund als frühe Interessenvertretung der späteren Designer verstanden werden, die sich damit bereits von Ingenieuren und Künstlern beginnen abzugrenzen. Auch wenn industrielle Produktion per se einen formalen Reduktionismus und Funktionalismus nicht erfordert, entsteht dennoch eine «Maschinenästhetik», die einen hohen Gebrauchswert suggeriert. Siehe Gert Selle. Die Geschichte des Designs in Deutschland von 1870 bis heute. Entwicklung der industriellen Produktkultur. 3. Auflage (1981). Köln: DuMont, 1978, S. 62-66. 4 | Michl stellt dar, wie diese quasi-objektivierte, moderne Vorstellung der «Funktion» eines Gegenstands transzendentale Züge annimmt und unabhängig von Gegenstand und Gebrauchskontext betrachtet wird. Siehe Jan Michl. «Form follows what? The modernist notion of function as a carte blanche». In: Magazine of the Faculty of Architecture & Town Planning 1.50

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Diese Vorstellung prägte den Funktionalismus der Moderne und zum Teil auch die frühe Produktsemantik, die im Umfeld der Hochschule für Gestaltung Ulm entstand. Die Produktästhetik, die sie hervorbrachte, war häufig reduziert, funktionalistisch und kommunizierte durch diese Formgebung ein hohes Ausmaß an Gebrauchstauglichkeit. Nicht immer war der Gebrauch jedoch so praktisch, wie es das Produkt versprach: Viele funktionalistische Designgegenstände, von Haushaltswaren über Möbelstücke bis zu Gebäuden, wurden später für ihre mangelnde Benutzbarkeit mehrfach kritisiert5 . Trotz späterer Entwicklungen, die diesen strengen Funktionalismus relativierten, ist die Orientierung am instrumentellen Nutzen im Design nach wie vor zentral, der dann konzeptionell häufig immer noch vom formalen Ausdruck unabhängig betrachtet wird. Zudem sind in der Produktentwicklung bis heute ästhetische und emotionale Qualitäten eines Gegenstands leichter durchzusetzen, wenn sie sich günstig auf den instrumentellen Nutzen auswirken, z.B. die Gebrauchstauglichkeit eines Benutzerinterface verbessern. Aufgrund der starken Einflüsse des Bauhaus und der HfG Ulm fand eine deutliche Umorientierung des Designs über die instrumentelle Funktion hinaus erst in den 1970er Jahren statt. Seit dieser Zeit sind der Gebrauch und die symbolische Bedeutung von Gegenständen als Erfolgskriterien wichtiger geworden und werden seither von Designerinnen bewusst studiert6 .

(1995), S. 20–31, Ungeachtet dessen scheint die objektivierte Auffassung von Funktion oder Zweck im techniknahen Design immer noch geläufig. 5 | Ein klassisches und wiederkehrendes Beispiel hierfür liefern die Flachdächer der BauhausArchitektur, die offensichtlich notorisch undicht waren. Inakzeptabel war für die Kritiker die offensichtliche Dysfunktionalität mancher Bauhaus-Entwürfe, die im Kontrast zur Ideologie eines rational begründeten Funktionalismus stand. So spottet Rudolf Schwarz: «Es ist ein ergreifender Anblick, wenn ein Baumeister endlich, endlich seinen Glaswürfel bekommt, mag auch der Vorwand dazu ein Fabrikbau sein, und es ist beruhigend und beinahe metaphysisch notwendig, wenn es ihm von oben hereinregnet und das Ganze als Treibhaus funktioniert. Dabei ist kein Arg und Falsch, er soll nur nicht behaupten, dass sich dieser Glaswürfel funktionalistisch ausrechnen lasse» (Ulrich Conrads u. a., Hrsg. Die Bauhaus-Debatte 1953. Dokumente einer verdrängten Kontroverse. Braunschweig: Vieweg, 1994, S. 44). Tom Wolfe, der den BauhausStil als eine Art Ersatzreligion porträtiert, konstatiert: «Es ist sowieso schwer vorstellbar, wo ein solches Gebäude überhaupt als funktional angesehen werden könnte – außer in der Gemalten Wüste von Arizona» (Tom Wolfe. Mit dem Bauhaus leben. 2. Auflage. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, 1986, S. 24). 6 | Exemplarisch hierfür ist die Diskussion symbolischer Gestaltung auf der Grundlage von Wahrnehmungspsychologie und Psychoanalyse bei Jochen Gros, der die «emotionale Gestal-

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2.1.2 «Form» und Kontext: Vom technologieorientierten zum benutzerorientierten Design Das wieder aufflammende Interesse an formal-ästhetischen Variationen jenseits der Gebrauchstauglichkeit war einerseits eine Reaktion auf die puristische Funktionsästhetik der Moderne7 . Andererseits traf sie mit der zunehmend prominenten Rolle der Marktforschung im Design zusammen, die zum Ziel hatte, den Verkaufserfolg neuer Produkte zu befördern. Designer betrachteten hierbei die Benutzer vordergründig in ihrer Rolle als Kunden und Verbraucher. Im technischen Design kam der Mensch als Benutzer besonders dann ins Spiel, wenn es um die Gestaltung von Bedienoberflächen für komplexe Geräte ging. Bei professionell eingesetzten Maschinen konnten technische Designer lange voraussetzen, dass der Aufwand, sich in die Bedienung einzuarbeiten, durch den Nutzen eines Geräts gerechtfertigt war. Die technische Usability, die Gestaltungsrichtlinien für technische Interfaces entwickelt hat, widmet sich darin häufig der angemessenen Aufteilung der Arbeitsschritte zwischen Mensch und Maschine, um körperliche und kognitive Belastungen für die Nutzer zu vermeiden. Diese Abwägungen waren gerade in kritischen Arbeitsumgebungen wie Flugzeugcockpits oder Kontrollräumen von Atomkraftwerken sinnvoll, wo Fehler in der Bedienung unabsehbare Folgen haben können. Benutzer wurden in diesem Zusammenhang zunächst als menschliche (unzuverlässige) Erweiterungen der Maschinen behandelt, gleichzeitig aber in ihren Bedürfnissen und Kompetenzen beim Design stärker berücksichtigt, als dies in funktionalistischen Designansätzen der Fall war.

tung» gleichzeitig in direkter Abgrenzung zum Funktionalismus formuliert. Siehe Jochen Gros. «Dialektik der Gestaltung». Stuttgart, 1971. In ähnlicher Manier schlägt Bernhard Bürdek eine «humane» Version des Funktionalismus vor, der sich nicht mehr nur am reinen Gebrauchszweck, sondern am Kontext orientiert. Siehe Bernhard E Bürdek. «Vom Mythos des Funktionalismus. Einleitung». In: Vom Mythos des Funktionalismus. 3. Auflage. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 1997. Kap. 1, S. 7–16. 7 | Ein Beispiel hierfür sind die verspielt gestalteten Objekte der Gruppe Memphis, die Dekoration als radikales Element der Gestaltung einsetzen, um Materialien und Formen jenseits ihrer bekannten Bedeutungen für neue Interpretationen zu öffnen. Siehe Barbara Radice. Memphis. Research, experiences, results, failures and successes of new design. Mailand: Gruppo Editoriale Electra, 1984, S. 67.

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Seit den 1980er Jahren wurde die technische Usability zusehends durch andere Disziplinen wie Psychologie, Anthropologie und Soziologie beeinflusst8 . Gleichzeitig erweiterte sich der Nutzerkreis für komplexe technische Systeme und Computer über das technisch geschulte Personal der Anfangszeit hinaus auf Leute, die selbst keine ausgebildeten Techniker waren. Technische Designer von Computersystemen suchten daher Mittel und Wege, um ihre Systeme für technische Laien einfacher zugänglich und verständlich zu machen und in den Arbeitsalltag z.B. von Verwaltungsangestellten zu integrieren. Aus der interdisziplinären Zusammenarbeit von Ingenieuren, Sozialforschern und Designern erwuchs das Methodenfeld des benutzerorientierten Designs, in dem neben klassischen quantitativ-statistischen Messungen auch qualitative Beobachtungs- und Auswertungsmethoden etabliert wurden. Die Kognitionspsychologie bildete hier eine Brücke zwischen der frühen mechanischen und der späteren kognitiven Ergonomie. Mit dieser Entwicklung wurde der reibungslose Gebrauch zu einem weiteren wichtigen Kriterium für Designprodukte, neben den Anforderungen an Technik, Produktionsweise und formalen Ausdruck. Diese stärkere Verschränkung von sozio-kultureller Bedeutung von Produkten und technischen Interfaces mit der Gebrauchstauglichkeit macht den Bereich technischer Usability für Designer schrittweise zugänglicher. Das ästhetische Erleben hat als Kriterium für gute technische Interfaces den Blick auf die Effizienz vielleicht nicht verdrängt, aber doch relativiert9 . Die Notwendigkeit der gebrauchstauglichen Gestaltung wurde noch deutlicher mit der weiteren Verbreitung von Computern in private Nutzungsbereiche. Für Computer als Inbegriff der «black box», aus deren äußerer Erscheinung sich die inneren Abläufe nicht mehr ablesen lassen, war eine gestalterische Vermittlung der «Funktion» wie man sie für einfache Industrieprodukte zuschrieb, kaum noch umsetzbar. Der Anspruch, Gegenstände «selbsterklärend» zu gestalten, hängt hierbei stark von den Anwendern und der Anwendungssituation ab. Diese Besonderheit bietet zugleich neue Möglichkeiten, den Gebrauch und die Erscheinung von Computern symbolisch und metaphorisch auf die jeweilige Situation anzupas-

8 | Diese Einflüsse sind durch die interdisziplinäre Arbeit im benutzerorientierten Design auch in der Designmethodik spürbar. Siehe Nigan Bayazit. «Investigating design: A review of forty years of design research». In: Design Issues 20.1 (2004), S. 16–29. 9 | Dies schlägt sich in Usability-Kriterien wie «joy of use» bzw. den «hedonischen Aspekten» eines Interface nieder. Siehe Marc Hassenzahl und Noam Tractinsky. «User experience - a research agenda». In: Behaviour & Information Technology 25.2 (2006), S. 91–97; Marc Hassenzahl u. a. «Hedonic and ergonomic quality aspects determine a software’s appeal». In: Proceedings of the SIGCHI conference on Human Factors in Computing Systems. CHI ’00. New York: ACM, 2000, S. 201–208.

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sen. Hier gibt es Parallelen zwischen Usability in der Mensch-Maschine-Interaktion (MMI) und Produktsemantik im Design: Für beide ist die Bedeutung von Gegenständen im Gebrauch wichtig, wenn auch die MMI mehr auf die Gebrauchssituation, die Produktsemantik mehr auf den Gegenstand schaut. 2.1.3 «Form» und Medium: Gegenstände als normative Ausdrucksformen sozialer Beziehungen Der Blick auf den Anwendungskontext eines Gegenstands ist mittlerweile zum festen Bestandteil anspruchsvoller Entwicklungsprozesse in Design und MMI geworden. Darüber hinaus hat sich das benutzerorientierte Design auch zunehmend dem sozialen und kulturellen Kontext des Gebrauchs gewidmet. Zweckorientierte Gestaltung wird in diesem Zusammenhang als soziokulturelle – und damit auch politische – Handlung verstanden. Demnach repräsentieren Gegenstände normativ einen bestimmten Wertekanon, ob bewusst beabsichtigt oder implizit. Damit sind sie nicht mehr nur nützlich, schön oder gut bedienbar, sondern auch Medien gesellschaftlicher Kommunikation10 . Durch diese Perspektivverschiebung kommen mehr als das Produktdesign andere Designrichtungen zum Tragen, wie z.B. das Service Design oder Interface Design. Der Blick auf die sozialen Folgen von Design und die soziale Dynamik von Gestaltungsprozessen lässt sich teilweise in den Wertekonflikten verorten, die durch die Auswahl und Beobachtung von «Nutzergruppen» oder «Kundensegmenten» entstehen. Wo der moderne Universalismus mithilfe von statistischen Mittelwerten die Möglichkeit postulierte, alle Menschen gleich gut versorgen zu können, unterscheidet das benutzerorientierte Design nach Bedürfnissen und Vorlieben, so dass im Extremfall die Unterscheidung von Nutzergruppen erst die Bedürfnisse zu produzieren hilft, die sie vorgibt zu bedienen11 . Das systematische Konstruieren unterschiedlicher Anwendungskontexte dient nicht nur der Optimierung von gestalteten Dingen, sondern auch dem Aufspüren neuer Marktsegmente.

10 | Friedrich W. Heubach hat dies die «heraldische Funktion» der Dinge genannt und anhand von Latzhosen illustriert, wie materielle Dinge mit Weltanschauungen verbunden sind. Siehe Friedrich W Heubach. Das bedingte Leben. Theorie der psycho-logischen Gegenständlichkeit der Dinge. 2. Auflage. München: Wilhelm Fink Verlag, 1996, S. 134-140. 11 | Wolfgang Jonas beschreibt diese Rolle von Design als Beschleuniger in einem Marktkreislauf als den «need for need», der mittlerweile vom «need for orientation» abgelöst werde: Design erfüllt dann die Rolle als Helfer in der Sinnsuche. Siehe Wolfgang Jonas. «Forschung durch Design». In: Swiss Design Network Symposium. Basel: HGK Basel, 2004.

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Die Kritik an der effizienzorientierten traditionellen Usability hat dafür gesorgt, dass der Umgang mit Gegenständen nun als ganzheitliche Erfahrung betrachtet wird, die soziales und emotionales Erleben mit umfasst. Wer im Designprozess die Definitionsmacht über die Gestaltungsfrage hat, hat auch bedeutenden Einfluss auf die Werte, die durch das Designprodukt vermittelt werden. MMI-Forscher haben zudem darauf hingewiesen, dass sich mit den Methoden zur Gestaltung der Interfaces auch die Werte und Kriterien aus der Arbeitswelt ins Private ausgebreitet haben und Designer so Gefahr laufen, auch Freizeitanwendungen allzu effizient zu gestalten12 . Andererseits ist es benutzerorientierten Ansätzen zu verdanken, wenn kleine, hoch spezialisierte Benutzergruppen systematisch als Hauptanwender angesprochen und in ihren Bedürfnissen und Werten gewürdigt werden. In diesem Sinne stellen Designansätze wie partizipatives Design und «universal design», die verstärkt die sozialen und politischen Umstände in der Gestaltung und im Gebrauch in ihre Vorgehensweise einbeziehen, eine konsequente Zuspitzung des benutzerorientierten Ansatzes dar. Dieser Perspektivwechsel weg von einem festgesetzten Zweck und Anwendungskontext hin zu Problem und Zweck als soziale Verhandlungssache äußert sich besonders in zwei verwandten Ansätzen in Design und MMI, dem partizipativen und dem kritischen Design. Der Einfluss der Gegenstände als Teilnehmer und vermittelnde Instanzen in der Kommunikation erfordert zum einen, dass die Problemdefinition bewusst zum Teil des Designprozesses gemacht wird. Dies ist im partizipativen Design der Fall. Zum anderen werden in der MMI selbst Zweckorientierung und Effizienz als bestimmende Werte hinterfragt, und im Zusammenhang damit auch die Autorität von Gestaltern, die Zweckmäßigkeit maßgeblich zu bestimmen. Diese Sichtweise herrscht im kritischen Design vor, das als experimenteller Ansatz in der MMI an ältere kritische Designbewegungen – wie etwa Memphis – bewusst anknüpft13 . Die Sicht auf den Gebrauch ändert sich dadurch insofern, dass ein Gebrauchszweck nun gesellschaftlich dekonstruiert werden kann, sowohl im Design als auch im Gebrauch. Die Abgrenzung des professionellen Designers zum Design-Laien löst

12 | Susanne Bødker beschreibt diesen Bruch zwischen Methoden und Ansätzen aus dem Arbeitsumfeld und der zunehmenden Verbreitung von Computern als Konflikt zwischen der zweiten und dritten «Welle» in der MMI. Siehe Susanne Bødker. «When second wave HCI meets third wave challenges». In: Proceedings of the 4th Nordic Conference on Human-computer Interaction: Changing Roles. NordiCHI ’06. New York: ACM, 2006, S. 1–8. 13 | Kritisches Design zielt auf den gesellschaftlichen Diskurs ab und ließe sich damit nach Klaus Krippendorffs Charakterisierung als «designing the design discourse» beschreiben, und als Versuch, die Grenzen der Disziplin anders zu ziehen. Siehe Klaus Krippendorff. The Semantic Turn. A new foundation for design. Boca Raton: Taylor und Francis, 2006, S. 37.

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sich dadurch zusehends auf. Bei dieser Entwicklung machen sich, ähnlich wie schon beim benutzerorientierten Design, interdisziplinäre Einflüsse aus der (Technik- und Wissenschafts-)Soziologie sowie der Anthropologie bemerkbar. Ziel ist nicht mehr, durch bloße Beobachtung den existierenden Gebrauch als Handlungsroutine um jeden Preis aufrechtzuerhalten, sondern Handlungsalternativen aufzuzeigen und zu verhandeln. Gestaltete Gegenstände sind nicht nur Materialien zum Gebrauch, sondern Materialien zur Veranschaulichung anderer Werte und Wirklichkeiten, die nicht den autoritativen und endgültigen Charakter von finalisierten Designprodukten haben. Demokratisches Design Demokratische Ansätze zur gemeinschaftlichen Problemdefinition haben ihren Ursprung in den 1980er Jahren in Skandinavien14 . In gewerkschaftlich geförderten Aktivitäten wurden Arbeiter als Benutzer der zukünftigen Maschinen aktiv in die Gestaltung einbezogen. So hat die Einführung von Computern am Arbeitsplatz zu Umwälzungen in der professionellen Arbeit (z.B. von Journalisten und Schriftsetzern) geführt, die eine Neuorganisation bestehender Arbeitspraxen erforderten15 . Bei derartigen Gestaltungsproblemen traten die Interessenskonflikte beteiligter Parteien besonders deutlich zutage. Die Delegation von Designkompetenz an die Benutzer und in den Gebrauch war in diesen Fällen der politischen Gleichbehandlung geschuldet. Seitdem wurden diverse Methoden entwickelt, um spätere Benutzer zu aktiven Mitgestaltern im Designprozess zu machen16 . Demokratisches Design wurde mittlerweile auch auf diverse Designbereiche ausgeweitet, in denen der egalitäre Anspruch weniger dringlich erscheint als vielmehr

14 | Das UTOPIA-Projekt kann hier als eine der ersten oder zumindest bekanntesten Studie zu partizipativen Methoden gelten (Susanne Bødker u. a. Co-operative design: Perspectives on 20 years with the Scandinavian IT design model. Techn. Ber. Stockholm: Centre for User Oriented IT Design, 2000). Der Schwerpunkt auf der Demokratisierung unterscheidet laut Judith Gregory den skandinavischen Ansatz von anderen partizipativen Ansätzen (Judith Gregory. «Scandinavian approaches to participatory design». In: International Journal of Engineering Education 19.1 [2003], S. 62–74). 15 | Bødker u. a., a. a. O. 16 | Siehe z.B. Elizabeth B Sanders. «Information, Inspiration and Co-creation». In: Design System Evolution. Proceedings of the 6th European Academy of Design Conference. Bremen: European Academy of Design, 2005.

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die Einbeziehung von Benutzern als Experten ihrer Lebenswelt17 . Professionelle Designer sehen sich dann vor allem in einer vermittelnden und ermöglichenden Rolle, in der sie Benutzern helfen sollen, ihre latenten Bedürfnisse in unterschiedlichen Medien auszudrücken (visuell, haptisch, verbal, performativ)18 . Um die Benutzerbeteiligung am Design über den eigentlichen Designprozess hinaus auszudehnen, wird die nachträgliche Anpassung und Personalisierung darin häufig schon angelegt, als eine Art «design for design after design»19 . Darin wird dem professionell gestalteten Produkt die Rolle einer Infrastruktur zugesprochen, die für die spätere Anpassung und den Ausbau im Gebrauch angelegt ist. «Kritisches Design» und «Affective Computing» Im kritischen Design ist ähnlich wie im Affective Computing das persönliche Erleben mit seinen emotionalen und moralischen Widersprüchlichkeiten das Motiv, auf dessen Grundlage die Benutzer in den Designprozess einbezogen werden. Kritisches Design verortet seine Einflüsse in der Kunst und beabsichtigt, Einfluss auf den öffentlichen Diskurs zu nehmen, während im Affective Computing zudem eine starke Beziehung zur MMI-Forschung deutlich wird20 . Charakteristisch für beide ist, dass gestaltete Gegenstände keinen eindeutigen Gebrauchszweck kommunizieren, sondern rätselhaften oder spielerischen Charakter haben und so die persönliche Aneignung der Benutzer anregen sollen. Die effizienzorientierte klassische Usability wird hinterfragt durch die Weigerung, Gegenstände instrumentell zu gestalten. «Kritisches Design» als Begriff für experimentelle Designpraktiken geht maßgeblich auf Anthony Dunne zurück, der sich in seinen Arbeiten auf die kritische Theorie

17 | Elizabeth B Sanders und Colin T William. «Harnessing People’s Creativity: Ideation and Expression through Visual Communication». In: Focus Groups: Supporting Effective Product Development. Hrsg. von J Langford und D McDonagh-Philip. London: Taylor und Francis, 2001. Kap. 10, S. 145–156. 18 | Sanders, a. a. O. 19 | Pelle Ehn. «Participation in Design Things». In: Proceedings of the Tenth Anniversary Conference on Participatory Design 2008. PDC ’08. Indianapolis: Indiana University, 2008, S. 92–101. 20 | Gemeinsam ist beiden Feldern, neben einigen Inspirationsquellen und theoretischen Einflüssen, vor allem die kritische Grundhaltung. Siehe Matthew Malpass. «Contextualising critical design: Classification of critical design practices». In: Design Connexity. Proceedings of the 8th European Academy of Design Conference. European Academy of Design, 2009, S. 289– 293.

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der Frankfurter Schule bezieht. Die Kritik des kritischen Design bezieht sich auf die impliziten – in der Regel positiven – Werte von Industrieprodukten, die idiosynkratische oder sozial tabuisierte Bedürfnisse vernachlässigten21 . Gestaltete Gegenstände werden stattdessen als illustrierende Ausstattung für alternative Bedürfnisse und Nutzungsszenarien verwendet. Der bewusste Abstand des kritischen Design zur industriellen Produktion und dessen Nähe zur Kunst kann als Verweigerungsversuch gegenüber der Vereinnahmung von Design durch den Markt verstanden werden. Das «Produkt» des kritischen Design ist die gelungene Debatte über die möglichen gesellschaftlichen Folgen von Wissenschaft, Design und Technik22 , nicht der industriell hergestellte Gegenstand23 . Affective Computing teilt einige Grundannahmen mit dem kritischen Design, wie z.B. die Verankerung in der kritischen und feministischen Theorie, und den Einsatz von experimentellen, zweckfrei angelegten Gegenständen und Anwendungen. «Reflective HCI» und «critical technical practice» wurden als Gegenbegriffe zu einer stark positivistisch-naturwissenschaftlichen Arbeitsweise in der MMI und Künstliche-Intelligenz-Forschung (KI) angeführt, um die Reflexion der eigenen Grundannahmen als notwendigen Bestandteil der Forschungspraxis zu propagieren24 . Das Erkenntnisinteresse liegt stärker auf der aktiven Bedeutungskonstruktion der Be-

21 | Anthony Dunne. Hertzian Tales. Electronic Products, Aesthetic Experience, and Critical Design. London: RCA Computer Related Design Research, 1999, S. 21-22. 22 | Das ist ein ehrgeiziges Ziel. Die Auseinandersetzung damit, ob es tatsächlich erreicht wird, findet mittlerweile auch unter kritischen Designern statt. Siehe Tobie Kerridge. «Does speculative design contribute to public engagement of science and technology?» In: Proceedings of the Swiss Design Network Symposium 2009. Hrsg. von Polly Bertram und Massimo Botta. Lugano: Swiss Design Network, 2009, S. 208–224. 23 | Die Grenzen sind hier allerdings fließend, und nicht alle Designer, die eine kritische Haltung praktizieren, halten sich deswegen völlig vom «Mainstream» fern. Kritisches Design wird inzwischen auch als experimentelle Methode für die partizipative spekulative Produktentwicklung eingesetzt. Siehe Simon J Bowen. «Crazy ideas or creative probes? Presenting critical artefacts to stakeholders to develop innovative product ideas». In: Dancing with Disorder: Design, Disclosure & Disaster. Proceedings of the 2007 European Academy of Design Conference. Izmir: European Academy of Design, 2007. 24 | Philip E Agre u. a. «Toward a critical technical practice: Lessons learned in trying to reform AI». In: Bridging the Great Divide: Social Science, Technical Systems, and Cooperative Work. Hrsg. von Geof Bowker u. a. Erlbaum, 1997, S. 131–158; Phoebe Sengers u. a. «Reflective design». In: Proceedings of the 4th Decennial Conference on Critical Computing: Between Sense and Sensibility. CC ’05. New York: ACM, 2005, S. 49–58; Paul Dourish u. a. «Reflective

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nutzerinnen, sowohl auf individueller als auch auf sozio-kultureller Ebene. Die an Mehrdeutigkeit und Affekten orientierten Forschungspraktiken der «dritten Welle» in der MMI kritisieren damit den instrumentellen Blick der traditionellen Usability auf Affekt und Emotion als diskret messbare, quantifizierbare Daten25 und die damit verbundene vermeintliche Objektivität der Ergebnisse. Interface-Entwicklung, die auf eine effiziente Aufgabengestaltung abzielt, könnte demnach zur Verfestigung von sozialen Rollenklischees führen, statt Raum für Alternativen herzustellen26 . In dem Maße, wie das persönliche Erleben und das soziokulturelle Umfeld in das Zentrum des Interesses rücken, ist es nicht mehr möglich, die Bedeutung eines Gegenstands im Designprozess allein festzulegen. Auch deswegen ist die Delegation von Design an den Benutzer nicht nur wünschenswert, sondern notwendig, weil die Bedeutung eines Produkts erst im Gebrauch zugeschrieben wird. Kritische Designpraxis und affective computing weisen hier deutliche Bezüge zum partizipativen Design auf, in dem es auch darum geht, das Auge der Benutzer für alternative Wirklichkeiten zu schulen27 .

HCI: Towards a Critical Technical Practice». In: CHI ’04 Extended Abstracts on Human Factors in Computing Systems. CHI EA ’04. New York: ACM, 2004, S. 1727–1728, Siehe. 25 | Susanne Bødker stellt die Entwicklung der MMI von der ersten zur zweiten Welle als Übergang von den stark an der Ergonomie orientierten «human factors» zur Orientierung an den Benutzern in ihrem sozio-kulturellen Umfeld dar. Der Übergang zur dritten Welle ist laut ihrer Darstellung durch das Interesse an Affekt und Erleben zustande gekommen, das durch die Verbreitung von Computern in den privaten Nutzungsbereich aufkam. Siehe Bødker, a. a. O.; siehe auch Kirsten Boehner u. a. «Affect: From information to interaction». In: Proceedings of the 4th Decennial Conference on Critical Computing: Between Sense and Sensibility. CC ’05. New York: ACM, 2005, S. 59–68. 26 | Besonders deutlich wird dies bei konventionellen Geschlechterrollen, die durch technologische Gegenstände gefestigt oder durch «kritische» Verfremdungsstrategien hinterfragt werden (Genevieve Bell, Mark Blythe und Phoebe Sengers. «Making by making strange: Defamiliarization and the design of domestic technologies». In: Transactions on Computer-Human Interaction 12.2 [2005], S. 149–173). Ein deutliches Beispiel für die Wirksamkeit semantischer Umkehrung findet man bei Ehrnberger (Karin Ehrnberger, M. Räsänen und Sara Ilstedt. «Visualising gender norms in design: Meet the Mega Hurricane Mixer and the drill Dolphia». In: International Journal of Design 6.3 [2012], S. 85–94). 27 | Dabei kann es z.B. darum gehen, Benutzern die kritische Auseinandersetzung mit einer neuen Technologie zu ermöglichen und zu erleichtern. Siehe z.B. Carl DiSalvo u. a. «Local issues, local uses: tools for robotics and sensing in community contexts». In: C & C ’09: Pro-

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2.1.4 Zusammenfassung Im Hinblick auf Design und Gebrauch wurde der Blick auf das, was im Designprozess in Form gebracht werden soll, im Laufe der Geschichte immer weiter gefasst. Das klassische Industriedesign konnte sich noch auf die Abstimmung von Form und Funktion berufen, ohne dass die Funktion selbst als Teil des Designs infrage gestellt werden musste. Die Abgrenzung von Form und Kontext setzt bereits voraus, dass die «Funktion» oder Zweckmäßigkeit eines gestalteten Gegenstands auch von den späteren Benutzern mit beeinflusst wird. Besonders deutlich und direkt wird dieser Einfluss in der Verbindung zwischen der Form eines Gegenstands und dessen Verständnis als Medium sozialer Kommunikation, bei der Designer die Kontrolle über die Bedeutung des gestalteten Gegenstands weitgehend mit den aktiven, kritischen Nutzern teilen müssen. Je mehr soziale und kulturelle Einflüsse für Designer eine Rolle spielen, desto komplizierter wird deren Arbeitsbereich. Die Gestalter erhalten so nach und nach mehr Möglichkeiten, ihre professionelle Autorität dialogisch mit anderen Akteuren zu teilen. Das Gestalten für den Gebrauch wirft dann die Frage nach der Kompetenzverteilung zwischen Designerinnen und Benutzerinnen auf. Wie diese theoretisch konzipiert und praktisch geregelt wird, lässt Schlüsse darüber zu, wie Design als Fähigkeit beurteilt wird, und wer sich im Prozess aktiv daran beteiligt.

2.2 D ESIGN -KOMPETENZ

UND

D ESIGN -V ERANTWORTUNG

Die Differenzierung, die im Design in den letzten Jahrzehnten geschehen ist, erlaubt es, dass die Grenze zwischen Design und Gebrauch heute weniger vehement gezogen wird als in der Vergangenheit. Personalisierbare Produkte und Co-Design-Prozesse tragen sichtbar zur Vermischung beider Bereiche bei. Doch gerade dann, wenn sich die Designtätigkeit nicht mehr ohne weiteres anhand eines Arbeitsumfelds oder eines Zeitabschnitts in der Existenz eines Gegenstands beschreiben lässt, ist es interessant zu sehen, was nunmehr als Gestaltung gewertet wird, und was als Gebrauch. Je mehr beide Teile als miteinander verbunden wahrgenommen werden, desto mehr ist es notwendig und wünschenswert, Designkompetenzen in den Gebrauch zu delegieren: Weil professionelle Designer faktisch nach der Produktion eines Gegenstands nur

ceeding of the seventh ACM conference on Creativity and Cognition. New York: ACM, 2009, S. 245–254.

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noch wenig Einfluss auf das Produkt ihrer Arbeit haben, müssen sie die Nutzerinnen befähigen, selbstständig gestalterisch einzugreifen. In der Fülle von Designansätzen und -methoden können wir zumindest drei Konzeptionen in der Beziehung von Design und Gebrauch identifizieren: Die einer starken Trennung zwischen beiden, die einer schwachen Trennung, und die einer kontinuierlichen Verbindung. Je nachdem, wie stark Design und Gebrauch darin verbunden sind, desto notwendiger und wünschenswerter erscheint eine Delegation von Design28 . Die Unterschiede zwischen den Ansätzen liegen in der jeweiligen Definition von «Design» begründet, die sich jeder Position zuordnen lässt29 . Um den unterschiedlichen Vorstellungen von Design und vor allem auch von Gebrauch näher zu kommen, werfe ich zunächst einen Blick auf die sprachlichen Konzeptionen von Design als Tätigkeit. Hiervon gibt es etliche unterschiedliche, von denen ich zwei kontrastierende hervorheben möchte. Im alltäglichen Sprachgebrauch bezeichnen professionell ausgebildete Designerinnen damit ihren Arbeitsbereich, der – oftmals entgegen dem eigenen Anspruch – häufig immer noch die formalästhetischen Korrekturen am Ende des Konstruktionsprozesses umfasst. Gerade in der Verwendung auf Englisch geht die Bedeutung des Begriffs aber weit darüber hinaus und umfasst planerische professionelle Eingriffe im Allgemeinen. Diese Bedeutung geht auf eine viel zitierte Definition von Herbert Simon zurück: «Engineers are not the only professional designers. Anyone designs who devises courses of action aimed at changing existing situations into preferred ones. The intellectual activity that produces material artifacts is no different fundamentally from the one that prescribes remedies for a sick patient or the one that devises a new sales plan for a company or a social welfare policy for a state30 .»

Simons Definition ist sehr umfassend und bezieht neben z.B. Produktdesign weitere Professionen mit ein. Dadurch wird die Grenze von professionellem Design und professionellem Gebrauch bereits weiträumiger gezogen. Die «kleine» und die «große» Beschreibung von Design bieten sehr unterschiedliche Anhaltspunkte dafür, was die professionelle Kompetenz von Designern letztlich ausmacht. Aus der methodischen 28 | Siehe auch Abschnitt 2.5.2. 29 | Obwohl auch hier eine Dreiteilung vorliegt, gibt es keine direkte Entsprechung mit den Formabgrenzungen zu Funktion, Kontext und Medium. Inwiefern die eine Dreiteilung mit der anderen vereinbar oder deckungsgleich ist, muss zu anderen Gelegenheiten geklärt werden. 30 | Herbert A Simon. The Sciences of the Artificial. 3. Auflage. Cambridge: MIT Press, 1996, S. 111.

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Vorgehensweise und theoretischen Basis, die unterschiedliche Design-Ansätze heranziehen, lässt sich implizit allerdings ablesen, welche Auffassung von Design die Praktizierenden vertreten. Die Methoden erlauben eine Einschätzung darüber, welche Kompetenzen als «aktive» Gestaltung und welche als «passiver» Gebrauch betrachtet werden31 . Die Trennung zwischen beiden ist bei frühen methodischen Ansätzen recht deutlich, bei denen Gestaltung als rationales Problemlösen betrachtet wird. Bei diesen Ansätzen liegt die hauptsächliche Herausforderung für den Designer in einer angemessenen – d.h. möglichst akkuraten und vollständigen – Repräsentation des zu bearbeitenden Problems. Diese Trennung von Design und Gebrauch lässt sich bei neueren Ansätzen nicht aufrechterhalten. Hier ist der zielgerichtete Umgang mit Gegenständen sehr viel enger im Anwendungszusammenhang zu sehen und nicht analytisch davon ablösbar. Darüber hinaus wird die Problemdefinition selbst als Teil des Designprozesses – also der Lösungsgenerierung – betrachtet und nicht als Arbeitsschritt, der vorgelagert werden kann. Eine stark sozialkonstruktivistische Lesart solcher Ansätze verbindet schließlich Design und Gebrauch zu Phasen des gleichen Prozesses. 2.2.1 Starke Trennung: Design als Problemlösen Eine starke Trennung von Design und Gebrauch beruht auf der Annahme, dass der Gebrauch zumindest prinzipiell als Plan repräsentiert werden kann, der unabhängig von der Gebrauchssituation ist. Die Gebrauchshandlung selbst wird in dieser Konzeption nach rationalen Erwägungen nur noch durchgeführt und bei Bedarf an die konkrete Situation angepasst. In dieser Konzeption würde die Intention, einen Nagel in die Wand zu schlagen, zunächst als eine festgelegte Abfolge an Aktionen kognitiv vorliegen, bevor man den Hammer in die Hand nimmt und die einzelnen Aktionen ausführt. Der Gebrauch wäre also eine im Voraus geplante Handlung. Diese Sichtweise steht in enger Verbindung mit der Entwicklung von Computern und künstlicher Intelligenz und dem vorherrschenden Interesse an naturwissenschaftlich fundierten Methoden als Grundlage für die Gestaltung.

31 | Eine detaillierte Ableitung von Design-Auffassungen aus den Ansätzen des benutzerorientierten, partizipativen, nicht-intentionalen und kritischen Design findet sich in Abschnitt 2.6.

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Herbert Simons frühe Position ist beispielhaft für diese Sicht auf Design32 . Sein Anliegen ist, Design als professionelle Praxis durch verlässliche Methoden zu verbessern. Diese sollen den handelnden Akteuren die Möglichkeit geben, trotz unvollständiger Informationen die beste befriedigende Lösung zu identifizieren. Simon schlägt hierzu den Einsatz von Optimierungsmethoden und statistischen Verfahren vor, um reale Probleme zu modellieren und zu repräsentieren33 . Hierin ist Simons Perspektive typisch für große Bereiche der technikorientierten Usability, die in der Modellierung von Nutzerverhalten eine ausreichende Annäherung an reale Situationen sehen. Charakteristisch für diese Haltung ist, dass sie zumindest latent deterministisch ist. Simon ist sich im Klaren darüber, dass in keiner realen Situation alle notwendigen Informationen vorliegen, um zu entscheiden, welche Lösung optimal ist, oder die Akteure so rational urteilen, dass sie eine optimale Lösung als solche erkennen können34 . Simons Hauptaugenmerk liegt jedoch darauf, wie vorhandene Informationen verwendet werden können, um das zu lösende Problem angemessen zu modellieren: «That representation makes a difference is evident for a different reason. All mathematics exhibits in its conclusion only what is already implicit in its premises. [. . . ] Hence all mathematical derivation can be viewed simply as a change in representation, making evident what was previously true but obscure. This view can be extended to all problem solving – solving a problem simply means representing it so as to make the solution transparent35 .»

Nun war es nicht Simons vordergründiges Interesse, computergestützte Modellierung als Repräsentation für Gebrauchsmuster zu etablieren. Seine Absicht war vielmehr, die – realistischerweise begrenzte – menschliche Rationalität zu unterstützen, um mit technischer Hilfe zu besseren und möglichst befriedigenden Planungsergebnis-

32 | Eine solche Unterscheidung in den «frühen» und «späten» Simon lässt sich anhand der unterschiedlichen Ausgaben von «The Sciences of the Artificial» nachvollziehen. Die Aspekte, in denen Simon stellvertretend für den «planning view» steht, bilden hier den Kern. In der zweiten Auflage ergänzt Simon jedoch seine Ausführungen um Anmerkungen, die eine sozialkonstruktivistische Sicht auf die gesamtgesellschaftliche Entwickung ausdrücken. Dieser Vielschichtigkeit bin ich mir bewusst. 33 | Simon, a. a. O., S. 116. 34 | Simon hat hierfür den Begriff der «begrenzten Rationalität» geprägt. Siehe Herbert A Simon. «Theories of bounded rationality». In: Decision and Organization: A Volume in Honor of Jacob Marschak. Hrsg. von C B McGuire und Roy Radner. North-Holland Publishing Company, 1972. Kap. 8, S. 161–176. 35 | Ders., The Sciences of the Artificial, S. 132.

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sen zu kommen. Die Trennung von Design und Gebrauch ist hierfür, ähnlich wie beim Design Methods Movement, ein möglicher Anlass für eine Auseinandersetzung mit Planungsmethoden und -prozessen: Die Verwendung von Computern und statistischen Methoden dient bei Simon noch nicht der kognitiven Repräsentation von Entscheidungs- und Handlungsprozessen, sondern stellt bestenfalls eine Annäherung an diese dar. Der Grund, warum ich ihn an dieser Stelle trotzdem als modellhaft für eine starke Trennung von Design und Gebrauch heranziehen möchte, ist der, dass er explizit beschrieben hat, was später in der KI-Forschung häufig nur noch als implizite Annahme mitschwingt. Simon argumentiert nicht sozialdeterministisch und beschreibt sehr klar die Grenzen der quantitativen Repräsentation von Problemen36 . Er legt aber nahe, dass Statistik und wissenschaftliche Erkenntnisse ein komplexes Problem im Wortsinn berechenbar und damit zumindest teilweise determinierbar machen. Obwohl Simon selbst nicht unterstellt werden sollte, dass er individuelle Entscheidungsprozesse für komplett modellierbar und repräsentierbar hält, besteht hier eine Parallele zwischen seiner Haltung und der latent vorhandenen kognitivdeterministischen Sichtweise in der KI-Forschung für Computer-Interfaces. In dem Maße, wie Simon als Vorreiter der KI-Forschung gelten kann, sind seine Ansätze zur getreuen Repräsentation von Planungsprozessen Teil des Selbstverständnis in der heutigen KI-Praxis37 . Diese Sichtweise kann im Bezug auf die MMI zu der Einstellung führen, dass die Gebrauchssituation im Design nur angemessen repräsentiert werden muss, um Abweichungen im späteren Gebrauch des neuen Interface zu vermeiden. Unvorhergesehene Abweichungen im Gebrauch können als Symptom gewertet werden, dass die Informationen über die Ausgangssituation unzutreffend oder unvollständig waren. Abweichende Gebrauchsweisen sind in dieser Sichtweise keine Gestaltung, sondern eine Reaktion auf eine unzureichende Problembeschreibung.

36 | Siehe z.B. ebd., S. 144-146. 37 | Phil Agre beschreibt dieses Selbstverständnis innerhalb der KI in dem Sinne als generalistisch, als dass die Repräsentation mit dem Repräsentierten gleichgestellt würde, erstere sich aber nur auf die technisch modellierbaren Aspekte eines Problems beziehe: «In an important sense, then, AI is a discursive practice. A word such as planning, having been made into a technical term of art, has two very different faces. When a running computer program is described as planning to go shipping, for example, the practitioner’s sense of technical accomplishment in part depends on the vernacular meaning of the word – a wholly arbitrary neologism would not suffice. On the other hand, it is only possible to describe a program as “planning” when planning is given a formal definition in terms of mathematical entities or computational structures and processes.». Agre u. a., a. a. O., S. 140.

26 | Gebrauch als Design

2.2.2 Schwache Trennung: Design als professionelle Praxis Die Perspektive, wie sie Simon beispielhaft vertritt, wurde in mehrerer Hinsicht später kritisiert: Einerseits wurde darauf hingewiesen, dass Simons Problemlösungsprozess die Problembeschreibung selbst außen vor lasse. Andererseits wurde die symbolische Modellierung von Benutzerverhalten z.B. von Seiten der Anthropologie als unangemessen bewertet im Hinblick auf die Art und Weise, in der kognitive Prozesse von der menschlichen Wahrnehmungsumgebung abhängig seien. Diese Kritikpunkte hatten zur Folge, dass sich die starke Trennung von Design und Gebrauch nicht aufrechterhalten ließ. Die Konsequenz war die Entwicklung von Designmethoden, die den Versuch darstellten, die faktische Trennung von Design und Gebrauch abzumildern. In Simons Beschreibung eines neuen Curriculums für wissenschaftlich fundiertes Design spielt die Zielsetzung, die dem Designproblem zugrunde liegt, noch keine Rolle. Seine Position ist differenziert genug, die potenziellen Schwierigkeiten zu erwähnen, die bei der präzisen Beschreibung sozialer Planungsprobleme auftreten. Zugleich wird in solchen Passagen jedoch sein Vertrauen in die Entscheidungsmacht der professionellen Gestaltungsberufe deutlich: «It may seem obvious that all ambiguities should be resolved by identifying the client within the whole society. [. . . ] But when conflict and uncertainty are present, it is a solution that abdicates organized social control over professionals and leaves it to them to define social goals and priorities38 .»

Bei Simon hat die Problemdefinition den Charakter des Ein- oder Ausschließens von Designvariablen, die sich je nach gesetztem Ziel verändern. Dass die Lage nicht ganz so einfach ist, legen Horst Rittel und Melvin Webber nahe. Soziale Planungsprobleme sind ihrer Position nach «verzwickte Probleme», die notorisch unscharf, standpunktabhängig und ohne klare Erfolgskriterien sind. Sie entzögen sich damit gerade dem Simonschen Bestreben nach Operationalisierbarkeit: «By now we are all beginning to realize that one of the most intractable problems is that of defining problems (of knowing what distinguishes an observed condition from a desired condition) and of locating problems (finding where in the complex causal networks the trouble really lies). [. . . ] As we seek to improve the effectiveness of actions in pursuit of valued outcomes,

38 | Simon, a. a. O., S. 153.

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as system boundaries get stretched, and as we become more sophisticated about the complex workings of open societal systems, it becomes ever more difficult to make the planning idea operational39 .»

Professionelle autoritative Entscheidungen über derartige Probleme hätten immer zur Folge, dass andere soziale Gruppen in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeschränkt würden. Rittel und Weber sprechen daher auch das Misstrauen gegenüber spezialisierter Expertise als einer Art Machtmonopol in einer egalitären Gesellschaft an. Donald Schön bringt dieses Argument ebenfalls an, um das Modell von professionellem Wissen als rationales Problemlösen auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse zu hinterfragen40 . Stattdessen betrachtet Schön das Wissen als etwas, das implizit und im professionellen Handeln selbst enthalten ist: «There is nothing in common sense to make us say that know-how consists in rules or plans which we entertain in the mind prior to the action. Although we sometimes think before acting, it is also true that in much of the spontaneous behaviour of skillful practice we reveal a kind of knowing which does not stem from a prior intellectual operation41 .»

Professionelles Handeln hängt in dieser Sichtweise sehr viel deutlicher von der Situation und der körperlichen Präsenz des Handelnden ab. Diese Sichtweise findet ihre Entsprechung im kognitiven Modell der «situated action» in der MMI, die prominent von Autoren wie Lucy Suchman vertreten wird42 . Das «Plan»-Modell der KI-Forschung, das als Grundlage für das Verhalten von Robotern herhalte, werde auf menschliche Kommunikation übertragen. Dies führe allerdings zu Problemen, weil Pläne zwar zur Modellierung von Handlungen, nicht aber als Modelle für die kognitive Repräsentation derselben schlüssig seien43 . Suchman kritisiert die Annahme, menschliche Intentionen existierten in Form klar vorformulierter Pläne, und verweist auf die «Indexikalität» und damit die Kontextabhängigkeit von Kommunikation und

39 | Horst W J Rittel und Melvin M Webber. «Dilemmas in a General Theory of Planning». In: Policy Sciences 4 (1973), S. 155–169, hier S. 159. 40 | Donald A. Schön. The Reflective Practitioner. How Professionals Think in Action. New York: Basic Books, 1983, S. 39. 41 | Ebd., S. 51. 42 | Lucy A Suchman. Human-Machine Reconfigurations. 2. Auflage. Cambridge: Cambridge University Press, 2007. 43 | Ebd., S. 58-59.

28 | Gebrauch als Design

Handeln, die sich der Formalisierung entziehe44 . Gebrauch wäre dann immer eine Mischung aus geplanten Handlungsschritten und ad-hoc-Improvisation, die eher dialogisch wie eine Gesprächssituation zu betrachten ist. Positionen wie die von Schön und Suchman haben dazu beigetragen, dass eine allzu scharfe Trennung von Design und Gebrauch nicht mehr haltbar ist. Zum einen ist es geboten, bei der Problemdefinition auf die Benutzer als Akteure einzugehen. Zum anderen erscheint es unwahrscheinlich, dass sich ein erfolgreiches Interface losgelöst von der Anwendungssituation und bestehenden Handlungspraxis entwickeln lässt. Die schwache Trennung bleibt jedoch faktisch bestehen, weil die Unterschiede in der professionellen Entwurfskompetenz von Designern und späteren Benutzern nicht aufgehoben werden. Die Zielsetzung eines Designprozesses und sein Ergebnis müssen in dieser Konzeption jedoch viel enger mit den Benutzern koordiniert werden. Viele Methoden aus dem benutzerorientierten Design, die aus sozialwissenschaftlichen Bereichen übernommen wurden, machen diese Bemühungen deutlich (z.B. Bedürfnisanalysen oder die Evaluation von Zwischenständen mithilfe von Papier-Prototypen). 2.2.3 Prozessphasen: Design als Variation In den vorhergehenden zwei Abschnitten zu starker und schwacher Trennung sind wir bereits zwei Arten begegnet, um Gebrauch zu charakterisieren: Zum einen als planendes Handeln, zum anderen als ad-hoc-Improvisation nach festgelegten Zielen. Mit der weiteren Verschränkung von Design und Gebrauch kommt eine dritte Charakterisierung ins Spiel, namentlich die vom Gebrauch als Selektion, dem das Design als Variation vorausgeht. Während sich bei Simon das planende Handeln in allen Professionen ausmachen lässt, und das Modell der «situated action» sowie die Vorstellung von «verzwickten Problemen» kontextsensitive Gestaltung nahelegen, löst sich die Konzeption von Design als Variation noch stärker von der Vorstellung, dass Gestaltung nur im Designprozess stattfindet. Design als Variation steht dann im Kontrast

44 | ebd., S. 77-80. Für ein Beispiel für den enormen lokalen Aufwand, den die Inbetriebnahme z.B. einer Software verursachen kann, siehe James Fleck, der für diesen Arbeitsaufwand den Begriff der «Implementierung» verwendet (James Fleck. «Learning by trying: The implementation of configurational technology». In: The social shaping of technology. Hrsg. von Donald MacKenzie und Judy Wajcman. 2. Auflage. Buckingham: Open University Press, 1999. Kap. 18, S. 244–256). Aus einem etwas anderen Bereich, nämlich dem der pragmatistisch orientierten sozialen Handlungstheorie, bringt auch Hans Joas ein ganz ähnliches Argument an. Siehe Hans Joas. Die Kreativität des Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992, S. 213239.

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zur Selektion, die über Weiterbestehen oder Verschwinden der Variationen entscheidet. Dieser Idee liegt eine neo-darwinistische Lesart zugrunde, die auf soziokulturelle Sachverhalte übertragen wurde. Wir werden es mit der Unterscheidung von Variation und Selektion in Abschnitt 2.2.3 noch genauer zu tun bekommen, nachdem wir die Entwicklung von der Sichtweise der schwachen Trennung hin zu derjenigen von Design und Gebrauch als Prozessphasen kurz nachvollzogen haben. Mit alternativen Kognitionsmodellen wie dem der «situated action» wurde der Gebrauchsprozess selbst sehr viel mehr als Interpretationsaufwand konzipiert, als dies in der positivistisch geprägten Vorstellung der frühen KI noch der Fall war. Die Absicht der benutzerorientierten Methoden, die diesem Umstand Rechnung tragen, ist allerdings nach wie vor der funktionierende, also beabsichtigte Gebrauch. Design und Gebrauch sind dadurch als aufeinander folgende Iterationen verbunden, bei denen die Designerin bei jedem Neuentwurf auf das situierte Handeln eingehen kann, das ihr letztes Produkt bei den Benutzerinnen hervorgerufen hat. Diese professionelle Kompetenzteilung war jedoch für Designtheoretiker mit starker sozialkonstruktivistischer Einstellung auf Dauer nicht befriedigend, weil sie die situative Interpretation nicht ausreichend als kreative Leistung würdigte. Für diese Leistung wurde deswegen unter anderem der Begriff der Aneignung geprägt, der das Sich-zu-eigen-machen eines neuen Gegenstands durch persönliche Bedeutung und Praxis bezeichnet45 . Aneignung im Gebrauch kann aber in bedarfsorientierten Gestaltungsprozessen immer nur als Information für die Neugestaltung verwendet werden, weil sie zeitlich der Gestaltung nachfolgt46 . Der Verlauf der An-

45 | Die vielen verwandten Bezeichnungen wie Design-im-Gebrauch oder nicht-intentionales Design (Uta Brandes, Sonja Stich und Miriam Wender. Design durch Gebrauch. Basel: Birkhäuser, 2009) weisen schon darauf hin, dass auch der Begriff der Aneignung nicht vollkommen scharf umrissen ist. In anderen Zusammenhängen beschreibt er den abweichenden Gebrauch eines Gegenstands entgegen der Absicht des Erfinders, zum Beispiel durch marginalisierte Gruppen (Ron Eglash. Appropriating technology. 2008. URL: http : / / www . publicsphereproject.org/patterns/pattern.pl) oder für sozial unerwünschte Tätigkeiten (Genevieve Bell, Mark Blythe und Phoebe Sengers. «Making by making strange: Defamiliarization and the design of domestic technologies». In: Transactions on ComputerHuman Interaction 12.2 [2005], S. 149–173). Im Kern ist die Verwendung ähnlich, aber das Ausmaß dessen, was als Aneignung bezeichnet wird, variiert stark. Ich werde in Abschnitt 3.1 auf die unterschiedlichen Bedeutungen nochmals zurückkommen. 46 | In Form von Informations- und Inspirationsmaterial sind Aneignungspraktiken fester Bestandteil von benutzerorientiertem Design, z.B. als Sammlung von alltäglichen Umnutzungen (Jane Fulton Suri und IDEO. Thoughtless acts? San Francisco: Chronicle Books, 2005; Bran-

30 | Gebrauch als Design

Benutzer

Aktionen

E1 A0

Sinneseindrücke S

E2 A1

A2

S1

0

Bedeutungen

E3

B0

E4 A3

S2 B1

E5 A4

S3 B2

E6 A5

S4 B3

E7 A6

S5 B4

Externalitäten

A7

S6 B5

Eingabe

S7

Artefakt

E0

Ausgabe

B6

B7

Zeit

Abbildung 2.1: Der «Interfacing»-Prozess nach Krippendorff48 .

eignung ist für die Gestalterin nicht vorhersehbar und berechenbar, weil sie von der Anwendungssituation und der Interpretation der Benutzerin abhängt. Radikaler Konstruktivismus im Design Eine epistemologische Basis für eine starke Verknüpfung von Design und Gebrauch bietet der radikale Konstruktivismus. Dieser wird im Design prominent von Klaus Krippendorff vertreten und für das Design interpretiert47 . Seine Darstellung von Gebrauch und Wahrnehmung als «interfacing» (siehe Abb. 2.1.), als beständiger Abgleich der sinnlichen Wahrnehmung mit der subjektiven Bedeutungskonstruktion, ziehe ich hier stellvertretend für andere konstruktivistische Sichtweisen auf den Gebrauch heran. Krippendorff bezieht seine Sichtweise auf ökologische Kongnitionstheorie, radikalen biologischen Konstruktivismus und Wittgensteins Verständnis von Sprachspielen. Krippendorffs Grundannahme ist, dass Menschen, wenn sie Gegenstände wahrnehmen, Bedeutung konstruieren und koordinieren, indem sie ein gegenseitiges Verständnis voraussetzen. Bedeutung in diesem Sinne unterscheidet sich von Person zu Person, weil sie auf individuellen sinnlichen Wahrnehmungen beruht49 ; sie dient als Mechanismus, um Diskrepanzen aufzulösen, die zwischen Wahrnehmung und Ver-

des und Erlhoff, a. a. O.) oder als Gegenstand ethnografischer Beobachtungen (Tim Plowman. «Ethnography and critical design practice». In: Design Research. Methods and Perspectives. Hrsg. von Brenda Laurel. Cambridge: MIT Press, 2003. Kap. 3, S. 30–38, hier S. 36). 47 | Krippendorff, a. a. O. 48 | Ebd., S. 81. 49 | Ebd., S. 49-50.

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stehen entstehen können. Dieses Verständnis von Bedeutung basiert also auch auf der Annahme, dass es immer mehr als eine Möglichkeit gibt, Wahrgenommenes zu deuten50 . Krippendorffs Darstellung erlaubt die Annahme, dass man für einen unbekannten Gegenstand die Bedeutung im Gebrauch stärker interpretieren und koordinieren muss als für bereits vertraute Dinge51 . Sie legt auch nahe, dass unterschiedliche Benutzer zu sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen darüber kommen können, was ihnen ein Designprodukt bedeutet52 . Die Aneignung, die in der Konzeption einer schwachen Trennung von Design und Gebrauch erforderlich ist, um ein Ding auf vorgesehene Weise verwenden zu können, wird in einer radikalkonstruktivistischen Lesart selbst zu einer Art Design: «Users’ ability to create meanings for their surroundings and act on them is not radically different from designers’ ability to develop a design and encourage its implementation by others. Users and designers may differ in intent, in their reliance on first- versus second-order understanding, and in whether they work through an institution or populate the market. Practices of living with artifacts and practices of designing artifacts are creative endeavours and entail agency53 .»

Gebrauch als Selektion und Re-Stabilisierung Aus konstruktivistischer Sicht sind Design und Gebrauch keine grundverschiedenen Tätigkeiten, weil beide ein gewisses Maß an Interpretation erfordern. Eventuelle Abweichungen zwischen der Gebrauchsabsicht des Designers und dem tatsächlichen Gebrauch sind dann nicht mehr nur als Fehler und Problem zu werten. Besonders deutlich wird dies bei Gegenständen, die sich durch soziale Aneignung stark verändern. Wenn Design nicht mehr als rationale Planung, sondern als Bedeutungskonstruktion verstanden wird, erscheinen Design und Gebrauch als miteinander verbundene Phasen ein und desselben Bedeutungsprozesses, die in immer neuen Iterationen

50 | Ebd., S. 53. 51 | Krippendorff sieht hier allerdings die Designer in der Pflicht, die neuen Interfaces so zu gestalten, dass es nach Möglichkeit nicht zu Zusammenbrüchen in ihrer Bedeutung kommt. Er schlägt hierzu Metaphern und Narrative als Mittel vor, unbekannte Gegenstände vertraut zu machen. Siehe ebd., S. 245-254. 52 | Krippendorff illustriert dies am Fall von Autofahrern und -mechanikern und ihrer Bedürfnisse an die «semantische Ebene» des Autos, die für die Mechaniker komplexer ausfällt als für die Fahrer. Siehe ebd., S. 129.

32 | Gebrauch als Design

aneinander anschließen. Diese Parallele von schrittweisen, mehr oder weniger großen Entwicklungsschritten bei gestalteten Gegenständen, und den gesellschaftlichen Veränderungen, die sie auslösen konnten, war in der Vergangenheit Anlass zu einem Vergleich der gesellschaftlichen Evolution mit der biologischen Evolution der Arten54 . Auch Herbert Simon konstatiert daher: «From a reading of evolutionary history – whether biological or social – one might conjecture that there has been a long-run trend toward variety and complexity. [. . . ] If there is such a trend towards variety, the evolution is not to be understood as a series of tournaments for the occupation of a fixed set of environmental niches, each tournament won by the organism that is fittest for that niche. Instead evolution brings about a proliferation of niches55 .»

Wolfgang Jonas’ Theorie und seine Adaption von Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme für das Design basiert ebenfalls (unter anderem) auf einer radikalkonstruktivistischen Sichtweise56 und neo-darwinistischen, evolutionstheoretischen Selektions- und Stabilisationsmechanismen57 . Jonas beschreibt Luhmanns neodarwinistische Lesart wie folgt: «Luhmann [. . . ] has formulated this radical generalization of biological autopoiesis. He extends it for the purpose of describing mental and social systems. [. . . ] Language, which Luhmann calls a “variation mechanism of socio-cultural evolution”, is the ultimate instrument for

53 | Ebd., S. 145. 54 | So zieht z.B. John Langrish die Parallele im Bezug auf Ideenselektion und -reproduktion im Design. Zugleich macht er deutlich, dass diese Elemente der Darwinschen Evolutionstheorie nicht implizieren, dass eine evolutionäre Entwicklung zu besseren Ergebnissen führt. Siehe John Z Langrish. «Darwinian design: The memetic evolution of design ideas». In: Design Issues 20.4 (2004), S. 4–19. 55 | Simon, a. a. O., S. 165. 56 | Wolfgang Jonas. «Design as problem-solving? Or: Here is the solution - what was the problem?» In: Design Studies 14.2 (1993), S. 157–170, hier S. 163. 57 | Wolfgang Jonas. «Designing in the real world is complex anyway - so what? Systemic and evolutionary process models in design». In: Proceedings of European Conference on Complex Systems Satellite Workshop: Embracing Complexity in Design. Paris: Complex Systems Society, 2005.

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Variation Alternative Produkte werden entwickelt

Selektion Im Gebrauch setzt sich eine Variaton durch

Re-Stabilisierung = Variation Das Produkt erlaubt neue Umgangsweisen

Abbildung 2.2: Evolutionäres Prozessmodell, bei dem in stark differenzierten Gesellschaften Re-Stabilisierung und Variation ineinander übergehen60 .

coupling mental and social systems. This strange, fuzzy, non-causal coupling, called interpenetration, seems to be the most powerful driver of human evolution and learning58 .»

In Jonas’ Adaption für das Design nehmen die Design-Artefakte (die für ihre Macher ebenfalls eine Art «Sprache» darstellen) die Rolle der variablen Kommunikationen ein, und die Designer sind diejenigen, die maßgeblich an ihrer Erzeugung beteiligt sind. Der Gebrauch hat dann die Rolle der Selektion und der Re-Stabilisierung, also des Filters dessen, was erfolgreich angeschafft und benutzt wird und dessen, was sich nicht bewährt und vergessen wird. Besonders wichtig ist hier die Nähe von ReStabilisierung und Variation, die Jonas – und Luhmann – in hochdifferenzierten Gesellschaften ausmachen: «Moderne, ausdifferenzierte Gesellschaften unterscheiden Variation und Selektion sowie Selektion und Re-Stabilisierung, haben aber Probleme mit der Unterscheidung von Re-Stabilisierung und Variation, weil Stabilität heute einen extrem dynamischen Charakter angenommen hat und den Antrieb für evolutionäre Variation (“Innovation”) darstellt59 .»

58 | Ebd., S. 52. 59 | Wolfgang Jonas. «Mind the Gap! - Über Wissen und Nichtwissen im Design. Oder: Es gibt nichts Theoretischeres als eine gute Praxis». In: Mind the Gap! Hrsg. von Wolfgang Jonas und Jan Meyer-Veden. Bremen: Hausschild, 2004, S. 47–70, S. 60.

34 | Gebrauch als Design

Dieser «Antrieb für evolutionäre Variation» wird immer konkreter, so dass die Grenzen zwischen originellem Gebrauch und Design zusehends verwischen (Abb. 2.2). Jonas’ Perspektive legt nahe, dass man Aneignung oder Design-im-Gebrauch als vollwertigen Teil des Designprozesses selbst begreifen kann. Erst mit Design und Gebrauch als Kontinuum ein und desselben Prozesses sind alle evolutionären Mechanismen abgedeckt. Faktisch hat man es allerdings mit einer sehr deutlichen – zeitlichen, räumlichen und professionellen – Trennung von Design und Gebrauch zu tun. Auch die Anerkennung des kreativen Gebrauchs in Form der «Aneignung» ist eine recht neue Entwicklung. Methodisch ist Design stark geprägt vom Modell der schwachen Trennung, bei dem man sich mit der Entfernung von Design und Gebrauch weitgehend arrangiert und den Abstand durch Beobachtung und Kommunikation verringert. Dies sind die Praktiken, die man für gewöhnlich mit dem Begriff des benutzerorientierten Designs in Verbindung bringt. Die Verbindung von Design und Gebrauch, die in den Konzepten der «situated action» angelegt ist, scheint immer noch auf der Suche nach einer angemessenen methodischen Übersetzung zu sein.

2.3 P ROBLEME MIT DER T RENNUNG UND G EBRAUCH

VON

D ESIGN

Eine radikalkonstruktivistische Sichtweise im Design bringt notwendigerweise Kontrollverlust und mehr Unsicherheit mit sich. Beides gilt im Lichte der meisten etablierten Designmethoden nicht als besonders vorteilhaft. Die Form-Kontext-Unterscheidung hat das benutzerorientierte Design geprägt und damit auch den Versuch, mehr Gewissheit über die Gebrauchssituation zu erhalten. Gleichzeitig hat die jahrzehntelange Praxis mögliche Probleme und Beschränkungen des Ansatzes deutlich gemacht. Darunter ist auch die begrenzte Eignung dieser Methoden für Designprojekte, für die die Form-Medium-Unterscheidung besonders relevant ist, weil sie sich mit der sozio-kulturellen Einbettung von Produkten beschäftigen. Im Hinblick auf das Verhältnis von Design und Gebrauch aus konstruktivistischer Sicht möchte ich daher folgende kritische Punkte näher betrachten, die in den Abschnitten 2.3.1 bis 2.3.4 behandelt werden: Wissen und Entwurf: Welche Rolle haben Kontextinformationen für das Design? 60 | Nach einer Darstellung in ders., «Design research and its meaning to the methodological development of the discipline».

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Perfekte Passung: Wie wirkt sich das Optimieren eines Gegenstands für eine präzise eingegrenzte Problemsituationen auf den Gebrauch aus? Entfähigen: Wie organisiert benutzerorientiertes Design die Aufteilung zwischen der Handlungsfähigkeit des Benutzers und der des Designers? Simulieren: Wie beeinflusst benutzerorientiertes Design dadurch auch die funktionale Trennung von Design und Gebrauch? 2.3.1 Wissen und Entwurf Benutzerorientierte Methoden waren in mehrfacher Hinsicht für Design eine wichtige Entwicklung: Sie sind häufig aus wissenschaftlichen Disziplinen übernommen oder angeeignet, und sie bieten eine strukturierte Vorgehensweise sowie eine solide Basis, um Designentscheidungen zu rechtfertigen. Je nach Art der Fragestellung wirkt die somit in Anspruch genommene wissenschaftliche Basis des Gestaltens allerdings auch als Beschränkung des Möglichkeitsraums, der durch eine Neugestaltung geöffnet werden soll. Zudem erlaubt die Kenntnis des Ist-Zustands noch keine Schlussfolgerungen darüber, welche Veränderungen auf dem Weg zum gewünschten Soll-Zustand notwendig sind. Kontextinformationen können die Sachkenntnisse von Designern bereichern, tragen aber selbst nichts zur Design-Variation bei, weil sie einen Status Quo beschreiben, der durch das Design selbst wieder verändert werden soll. Die Übersetzung analytischer Methoden ins Design Die Übersetzung von Methoden aus anderen Disziplinen berührt damit direkt das Selbstverständnis von Design als Profession und eigene Forschungsdisziplin. Gleichzeitig birgt diese Praxis die Gefahr, die eigenständige Methoden- und Theorieentwicklung zu vernachlässigen61 . Dies ist insofern kritisch, als dass Theoretiker die Zielsetzung von Design im Unterschied zu rein analytischen Wissenschaftsfeldern als projektiv und normativ beschrieben haben – ein Anspruch, der dem deskriptiven und wertneutralen Selbstverständnis anderer Bereiche widerspricht62 . Um Methoden

61 | Wolfgang Jonas. «Design als systemische Intervention - für ein neues (altes) “postheroisches” Designverständnis». In: 17. designwissenschaftliches Kolloquium Objekt und Prozess. Halle, 1996. 62 | Dieser grundlegende Unterschied findet bei Herbert Simon Erwähnung, der es eben aus diesem Grund für nötig hält, die «Wissenschaften des Künstlichen» zu etablieren (Simon, a. a. O., S. 5). Klaus Krippendorff konstatiert, dass die naturwissenschaftliche Vorstellung von Fakten

36 | Gebrauch als Design

und Theorien in das Design übernehmen zu können, ist es also notwendig, ihre Auswirkungen auf die Entwicklung und Umsetzung von Designvorschlägen nachzuvollziehen63 . Auch bei benutzerorientierten Designmethoden zeigen sich die unterschiedlichen Ansprüche von wissenschaftlicher Analyse und Gestaltung. Durch Beobachtung und Befragung können Gestalterinnen ein reichhaltiges Bild der Problemsituation zeichnen. Eine sorgfältige Analyse garantiert aber noch keinen qualitativ hochwertigen Entwurf. Hier tut sich die sogenannte Anwendungslücke auf: Eine noch so sorgfältige Beschreibung eines existierenden Zustands impliziert nicht, wie man diesen Zustand gestalterisch verändern kann oder soll64 . Die Interpretation der Beobachtung ist also entscheidend dafür, welchen Stellenwert ihre Ergebnisse haben. Wird das existierende Benutzerverhalten als verbindliche Beschränkung für das Design behandelt, schrumpft der gestalterische Spielraum. Dieser Umgang ist vor allem dann gerechtfertigt, wenn die Problemdefinition nicht

und ihrer Aussagekraft für zukünftige Entwicklungen die Handlungsmacht der Menschen negiere, und sieht wissenschaftliche Ergebnisse bestenfalls als Teil der gestalterischen Rechtfertigungsstrategie (Klaus Krippendorff. «Design Research, an Oxymoron?» In: Design Research Now. Hrsg. von Ralf Michel. Basel: Birkhäuser, 2007, S. 81–91). Design, das sich vielmehr mit den Möglichkeiten menschlichen Handelns beschäftige, tut dies demnach nicht auf Grundlage unveränderlicher Fakten, sondern veränderlicher Variablen. Clive Dilnot hat Design daher konsequenterweise als «science of uncertainty» betitelt (Clive Dilnot. «The science of uncertainty - the potential contribution of design to knowledge». In: Doctoral Education in Design Conference. Columbus, Ohio: Ohio State University, 1998). Wolfgang Jonas argumentiert, dass bei zu starker Anpassung an die Nachbardisziplinen die Wissensgenerierung innerhalb des Designs selbst minimal bleibe und sich Design als Disziplin auf Dauer selbst marginalisiere (Jonas, «Design research and its meaning to the methodological development of the discipline», S. 188). Während es den meisten Autoren in dieser Debatte darum geht, was Design als Disziplin zur Wissenschaft beitragen kann, ist die umgekehrte Frage – was die Wissenschaft zum Design beiträgt – ebenso relevant und konfliktträchtig. 63 | Nigel Cross kritisiert z.B. in diesem Zusammenhang den «Kulturimport» aus Wissenschaft und Kunst in das Design und propagiert stattdessen mehr Bewusstsein für die «designerly ways of knowing». Siehe Nigel Cross. «Designerly ways of knowing: Design discipline versus design science». In: Design Issues 17.3 (2001), S. 49–55. 64 | So beschreibt Rosan Chow, dass die Überbrückung der Lücke zwischen verfügbaren Kontextinformationen und einem neuen Entwurf auf der Interpretation der Gestalterin beruht. Eine strikt logische Ableitung sei dagegen nicht möglich. Siehe Rosan Chow. «For user study: The implications of design». Dr. Phil. Braunschweig, 2005, S. 104.

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Teil des Entwurfsprozesses ist und man davon ausgehen kann, dass Handlungsroutinen sich nicht verändern. In diesen Fällen würde die Reichweite der Gestaltung stark auf formal-ästhetische Variationen beschränkt. Diese Variationen haben natürlich ihre Berechtigung; doch hinter der Anwendung benutzerorientierter Designmethoden steht ja häufig der darüber hinaus weisende Anspruch, grundsätzliche Verbesserungen im Umgang mit Produkten herbeizuführen. Information oder Inspiration? Auch wenn Designerinnen analytische Methoden stringent anwenden, ist damit noch nicht geklärt, wie hilfreich die Ergebnisse fachfremder Methoden für das jeweilige Designproblem sind. Aus Sicht anderer Disziplinen ist die Methoden-Übersetzung als Instrument für den Designprozess nicht immer im Einklang mit der Methodologie des Fachs, aus dem heraus die Methode ursprünglich entwickelt wurde65 . Aus Sicht des Designs unterscheidet sich die Zielsetzung anderer Fächer von der eigenen, so dass eine Methoden-Adoption häufig eine Methoden-Übersetzung erfordert. Die Methode der «cultural probes» eignet sich als Beispiel, um die unterschiedlichen Zielsetzungen von Designern und Wissenschaftlern zu illustrieren und damit auch die Konflikte, die bei der Anwendung bestehenden Wissens für noch zu entwerfende Gegenstände und Situationen auftreten. «Cultural probes» wurden als partizipative Methode entwickelt, um inspirierende Antworten von beteiligten Benutzern zu erhalten und dadurch bereits bestehende Kontextdaten narrativ ergänzen zu können66 . Diese «Sonden» (so die Übersetzung von «probes») bestehen häufig aus einer Sammlung unterschiedlicher Materialien wie z.B. Postkarten, Wegwerfkameras, Tagebuchheften und anderen Dokumenten mit Fragen und Aufgaben, die den Probanden für einen begrenzten Zeitraum als Mittel zur Selbstbeobachtung überlassen werden. Die Fragen, die in den Sondierpaketen gestellt werden, entsprechen nicht den Standards eines wissenschaftlichen Fragebogens, sondern sind für die individuelle Interpretation der Probanden bewusst offen gehalten. Die Daten, die dadurch generiert werden, sind dementsprechend assoziativ und persönlich gefärbt. Sie sind weder neutral und objektivierbar, noch entsprechen sie zwingend einer wissenschaftlich

65 | So argumentiert Paul Dourish, dass die «Schlussfolgerungen für das Design» aus der Anwendung ethnografischer Methoden kein angemessenes Kriterium für ihre Evaluation darstellen. Siehe Paul Dourish. «Implications for design». In: Proceedings of the SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems. CHI ’06. New York: ACM, 2006, S. 541–550. 66 | William Gaver, Tony Dunne und Elena Pacenti. «Design: Cultural probes». In: Interactions 6.1 (1999), S. 21–29.

38 | Gebrauch als Design

«sauberen» Grundlage für eine qualitative Analyse. Allerdings ergeben die Sondendaten ein reichhaltiges Bild der Lebenswelt der Probanden und eignen sich daher gut für die gestalterische Interpretation und Ideengenerierung. «cultural probes» sind als Methode in der MMI schnell populär geworden. Die Methodologie, auf der sie beruhen, ist dagegen umstritten geblieben67 . Die inhärente Unschärfe der Sonden stellt für Designer einen Vorteil68 , für die meisten Wissenschaftler dagegen ein bedeutendes Problem dar. Der Fall der «Cultural Probes» macht deutlich, dass qualitativ hochwertiges Inspirationsmaterial für Design andere Qualitäten aufweist als standardisierte wissenschaftliche Daten: Es kann und darf überraschend, spezifisch und einzelfallbezogen sein. Festigung des Status Quo Um die Reichweite von Design-Interventionen zu erweitern, muss es möglich sein, im Gestaltungsprozess alle möglichen Aspekte einer problematischen Situation infrage zu stellen. Damit wächst automatisch die Unsicherheit, wie diese Interventionen die Situation beeinflussen könnten. Diese Unsicherheit ist der Gestaltung inhärent; sie steht bei benutzerorientierten Methoden jedoch im Kontrast zu den (vermeintlichen) Gewissheiten der Benutzerforschung. Die Übersetzung wissenschaftlicher Methoden für das Design dient vor allem einer fundierten Analyse. Designspezifische Methoden zur Ideengenerierung interpretieren die Daten, die solche wissenschaftlichanalytischen Verfahren produzieren, im Hinblick auf neue Möglichkeiten des Gebrauchs. Dafür ist Voraussetzung, die Ergebnisse einer wissenschaftlich angeleiteten Analyse als kontingent zu betrachten, um bei Bedarf den Status Quo des Gebrauchs durch einen neu entworfenen Gegenstand grundlegend verändern zu können69 . Darüber hinaus greifen benutzerorientierte Methoden in der Evaluation der Designergebnisse ebenfalls (natur-)wissenschaftliche Testmethoden auf. Diese können allerdings die längerfristige Aneignung im Gebrauch nicht adäquat abbilden. Viel-

67 | Kirsten Boehner u. a. «How HCI interprets the probes». In: Proceedings of the SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems. CHI ’07. New York: ACM, 2007, S. 1077–1086. 68 | William W. Gaver u. a. «Cultural probes and the value of uncertainty». In: Interactions 11.5 (Sep. 2004), S. 53–56. 69 | Diesen Hinweis bringen vor allem feministische Designforscher an, die in der unkritischen Optimierung z.B. von Haushaltsgeräten eine Stabilisierung des häuslichen Machtgefälles sehen. Sie empfehlen, ähnlich wie das kritische Design, Verfremdung als adäquates Gegenmittel. Siehe Bell, Blythe und Sengers, a. a. O., S. 150, 153.

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mehr besteht die Gefahr, dass vertraute Alternativen sich in kurzen Testphasen immer als überlegen erweisen. In dieser Hinsicht ist ein benutzerorientierter Ansatz potenziell konservativ und kann dazu führen, Designerinnen auf konventionelle Entwürfe zu beschränken, gerade in frühen Phasen der Produktentwicklung70 . Die Widersprüche und Grenzen der Verträglichkeit von Innovation und streng wissenschaftskonformer Datenerhebung werden auch in manchen Äußerungen Donald Normans deutlich, der als ein leidenschaftlicher Kritiker schlecht gestalteter Produkte und als eine bekannte Stimme im benutzerorientierten Design gelten darf. Norman verortete in früheren Veröffentlichungen die Verantwortung für benutzbare Produkte ganz klar beim Gestalter, den er in der Pflicht sah, die Gebrauchsweise anhand der Gestaltung des Produkts selbst erkennbar zu machen: «When you first see something you have never seen before, how do you know what to do? The answer, I decided, was that the required information was in the world: the appearance of the device could provide the critical clues required for its proper operation71 .»

Die Mittel, um die sofortige Benutzbarkeit zu garantieren, sind bei Norman (ähnlich wie bei Krippendorff) in passenden konzeptionellen Modellen, sinnvollen Beschränkungen und eingehaltenen Konventionen zu suchen. Zu radikaler Variation kommt es dann aber laut Norman – absurderweise – nur durch einen klassischen «technology push», weniger durch Design: «Show me an instance of a major technology that was developed according to principles of Human-Centered Design, or rapid prototype and test, or user modeling, or the technology adapting to the user. [. . . ] I have no doubt that many projects were improved, perhaps even

70 | Siehe Saul Greenberg und Bill Buxton. «Usability evaluation considered harmful (some of the time)». In: Proceedings of the SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems. CHI ’08. New York: ACM, 2008, S. 111–120. 71 | Donald A Norman. «Affordance, conventions, and design». In: Interactions 6.3 (1999), S. 38–43, hier S. 39. Leider handelt es sich bei dieser Vorstellung des selbsterklärenden Gegenstands um einen Mythos: «No artifact is idiot-proof because any artifact is only a portion of a program of action and of the fight necessary to win against many antiprograms» (Bruno Latour. «Where are the missing masses? The sociology of a few mundane artifacts». In: Shaping technology/building society. Studies in sociotechnical change. Hrsg. von Wiebe E Bijker und John Law. MIT Press, 1987. Kap. 8, S. 225–258, hier S. 254). Derartige Einwände haben bislang aber weder Norman noch andere Designer je davon abgehalten, ihn zu reproduzieren.

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dramatically, by the use of these techniques. But name one fundamental, major enhancement to our technologies that came about this way72 .»

Norman stellt damit zwar nicht die positiven Errungenschaften des ursprünglichen benutzerorientierten Designs in Abrede, moniert aber dessen Unfähigkeit zu durchschlagenden – und erfolgreichen – Innovationen. Darin wird die Widersprüchlichkeit der Anforderungen deutlich, die durch eine Orientierung an bekannten Konventionen einerseits und der Forderung nach radikalen Neuerungen andererseits zustande kommen, und der sich Kritiker wie Norman nicht immer auch selbst in praktischen Projekten stellen. Auch von anderen vielversprechenden Ansätzen (wie etwa dem von Norman nunmehr propagierten «aktivitätsorientierten Design») ist keine Auflösung zu erwarten, solange die Orientierung am Status Quo des konventionellen Gebrauchs und der unmittelbaren Verständlichkeit von Produkten oberste Priorität hat. 2.3.2 Perfekte Passung Als Methodik, die sich aus der Orientierung am Form-Kontext-Bezug entwickelt hat, ist die «gute Passung» als Qualitätskriterium im benutzerorientierten Design verankert. Abgesehen davon, ob diese Passung mithilfe einer Kontextanalyse verbessert wird oder nicht, wird hier das neue Produkt daran gemessen, ob es Probleme lösen hilft, die in einer bestimmten Situation mit den verfügbaren Gegenständen auftreten. Das tut es vor allem dann, wenn die Benutzer eines Gegenstands die Intentionen der Gestalterin nicht nur zutreffend deuten, sondern sich auch im Gebrauch daran orientieren. Mit einem solchen Ansatz ist es allerdings schwierig, emergente Phänomene zu würdigen und zuzulassen, die nicht der intendierten Benutzung entsprechen. Diese Methode geht zu Recht davon aus, dass die Passung oder Zweckmäßigkeit eines Gegenstands sich nur im Bezug auf eine bestimmte Gebrauchssituation und Benutzungsabsicht beurteilen lässt. Die Gebrauchsabsicht, die der Gegenstand erfüllen kann, sollte die Benutzerin idealerweise aus dem Gegenstand ablesen können. Doch selbst der planmäßige Gebrauch eines Gegenstands gemäß der Intention des Designers beruht auf der Fähigkeit des Benutzers, den vorgesehenen Ablauf in einer konkreten Situation zu verwirklichen. Dieses Ausagieren von vorgesehenen Bedienabläufen ist nicht trivial. Der Anwendungsprozess lässt sich nicht vollständig vom Designer durch eine bestimmte Gestaltung des materiellen Gegenstands allein festlegen, sondern muss vom Benutzer situationsabhängig interpretiert werden. Es er72 | Donald A Norman. «Human-Centered Design Considered Harmful». In: Interactions 12.4 (2005), S. 14–19, hier S.19.

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fordert also einen erheblichen Aufwand, um sicherzustellen, dass die Benutzer dem intendierten Gebrauch der Designerin auch folgen73 . Die Passung eines Gegenstands für eine Anwendungssituation ist demnach eine prekäre Angelegenheit, die maßgeblich auch durch den Gebrauch selbst zustande kommt. Jeder materielle Gegenstand muss in einem gewissen Ausmaß erst «angeeignet» werden, bevor er «passt». Den Aufwand der Aneignung kann man als Designerin versuchen, klein zu halten; man kann ihn aber nicht ausräumen. Für eine schnelle und leichte Passung ist es hilfreich, möglichst präzise Informationen über die Nutzungssituation zu haben. Zugleich «passt» der materielle Gegenstand dadurch weniger gut in andere Anwendungssituationen. Das Zuschneiden des Gegenstands auf eine Art des Gebrauchs verengt die Bedienung also auf genau diese eine erwartete Art und Weise. Wenn wir beispielsweise ein herkömmliches Küchenmesser mit spezielleren Schneideinstrumenten wie Kartoffelschäler, Schere oder Apfelgehäuseentferner vergleichen, wird deutlich, dass das Messer weniger spezialisiert, dadurch aber auch breiter anwendbar ist (z.B. auch für Linkshänder benutzbar, anders als der Sparschäler). Aneignung und abweichender Gebrauch werden im benutzerorientierten Design nicht per se ausgeschlossen. Dennoch gibt es eine Tendenz, die intendierte Deutung als die «richtige» zu bevorzugen. Eine enge Passung an erwartete Gebrauchssituationen befördert diese Tendenz74 . Besonders kritisch ist die Vorstellung von der «guten Passung» dann, wenn eine solche Passung als statisch verstanden wird, anstatt als ein dynamischer, arbeitsintensiver und potenziell prekärer Zustand. Wo mit dem zu gestaltenden Gegenstand – anders, als das benutzerorientierte Design nahezulegen scheint – eben doch weitreichende Veränderungen im Gebrauch beabsichtigt oder zu erwarten sind, und der Anwendungszweck noch unklar oder verhandelbar ist, ist Passung aber notwendigerweise ein dynamischer Prozess. Dies ist häufig der Fall bei

73 | Diese Art der Machtausübung durch das Material benötigt anscheinend vielmehr eine ganze Reihe an Dingen, die zukünftige Benutzer davon überzeugen, das Beabsichtigte zu tun. Madeleine Akrich und Bruno Latour demonstrieren am Beispiel des Hotelschlüssels, wie viele menschliche und nichtmenschliche Akteure notwendig sind, damit der Gast den Schlüssel an der Rezeption abgibt. Siehe Madeleine Akrich und Bruno Latour. «A summary of a convenient vocabulary for the semiotics of human and nonhuman assemblies». In: Shaping technology/Building society. Studies in sociotechnical change. Hrsg. von Wiebe E Bijker und John Law. Cambridge: MIT Press, 1992. Kap. 9, S. 259–264. 74 | Redström kritisiert diese Haltung mit den Hinweis, dass eine allzu enge Anpassung auf einen bestimmten Benutzer diesen zum Gegenstand der Gestaltung macht; Benutzer seien aber nicht in diesem Sinne «designbar». Siehe Johan Redström. «Towards user design? On the shift from object to user as the subject of design». In: Design Studies 27 (2006), S. 123–139.

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der Gestaltung innovativer Technologien. Innovationen «passen» von sich aus noch nicht zu bestimmten Anwendungen und antworten häufig auch nicht auf ein drängendes Problem. Sie regen vielmehr die soziale Konstruktion eines Problems an, das sie lösen helfen könnten75 . Als Kriterium für designgetriebene Innovationen muss eine dynamische Vorstellung von «Passung» herangezogen werden, die auch Veränderungen im Gebrauch vorsieht. Anderenfalls wird der Gebrauch des Gegenstands schnell als unveränderlich einfach vorausgesetzt, wie es z.B. Stewart und Williams formulieren: «While the shift towards user-centred design represents a significant and positive development, we need to avoid the pitfalls of what we have termed the “design fallacy”: the presumption that the primary solution to meeting user needs is to build ever more extensive knowledge about the specific context and purposes of various users into technology design. [. . . ] By seeing computer artefacts, once designed, as largely fixed in their properties, and thus privileging prior design (Procter and Williams 1996), the key question becomes one of building ever more extensive amounts of knowledge about the context, culture and purposes of users into the designed system76 .»

2.3.3 Entfähigen Reichhaltige Kontextinformationen und die Orientierung an klar definierten Zweckmäßigkeiten im benutzerorientierten Design soll Designer auch dazu befähigen, über ihr eigenes Verständnis hinaus stellvertretend für andere Entscheidungen zu treffen. Die benutzerorientierten Methoden stellen damit das Gegenbild zur «i-Methodology» dar, dem bloßen Überstülpen des eigenen Verständnisses auf andere, z.B. in Form von fachsprachlichen Begriffen in Computerprogrammen, die für Informatik-Laien

75 | Die Entwicklung des Luftschlauchs für Fahrräder ist ein historisches Beispiel dafür, dass der praktische Nutzen einer Innovation nicht automatisch sozial akzeptiert wird. Die technische Überlegenheit erschien erst den Sportfahrern als ausreichender Grund, über die als vulgär empfundene Optik der Luftschläuche hinwegzusehen. Siehe Trevor J Pinch und Wiebe E Bijker. «The social construction of facts and artifacts: Or how the sociology of science and the sociology of technology might benefit each other». In: The Social Construction of Technological Systems. Hrsg. von Wiebe E Bijker und John Law. Cambridge: MIT Press, 1989. Kap. 2, S. 17–50. 76 | James Stewart und Robin Williams. «The wrong trousers? Beyond the design fallacy: Social learning and the user». In: User involvement in innovation processes. Strategies and limitations from a socio-technical perspective. Hrsg. von Harald Rohracher. München: Profil, 2005. Kap. 5.

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unverständlich sind. Die Anpassung an einen Gebrauchszusammenhang im benutzerorientierten Design geschieht nicht mit der Absicht, die dort vorherrschenden Gebrauchsgewohnheiten unbesehen zu übernehmen. Wenn aber eine neue Technologie für Anwenderinnen bereitgestellt werden soll, die mit deren schon etablierter Erscheinungsform nichts anzufangen wissen, wird diese auf das Verständnis angepasst, was von den Anwendern erwartet werden kann. Ein möglicher Nebeneffekt ist das faktische Ent-fähigen der Benutzer und eine Delegation der Interaktionskompetenz an den Gegenstand bzw. das Interface. Je deutlicher eine Handlungspraxis durch neue Gegenstände und Technologien verändert wird, desto mehr Arbeit verursacht das neue Ding seiner Benutzerin in der Aneignung. Benutzerorientiertes Design wird dann angewandt, um den Übergang von Alt zu Neu möglichst glatt vonstatten gehen zu lassen und dabei möglichst wenig zusätzliches Wissen und Lernzeit zu beanspruchen. Die neuen Gegenstände sollen schnell zuverlässig zu bedienen sein, und in dieser zuverlässigen Bedienung keine größeren Fehler oder Probleme verursachen. Bei kritischen Anwendungen ist ein solcher Übergang unbedingt wünschenswert; für andere Lebensbereiche ist dieser Anspruch jedoch nicht unbedingt notwendig und möglicherweise hinderlich. Auch dort wird das Aneignen des Gebrauchs allerdings vermieden, indem man das Ideal der «intuitiven Bedienbarkeit» oder «Selbsterklärbarkeit» für Interfacedesign aufstellt. «Intuitive Bedienbarkeit» Ob ein bestimmter Gegenstand intuitiv bedienbar ist, hängt sowohl von den Vorkenntnissen der Benutzerin als auch an den physiologischen und psychologischen Eigenheiten der menschlichen Wahrnehmung (z.B. Gestaltgesetze) ab. Kognitionspsychologische Untersuchungen zu diesen Bedingungen bewegen sich notgedrungen auf einer sehr grundsätzlichen, verallgemeinerbaren Ebene, die kulturelle Einflüsse bewusst außen vor lässt. So gewonnene Designprinzipien sind jedoch nur begrenzt hilfreich, wenn man die Ebene der kulturellen symbolischen Konnotation einbeziehen möchte. Um ein allgemeines, quasi automatisiertes Verständnis auf Basis der erwartbar vorhandenen Vorkenntnisse zu erreichen, muss die Komplexität von Interfaces eingeschränkt werden. Im Ergebnis kann dies dazu führen, dass neue Technologien in Formen und Narrative gekleidet werden, die vermeintlich kognitiv vorteilhaft sind, zugleich aber das Potenzial der Technologien für neue Bedeutungen zu begrenzen drohen. In der Wissenschafts- und Techniksoziologie wird für die Kompetenzverteilung zwischen Menschen und Maschinen, in der immer mehr Kompetenz auf die Maschinen verlagert wird, der Begriff des Ent-fähigens (De-Skilling) verwendet. Eine solche

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Kompetenzverschiebung findet zum Beispiel statt, wenn eine Produktionsmaschine Arbeitsschritte erledigt, für die vorher ein erfahrener Handwerker zuständig war. Dadurch wird auch eine soziale Konsequenz und ein möglicher Nachteil der «intelligenten» Technik beschrieben, die weniger Erfahrung und Wissen in ihrem Umgang erfordern77 . Diese Kompetenzverteilung zwischen Mensch und Ding zugunsten des Dings muss nichts rein Negatives sein: Es kann auch den Zugang zu Tätigkeiten ebnen, die man sonst nicht in der Lage wäre zu verrichten, wie etwa das selbständige Installieren eines Heizkörpers78 . Bei den sogenannten «intuitiven» Computer-Interfaces wird die Handlungsgewalt allerdings zusehends auf eine semantisch unzugängliche Ebene (nämlich die des Computercodes) verlagert und wenig Kontrollmöglichkeiten für anderweitige Aneignungen offen gelassen: Wenn man nicht gerade detailliertes Wissen über Programmierung besitzt und zudem mit Software arbeitet, deren Quellcode zugänglich ist, dann sind die automatisierten Prozesse in «intuitiven» Programmen praktisch nicht zu beeinflussen79 . Interface-Metaphern Die narrativen Metaphern und Analogien, die im benutzerorientierten Design häufig als Brücke zwischen neuer Technologie und bestehendem Benutzerverständnis hinzugezogen werden, veranschaulichen den Konflikt von Be- und Entfähigen. Metaphern heben den Lernaufwand im Umgang mit neuen Interfaces nicht auf. Sie erlauben eine einfache Verbindung zwischen konventionell unverbundenen Dingen und umreißen dadurch einen ebenso attraktiven wie unkontrollierbaren Interpretationsspielraum. Die Metaphorik fügt der ursprünglichen Interaktion neue Effekte hinzu, und zugleich lenkt sie den Umgang mit der Technik in eine bestimmte – bekannte – Richtung. Eine Interface-Metapher kann die Bedienung leichter verständlich machen, sie kann aber auch zu unerwünschten Deutungen führen. So verbindet der metaphorische Umgang mit Stift und elektronischem Papier zwar die altbekannte Handschrift mit digitaler Datenspeicherung. Sie stellt jedoch nur eine bestimmte Art des Benutzerverhaltens sicher, das, ebenso wie andere Va-

77 | Siehe Paul Attewell. «The deskilling controversy». In: Work and Occupations 14.3 (1987), S. 323–346. 78 | Siehe Elizabeth Shove u. a. «Consumption and competence: DIY projects». In: The Design of Everyday Life. Oxford: Berg Publishers, 2007. Kap. 3, S. 42–61, hier S. 57-59. 79 | Und selbst wenn sie es sind, dann ist diese Einflussmöglichkeit manchmal schwer auszumachen, wie jeder weiß, der sich in Text-Editoren auf die Suche nach den Einstellungen macht, die z.B. die Autokorrektur regeln.

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rianten der Texteingabe, bestimmten Beschränkungen unterliegt. Die Fähigkeit des Handschreibens steht der Fähigkeit des Tastaturschreibens gegenüber, das nicht die Kompetenz einer schnellen, gleichbleibenden, leserlichen Handschrift voraussetzt. Stift und Papier als Metapher für digitale Geräte garantieren also nicht per se eine bessere Benutzbarkeit. Sie haben wenige Vorteile, wenn das Ergebnis nur herkömmliches Papier nachahmt. Wo ein technisches Gerät neue Funktionen anbietet, muss sich der Benutzer notwendigerweise neue Kompetenzen aneignen. Wenn Interfacedesigner sich jedoch für Entwürfe entscheiden, die auch vermeintlichen Dummköpfen erlauben, sich mit der Materie auseinanderzusetzen, reduzieren sie die Benutzer zu eben solchen Dummköpfen. Die Verbreitung technologischer Innovationen kann demgegenüber auch einen technischen Literarisierungsprozess darstellen, der Menschen Anlass gibt, neue Interaktionen zu lernen. Dieser Prozess muss dann zwar entsprechend motiviert und gerechtfertigt werden, hat aber einen grundsätzlichen Wert: Sie stärkt die Kompetenz der Nutzer im Umgang mit Technik, die durch die Eröffnung neuer Handlungsmöglichkeiten gestärkt und nicht frühzeitig und autoritativ durch das Design begrenzt wird. 2.3.4 Simulieren Die Simulation des Gebrauchs im Design ist ein methodisches Mittel, um die Trennung von Design und Gebrauch nicht allzu deutlich ausfallen zu lassen, zum Beispiel indem man den Gebrauch anhand von Rollenspielen inszeniert oder anhand funktionaler Modelle testet. Dadurch lassen sich einzelne Aspekte des späteren Gegenstands unabhängig voneinander darstellen und evaluieren, um zumindest teilweise Sicherheit über ihre Wirkung zu erlangen. Der Anteil der Simulation oder des Modells, der nicht repräsentativ für das Endergebnis steht, wird dabei notwendigerweise vernachlässigt oder ausgeblendet, z.B. wenn in einem Rollenspiel ein Pappkarton stellvertretend für einen Drucker als Platzhalter verwendet wird, um die Anordnung von Bedienelementen am späteren Produkt zu testen. Diese Vorgehensweise ist in der alltäglichen und benutzerorientierten Designpraxis in der Regel hilfreich. Die Simulation stößt allerdings da an ihre Grenzen, wo die Kombination der simulierten Aspekte in einem Gegenstand zu unerwarteten Wechselwirkungen führt. Die konkrete Gestalt des Designprodukts, egal in welchem Stadium des Entwurfs, ist ausschlaggebend für das Handlungsvermögen der Benutzer im Gebrauch. Die Imagination kann zwar den Unterschied zwischen einem Pappkarton, der einen Drucker darstellt, und einem tatsächlichen Drucker überbrücken; der Gebrauch kann es nicht. Existierende Gebrauchsweisen lassen sich in bestehenden Anwendungssituationen beobachten, doch neue Gebrauchsweisen lassen sich nur sehr schwer ohne die-

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se Anwendungssituation erproben. Der Gebrauch eines Produkts lässt sich letztlich nicht allgemeinverbindlich simulieren, er kann nur in unterschiedlichen Situationen – dem Arbeitsplatz, oder dem Labor – stattfinden anhand der Gegenstände, die tatsächlich vorhanden sind. Ob bestimmte Aspekte und Details eines Gegenstands oder einer Situation für den Gebrauch entscheidend sind, lässt sich durch eine Simulation deswegen nicht restlos bestimmen.Gerade weil bestimmte Anwendungssituationen und deren konkrete Auswirkungen so schwer zu simulieren sind, sollte man davon ablassen, die Anwendungssituation stärker zu spezifizieren, und stattdessen auf Designmethoden und -ansätze zurückgreifen, die weniger auf Simulation und Vorwegnahme aufbauen.

2.4 E IN P ROZESSMODELL

ZUM V ERGLEICH KONSTRUKTIVISTISCHER D ESIGNANSÄTZE

Die Trennung von Design und Gebrauch im benutzerorientierten Design ist einerseits pragmatischer Natur und entspricht der tatsächlichen funktionalen Differenzierung und der Professionalisierung von Design80 . Andererseits setzt diese pragmatische Vorgehensweise damit auch voraus, dass Design und Gebrauch trennbar sind. Sie ähnelt darin einer rationalistisch und positivistisch geprägten Sichtweise, für die eine Trennung von Design und Gebrauch unproblematisch erscheint. Im Kontrast dazu liegt dem benutzerorientierten Design in vielen Bereichen eine konstruktivistische Einstellung zugrunde, die in der Methodik nicht immer klar erkennbar ist. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Konzeption von Aneignung als kreativem Gebrauch betrachtet. Das Phänomen der Aneignung wird zwar diskutiert, lässt sich aber aus einer linearen Vorstellung des Designprozesses heraus kaum methodisch einbeziehen. Nimmt man die Implikationen einer konstruktivistischen Sichtweise ernst, dann erscheinen bestimmte Praktiken im benutzerorientierten Design inkonsistent. Dazu gehören die Rolle, die wissenschaftlichen Daten im Entwurf zugesprochen wird, die Vorstellung einer optimalen Anpassung des Gegenstands an seinen bestehenden Anwendungskontext, das komplizierte Verhältnis von Be- und Entfähigen bei der Gestaltung neuer Interfaces, und die begrenzte Reichweite von Simulationen im De-

80 | Der Text dieses Abschnitts beruht auf einem englischsprachigen Artikel von mir. Siehe Katharina Bredies, Rosan Chow und Gesche Joost. «Addressing use as design: A comparison of constructivist design approaches». In: The Design Journal 13.2 (2010), S. 156–179.

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signprozess. Diese Kritikpunkte lassen sich im wesentlichen in den beiden Aspekten von Repräsentation und Antizipation zusammenfassen. Repräsentation steht dabei für das Ausmaß, in dem professionelle Designerinnen die Nutzerinnen im Designprozess verkörpern können; Antizipation bezeichnet die Möglichkeit, den Gebrauch während der Gestaltung vorwegzunehmen81 . Diese beiden Aspekte sollen nun dabei helfen, die klassische benutzerorientierte Entwurfspraxis mit verwandten Ansätzen zu vergleichen, in denen ein anderer Umgang mit originellem Gebrauch vorgeschlagen wird. Stellvertretend für ein breites Spektrum beschäftige ich mich hier mit dem partizipativen und dem kritischen Design sowie der originellen Umnutzungspraxis selbst, die Uta Brandes als «nichtintentionales Design» bezeichnet hat82 . Diese Ansätze geben uns Hinweise darauf, wie man die faktische Trennung anders handhaben und so eine konstruktivistische Perspektive im Design methodisch umsetzen kann. Ich vergleiche diese vier unterschiedlichen Designansätze dahingehend, wie sie die Koordination von Bedeutungen zwischen Design und Gebrauch organisieren, und welche Methoden sie heranziehen, um deren faktische Trennung zu überbrücken. Meine Grundlage für den Vergleich ist ein zirkuläres Modell des Designprozesses, das Design und Gebrauch als Prozessphasen behandelt. Hierbei stütze ich mich nochmals auf Klaus Krippendorff und Wolfgang Jonas: Krippendorffs Lesart des Konstruktivismus ist besonders geeignet, weil er neben theoretischen Erläuterungen auch die praktische Anwendung beschreibt und er dadurch die Verbindung zwischen beiden explizit benennt83 . Wolfgang Jonas hat in ähnlicher Weise mit einem generischen Designprozess-Modell eine Verbindung zwischen systemisch-evolutionären Ideen im Design und der Gestaltungspraxis gezogen84 . Krippendorffs Konstruktivismus und Jonas’ Prozessmodell sollen also als Basis dienen, um vergleichend dar-

81 | Nicht ganz überraschend gibt es hier auch eine Parallele zu den zwei Problemfeldern, die Wolfgang Jonas in den autopoietischen und evolutionsmechanischen Lücken ausmacht: dem Problem der Kontrolle und dem Problem der Vorhersage. Siehe Wolfgang Jonas. «Mind the Gap! - Über Wissen und Nichtwissen im Design. Oder: Es gibt nichts Theoretischeres als eine gute Praxis». In: Mind the Gap! Hrsg. von Wolfgang Jonas und Jan Meyer-Veden. Bremen: Hausschild, 2004, S. 47–70, S. 61. 82 | Uta Brandes, Sonja Stich und Miriam Wender. Design durch Gebrauch. Basel: Birkhäuser, 2009. Siehe auch S. 4. 83 | Dabei beziehe ich mich vor allem auf Klaus Krippendorff (Krippendorff, The Semantic Turn. A new foundation for design). 84 | Jonas, a. a. O.

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zustellen, wie unterschiedliche Designansätze die Koordination von Bedeutung zwischen Design und Gebrauch organisieren85 . 2.4.1 Jonas’ generisches Prozessmodell Wolfgang Jonas hat basierend auf systemisch-evolutionären Ideen ein generisches Modell vorgelegt, mit dem sich unterschiedliche Designprozesse und -methoden strukturiert und vergleichbar beschreiben lassen86 . Ich werde eine vereinfachte Version dieses Modells verwenden, um das Ineinandergreifen von Design und Gebrauch darzustellen. Hierfür ist es notwendig, ein paar theoretische Konzepte weiter auszuführen, auf denen das Modell basiert. Jonas’ Hauptanliegen ist die Beschreibung von Design als eigenständiger Forschungsdisziplin. Basierend auf radikalem Konstruktivismus und sozialer Systemtheorie identifiziert Jonas zwei grundlegende Arten von Lücken bzw. von Quellen der Unsicherheit, mit denen Designer zwangsläufig zu tun haben. Dabei handelt es sich einerseits um die Lücken zwischen autopoietischen Systemen (Bewusstsein, Kommunikation und Körper), andererseits um diejenigen zwischen den evolutionären Mechanismen von Variation, Selektion und Restabilisierung87 . Indem er sich auf evolutionäre Erkenntnistheorie bezieht, beschreibt Jonas den Gestaltungsprozess als eine Rückkopplungsschleife, die auf dem Überlebensbedürfnis von Organismen basiere88 . Design kann demnach als ein Kreislauf aus Handeln

85 | Das soll nicht heißen, dass Krippendorffs und Jonas’ Positionen in jeder Hinsicht miteinander vereinbar wären. Die Bezugstheorien beider Autoren mögen sich im Detail sogar widersprechen. Zum Zwecke des Vergleichs konzentriere ich mich hier auf die Ähnlichkeiten, nicht die Unterschiede. Zumindest das Konzept der Autopoiesis spielt sowohl bei Krippendorff als auch bei Niklas Luhmann eine Rolle, auf dessen Annahmen Jonas seine Theorie aufbaut (siehe ders., «Design as problem-solving? Or: Here is the solution - what was the problem?»). Weil es mir nicht um einen Vergleich der Bezugstheorien geht, vernachlässige ich solche tiefer liegenden Widersprüche an dieser Stelle. 86 | Ders., «Research through DESIGN through research - a problem statement and a conceptual sketch». 87 | Siehe ders., «Mind the Gap! - Über Wissen und Nichtwissen im Design. Oder: Es gibt nichts Theoretischeres als eine gute Praxis». Durch weitere Differenzierungen – beispielsweise durch die Beschreibung der Design-«Variation» als methodischen Prozess mit Analyse, Ideenfindung und Umsetzung – lassen sich diese Lücken genauer lokalisieren und beschreiben. Diese Differenzierung lässt sich laut Jonas fraktal weiterführen. 88 | Ebd.

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Design

Gebrauch

Abbildung 2.3: Design und Gebrauch als zirkulärer Prozess.

oder Gestalten und Reflektieren oder Benutzen betrachtet werden (Abb. 2.3). Darüber hinaus schlägt Jonas vor, alle drei Design-Phasen von Analyse, Projektion und Synthese als Teil eines Design(forschungs)prozesses zu betrachten. Diese Phasen korrespondieren mit den Wissensdomänen im Design, wie sie Nelson und Stolterman beschreiben89 . Jonas beschreibt die Phasen als voneinander unabhängig, so dass alle Kombinationen und möglichen Reihenfolgen theoretisch denkbar seien90 , auch wenn nur einige wenige tatsächlich Sinn ergäben. Die radikalkonstruktivistische Sicht legt nahe, dass der Gebrauch und die Aneignung neuer Gegenstände vergleichbar mit Design sind. Dementsprechend lässt sich die Gebrauchsseite des Kreislaufs aus Denken und Handeln in ähnliche Phasen aufteilen, die ich Aufnahme, Aneignung und Umnutzung nenne. Diese Begriffe sind keinem 89 | Harold Nelson und Erik Stolterman. «The First Tradition». In: The Design Way. Intentional Change in an Unpredictable World. New Jersey: Educational Technology Publications, 2003. Kap. 1, S. 9–25. 90 | Siehe auch Richard J Boland Jr und Fred Collopy. «Design in the punctuation of management action». In: Managing as Designing. Hrsg. von Richard J Boland Jr und Fred Collopy. Stanford: Stanford Business Books, 2004. Kap. 12, S. 106–112.

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Synthese

Aufnahme

S

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Projektion

Aneignung

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a b ili s i e r u n

g

Analyse

Umnutzung

Design Gebrauch

Abbildung 2.4: Unterteilung von Design und Gebrauch gemäß den Jonas’schen Prozessphasen.

vergleichbar ausgereiften Bezugssystem entnommen; sie werden allerdings häufig in der Literatur über den Gebrauch und die Umnutzung von Technik verwendet. Im vorliegenden Fall verwende ich «Aufnahme», um zu beschreiben, dass ein Gegenstand überhaupt benutzt wird; als «Aneignung» bezeichne ich die Veränderungen an Benutzer und Gegenstand, wenn der Gebrauch für eine bestimmte Anwendung angepasst wird; wenn diese Anpassung die Intentionen des Designers deutlich übersteigt (z.B. wenn der Gegenstand für einen anderen Zweck oder in einer völlig anderen Situation verwendet wird), nenne ich dies «Umnutzung». Wenn man nun die drei evolutionären Mechanismen in soziokulturellen Systemen aus Jonas’ Theorie auf dieses Schema überträgt, kann man den Kreis in Phasen der Variation, Selektion und Restabilisierung unterteilen. Mit Verweis auf Luhmann beschreibt Jonas diese drei Phasen als voneinander unabhängige evolutionäre Schritte91 .

91 | Er weist auch darauf hin, dass eine logische oder kausale Verbindung zwischen den Phasen zwar möglich, allerdings trotzdem unzugänglich sei, weil sie in der Unterscheidung von System und Umwelt zu verorten sei. Siehe Jonas, a. a. O.

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Designer produzierten Variationen von Gegenständen. Diese unterlägen der positiven oder negativen Selektion, sie werden also entweder gekauft, gebaut und imitiert, oder abgelehnt und vergessen. Das soziale System stabilisiere sich daraufhin wieder, man gewöhne sich an die Veränderungen durch die Dinge. Ich lege diesen Makroprozess nun also über die sechs Phasen von Design und Gebrauch, die ich bereits eingeführt habe.Variation deckt dann Projektion und Synthese ab; Selektion umfasst Aufnahme und Aneignung; Restabilisierung wiederum besteht aus Umnutzung und Analyse im Design (Abb. 2.4). 2.4.2 Vergleich von «Antizipation des Gebrauchs» und «Repräsentation der Benutzer» Das Prozessmodell erlaubt den Vergleich von benutzerorientiertem Design (boD), partizipativem Design (pD), kritischem Design (kD), und nicht-intentionalem Design (niD) nach der Bedeutung, die der «Antizipation des Gebrauchs» und der «Repräsentation der Benutzer» zugemessen wird (Abb. 2.5). Diese Ansätze stellen unterschiedliche Aspekte konstruktivistischer Designpraxis dar, wie sie Krippendorff erwähnt: Krippendorff ist selbst ein erkennbarer Fürsprecher des benutzerorientierten Designs und beschreibt das partizipative Design als eine Unterkategorie desselben92 . Nichtintentionales Design wird bei ihm als «Delegation des Design an den Benutzer»93 bezeichnet, das Benutzern erlaube, ihre eigenen Bedeutungen zu entwickeln. Kritisches Design wiederum bezieht sich auf die Gestaltung des Designdiskurses selbst94 . Das zyklische Prozessmodell dient nun dazu, die Sequenz von Designphasen und ihre Überschneidungen im Design und Gebrauch zu identifizieren und dadurch festzustellen, wie die Bedeutungsgenerierung organisiert wird. Die linke Seite des Diagramms bezeichnet hierbei die Phasen, die traditionell innerhalb des Designprozesses stattfinden; die rechte Seite steht für die Gebrauchsphasen. Der Kreis ist in eine äußere und innere Schicht unterteilt; die äußere Schicht steht für die Benutzer als Akteure, die innere für Designer. Dort, wo sich beide Schichten überlappen, findet ein Informationsaustausch oder eine Zusammenarbeit statt.

92 | Er bezeichnet dies als «dialogische Arten des Design». Siehe Krippendorff, a. a. O., S. 258-260. 93 | Ebd., S. 145. 94 | Ebd., S. 37.

52 | Gebrauch als Design

2.5 V IER W EGE

ZUM KONSTRUKTIVISTISCHEN

D ESIGN

Das Modell, das ich aus Jonas’ systemtheoretischer Designtheorie abgeleitet habe, verwende ich nun zum Vergleich dieser vier Ansätze. Dieser Vergleich ist eine von mehreren Möglichkeiten, Designansätze mit einer konstruktivistischen Perspektive in Beziehung zu setzen. Sie ergibt sich aus meinem Verständnis konstruktivistischer Theorie und bezieht sich auf die beiden Kriterien, die ich für die aussagekräftigsten halte. Es handelt sich nicht um eine erschöpfende Übersicht über konstruktivistische Designpraxis im Allgemeinen, sondern um eine zugespitzte Auswahl. Dementsprechend sind auch die einzelnen Ansätze so dargestellt, dass ihre Unterschiede in der gebotenen Kürze möglichst klar werden. 2.5.1 Benutzerorientiertes Design (boD) Benutzerorientiertes Design ist die am meisten angewandte und pragmatischste Form der konstruktivistischen Designpraxis. Wegen beschränkter Ressourcen und der Notwendigkeit, ein erfolgreiches Ergebnis zu produzieren, untersuchen praktizierende Designer in der Analysephase häufig das Verständnis der Benutzer, entweder direkt (z.B. in Fokusgruppen- oder Einzelinterviews) oder indirekt (in aggregierter, häufig narrativer Form, wie etwa mit Hilfe von Personas oder Anwendungsszenarien). Indirekte Benutzerdaten müssen häufig nicht extra hergestellt, sondern können für die spezifische Designaufgabe gesammelt werden. In iterativen Schleifen werden Skizzen, Form- und Funktionsmodelle mit Benutzern vor der finalen Umsetzung evaluiert. Das Ziel ist die Herstellung eines Produkts, das für alle Interessenvertreter wünschenswerte Bedeutungen produziert und in allen Phasen des Produktzyklus erfolgreich ist. Beispiele für benutzerorientiertes Design kann man in alltäglichen Konsumgegenständen finden, wie etwa Rasierapparaten, Küchengeräten, Backwaren oder Autos. Diese Dinge sind dafür gedacht, bestimmte Benutzergruppen mit ihren spezifischen Bedürfnissen anzusprechen. Diese Anforderungen können symbolischer Natur sein, beispielsweise bei der Verpackung eines Reinigungsprodukts, das so gestaltet werden soll, dass es mit Hygiene in Verbindung gebracht wird. Oder sie sind eher instrumentell, so wie im Software- oder Maschinendesign, wo benutzerorientiertes Design den Entwicklern dabei helfen soll, angemessene mentale Modelle zu entwickeln, die für die Handhabung durch die Benutzer hilfreich sind. Die Desktop-Metapher von Computer-Betriebssystemen ist ein frühes Beispiel für benutzerorientiertes Design für Büroangestellte.

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2.5.2 Partizipatives Design (pD) Partizipatives Design wird häufig als eine Unterart des benutzerorientierten Designs behandelt. Es erfordert allerdings eine direkte Einbeziehung von unterschiedlichen Akteuren, die von der Designproblemstellung betroffen sind. Diese Einbeziehung geschieht z.B. über Selbstbeobachtung mithilfe von verbalem und visuellem Material, das als Mittel zum Selbstausdruck aufbereitet wird. Zukünftige Benutzer nehmen an Workshops teil und produzieren dort Skizzen oder Modelle der von ihnen imaginierten Gegenstände. Im Gegenzug nehmen die Designer idealerweise an den Arbeitsprozessen der Benutzer teil. Zwischenergebnisse und Modelle werden im Anwendungskontext getestet und bewertet, zum Teil über längere Zeiträume, wenn dies möglich ist. Aneignung und Umnutzung sollen auf diese Weise den Designprozess direkt beeinflussen. Problem- und Prozesskonstruktion sind genau so Teil von partizipativen Designprozessen wie die Konstruktion von Gegenständen. Partizipatives Design wurde dort angewandt, wo Automatisierung die Arbeitsprozesse bedeutend verändert hat, wie dies z.B. bei elektronischen Patientenakten in Krankenhäusern oder Software-Anwendungen für Drucksachengestaltung der Fall war oder ist. Partizipative Designprozesse wurden auch in architektonischen Projekten zur Gestaltung öffentlicher oder halböffentlicher Räume angewandt, wie etwa bei Jugendzentren, Parkmöblierung, Spielplätzen oder Sozialwohnungen. Öffentliche Serviceangebote sind ein weiterer Bereich, in dem partizipatives Design die Akzeptanz z.B. von öffentlichen Gesundheitsdiensten erhöhen soll. Aber partizipative Methoden sind auch häufig Teil von benutzerorientierten Designprojekten auf kleinerer Ebene, wie etwa bei der Gestaltung von Autoinnenräumen oder Kinderspielzeug, um dort die Akzeptanz ebenfalls zu erhöhen. 2.5.3 Nichtintentionales Design (niD) Nichtintentionales Design passiert dort, wo ein gestalteter Gegenstand auf nicht vorgesehene Weise benutzt wird, oder wenn die Art der Benutzung absichtsvoll von der vorgeschriebenen Benutzung abweicht95 . Das passiert häufig aufgrund spontaner Bedürfnisse und ohne vorherige Planung. Beispiele für nicht-intentionales Design kann man in vielen Situationen im Alltag entdecken: Wenn ein Stuhl als Leiter oder Ablage

95 | Ich gehe hier zunächst von der Definition von Brandes aus, siehe Uta Brandes. «Nonintentional design». In: Design Dictionary. Perspectives on Design Terminology. Hrsg. von Michael Erlhoff und Tim Marshall. Basel: Birkhäuser, 2008, S. 270–272.

54 | Gebrauch als Design

Synthese

Aufnahme

Projektion

Aneignung

Analyse

Umnutzung Design

Gebrauch

Teilnahme an

Gebrauch antizipieren

partizipatives Design benutzerorientiertes Desig Repräsentation

Synthese

Aufnahme

Projektion

Aneignung

Analyse

Umnutzung Design

Gebrauch

Abbildung 2.5: Matrix mit vier Designansätzen nach Antizipation und Repräsentation.

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Analyse

Aufnahme

Projektion

Aneignung

Synthese

Umnutzung Design

Gebrauch

Gebrauch/ Design

nicht-intentionales Design Umnutzung kritisches Design

provozieren

der Benutzer Analyse

Aufnahme

Synthese

Aneignung

Projektion

Umnutzung Design

Gebrauch

56 | Gebrauch als Design

verwendet wird, ein Kronkorken als Aschenbecher, eine Weinflasche als Kerzenständer, Treppenstufen als Sitzgelegenheit, oder Messer als Korkenzieher. 2.5.4 Kritisches Design (kD) Im kritischen Design ist vor allem das Ergebnis des Designprozesses wichtig, der Prozess dagegen wird in der entsprechenden Literatur nur sehr spärlich dokumentiert. Vermutlich findet ähnlich wie im benutzerorientierten Design eine anfängliche Untersuchung der Designsituation statt, die allerdings nicht methodisch formalisiert abläuft bzw. nicht beschrieben wird. Die Teilnahme von Benutzern im Designprozess ist nicht notwendig. Allerdings zielen kritische Designprodukte darauf ab, Diskussionen über kontroverse gesellschaftliche Themen anzuregen. In einigen eher akademisch orientierten Projekten wurden Funktionsmodelle gebaut und in einer realen Anwendungssituation über längere Zeit getestet, hauptsächlich um ihre Eingliederung in den Alltag der Benutzer und die Aneignung zu beobachten96 . In solchen Projekten sind abweichende und sich widersprechende Interpretationen eines Konzepts oder Gegenstands durchaus ein gewünschtes Ergebnis. Kritisches Design behandelt Themen wie Energieproduktion und -konsum, medizinische Innovationen, Veränderungen in der Produktion von Nahrungsmitteln, oder den Umgang mit sich verändernden Kommunikationsmitteln. Prototypen aus solchen Projekten sind z.B. sich merkwürdig verhaltende Möbelstücke, oder illustrierte Geschichten über die Transformation von Haustieren zu Nahrungsquellen für fleischfressende Fernseher.

2.6 D IE B RÜCKEN

ÜBER DIE

L ÜCKEN

Die vier Ansätze zeigen nicht nur unterschiedliche Wege, um Design und Gebrauch zu verbinden, sondern darin auch unterschiedliche Strategien im Umgang mit Gebrauch als einer Art von Design. Auf diesen Aspekt möchte ich mich in der Auswertung mithilfe des Prozessmodells konzentrieren. Die Sequenz der Phasen in den

96 | Für Beispiele siehe Anthony Dunne und Fiona Raby. Design Noir: The secret life of electronic objects. Basel: Birkhäuser, 2001; William Gaver u. a. «Enhancing ubiquitous computing with user interpretation: Field testing the home health horoscope». In: Proceedings of the SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems. CHI ’07. New York: ACM, 2007, S. 537–546; Kristina Höök. «Designing familiar open surfaces». In: Proceedings of the 4th Nordic Conference on Human-computer Interaction: Changing Roles. NordiCHI ’06. New York: ACM, 2006, S. 242–251.

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Synthese

Aufnahme

Projektion

Aneignung

Analyse

Umnutzung Design

Gebrauch

Abbildung 2.6: Benutzerorientiertes Design im Prozessmodell.

jeweiligen Designprozessen gibt Aufschluss darüber, ob es sich um einen konsolidierenden (für eine bereits erfasste Problemsituation) oder diversifizierenden (ergebnisoffenen) Gestaltungsprozess handelt. 2.6.1 Benutzerorientiertes Design: Warten auf die nächste Iteration Im benutzerorientierten Design beginnt der Gestaltungsprozess typischerweise mit einer ausführlichen Analyse, gefolgt von Projektion und Synthese. Design und Gebrauch überlappen sich in der Analysephase, wenn es darum geht, relevante Bedeutungsstrukturen für das Designproblem zu untersuchen (Abb. 2.6). Wie schon erwähnt, wurde benutzerorientiertes Design entwickelt, um im Industriekontext mit einer faktischen Trennung professioneller Rollen zu einem besseren Ergebnis zu kommen. Ein direktes Einbeziehen von Benutzern ist in diesem Zusammenhang häufig nicht praktikabel und wird allenfalls durch wissenschaftliche Untersuchungsergebnisse aufgefangen97 . Die Probleme im Bezug auf Design – die An97 | Benutzer sind in industriellen Entwurfsprozessen zudem nicht immer die wichtigsten Interessenvertreter, wenn es darum geht, einen Entwurf auch tatsächlich umzusetzen. Krippendorff

58 | Gebrauch als Design

wendungslücke, den latenten Konservatismus – habe ich in Abschnitt 2.3.2 bereits geschildert. Die Distanz, die dadurch zwischen Design und Gebrauch bestehen bleibt, wird im Modell nun besonders deutlich: Dort überlappen sich Gebrauchs- und Designpraxis vor allem in der Analysephase. Dadurch gibt es zwar Gelegenheit, die faktisch schon vorhandenen Umnutzungsweisen in die nächste Iteration des Designs mit einzubeziehen. Emergenter Gebrauch als kreative Aneignung ist jedoch nicht Teil des Designprozesses, weil in der Designphase nur die bereits etablierten Umnutzungsmuster als faktisch vorhanden jeweils wieder aufgenommen werden. Umnutzung liefert damit lediglich die Daten für die nächste Iteration. Der professionelle Designer ist in seiner Autorität latent dadurch bedroht, dass der Benutzer im Gebrauch womöglich zu originelleren Abweichungen kommt, während der Designprofi die neuen Gebrauchspraktiken in der nächsten Iteration nur wieder operationalisiert und in das Produkt «einschreibt». 2.6.2 Partizipatives Design: Flächendeckende Zusammenarbeit In einem idealen partizipativen Designprozess überlappen sich Gebrauch und Gestaltung nahtlos. In der anfänglichen Analyse gibt es ein gegenseitiges Erleben der Arbeitspraxis sowohl der Designer als auch der Benutzer. In der Entwurfsphase agieren Designerinnen als Vermittler, die anderen bei der Konkretisierung ihrer Ideen helfen. Die Ergebnisse der Synthese, beispielsweise funktionale Prototypen, werden daraufhin evaluiert, wie sie im Gebrauch aufgenommen und angeeignet werden (Abb. 2.7). Partizipatives Design ist entstanden, um die Unzulänglichkeiten des benutzerorientierten Designs zur Delegation von Entscheidungsmacht an andere Akteure zu beheben. Anstatt die professionelle Trennung von Design und Gebrauch zu akzeptieren, gestalten partizipative Designerinnen ihre Projekte als gegenseitigen Lernprozess und als eine gemeinsame Konstruktion von Problem und Lösung. Sie beurteilen die direkte Kommunikation und gemeinsame Praxis als notwendig und eine indirekte Repräsentation als nicht ausreichend. Die gemeinsame Problemformulierung kann dementsprechend Teil der Analyse sein. Die resultierenden Produkte sind häufig absichtsvoll so aufgebaut, dass sie Ab-

weist darauf hin, dass eine reine Benutzerperspektive für Designer zu eng gefasst ist. Selbst bei einem perfekten benutzerorientierten Design müssen andere Akteure wie Produzenten, Verkäufer und bisweilen politische Organisationen von dem Entwurf überzeugt werden, bevor es zu einer Umsetzung kommt. Krippendorff, a. a. O., S. 180-183.

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Synthese

Aufnahme

Projektion

Aneignung

Analyse

Umnutzung Design

Gebrauch

Abbildung 2.7: Partizipatives Design im Prozessmodell.

wandlungen und Erweiterungen im Gebrauch erlauben. Designentscheidungen werden an Benutzer übertragen und damit auch das höhere Risiko in Kauf genommen, dass es zu Inkonsistenzen oder Fehlern in der Arbeitsumgebung kommt98 . Idealerweise führt dieser Designprozess zu anhaltendem «Design im Gebrauch»99 , in dem sich materielle Strukturen und Gebrauchspraxen parallel verändern. Im Prinzip sehen partizipative Designer sich nicht als die einzigen kreativen Akteure im Designprozess, sondern übernehmen die Verantwortung, ihre professionellen

98 | Gregory erwähnt den Fall des District Health Information Systems, um diesen Sachverhalt zu illustrieren. Siehe Gregory, a. a. O. 99 | So bezeichnet z.B. Henderson das Phänomen (Austin Henderson und Morten Kyng. «There’s no place like home: Continuing design in use». In: Design at Work. Hrsg. von Joan Greenbaum und Morten Kyng. Boca Raton, London, New York: CRC Press, 1991, S. 219–240), bei de Vaujany wird es «design-in-making» genannt (Francois-Xavier de Vaujany und Wlad Préactis Fomin. «Design in practice: Bridging the gap between design and use dichotomies in practice-based studies». In: MPRA Papers 1339.1339 [2007]. URL: http : / / mpra . ub . uni-muenchen.de/1339/).

60 | Gebrauch als Design

Fähigkeiten zur Vermittlung zwischen allen wichtigen Akteuren zu nutzen100 . Allerdings liegt die Umsetzung letztlich wieder im Bereich professioneller Designpraxis und muss mit den anvisierten Benutzern evaluiert werden. In der Projektionsphase geschieht die Vermittlung zwischen Designerinnen und Benutzerinnen über Methoden, die in ihrer Ausdrucksweise den Designern sehr vertraut, den Benutzern aber unter Umständen fremd sind101 . Krankenpfleger, Lastwagenfahrer oder Geschäftsleute müssen ihre Wünsche nicht nur in geschriebene oder gesprochene Sprache, sondern auch in Skizzen, Papiermodelle oder Collagen übersetzen. Partizipative Designerinnen beobachten Aneignungsprozesse und selbstgebaute Produkte und beschäftigen sich intensiv damit, wie man diese in die Gestaltungspraxis einbinden kann. Die Vermittlung der professionellen Designpraxis und das Verständnis der Handlungsroutinen anderer bleibt jedoch ein Problem für Designer, weil Erfahrungen nur begrenzt über Kommunikation mitgeteilt werden können. In einem überspitzen Verständnis des partizipativen Designs legitimiert der Prozess das Ergebnis. Das materielle Resultat ist in seiner Qualität und Angemessenheit nicht ausschließlich daran zu messen, ob es im Gebrauch erfolgreich ist. Professionelle Designer müssen ihre Gestaltungskompetenz auf Moderation und Kommunikation ausweiten, was wiederum andere Fähigkeiten erfordert als die, die in der Designausbildung vermittelt werden. Das Dilemma des partizipativen Design liegt in der Verantwortung, die mit der Gestaltungsmacht an die Benutzer delegiert wird, und die auch Fehler und Irrtümer nicht ausschließt. 2.6.3 Nichtintentionales Design: Nicht viel Reflektion in Aktion Im nichtintentionalen Design sind Design und Gebrauch nicht getrennt, sondern überlappen sich (Abb. 2.8). Dabei handelt es sich um den Idealfall von Partizipation im Design (da Benutzer und Designer ein und dieselbe Person sind) ohne jede Vorwegnahme des Gebrauchs

100 | Sanders und William, a. a. O. 101 | Die Ergebnisse von partizipativen Designworkshops mögen sich gut für die Interpretation durch Designerinnen eignen und damit eine gute Inspirationsquelle darstellen. Allerdings sind diese Workshops schon Teil eines «Designspiels», also von kontrollierten Situationen, in denen Menschen zu Dingen aufgefordert werden, die sie sonst nicht tun würden. Wie gut solche Workshop-Ergebnisse sich als Ausdruck latenter Bedürfnisse lesen lassen oder doch sehr stark von dem Rahmen abhängen, den die Gestalter setzen, wird weiterhin untersucht. Zudem müssen die Ergebnisse aus Sicht des Designers evaluiert werden, der letztlich für die konkrete Umsetzung verantwortlich ist. Damit sind sie einem weiteren professionellen Filter unterzogen.

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Analyse

Aufnahme

Projektion

Aneignung

Synthese

Umnutzung Design

Gebrauch

Abbildung 2.8: Nicht-intentionales Design.

(die Dinge werden einfach benutzt bzw. umgenutzt). Von professionellen Designern, selbst die mit konstruktivistischer Denkweise, wird diese Art des Handelns in der Regel immer noch nicht als ernstzunehmende Form der Gestaltung eingeordnet102 . Wenn man die Überschneidungen der Prozessphasen betrachtet, lassen sich professionelles Design und nicht-intentionales Design dennoch vergleichen: Beide zielen darauf ab, bestehende Situationen mit dem vorhandenen Material zu verändern. Nichtintentionale Designeingriffe sind die Vorstufe dessen, was andere Designforscher mit den Begriffen Bricolage, Improvisation und Umnutzung als Formen von Design beschrieben haben103 . Je mehr das nicht-intentionale Design als solches anerkannt wird,

102 | Dies liegt an den deutlich spürbaren Unterschieden in der gestalterischen Handlungsweise, die durch Professionalisierung zustande kommt. So betont Krippendorff, dass Designer ihre professionelle Identität durch ihren speziellen Diskurs konstruieren, der andere Professionen deutlich ausschließt (Krippendorff, a. a. O., S. 32-37.). Ob nicht-intentionales Design eine eigene Kategorie verdient, ist natürlich streitbar. Im Bezug auf den Kreislauf von Reflektion und Handlung schlage ich vor, es als einen Sonderfall von Design zu betrachten. 103 | Monika Büscher u. a. «Landscapes of practice: Bricolage as a method for situated design». In: Computer Supported Cooperative Work (CSCW) 10.1 (2001), S. 1–28; Elizabeth Gerber.

62 | Gebrauch als Design

desto mehr erzwingt diese Anerkennung, die professionelle Position von Designern neu zu bestimmen. In der engen Definition von Brandes104 ist es in der Tat schwierig, Schlussfolgerungen aus dem nichtintentionalen Design für die professionelle Praxis zu ziehen105 . Für meinen Vergleich betrachte ich es jedenfalls als einen Designprozess und beziehe die Kategorien ein, die Brandes ausschließt, so wie Do-It-Yourself, und Umnutzung, die stattfindet, um einen existierenden Gegenstand zu ersetzen106 . Besonders interessant sind die Begleitumstände und Voraussetzungen, unter denen nicht-intentionales Design stattfindet. Auch wenn diese Art des Design nicht immer aufregend und originell ist, hat die Personalunion von Benutzer und Designer ihre Vorteile, weil dadurch keine Kommunikation mit Dritten stattfinden muss. Die Bedeutungen von nicht-intentionalem Design müssen nicht in den Sprachgebrauch eingebracht werden107 . Zudem sind die Eingriffe häufig umkehrbar, so dass Design vor allem als Prozess vorkommt und weniger als Produkt. Als eine Art der Designpraxis benötigt nicht-intentionales Design keine eigenen Produktionsmittel, kann aber – wenn es einmal erkannt und benannt wurde – sehr leicht kommuniziert und imitiert, verändert und angepasst werden.

«Improvisation principles and techniques for design». In: Proceedings of the SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems. CHI ’07. New York: ACM, 2007, S. 1069– 1072; Elizabeth Gerber. «Using improvisation to enhance the effectiveness of brainstorming». In: Proceedings of the SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems. CHI ’09. New York: ACM, 2009, S. 97–104. 104 | Brandes schließt ausdrücklich verwandte Praktiken wie Do-It-Yourself, Umnutzung aufgrund von Mangel, oder den Nachbau von prestigeträchtigen Dingen mit hohem symbolischen Wert aus: «Non-intentional design, however, is not a design process; nothing is designed, as such» (Brandes, a. a. O., S. 271). 105 | Brandes nennt eine Reihe genereller Eigenschaften, die nichtintentionales Design aufweist, so wie billige Materialien, Multifunktionalität, Einfachheit, Reversibilität, und dergleichen. Siehe ebd. Solche allgemeinen Prinzipien sind hilfreich, aber die große empirische Sammlung an Beispielen ermöglicht darüber hinaus auch weitere Schlussfolgerungen. 106 | Ich folge darin Jonas’ Begriff von Design als Variation, oder Variation (durch menschliche Akteure) als Design, und betrachte damit auch die Rekombination auf unterschiedlichen Ebenen. Mein Interesse liegt mehr in den Effekten, also dem Ausmaß der Variation, und weniger in der Intention, die für Brandes’ Definition ausschlaggebend ist. 107 | Das hat allerdings auch den Nachteil, dass Praktiken, die nicht benannt werden, für Außenstehende nicht ohne weiteres zugänglich sind.

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Analyse

Aufnahme

Synthese

Aneignung

Projektion

Umnutzung Design

Gebrauch

Abbildung 2.9: Kritisches Design.

2.6.4 Kritisches Design: Debatten anstoßen In akademischen Projekten des kritischen Design erscheint der Designprozess etwas anders als der von benutzerorientiertem oder partizipativem Design: Die anfängliche Analyse der Designsituation ist weniger wichtig als die Evaluation am Ende oder zumindest weniger formalisiert und beschrieben als in den anderen Designansätzen. Projektion und Synthese gehen der Analyse voraus, die dagegen weit in die Aufnahme und Anpassung der Gegenstände hineinragt. Kritisches Design stellt damit die Antithese zu einem benutzerorientierten Designprozess dar: Bestehende Bedeutungen werden als Grundlage genommen, jedoch nur, um daraus die am weitesten vom Konsens abweichenden als Inspiration für das Design auszuwählen, und die vertrauten Konventionen vorzuführen, indem man sie ins Gegenteil verkehrt108 . Das erscheint logisch, da das beabsichtigte Ergebnis von 108 | So verfügen z.B die Möbelstücke in Dunne und Rabys «Placebo Project» über «ParaFunktionalität», um auf elektromagnetische Strahlung zu reagieren (Dunne und Raby, a. a. O.). Diese Möbel wurden im Hinblick auf die vermeintlichen oder tatsächlichen Bedürfnisse einer sehr kleinen und speziellen Nutzergruppe gestaltet.

64 | Gebrauch als Design

kritischem Design das Provozieren öffentlicher Debatten ist. Funktionale Prototypen werden gebaut und Leuten zum Gebrauch überlassen, um deren individuell abweichende Interpretationen zu beobachten109 . Designer versuchen hier also, auf Gebrauch als produktive Ergänzung zum Design einzugehen. Allerdings ist nicht klar, ob damit immer eine Delegation des Designs an die Benutzerinnen beabsichtigt ist. Im Gebrauch erreichen kritische Designgegenstände nur eine kleine Gruppe an Benutzern. Ein größeres Publikum wird über die Verbreitung der Gegenstände über Massenmedien und Ausstellungen zur Diskussion angeregt110 . Allerdings werden die Gegenstände dann häufig in eine Narration eingebettet, die eine spekulative Vorwegnahme des Gebrauchs einschließt. Die ursprüngliche Skepsis des kritischen Designs gegenüber industrieller Massenproduktion erfordert beinahe, dass es im akademischen oder künstlerischen Umfeld betrieben wird. Dadurch kann es in seiner Haltung sehr viel besser abweichende Bedeutungen verarbeiten als benutzerorientiertes Design. Kritische kontroverse Entwürfe drehen sich um Themen, die zum Teil ethische, gesetzliche oder politische Standards empfindlich verletzen. Das private Verständnis eines Gegenstands muss daher virtuell bleiben und kann oder darf nicht ausagiert werden. Inwieweit es den eigenen Anspruch erfüllt, öffentliche Debatten über kontroverse Themen anzufachen, ist fraglich111 . Bisher widersetzt sich der Ansatz allerdings auch einer einfachen Eingliederung in die designerische Alltagspraxis112 .

109 | Phoebe Sengers und William Gaver. «Staying open to interpretation: Engaging multiple meanings in design and evaluation». In: Proceedings of DIS 2006. University Park: ACM Press, 2006, S. 99–108. 110 | Und auch diese Verbreitung ist unter Umständen sehr selektiv. Siehe Emily Dawson. «Speculative design and the issue of public participation». In: Practicing Science and Technology, Performing the Social. Proceedings of EASST 2010. Trento: EASST, 2010, S. 157. 111 | Die Öffentlichkeit, die kritische Designprojekte mit ihren Arbeiten erreichen, ist zumindest stark begrenzt und besteht aus dem Umfeld der Urheber bzw. deren Zeitungsartikeln und Gadget-Blogs. Diese Art der Öffentlichkeitsarbeit nimmt in der Regel existierende Debatten auf, z.B. über die zukünftige Bedeutung von DNA-Analysen für das Sozialleben. Kritisches Design ergänzt diese Diskussion sehr wirksam, löst aber in engeren Sinne selbst keine Kontroversen aus. 112 | Dennoch gibt es Versuche, vergleichbar verstörende Entwürfe als Methode in etablierte benutzerorientierte Designprozesse zu integrieren. Siehe Bowen, a. a. O.

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2.7 S CHLUSSFOLGERUNGEN Der Gebrauch spielt für die Designpraxis eine zunehmend wichtige Rolle. Historisch gesehen lässt sich eine Erweiterung des Blickwinkels auf das Designproblem beobachten, das von der eher isoliert betrachteten «Funktion» eines Gegenstands auf den materiellen, sozialen und kulturellen Anwendungskontext und die Problemdefinition selbst ausgedehnt wurde. Damit wird die Aneignung bzw. der originelle Gebrauch von Gegenständen selbst in die Nähe von Design gerückt und als aktive Bedeutungskonstruktion anerkannt. Hier macht sich der Einfluss sozialkostruktivistischer113 Positionen bemerkbar, die maßgeblich zu methodischen Innovationen wie dem benutzerorientierten Design beigetragen haben. Ein Blick auf die unterschiedlichen Praktiken im Design zeigt allerdings auch, dass eine konstruktivistische Sichtweise im Design zwar theoretisch etabliert ist, methodisch aber nicht immer voll umgesetzt wird. In der Theoriediskussion sind so Design und Gebrauch stärker verbunden, als dies in der vorherrschenden Designpraxis zum Ausdruck kommt. Vielversprechende Ansätze finden sich dort, wo emergenter Gebrauch im Designprozess akzeptiert oder sogar provoziert werden soll. Mein Vergleich zeigt, wie unterschiedliche Designansätze mit der Bedeutungskonstruktion im Gebrauch umgehen: Benutzerorientiertes Design muss Bedeutungen eher konsolidieren als diversifizieren, um einen verlässlichen Gebrauch sicherstellen zu können. Partizipatives Design versucht die funktionale Differenzierung mit demokratischen Idealen und intensiver Kommunikation zu überbrücken. Auch wenn partizipative Designeingriffe darauf ausgelegt sind, Veränderungen in der Handlungspraxis und weiterführend in der Gesellschaft herbeizuführen, soll dies in Abstimmung mit den betroffenen Parteien passieren. Design wird zum Design von partizipativen Entwurfsprozessen und -werkzeugen. Beide Ansätze basieren auf Konsens oder Kompromissen der einen oder anderen Art. Kritisches Design und nicht-intentionales Design benötigen dagegen keinerlei Konsens. Kritisches Design legt es darauf an, kontroverse Debatten anzustoßen. Da der Diskurs das eigentliche Ziel ist, ist eine materielle Umsetzung eines Entwurfs nicht zwingend notwendig, um den Effekt eines Konzepts zu demonstrieren. Nichtintentionales Design kann dagegen Kommunikation und industrielle Fertigung komplett umgehen, weil es einfach nur auf der Umnutzung existierender Gegenstände 113 | Zumindest für das benutzerorienterte Design erscheinen sozialkonstruktivistische Perspektiven auf den Gebrauch maßgeblicher als radikalkonstruktivistische, die dagegen bei der Analyse der individuellen – nicht der durch soziale Routinen geprägten – Bedeutungskonstruktion eine größere Rolle spielen.

66 | Gebrauch als Design

basiert. Beide Ansätze beruhen auf einer Differenzierung der Bedeutung, aber ihre Prozesse sind aus Designsicht noch schlecht erschlossen und beschrieben. Kritisches und nicht-intentionales Design haben aus einer konstruktivistischen Perspektive heraus mehr Potenzial, Gebrauch-als-Design zu provozieren, als benutzerorientiertes und partizipatives Design114 . Gerade dann, wenn Designerinnen sich nicht auf die freundlichen Begleitumstände verlassen können, die man für partizipatives Design benötigt, können kritisches und nicht-intentionales Design wertvolle Strategien bereitstellen. Kritisches Design bewahrt eine professionelle Position für Designer – ihre Fähigkeit, weitreichende Variationen herzustellen – und findet gleichzeitig eine andere Art, mit Design im Gebrauch umzugehen. Nicht-intentionales Design als Phänomen kann weiter untersucht werden und zum besseren Verständnis des «infrastructuring» im partizipativen Design beitragen. Kritisches und nicht-intentionales Design zeigen in diesem Zusammenhang methodische Ansätze auf, die ohne eine Vorwegnahme des Gebrauchs, aber mit einer starken Delegation des Designs in die Gebrauchsphase arbeiten. Designmethodisch und theoretisch liefern das kritische Design und die kritische Praxis innerhalb der MMI selbst einige Anregungen, die eine weitere Untersuchung lohnen.

114 | Damit meine ich die vorherrschenden Methoden im partizipativen Design. Der Ansatz und die damit verbundene Forschergemeinde ist durchaus aufgeschlossen gegenüber den methodischen Vorgehensweisen, wie sie das kritische Design bietet. Die kritische Designarbeit ist aber letztlich nicht das Hauptziel im partizipativen Design.

3 Aneignung provozieren

Designer können die Unsicherheit über die Auswirkungen ihrer Produkte nicht ausräumen. Der Interpretationsspielraum, den ein unbekannter Gegenstand notwendigerweise hat, lässt sich allenfalls eingrenzen, z.B. durch die Festlegung eines möglichst eindeutigen Anwendungszusammenhangs und einer klar definierten Benutzergruppe. Wenn die Interpretation des Gegenstands in dieser Form stärker festgelegt wird, geht allerdings auch die Freiheit verloren, seine Bedeutung im Design und Gebrauch neu auszuhandeln. Neuere Designstrategien zielen deswegen weniger auf Kontrolle und Vorwegnahme des Gebrauchs ab, sondern ermutigen die Bedeutungskonstruktion im Gebrauch, die in diesem Zusammenhang in der Regel als «Aneignung» bezeichnet wird. Schon für Gegenstände mit klar definiertem Anwendungszweck ist dieser Aneignungsprozess riskant und unsicher. Dies gilt umso mehr für experimentelle Interfaces, bei denen noch weniger klar ist, wie sie sich in den Lebensalltag ihrer Benutzer einfügen. Es ist noch weitgehend unerforscht, wie sich die Gestaltung des Gegenstands auf die Aneignung auswirkt, was sie begünstigt und was sie begrenzt. Um mehr darüber zu erfahren, ist es zunächst notwendig, einen näheren Blick auf den Begriff der Aneignung zu werfen, der zum Teil ganz unterschiedliche Facetten der Bedeutungskonstruktion im Gebrauch bezeichnet. Im vorhergehenden Kapitel habe ich diese Vielschichtigkeit angedeutet, indem ich den Gebrauchsprozess in die drei Phasen von Aufnahme, Aneignung und Umnutzung unterschieden habe. Die Bedeutung des Begriffs erstreckt sich damit von eher symbolischen bis hin zu instrumentellen Veränderungen am Gegenstand, die von der Intention der Gestalterin abweichen.

68 | Gebrauch als Design

3.1 AUFNAHME , A NEIGNUNG , U MNUTZUNG Der Begriff der Aneignung wird in der MMI häufig verwendet, um zu bezeichnen, wie Benutzer einen Gegenstand im Gebrauch mit Bedeutungen in Verbindung bringen, die im Designprozess selbst nicht vorgesehen waren. Er hat hier deutliche Parallelen mit den Begriffen der «Domestizierung»1 oder «Implementierung»2 , die den Arbeitsaufwand beschreiben, der benötigt wird, um ein Artefakt in einer Anwendungssituation zum Funktionieren zu bringen. Gleichzeitig wird der Begriff der Aneignung weniger spezifisch benutzt als in der Organisationsforschung oder Psychologie, wo seine marxistischen und strukturationstheoretischen Einflüsse teilweise deutlicher hervortreten3 . Gemeinsam ist den unterschiedlichen Deutungen in der Regel, dass sie eine nicht-deterministische Sichtweise auf Technikgebrauch vertreten und den abweichenden Gebrauch mit den Gebrauchserwartungen der Designer in Bezug setzen. Dadurch haben sie die gegenseitige Beeinflussung technischer Geräte und sozialer Verhaltensweisen im Blick4 .

1 | z.B Knut H Sørensen. «Domestication: The enactment of technology». In: Domestication of Media and Technology. Hrsg. von Thomas Berker u. a. New York: Open University Press, 2006. Kap. 3, S. 40–61, hier S. 47; Mika Pantzar. «Domestication of everyday life technology: Dynamic views on the social histories of artifacts». In: Design Issues 13.3 (1997), S. 52–65. 2 | Fleck, a. a. O. 3 | So führt Baillette in ihrem Überblick über die Rezeption von Aneignung in der englischund französischsprachigen techniksoziologischen Literatur die unterschiedlichen Konnotationen darauf zurück, dass in der einen Lesart Aneignung stärker im Zusammenhang mit Entfremdung interpretiert wird, im Unterschied zum Verständnis der Aneignung als Einverleibung (Pamela Baillette und Chris Kimble. «The concept of appropriation as a heuristic for conceptualising the relationship between technology, people and organisations». In: CoRR abs/0804.2847 [2008]). Der Entfremdungsaspekt ist in der MMI in der Regel weniger präsent. Leonardi und Barley beschreiben Aneignung als eine von fünf vorherrschenden Perspektiven auf die soziale Konstruktion von Technik, die sich vor allem dem Gebrauch widmet (Paul M Leonardi und Stephen R Barley. «What’s under construction here? Social action, materiality, and power in constructivist studies of technology and organizing». In: The Academy of Management Annals 4.1 [2010], S. 1–51). Die Verwendung von Aneignung in der MMI umfasst aber häufig auch das, was Leonardi und Barley «enactment» nennen und was mehr dem improvisierten, situativen Gebrauch entspricht.

Aneignung provozieren | 69

Produktion

Aufnahme

Aneignung

Umnutzung mit Umstrukturierung

Neuerfindung

Umnutzung ohne Umstrukturierung

Adaption

keine Umnutzung

Reinterpretation

Prozessphasen der Aneignung

semantische Assoziation, Gebrauch, Struktur

“Design-im-Gebrauch” nach Intensität der Intervention

semantische Assoziation, Gebrauch semantische Assoziation Zeit

Abbildung 3.1: Unterschiedliche Intensitäten der Aneignung nach Ron Eglash5 , mit Lokalisierung von Design-im-Gebrauch und in Kombination mit den von mir beschriebenen Prozessphasen der Aneignung im Gebrauch.

Der Begriff der Aneignung wird in der MMI für eine breite Palette von Handlungen verwendet, in denen die Zu-Eigen-Machung des Gegenstands sichtbar wird: Von der instrumentellen Ingebrauchnahme neuer Dinge im Arbeitsumfeld6 über den nicht nur instrumentellen, sondern persönlich geprägten Alltagsumgang mit Tech-

4 | In ihrer strukturationstheoretischen Lesart unterscheiden DeSanctis und Poole den regulären und abweichenden Gebrauch von Gegenständen als «getreue» und «ironische» Aneignung, vor allem mit Blick auf soziale Veränderungen innerhalb von Organisationen (Geraldine DeSanctis und Marshall S Poole. «Capturing the complexity in advanced technology use - adaptive structuration theory». In: Organization Science 5.2 [1994], S. 121–147). Diese Deutung ist anderen Autoren in der MMI allerdings häufig zu spezifisch; so grenzt sich Dourish bewusst von DeSanctis’ und Pooles Darstellung ab, auch wenn er Aneignung ganz ähnlich als kollaborative Anpassungsleistung beschreibt (Paul Dourish. «The appropriation of interactive technologies: Some lessons from placeless documents». In: Computer Supported Cooperative Work (CSCW) 12.4 [2003], S. 465–490). 5 | Ron Eglash. «Appropriating technology: An introduction». In: Appropriating Technology. Vernacular Science and Social Power. Hrsg. von Ron Eglash u. a. Minnesota: University of Minnesota Press, 2004, S. VII–XXI. 6 | Waycott beschreibt z.B. die instrumentelle Ebene am Beispiel von PDAs (Jenny Waycott. «Appropriating tools and shaping activities: The use of PDAs in the workplace». In: Mobile World: Past, Present and Future. Hrsg. von Lynne Hamill und Amparo Lasen. New York: Springer, 2005. Kap. 7, S. 119–139).

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nik7 bis zur Bedeutungskonstruktion rund um Technik, die kulturell geprägt ist8 . Bei design-nahen Tätigkeiten wie Do-It-Yourself-Praktiken oder Reparaturen wird Aneignung als eine Art der Selbstermächtigung konzipiert9 . Die mannigfaltigen Arten der Aneignung lassen sich analytisch unterscheiden nach ihren Veränderungen in der semantischen Assoziation, dem Gebrauch und der (materiellen) Struktur. Diese Unterscheidung schlägt Ron Eglash vor, der damit eine große Bandbreite an Fallstudien zur Aneignung analysiert. Er benennt sie mit den Begriffen Reinterpretation, Adaption und Neuerfindung10 . Für Design im Gebrauch ist vor allem das ausschlaggebend, was Eglash als Adaption und Neuerfindung bezeichnet (Abb. 3.1). Diese beiden Begriffe beziehen sich explizit auf sichtbare Veränderungen im Gebrauch, bzw. Eingriffe in die materielle Struktur der angeeigneten Gegenstände. Sie setzen die Reinterpretation damit schon voraus. Zugleich ist die Aneignung als nachvollziehbare Gebrauchshandlung sichtbar, was besonders wichtig für eine Bezugnahme auf das Interaktionsdesign ist. Die Begriffe von Aufnahme, Aneignung und Umnutzung unterscheide ich daher wie folgt: Aufnahme (adoption): Eine Person setzt sich überhaupt mit einem Gegenstand auseinander. Aneignung (appropriation): Der Gegenstand wird mit persönlicher (symbolischer) Bedeutung aufgeladen, durch persönliche Erlebnisse, Deutungen und Handlungen, die damit in Verbindung gebracht werden können. Die angebotenen Funktionen des Gegenstands werden beibehalten, aber für unerwartete Zwecke benutzt. 7 | Turner sieht hier die Personalisierung von Dingen als Zeichen für die aneignende Einverleibung im Alltag (Phil Turner. «Everyday coping: The appropriation of technology». In: Proceedings of the 29th Annual European Conference on Cognitive Ergonomics. ECCE ’11. New York: ACM, 2011, S. 127–133), wie sie z.B. bei Ahde beschrieben wird, die aus dingbiografischer Sicht die persönliche Verschönerung als eine Art der Aneignung untersucht (Petra Ahde. «Appropriation by adornments: Personalization makes the everyday life more pleasant». In: Proceedings of the 2007 conference on Designing pleasurable products and interfaces. DPPI ’07. New York: ACM, 2007, S. 148–157). 8 | Lindtner, Anderson und Dourish erweitern die instrumentelle Bedeutung von Aneignung als unerwartete Nutzung, indem sie den kulturellen Anwendungszusammenhang als grundlegend für die Deutung technischer Gegenstände thematisieren und damit die Werteaspekte von Aneignung beleuchten (Silvia Lindtner, Ken Anderson und Paul Dourish. «Cultural appropriation: Information technologies as sites of transnational imagination». In: Proceedings of the ACM 2012 conference on Computer Supported Cooperative Work. CSCW ’12. New York: ACM, 2012, S. 77–86).

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Umnutzung (reuse): Der sozial genormte Gebrauch wird durch einen selbst erdachten oder nachgeahmten, abweichenden Gebrauch ersetzt, der nicht mehr der intendierten Funktion des Gegenstands entspricht. Es kommt nicht nur zur symbolischen, sondern auch zur instrumentellen Aneignung.

Diese Begriffe beschreiben sowohl eine zeitliche Reihenfolge in der Auseinandersetzung mit Gegenständen, als auch die Intensität der Auseinandersetzung. Bei der Verwendung der Begriffe Aneignung und Umnutzung gehe ich davon aus, dass die Aneignung eine Umnutzung nicht automatisch nach sich zieht. In meiner Untersuchung selbst interessiere ich mich vor allem für die Aneignungsprozesse, bei denen es auch zu Umnutzung kommt. Um das Phänomen der Umnutzung mit oder ohne Veränderungen der materiellen Struktur zu bezeichnen, verwende ich im weiteren Text den Ausdruck des Design-im-Gebrauch. Dieser bezeichnet explizit das Ausmaß der Aneignung, das instrumentelle (also nicht nur die symbolische) Abweichungen im Gebrauch beinhalten. In dieser Form der Umnutzung sind die Parallelen mit professioneller Gestaltung am deutlichsten. 3.1.1 Designempfehlungen zur Aneignung Die Analyse von symbolischer und instrumenteller Aneignung ist in der Literatur häufig bereits mit praktischen Empfehlungen verbunden. Diese Handlungsanweisungen beziehen sich meist auf Software oder Interfaces als Designgegenstand11 . Trotz der fachspezifischen Unterschiede in den Formulierungen lassen sich in diesen Handlungsempfehlungen viele Gemeinsamkeiten identifizieren. Empfohlen wird: 9 | So z.B. in der Untersuchung von Akah und Bardzell zur Steampunk-DIY-Szene (Binaebi Akah und Shaowen Bardzell. «Empowering products: Personal identity through the act of appropriation». In: Proceedings of the 28th of the international conference extended abstracts on Human factors in computing systems. CHI EA ’10. New York: ACM, 2010, S. 4021–4026) und Maestri und Wakkarys Studie zur umnutzenden Aneignung von kaputten Objekten durch Reparatur (Leah Maestri und Ron Wakkary. «Understanding repair as a creative process of everyday design». In: Proceedings of the 8th ACM SIGCHI conference on Creativity & Cognition. C&C ’11. New York: ACM, 2011, S. 81–90). 10 | Eglash, a. a. O. 11 | Die Unschärfe solcher Empfehlungen für das Design mag hierbei in der Natur der Sache liegen, wenn Aneignung als emergentes und damit grundsätzlich nicht reglementierbares Phänomen beschrieben wird. Dix stellt fest, dass Designempfehlungen daher ein Widerspruch in sich seien, gibt aber dennoch welche (Alan Dix. «Designing for Appropriation». In: Procee-

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1. Funktionalität transparent machen12 bzw. Designintentionen deutlich machen, ohne den Zweck völlig vorzubestimmen13 ; oder Dinge verwenden, deren Funktionalität bereits vertraut und transparent ist14 . 2. Unterstützung ohne Kontrolle, Bereitstellen einer flexiblen Infrastruktur für Gruppenarbeit15 . 3. Modularität16 , Konfigurierbarkeit17 . dings of the 21st BCS HCI Group Conference. Bd. 2. September. Lancaster: British Computer Society, 2007, S. 27–30). 12 | Ebd. 13 | Sengers und Gaver, a. a. O. 14 | Brandes, Stich und Wender, a. a. O., S. 57. So sind die ungefähre Tragfähigkeit eines Stuhls und die Antirutschfähigkeit einer Fußmatte vertraut genug, um sie als Leiter und Badematte umzunutzen. In einem ähnlichen Zusammenhang wird auch der mit diesem Prinzip verwandte Begriff der «affordance», der auf die ökologische Wahrnehmungstheorie J.J. Gibsons zurückgeht (J J Gibson. «The theory of affordances». In: Perceiving, acting and knowing: Toward an ecological psychology. Hrsg. von R Shaw und J Bransford. Hillsdale: Erlbaum Publishers, 1977), immer wieder gerne genannt, z.B. von Wakkary (Ron Wakkary und Leah Maestri. «The resourcefulness of everyday design». In: Proceedings of the 6th ACM SIGCHI Conference on Creativity & Cognition. C&C ’07. New York, NY, USA: ACM, 2007, S. 163–172). Affordances selbst werden allerdings weniger gestaltet, als dass sie kulturell (und biologisch) geprägte Deutungsmuster für die erlebte Umwelt darstellen. Siehe Krippendorff, a. a. O., S. 142. 15 | Paul Dourish. «The appropriation of interactive technologies: Some lessons from placeless documents». In: Computer Supported Cooperative Work (CSCW) 12.4 (2003), S. 465–490; Dix, a. a. O.; und in Form von «appropriation infrastructures» bei Stevens (Gunnar Stevens. «Understanding and designing appropriation infrastructures: Artifacts as boundary objects in the continuous software development». Dr. rer. pol. Siegen, 2009). 16 | Dourish nennt dies «composable functionality» (Dourish, a. a. O.). 17 | u.a.Dix, a. a. O.; die Idee der Konfigurierbarkeit ist als Designprinzip für Aneignung vielleicht am ältesten und weitesten verbreitet und taucht in Form von Toolkits bei von Hippel (Eric von Hippel und Ralph Katz. «Shifting innovation to users via toolkits». In: Management Science 48.7 [2002], S. 821–833), als «tailoring» bei Trigg und Bødker (Randall H Trigg und Susanne Bødker. «From implementation to design: Tailoring and the emergence of systematization in CSCW». In: Proceedings of the 1994 ACM Conference on Computer Supported Cooperative Work. CSCW ’94. New York: ACM, 1994, S. 45–54) sowie Balka und Wagner (Ellen Balka und Ina Wagner. «Making things work: Dimensions of configurability as appropriation work». In: Proceedings of the 2006 20th anniversary conference on Computer supported cooperative work. CSCW ’06. New York: ACM, 2006, S. 229–238), Draxler (Sebastian Draxler u. a. «Supporting the social context of technology appropriation: On a synthesis of sharing tools

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4. Trennen von Informationen und ihrer Repräsentation18 . 5. Niedriges Risiko der Umnutzung, z.B. durch Verwendung billiger, häufig vorkommender Materialien19 , Umkehrbarkeit der Interaktion20 . 6. Anbieten «nebensächlicher» Eigenschaften, die für das technische System unwichtig sind, deren Bedeutung aber selbst festgelegt werden kann21 . 7. Blockieren gewohnter Erwartungen oder Verweigerung einer konsistenten Interpretation22 ; mehrdeutige Darstellung von Informationen23 .

Obwohl diese Liste sicher noch weiter ergänzt werden kann, repräsentiert sie die Bandbreite der Handlungsansätze für Design-im-Gebrauch ausreichend genug, um wiederkehrende Themen darin zu identifizieren. Diese lassen sich im Wesentlichen auf vier Strategien zusammenfassen24 :

and tool knowledge». In: Proceedings of the 2012 ACM annual conference on Human Factors in Computing Systems. CHI ’12. New York: ACM, 2012, S. 2835–2844) und Stevens (Stevens, a. a. O.) auf. 18 | Dourish, a. a. O., Ein Beispiel hierfür sind Programme, deren Benutzerinterface im Verlauf des Gebrauchs mehr Funktionen offenlegen als am Anfang oder über eine Einsteiger- und eine Fortgeschrittenenansicht verfügen und damit Komplexität schrittweise aufbauen können. 19 | Brandes, Stich und Wender, a. a. O., S. 149. Hierzu gehört z. B. die Nutzung von Plastiktüten zum Schutz des Fahrradsattels vor Regen, das Verwenden einer Bierflasche als Aschenbecher oder eines Blatts Papier als Essunterlage. In einem weiter gefassten Sinn können auch die DIY-Aneignungen der Steampunk-Bewegung dazu gezählt werden, die sich zum Teil aus Abfallprodukten zusammensetzen (Joshua Tanenbaum, Karen Tanenbaum und Ron Wakkary. «Steampunk as design fiction». In: Proceedings of the SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems. CHI ’12. New York: ACM, 2012, S. 1583–1592, S. 1586) sowie auch die Umnutzung von Elektronikschrott (Sunyoung Kim und Eric Paulos. «Practices in the creative reuse of e-waste». In: Proceedings of the SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems. CHI ’11. New York: ACM, 2011, S. 2395–2404). 20 | Gemeint ist die Möglichkeit, die Umnutzung rückgängig zu machen. Diese Möglichkeit geht verloren, je mehr in die Struktur des Gegenstands eingegriffen und dieser unumkehrbar verändert wird. 21 | Dourish, a. a. O.; Dix, a. a. O., z.B. in der Farbgebung eines Desktop-Ordners, die für den Benutzer aussagekräftig, für das Betriebssystem jedoch irrelevant ist. 22 | Sengers und Gaver, a. a. O. 23 | Dourish, a. a. O.

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1. Anpassbarkeit an die Anwendungssituation durch Konfiguration, schnelle Iterationen oder die Bereitstellung unterschiedlicher Möglichkeiten; 2. Komplexitätsabbau, entweder durch Vertrautheit und einfache Lernbarkeit, oder durch Zerlegen komplexer in weniger komplexe Einheiten sowie Kontrolle über die Auswahl dieser Einheiten; 3. Reversibilität der Interaktion; 4. Vergrößerung des Deutungspotenzials. Es fällt auf, dass viele dieser Empfehlungen auch für Design ganz allgemein gelten könnten. Die Forderung nach einfacher und klar zugänglicher Funktionalität ist in der MMI nicht neu. Ältere Designempfehlungen, die in Richtung Anpassbarkeit («tailoring») von Software und Interfaces gehen, waren ebenfalls darauf ausgerichtet, den Nutzern mehr Kontrolle darüber zu bieten, wie kompliziert ihr Interface ausfällt. Das Setup von konfigurierbaren modularen Gegenständen setzt allerdings voraus, dass der Designer des modularen Systems die Module angemessen zuschneidet. Anpassbarkeit als Designstrategie beruht daher auch auf der Annahme, dass die instrumentelle Zweckmäßigkeit des Gegenstands nicht allzu sehr von den Intentionen der Designerin abweicht. Komplexitätsreduktion durch einfache oder modulare Interfaces ist unweigerlich verbunden mit einer Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten auf das Erwartbare. Die Umkehrbarkeit der Interaktion ist ganz generell geboten, um ärgerliche Fehler im Gebrauch zu vermeiden25 . Gerade bei Eingriffen in die materielle Struktur ist die Umnutzung dann weniger risikoreich, wenn sie wenig kostet oder rückgängig gemacht werden kann26 . Damit ist der vierte Punkt – das Gestalten mehrdeutiger Gegenstände – derjenige, der die gängige Gestaltungspraxis am deutlichsten erweitert und ergänzt. Der spürbare Widerspruch, der zwischen der Forderung nach Einfachheit und der nach Mehrdeutigkeit aufscheint, wird in den Designempfehlungen aufgelöst, indem bei-

24 | Den Aufbau einer Aneignungs-Infrastruktur zur besseren Kommunikation über Aneignungen lasse ich hier beiseite, weil es sich hierbei um eine eigene Designproblemstellung handelt, die über das Aneignungsobjekt hinausgeht. 25 | Krippendorff, a. a. O., S. 86. 26 | Computer-«Material» ist in dieser Hinsicht sehr dankbar. Dies zeigt sich z.B. am veränderten Umgang mit fotografischen Aufnahmen, die durch Digitalkameras reversibel geworden sind, wodurch das Risiko der Nutzung (und Umnutzung) sinkt. Elizabeth Shove u. a. «Reproducing digital photography». In: The Design of Everyday Life. Oxford: Berg Publishers, 2007. Kap. 4, S. 70–92, hier S. 80-81.

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des unterschiedlichen Bereichen zugeordnet wird: Funktionalität und Mehrdeutigkeit müssen nicht auf derselben Ebene liegen27 . Allerdings liegt es dann nahe, die Aneignung nur auf die mehrdeutigen Aspekte des Gegenstands zu beziehen, also auf dessen symbolische Bedeutung bei (vermeintlich) klarer Usability. Der letzte Punkt der Designempfehlungen befasst sich am stärksten mit dem designerischen Aspekt in der Umnutzung. Eine unerwartete Gestaltung wird demnach als Mittel betrachtet, um neue Interpretationen zu ermöglichen, ohne festlegen zu müssen, welche Eigenschaften des Interface sich im Gebrauch als bedeutsam und hilfreich erweisen werden. Dieser Umgang mit Unsicherheit charakterisiert den projektiven Charakter von Design, im Gegensatz zu den anderen Designempfehlungen, die teilweise oder ganz darauf aufbauen, die Rahmenbedingungen der Umnutzung zu kennen. Das Spiel mit Erwartungen im Design scheint ein vielversprechender, aber vergleichsweise undokumentierter Weg zu sein, Gegenständen im Gebrauch mehr Potenzial für die kreative Aneignung zu verleihen.

3.2 A NEIGNUNG

IM EXPERIMENTELLEN

D ESIGN

Basierend auf diesem Überblick über die existierenden Bedeutungen von Aneignung sowie die daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen für Designer stelle ich nun den Ansatz dar, den ich selbst zur Provokation und Untersuchung von instrumenteller Aneignung und Umnutzung in dieser Arbeit zugrunde lege. Die Frage für mich ist dabei die nach einem Designprozess, der bei Gegenständen ein Potenzial für Gebrauchsweisen produzieren soll, die in der Gestaltung nicht angelegt waren. Aus designwissenschaftlicher Sicht ist nicht nur interessant, wozu diese Art der Aneignung führt, sondern auch, wie man sie aktiv produzieren kann. Der experimentelle Gestaltungsprozess selbst ist daher, in Kombination mit der Aneignung, Gegenstand und Medium der Untersuchung. Diese Vorgehensweise erfordert einerseits eine enge Verzahnung theoretischer Annahmen mit der praktischen Interpretation im Designprozess selbst. Andererseits sollen die Erkenntnisse, die dadurch gewonnen werden, selbst wieder praxisrelevant sein. Die theoretische Basis für experimentelle Gestaltung und Aneignung muss demnach das Potenzial haben, praktische Schlussfolgerungen zuzulassen, die andere 27 | Sengers und Gaver treffen diese Unterscheidung, indem sie eine klar verständliche «usability» im Design einer offenen Interpretation im Gebrauch gegenüberstellen. Phoebe Sengers und William Gaver. «Staying open to interpretation: Engaging multiple meanings in design and evaluation». In: Proceedings of DIS 2006. University Park: ACM Press, 2006, S. 99–108.

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Theorien so noch nicht hervorgebracht haben. Soziale Systemtheorie stellt hier eine interessante (und wenig genutzte) Sichtweise dar, die sich hierfür eignet. Gleichzeitig unterscheidet sich die systemtheoretische Perspektive erheblich von den vorherrschenden Konzepten in der Designpraxis und muss in deren Begrifflichkeiten übersetzt werden. Erst aufgrund dieser Übersetzung lassen sich Annahmen und Fragen formulieren, aus denen heraus sich ein Vorschlag für einen experimentellen Designprozess zum Design-im-Gebrauch ableiten lässt. 3.2.1 Entwerfen als Forschungspraxis Meiner Ansicht nach ist der professionelle Entwurfsprozess als Teil einer Untersuchung zum Design-im-Gebrauch nötig, um sicherzustellen, dass die Untersuchungsergebnisse praktische Relevanz und Anschlussfähigkeit besitzen28 . Außerdem liefert der Gestaltungsprozess selbst Materialien und Erkenntnisse, die eine rein theoretische Betrachtungsweise nicht bietet. Weil der Zusammenhang von theoretischen Konzepten und Handlungspraxis nicht trivial ist, benötigt die Übersetzung von einem ins andere eine akkurate und nachvollziehbare Beschreibung29 . Praxisrelevanz Da es um zwei unterschiedliche Situationen für Design geht – das professionelle Design und Design-im-Gebrauch in Form von Aneignung und Umnutzung – wirkt sich die Frage nach der Praxisrelevanz für beide etwas anders aus. Bezogen auf den professionellen Designprozess geht es mir darum, den Einfluss theoretischer Konzepte auf den Ablauf und das Ergebnis plausibel darzustellen. Beim Design-im-Gebrauch besteht mein Hauptanliegen darin herauszufinden, ob und wie sich der so beschriebene Designprozess auf die Aneignung auswirkt, und welche Rahmenbedingungen außerhalb des gestalteten Gegenstands die Reichhaltigkeit der Aneignung beeinflussen.

28 | Ich schließe mich hier einem Ansatz an, der als «research-through-design» bezeichnet wird und der die Gestaltungstätigkeit als Erkenntnismethode im Forschungsprozess betrachtet. Siehe Findeli u. a., a. a. O., S. 63-73; Jonas, «Research through DESIGN through research - a problem statement and a conceptual sketch». 29 | Damit sollen einerseits die Relevanz, andererseits die Stringenz der Untersuchung gesichert werden. Beide sind ausschlaggebend und notwendig, um Forschung als Designforschung zu qualifizieren. Siehe Findeli, a. a. O.

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Als Vorbild für die praxisnahe Forschung im Design eignet sich der Ansatz der Aktionsforschung, mit dem sie den eingreifenden Charakter gemeinsam hat30 . Aneignung im Gebrauch interessiert nicht als «natürliches» Phänomen, sondern als eine Art der Designtätigkeit, und soll gezielt angeregt werden. Aktionsforschung liefert hier das passende Modell, das sowohl den Designprozess als Praxis- und Forschungskonstrukt auffasst, als auch den bewusst initiierten Aneignungsprozess als Teil der Untersuchung rechtfertigt. Nachvollziehbarkeit Im Kontext einer designwissenschaftlichen Untersuchung ist ein entwurfspraktischer Teil sinnvoll, wenn er ausreichend dokumentiert und reflektiert wird und seinen Ursprung in designtheoretischen Konzepten hat, die er interpretiert. Diese Interpretation von Theorie zu Design ist in der Regel nicht offensichtlich. Der Wert eines gut dokumentierten Entwurfs besteht darin, den Übersetzungsprozess zugänglich, nachvollziehbar und kritisierbar zu machen. Das ist für ein handlungsorientiertes Forschungsfeld hilfreich, weil es Anschlussstellen sowohl für den akademischen als auch für den professionellen Betrachter bietet. Es gibt mehrere Gründe dafür, den Entwurfsprozess als Teil der Forschung anzulegen. Der offensichtlichste ist, dass ich in dieser Untersuchung Gegenstände benö30 | Auf die Gemeinsamkeiten von Aktionsforschung und Design weist u.a. Swann hin (Cal Swann. «Action research and the practice of design». In: Design Issues 18.2 [2002], S. 49– 61). Aktionsforschung als Forschungshaltung ist allerdings umfassender in ihrem egalitären, partizipativen Anspruch, und erfordert darin die Zusammenarbeit mit selbst geformten sozialen Interessengruppen,(Stephen Kemmis und Robin McTaggart. «Participatory action research. Communicative action and the public sphere». In: Handbook of Qualitative Research. Hrsg. von Norman K. Denzin und Yvonna S Lincoln. Thousand Oaks, London, Neu-Delhi: Sage, 2005. Kap. 23, S. 559–603). Das skandinavische partizipative Design entspricht hier sehr viel deutlicher der Selbstbeschreibung der Aktionsforschung. Für meine Untersuchung übernehme ich im Sinne von Alain Findeli (Alain Findeli. «Die projektgeleitete Forschung: Eine Methode der Designforschung». In: Swiss Design Network Symposium. Basel: HGK Basel, 2004, S. 40– 51, hier S. 45) nicht systematisch alle Aspekte dieser Perspektive, «die dieser aufgrund ihres theoretischen und ideologischen Erbes eigen ist»: So kommt es nicht zu einer Zusammenarbeit mit einer bestehenden Gruppe, sondern das Forschungsinteresse liegt deutlich auf der Seite des Designs und bearbeitet kein konkretes, lokales und real vorliegendes Problem. Gemeinsamkeiten gibt es in der Einstellung zur Forschungs- und Arbeitspraxis, die sich gegenseitig beeinflussen, und der kritischen Erforschung von Handlungsmöglichkeiten zur Veränderung der sozialen (Design-)Praxis.

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tige, die nach besonderen Gestaltungsregeln und zu bestimmten Zwecken entworfen sind. Die Gegenstände sind das Ergebnis der gestalterischen Interpretation theoretischer Annahmen, die in anderen Entwurfs- und Gebrauchsprozessen nicht in derselben Weise eine Rolle spielen. Das Gestalten war damit Teil des Erkenntnisprozesses und konnte nicht durch rein theoretische Reflexion ersetzt werden. Dies hatte außerdem den Vorteil, dass die Einflüsse und Abwägungen, die für die Gestaltung relevant waren, zugänglich gemacht sind und gemäß den Anforderungen der Untersuchung dokumentiert werden konnten. Dies ist besonders wichtig, wenn der spätere Vergleich zwischen Bedeutungen in Design und Gebrauch zeigen soll, welche neuen Bedeutungen im Gebrauch entstanden sind. Entwurf und Experiment In meiner Untersuchung möchte ich das Phänomen der Aneignung besonders hervorheben, das in konventionellen Entwurfsprozessen unerwünscht ist und deswegen unterbunden wird. Der Gestaltungsprozess innerhalb der Untersuchung bedient sich daher auch abweichender Entwurfsmethoden und Erfolgsmaßstäbe. Der Entwurf ist Teil eines experimentellen Settings und dient dazu, Variationen für den Gebrauch herzustellen. Die Bewertungsmaßstäbe, nach denen das Design ausgewählt wird, werden im Abschnitt 3.3 theoretisch entwickelt. Design arbeitet normativ, weil jeder gestaltete Gegenstand notwendigerweise bestimmte Normen und Werte verkörpert und andere außen vor lässt. Gestaltungskriterien und Eingangsannahmen sind daher immer notwendig, um Entscheidungen für oder gegen einen Entwurf treffen zu können. Es ist wichtig, sie im Rahmen einer designwissenschaftlichen Untersuchung möglichst explizit zu beschreiben. Sie stellen jedoch nur die Voraussetzung für experimentelles Arbeiten im Design dar – und damit eher den Einstieg in die designpraktische Auseinandersetzung mit theoretischen Konzepten als deren Endergebnis. Als methodologischen Ansatz für die Untersuchung eignet sich daher ein rekonstruktionslogisches Vorgehen, in dem nachvollziehbare Annahmen über die Zusammenhänge von Design und Gebrauch erst anhand von konkreten Erfahrungen und Beobachtungen gebildet werden, und nicht bereits im Voraus31 . Gleichzeitig sind einige Eingangsannahmen für die experimentelle Gestaltung notwendig. Hier stoßen wir auf eine grundlegende Widersprüchlichkeit, mit der ich in meiner Arbeit bei der Verwendung rekonstruktionslogischer Verfahren besonders deutlich zu tun hatte: Der konventionell gelehrte Entwurfsprozess im Design ist so sehr darauf ausgerichtet, dem späteren Benutzer den Zweck zu vermitteln und alle Details des Designprodukts daraufhin abzustimmen, dass sich diese Abstimmung kaum umgehen lässt. Dadurch

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ist der gestaltete Gegenstand das Ergebnis der Entwurfsmethodik, die er helfen soll zu hinterfragen. Der normierte bzw. intendierte Gebrauch gibt den Maßstab für die Entscheidungen, wie groß oder klein, in welcher Farbe und in welchem Material der spätere Prototyp umgesetzt wird, obwohl es nicht Ziel ist, dass die intendierte Nutzung eindeutig identifiziert wird. In der Untersuchung lässt sich dieser Konflikt nicht auflösen, aber abfedern: Indem ich einerseits möglichst nachvollziehbar die Eingangsannahmen für das Design herleite, und andererseits möglichst beweglich in der Beobachtung dessen bleibe, was letztlich zu einer großen Bandbreite an Bedeutungen für einen Gegenstand im Gebrauch führt. Die Begriffsklärung, die ich in Abschnitt 3.2.3 vornehme, ist deswegen das Ergebnis der empirischen Untersuchung, auch wenn sie ihr zur besseren Verständlichkeit hier vorangestellt wird. Im vorherigen Kapitel habe ich die soziale Systemtheorie und ihre Interpretation für das Design bereits eingeführt, um unterschiedliche konstruktivistische Designansätze zu vergleichen. Die Konzepte von Luhmann und Jonas sind auch Grundlage für die designpraktische Untersuchung. Das bedeutet, dass denkerisch und sprachlich zwei sehr gegensätzliche Perspektiven aufeinandertreffen, nämlich die sehr materialnahe, von Alltagserfahrungen geprägte Sprache der Gestalter, in der wir es mit Menschen und Dingen zu tun haben; und die abstrakte Betrachtungsweise der sozialen Systemtheorie, bei denen Menschen und Dinge Teile unterschiedlicher Systeme sein können und dadurch viel weniger abgeschlossen und einheitlich erscheinen als in der alltäglichen Betrachtung. Beide Perspektiven dienen als Bezugspunkte, um Annahmen zur Aneignung im Gebrauch aus Designsicht zu formulieren.

31 | Oevermann, der die Methodologie der objektiven Hermeneutik maßgeblich entwickelt hat, spricht von der Notwendigkeit, Fälle unvoreingenommen und in der «Sprache des Falles» auf ihre Fallstruktur hin zu analysieren. Rekonstruktionslogik steht bei ihm der Subsumptionslogik gegenüber, mit der wissenschaftlich vorgeprägte Begriffe herangezogen werden, um empirisches Datenmaterial nur noch zu kategorisieren. Siehe Ulrich Oevermann. Fallrekonstruktionen und Strukturgeneralisierung als Beitrag der objektiven Hermeneutik zur soziologisch-strukturtheoretischen Analyse. 1981. URL: http://publikationen.ub. uni - frankfurt . de / frontdoor / deliver / index / docId / 4955 / file / Fallrekonstruktion - 1981 . pdf, S. 4. Die Rekonstruktion von Kategorien aus den Daten übernehme ich hierbei aus der grounded theory. Meine Vorgehensweise entspricht allerdings weder der objektiven Hermeneutik noch der grounded theory im engeren Sinne, sondern übernimmt lediglich einige Grundannahmen zum Umgang mit empirischen Daten.

80 | Gebrauch als Design

3.2.2 Irritation als Designstrategie Ein Blick auf die bisherigen Designansätze und Methoden für Design-im-Gebrauch hat deutlich gemacht, dass das Potenzial zur Mehrdeutigkeit hier genau so wichtig ist wie gesichertes Wissen und Kontrolle. Mehrdeutigkeit wird im Design durch unerwartete Variationen, also überraschende und unbekannte Gegenstände, erreicht: Hier können und müssen die Benutzer deren Bedeutung erst konstruieren. Dieser Ansatz benötigt eine Argumentationsgrundlage, die den Wert der Variation und des NichtWissens herausstellen kann, und soziale Systemtheorie, speziell der Begriff der «Irritation», scheint hierfür geeignet32 . Die systemtheoretische Definition ist sehr allgemein gehalten und umreißt eine bestimmte Facette des Begriffs der Irritation, dessen Auswirkungen auf die menschliche Psyche und Kultur in anderen Lesarten stärker hervortreten33 . Solche anderen Konzeptionen sollen durch die Luhmannsche Definition weder mit abgedeckt noch ausgeschlossen werden; sie dienen lediglich an dieser

32 | Er stellt außerdem eine aufschlussreiche Ergänzung zu anderen theoretischen Konzepten aus dem philosophischen Pragmatismus (Dunne, a. a. O., S. 70) und der kritischen Theorie (ders., Hertzian Tales. Electronic Products, Aesthetic Experience, and Critical Design, S. 93; Jeffrey Bardzell. «Interaction criticism and aesthetics». In: Proceedings of the 27th international conference on Human factors in computing systems. CHI ’09. New York: ACM, 2009, S. 2357–2366) dar, die schon länger herangezogen werden, um experimentelles Design mit unvorhersehbaren Folgen zu rechtfertigen. Luhmanns Perspektive ist streng deskriptiv und vergleichend, im Kontrast zu der stark normativen Sicht der kritischen Theorie. Sie erlaubt uns so den Blick auf «kritisches» Design, das ohne eine kritische Intention entsteht, und damit an überraschenden Orten auftauchen kann (siehe Regina Peldszus und Hilary Dalke. «Spaceflight settings as laboratory for critical design». In: Negotating Futures. Design Fiction. Proceedings of the 6th Swiss Design Network Conference. Basel, Switzerland: Swiss Design Network, 2010, S. 118–131). Eine konsequent kritische Haltung schließt dagegen manche solcher Designpraktiken als «Mainstream» aus (Dunne, a. a. O., S. 100). 33 | So beinhalten z.B. die phänomenologische oder philosophisch-pragmatistische Konzeption von «Erfahrung» solche irritierenden Elemente. John Dewey (John Dewey. Kunst als Erfahrung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980, S. 67-69) beschreibt das leidenschaftliche Erleben und Erleiden von Ereignissen als die eine Seite von Erfahrung, die mehr oder weniger erschütternd auf lebendige Wesen einwirkt. Dieses Erleben stelle sich jedoch nur ein, wenn man sich auf Wahrnehmung (anstelle von bloßem Wiedererkennen) einlasse. Das Überwältigende und beinahe schon Gewaltsame, dass solche Wahrnehmung beinhaltet, schildert Bernhard Waldenfels (Bernhard Waldenfels. Bruchlinien der Erfahrung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S. 30-31) wiederum sehr detailliert in seiner phänomenologischen Betrachtung von Erfahrung.

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Stelle nicht als explizite Übersetzungsmechanismen für den empirischen Entwurfsteil. Weil der Begriff der Irritation bei Luhmann mit diesen anderen Lesarten nicht unbedingt deckungsgleich, sondern auf eine bestimmte Art definiert ist, ist es hier notwendig, ihn kurz in Zusammenhang mit Luhmanns Theorie zu stellen. Geschlossene Systeme Luhmann hat den Begriff von geschlossenen, selbsterhaltenden Systemen aus der Biologie und Neurophysiologie auf die Soziologie übertragen. Seine Beobachtungseinheiten sind nicht handelnde Individuen, sondern Kommunikationssysteme, und seine abstrakte Sprache dient dazu, verschiedene Teilsysteme trotz ihrer Unterschiedlichkeit vergleichbar zu machen34 . Bei Luhmann ist das Individuum nur durch die Selbstdefinition eine Einheit; in einer systemischen Betrachtung umfasst es allerdings zwei geschlossene Systeme (den Organismus und das Bewusstsein) und nimmt an einem dritten teil (Kommunikationen). Materielle Gegenstände liegen quer zu diesen drei geschlossenen Systemen von Organismen, Bewusstseinen und Kommunikationen: Wir können sie handhaben, über sie nachdenken, über sie reden, doch in allen Fällen beeinflussen die Dinge nur geschlossene Systeme, ohne selbst Teil davon zu werden (Abb. 3.2). Solche geschlossenen Systeme müssen für Veränderungen in ihrer Umwelt empfänglich sein, auch wenn sie diese nur selektiv wahrnehmen können. Die Art und Weise, wie geschlossene Systeme unerwartete Ereignisse aus der komplexeren Umwelt in ihr eigenes Medium übersetzen, nennt Luhmann eine Irritation oder Perturbation. Das System ist irritiert (oder irritiert sich selbst), indem es als Reaktion auf unerwartete Ereignisse seine Strukturen anpasst in den Fällen, wo eine Wiederholung wahrscheinlich ist35 . Im Alltag erleben wir die Irritation und Stabilisierung von Bewusstseinssystemen als Lernen, z.B. wenn wir etwas Unerwartetes und Neues sehen, hören oder fühlen. In Bezug auf Interfacedesign ist das Erlernen eines Computerprogramms eine Re-Stabilisierung des Bewusstseins aufgrund eines unerwarteten Stücks Technik. Man kann an Luhmanns Beschreibung von geschlossenen Systemen und seinem Konzept der Irritation mehrere Eigenschaften betrachten. Diejenigen, die ich für mein Anliegen hervorheben möchte, sind der neutrale Beiklang des Begriffs, die unvorhersehbaren Folgen einer Irritation, und die Möglichkeit, die sich aus dieser Ein-

34 | Niklas Luhmann. Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998, S. 12. 35 | Niklas Luhmann. «Irritationen und Werte». In: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998, S. 789–800.

82 | Gebrauch als Design

Kommunikation

Bewusstsein

Organismus

materielle Artefakte

Abbildung 3.2: Geschlossene Systeme von Organismus, Bewusstsein und Kommunikation.

sicht ergibt, dass Aneignung eines Gegenstands im Gebrauch mit Design-Variation vergleichbar ist. Wolfgang Jonas hat die mangelnde Kontrolle über geschlossene Systeme in seinen Argumenten zu Design und Wissenschaft bereits prominent thematisiert36 . Aus seiner Sicht müssen Designer durch ihre Arbeit irritieren, weil dies der einzig mögliche Weg ist, geschlossene Systeme zu beeinflussen. Das Enttäuschen oder Erweitern von Erwartungen ist demnach ein integraler Bestandteil des Designprozesses. Irritation bei Luhmann meint demnach das Schöne wie das Lästige, weil es bloß einen Mechanismus beschreibt, wie mit unerwarteten Vorkommnissen umgegangen wird. Das Ergebnis wird dabei nicht beurteilt. Eine Irritation ist per Definition unerwartet; daher kann man auch nur dann davon sprechen, wenn Benutzerreaktionen im Design unsicher sind, und nicht, wenn man sie vorausahnen kann. Unannehmlichkeiten und Schwierigkeiten für die Benutzerin, die der Gestalter bereits im Designprozess vorausahnen kann (z.B. ein hoher Zeitaufwand oder Platzbedarf zum Durchführen

36 | Jonas, «Mind the Gap! - Über Wissen und Nichtwissen im Design. Oder: Es gibt nichts Theoretischeres als eine gute Praxis», S. 61-62.

Aneignung provozieren | 83

einer Aufgabe), gelten damit ebenfalls nicht als Irritationen. Hier wird Irritation als Konzept für Designforschung relevant. Nur unabsehbare Reaktionen stellen für Designer neues Wissen und damit einen Forschungsgegenstand dar. Design als gesellschaftliche Irritation Jonas hat die Lücken zwischen autopoietischen Systemen als ein zentrales Problem der Designforschung und ihrer Versuche, Gewissheiten herzustellen, beschrieben. Die zweite Art von Lücken, nämlich die zwischen evolutionären Mechanismen von Variation, Selektion und Re-Stabilisierung, habe ich bereits im Zusammenhang mit konstruktivistischen Designansätzen beschrieben37 . Sie stellen laut Jonas ein weiteres Hindernis zu sicherem und komplettem Wissen im Design dar. Dies bringt uns zum Verhältnis von Design und Gebrauch. In stark funktional differenzierten Gesellschaften wird die Re-Stabilisierung zum Auslöser für Variation, oder Design, dessen soziale Hauptrolle das Variieren der künstlichen Welt ist. Eine erfolgreiche Innovation kann z.B. dazu führen, dass Gesetze und Industriestandards als Reaktion entstehen, und soziale Gewohnheiten sich an eine neue Technik in einem Ausmaß anpassen, das im Designprozess nicht geplant war38 . Ich gehe daher in meiner Untersuchung davon aus, dass ein Gegenstand umso mehr Re-Stabilisierung erfordert, je mehr er auf schöne oder unschöne Weise den Gebrauch oder die Kommunikation irritiert. 3.2.3 Form und Gegenstand Am Begriff der Irritation ist bereits deutlich geworden, wie unterschiedlich die Sichtweisen von Systemtheoretikern und Designern sind. Einen weiteren Begriff, der hier wie da unterschiedlich verstanden wird, ist der der «Form». Im vorhergehenden Kapitel habe ich Jonas’ Analyse des Formbegriffs und seiner – implizit mitgedachten – Gegenbegriffe beschrieben39 . Design für den Gebrauch ist historisch geprägt durch die Gegenbegriffe von Funktion, Kontext und Medium. Für meine Untersuchung zentral ist dagegen die Unterscheidung von Form und Gegenstand. Die «Form» ist eine grundlegende Einheit der Systemtheorie, der Gegenstand ist (häufig) das zentrale Objekt im Design. Zur Überbrückung des Abstands zwischen beiden Konzepten verwen-

37 | Siehe S. 50. 38 | SMS stellen ein populäres Beispiel dar, um diesen Umstand zu illustrieren. Siehe Alex S Taylor und Jane Vincent. «An SMS history». In: Mobile World: Past, Present and Future. Hrsg. von Lynne Hamill und Amparo Lasen. New York: Springer, 2005. Kap. 4, S. 75–91. 39 | siehe S. 9.

84 | Gebrauch als Design

de ich außerdem die Begriffe Zweck, Gebrauch, sowie das Konzept notwendiger und kontingenter Eigenschaften40 . Form, Zweck, Gebrauch, Gegenstand und Eigenschaft In der Luhmannschen Systemtheorie kommen Begriffe wie Eigenschaft und Gegenstand aus guten Gründen nicht vor. Luhmann geht es darum, für die Soziologie eine Sichtweise zu etablieren, die für ihre Beschreibung sozialer Situationen und Prozesse nicht die gewohnten Einheiten von Personen und Handlungen verwendet. Diese Begriffe sind jedoch wichtiger Bestandteil der Sprache, in der Designer über ihren Gegenstandsbereich reden und denken, und die für ihr professionelles Handeln bedeutsam ist. In Luhmanns Sprache handelt es sich bei Personen und Dingen um Konstruktionen und Unterscheidungen, die erst durch Beobachtung und Auswahl zustande kommen. Dass der Tisch ein Gegenstand und der Koch eine Person ist, ist also keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Beobachtungsleistung. Sie findet allerdings ganz selbstverständlich statt und wird im Alltagsgebrauch nicht extra herausgestellt. Form Der Begriff der «Form» ist bei Luhmann sehr allgemein eine Beobachtung und Unterscheidung, die erst einmal nichts mit materiellen Gegenständen zu tun haben muss: «Formen sind danach nicht länger als mehr oder weniger schöne Gestalten zu sehen, sondern als Grenzlinien, als Markierungen einer Differenz, die dazu zwingt, klarzustellen, welche Seite man bezeichnet, das heißt: auf welcher Seite der Form man sich befindet und wo man dementsprechend für weitere Operationen anzusetzen hat41 .»

Eine Form ist demnach etwas anderes als ein Gegenstand; sie ist erstmal die Unterscheidung von etwas Bestimmtem gegenüber allem Anderen. Sie kann sich auf Gegenstände beziehen, aber auch auf Handlungsweisen, die mit Gegenständen in Verbindung stehen. Eine Form des Trinkens erfordert vielleicht neben einem Weinglas noch eine Flasche Rotwein und einen Korkenzieher; eine andere Form kommt mit Steinkrügen, einer Zapfanlage und Bierdeckeln aus. Der Begriff der Form eignet sich also, um die Eigenschaften zu beschreiben, die an einem Gegenstand für einen 40 | Diese Begrifflichkeiten sind das Resultat des Designprozesses und der Analyse der Interpretationssitzungen, nicht ihre Voraussetzung. Damit die Untersuchung nachvollziehbar beschrieben werden kann, ist es nötig, sie vor der Diskussion der empirischen Ergebnisse einzuführen. 41 | Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 60.

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bestimmten Zweck notwendig sind. Die Grenze der Form wird z.B. dann sichtbar, wenn sich das, was man für ihren Kontext und damit für unerheblich gehalten hat, als Teil der Form herausstellt: Dass eine Weinflasche grün oder weiß ist und nicht rot; dass sie aus Glas ist und nicht aus Kunststoff; dass der Wein selten direkt aus der Flasche, sondern aus Gläsern getrunken wird und dergleichen. Für die Form «Wein aufbewahren» benötigt man eine speziellere Kombination an Eigenschaften als für das Aufbewahren von Wasser. Unterscheidungen in der Form können dann einem Gegenstand als Eigenschaften zugeordnet werden. Die Formulierung, dass ein Gegenstand bestimmte Eigenschaften hat, ist hier allerdings eine Abkürzung dafür, dass ihm diese Eigenschaften durch einen Beobachter zugeschrieben werden. Zweck Herbert Simon verortet den Zweck in der Gestaltung oder Planung entlang der Trennlinie von Form und Kontext. Dieses «Interface» ist es, was gestaltet wird: «The artificial world is centered precisely on this interface between the inner and outer environments; it is concerned with attaining goals by adapting the former to the latter42 .»

Eine Form als Beobachtungsleistung, als Trennlinie zwischen einer inneren und äußeren Umgebung oder einer gemeinten und nicht gemeinten Seite, verweist auf ein Ziel oder einen Zweck. Für einen vergleichbaren Zweck lassen sich unterschiedliche Formen beobachten: Wassergläser, Suppenschüsseln, Nuckelflaschen oder eine hohle Hand eignen sich gleichermaßen – wenn auch mehr oder weniger gut – als Trinkgefäße. Andersherum können die gleichen Gegenstände aufgrund anderer Unterscheidungen zu unterschiedlichen Zwecken verwendet werden. Dann sind jedoch jedes Mal andere Eigenschaften für den jeweiligen Zweck notwendig. Obwohl also der Gegenstand der gleiche ist, ändert sich die Form im hier eingeführten Sinne, wenn man ihn für einen anderen Zweck verwendet. Jede neue Zweckbestimmung verschiebt die Linie zwischen Form und Kontext. Eine Zweckverschiebung ist immer auch eine Formverschiebung, bei der das Verhältnis von notwendigen und kontingenten Eigenschaften und damit die Trennlinie von Form und Kontext neu verhandelt wird. Wenn jemand also eine Weinflasche zum Ausrollen von Pizzateig benutzt, ist es nicht so wichtig, ob sie in diesem Moment weiß oder grün ist oder sie den Korken verloren hat. Die Flasche sollte allerdings schön zylindrisch und hart sein. Ein Tetra-

42 | Simon, a. a. O., S. 113.

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pak oder eine Limonadenflasche können auch Wein beinhalten, aber keinen Pizzateig ausrollen. Wir schätzen die Weinflasche zum Teigausrollen überhaupt nur dafür, dass sie hart und zylindrisch ist, obwohl diese Eigenschaften für das stilsichere Weintrinken nicht so wichtig sind. Gebrauch Den Begriff des Gebrauchs habe ich in den vorherigen Kapiteln bereits mehrfach verwendet für den praktischen Umgang mit Gegenständen. Im Rahmen meiner Untersuchung, und in Bezug auf die anderen Begrifflichkeiten, ist an dieser Stelle noch eine weitere Präzisierung notwendig. Welche Formen an einem Gegenstand beobachtet werden können, stellt sich im Gebrauch heraus. Erst die Kombination von Gegenstand und Gebrauch zu einem bestimmten Zweck entscheidet darüber, in welchen seiner Eigenschaften er Teil der Form ist und in welchen nicht. Ein Nudelholz könnte sich zum Befeuern des Kamins eignen, wenn es aus Holz ist; man kann damit auch einem ungeliebten Menschen eine Abreibung verpassen. Wenn ich es als Teil einer Form des Teig-Ausrollens betrachte, setzt das den entsprechenden Gebrauch voraus, außerdem etwas Teig und eine geeignete Unterlage. Eine Flasche kann ganz ähnlich in einer anderen Form des Teig-Ausrollens verwendet werden, erfordert aber auch einen anderen Gebrauch als den, den die meisten Menschen für gewöhnlich mit der Flasche verbinden. Die Form ist also nicht nur auf bestimmte Eigenschaften des Gegenstands beschränkt, sondern überhaupt nur zugänglich über den jeweiligen Gebrauch. Der Gebrauch ist die prozesshafte Komponente der Form, weil er immer wieder anders durchgeführt werden kann. Gegenstand Gegenstände sind nicht einfach da. Man muss sich aus dem Wirrwarr der Welt erst einen Gegenstand herausbeobachten und damit eine Grenze ziehen zwischen einem Ding und dem nächsten. Die Grenze verläuft in der Praxis häufig an der äußeren semantischen Hülle eines Objekts, die sich uns präsentiert. Das Innenleben von komplizierten Geräten wie Fernsehern oder Rasenmähern ist verdeckt und ohnehin nicht für jeden nachvollziehbar, besonders wenn es sich um Mikroelektronik handelt. Diese Grenzziehung ist allerdings so willkürlich wie jede andere: Zumindest die meisten elektronischen – aber auch mechanische – Objekte sind alleine ja schon aus mehreren Bauteilen zusammengesetzt, die an sich wieder als eigene Gegenstände erscheinen und erst im Rahmen einer größeren Maschine ihre Eigenständigkeit als Gegenstand aufgeben. Abgesehen davon hat man es im alltäglichen Erleben nie mit

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einem isolierten Gegenstand zu tun, sondern immer mit einer ganzen Menge an Dingen in einer ganz bestimmten Situation. Die meisten Objekte sind für sich allein genommen nicht zu gebrauchen. Elektronische Geräte wie ein Radio sind ohne Radioprogramm, Funktürme und Popsänger nicht sehr zweckdienlich. Aber dann lässt sich die Grenze zwischen dem Gegenstand «Radio» und den ganzen Zutaten, den es für sein Radiosein noch benötigt, gar nicht so scharf ziehen. Im Alltag grenzen wir trotzdem gewohnheitsmäßig Gegenstände auf diese Art und Weise ab. Ich beschreibe deswegen hier den Gegenstand als materiellen Teil einer Form, bei dem man den Gebrauch zwar mitdenkt, dessen objektive Komponente aber davon unabhängig existiert. Gegenständen als Teil einer Form lassen sich dann Eigenschaften zuordnen, die diese aufweisen, um für den gewählten Zweck brauchbar zu sein. Davon abgesehen lassen sich noch eine ganze Reihe anderer Eigenschaften zuschreiben, die für den jeweiligen Zweck gar keine Rolle spielen. Dadurch hat ein Gegenstand das Potenzial, Teil einer anderen Form zu werden, also für einen anderen Zweck gebraucht zu werden. Der Gegenstand erscheint aus Sicht der Interaktion als der materiell strukturierte Anteil der Form, schlicht gesprochen also als das materielle Ding. Auch wenn man den Gebrauch für einen Gegenstand häufig fest mit ihm verbindet, wird er nicht so sehr als Teil des Gegenstands selbst wahrgenommen. Der Gebrauch eines bestimmten Gegenstands hängt mit seiner materiellen Struktur zusammen: Man kann mit einer Flasche eben nicht alles machen, sondern nur das, was das Material auch zulässt. Diese materielle Struktur erlaubt zwar unterschiedliche Prozesse, aber nicht beliebig viele. Der Gebrauch ist der prozesshafte, der Gegenstand der materiell strukturierte Anteil einer Form. Eigenschaft Gegenständen werden Eigenschaften zugeordnet, schon durch die Art und Weise, wie man sie sprachlich beschreibt. Wir sagen in der Regel: Die Weinflasche ist grün, aus Glas und durchsichtig. Nun kann die gleiche Flasche aber des Nachts schwarz, bei Sonnenlicht hellgrün oder bei rotem Licht braun oder auch bei Rot-Grün-Schwäche gleichförmig grau erscheinen. Wie grün die Flasche dann ist, hängt unter anderem am Betrachter. Diese Komplikation lässt man, ob aus Überzeugung oder Bequemlichkeit, meistens aus. Wenn jemand einen Gegenstand für einen bestimmten Zweck gebrauchen kann, dann auch deswegen, weil das Ding die notwendigen Eigenschaften für diesen Gebrauch besitzt. Die meisten Gegenstände haben darüber hinaus noch viele Eigenschaften, die für ihren Gebrauch nicht notwendig sind und die deswegen ganz unter-

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schiedlich ausfallen können. Mein Nudelholz ist tatsächlich aus Holz; es könnte aber auch aus Stein oder Stahl sein und trotzdem seinen Zweck erfüllen. Die Eigenschaften eines Gegenstands sind also für einen bestimmten Zweck entweder notwendig oder kontingent. Die notwendigen Eigenschaften sind Teil der Form, die sich an dem Gegenstand im Gebrauch beobachten lässt. Alle anderen Eigenschaften sind kontingent und deswegen austauschbar. Für eine Flasche ist nicht ausschlaggebend, ob sie aus Glas oder Kunststoff ist, wenn man darin nur Flüssigkeit aufbewahren möchte. Will man ein Schiff taufen, ist man allerdings mit einer Plastikflasche schlecht beraten. Ich benutze den Begriff der Eigenschaft als Bindeglied zwischen der Form und dem Gegenstand. Das Konzept von Form als Beobachtung und Unterscheidung ist für Designerinnen nicht vertraut und alltäglich. Sie können jedoch sehr routiniert Gegenstände in ihren Eigenschaften beschreiben und verändern. Indem sie ein Gegenstand mit einem bestimmten Zweck in Verbindung bringen, treffen Designer eine Entscheidung über die Form, die sie an diesem Gegenstand beobachten. Sie begrenzen dadurch die Menge an notwendigen Eigenschaften auf ein handhabbares Maß und beschreiben zugleich die Dimensionen dessen, was an einem neu zu gestaltenden Gegenstand nicht verändert werden kann. Kontingente und notwendige Eigenschaften Sobald jemand einen Gegenstand auf bestimmte Weise benutzt, beobachtet sie an dem Gegenstand eine bestimmte Form mit einem Zweck und macht so einen Unterschied zwischen notwendigen und kontingenten, also austauschbaren, Eigenschaften des Gegenstands. Das heißt auch, dass diese Unterscheidung genau so im Gebrauch stattfinden kann wie in der Analyse. Bei jeder Form für einen Zweck sind bestimmte Eigenschaften des Gegenstands unverzichtbar und andere austauschbar. Die austauschbaren können verändert werden, ohne die Form und den Zweck zu beeinflussen. Professionelle Designer gestalten einen Gegenstand neu, indem sie diese kontingenten Eigenschaften verändern. Benutzer können andersherum die notwendigen Eigenschaften in einem anderen Gegenstand erkennen und ihn für den gewünschten Zweck einsetzen, auch wenn seine kontingenten Eigenschaften ihn weniger gut geeignet erscheinen lassen. Dann kommt es zu instrumenteller Umnutzung. Sobald der gleiche Gegenstand aufgrund anderer Eigenschaften für einen abweichenden Zweck gebraucht wird, verändert sich die Form und dadurch die Einschätzung, welche Objekteigenschaften notwendig und austauschbar sind. Kontingente Eigenschaften sind für die Umnutzung entscheidend, weil sie potenziell zu notwendigen Eigenschaften für andere Formen werden können. Die Kombi-

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notwendige und

kontingente Eigenschaften

Gebrauch

und

Gegenstand

verfügt über

ergeben

Form

verweist auf

Zweck

erlaubt die Unterscheidung in

Abbildung 3.3: Begriffe der Form-Gegenstand-Unterscheidung und ihre Beziehung.

nation von notwendigen und kontingenten Eigenschaften in gestalteten Gegenständen entscheidet darüber, wofür sie umgenutzt werden können. Die Beziehung von Form, Zweck, Gegenstand, Gebrauch sowie kontingenten und notwendigen Eigenschaften lässt sich zusammenfassend so beschreiben (Abb. 3.3): 1. Eine Form lässt sich an Gegenständen im Gebrauch beobachten und weist auf einen bestimmten Zweck hin. 2. Der Gebrauch, also die prozesshafte Komponente der Form, erlaubt die Unterscheidung in Objekteigenschaften, die für den jeweiligen Zweck notwendig sind, und kontingente Eigenschaften, die variiert werden können. 3. Jeder Gegenstand mit notwendigen und kontingenten Eigenschaften, also der materiell strukturierte Anteil der Form, kann für mehr als einen Zweck verwendet werden und dadurch Teil von mehr als einer Form sein. Eine andere Form und Art des Gebrauchs verschiebt die Einschätzung darüber, welche Eigenschaften für diese Form kontingent und notwendig sind.

90 | Gebrauch als Design

4. Jede Form kann mit unterschiedlichen Gegenständen durchgeführt werden, die die gleichen notwendigen Eigenschaften für den jeweiligen Zweck aufweisen.

3.3 VON T HEORIEKONZEPTEN ZU G ESTALTUNGSANNAHMEN Aus Luhmanns Irritationsbegriff lässt sich eine experimentelle Designstrategie ableiten. Die Gegenüberstellung der Konzepte von Form und Gegenstand gibt Anhaltspunkte dafür, dass diese Irritation beim Design-im-Gebrauch auch als Formverschiebung charakterisiert werden kann. In den folgenden Abschnitten entwickele ich eine Interpretation des Irritationsbegriffs mit den Mitteln der Gestaltungspraxis. Konkret geht es mir darum, Kriterien und Variablen zu entwickeln, die geeignet sind, den Entwurfsteil meiner Studie sinnvoll einzugrenzen. Hierzu schlage ich produktsemantische Verfremdung durch ungewöhnliche Materialwahl als grundlegendes Mittel vor, um durch Design-Gegenstände Irritation herbeizuführen. Darüber hinaus führe ich zwei Variablen ein, nach denen die konkrete Ausformung der Interfaces zusätzlich unterschieden und zugespitzt werden kann, und die mutmaßlich die Aneignung im Gebrauch beeinflussen: Prozess-Struktur-Ausprägung sowie Situationsabhängigkeit des Interface (siehe Abb. 3.4.). Beide Konzepte sind für Interfacedesign und Systemtheorie gleichermaßen anschlussfähig. Die Übersetzung theoretischer Konzepte in einen Designprozess und umgekehrt die Theoretisierung der empirischen Erkenntnisse in Bezug auf die Designtheorie folgt dabei der Grundidee des Ansatzes von «Forschung-durch-Design»43 . Die Systemtheorie dient dabei als theoretische Perspektive, die praktische Konsequenzen für das Entwerfen mit sich bringt; ihre Konzepte müssen jedoch durch die Entwurfshandlung selbst interpretiert und reflektiert werden. Der Entwurfsprozess und die Auseinandersetzung mit den theoretischen Konzepten fand dabei parallel statt. Ähnlich wie bei den in Abschnitt 3.2.3 eingeführten Begrifflichkeiten sind die Variablen und Kriterien für die Gestaltung, die Gestaltungsannahmen und die Forschungsfrage in enger Verzahnung mit dem Entwurfsprozess entwickelt und anhand der praktischen Reflexion ausgearbeitet worden. Der besseren Nachvollziehbarkeit wegen stelle ich sie hier der Beschreibung der empirischen Arbeit voran.

43 | Siehe auch Kapitel 1.

Aneignung provozieren | 91

notwendige und

kontingente Eigenschaften

Gebrauch

Gegenstand

und

verfügt über

ergeben

Form

bietet stark differenziertes materielles Interface/ bietet differenzierten Bedienprozess?

umfasst weitere Gegenstände?

Situationsabhängigkeit

Struktur-ProzessOrientierung

Abbildung 3.4: Gestaltungskritierien von Prozess und Struktur sowie Situationsabhängigkeit.

3.3.1 Formverschiebung durch Irritation Eine Formverschiebung im Design oder im Gebrauch besteht darin, eine Eigenschaft eines Gegenstands für einen Gebrauch notwendig zu machen, der nicht dem erwarteten Zweck entspricht: Wenn ein Fisch in eine Zeitung gewickelt wird, ist die Zeitung nicht als Informationsträger wichtig, sondern als großes Stück weiches Papier. Wenn aus alten Zeitungen ein Stuhl entworfen wird, sind es wiederum die Stabilität und die leichte Verfügbarkeit des Materials, die für den neu zugeordneten Zweck entscheidend sind. Ich gehe davon aus, dass diese Formverschiebung im Gebrauch leichter fällt, wenn der Gegenstand, an dem sie vorgenommen wird, «irritiert», also beste-

92 | Gebrauch als Design

hende Erwartungen nicht erfüllt. Wenn der Zweck eines Gegenstands nicht mehr von vornherein klar erkennbar ist, muss er in der Wahrnehmung und im Gebrauch aktiv rekonstruiert werden. Dies kann im Design dadurch erreicht werden, dass ein Gegenstand mit ungewöhnlichen Eigenschaften ausgestattet wird. Neue Materialien als Grundlage für neue Formen Ein wirksames Mittel, um einem bekannten Gegenstand ungewöhnliche Eigenschaften zu verleihen, ist die Auswahl von Ausgangsmaterialien, die innerhalb des Gegenstands in Kontrast zueinander gestellt werden können. Für meine Untersuchung spielt elektronisches Material eine Rolle, weil sich im Kontext des Interaktionsdesigns die Frage nach Design-im-Gebrauch besonders dringlich stellt. Computer als «Material» der Gestaltung scheinen in ihrer zweckmäßigen Anwendung besonders auf die im Design vorgesehenen Formen des Gebrauchs festgelegt zu sein. Die Haupteigenschaft, auf der die Funktionsweise von Elektronik beruht, ist die elektrische Leitfähigkeit, während andere Materialeigenschaften für das technische Funktionieren zweitrangig sind. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit, elektronische Geräte als ungewöhnliche Gegenstände zu gestalten, indem man andere leitende Materialien einsetzt. Seit einigen Jahren gibt es hier immer mehr leitende oder elektrisch aktive textile Werkstoffe und nähbare elektronische Komponenten. Textil als Material für elektronische Interfaces ist allerdings immer noch relativ neu und unerforscht. Anders als bei etablierten elektronischen Geräten gibt es noch keine anerkannte, wiedererkennbare Ausdrucksgestalt für textile Elektronik. Dadurch bleibt Raum für gestalterische Überraschungseffekte und Experimente. Elektrisch leitender Stoff eignet sich demnach als Material, in dem die Gestaltung von Elektrogeräten relativ einfach zu ungewöhnlichen Entwürfen führen kann. Zugleich ist es wahrscheinlich, dass das Material an sich auch andere Assoziationen weckt und andere Gebrauchsmuster anspricht und ermutigt. 3.3.2 Prozessorientierte und strukturorientierte Gegenstände Die Unterscheidung von Prozess und Struktur habe ich bereits eingeführt, um das Verhältnis von Gegenstand und Gebrauch zur Form zu beschreiben. Prozess und Struktur sind nicht mit Gegenstand und Gebrauch gleichzusetzen, oder mit der räumlichen und zeitlichen Ausprägung eines Interface, sondern mit der Einzigartigkeit oder Wie-

Aneignung provozieren | 93

derholbarkeit eines bestimmten Gebrauchs an einem bestimmten Gegenstand44 . Man kann aber vermuten, dass eine gewisse Abhängigkeit besteht zwischen der materiellen Struktur des Interface und der Art, wie sie Gebrauchs-Prozesse ermutigt oder unterbindet. Der Gegenstand, wie er als wahrnehmbares Interface erscheint, gibt die ersten Anhaltspunkte dafür, mit welchem Zweck er assoziiert wird. Wenn sich die zweckmäßige Anwendung aus dieser Erscheinung nicht erschließt, sondern erst im Gebrauch, verändert dies die Einschätzung darüber, welche Gebrauchsformen sich am Gegenstand beobachten lassen. Die äußerliche materielle Struktur beeinflusst die Einschätzung darüber, wofür der Gegenstand zu gebrauchen ist, auf andere Weise als der Gebrauchsprozess. Dieses Verhältnis von Prozess und Struktur am Gegenstand lässt sich durch Interfacedesign zugunsten des einen oder der anderen experimentell verschieben, also auf die materielle Erscheinung oder den Softwarecode verlagern. Was die Umnutzung im Gebrauch angeht, ist jedoch unklar, welchen Effekt die eine oder andere Gestaltungsrichtung hat. Ein Prozess kann bei jeder Ausführung ein wenig anders sein. Dadurch hat der Benutzer die Freiheit, sein Verhalten zu variieren. Eine Struktur sorgt für einen gleichbleibenden Ablauf, bietet aber auch Potenzial für andere Nutzungen. In einem Teil der Fragestellung wird es also darum gehen, festzustellen, ob diese Unterscheidung auch mit Unterschieden in der Umnutzung korrespondiert. 3.3.3 Situationsabhängigkeit Wie am weiter oben eingeführten Formbegriff deutlich geworden ist, ist die Grenze von Form und Kontext eine andere als die zwischen dem Gegenstand und seiner Nutzungssituation. Die Abgrenzung Gegenstand-Situation verläuft an den Grenzen des

44 | Luhmann setzt die Begriffe von Prozess und Struktur ein, um den Umgang von Systemen mit Komplexität und zeitlichen Veränderungen zu charakterisieren (Niklas Luhmann. Soziale Systeme. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987, S. 74-75). Demnach stellt ein Prozess eine «zeitlich irreversible Ereignissequenz» dar und begrenzt im konkreten Fall, welche Ereignisse aufeinander folgen können (Claudio Baraldi, Giancarlo Corsi und Elena Esposito. GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. 3. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999, S. 142). Strukturen hingegen «gewährleisten [. . . ] die Reversibilität der Selektionen, obwohl die Selektionen als Ereignisse irreversibel in die Vergangenheit abtauchen» (ebd., S. 185). Sie sorgen dafür, dass Prozesse wiederholbar werden. Obwohl Luhmann mit «Struktur» nicht «Material» meint, lässt sich seine Definition auf Gegenstände anwenden, die aus Designsicht besonders interessante Strukturen darstellen.

94 | Gebrauch als Design

Interface, an dem wir uns als menschliche Nutzer mit ihm auseinandersetzen können. In der Form sind dagegen weitere Gegenstände und Handlungspraktiken enthalten, die über das einzelne Interface hinausgehen, sich aber der Gestaltung (oder auch nur der Beobachtung) entziehen. Dabei scheint es solche Gegenstände zu geben, bei denen die Form stark in die Nutzungssituation hineinragt, und andere, bei denen die Nutzungssituation lediglich einen anderen Kontext, aber keinen Teil der Form ausmacht. Bei solchen situationsunabhängigen Gegenständen scheinen die Grenzen der Form und die des Gegenstands die gleichen zu sein. Dinge wie ein Kofferradio sind freistehende Geräte, werden als funktionale, geschlossene Einheit wahrgenommen und tragen ihre eigene Infrastruktur bereits mit sich. Ein Autoradio ist stärker von der Anwendungssituation abhängig, in der es verwendet wird, weil es seinen Strom von der Autobatterie bezieht. Damit ist das Autoradio stärker situationsabhängig als das Kofferradio. Die Situationsabhängigkeit beeinflusst, in welche anderen Anwendungssituationen ein Gegenstand beim Design-im-Gebrauch überführt werden kann. Die materielle Abhängigkeit von einer Anwendungssituation lässt sich mit der Designstrategie kombinieren, gewohnte Gegenstände durch ungewohnte Materialien zu verfremden. Nur leitende Materialien können notwendiger Teil eines elektronischen Interface sein. In ihrer jeweiligen Anwendungssituation ist diese Leitfähigkeit aber nicht immer entscheidend, z.B. bei Treppengeländern oder Türklinken.

3.4 G ESTALTUNGSANNAHMEN

UND

F ORSCHUNGSFRAGEN

Die Annahmen, die sich aus den theoretischen Konzepten für die Übersetzung ins Design ableiten lassen, kann man so zusammenfassen: 1. Design-im-Gebrauch stellt eine Formverschiebung an einem Gegenstand dar. Das Potenzial eines Gegenstands zur Formverschiebung lässt sich durch Irritation – z.B. durch den unerwarteten Einsatz von Interface-Materialien – steigern. 2. Das Potenzial eines Gegenstands ist abhängig von dem Ausmaß, in dem er • •

situationsabhängig oder -unabhängig prozessorientiert oder strukturorientiert

gestaltet wird. Folgende Punkte sollen demnach mit der Gestaltung der Prototypen untersucht werden:

Aneignung provozieren | 95







Was ist bei der Deutung eines unbekannten Gegenstands maßgeblich, um ihn mit einer Anwendungssituation, einem Gebrauch und Zweck in Verbindung zu bringen? Wie hängt die Unterscheidung in Prozess und Struktur des Gegenstands mit der Form von Nutzung zusammen, mit der er in Verbindung gebracht wird? Welchen Einfluss hat die Verankerung in einer bestimmten Nutzungssituation auf die Form der Nutzung, die damit assoziiert wird?

Das Erkenntnisinteresse ist nun mithilfe der sozialen Systemtheorie und ihrer Übersetzung ins Design theoretisch eingerahmt und mit Begrifflichkeiten versehen worden, die eine klare Fragestellung erlauben. Damit ist aber noch nicht geklärt, wie eine solche Frage sich in Gestaltungshandlungen übersetzen lässt. Diesen Prozess beschreibe ich im folgenden Kapitel, ebenso wie den Ablauf der «Bedeutungs-Rekonstruktionssitzungen», in denen die daraus resultierenden Prototypen auf mögliche Bedeutungen interpretiert wurden.

4 Bedeutung konstruieren

Die Bedeutungskonstruktion anhand von Gegenständen und Handlungen findet im Design und in der Aneignung auf strukturell ähnliche Weise statt. Dabei kann es in der konkreten individuellen Deutung einzelner Akteure zu Abweichungen kommen, die hier wie da als Design-Variation betrachtet werden können. Diese Variation passiert allerdings an unterschiedlichen Orten und auf verschiedene Art und Weise: Im Design wird eine materielle Struktur hergestellt, im Gebrauch ein Anwendungsprozess ausagiert. Im vorhergehenden Kapitel habe ich meinen theoretischen Standpunkt formuliert und daraus Gestaltungsannahmen darüber abgeleitet, welche Eigenschaften des materiellen Gegenstands für eine originelle Aneignung hilfreich sein könnten. Um feststellen zu können, ob und welche dieser Eigenschaften die Bedeutungskonstruktion im Gebrauch unterstützen, ist ein Vergleich nötig zwischen den intendierten Bedeutungen im Design und den emergenten Bedeutungen in der Aneignung. Die Bedeutungskonstruktion im Design lässt sich durch einen systematisch geplanten Prozess und eine intensive Dokumentation der Arbeitsmaterialien festhalten und nachvollziehen. Die Bedeutungskonstruktion im Gebrauch ist vergleichsweise schwieriger zu beobachten. Sie verläuft für gewöhnlich über einen längeren Zeitraum und erreicht nicht immer eine sprachlich-reflexive Ebene. In meiner Untersuchung behandele ich die Bedeutungskonstruktion im Gebrauch als eine Methode des partizipativen Designs in einer festgelegten Umgebung, um die Wirkung der unterschiedlichen Prototypen besser nachvollziehen zu können. Diese Interpretationssitzungen dienen nicht dazu, Aneignung als natürlich stattfindenden Prozess zu dokumentieren, sondern bewusst den Interpretationsspielraum auszuloten, den unterschiedliche Interpreten in den Prototypen erkennen. In diesem Kapitel schildere ich eingangs die Designkriterien, die für eine Übersetzung der theoretischen Variablen in den Entwurf zusätzlich notwendige Beschränkungen liefern. Ich beschreibe außerdem den Designprozess und die Methode der

98 | Gebrauch als Design

Abbildung 4.1: Erster Prototyp eines Radios mit Textil-Interface, bei dem ein konventionelles Radio umgebaut wurde.

Analogiebildung, die ich zur Umsetzung der irritierenden Designs verwendet habe. In der Schilderung der Prototypen gehe ich auf die Umsetzung der theoretischen Variablen ein und stelle die Entscheidungsfindung im Entwurf sowie die Reihenfolge der Entstehung dar, insofern sie das Ergebnis beeinflusst haben. Ich erläutere außerdem die Rahmenbedingungen für die Interpretationssitzungen näher, und beschreibe die Vergleichs- und Bewertungsgrundlage für Bedeutungen aus Design und Gebrauch für die folgende Analyse.

4.1 KONSTRUKTION

IM

M ATERIAL

Im vorhergehenden Kapitel habe ich den systemtheoretischen Begriff der Irritation als Ausgangspunkt genommen, um Begriffe und Vorgehensweisen innerhalb des Designs zu entwickeln, die Design-im-Gebrauch ermutigen helfen können. Irritation selbst bezeichnet dabei vor allem die unvorhersehbare Reaktion innerhalb eines geschlossenen Systems – zum Beispiel des Bewusstseins – auf unerwartete Einflüsse von außen. Solche Irritationen lassen sich mithilfe ungewöhnlicher Gegenstände hervorrufen und begünstigen dadurch Formverschiebungen, d.h. sie erleichtern es dem Benutzer, einen Gegenstand mit einem ungewöhnlichen Zweck in Verbindung zu bringen. Produktsemantische Verfremdung, zum Beispiel durch ungewöhnliche Ausgangsmaterialien,

Bedeutung konstruieren | 99

Abbildung 4.2: Das Radio mit angelöteten Kabeln als Anschlussstellen für Transistoren.

habe ich als passende Designstrategie vorgeschlagen, um derartige Irritationen zu erreichen. Zur experimentellen Untersuchung unterschiedlicher Arten der Verfremdung habe ich eine Variation experimenteller Prototypen anhand von Prozess- und Strukturorientierung einerseits und Situationsabhängigkeit andererseits beschrieben. Textile Werkstoffe habe ich darin als geeignetes, weil konventionell noch wenig besetztes Material für den Bereich Interfacedesign und MMI identifiziert. 4.1.1 Elektronische Textilien Verfremdungseffekte an elektronischen Geräten lassen sich mit ganz unterschiedlichen Materialien erreichen. Warum gerade Textil besonders geeignet ist, liegt zunächst einmal auch daran, dass leitende Textilien und geeignete Mikrocontroller1 , anders als noch vor einigen Jahren, mittlerweile in kleinen Mengen und im Einzelhandel zu erwerben sind. Andererseits lassen sich Textilien mit Werkzeugen verarbeiten, die relativ günstig, ungefährlich und leicht verfügbar sind. Die textilen Objekte selbst sind in der Regel von ihrem Maßstab und ihrer Handhabung her alltagstauglich, also beispielsweise weder allzu unhandlich noch sehr bedrohlich. Obwohl es auch mög-

1 | Besonders bekannt ist hier das Arduino Lilypad, siehe Leah Buechley und Michael Eisenberg. «Fabric PCBs, electronic sequins, and socket buttons: techniques for e-textile craft». In: Personal and Ubiquitous Computing 13 (2007), S. 133–150.

100 | Gebrauch als Design

Abbildung 4.3: Interface-Elemente: Magnetschließen, stufenlos verstellbare Schnalle und Gürtel.

lich ist, textile Objekte groß, schwer und gefährlich zu gestalten, so legt doch der Maßstab der Materialien und Werkzeuge dies nicht nahe. Die Verfügbarkeit von elektronischen Stoffen und Garnen sowie die Möglichkeit zur Verarbeitung im Rahmen eines universitären Forschungsinstituts sind notwendige Voraussetzungen dafür, sie überhaupt als Interfacematerial in Betracht ziehen zu können. Das in der Regel weiche, biegsame, verhältnismäßig grobe Textil stellt dann einen spürbaren Kontrast zu der eher kantigen, kleinteiligen Elektronik dar. Die Verarbeitung von textilen Interaktionselementen folgt einer Logik, die teils komplementär ist gebenüber konventioneller Herstellungweisen von Interfacekomponenten. Im Vergleich zur Konstruktion elektrischer und elektronischer Bauteile hat die textile Produktion eine lange und reichhaltige Tradition. Diese Formgeschichte liefert hier den Grundstock für eine Ästhetik, die sich ebenfalls von der etablierten Erscheinungsform von Elektronik deutlich absetzt. Der semantische Unterschied des Textils zur Elektronik bietet daher gegenüber anderen Materialien einen deutlicheren Kontrast und das größere Potenzial für abweichende Interface-Entwürfe. Dies illustriert ein Entwurfsexperiment zur Interface-

Bedeutung konstruieren | 101

verfremdung, das der Konstruktion der späteren Prototypen zeitlich vorausging: Um unterschiedliche Interaktionen für einen bekannten Gegenstand zu testen, habe ich kommerzielle Radios zerlegt und dann mit neuen Interaktionselementen und einer neuen Hülle versehen2 . In dieser Konstruktionsübung wird besonders sichtbar, wie die Entwurfslogik von Textilien zu wirksamer Verfremdung von Interfaces führt, einfach dadurch, dass man Elemente aus der Formsprache von Kleidung entlehnt und ihr neue Funktionen zuweist (siehe Abbildungen 4.1 und 4.3). In diesem Stoff-Radio sind lediglich die Knöpfe und Drehregler eines konventionellen Radios durch textile Elemente ersetzt; Transistoren und ein Mikrocontroller übersetzen die Interaktion und kontrollieren das eigentliche Radio (siehe Abb. 4.2). Die Besonderheiten im Umgang mit dem weichen Textil erweisen sich dabei als besonders reizvoll im Kontrast zu der etablierten Umgangsweise mit für gewöhnlich stabilen elektronischen Geräten. Dieser Unterschied spielt deswegen in allen weiteren Prototypen eine zentrale Rolle. 4.1.2 Transfer als Designmethode Der eigentliche Designprozess erfordert darüber hinaus eine Entwurfsmethode, die ein ergebnisoffenes und experimentelles Arbeiten zulässt und zugleich gut dokumentierbar ist in Bezug auf die Bedeutungsquellen, die den Prozess beeinflussen. Hierfür eignet sich eine strukturierte Methode der Analogiebildung, wie sie von Rosan Chow unter dem Namen «Rip and Mix» entwickelt wurde3 . «Rip and Mix» dient explizit als Vorgehensweise zum ergebnisoffenen Entwerfen. Die Grundidee ist, dass gestaltete Gegenstände für Designerinnen als Wissensträger und Inspirationsquellen dienen. Chow unterscheidet hier zwischen lokalen, regionalen und weit entfernten Quellen in Bezug auf die Fragestellung im Design. Als «lokale» bezeichnet sie solche, die inhaltlich beinahe gleich sind, z.B. mobile elektronische Geräte bei der Gestaltung eines neuen mobilen Kommunikationsgeräts. «Regionale» Quellen sind Artefakte, die ähnlich sind – für das oben genannte Beispiel

2 | Radios oder Audio-Ausstattung als Gegenstand gestalterischer Experimente können dabei auf eine gewisse Tradition zurückblicken. Im künstlerischen Bereich sind hier Ron Arads Beton-Stereoanlage und Daniel Weils «radio in a bag» zu nennen. Ein Blick auf die Webseiten der jüngsten Selbermach-Renaissance zeigt auch, dass das günstige Gerät immer wieder gerne passend zu den eigenen Vorlieben verändert wird. Siehe z.B. Autodesk. Instructables. URL: http://www.instructables.com. 3 | Rosan Chow und Wolfgang Jonas. «Case transfer : A design approach by artefacts and projection». In: Design Issues 26.4 (2010), S. 9–19.

102 | Gebrauch als Design

enwrap

envelope

plummet

whippy

cascade fluid aerodynamic

falling draping

skew spiral wreathe twist snake

bouncy irrepressible convertible limber flowing resilient stretchable lively alterable perceptive adapable sentient wrinkle impressionable yielding pucker hide shrivel crumpable camouflage wrapable collapse shelter succumb cloak unsafe foldable slippery frizz untrustworthy pliant distort wet easy going lubricous ruffle breezy malibu waxy variable telescope casual sparkling icy polished intertwine layer

curved

flexible

Abbildung 4.4: Assoziationen zweiten Grades mit textilen Eigenschaftswörtern über Synonyme.

wären dies mobile Gegenstände ganz generell. «Weit entfernte» Quellen haben keine direkte Ähnlichkeit, sondern bestehen in ihrem Beispiel aus experimentellen Technologien und künstlerischen Projekten, die interessante und aufschlussreiche Aspekte aufweisen. In ihrer Studie identifiziert Chow regionale Quellen als die wirksamsten, um originelle Konzepte zu generieren4 . Lokale Quellen dienen bei Chow als Grundlage, um nachträglich die Originalität der neuen Konzepte evaluieren zu können. In der vorgeschlagenen Untersuchung dienen die zwei Objektkategorien «Textilien» und «Elektronik» gleichermaßen als Grundlage für lokale Quellen. Sie stellen einerseits – im Fall des Textils – das Material und damit auch die Verarbeitungstechnik, die sonst ebenfalls zum Gegenstand des Transfers werden können. Andererseits geben sie – im Fall der Elektronik – Hinweise auf bestehende, und damit auch praktisch umsetzbare, Funktionalität für mögliche neue Dinge. Weil es nicht Gegenstand meiner Untersuchung ist, neue Verarbeitungstechniken für Textil oder neue Funktionen für Elektronik zu entwickeln, haben die

4 | Ebd., S. 13.

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lokalen Quellen hier auch die Rolle eines Repertoires an formalen und funktionalen Möglichkeiten für den Entwurf. Die Auswahl der regionalen Quellen bezieht sich ebenfalls auf das Textil als zentrales Interfacematerial. Sie basieren jedoch auf den materiellen Eigenschaften des Textils und nicht auf seinen Erscheinungsformen. Die textilen Materialeigenschaften stellen die wichtigste Neuerung dar, wenn Textil als Eingabematerial für elektronische Geräte verwendet wird. Eine Sammlung regionaler Quellen beruht daher auf Eigenschaftswörtern, die mit typischen textilen Eigenschaften assoziativ im zweiten Grad verbunden sind (siehe Abb. 4.4). Für diese assoziierten verwandten Eigenschaften werden wiederum materielle Gegenstände – in Form von Abbildungen – als konkrete Referenzen zusammengestellt. Sie dienen vor allem als Verweise auf mögliche Anwendungskontexte für die Analogiebildung. Diese Gegenstände sind in der Umgangsweise gleich oder ähnlich wie Textil, jedoch in der Regel bezogen auf eine oder wenige Aspekte. Das Auswahlkriterum für regionale Quellen aus der Kategorie der Elektronik ist die elektrische Leitfähigkeit. Sie ist für die elektronische Funktion maßgeblich. Diese regionalen Quellen verweisen ebenfalls auf mögliche Anwendungssituationen, auf die sich die Konstruktion eines Prototyps beziehen kann. Alle Bildquellen, die für das Verfahren gesammelt werden, dokumentieren zugleich den Bedeutungshorizont, der im Designprozess bewusst zugänglich ist. «Rip and Mix» sieht nach der Quellensammlung ein iteratives Entwurfsverfahren vor, bei dem anhand eines ersten Sets an Quellen Konzepte entwickelt werden, die für die nächsten Iterationen wiederum als Quellen einbezogen werden können. Sowohl die lokalen und regionalen Quellen als auch die Konzepte werden nach jeder Entwurfssitzung evaluiert, und die Quellen bei Bedarf ergänzt. Für die vorgeschlagene Untersuchung werden die Konzepte danach evaluiert, inwiefern sie die Variablen von Prozess- und Strukturorientierung und Situationsabhängigkeit und -unabhängigkeit abbilden. Vielversprechende Konzepte, die Einzellösungen zu Form, Funktion oder Herstellung präsentieren, werden über die Iterationen zu kohärenten funktionalen Objekten kombiniert. Für die vorgeschlagene Untersuchung sind nicht alle Konzepte, die durch Transfer generiert werden können, gleichermaßen hilfreich. Es gelten einige zusätzliche Beschränkungen bei der Auswahl der lokalen und regionalen Quellen. Der Spielraum dessen, was an Funktionalität und Herstellungsweisen eingesetzt werden kann, ist in meiner Untersuchung von vornherein auf Elektronik und Textil beschränkt. Diese Beschränkung ergibt sich vor allem aus der Entscheidung, Textil als verfremdendes Interfacematerial und Elektronik als Zieldomäne des Transfers zu verwenden. Die

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Abbildung 4.5: Ideenskizzen für textile Interaktion zum Steuern von elektronischen Geräten.

Analogiebildung von Elektronik in Textil läuft dann darauf hinaus, textile Bedienelemente herzustellen, die funktional äquivalent zu elektronischen Elementen sind. 4.1.3 Funktionale Analogien Funktionale Analogien als Mittel der Interface-Verfremdung sind deswegen wichtig, weil so sichergestellt werden kann, dass Bedeutungen und Gebrauchsweisen aus unterschiedlichen Bedeutungsbereichen kombiniert werden. Damit ist das Wissen aus nur einem Bereich nicht ausreichend, um das Interface schlüssig zu deuten, und dadurch keine Benutzergruppe in der Deutung privilegiert gegenüber einer anderen. Eine gleichberechtigte Synthese ist auch deswegen der Maßstab für die Gestaltung der Prototypen, um den Einfluss bestehender symbolischer Bedeutungen möglichst gering zu halten. Wenn das textile Material als reiner Trägerstoff verwendet wird, ist es nicht notwendig, die textile Form den Komplikationen der Elektronik anzupassen. Erst die funktionale Analogie erzwingt, dass die Wirkweise des textilen Interface tatsächlich der von Elektronik entspricht. Das formale Repertoire der Mode stellt hierfür die Produktions- und Ausdrucksweise. Die Funktionalität der Prototypen zielt aber nicht auf den symbolischen Ausdruck ab, sondern ist ihm gegenüber weitgehend ignorant. Der Ausdruck soll möglichst stark von den materiellen Beschränkungen der Elektronik und Textilproduktion geprägt sein.

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Abbildung 4.6: Funktionsmodelle zum Testen textiler Interaktionen: Die textilen Versionen von Potentiometer und zweipoligem Schalter5 .

Anders als bei anderen taktilen Interfaces liegt die Herausforderung nicht in der bloßen Anwendung existierender Sensoren, sondern die Sensoren selbst müssen erst konstruiert werden. Dieser Schritt erfordert einem erheblichen Aufwand und häufig mehrere Iterationen, um überhaupt zu funktionierenden Ergebnissen zu gelangen. Gerade für eine Untersuchung, deren Ziel nicht der antizipierte Gebrauch des entworfenen Gegenstands ist, erscheint dieser Aufwand fast absurd, weil die vorgesehene Funktion des Gegenstands bei der originellen Aneignung ja gar nicht im Mittelpunkt steht. Dennoch ist es wichtig, dass die elektronische Funktion grundsätzlich vorhanden und zugänglich ist. Erst die Komplikation, Textil mit Elektronik zu verbinden, führt zu formal und funktional neuen Variationen. Mithilfe von Skizzen werden die textilen Interaktionen zunächst auf ihre Qualitäten als elektronische Ein- und Ausgabe geprüft und auf ihre Typizität als spezifisch textile Handlung bewertet. In Abbildung 4.5 sind als Beispiele hierfür zwei Vorläufe-

5 | Siehe hierzu auch Hannah Perner Wilson und Mika Satomi. How to get what you want. 2007. URL :

www.kobakant.at/DIY, , woher das Potentiometer-Beispiel entliehen ist.

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rideen für das Undercover zu sehen, die Falten als Interaktion verwenden, sowie eine Zeichnung zur späteren Wavecap. Die anderen Skizzen zeigen Vorschläge zum Flechten, Wenden und Umkrempeln von textilen Interfaces. In einem weiteren Schritt werden überzeugende und machbare Variationen als Funktionsmodelle umgesetzt und getestet (siehe Abb. 4.6). Entwürfe, die sich in diesem Schritt als zu unzuverlässig in ihrer elektronischen Funktion herausstellen, werden hierbei verworfen. Die funktionale Analogiebildung und die Konstruktion der Interaktionselemente hängt dabei stark von der Produktionstechnik ab. In meinem Fall ist die Umsetzung durch die Möglichkeiten von Näh- und Handstrickmaschinen beschränkt. Für die Handstrickmaschine (in diesem Fall eine Doppelbett-Lochkartenstrickmaschine) bedeutet eine solche Einschränkung zum Beispiel, dass sich aufgrund der Strickrichtung elektrische Verbindungen auf einer Ebene sehr viel leichter in horizontaler als in vertikaler Richtung integrieren lassen. Weitere Möglichkeiten ergeben sich durch bestimmte Zubehörteile. Dies lässt sich am Beispiel einzelner Werkzeuge am besten nachvollziehen: So erlaubt es das sogenannte Plattiernüsschen – ein Werkzeug für die Fadenführung im Strickschlitten – zwei Fäden so zu verarbeiten, dass sie nur auf Vorder- oder Rückseite des Gestricks erscheinen und so das Textil zwei unterschiedlich farbige Seiten hat. Dies ermöglicht das gezielte selektive Verstricken von leitenden Fäden, das für den sinnvollen Einsatz von leitenden Garnen Voraussetzung ist. Das gleiche Zubehörteil für das Doppelbett – welches gebraucht wird, um z.B. rechte und linke Maschen zu stricken – kann leitende Fäden im Inneren eines Rippmusters verbergen, so dass sie nur sichtbar werden, wenn der Rippstoff gedehnt wird.

4.2 D IE P ROTOTYPEN Aus der Kombination der zwei relevanten Variablensets – Struktur und Prozess und Situationsabhängigkeit oder -unabhängigkeit – ergeben sich vier mögliche Formen des Interaktionsdesigns, von denen ich drei als funktionierende Prototypen konstruiert habe. In der Konstruktion selbst treten zu der theoretisch motivierten Unterscheidung der Variablen außerdem weitere Designkriterien, die für eine konkrete Umsetzung notwendig sind. In meiner Untersuchung sind dies die Verfremdung von Elektrogeräten durch textile Materialien und die strukturierte Analogiebildung als Entwurfsmethode, die sich in den vorhergehenden Gestaltungsexperimenten als wirksam und aussichtsreich erwiesen haben. In der folgenden Beschreibung der finalen Prototypen gehe ich neben den theoretischen Überlegungen auch jeweils auf einige Details zum Entstehungsprozess und die Überlegungen zu den Modellen bei ihrer Entwick-

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situationsunabhängig

“Wavecap”

“Undercover”

strukturorientiert

“Shuffle Sleeve”

prozessorientiert

situationsabhängig

Abbildung 4.7: Übersicht der Prototypen und der Zuordnung zu den zwei Variablen-Sets.

lung ein, die meine Entscheidungsfindung zu Funktion und Aussehen der fertigen Prototypen nachvollziehbar machen sollen. Die drei konstruierten Prototypen decken die beiden Variationen zu situationsunabhängigen Gegenständen sowie die strukturorientierte Variante eines situationsabhängigen Gegenstands ab. Das «Undercover» ist eine Decke, die mithilfe einer speziellen Faltung Geräusche und Klangstücke aufnehmen und abspielen kann. Die «Wavecap» ist eine Mischung aus Mütze und Tasche, die als Radioempfänger funktioniert. Der «Shuffle Sleeve» ist ein geschlossener Schlauch mit Münzen im Inneren, mit denen sich eine Musikanwendung auf einem Mobiltelefon steuern lässt. Die vierte Kategorie ist in einem konzeptionellen Stadium geblieben. Abbildung 4.7 zeigt die

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Abbildung 4.8: Bedienelemente der Wavecap: Die Schalenden dienen als Ein- und Aus-Schalter, die Glocke zum Einstellen des Senders.

Zuordnung der Prototypen nach den jeweiligen Variablen und ein Beispielkonzept für die vierte Kategorie. Dabei handelt es sich um ein Tischtuch, das aufgrund seiner Falten die Form des Tisches erkennt6 . 4.2.1 Wavecap Die Wavecap ist strukturorientiert und situationsunabhängig. In ihrem Interface sind die Knöpfe und Drehregler eines Radios durch textile Elemente ersetzt worden, mit einer Schnur in einem Tunnelzug, einer Glocke an einer Schnur in der Mitte der Mütze, und schalartigen Enden, die man zum Ein- und Ausschalten des Geräts verknotet (siehe Abb. 4.8).

6 | Dass gerade die vierte Kategorie nicht umgesetzt ist, liegt auch an ihrer besonderen Schwierigkeit. Eine detailliertere Darstellung zur Variable der Situationsabhängigkeit und ihrer Problematik im Entwurf ist in Abschnitt 4.2.3 zu finden.

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Abbildung 4.9: Das Zugband der Wavecap reguliert die Lautstärke des Radios.

Bei der Wavecap handelt es sich weitestgehend um eine direkte Übertragung eines bekannten elektronischen Gegenstands in textiles Material. Die Art der Bedienelemente bleibt erhalten und wird in Textil reproduziert. Ähnlich wie ein einfaches Radio verfügt die Wavecap über zwei «Drehregler» und einige Schalter und Taster. Der Bedienprozess ist reduziert auf die Freiheitsgrade, die diese einzelnen Elemente dem Benutzer lassen: Die Schnur lässt sich nur in eine Richtung im Tunnelzug ziehen, und der Knoten verändert seine Funktionalität nicht dadurch, dass er anders geknotet wird. Die materielle Struktur gibt den Bedienprozess weitgehend vor. Die elektronische Funktion des Radios ist dabei allgegenwärtig und bereits in vielen Alltagssituationen präsent, so dass seine Anwendung auch in textiler Form in diesen Situationen denkbar ist. Die Wavecap ist also situationsunabhängig insofern, dass sie als Gegenstand freistehend und beweglich ist und nicht auf bestimmte Anwendungsszenarien beschränkt. Die Wavecap ist der erste Prototyp, der aus den Experimenten mit Textil als Interfacematerial entstanden ist. Als Gegenstand erinnert sie an eine Strickmütze, ist aber nicht vollkommen auf diesen Gebrauch zugeschnitten. Sie kombiniert mehrere gestrickte Eingabeelemente, die zuvor einzeln angefertigt und getestet wurden. An diesem Modell wird sichtbar, wie die Konstruktion der Interaktionselemente mit der Beschaffenheit ihrer Produktionswerkzeuge zusammenhängt. So ist das Potentiome-

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Abbildung 4.10: Das Innenfutter der Wavecap. Auf der Kuppel der Ebenen befindet sich jeweils eine eingenähte Platine, hier unter einer isolierenden Stoffschicht verborgen.

ter, das die Lautstärke des Radios in der Wavecap regelt, einem Tunnelzug nachempfunden, weil dieser sich an der Handstrickmaschine einfach arbeiten lässt. Durch Kombination mit dem Plattieren – dem einseitigen Einstricken eines zweiten Fadens – ergibt sich so ein regelbarer Sensor, der außerdem von außen isoliert ist. Durch den hohen elektrischen Widerstand des Materials lässt sich das Garn selbst als Sensor verwenden. Das zweite Potentiometer, das zum Einstellen des Senders dient, verwendet zwei eingestrickte Reihen leitenden Garns als Oberflächenkontakt. Hier ist der leitende Faden nur auf der Außenseite plattiert und dient ebenfalls als primitiver regelbarer Widerstand. Die Schalenden der Wavecap, in denen ebenfalls leitendes Garn eingearbeitet ist, sind sogar nur offene Kontaktstellen und damit ähnlich primitive Schalter wie zwei abisolierte Drahtenden. Anders als die folgenden beiden Prototypen sind bei der Wavecap die elektronischen Ausgabekomponenten direkt in das Modell eingearbeitet. Dadurch ist es autonom, d.h. es kommt ohne das Mobiltelefon aus, auf das der Shuffle Sleeve und das Undercover angewiesen sind. Die elektronischen Komponenten des Radios wie der digitale Empfänger und Audio-Verstärker sind im Textil über drei Ebenen im Innenfutter verteilt, auch weil eine Verarbeitung in mehreren Lagen an einer einfachen Handstrickmaschine nicht praktikabel ist und sich das leitende Garn im Strickteil nicht gut isolieren lässt. Die leitenden Fäden sind auf den Futterstoff aufgesteppt und in Biesen eingeschlossen, um Kurzschlüsse beim Gebrauch zu verhindern (siehe Abb. 4.10). Die einzelnen Ebenen sind mit metallenen Druckknöpfen verbunden und mit Knöpfen am Strickteil fixiert. Nur zwei kleine Lautsprecher sind direkt in den gestrickten Teil integriert.

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Die sorgfältige Isolation im Inneren der Wavecap ist das Ergebnis leidvoller Erfahrungen in den vorhergehenden Iterationen. Dennoch verhält sich der Prototyp aufgrund seiner textilen Form einigermaßen unberechenbar, z.B. durch Spannungsabfälle oder empfindliche Kontaktstellen an den Druckknöpfen, die sich bei viel Bewegung lösen, oder den hohen Widerstand des leitenden Garns, der das Audio-Signal dämpft. Die Bedienelemente, gerade die Lautstärkeregelung, verhalten sich nicht immer gleich und leiern über längeren Gebrauch aus. Die Übersetzung eines einfachen Elektrogeräts in eine textile Version erweist sich damit als eine enorme Verkomplizierung. Die Umsetzung des elektronischen Gegenstands in Textil ist insgesamt bestimmender für die Umsetzung der Wavecap als die Optimierung für den Tragekomfort. Ein erwünschter Nebeneffekt ist, dass dadurch zugleich beim Nutzer Zweifel an der Bestimmung des Gegenstands als Mütze geschürt werden. Die zu große Passform und die langen Schalenden halten den Gegenstand potenziell für andere Gebrauchsweisen offen. 4.2.2 Undercover Das Undercover ist situationsunabhängig und prozessorientiert. Bei der integrierten elektronischen Funktionalität handelt es sich um die nicht weiter bestimmte Möglichkeit zum Aufnehmen und Abspielen unterschiedlicher Geräusche und Klänge, ähnlich wie bei einem Aufnahme- oder Diktiergerät. Der Prototyp wird auf bestimmte Weise gefaltet, um Klänge aufzunehmen und abzuspielen. Als Decke hat er sehr wenig materielle Struktur an seiner Oberfläche, sondern benötigt einen definierten Bedienprozess, um zu funktionieren. Das Patchwork-Muster auf der Vorderseite gibt Hinweise darauf, wie die Decke zu falten ist, um ihre Funktion zugänglich zu machen. Die Faltung als Interaktion mit textiler Elektronik stellt eine neue Möglichkeit dar, elektronische Geräte zu bedienen, die speziell das textile Material anbietet. Das Falten als Prozess erfordert, ähnlich wie bei Origami oder Serviettenfaltungen, die Kenntnis über den genauen Ablauf, der nicht durch die oberflächliche materielle Struktur der Decke bedingt ist. Um den Faltungsprozess dennoch für Benutzer zugänglich und für die elektronischen Komponenten lesbar zu machen, waren einige strukturelle Ergänzungen an der Decke notwendig. So sind Magnete in die Oberfläche eingelassen, die sowohl für einen elektronisch sicheren Kontakt sorgen, als auch durch ihre Polarität bestimmte Verbindungen ausschließen. Das visuelle Muster der Decke ist so angelegt, dass sich Bezüge zwischen den Magneten über Richtung und Farbigkeit herstellen lassen, die auf die Faltungsmöglichkeiten hinweisen. Diese Hinweise sind allerdings nur farblich codiert und schließen andere Faltungen nicht aus.

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Abbildung 4.11: Muster des Undercover.

Das Undercover verfügt daher natürlich auch über eine differenzierte materielle Struktur. Diese reguliert den Bedienprozess in seinem Ablauf aber sehr viel weniger als eine Bedienung, die materielle Beschränkungen setzt. Das visuelle Muster beeinflusst die Deutung des Undercover als Gegenstand; es erlaubt aber dennoch alle Faltungen, auch solche, die für die elektronische Funktionalität unwirksam sind. Die Magnete, die als Hilfsmittel für die Elektronik eingebettet sind, bieten dabei Aneignungspotenzial für andere zweckmäßige Anwendungen. Das Undercover ist der zweite Prototyp, der bereits auf den Erfahrungen und theoretischen Überlegungen aus der Konstruktion der Wavecap aufbaut. Dieses Modell stellt damit auch einen direkten Kontrast zu der Wavecap und ihren klar zugewiesenen Bedienelementen dar. Das prozessorientierte Undercover besitzt ein viel weniger strukturiertes materielles Interface als Wavecap und Shuffle Sleeve. Diese «schwache» Strukturierung gegenüber den anderen Modellen ist selbst jedoch durch die Mittel geprägt, mit denen sie praktisch umgesetzt wird. Eine im Wortsinn nahtlose Integration des Interfaces in die textile Struktur bietet hier die besten Möglichkeiten. Dort, wo leitende Garne und Gewebe lediglich verarbeitet, aber nicht selbst produziert werden können, beschränkt diese Näh- und Verarbeitungtechnik den Entwurf. Durch Weben wäre es denkbar gewesen, eine noch homogenere Oberfläche zu gestalten, die einen komplexen Bedienprozess verbirgt; die Nähtechnik stellt hier Brüche zwischen Oberflächenstücken her, die sofort als solche zu erkennen sind.

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Abbildung 4.12: Antizipierte Benutzung des Undercover in Form unterschiedlicher Faltmuster.

Die große Herausforderung beim prozessorientierten Undercover ist es, den stark strukturierten Bedienprozess elektronisch identifizierbar zu machen und dabei nur mit den einfachen Mitteln zu arbeiten, die leitenden Textilien bieten. Eine wesentliche Entwurfsleistung am Undercover ist demnach das Ausreizen der Möglichkeiten des Microcontrollers und einer einfachen Schaltung aus Dioden, die es ermöglicht, jeweils sechs Ein- und Ausgänge variabel miteinander zu kombinieren und so überhaupt unterschiedliche Faltungen – nicht nur ein und dieselbe – elektronisch erkennen zu können. Ebendiese Schaltung hat jedoch auch bedeutenden Einfluss auf die Ausgestaltung des Musters und der elektronischen Kontakte: Sie sieht vor, dass mithilfe von sechs analogen Eingängen am Microcontroller die sechs Spannungsausgänge eindeutig voneinander unterschieden werden können. Diese Spannungen liegen allerdings nah aneinander, so dass leichte Schwankungen schon zu Fehlinterpretationen des Mikrocontrollers über die Faltung der Decke führen. Nun können Faltungen und Knüllungen sehr unbestimmt ausfallen und Oberflächenkontakte zwischen leitenden Stoffstücken sehr lose bleiben. Der Programmcode erfordert dagegen präzise Angaben und strukturierte Faltungen, die sich eindeutig einer Funktionalität zuweisen lassen. Die Faltungen, über die das Undercover verfügt, sind daher stärker von den technischen Möglichkeiten – sechs Eingänge, sechs Ausgänge – abgeleitet als von etablierten Falttechniken. Sie beruhen zwar grundsätzlich auf der Faltbarkeit von Stoff, aber nicht auf einer spezifischen vertrauten Art der Faltung. Eingenähte Magnete sorgen für einen zuverlässigeren Kontakt zwischen Ein- und Ausgängen und sind als Teil einer materiellen Struktur durchaus auffällig, entgegen der Absicht, das prozessorientierte Interface möglichst stukturarm umzuset-

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Abbildung 4.13: Die elektronischen Komponenten des Undercover sind auf einer separaten Lage genäht und durch Druckknöpfe mit dem Quilt verbunden.

zen. Die Magnete dienen aber auch als Beschränkung in der Kombination der zwölf Kontaktstellen: Zusammengehörige Kontakte ziehen sich an, gleichförmige Kontakte stoßen sich ab. Diese Konstruktion erfordert allerdings auch sehr kleine, präzise Kontaktstellen anstelle von großflächigen Kontakten, die in das visuelle Muster hätten integriert werden können. Dieses Muster gibt daher lediglich subtile Hinweise auf die vorgesehene Nutzung des Undercover, aber es sagt wenig über die elektronische Konstruktion aus (siehe Abb. 4.12). Es bleibt in der Herstellung von Patchworkdecken verhaftet und bedient sich derselben Produktionsweisen. Hier zeigen sich einerseits die Möglichkeiten und Beschränkungen nicht nur der verwendeten Umsetzungstechnik, sondern auch der Fähigkeiten jener, die sie handwerklich einsetzen: Im Fall des Undercover assistierte eine Studentin, die aus ihrer eigenen Familie mit Patchworkarbeiten vertraut war und die dazugehörigen Verarbeitungstechniken und Muster gut kannte. Daher bietet das Muster letztlich außerordentlich viele Hinweise auf die Faltung und damit vielleicht weniger Spielraum, als eine prozessorientierte Gestaltung grundsätzlich erlaubt. Die acht äußeren Farbfelder sind farbig markiert. Sie stellen so einen visuellen Hinweis dar, mit welchen anderen farblich passenden Feldern sie sich kombinieren lassen. Die inneren vier Felder sind gleichfarbig gestaltet und dienen zur Auswahl von Aufnahme- oder Abspielmodus. Die Streifen am Rand der Fläche dienen als eine

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Art Richtungsanzeige für die Kombinationen, in denen die äußeren Felder sich zu unterschiedlichen Faltungen verbinden lassen. In einer Vorläuferversion des Undercover ist die funktionale Elektronik ähnlich wie bei der Wavecap direkt in den Gegenstand eingebettet. Ein Aufnahme- und Abspielmodul für Anrufbeantworter wird von dem Mikrocontroller aufgrund der Faltungen der Decke direkt gesteuert. Durch ähnliche Ursachen wie bei der Wavecap – der höhere Widerstand der textilen Leiterbahnen, praktische Probleme bei Schaltkreisen mit mehreren Ebenen, Spannungsverluste und Interferenzprobleme – ist diese integrierte Version jedoch nicht funktionstüchtig. In der finalen Version des Undercover übernimmt ein Mobiltelefon stattdessen die Funktionalitäten des Aufnehmens und Abspielens, indem es mit dem textilen Interface per Bluetooth kommuniziert (siehe auch Abb. 4.13). Dadurch wird die notwendige Schaltung wesentlich übersichtlicher und der textile Prototyp leichtgewichtiger und besser zu handhaben. Diese veränderte Kompetenzverteilung von textiler und konventioneller Elektronik ist ein Eingeständnis an die Robustheit, die elektronische Komponenten benötigen, um zu funktionieren, und die mit textilen Materialien bislang noch sehr schwer zu erreichen ist. 4.2.3 Shuffle Sleeve Der Shuffle Sleeve ist situationsabhängig, weil er Kleingeld-Münzen als Teil des elektronischen Schaltkreises benötigt, um zu funktionieren. Die Münzen sind Gegenstände aus einem bestimmten Anwendungszusammenhang, die Teil der elektronischen Anordnung werden. Gleichzeitig ist es grundsätzlich möglich, sie durch andere leitende Gegenstände zu ersetzen7 . Kurze Schnüre um den Schlauch dienen der Auswahl unterschiedlicher Kontrollmodi und um die Münzen in einzelnen Segmenten des Schlauchs einzuschließen (siehe Abb. 4.14). Durch eine Kombination von Drehen und Knoten lässt sich der Shuffle Sleeve steuern. Beim Drehen fallen die Münzen im Inneren hinab und stellen dabei Kontakt an den eingestrickten Schaltern her. Dadurch wird ein Musikprogramm auf einem Smartphone veranlasst, durch die Tracks vor- und zurückzuspringen. Die Knotenschalter sind aktiv, wenn der Sleeve an einem Segment zugeknotet wird. Dann ist es je nach Kombination der Knoten möglich, die

7 | Die Situationsabhängigkeit ist bei Münzen weniger offensichtlich als bei anderen, besser verankerten Gegenständen, wie etwa einem metallenen Treppengeländer. Es ist deswegen nicht klar, ob das Kleingeld einen typischen Fall von Situationsabhängigkeit darstellt. Ich gehe darauf in Abschnitt 5.2.3 näher ein.

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Abbildung 4.14: Der Shuffle Sleeve lässt sich an zwei Reißverschlüssen öffnen und die Münzen im Inneren herausnehmen.

Lautstärke zu verändern oder die Musik komplett anzuhalten. Die Münzen sind als leitende Elemente Teil der elektrischen Schalter im Prototyp. Die materielle Struktur des Sleeves mit den Schnüren, die einzelne Segmente unterteilen, gibt ähnlich wie bei der Wavecap die Bedienung relativ stark vor. Das Einschließen von Münzen in den Segmenten hat damit sowohl einen Effekt auf die Elektronik (die Schnüre dienen als Schalter) als auch auf die Münzen, die dadurch in ihrer Bewegung eingeschränkt werden. Das Münzgeld stellt wiederum den Bezug zu seinem eigenen konventionellen Nutzungszweck als Zahlungsmittel her. Dieser Zweck ist im Shuffle Sleeve selbst nebensächlich, weil die Münzen nur als leitende Elemente verwendet werden. Als solche könnte man sie auch durch andere leitende Gegenstände ersetzen. Diese Doppeldeutigkeit lässt die Grenzen zwischen Gegenstand und Anwendungssituation verschwimmen: Die Münzen bleiben eigenständige Gegenstände und sind zugleich Teil der Form des elektronischen Geräts. Dadurch sind mindestens zwei Form-Kontext-Unterscheidungen für Münzen zugänglich. Ähnlich wie beim Undercover ist die Struktur des Shuffle Sleeve darauf zugeschnitten, die Interaktion von Münzen im Stoffschlauch für die elektronischen Komponenten lesbar zu machen. Daraus ergibt sich die geschlossene, schlanke Gestalt, in der man die Münzen durch Rotation hin- und herbewegen kann. Die elektronische

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Abbildung 4.15: Controller und Bluetooth-Modul sind auf den Sleeve aufgesetzt. Im Inneren sind die eingestrickten Kontaktflächen zu erkennen. Der Streifen aus dunkelgrauem Jersey beinhaltet die Leitungen zu den Schaltern und die Stromversorgung.

Funktionalität der Musik-Kontrolle ist dabei für die Situationsabhängigkeit nicht das entscheidende Element. Ähnlich wie bei den anderen Prototypen sind diverse Anwendungssituationen denkbar, in denen die Interaktion mit Musik und Klang sinnvoll eingesetzt werden kann. Die hauptsächliche Entwurfsleistung beim Shuffle Sleeve ist es, die Abhängigkeit von einer Situation in die Funktion des Gegenstand mit einzubinden. Bei allen Prototypen führt das textile Material dazu, dass die elektronische Funktionalität nicht vollkommen zuverlässig ist. Der Anspruch, dass beim Shuffle Sleeve noch andere Gegenstände Teil der funktionalen Anordnung sein sollen, verschärft dieses Problem zusätzlich. Die Vorgabe, dass die Interaktion auf textilen Eigenschaften beruhen soll, und der Anspruch, dass sie andere Gegenstände mit einbeziehen soll, stehen bei diesem Modell zueinander in Konkurrenz. Damit weitere Dinge wirksamer Teil des Schaltkreises werden, müssen sie entweder isolieren oder leiten. Alternative Entwürfe in einer Frühphase des Designs sahen z.B. auch Scheckkarten als leitende oder isolierende Gegenstände vor, die einem textilen Interface zugleich Standfestigkeit verleihen können und dadurch die textilspezifischen Eigenschaften hervorheben.

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Abbildung 4.16: Antizipierte Bedienweise des Shuffle Sleeve mit Knoten-Schaltern und Bewegen der Münzen im Inneren durch Drehen des Sleeves.

Auf ähnliche Weise würde das Tischtuch-Interface in der nicht realisierten vierten Objektkategorie den Tisch als eine steife Trägerstruktur nutzen, um das es sich auf geregelte Weise in Falten legen lässt (siehe auch Abb. 4.7). Würde man dagegen ein Tischtuch lediglich als flache Unterlage benutzen, auf die ein Topf als leitendes Element abgestellt wird, dann kommen die Materialeigenschaften des Textils nicht voll zur Geltung – dieser Mechanismus würde auch mit eingelassenen leitenden Platten auf einem Holztisch noch funktionieren. Der größere Reiz einer situationsabhängigen Anordnung besteht jedoch darin, einen leitenden – keinen isolierenden – Gegenstand in die Funktionsweise des Prototypen einzubeziehen. Geeignete Gegenstände sind häufig aus Metall, doch auch Wasser als (schwach) leitendes Material würde sich eignen. Tische und Gegenstände aus dem Bereich der Tisch- und Esskultur, Fahrräder mitsamt Zubehör, Heizungen oder Wäscheständer sind einige alternative Dinge aus dem Alltag, die ebenfalls in Frage kommen. Beim Übergang zur Konstruktion kann die Entwurfsstrategie, Dinge aus bestimmten Anwendungssituationen einzubeziehen, schnell zum praktischen Problem werden, nämlich dann, wenn sich die gewählten Situationen nicht einfach im Labor bzw. in der Designwerkstatt imitieren lassen. Textile Wirkmechanismen müssen in der Regel getestet werden, weil man ihre Funktionstüchtigkeit nicht als gegeben voraussetzen und sie als Teil eines Interface einplanen kann. Anders als andere Dinge ist

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Abbildung 4.17: Der Controller des Shuffle Sleeve muss so angebracht sein, dass er die rotierende Bewegung bei der Bedienung nicht stört oder unterbricht.

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Kleingeld als Arbeitsmittel leicht und schnell verfügbar, lässt sich auch im Labor einsetzen, und wird so den Anforderungen gerecht, um als leitendes Element Eingang in einen textilen Schalter zu finden. In der Kombination von Situationsabhängigkeit und Verfremdung durch Material ist es wiederum deutlich einfacher, ein strukturorientiertes Interface zu entwerfen als ein prozessorientiertes. Prozessorientierte Entwürfe stellen eine größere Komplikation in der Gestaltung dar, womit dann drei Kriterien in einem Modell zusammentreffen müssen, die alle nicht leicht zu erfüllen sind. Dies erfordert letztlich mehr Zeit zum Experimentieren. Dennoch ist der Shuffle Sleeve in seiner endgültigen Form weniger stark strukturorientiert als die Wavecap, die für jede Funktionalität ein eigenes Bedienelement anbietet. Das Münzgeld als beweglicher Teil der Anordnung, das im geschlossenen Schlauch des Shuffle Sleeve bei dessen Drehung jeweils nach unten durchrutscht, erfordert eine prozesshafte Komponente: Die textilen Schalter schließen sich erst, wenn genug Kleingeld einen Kontakt zwischen ihnen herstellt. Die gestrickten Kontakte selbst sind allerdings auf der Innenseite des Sleeve angebracht und von außen nur schwer zu erkennen (siehe auch Abb. 4.15). Diese Prozesshaftigkeit des – strukturorientierten – Shuffle Sleeve zeigt auch sehr deutlich, wie Prozessund Strukturorientierung nur im Vergleich zwischen konkreten Interfaces zugeordnet werden können. 4.2.4 Prototypen, keine Produkte Die drei Prototypen muten an wie Vorstufen zu Produkten, weil sie konkrete elektronische Funktionalitäten anbieten. Das Funktionieren der Prototypen ist allerdings nur die Voraussetzung dafür, dass Gebrauch, auch abweichender Gebrauch aufgrund kontingenter Eigenschaften, tatsächlich stattfinden kann. Dies ist mit bloßen Mock-Ups, Skizzen oder Konzeptstudien nicht im gleichen Maße möglich. Die Prototypen stellen aber auch die Übersetzung der theoretischen Konzepte in materielle Objekte dar. Deswegen handelt es sich nicht nur um Produkt-Prototypen mit mehr oder weniger zuverlässiger Funktionalität, sondern um Forschungsgegenstände für die Deutung im Gebrauch. Der intendierte Gebrauch ist dabei nicht vordergründig und zentral, sondern die Abweichungen, die die jeweilige Konstruktion des Prototyps erlaubt. Die materielle Konstruktion des Gegenstands soll in erster Linie als Auslöser für die Bedeutungskonstruktion im Gebrauch betrachtet werden.

Bedeutung konstruieren | 121

4.3 D IE « OBJEKTIVE » B EDEUTUNG Das, was ein Gegenstand bedeuten kann, ist mehr als das, was er laut der Intention der Designerin bedeuten soll. Das Bedeutungspotenzial ist vielmehr von der Interpretation durch die Betrachterin abhängig. Es ist aber auch nicht vollkommen willkürlich. Die möglichen Bedeutungen eines Gegenstands lassen sich durch eine Analyse rekonstruieren, ohne dass man davon ausgehen muss, dass sie durch den Gegenstand allein determiniert sind. Den Bedeutungsspielraum, der Benutzern und Designern bewusst zugänglich ist, nenne ich in Anlehnung an die Methodologie der «objektiven Hermeneutik» ihre objektive Bedeutung8 . Die Gegenüberstellung von möglichen Deutungen des Gegenstands, und den tatsächlichen Interpretationen – zum Beispiel durch eine bestimmte Gebrauchsweise – sollen hier dazu dienen, nachzuvollziehen, wie sich diese bestimmten Interpretationen durchsetzen und warum gerade sie von den Interpreten gewählt werden. Der methodische, rekonstruktive Ansatz der objektiven Hermeneutik liefert gewissermaßen die Vorlage zu der Vorgehensweise, die ich für die Untersuchung von Aneignung entwickelt habe. Ich gebe zunächst einen Überblick über die theoretischen Annahmen der Methodologie und fasse zusammen, wie ich sie im Kontext der Untersuchung adaptiere. 4.3.1 Objektive Hermeneutik Die objektive Hermeneutik ist eine Methodologie, die stark von einer rekonstruktionslogischen Forschungshaltung geprägt ist. Ihr Sinn und Zweck ist, unvoreingenommen sowohl die möglichen Bedeutungen einer Ausdrucksgestalt als auch die tatsächlich aktualisierten Bedeutungen von Äußerungen und sozialen Handlungen zu rekonstruieren. Indem bestimmte Lesarten rekonstruiert werden, lässt sich sukzessive eine Fallstruktur9 sozialen Verhaltens identifizieren, die sich in der Aktualisierung bestimmter Bedeutungen reproduziert. Wieso eine Person in einer bestimmten Lage genau so handelt und sich äußert, wie sie es tut, gibt damit Aufschluss über ihre Lebenspraxis, die sich in den individuellen Entscheidungen spiegelt.

8 | Das Wort «objektiv» hat einen Beiklang, der es mit naturwissenschaftlicher Neutralität in Verbindung bringt. Im Rahmen dieser Untersuchung ist mit objektiv die objektbezogene, rekonstruierbare Bedeutung gemeint, und nicht etwa eine betrachterunabhängige Tatsache. 9 | Der Begriff der «Struktur» ist in der objektiven Hermeneutik als soziologischer Methode anders besetzt, als ich ihn gebrauche. Die unterschiedliche Strukturauffassung, die bei Luhmann und Oevermann zugrunde liegt, werde ich an dieser Stelle allerdings nicht weiter diskutieren.

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Das Vorwissen darüber, wie eine Äußerung gemeint sein könnte oder üblicherweise gedeutet wird, wird bei der Fallrekonstruktion zugunsten einer gedankenexperimentellen Konstruktion möglichst vieler plausibler Anschlussmöglichkeiten und Lesarten zunächst zurückgestellt. Die Methode wurde im Umfeld der Familiensoziologie entwickelt, fand aber auch schon Anwendung in der Archäologie10 und in unterschiedlicher Form auch im Design und in der MMI11 . Der Vorteil für das Design gegenüber anderen Verfahren liegt in der Informationsdichte, die aus einzelnen Situationen abgeleitet werden kann, der Nachvollziehbarkeit der Deutung anhand der Sequenzanalyse eines Protokolls12 , und dem spekulativen Element des «Gedankenexperiments», durch das Lesarten entwickelt werden. Das Ergebnis einer objektiv-hermeneutischen Sequenzanalyse ist eine Erschließung des Sinnzusammenhangs, also der Fallstruktur einer Lebenspraxis, die individuelle Handlungen schlüssig erklären kann. Die Gedankenexperimente zu möglichen Lesarten helfen dabei, die Sichtweise und Lebenswelt der handelnden Person zu erschließen. Die objektiv-hermeneutische Vorgehensweise erlaubt einen Überblick darüber, wie konform oder divers einzelne Bedeutungszuschreibungen und Handlungsbegründungen jeweils sind, und ermöglicht eine materialgesättigte Einschätzung der Eigenlogik, anhand derer die fallspezifische Auswahl aus einem breiten Spektrum an Handlungsoptionen erfolgt.

10 | Matthias Jung. «Bemerkungen zur Interpretation materieller Kultur aus der Perspektive der objektiven Hermeneutik». In: Spuren und Botschaften: Interpretationen materieller Kultur. Hrsg. von Ulrich Veit u. a. Münster: Waxmann, 2003, S. 89–106. 11 | z.B. legt Schlüter detaillierte Produktanalysen vor, die objektiv-hermeneutischen Sequenzanalysen ähneln, bezieht sich dabei aber vor allem auch auf Produktsprache und Semiotik sowie symbolische Aspekte der Gegenstände (Wolfgang Schlüter. «Gestalt und Funktion von AnimalDesign: Versuch einer semiotischen Analyse». Diss. Universität Bielefeld, 2009). Stevens verwendet Sequenzanalysen im Kontext von Softwareaneignung, betrachtet hier allerdings die Aneignungssituation und nicht nur den Aneignungsgegenstand (Gunnar Stevens. «Understanding and designing appropriation infrastructures: Artifacts as boundary objects in the continuous software development». Dr. rer. pol. Siegen, 2009). 12 | «Protokoll» bezieht sich nicht nur auf Ausdrucksformen, die von vornherein sprachlich sind. Das Verfahren eignet sich laut Oevermann generell für alle Arten von Ausdrucksgestalten, die sich sequenziell protokollieren lassen, also z.B. auch Gegenstände und Bilder. In der Regel ist allerdings eine sprachliche Beschreibung auch dann Grundlage für das Protokoll. Die sprachliche Form kann nicht alle Aspekte abbilden, die im Design eine Rolle spielen, bietet aber ausreichend Ansatzpunkte für den Vergleich von Bedeutungen.

Bedeutung konstruieren | 123

Diese beiden Aspekte sind für die Untersuchung von emergenter Bedeutung hilfreich. Der erste Punkt, die Rekonstruktion der lebensweltlichen Einbettung einzelner Handlungen, ermöglicht es, die Annahme zu prüfen, inwiefern individuelle Wissensunterschiede prägend für das Aneignungsverhalten von neuen Dingen sind. Wenn sich hier zeigt, dass die Interpretationen der Prototypen in relativ ähnlichen Bahnen verlaufen und nur in Ausnahmen abweichen, lenkt diese Konformität das Interesse auf die Ausnahmen. Dort, wo es von vornherein nicht zu konformen Deutungen kommt, sind die auffälligsten Abweichungen in der Deutung ein Ausgangspunkt für den Vergleich. Die Sequenzialität des Gebrauchs wird durch die Struktur der Interviews in den Interpretationssitzungen hergestellt. Die Reihenfolge der Eigenschaften und Assoziationen, wie sie in den Interviews auftreten, erlaubt Rückschlüsse darüber, wie unmittelbar diese dem Interpreten zugänglich sind, d.h. welche Assoziationen früher auftreten und welche später in der Assoziationskette oder erst auf Nachfrage auftauchen. Im Unterschied zur objektiv-hermeneutischen Sequenzanalyse ist das Ziel meiner Studie nicht die Rekonstruktion einer sozialen Fallstruktur, sondern des Bedeutungsund Behandlungspotenzials von materiellen Dingen. Was sie jedoch mit der objektiven Hermeneutik teilt, ist das Interesse an der Zuordnung von Prädikaten bei der Wahrnehmung von Dingen, und die sinnvolle «Passung» in bestimmte Anwendungsund Verständniszusammenhänge, die daraus abgeleitet wird. Insofern überführe ich die Vorgehensweise der objektiven Hermeneutik in ein Verfahren, um kontingente Entscheidungsfindung im Designprozess und mögliche Bedeutungen von Gegenständen zu dokumentieren und zu vergleichen. Ähnlich wie bei einer Sequenzanalyse sollen dabei jeweils alle denkbaren und möglichen Deutungen explizit genannt und soll erst später darüber geurteilt werden, welche davon im Gebrauch praktikabel und wahrscheinlich sind. 4.3.2 Rekonstruktion aus Designsicht Die Rekonstruktion der Bedeutung aus Designsicht stützt sich zum einen auf die Inspirationsquellen und Arbeitsmaterialien, die im Entwurfsprozess selbst verwendet und angefertigt werden. Zum anderen werden die fertiggestellten Prototypen unabhängig von den tatsächlichen Einflüssen auf die Bedeutungen hin analysiert, die sie potenziell hervorrufen können. Hierzu werden alle Prototypen unabhängig von ihrer Gestaltungsintention formal beschrieben und alle möglichen Anwendungssituationen

124 | Gebrauch als Design

und Gebrauchsweisen sprachlich und durch Bodystorming13 dokumentiert. Die Summe der so beschriebenen Bedeutungen und gedankenexperimentellen Anwendungssituationen dient als Grundlage für den Vergleich mit der Bedeutungsrekonstruktion durch andere Interpreten. 4.3.3 Rekonstruktion aus Benutzersicht Die Rekonstruktion der objektiven Bedeutung aus Benutzersicht orientiert sich ebenfalls am sequenziellen Verfahren, das zur Beschreibung der Bedeutung aus Designsicht verwendet wird. Die Prototypen werden dabei jeweils einzelnen Interpreten vorgelegt, die aufgefordert werden, den Gegenstand zu beschreiben und alle möglichen Anwendungsarten zu nennen, die sie mit dem Gegenstand in Verbindung bringen können. Diese Interviews haben den Charakter von partizipativen Design-Sitzungen, weil es nicht um eine Evaluation der intendierten Gebrauchsweise geht, sondern die Prototypen den Anlass zu Spekulationen über ihren Gebrauch geben sollen. Die Deutungen, die in den Interviews genannt werden, können dann mit denen aus dem Designprozess verglichen werden, um emergente Bedeutungen zu identifizieren. Anhand bestehender Untersuchungen von Design-im-Gebrauch ließ sich vor der Studie eine Abstufung der Abweichungen aufstellen, die in den Interviews zu erwarten waren (siehe Abb. 4.18.). Aneignungen können demnach in Bezug auf die Anwendungssituation abweichen, dabei aber den gleichen Anwendungszweck behalten; oder sie können für einen anderen Anwendungszweck in der gleichen Situation verwendet werden. Das größte Ausmaß der Abweichung wird durch die Kombination von abweichendem Anwendungszweck und abweichender Anwendungssituation erreicht. In diesem Fall kommt es am deutlichsten zu einer Neudefinition des Verhältnisses von Form und Gegenstand. Die Hierarchie der Bewertungen von Punkt zwei und drei ergibt sich aus der Überlegung, dass die Umnutzung eines Gegenstands aufgrund anderer Eigenschaften einen größeren Assoziationsschritt und damit mehr Originalität erfordert als ein regelkonformes Verhalten in einer abweichenden Anwendungssituation. Abbildung 4.18 zeigt in Feld eins den erwartungsgemäßen Gebrauch in einer erwartungsgemäßen Anwendungssituation, d.h. ein Wasserglas wird benutzt, um Was13 | Damit meine ich in diesem Zusammenhang das Nachspielen oder Ausagieren möglicher Benutzungsformen im Designstudio als eine Variante zum Brainstorming (siehe Gerber, a. a. O.), und weniger das situative Prototyping, das ebenfalls so bezeichnet wird (siehe Dennis Schleicher, Peter Jones und Oksana Kachur. «Bodystorming as embodied designing». In: Interactions 17.6 [2010], S. 47–51).

Bedeutung konstruieren | 125

Anwendungszweck erwartungsgemäß

abweichend

erwartungsgemäß

Anwendungssituation

abweichend

Abbildung 4.18: Mögliche Arten der Abweichung in Anwendungssituation und -zweck, und ihre Intensitäten.

ser daraus zu trinken. Feld zwei zeigt eine Abweichung in der Gebrauchssituation bei erwartungsgemäßem Anwendungszweck, in diesem Fall wird das Glas als Dessertgefäß verwendet. Feld drei zeigt die Anwendung zu einem anderen Zweck in der einer erwartungsgemäßen Situation, indem eine Spinne in dem Glas gefangen wird. Feld vier stellt eine Abweichung in beiden Aspekten dar, bei der das Glas zum Ausstechen von Keksen verwendet wird.

4.4 KONSTRUKTION

IM

G EBRAUCH

Aneignung findet zwar im Gebrauch statt, aber nicht jeder Gebrauch ist deswegen auch eine Aneignungsleistung. Aus Designsicht ist der routinierte Alltagsgebrauch weniger interessant – weil weniger konstruktiv – als der explorative und spekulative Umgang mit neuen Dingen. Experimentelle Interpretation kann dann aus einem be-

126 | Gebrauch als Design

stimmten Verständnis heraus als Designmethode behandelt werden, bei der er darum geht, die Möglichkeiten dessen zu erkunden, was ein Gegenstand bedeuten kann. Das Entstehen abweichender Deutungen lässt sich im Rahmen gezielter Interpretationssitzungen sehr viel besser beobachten als bei seinem zufälligen Vorkommen im Alltag. Der Ursprung bestimmter Deutungsmuster kann dann anhand der Beziehung von Gegenstand, interpretierender Person und Deutungszusammenhang besser rekonstruiert werden. Am Ende einer solchen Rekonstruktion stehen keine Kausalzusammenhänge von materieller Form und Deutung, sondern eine Abschätzung darüber, welche gestalterischen Mittel zu unerwarteten Bedeutungen führen können. Die Bedeutungszuschreibung anhand neu gestalteter Gegenstände erstreckt sich normalerweise über lange Zeiträume, und diese Gegenstände finden häufig als Waren Eingang in den Alltag der Benutzenden. Durch gezielte Interpretation lässt sich nur ein kleiner Zeitraum in einer stark eingeschränkten Umgebung abbilden, die nicht dem gesamten Aneignungsprozess entspricht. Das Ziel einer solchen kontrollierten Untersuchung ist es, zunächst Muster auszumachen, nach denen die Prototypen von bestimmten Personen originell gedeutet werden können. Diese Muster können in zwei Richtungen weisen: Zum einen auf die Gestaltungsaspekte der Prototypen, von denen sich bestimmte Modelle besser zur Interpretation eignen als andere; und zum anderen auf die Deutungsstrategien der Probanden und ihr Hintergrundwissen. Beide Erkenntnisse helfen bei der Einschätzung, welche Kombination von Person und Gegenstand zu originellen Deutungen führen kann. 4.4.1 Die Interpreten In der Studie wurden die Prototypen in einer gleichbleibenden Umgebung präsentiert und für die Interpreten eine breite Auswahl an Teilnehmern mit unterschiedlichen Erfahrungshintergründen rekrutiert. Folgende Kriterien waren bei der Rekrutierung maßgeblich: Vertrautheit mit den verwendeten Materialien: Es wurden Personen gewählt, die entweder mit Elektronik oder Textil eingehendere Erfahrung haben und diese zur Deutung heranziehen können. Fähigkeit zu Variation: Bei den Versuchsteilnehmern handelte es sich um Personen, die nach eigener Einschätzung kreativ und interessiert an Innovationen sind; neben Personen in Gestaltungsberufen wurde auch von Personen mit Berufen, die abduktives Schlussfolgern erfordern (z.B. Ärzte, Polizisten, Archäologen, Chemiker) angenommen, dass sie trainiert im Spekulieren sind.

Bedeutung konstruieren | 127

Alter und Geschlecht: Aus jeder Berufsgruppe waren Angehörige jeder Altersgruppe und Vertreter beider dominanter biologischer Geschlechter gleichmäßig verteilt. Die Rekrutierung stützte sich zum Großteil auf eine Datenbank mit Personen, die Interesse an der Teilnahme an Kreativ-Workshops und Produktevaluationen bekundet hatten14 , sowie auf die Reaktionen auf eine öffentliche Bekanntmachung der Studie. Die Interpretationssitzungen fanden als Einzelinterviews statt, und die Teilnehmer erhielten eine Aufwandsentschädigung für die Teilnahme. Insgesamt wurden 27 Interpretationssitzungen von jeweils eineinhalb bis zwei Stunden Länge durchgeführt, in denen alle drei Prototypen in variierender Reihenfolge präsentiert wurden. 4.4.2 Die Interviewsituation Die Interpretationssitzungen wurden in einer wohnzimmerartigen Umgebung mit Sofa und Tisch durchgeführt, um ein vertrautes und informelles Setting zu schaffen. Die privat wirkende Atmosphäre sollte auch die Hemmschwelle der Interpreten in der Handhabung der Prototypen senken, die Teil der Interpretation war. In den Interviews wurde zunächst jeweils ein Prototyp der Teilnehmerin auf dem Tisch liegend präsentiert, verbunden mit der Bitte, ihn zu beschreiben und Mutmaßungen über mögliche Anwendungen zu äußern. In einem zweiten Schritt waren die Interpreten dazu aufgefordert, den Gegenstand aus der Nähe in Augenschein zu nehmen, ihn anzufassen und dabei laut denkend ihre Eindrücke mitzuteilen. In einem dritten Schritt wurde die implementierte Funktion und intendierte Gebrauchsweise den Probanden vorgeführt mit der Bitte, sich mögliche sinnvolle Anwendungssituationen für diese Funktionalität auszudenken15 . Das «laute Denken» wurde per Videokamera und Recorder für eine spätere Transkription mitgeschnitten16 .

4.5 AUSWERTUNGSKATEGORIEN Bei der Auswertung der Interpretationssitzungen war ausschlaggebend, die Formverschiebungen zu identifizieren und einzuordnen, die durch die Deutung unbekannter Gegenstände entstehen. Als Formverschiebung habe ich charakterisiert, wenn ein Ge-

14 | Zu den Fragen, die für die Auswahl der Probanden maßgeblich waren, siehe S. 213. 15 | Der halbstrukturierte Fragebogen zu den Interviews findet sich auf S.216. 16 | Der Videomitschnitt ist hier notwendig für die Fälle, in denen Probanden direkt auf Attribute und Details der Prototypen verweisen, ohne diese sprachlich zu benennen.

128 | Gebrauch als Design

genstand für einen Zweck genutzt wird, der auf Eigenschaften beruht, die für den erwartungsgemäßen Gebrauch nicht notwendig sind. Diese Einschätzung dessen, was als «abweichend» gilt und was als «erwartungsgemäßer» Zweck, ist interpretationsabhängig und kann letztlich nur normativ anhand bestimmter Kriterien gesetzt werden. Ein Anhaltspunkt für die normativen Erwartungen, die im Gegenstand materialisiert sind, ist die Gebrauchsintention der Gestalterin. Die Unterscheidung der Interpretationen der Probanden in erwartungsgemäß und abweichend auf der Grundlage von kontingenten und notwendigen Eigenschaften muss um eine dritte Kategorie ergänzt werden, nämlich die der leichten Abweichung. Das liegt daran, dass die gezeigten Prototypen bereits als Abweichungen von bekannten Gegenständen konzipiert sind, die auch einen abweichenden Anwendungsprozess erfordern. Die Prototypen weisen zwei unterschiedliche Bezugkontexte auf, nämlich die von Textil und Elektronik. Abweichender Gebrauch aufgrund des einen Bezugskontexts kann dann aber dem erwartungsgemäßen Gebrauch im anderen Kontext entsprechen, und umgekehrt: Das Münzgeld ist im «Shuffle Sleeve» als leitendes Material eingebaut, wird aber erwartungsgemäß als Zahlungsmittel gedeutet und nicht als Bestandteil eines elektrischen Schalters. Andersherum ist der erwartungsgemäße Gebrauch des «Undercover» als textile Decke in Bezug auf seine elektronische Funktion eine Abweichung. Für eine sinnvolle Auswertung benötige ich daher eine Dreiteilung, um die Intensität der Abweichung in den Interpretationen einzuordnen. Diese Unterteilung wird dem Umstand gerecht, dass bei neuen und ungewohnten Gegenständen noch kein erwartbarer Gebrauch existiert, wie er sich bei bekannten Gegenständen bereits etabliert hat. Zugleich geschieht die Einordnung entlang zweier Deutungskontexte, von denen der eine – der textile – leichter sinnlich zugänglich ist als der andere. Hier unterscheide ich zwischen Abweichungen aufgrund von unmittelbaren Eigenschaften und solchen aufgrund mittelbarer Eigenschaften, wobei die mittelbaren Eigenschaften stärker mit dem elektronischen Deutungskontext zusammenhängen, die unmittelbaren stärker mit dem textilen (zur Beziehung der Theoriebegriffe und Auswertungskategorien zueinander siehe Abb. 4.19.). 4.5.1 Ähnlich, leicht abweichend, stark abweichend Um abweichende Bedeutungen im Gebrauch kenntlich machen zu können, muss zunächst klar sein, was mit Abweichung gemeint ist. Hier gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, um die antizipierte Bedeutung mit der Bedeutung im Gebrauch zu vergleichen. Die einfache – und weniger ergiebige – Variante ist, nur diejenigen Deutungen

Bedeutung konstruieren | 129

werden nach höherem “Vermittlungsgrad” der Wahrnehmung differenziert

unmittelbare

und

mittelbare Eigenschaften lassen sich differenzieren in

notwendige und

kontingente Eigenschaften

Gebrauch

Gegenstand

und

Auswahl führt zu ähnlichen, abweichenden und stark abweichenden Bestimmungen von

verfügt über

ergeben

Form

verweist auf

umfasst weitere Gegenstände?

Situationsabhängigkeit

Zweck

erlaubt die Unterscheidung in

bietet stark differenziertes materielles Interface/ bietet differenzierten Bedienprozess?

Struktur-ProzessOrientierung

Abbildung 4.19: Verhältnis der Auswertungsaspekte (in kursiv und hell) und Gestaltungskriterien (in halbfett und dunkelgrau) mit den Begrifflichkeiten aus Abschnitt 3.2.3. der Interpreten als Abweichungen zu zählen, die in meiner Deutung17 ausdrücklich nicht genannt werden. Die Form der Interpretation als Interview führt allerdings dazu, dass die Interfaces in sprachlich-begriffliche Kategorien eingeordnet werden. Diese Einordnung eines Gegenstands nach einem Begriff impliziert eine bestimmte Art des Gebrauchs. Der tatsächliche Gebrauch eines so bezeichneten Dings muss sich mit seiner sprachlichen Kategorisierung allerdings nicht decken. Das heißt, zwei Gegenstände, die gleich oder ähnlich benannt werden, können je nach Detaillierungsgrad sehr unterschiedliche Gebrauchsweisen erfordern. Die Assoziation «Krabbeldecke» anstelle einer ein17 | Diese umfasst, wie zuvor beschrieben, das Inspirationsmaterial aus dem Entwurfsprozess und die nachträgliche Analyse der fertiggestellten Interfaces.

130 | Gebrauch als Design

fachen Decke stellt eine Abweichung dar, weil sie den Gebrauch als Unterlage auf dem Boden impliziert. Dies ist nicht für alle sprachlichen Unterkategorien der Fall. Die sprachliche Deutung der Interfaces erfordert es, aus der sprachlichen Zuordnung auf den Gebrauch zu schließen. Sinnvoller ist es daher, die Assoziationen sowohl im Design als auch im Gebrauch danach abzustufen, wie typisch sie für den Umgang mit einem bekannten Gegenstand wären. Für die Prototypen, die ja neu entworfene Gegenstände sind, ist diese Einordnung erst auf Grundlage der Interviews möglich. Die statistisch häufig genannten und in der Sequenz der Gespräche früh auftretenden Deutungen können als die typischeren oder konventionelleren bewertet werden, während seltene und später genannte mutmaßlich eher untypisch sind. Die Nähe oder Entfernung zur Konvention lässt sich dann durch eine Dreiteilung differenzieren in ein vorherrschendes Verständnis, das die meisten Interpreten mit den Gegenständen in Verbindung bringen; ein leicht abweichendes Verständnis, wie es in den Prototypen als Form bereits angelegt ist; und ein stark abweichendes Verständnis, das über diese vorgeschlagene Form wiederum hinausgeht. Welcher Prototyp mit welcher Nutzungsweise typischerweise in Zusammenhang gebracht wird, ist zunächst offen. Die Interpretationssitzungen liefern sowohl Hinweise dafür, wie die Prototypen am häufigsten kategorisiert werden, als auch, aufgrund welcher Eigenschaften die Probanden abweichende Formen darin erkennen können. Die Ergebnisse lassen darauf schließen, dass die Entfernung von den am häufigsten genannten Kategorien und ihren Idealtypen mit der zunehmenden Beschränkung auf einzelne Eigenschaften des Gegenstands steigt. Wenn für eine konventionelle Deutung des Prototyps «Wavecap» die Eigenschaften «wärmt, passt auf den Kopf, ist aus Wolle» ausschlaggebend sind, ist für eine leicht abweichende Deutung als Fußwärmer die Passform für den Kopf nicht mehr entscheidend. Dadurch ändert sich der Gebrauch; die Form ähnelt der einer Mütze allerdings noch, denn beide sollen ja wärmen. Um die Wavecap als Steinschleuder zu benutzen, ist auch das Wärmen nicht mehr wichtig, deswegen handelt es sich dabei um eine stark abweichende Umdeutung und eine neue Form des Gebrauchs. Dadurch ergibt sich die folgende Zuordnung: Interpretationen, die als «ähnlich» einzuordnen sind, passen ohne Formverschiebung in den Rahmen der interpretativen Flexibilität eines Gegenstands. Die Deutung der Prototypen als elektronische Gegenstände oder die Nutzung als textile Gegenstände auf nicht-typische Weise bedeutet eine Abweichung, die zum Teil durch das Design bereits angelegt oder als Gebrauchspraxis etabliert ist. Diese werden als «leichte Abweichung» eingestuft. Nur die «starken Abweichungen» stellen Assoziationen dar, die emergent sind.

Bedeutung konstruieren | 131

4.5.2 Mittelbare und unmittelbare Eigenschaften Die Charakterisierung von mittelbaren und unmittelbaren Eigenschaften an Gegenständen müsste eigentlich auf einem Kontinuum dargestellt werden. Im Kontext meiner Untersuchung treffe ich dennoch eine analytische Zuordnung zu einem der beiden Pole. Der Hauptgrund, Objekteigenschaften überhaupt nach dieser Unterscheidung zuzuordnen, ist das deutliche Auseinanderfallen von der Erscheinung digitaler Interfaces sowie den Möglichkeiten zur Interaktion mit ihnen auf der einen, und die Effekte dieser Interfaces auf der anderen Seite. Noch deutlicher als in mechanischen Maschinen ist bei digitalen Geräten die Abhängigkeit von Erscheinung, Interaktionsmöglichkeiten und Effekt hinter dem Interface verborgen, und ist für den menschlichen Betrachter nur durch weitere Hilfsmittel zugänglich, wie Monitore, Tastaturen und Multimeter. Menschliche Handlungen werden in elektrische Ströme und zurück in wahrnehmbare Phänomene übersetzt, aber diese Übersetzungen sind durch Digitaltechnik und Programmcode sehr einfach austauschbar und dadurch immer etwas willkürlich. Je nach Design kann ein Sensor Einfluss auf die Lautstärke von Musik haben oder die Position eines Zeigers auf einem Bildschirm steuern. Diese Idee von mittelbaren und unmittelbaren Eigenschaften orientiert sich an dem von Bruno Latour geprägten Begriff der Vermittlung. Um eine zusammenhängende Betrachtung von Diskurs und dem Umgang mit Dingen zu ermöglichen, beschreibt Latour die Übergänge von sprachlichen Handlungen zur Handhabung von Maschinen als «Vermittlung» oder auch «Übersetzung». Dadurch kann er soziale Einwirkungen und Auswirkungen als eine Verkettung von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren - z.B. Gegenständen - beschreiben, ohne einen Kausalzusammenhang voraussetzen zu müssen18 . Ein Programmiercode hat demnach bei Latour den Status einer zugleich sprachlichen Äußerung und Einflussnahme auf materielle Akteure. Sein Konzept von Vermittlung lässt sich sinnvoll einsetzen, um die unterschiedliche Menge an Vermittlern zu betrachten, die für eine Eigenschaft an einem

18 | Latour deutet damit die materiellen Gegenstände als Teil sozialer Settings und als Ausdruck sozialer und politischer Interessen, bei denen sich menschliche Akteure und nichtmenschliche Aktanten nicht trennen lassen (Akrich und Latour, a. a. O., S. 263; Latour, a. a. O., S. 231-234). «Vermittlung» in diesem Sinne ist im Kontrast zu einer bloßen Übertragung durch Zwischenglieder sozial wirksam; «Übersetzung» bezeichnet bei ihm die Delegation von Handlungssprogrammen an materielle Aktanten. Aber auch ohne die starke sozialpolitische Konnotation lässt sich die Veränderung, die zwischen Elektronik und menschlichen Handeln vor sich geht, als Vermittlung und Übersetzung betrachten.

132 | Gebrauch als Design

Gegenstand notwendig sind: Je mehr Übersetzung etwas erfordert, um wahrgenommen zu werden, als desto mittelbarer lässt es sich einstufen19 . Die Funktionalitäten und Effekte eines digitalen Geräts scheinen deswegen weniger mit dem Gegenstand verbunden als beispielsweise die Beschaffenheit seines Oberflächenmaterials, denn man kann sie ja ohne Schaden an der Materie wieder verändern. Diese Eigenschaften habe ich als «mittelbar» bezeichnet, weil sie die vielen Übersetzungen, die digitale Geräte in ihrem Inneren vornehmen, durchlaufen, und ohne die Rückübersetzung in eine wahrnehmbare Form für den menschlichen Betrachter keine Bedeutung haben können. Die Unterscheidung von «mittelbar» und «unmittelbar» bezieht sich aber nicht nur auf digitale Technik. Es gibt in allen Gegenständen Eigenschaften, die mehr Vermittlung als andere brauchen, um wahrgenommen zu werden: Ob eine Oberfläche oder ein Material wasserfest oder schwer entflammbar, magnetisch oder aus Kunststoff, antistatisch oder antibakteriell ist, lässt sich mit weiteren vermittelnden Instanzen besser feststellen als ohne20 . Auch die elektrische Leitfähigkeit und der Widerstand versilberten Nylongarns benötigen andere Vermittler als das bloße menschliche Auge. Wie unmittelbar eine Eigenschaft ist, hängt vom betrachteten Gegenstand ab. In meinem Fall ist es sinnvoll, zwischen Eigenschaften zu unterscheiden, die an dem materiellen Gegenstand direkt zu finden und ohne seine elektronische Funktionalität genau so wahrnehmbar sind, und den elektronischen Effekten selbst. Die Unterteilung in mittelbar und unmittelbar soll dabei helfen, die Eigenschaften, die zu abweichenden Deutungen führen, zu lokalisieren. Beide beziehen sich auf die materielle Struktur des Gegenstands im Gebrauch. Allerdings beschreiben sie diese Struktur an unterschiedlichen Stellen des Interface, und mit unterschiedlicher Entfernung zur menschlichen Wahrnehmung. Die mittelbaren Eigenschaften sind deswegen nicht gleichzusetzen mit der Prozesskomponente eines Interface, obwohl sie über die Struktur indirekt damit in Verbindung stehen. Prozessorientierte Interfaces beziehen sich auf die Wahlmöglichkeiten im Umgang, die mit jedem Gebrauch verändert werden können. Sie müssen dafür ebenfalls materielle Strukturen bereitstellen, allerdings in einer anderen Ausprägung und in anderen Bereichen des Gegenstands. Strukturorientierte Interfaces verlagern

19 | Diese nicht-sichtbare Übersetzung macht es so riskant, gebrauchte Elektrogeräte auf dem Flohmarkt zu kaufen. 20 | Dabei ignoriere ich andere vermittelnde Instanzen wie die menschliche Wahrnehmung und Kognition erst einmal, d.h. ich setze sie bei allen menschlichen Betrachtern als ähnlich voraus, weil diese Unterschiede nicht Gegenstand meiner Untersuchung sind. Was nicht heißen soll, dass es sie nicht gibt.

leicht abweichend ähnlich

unmittelbare Eigenschaften

stark abweichend

Bedeutung konstruieren | 133

“Umnutzung” stark abweichender Gebrauch bei gleicher Funktionalität, z.B. Eierausbrüten

gebrauchsgesteuertes Redesign gebrauchsorientiert

gebrauchsgesteuertes Redesign funktionsorientiert

“Rekontext” anderer Gebrauch bei gleicher Funktionalität, z.B. Handwärmer

“Archetyp”

ähnlich

gebrauchsgesteuertes Redesign

“Verpackung” andere Funktionalität bei gleichem Gebrauch, z.B. Einbauen von GPS-Sensor

leicht abweichend

“Mimikry” stark abweichende Funktionalität bei gleichem Gebrauch, z.B. Gedankenleser

stark abweichend

mittelbare Eigenschaften Abbildung 4.20: Matrix zur Einordnung abweichender Assoziationen zu den Interfaces am Beispiel der Wavecap.

diese stärker auf die unmittelbar wahrnehmbare Ebene, prozessorientierte eher auf die mittelbar wahrnehmbare Ebene. Beide Ausprägungen benutzen jedoch mittelbare und unmittelbare Eigenschaften gleichermaßen: Auch das prozessorientierte Interface hat ja viele unmittelbar wahrnehmbare Eigenschaften, die sich umdeuten lassen. Deswegen kann man hier das Mittelbare nicht mit dem Prozesshaften gleichsetzen, auch wenn sich beides in besonderer Weise der digitalen Komponenten bedient. Prozessorientierte Interfaces setzen einfach nur andere mittelbare und unmittelbare Strukturen voraus. Die Unterscheidung von mittelbar und unmittelbar kann allerdings dabei helfen festzustellen, ob die abweichenden Deutungen auf der einen oder anderen Ebene mit strukturorientierten oder prozessorientierten Interfaces zusammenfallen.

134 | Gebrauch als Design

Die Deutungen aufgrund mittelbarer und unmittelbarer Eigenschaften in den drei Abstufungen von ähnlich, leicht abweichend, stark abweichend lassen sich so zu einer Matrix kombinieren (siehe Abb. 4.20). Die von mir konstruierten Prototypen lassen sich darin als eine Art Mittelwert verorten, bei denen es zu leichten Abweichungen bei unmittelbaren und mittelbaren Eigenschaften kommt, wenn sie wie vorgesehen benutzt werden. Eine abweichende Deutung in Richtung des «Archetyps» ist dabei genau so möglich wie Abweichungen, die sich von dieser typischen Deutung eher entfernen. Solche Abweichungen, die über den gewohnheitsgemäßen Gebrauch und die vertraute Funktionalität hinausgehen, sind Ziel der Übung. Gleichzeitig sind mit jedem Prototypen Deutungen verbunden, die entweder keine Veränderungen der elektronischen Funktionen (bzw. gar keine elektronische Funktionalität) oder keine Veränderungen in der Handhabung der unmittelbaren Eigenschaften erfordern. Die Matrix stellt für diese Abweichung einige Bezeichnungen und Beispiele parat, um zu illustrieren, wie Abweichungen aufgrund mittelbarer und unmittelbarer Funktionen kombiniert werden können.

4.6 Z USAMMENFASSUNG Die Bedeutungskonstruktion «irritierender» Gegenstände erstreckt sich sowohl auf den Design- als auch auf den Gebrauchsprozess. In beiden Phasen stehen unterschiedliche Mittel zur Konstruktion zur Verfügung: Im Design liegt der Schwerpunkt auf der Konstruktion im Material, im Gebrauch auf der Konstruktion des Gebrauchs in einer oder mehreren Anwendungssituationen. Eine «Formverschiebung», bei der kontingente Gegenstandseigenschaften als notwendig für einen abweichenden Zweck identifiziert werden, lässt sich im Vergleich der Bedeutungen beobachten, die im Gebrauchsprozess gegenüber der Designphase neu hinzukommen. Der von mir durchgeführte Designprozess setzt die Aspekte von Struktur-ProzessOrientierung im Gegenstand, und dessen Abhängigkeit von einer bestimmten Anwendungssituation, für drei der vier möglichen Kombinationen als experimentelle Prototypen um21 . Die Referenzen und Arbeitsmaterialien, die in diesem Prozess verwendet wurden, dienen dabei als Verweise auf mögliche Bedeutungen, die im Prozess zugänglich waren. Die Bedeutungskonstruktion im Gebrauchsprozess wurde in partizipativen Design-Sitzungen beobachtet und dokumentiert. Sie besteht in einer Beschreibung der Gegenstände und einer Zuordnung zu möglichen und denkbaren

21 | Siehe auch S.107.

Bedeutung konstruieren | 135

Anwendungssituationen durch die Interpreten. Dieses Verfahren ist an die Sequenzanalyse der objektiven Hermeneutik angelehnt und dient hier spezifisch dem Zweck, die Zuordnung von Prädikaten zum Gegenstand nachvollziehbar zu dokumentieren. Die Ergebnisse und die Analyse des Vergleichs von Bedeutungen sowohl aus dem Design- als auch aus dem Gebrauchsprozess stelle ich im folgenden Kapitel dar.

5 Gespräch, Gebrauch, Bedeutung

Im vorhergehenden Kapitel habe ich die Möglichkeit skizziert, Design im Gebrauch als «Formverschiebung» aufgrund notwendiger und kontingenter Objekteigenschaften zu charakterisieren. Als mögliche Einflüsse auf die Art der Umdeutung habe ich zwei Designkritierien vorgeschlagen: Die «Situationsabhängigkeit» oder das Einbinden von bekannten Gegenständen als Teil des elektrischen Schaltkreises, um dadurch Bezüge zu einer konkreten Anwendungssituation herzustellen; und die «ProzessStruktur-Orientierung», also die Verlagerung der Komplexität des Interface entweder auf eine differenzierte äußere Erscheinung oder einen differenzierten Bedienablauf. Bei der Beurteilung der unbekannten Objekte in meiner Untersuchung liefern bekannte Gegenstände und Gebrauchsmuster oft die Grundlage für die Einschätzung, was der Sinn und Zweck der neuen Gegenstände sein könnte. Abweichungen lassen sich danach charakterisieren, wie weit sie sich mit einer typischen – das heißt, häufigen – Einordnung decken oder sich davon unterscheiden. In diesem Kapitel diskutiere ich die Art und die Menge der Abweichungen zunächst aufgrund der Person des Interpreten, aufgrund mittelbarer und unmittelbarer Eigenschaften der Prototypen sowie der Designvariablen von Situationsabhängigkeit und Struktur-Prozess-Orientierung. Anschließend gebe ich eine Einschätzung zu jedem der drei Prototypen und ihrer spezifischen Ausprägung dieser Aspekte.

5.1 A NTIZIPATION

UND

A BWEICHUNG

Für zweckorientierte Gestaltung ist es notwendig, dass die Designerin die Deutungen der späteren Benutzerin korrekt einschätzen kann. Im Kontrast dazu betrachte ich in meiner Untersuchung die Abweichung von den antizipierten Deutungen. Eine «korrekte» Deutung der Prototypen, die den Designintentionen folgt, ist zwar möglich,

138 | Gebrauch als Design

aber nicht Ziel des Gestaltungsprozesses. Warum es in den Interviews dennoch zu deutlichen Überschneidungen zwischen den Deutungen der Interpreten und meinen eigenen kommt, obwohl es explizit nicht die Absicht war, die Zweckmäßigkeit des Gegenstands durch die Gestaltung zu kommunizieren, ist daher erklärungsbedürftig. Als Designerin trifft man hier auf einen grundlegenden Widerspruch zwischen dem Ziel einer nutzungsoffenen Gestaltung und der Tatsache, dass der intendierte Zweck des Gegenstands sich auf die Gestaltung unmittelbar auswirkt. In der Arbeit an den Prototypen hat sich dieser Konflikt so geäußert, dass der intendierte Zweck der Objekte eben doch latent kommuniziert wird (siehe auch Dialog 9). So lässt sich anhand des Musters auf dem Undercover durch Mutmaßen die Bedienung beinahe vollständig ablesen. Das bloße Gegenteil, eine Nicht-Kommunizierbarkeit des Anwendungsprozesses, war hier nicht akzeptabel, weil sie wenig neue Erkenntnisse für die Designmethodik erbracht hätte. Im Rahmen dieser Arbeit war deswegen bei allen Prototypen das Ziel, mit jeder Art der intendierten Interaktion sowohl die textile als auch die elektronische Ebene zu beeinflussen, also im Fall des Undercovers die Decke zu falten und damit zugleich einen elektronischen Kontakt herzustellen. Es erscheint jedoch ganz grundsätzlich paradox, schon in der Gestaltung für Nutzungsweisen offen bleiben zu wollen, die man im Entwurf nicht konkret vorausahnt. Auch während der Arbeit an den Prototypen ist mir nicht deutlich geworden, ob diese Schwierigkeit vor allem aus der professionellen Ausbildung als Designerin erwächst oder durch Design als Tätigkeit von vornherein bedingt ist. Bei der Interpretation der Prototypen muss man also immer beachten, dass die Gegenstände in ihrer jetzigen Form einem Entwurfsprozess abgerungen sind, der gegen ihre Bestimmung als interpretationsoffene Objekte arbeitet. In meiner Analyse der Interpretationen versuche ich daher, die Aspekte der Beziehung zwischen Benutzer und Gegenstand auszumachen, die verhindern oder befördern, dass es zu abweichenden Interpretationen kommt. Dabei gehe ich vor allem auf die Einflussgrößen ein, die weitgehend unabhängig vom Dilemma der offenen Gestaltung selbst sind: Dies ist zunächst der Einfluss, den der jeweilige Interpret auf die Art der Abweichung hat. Dann diskutiere ich die unterschiedlichen Abweichungen zu mittelbaren und unmittelbaren Eigenschaften, und analysiere anschließend die Bedeutung von struktur- und prozessorientierter Gestaltung und Situationsabhängigkeit. 5.1.1 Vorwissen und Abduktion Bei der Rekrutierung der Interpreten waren die beiden ausschlaggebenden Kriterien ihr Vorwissen über Elektronik oder Textil auf der einen Seite, ihre Vorliebe für

Gespräch, Gebrauch, Bedeutung | 139

assoziatives Denken auf der anderen. Dahinter stand die Annahme, dass Vorwissen gerade auch die Deutung von neuen elektronischen Gegenständen stark beeinflusst. Die Routine der Probanden im freien Assoziieren sollte sicherstellen, dass es bei den Interviews zu möglichst vielen aussagekräftigen Abweichungen kommt. Die Assoziationsfähigkeit der Interpreten stellte sich dabei eindeutig als kritisch heraus; das Hintergrundwissen hatte dagegen einen zwiespältigen Einfluss auf die abweichenden Deutungen. Interpreten, die etwa durch einen technischen Beruf mehr Vorwissen über Elektronik hatten, konnten zwar mehr Funktionalitäten assoziieren, verknüpften diese Assoziationen aber nicht immer mit konkreten Anwendungen (wie in Dialog 5 deutlich wird). Interpreten mit Kenntnissen im Textilbereich waren teilweise sogar in der Lage, den intendierten Gebrauch der Interfaces aus ihrer Konstruktion abzuleiten – selbst wenn dies nicht Ziel der Interviews war. Die Vertrautheit mit der Materie konnte dazu führen, dass die Anwendungsgewohnheiten der Interpreten stärker festgelegt waren und Abweichungen dadurch seltener wurden. Ausschlaggebend war letztlich, ob eine Interpretin einen Prototyp als zweckorientiertes Produkt behandelte, oder ob sie den Gegenstand als Ausgangspunkt für freie Assoziationen nutzen konnte. Dieser Unterschied ist entscheidend dafür, ob die Interpretation des Gegenstands eine Variation oder Selektion darstellt: Ob die Interpretin im Gegenstand verschiedene Handlungsoptionen erkennt, oder normativ gesetzte Handlungsweisen daraus herausliest. Stützt sich die Interpretation stark auf bekannte Gebrauchsmuster und Produktkategorien, die vordergründig mit den Prototypen zusammenhängen (z.B. «Mütze» oder «Decke»), dann lassen sich die unpassenden Details an einem Prototyp möglicherweise nicht kohärent erklären. Erst wenn der durch das Interface nahe gelegte Gebrauch als Möglichkeit und nicht als Tatsache behandelt wird, scheint es den Interpreten leichter zu fallen, ihn mit bekannten, aber abweichenden Gebrauchsmustern in Einklang zu bringen. Formulierungen wie «wenn (Eigenschaft x) anders wäre, dann würde (Gebrauch y) funktionieren» weisen darauf hin, dass die Interpreten einen sinnvollen Abgleich mit bekannten Gegenständen suchen, indem sie die konkreten Gegenstandseigenschaften als variabel annehmen (z.B. in Dialog 6). Dann kommt es auch zu abweichenden Deutungen. Daraus lässt sich schließen, dass Vorwissen vor allem bei problemorientiertem Design hilfreich für die Rekonstrukion des Anwendungszwecks ist. Die Assoziationsbereitschaft ist für das Herbeiführen interessanter Abweichungen jedoch grundlegender.

140 | Gebrauch als Design

5.1.2 Mittelbare und unmittelbare Eigenschaften Die unmittelbar wahrnehmbaren Eigenschaften an der physischen Form und am Material sind ausschlaggebend für die Gebrauchsweise und die möglichen Anwendungssituationen, mit denen die Prototypen zuerst assoziiert werden. Die mittelbaren – elektronischen – Eigenschaften sind viel unverbindlicher und leichter zu variieren. Wie die Interviews gezeigt haben, gibt die unmittelbare Erscheinung jedoch zunächst deutliche Anhaltspunkte für eine oder mehrere sehr typische Kategorien, mit denen sie übereinstimmt. Diese Kategorie gibt dann Hinweise auf mögliche Anwendungssituationen. Dialog 1 – Ein Interpret beschreibt das Undercover. I K I K I K I

K I K I

Das ist eine Decke, würde ich sagen, im Moment als Tischdecke eingesetzt, aber, muss ja keine Tischdecke sein. Ähm. Was könnte es noch sein? Wenn Sie sagen, das muss keine Tischdecke sein? Dann kann man das vielleicht, äh, sonstwohin legen, auf die Couch, aufs Bett, aufn Stuhl. . . hm-hm ins Auto, ähm. . . aufn Boden. . . hm-hm Überall, wo irgendwelche Decken eingesetzt werden oder man wickelt sie sich, äh, wickelt sich selber drin ein, oder wirft sich das Ding über die Schulter, oder. . . hm-hm . . . faltet es zusammen als Schal, oder. . . man nutzt es als Kopfkissen. . . hm-hm oder. . . als normale Bettdecke.

So wird in Dialog 1 das Undercover zunächst in der Kategorie «Decke» erkannt und mit Situationen in Verbindung gebracht, in denen Decken benutzt werden können. Diese Kategorie erlaubt häufig auch die Assoziation von Anwendungen, für die gewöhnlich andere Arten von Decken, Abdeckungen oder Planen verwendet werden. Dialog 2 – Ein anderer Interpret erwähnt Anwendungen, die die Kategorie des Gegenstands ausweiten. I

Ne Tischdecke, natürlich. Vielleicht ist es auch ’ne Löschdecke, wenns brennt. Um Personen, die Feuer gefangen haben, drin einzuwickeln –

Gespräch, Gebrauch, Bedeutung | 141

K hm-hm I Kann ich auch einfach zerbrechliches Material drin verpacken. Wenn ich meinen Fernseher transportieren muss, dann kann ich den da auch mit schützen. Und wo ich vorhin gesagt hab: Sonne, und Sonnenschutz, gehts natürlich mit dem Regen genau so gut. K hm I Obwohl sie sich wahrscheinlich vollsaugt, weil sie sieht nicht wasserabweisend aus. Was kann man noch machen? Vielleicht kann ich mir auch ’nen Fallschirm draus bauen. Oder dafür ist es vielleicht zu klein. Kleinen Fallschirm für ’nen Hund. K Hundefallschirm? I Ja. Diese Abstraktion der Kategorie hat sich in den Interviews als eine Art und Weise herausgestellt, zu ungewöhnlichen Nutzungszusammenhängen zu kommen, bei der die konkrete Erscheinung (z.B. als Patchworkdecke) häufig ignoriert wird zugunsten der allgemeineren Kategoriezugehörigkeit (z.B. große Stofffläche). Die andere Art und Weise ist das Deuten von ungewöhnlichen oder unstimmigen Eigenschaften und Details, die den Interpreten ins Auge fallen. Dialog 3 – Eine Interpretin kommt durch die Beschreibung des Prototyps auf mittelbare Abweichungen. I K I

K I K I K I

Und warum es auf der einen Seite scheinbar reinweiß ist und auf der anderen so bunt, erschließt sich mir auch nicht. hm-hm Jetzt würde ich mal sagen, dass man nur eine Seite tatsächlich sehen darf und die andere nicht. Weiß ich nicht, vielleicht kann man auf die andere irgendwas rauf projizieren. Und irgendwie muss man ja, müssen diese einzelnen Farbquadrate, stell ich mir vor, erkennbar sein für das elektronische Gerät. Für welches elektronische Gerät? Für das kleine elektronische Gerät, falls das irgendwie was miteinander zu tun hat. Also, Sie sagen, die Farbquadrate könnten... ja, so so als Erkennungsmuster – – so Code oder Muster – ja, ja. Mit vielleicht diesen kleinen aufgenähten Würfelchen oder so. Vielleicht – also, wenn man die Decke faltet – naja, es ergeben sich glaube ich je nach Faltung und je nach Hinlegen neue Muster. Vielleicht

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K

I

K I

K I

K I

haben die ja irgendwie ’ne Bedeutung. Also, nicht nur die Farben, sondern die Anordnung der Striche und Dreiecke. Und überhaupt, das sind eigentlich nur Drei- also nur – also keine runden Formen. Wenn man alles sieht. hm-hm. Und wenn Sie jetzt so spekulieren: Was könnte man damit machen, also welche Nutzungen fallen Ihnen da ein, wenn Sie das jetzt so vor sich sehen? Also, in erster Linie würde ich jetzt – also, ich, es gibt doch dieses Spiel wo man diesen Teppich ausbreitet, und da sind so Punkte drauf. Ich hab das noch nie gespielt, aber vielleicht – könnte es so ’ne ausgefeiltere Variante eines Spiels sein. Oder. . . weiß ich nicht, ob man sich überhaupt draufstellt und dann irgendwie interagiert, oder ob – hm. . . weil, ’ne Decke kann man ja – muss man ja nicht nur plan auslegen, man kann sie auch um etwas herum wickeln. hm-hm Vielleicht kann das irgendwie räumlich, also, je nachdem wie man sie formt, ähm. . . vielleicht kann man diese Form dann übertragen. Sowas wie so ’n 3DSimulationsprogramm kann das dann wahrscheinlich irgendwie abfotografieren, abfilmen und dann. . . 3D-Simulation, sagen Sie? Naja, so wie in Zeichentrickfilmen, oder nicht Zeichentrickfilmen, sondern Animationsfilmen, da nimmt man ja zum Beispiel auch Personen und spickt sie mit so Markern, und dann bewegen sie sich und dann wird das irgendwie abgefilmt und übertragen. Motion Capture? Ja, genau. Okay, danach habe ich gesucht. Vielleicht – ja. Könnte ich mir vorstellen. Und dass man dann nur so bestimmte Farben anwählt und die irgendwie interagieren oder mit dem Programm reagieren.

Der Vergleich der Dialoge zeigt, dass die unmittelbaren Eigenschaften einerseits die Kategorie vorgeben, innerhalb derer bestehende Anwendungssituationen und Handlungsmuster zum Assoziieren verwendet werden. Andererseits wird in Dialog 3 das Undercover zwar auch als Decke eingeordnet, aber kaum in ähnlicher Weise mit den typischen Nutzungen von Decken im Alltag in Verbindung gebracht. Stattdessen wird der Gegenstand in seinen Eigenschaften technisch gedeutet: Die weiße Seite des Undercover wird als Projektionsfläche, die eingenähten Magnete werden als Motion-Capture-Marker interpretiert. Ähnliche Assoziationssprünge kann man auch beobachten, wenn ein Prototyp nicht auf Eigenschaften wie Material, Farbe oder Verarbeitung, sondern stellvertretend für ein Interaktionsprinzip interpretiert wird.

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Dialog 4 – Ein Interpret sucht nach Anwendungsmöglichkeiten für den Shuffle Sleeve. I Also, Fakt is ja, dass die... dass man es drehen muss K hm I wenn man ’n Titel weitermachen will. Das heißt, es muss irgendwo ’n Objekt sein, wat ick drehen kann oder wo ich in der Lage bin das drehen zu lassen. K hm-hm. Was könnte das sein? I Was könnte das sein? Autolenkrad kann det sein K Autolenkrad? I Joah. [. . . ] K Irgendwas anderes mit dieser Dreh- oder Rollbewegung? I Tja, wat kann man da denn noch machen? Wat an der Sache halt so doof is, ist halt der Punkt, dass man nur eene Sache ausführen kann, also je nachdem, wo det Gewicht hin verlagert ist, macht er nur eene Aktion, also entweder macht er ’n Lied vor, oder er macht ’n Lied zurück, macht laut oder macht leise. Wenn man darauf jetzt andere Sachen machen würde wie Licht an, Licht aus, det würde auch noch gehen, aber man kann jetzt nicht mehrere Sachen auf eenmal machen. K Wo könnte das denn gerade wichtig sein, dass man nur eine Sache zur Zeit macht, in der Art und Weise? I Wo kann det wichtig sein? Fußbodenheizung. K Fußbodenheizung? I Jaa, dann is det ja auch Temperatur, so ’n Regler, der funktioniert ja eigentlich genau so. K hm-hm I Potentiometer. Je nachdem, wie mans dreht, macht er halt die Aktion, wenn ick hier denn auch so – also, quasi ’n Außenteil hast was elektrisch ist – K hm-hm I – das ist, was er macht. K Noch was anderes, was Ihnen da einfällt? Das ist wirklich sehr anders. I Wat kann man noch machen? Allet, wat man, wo man Sachen dreht. Eigentlich alle Knöpfe, die man drehen kann. Herd. Herdknöpfe. So viel Knöpfe gibts ja eigentlich nicht mehr. Das hat ja allet nur noch digitale Schalter oder Knöpfe.

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Also, so ’ne Drehknöpfe mein ich jetzt, davon gibt es eigentlich nicht mehr allzu viele. Während es für die Interpreten leicht ist, Handlungsweisen aufgrund der unmittelbaren Eigenschaften der Prototypen abzuleiten, kommt es viel seltener vor, dass eine mittelbare Eigenschaft – etwa eine elektronische Funktionalität – als Ausgangspunkt genommen wird, um abweichende Gebrauchsprozesse damit zu assoziieren. Die Austauschbarkeit der mittelbaren elektronischen Funktionen ist den meisten Interpreten sofort einleuchtend, in einem solchen Ausmaß, dass sie weitgehend unabhängig von der unmittelbaren Erscheinung aufgezählt werden. Dialog 5 – Ein Interpret beschreibt mögliche Funktionalitäten des Undercover. I Könnte was Medizinisches sein K hm-hm – wieso? I Könnte was. . . keine Ahnung, hier geht noch irgend ’ne – irgend ’n Kabel weg. . . K hm-hm I Könnte irgendwas messen, könnte irgendwas aufzeichnen. . . K Was denn? I ... könnte auch die Sprache hier aufzeichnen. . . K Wieso gerade die? I Könnte...Schwingungen messen, ich weiß es eben nicht. Da sind auch noch Schalter drauf. Aber die soll ich jetzt bestimmt nicht alle beschreiben hier, oder? K hmf? Vielleicht, äh. . . I Lilypad – was auch immer – K – aber Sie können ja weiter sagen – Sie haben gesagt, Schwingungen messen, oder. . . I Lilypad. . . K Sprache aufzeichnen? Welchen Sinn könnte das haben? I Ja, da kann man viele Sachen draus ableiten. Also, es könnte K hm? I – Alarm geben – K – Alarm – I – es könnte auf so bestimmte Sachen überwachen. . . Originelle Deutungen zeichnen sich hierbei dadurch aus, dass abweichende mittelbare Eigenschaften mit einer sinnvollen Anwendungssituation in Zusammenhang gebracht werden, die ihre unmittelbare Erscheinung erklären und rechtfertigen kann.

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Die unmittelbaren Eigenschaften dienen dann als narrative Grundlage für eine Rekonstruktion der mittelbaren Eigenschaften eines Gegenstands, bei denen ein kausal oder symbolisch sinnvoller Zusammenhang von Interface und elektronischer Funktionalität unterstellt wird, wie etwa die Assoziation einer «Wetterflagge» für das Undercover illustriert. Dialog 6 – Ein anderer Interpret wird nach den Anwendungsmöglichkeiten des Undercover befragt. I

Äh.... vielleicht als, ähm, als Sensor? Vielleicht könnten sie auch eine Sensorfunktion haben? Weil das Ding wirklich ganz auseinander ist und dann aufgehängt würde, vorhangartig oder über ein Gestell, ein bisschen wie ein Zelt, dann hätte das eine Sensorfunktion? Da es relativ groß ist, da könnte man ganz leicht Antenne und so weiter anbauen. K Was für ’ne Art von Sensorfunktion haben Sie da im Kopf? I Ja, das... dann tendiere ich eher Star Trek-artig und denke mehr an ScanSysteme, wobei man nach irgendwas sucht, also, ich nehme an, die nächsten paar hundert Jahre werden wir nicht nach life form scannen, aber ich könnte mir eine Decke vorstellen, die man über jemand wirft, mit Sensoren, die dann, äh, ganz normale alltägliche körperliche Funktionen ablesen könnten: Blutdruck, Kreislauf, äh, Lungen, und und und. [. . . ] Äh, was könnte man sonst machen? Ja, wenn das wirklich, also, wenn das ein bisschen leichter wäre, vielleicht würde es doch als Flagge funktionieren, könnte man vielleicht als Wetterstation verwenden, vielleicht könnte man unterschiedliche Messungen in Sachen Wetter machen, Luftdruck, Wind, Direktion, Windgeschwindigkeit und so weiter. Nachdem Gebrauch und Gegenstandskategorie durch die unmittelbaren Eigenschaften rekonstruiert worden sind, werden zunächst häufig solche mittelbaren Eigenschaften assoziiert, die den so identifizierten Zweck verstärken, etwa als «elektrische Heizdecke». Ebenfalls genannt werden mittelbare Eigenschaften, wie sie so ähnlich in bereits vorhandenen neuen Produkten auftauchen, wie z.B. Tanzmatten für Spielkonsolen oder ein Bluetooth-Modul in einer Mütze. Diese elektronischen Funktionalitäten orientieren sich am bestehenden Gebrauch, fügen ihm aber neue Freiheiten hinzu. Darüber hinaus, und besonders interessant, leiten die Interpreten mittelbare Eigenschaften aus den weniger charakteristischen unmittelbaren Eigenschaften ab, z.B. den eingenähten Magneten, die als Hinweise für eine 3D-Scanfunktion interpretiert wurden (Dialog 3).

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Bei der Interpretation geben die unmittelbaren Eigenschaften Hinweise auf Gebrauch und Anwendungssituation. Die mittelbaren Eigenschaften werden dann häufig in Abhängigkeit vom so identifizierten Zweck assoziiert und variiert. Besonders interessant sind mittelbare Variationen aufgrund kontingenter unmittelbarer Eigenschaften. 5.1.3 Struktur und Prozess Struktur und Prozess lassen sich nicht einfach mit unmittelbaren und mittelbaren Eigenschaften gleichsetzen, d.h. strukturorientiertes Design führt nicht zu mehr, sondern bloß zu anderen unmittelbaren Gegenstandseigenschaften. Die Qualität des unmittelbaren Interface wird durch Struktur- und Prozessorientierung natürlich trotzdem stark beeinflusst. Bei prozessorientiert gestalteten Interfaces sind die Handlungsbeschränkungen im Gegenstand vor allem im Gebrauchsprozess selbst zugänglich, sie bleiben sonst auf der mittelbaren Ebene – im Programmcode – unsichtbar. Bei den materiell stark strukturierten Interfaces wie Shuffle Sleeve oder Wavecap werden sehr schnell ganz bestimmte Handlungsoptionen interpretiert, wie Zusammenziehen, Knoten, Aufsetzen oder Umhängen. Die Gebrauchsweisen, die mit dem Undercover in Verbindung gebracht werden – um etwas herumwickeln, zusammenlegen und auffalten, über etwas drapieren, sich vor Sonne oder Regen schützen, im Wind fliegen lassen – erschließen sich im Gespräch häufig erst nach weiterem Nachfragen, und verweisen dann auf eine größere Bandbreite an individuellen Nutzungsweisen. Dialog 7 – Eine Interpretin schildert die Benutzungsmöglichkeiten des Undercover. K Haben Sie da konkrete Sachen im Kopf, was man da einwickeln könnte, oder, wozu man – also, was man damit verbergen könnte? Wenn Sie da so den konkreten Gegenstand so angucken. Was könnte man da... I Ich kriege Besuch und schaffs nicht mehr aufzuräumen, und schmeiß den Müll in eine Ecke und mach die Decke drüber und fertig. Das Patchwork-Muster und die farbige Codierung der Faltmöglichkeiten ist als Hinweis oder Beschränkung für die Faltung des Undercover jedoch so offen, dass es auch als ethnisch inspiriertes Muster, als Flagge, als Riesenspielbrett, als IKEA-Design oder 80er-Jahre-Gestaltung gedeutet werden kann. Der symbolische Zusammenhang von unmittelbarer Erscheinung und mittelbarer Funktionalität kann viel leichter ignoriert werden als bei der materiellen Verbindlichkeit von Schnüren, Bändern und Reißverschlüssen. Für die Interpreten ist der Status der unmittelbaren Eigenschaften – ob sie kontingent oder notwendig zu bewerten sind – offensichtlich weniger klar als bei

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der strukturorientierten Gestaltung. So sind Assoziationen zum Gebrauch als Zelt oder Flagge möglich, obwohl der konkrete Gegenstand diese Nutzung im Grunde nicht ermöglicht. Die drei folgenden Dialoge illustrieren, wie die Einschätzung des Musters auf dem Undercover bei den Interpreten variiert. Dialog 8 – Ein Interpret beschreibt das Muster des Undercover. I

ähm. . . teils schwarz, teils mit irgendwelchen Mustern. . . in verschiedenen Farben. . . das Material ist irgendwie, Stoff. . . relativ glatter Stoff. . . und ja, auch das, was hier drauf, auch die Muster, sind nicht drauf gedruckt, die sind irgendwie genäht. . . Ob das jetzt nur dekorativ ist oder nicht. . . ist nicht zu sehen, könnte rein, ähm, ’ne bunte Decke sein, also, Grundfarbe ist schwarz, und die Muster, und diese verschiedenen Farben. K hm-hm. Bei dem Muster, gibt’s da irgendwas, woran Sie sich dabei erinnert fühlen, irgendwas, was Sie damit in Verbindung bringen? I Nö, nichts, nichts Spezielles. K hm-hm. Erinnert Sie jetzt an nichts konkret. I Nein, als Ikea-Kunde könnte ich ja jederzeit, äh, sowas ähnliches bei Ikea finden, oder so. K hm-hm. Was daran, würden Sie sagen, erinnert Sie an so ’n IkeaI Die haben manchmal so, so, solche bunten Farbzusammenstellungen und so geometrische Muster, die nichts zu bedeuten haben. Während dieser Interpret dem Muster ganz offensichtlich vor allem dekorative Bedeutung beimisst, vermutet eine andere Interpretin dahinter eine farbliche Codierung. Dialog 9 – Eine Interpretin vermutet einen Sinn hinter dem Muster des Undercover. I

Dann, ach so, was mir noch ein- äh auffällt, ist, ähm, das ja hier unterschiedlich gestaltete Vierecken sind, vielleicht bedeutet das auch irgend ’ne Zuordnung, wenn ich damit irgendwas machen kann, also vielleicht kann ich mit diesen blau-gelben Dingern was anderes machen als hiermit, und mit den grünen was anderes als hiermit... K Könnte das noch was anderes bedeuten? Weil Sie gesagt haben, die sind unterschiedlich gestaltet, sehr auffällig? I Hm, also die Farbe hat offensichtlich hier nicht nur was Gestalterisches, sondern hat irgend ’n. . . irgend ’n Sinn, dass ich irgendwas zuordnen kann.

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K Wie kommt es zu diesem Eindruck, also können Sie das an irgendwas festmachen, dass Sie sagen: Na, das ist nicht nur Dekoration, sondern das hat ’n Sinn? Wie kommt das? I Naja, weil ja auf diesen Vierecken die Technik sitzt. Irgendwas muss ja damit passieren, ich weiß nicht, ob ich das anfassen muss, oder wieder irgendwelche Münzen daran halten muss oder was auch immer, ja. Ähm, ich meine, so Knöpfe auf so ’ner Fernbedienung, die sind ja auch manchmal in unterschiedlichen Farben gestaltet. K hm-hm I Einfach ’ne Zuordnung, so. Ein anderer Interpret geht – ähnlich wie die Interpretin in Dialog 3 – einen anderen Weg und assoziiert mit dem Muster maschinenlesbare Codes, die über das beigelegte Mobiltelefon weitere Informationen zugänglich machen. Dialog 10 – Ein Interpret erkennt Farbcodes im Muster des Undercover. I

Ähm, ja, und jetzt liegt da halt noch so n Telefon drauf. Auf dem auch. . . sehr farbenfrohe Muster drauf sind. K hm-hm I was natürlich bei mir jetzt direkt so ’n paar Assoziationen weckt. K Und zwar? I Ähm, naja, Farbcodes, und Codes in Form von Mustern lassen sich ja mit Telefonen ganz gut auslesen und da. . . gut, die Muster wiederholen sich zwar schon, glaube ich. Ja, doch. Ähm, ja. Also da ist so der Gedanke plötzlich da, dass man eventuell mit diesem Telefon auf dieser Decke etwas, ähm, entdecken könnte, was ich mit meinem bloßen Auge nicht. . . sehen kann. Das Muster als visueller Hinweis auf die Benutzung des Undercover steht mit dem Bedienprozess offensichtlich in so einem losen Zusammenhang, dass sich diverse andere Deutungen ebenfalls anbieten. Die materielle Strukturierung des Interface durch die physische Ausformung ist dagegen viel schwieriger von den Handlungsoptionen zu trennen, die ein Gegenstand zur Verfügung stellt. Bei stark strukturierten Interfaces bieten sich deswegen gleich viel weniger Gegenstände zum Vergleich an, und deswegen auch weniger Assoziationen mit abweichenden Gebrauchshandlungen. Ein materiell strukturiertes Detail wie das Zugband der Wavecap legt den Gebrauch verbindlich fest, nämlich auf das Zuziehen des Bandes, auch wenn andere Gebrauchsweisen theoretisch denkbar wären. Eine ausgeprägte materielle Struktur muss deswegen sehr viel stärker verfremdet sein, damit sie neue Interpretationen hervorruft.

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Dies wird im Vergleich von Shuffle Sleeve und Wavecap am besten deutlich. Die materielle Struktur der Wavecap wird in den Interviews besonders schnell und häufig als Mütze mit Schal interpretiert und alle strukturellen Details in diesem Sinne gedeutet. Ebenfalls häufig darauf folgend ist der Gebrauch als Tasche oder Behälter. Die Wahrnehmung des Prototyps als Mütze wird offensichtlich an keiner Stelle fundamental erschüttert, so dass es selten zu Assoziationen außerhalb des Gebrauchs als Kopfbedeckung kommt. Die Abweichungen betreffen sehr viel häufiger die mittelbaren Eigenschaften – elektronische Funktionalitäten wie Lügendetektor oder EEG – die mit der materiell strukturierten Gebrauchsweise vereinbar sind. Der Shuffle Sleeve ist dagegen uneindeutiger, variiert zunächst zwischen Socke, Schal und Gürtel, bleibt dann aber nicht auf diese Gebrauchsweisen beschränkt, sondern erlaubt Assoziationen mit Fußballschals, Hula-Hoop-Reifen, Stuhlhussen, Lenkradschützern, Luftzugrollen oder Geldgürteln. Die verfremdete materielle Struktur führt hier viel eher zu einer großen Bandbreite an Gebrauchshandlungen, die unterschiedliche Anwendungsgebiete assoziativ zugänglich machen. Prozessorientierte Interfaces bieten sich für Abweichungen im Gebrauch an, weil sie die Ambivalenz von notwendigen und kontingenten unmittelbaren Eigenschaften vergrößern. Strukturorientierte Interfaces erlauben nur dann wirksam abweichende Interpretationen, wenn sie eine Zuordnung zu bestehenden Objektkategorien vermeiden. 5.1.4 Situationsabhängigkeit Die Situationsabhängigkeit, also die bewusste Erweiterung der «Form» über den Gegenstand hinaus, wurde im Designprozess durch die verfremdende Einbeziehung bekannter Gegenstände in den Schaltkreis der Prototypen hergestellt, konkret durch die Verwendung von Münzgeld als elektrisch leitfähige Komponente selbstkonstruierter Schalter. Diese Art der Situationsabhängigkeit ist für die Interpreten und ihre Deutungen angemessener Situationen allerdings weitgehend unwichtig gegenüber der vertrauten Bedeutung des Kleingelds als Zahlungsmittel. Die Situationsabhängigkeit hat vor allem Einfluss auf den Verfremdungseffekt der Prototypen, der bei dem Shuffle Sleeve deutlich stärker zutage tritt als bei Undercover und Wavecap. Das Integrieren der Münzen in den Shuffle Sleeve soll die Grenze zwischen «Form» und «Kontext» ambivalent und verschiebbar machen. Die Münzen bleiben Münzen, gleichzeitig werden sie Teil eines elektronischen Schaltkreises. Das Münzgeld wird mit bestimmten Zwecken und Handlungen assoziiert und macht den Prototyp situationsgebunden. Meine Erwartung war, dass diese Abhängigkeit die Bandbreite der assoziierten Anwendungssituationen beschränken könnte. Stattdessen ist

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die situationsabhängige Gestaltung in zweierlei Hinsicht hilfreich bei der Assoziation: Zum einen bietet das Münzgeld einen Bedeutungszusammenhang, der mit vielen Alltagssituationen verbunden ist. Zum anderen ist die physische Form des Shuffle Sleeve durch die Einbindung der Münzen so seltsam geraten, dass er nicht ohne weiteres einer bekannten Objektkategorie zugeordnet werden kann. Im Vergleich dazu sind die situationsunabhängigen Prototypen stärker an bekannten textilen Gegenständen orientiert. In den Interviews wurden sie dann auch prompt mit den Anwendungssituationen in Verbindung gebracht, die diese bekannten Gegenstände suggerieren. Auch wenn die situationsunabhängigen Prototypen funktional unabhängig sind, so sind sie doch durch ihre unmittelbare Erscheinung wieder an bekannte Situationen gebunden. Es gilt allerdings die Einschränkung, dass Kleingeld keinen typischen Beispielfall für Situationsabhängigkeit darstellt. Als Gegenstände haben die Münzen zwar Verweischarakter auf die Lebenslagen, in denen sie verwendet werden. Die Anwendungszusammenhänge sind aber gerade für Geld sehr vielfältig und veränderlich. Das, was die Situationsgebundenheit im Kern ausmacht – nämlich die Unfähigkeit, unabhängig von einer ganz bestimmten Anordnung an Dingen und Akteuren zu funktionieren – ist mit Münzgeld relativ schwach ausgeprägt. Welche Auswirkungen eine starke Situationsgebundenheit neben dem möglichen Verfremdungseffekt noch hat, kann damit nicht restlos geklärt werden. Situationsabhängige Interface-Gestaltung dient damit als wirksamer Verfremdungseffekt, um Ähnlichkeiten mit bekannten Gegenständen zu vermeiden. Bei situationsunabhängiger Gestaltung muss eine Ähnlichkeit mit bestehenden Gegenständen sehr viel bewusster vermieden werden, um abweichende Deutungen provozieren zu können.

5.2 D IE AUSPRÄGUNG

DER I NTERFACES

Nachdem ich die Wirkung von mittelbaren und unmittelbaren Eigenschaften, StrukturProzess-Orientierung und Situationsabhängigkeit generell beschrieben habe, gehe ich nun auf die Ausprägung ein, die jeder der drei Interface-Prototypen repräsentiert. Das heißt, ich diskutiere die konkrete Kombination der zuvor angesprochenen Aspekte, und die Auswirkungen, die sie in dieser Kombination haben.

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5.2.1 Wavecap Wie schon in Kapitel 4 erwähnt, ist die Wavecap weitgehend eine direkte Übertragung eines bekannten elektronischen Gegenstands in ein Stoff-Interface. Der Zusammenhang von textilen Bedienelementen und den Steuereffekten, die sie auf das Radiomodul ausüben, sind bewusst ein wenig beliebig gewählt. Die materielle Ausgestaltung orientiert sich an textilen Gegenständen wie etwa Mütze und Schal, von denen sie durch Kombination und Skalierung nur minimal verfremdet ist. Obwohl die Wavecap situationsunabhängig und strukturorientiert gestaltet ist, haben diese deutlichen Bezüge zu existierenden Produkten es den Interpreten spürbar erschwert, Abweichungen zu assoziieren. Die Kombination von Radio und Mütze ist dabei zu sehr rational erklärbar und einleuchtend, um die nötige Reibungsfläche für Überraschungen zu bieten. Andere Deutungsmöglichkeiten treten zugunsten der Deutung als Radio-Mütze in den Hintergrund. Spielraum für abweichende Deutungen besteht weniger in der Art und Weise der Benutzung, als der elektronischen Funktionalität, die mit dieser Benutzung im Zusammenhang gebracht werden kann, wie die Beispiele von Gedankenbeeinflussung oder Gehirnsteuerung zeigen. Insgesamt kommt es zu weniger unmittelbaren Abweichungen, die zudem nicht mit mittelbaren Abweichungen in Verbindung gebracht werden. Dialog 11 zeigt dabei eine recht ergiebige Deutung des Prototyps. Dialog 11 – Ein Interpret sucht Verwendungen für die Wavecap. K Und wenn Du jetzt so drüber nachdenkst, was könnte man mit dem Ding alles so machen? I Also, zuerst natürlich mal auf den Kopf setzen. K hm-hm I Ähm. Sieht so aus, als ob sie groß genug wär, dass man sie wirklich übern ganzen Kopf. . . ziehen kann, also so ’n bisschen sturmhaubenmäßig. K hm-hm I Ähm. . . Ich kannse auf jeden Fall gut festbinden, weil da oben diese Kordel einmal um den Kopf drumgeht, wenn ich sie denn auf den Kopf setze. K hm-hm I Ich kann natürlich auch diese beiden langen Bänder zusammenknoten und sie andersrum über die Schulter als Tasche benutzen. . . könnte sie dann auch mit dieser Kordel ganz gut verschließen, nehme ich an. K hm-hm

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I

K I K I K I K

Vielleicht kann man sie auch als Schleuder benutzen. Wenn ich an den beiden Bändern das nehme, drehe und dann loslasse, damit ziemlich große Steine durch die Gegend schleudere. Das wäre meine nächste Frage gewesen: Schleuder, also was man denn damit schleudern würde. Große Steine. Große Steine, zum Beispiel. hm-hm Vielleicht auch Straußeneier. Irgendwas Großes auf jeden Fall. Straußeneier, ja? Ja, die sind ja recht groß. Weil dieser Platz da drin ja doch recht viel hergibt für große Objekte. Also eine Straußeneierschleuder. [. . . ] Der Interpret begutachtet die Wavecap von Nahem.

K Noch andere Spekulationen darüber – also, das Körperschallmikro, das ist ja schon sehr fortgeschritten, sag ich mal, was da so ’n Controller an der Stelle machen könnte? I Meine Gehirnströme beeinflussen. Mein Denken manipulieren. K Aha. Wozu könnte das gut sein? I Äh. Mir Dinge zu verkaufen, die ich eigentlich nicht haben möchte. K hm. I Oder mir zu helfen, mich zu orientieren, wenn ich eigentlich gar nicht weiß, wo ich bin. K hm-hm I Und dadurch weiß das Teil aber, wo ich hin möchte, ohne dass ich ihm das so explizit sagen muss. Weil es misst ja, also es weiß, was ich denke. K Also, irgendwas, was mit Bewegung durch den Raum zu tun hat. Positionierung. I Ja. Ja. Vielleicht misst es auch noch meine Körpertemperatur. Und schaut, ob ich noch lebe. Und wenn ich nicht mehr lebe, oder nur noch wenig lebe, spielts Musik, und ich soll mich bewegen, damit ich wieder ’n bisschen mehr lebe. Und nicht einschlafe, oder weiß ich nicht. Bei den mittelbaren Abweichungen bleibt die Wavecap letztlich nah an der Gebrauchsweise, sie auf dem Kopf zu tragen, und die Interpreten beziehen sich dann nicht weiter auf die unmittelbaren Abweichungen, die sie bei der ersten Inaugenscheinnahme zum Teil noch nennen. Die Erfahrungen mit der Wavecap legen daher den Schluss nahe, dass man bei strukturorientierter und zugleich situationsunabhän-

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giger Gestaltung besonders darauf achten muss, dass der so entworfene Gegenstand sowohl in der formalen Ausgestaltung als auch in der elektronischen Funktionalität offen bleibt. Das heißt, dass die Designerin beim Entwurf von existierenden Geräten deutlich abstrahieren und Anregungen für die materielle Struktur in Bereichen suchen sollte, in denen die gewünschte Funktionalität noch nicht breitenwirksam eingesetzt wird. 5.2.2 Undercover Anders als bei der Wavecap ist die Verbindung von elektronischer Funktionalität und Interaktionselementen beim Undercover stärker durch einen bestimmten Bedienprozess als durch seine materielle Struktur festgelegt. Ähnlich wie die Wavecap ist das Undercover situationsunabhängig konzipiert, funktioniert also ohne Einbeziehung zusätzlicher Gegenstände. An diesem Prototyp lassen sich die meisten starken Abweichungen in der Bedeutungs-Rekonstruktion beobachten. Zugleich scheint dies nicht so sehr an der Bandbreite von Handlungen zu liegen, die mit einem prozesslastigen Interface ermöglicht werden. Das Undercover bietet vielmehr die Möglichkeit, seine Eigenschaften relativ unkompliziert in der Beurteilung von notwendig zu kontingent zu verschieben und umgekehrt. Es lässt sich dadurch offensichtlich einfacher in übergeordnete Kategorien einordnen, in denen die Gemeinsamkeit auf nur wenigen notwendigen Eigenschaften beruht (siehe dazu z.B. Dialog 2, in der die Ähnlichkeit mit einer Löschdecke vor allem formal besteht). Das Undercover wird dadurch auf diverse Anwendungssituationen bezogen, allerdings nicht deswegen, weil die Interpreten unterschiedliche Gebrauchshandlungen damit in Verbindung bringen. Die Assoziationsrichtung scheint eher umgekehrt zu verlaufen, von der Situation zum Gebrauch. Prozessorientierte Interfaces lassen vor allem dann mehr Gebrauchsweisen zu, wenn sie durch ihre schwache Strukturierung in ihren unmittelbaren Eigenschaften möglichst viele Assoziationsmöglichkeiten zu unterschiedlichen Gegenständen eröffnen. Beim Undercover fehlt die direkte Vergleichsmöglichkeit mit einem situationsabhängigen, prozessorientierten Prototyp. Der Unterschied zwischen den strukturorientierten Prototypen Shuffle Sleeve und Wavecap legt allerdings nahe, dass der Verfremdungseffekt, der die materielle Struktur des Shuffle Sleeve so seltsam erscheinen lässt, eine große Rolle spielt. Bei den prozessorientierten Modellen hätte die Situationsabhängigkeit vermutlich nicht die gleichen Auswirkungen, weil das Interface in beiden Fällen schwach strukturiert bliebe. Für die Verortung in konkreten Anwendungssituationen ist die Zugehörigkeit zu Kategorien entscheidender, und diese

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Zuordnung ändert sich auf struktureller Ebene für situationsabhängige prozessorientierte Interfaces weniger stark. Dass die konkreten Handlungspraktiken prozessorientierter Interfaces so wenig explizit geworden sind, mag zum Teil an der Form des Interviews liegen, in dem die Gebrauchshandlung hinter der Beschreibung zurücksteht. Abweichende und unbekannte Gebrauchsprozesse waren beim Undercover – anders als bei den strukturorientierten Prototypen – eher selten (wie etwa der Gebrauch als 3D-Scanner in Dialog 3). 5.2.3 Shuffle Sleeve Auch der strukturorientierte Shuffle Sleeve verfügt über keine einfache Entsprechung von elektronischen Auslösern und ausgelösten Funktionen. Die Situationsabhängigkeit wird in seinem Fall mit Münzgeld hergestellt, das als elektrischer Leiter benutzt wird. In den Interpretationssitzungen sind die Münzen bereits im Shuffle Sleeve enthalten, sie sind aber generell durch einen Reißverschluss zugänglich. Es war für mich eine offene Frage, ob die Einbeziehung des Kleingelds in das Interface den Shuffle Sleeve eher für abweichende Deutungen öffnen oder ihn auf bestimmte Anwendungsbereiche beschränken würde. Offensichtlich ist jedoch das Münzgeld als Anhaltspunkt für Assoziationen hilfreich. Obwohl diese Festlegung auch beschränkt, gibt sie gleichzeitig einen wirksamen Hinweis für die Interpreten, um diverse mittelbare Abweichungen, also elektronische Funktionalitäten, zu assoziieren. Zwar wird das Geld immer noch zuerst in seiner Rolle als Zahlungsmittel gesehen; andere Deutungen, die Münzen als Gewichte oder leitendes Material interpretieren, sind jedoch ebenfalls leicht zugänglich. Dialog 12 – Ein Interpret versucht, die Widersprüche im Shuffle Sleeve zu erklären. I

Ich könnte mir eher vorstellen, also, das Geld ist etwas irritierend. Also, ich könnte mir eher vielleicht so, so ’ne Art kleine Murmeln oder kleine Metallkugeln vorstellen. K hm-hm I Die würden auch so irgendwie, ich glaube, angenehmer durch diesen Schal fließen. K hm-hm I mal halt nicht so ganz blechern, also sch- ähnlich, aber... das, das ist so, man hört gleich, dass es Münzen sind, ja.

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K hm-hm. Und das ist irritierend, können Sie das näher beschreiben, was da eigentlich I also, für mich wars jetzt irritierend, weil ich halt automatisch davon ausging, dass man die Münzen da drin aufbewahrt für irgend ’nen Zweck, ne, und dass sie erstmal keinen funktionalen Zweck haben. Bei Kugeln weiß man, ok, warum soll man Kugeln da raus nehmen, was macht man dann? Mit Geld zahlt man. Das Münzgeld stellt so einen Deutungszusammenhang her, der einbezogen werden kann, aber nicht muss. Die unbekannte oder schwer einzuordnende Struktur des Shuffle Sleeve erlaubt immer noch Assoziationen mit anderen Anwendungsbereichen, die ebenfalls mehr oder weniger plausibel aus seinem Design abgeleitet werden können. Dialog 13 – Eine Interpretin deutet den Shuffle Sleeve als Analogie. I Das ist ein Portemonnaie, ja, ähm, es könnte ein neuartiges Portemonnaie sein. K Ein neuartiges Portemonnaie? Könnte das noch irgend ’ne andere Bewandtnis haben mit dem Zeug da drin? I Hm... vielleicht sind es auch nur Metallplättchen oder so. K hm-hm I Die können halt aufgehalten werden durch diese... diese Knoten, die man macht K hm-hm I Je nachdem, wo sie sind, gibt es andere Dinge, die passieren, hier. Ich hab gedacht, vielleicht ist da ja Musik oder so. K Wie bist Du darauf gekommen? I Ähm... das sieht halt so aus wie so ’n Mini- wie heißen die Teile? iPod? Die kleinen – nano oder so. K hm. I Und hier gehts nicht weiter. Ah, doch. (Musik fängt an zu spielen) Wow, das versteh ich jetzt nicht. Okay, es hat auf jeden Fall ’ne Verbindung zu Geräten. Es spielt eine Liste ab, je nachdem, wo man sich. . . das ist so n, sowas Religiöses, die ham doch immer so. . . K Erklär doch mal genauer. Also, Du sagst, es spielt eine Liste ab, und es ist was Religiöses. Und was passiert da Religiöses? I Ich weiß nicht, wer macht das denn, dass die – im Islam, dass die immer mit diesen. . . den Kügelchen sitzen, das kann man hier auch machen. K Ein Gebetskranz?

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I Genau. K Also, mit diesem Durchklötern, Durchklimpern. I Ja, und je weiter man kommt, umso mehr erreicht man die Liste, die man eigentlich hören will, oder so. Wenn mans gut macht, dann. . . wird die VierSterne-Liste abgespielt. K Und wo Du da gerade so am Hantieren bist damit, und das immer so weiter schüttest, trotzdem nochmal die Frage, was könnte es noch so sein? Also, Du hast gesagt, es ist ein neuartiges Portemonnaie, es zählt das Geld, es zählt die Schritte hatten wir auch schon, jetzt sagst Du, es ist irgendwie ’ne Gebetsfunktion. I Ein Kampfgürtel. K Ein Kampfgürtel? I Genau, wenn man Karate macht und der einen irgendwie einen richtig tritt, dass das Geld fließt und fängt an, Musik zu spielen. K Ob man richtig getreten wird? I Genau. K Und Du hast es gerade an die Stirn gehalten, was hast Du. . . I Da habe ich gerade an Kampfsport gedacht. Es ist allerdings unklar, inwiefern das Münzgeld als situationsgebundenes Artefakt einen Sonderfall darstellt. Münzen sind kleinteilig und mobil und lassen sich daher sehr leicht als Teil des Gegenstands betrachten, nicht als Teil einer ganz bestimmten Gebrauchsumgebung. Eine Handtuchhaltestange im Badezimmer oder ein metallener Türdrücker sind da stärker örtlich gebunden. Die reichhaltige soziale und kulturelle Bedeutung von Geld hilft außerdem, ein weites Feld an Gebrauchsweisen zu öffnen: Geld wird hier mit Bezahlvorgängen, Sparen und Diebstahlsicherung in Verbindung gebracht, die wiederum in Gebrauchssituationen wie Skifahren, Hochzeiten oder Museumsbesuchen vorgestellt werden. Das Münzgeld hält so einerseits den Assoziationskontext zur Geldbörse aufrecht, der das Design und die Konstruktion beeinflusst hat. Andererseits spielt in der intendierten Bedienweise des Sleeve nur noch eine Rolle, wie das Zusammenspiel von Münzen und Textil funktioniert; der Zweck der Geldbörse ist nicht in den Prototyp übertragen worden. Die Interpreten deuten hier – anders als bei der Wavecap – die Konstruktionsdetails als notwendige Komplikationen, nicht als Fehler: Wenn sie den Sleeve als Geldgürtel mit Diebstahlsicherung beschreiben, wird so plausibel gemacht, warum der Zugang zum Kleingeld so umständlich ist. Durch die materielle Struktur ist die Handhabung zwar auch relativ stark beschränkt. Anders als bei der Wavecap regt sie beim Shuffle Sleeve allerdings dazu an, plausible Erklärungen für die Erscheinung zu finden.

Gespräch, Gebrauch, Bedeutung | 157

Die Verfremdung, die durch die situationsabhängige Gestaltung zustande kommt, macht es schwierig, den Shuffle Sleeve als eindeutiges Exemplar einer bestimmten Produktkategorie einzuordnen. Dadurch nehmen die Interpreten den Prototypen sehr viel genauer in Augenschein und spekulieren ausgiebiger über die Handlungsmöglichkeiten, die er anbietet.

5.3 Z USAMMENFASSUNG Bei der Interpretation der Prototypen hat das Vorwissen der Interpreten zwar einen gewissen Anteil an der Menge und Qualität ihrer abweichenden Deutungen. Die Bereitschaft, den normativen Charakter von vermeintlich «fertigen» Gegenständen zu hinterfragen, ist allerdings wichtiger – und durchaus unabhängig von ihrer beruflichen Ausbildung als professionelle Gestalter, die auch unter den Interpretierenden waren. Die Prototypen bringen vor allem dann interessante Abweichungen hervor, wenn die Verfremdung in der Designphase erfolgreich war. Das ist beim Undercover und Shuffle Sleeve deutlich besser gelungen als bei der Wavecap, die als strukturorientiertes und situationsunabhängiges Modell am meisten Gemeinsamkeiten mit bestehenden Produkten aufweist. Interessante Abweichungen sind Kombinationen von abweichenden Deutungen auf unmittelbarer und mittelbarer Ebene zugleich. Zu diesen kommt es, wenn Textil und Elektronik als gegenseitiger Deutungszusammenhang von den Interpreten angenommen wird. Solche Bezugnahme wird durch die Verfremdung wahrscheinlicher, weil dann die Interpreten gezwungen sind, die Eigenschaften der Prototypen in Augenschein zu nehmen, anstatt sie unter bekannte Produktkategorien einfach nur zu subsumieren. Zwar war im Designprozess die Verfremdung der Interfaces durch ungewöhnliche Materialien als grundlegende Vorgehensweise angelegt. Der Entwurfsprozess distanzierte sich damit allerdings in erster Linie von den konventionellen Erscheinungsformen der Elektronik, während konventionelle Erscheinungsformen von Textilien zum Teil deutlich erhalten blieben. In Bezug auf textile Objekte lässt sich die Verfremdung innerhalb der Serie von Prototypen als iterative Entwicklung nachvollziehen: Während die Wavecap als zuerst entstandener Prototyp die stärksten Bezüge zu bekannten Produktkategorien hat und beim Undercover durch die prozesshafte Ausprägung die Ähnlichkeit zu diesen Kategorien von sich aus größer ist, ist die kategoriale Zuordnung des zuletzt entstandenen Shuffle Sleeve am wenigsten klar. Prozessorientierte Gestaltung hat Abweichungen dadurch befördert, dass der Anwendungsprozess im materiellen Interface nur angedeutet werden kann, z.B. in Form

158 | Gebrauch als Design

des visuellen Musters auf dem Undercover. Diese Andeutung bleibt mehrdeutig und erlaubt so Bezüge zu unterschiedlichen Anwendungssituationen, genauso wie das strukturarme Interface mehr Gemeinsamkeiten mit anderen vergleichbaren Gegenständen zulässt. Die strukturorientierte Gestaltung profitiert dagegen deutlich vom Verfremdungseffekt, den die Situationsabhängigkeit eines Interface mit sich bringt. Die Einbeziehung von Gegenständen als Teil des elektronischen Schaltkreises (anstatt in ihrer gewohnten Bedeutung) stellt dann bereits eine Verfremdung und Doppeldeutigkeit dar. Diese Ambivalenz bleibt im Interface bestehen und weitet sich auf die Details des strukturierten Interface aus, bei denen plötzlich auch nicht mehr klar ist, wofür sie verwendet werden.

6 Potenzial und Aktualität

Nach der empiriegeleiteten Analyse im vorherigen Kapitel ist nun wieder ein wenig Abstand von den konkreten Prototypen notwendig, um die Ergebnisse der Interviews auf andere Gestaltungszusammenhänge übertragen zu können. Um meine Beobachtungen in einem größeren theoretischen und methodischen Rahmen zu platzieren, möchte ich deswegen drei Sichtweisen auf die komplizierte Kopplung von Bewusstsein und sozio-kulturell geprägten Bedeutungen heranziehen: Erstens die kognitionswissenschaftliche Sicht auf Konzeption und Wahrnehmung, die vor allem auf der Seite des Bewusstseins zu verorten ist; zweitens die semiotische Sicht auf Kognition als Zeichenprozess, die den Übergang zu kulturellen Deutungsmustern beschreibt; drittens die techniksoziologische Sicht der Akteurs-Netzwerk-Theorie, die vor allem auf der kulturellen und sozialen Seite der Deutung zu verorten ist. Alle drei Forschungsfelder wurden bereits mit Design in Verbindung gebracht und beschäftigen sich im weitesten Sinne (auch) mit dem Zusammenhang von Gegenständen und deren Bedeutung im Gebrauch. Sie dienen mir nicht so sehr dazu, die Ergebnisse meiner Studie restlos zu erklären, sondern sollen den Bezugsrahmen für meine Interpretation offen legen, auf dessen Grundlage weitere methodische und theoretische Schlussfolgerungen gezogen werden können.

6.1 KOGNITION Die Deutungen der Interpreten, die erwartbaren wie die überraschenden, entstehen in einem Verhältnis von wahrnehmender Person und Objekt, individueller Interpretation und sozio-kulturell gelernter Deutungsmuster. Um die Aspekte der individuellen Wahrnehmung besser zu verstehen, ist die Kognitionsforschung hilfreich. Die Zuordnung von neuen Objekten zu unterschiedlichen Kategorien, und die Frage, wie

160 | Gebrauch als Design

Menschen aus der Erscheinung von Dingen auf deren Anwendungszusammenhänge schließen, wird vor allem in der Wahrnehmungs- und Kategorisierungsforschung der kognitiven Psychologie behandelt. Kognitionspsychologische Erklärungsmodelle zielen darauf ab, menschliche Gedächtnisstrukturen zu erforschen und zu erklären, aber es lassen sich aus ihnen auch Schlussfolgerungen für Design und Gebrauch ziehen. So gibt es zum Beispiel einen engen Zusammenhang zwischen der Vorstellung von Kognition als repräsentativer Struktur der Wirklichkeit und der frühen KI-Forschung, die an einer Modellierung solcher Wahrnehmungs- und Entscheidungsstrukturen interessiert war. Der Begriff des «mentalen Modells» steht als Referenz für diese Sichtweise im Interface-Design. Konträr dazu wurde die «direkte», an die Perzeption gebundene Kognition zum Leitbild für taktiles Interface-Design, das sich häufig auf J.J. Gibsons Theorie direkter Wahrnehmung und speziell auf den Begriff der «Affordance» beruft1 . 6.1.1 «Graded structure», Features und Dimensionen In der Auseinandersetzung mit der kognitiven Kategorisierungforschung hat Krippendorff sich mit seiner konstruktivistisch geprägten Perspektive bereits auf das kognitionspsychologische Konzept der «graded structure» bezogen. Die «graded structure» setzt – im Kontrast zu anderen Kategorisierungstheorien – keine klar definierte regelbasierte Zuordnung zu Kategorien voraus, sondern eine mehr oder weniger ausgeprägte «Familienähnlichkeit» aufgrund charakteristischer Merkmale2 . Krippendorff fasst das Konzept wie folgt zusammen: «Inquiries into how humans form categories, starting with Eleanor Rosch (1978, 1981), have challenged the logical positivist concept. [. . . ] Its basic insight is that people recognize objects by their typicality, how closely they resemble the ideal type of a category, often called prototype. Accordingly, artifacts do not form homogeneous classes; their membership in categories is graded.»

Abweichende Gegenstandsmerkmale (oder -eigenschaften) lassen sich laut Krippendorff danach unterscheiden, ob sie für die zugehörige Kategorie konstitutiv sind oder

1 | Siehe Gibson, a. a. O. 2 | Krippendorff, a. a. O., S. 92.

Potenzial und Aktualität | 161

nicht. Krippendorff unterscheidet hier nach «Dimensionen» und «Features»3 . Krippendorffs Unterscheidung in grundlegende Parameter und Zusatzmerkmale bezieht sich allerdings auf den Designprozess und setzt voraus, dass die angestrebte Kategorisierung vor Entwurfsbeginn weitgehend geklärt ist und es sich um einen zweckgerichteten Entwurf handelt. Krippendorff führt Roschs graded-structure-Theorie an, um deutlich zu machen, dass Designer sich über Typizität und Kategorisierung ihrer Interfaces im Klaren sein müssten, unabhängig davon, ob sie eine eindeutige Einordnung anstreben oder nicht. Seine Unterscheidung in Dimensionen und Features entspricht damit meinen Begrifflichkeiten von notwendigen und kontingenten Eigenschaften, wenn auch in seiner Methodologie nicht die Zielsetzung einer Aneignung im Gebrauch damit verbunden ist. Bei Brandes findet sich eine ähnliche Unterscheidung für das Non-Intentional Design, nämlich die von «Essenz» und «Akzidenzien»4 . Nicht-intentionales Design findet laut Brandes dort statt, wo nach Abzug der Akzidenzien die Benutzerin die Idee oder Essenz in einem Gegenstand erkennt. Für diese Charakterisierung zieht sie Platons Modell der Ideenlehre heran, in dem der «Idee» als Urbild in der klassischen Sichtweise der Kognitionspsychologie der Status einer universalen Kategorie zukommt. Wir haben hier eine interessante Parallele zu Krippendorffs Unterscheidung, allerdings auf einer epistemologisch vollkommen anderen Grundlage. Meiner Ansicht nach führt erst die Unsicherheit darüber, was an einem Gegenstand die Essenz oder Dimension und was die Akzidenzien oder Features sind, zu weitreichenden Umdeutungen des Gegenstands jenseits dessen, was sich im Design antizipieren lässt. Selbst wenn man unterstellt, dass Benutzer im NID die Akzidenzien zugunsten der Essenz beiseite lassen, so sind dadurch vor allem die leichten Abweichungen im Gebrauch erklärt, die auf der gleichen Formunterscheidung beruhen, also z.B. die Umnutzung eines Kaffeebechers als Zahnbürstenhalter. Die abweichenden Formunterscheidungen, die zu signifikanten Abweichungen im instrumentellen Gebrauch führen, kommen erst durch eine andere Essenz zustande. Ob das absichtsvolle Kommunizieren der Essenz oder Idee als Designstrategie jenseits bekannter Umnutzungen zur weiteren Instrumentalisierungen führt, ist unklar.

3 | «Dimensions are variables within which artifacts are constituted. They are always there. [. . . ] Features, by contrast, are dispensable additions that do not alter the identity of an artifact.», ebd., S. 95, Hervorhebungen im Original. 4 | Brandes, Stich und Wender, a. a. O., S. 180.

162 | Gebrauch als Design

Die Ergebnisse meiner Interviews legen allerdings den Schluss nahe, dass eine an kognitiven «Archetypen»5 orientierte Gestaltung eher verhindert, dass es zu Experimenten mit vermeintlichen Akzidenzien der Gegenstände kommt, weil sie in der Regel gar nicht erst als mögliche Formunterscheidung wahrgenommen werden. Die Nähe zu existierenden Gegenständen führt zu weniger abweichenden Interpretationen, weil die bestimmte Kombination an Eigenschaften, die einen Gegenstand als solchen erkennbar macht, wiederum verhindert, dass sie einzeln als Teil einer abweichenden Form erkannt werden können. Je mehr Eigenschaften eines Gegenstands also auf eine bestimmte Form und den damit verbundenen Gebrauch hindeuten, desto unwahrscheinlicher ist es, dass der Gegenstand mit einer anderen Form des Gebrauchs in Verbindung gebracht wird. Umdeutung – und damit letztlich auch Umnutzung – wird nicht über Typizität, sondern über absichtsvolle Verfremdung erreicht. Kategorisierung und Kontextwirkung Auf der Suche nach möglichst wenig Typizität und möglichst aussagekräftigen abweichenden Kategorisierungen könnten Annahmen aus der graded-structure-Theorie in umgekehrter Richtung hilfreicher sein als die Absicht, für die Krippendorff sie anführt. Der Vergleich von Kategorie-«Archetypen» erklärt noch nicht, warum entgegen dieser (häufig sprachlichen) Kategorisierung Gegenstände für andere Aktivitäten instrumentalisiert werden. Hier ist anscheinend ganz entscheidend, unter welchen Umständen sich die Einschätzung von Eigenschaften als Dimensionen zu ihrer Wahrnehmung als Features verschieben kann, zum Beispiel in Relation zu einem bestimmten Interpretations- oder Gebrauchskontext6 . Dass der Anwendungkontext nicht nur im Designprozess, sondern vor allem auch im Gebrauch Auswirkungen darauf hat, was in Bezug auf einen bestimmten Kontext und ein bestimmtes Ziel als Dimension und was als Feature betrachtet wird, illustriert Herbert Simon am Beispiel einer Uhr:

5 | In der Kognitionspsychologie wird der Begriff «Prototyp» verwendet. Ich halte mich an den von Krippendorff eingeführten Ersatzbegriff des «Archetypen», damit es nicht zu Verwechslungen mit den materiellen Gegenständen aus meiner Studie kommt. Krippendorff, a. a. O., S. 92. 6 | Barsalou (Lawrence W. Barsalou. «The instability of graded structure: Implications for the nature of concepts». In: Concepts and conceptual development: Ecological and intellectual factors in categorization. Hrsg. von Ulrich Neisser. Cambridge: Cambridge University Press, 1989. Kap. 5, S. 101–141) beschreibt diese und weitere Abhängigkeiten der graded structure, z.B. von individuellen Erfahrungen und Zielsetzungen.

Potenzial und Aktualität | 163

«[. . . ] we may also consider clocks in relation to the environment in which they are to be used [. . . ]. Devising a clock that would tell time on a rolling and pitching ship [. . . ] was one of the greatest adventures of eighteenth-century science and technology. To perform in this difficult environment, the clock had to be endowed with many delicate properties, some of them largely or totally irrelevant to the performance of a landlubber’s clock.7 »

«Kontexteffekte» auf kognitive Konzepte sind demnach für Design im Gebrauch vor allem dann beobachtbar, wenn ein Gegenstand kontextabhängig unterschiedlich interpretiert werden kann. Als Kognitionsforscher sind Gabora, Rosch und Aerts unter anderem an der Modellierbarkeit kognitiver Modelle interessiert. In diesem Zusammenhang machen sie auf die Unzulänglichkeiten bestehender Ansätze aufmerksam, die bei der Modellierung von Kontexteffekten, wie sie z.B. in der graded-structure-Theorie auftreten, bestehen8 . Ihrer Einschätzung nach liegt das Problem in der unvollständigen und unvorhersehbaren Beschreibung des «Kontexts» der Deutung als Einflussgröße auf Konzepte. Sie weisen auf den unbefriedigenden Umgang mit emergenten Eigenschaften hin, die bei der Kombination kognitiver Konzepte auftreten und auf unendlich viele Bedeutungen verweisen. Ein weiterer Kritikpunkt in ihrer Darstellung ist der problematische Status von «Ähnlichkeit» als Differenzierungsmerkmal von Konzepten. Sie präsentieren ihrerseits ein Modell, das die Kontextabhängigkeit von Konzepten mathematisch beschreibt. Gabora, Rosch und Aerts schlagen eine ökologische Sichtweise auf Konzepte als Grundlage vor, die Konzepte als veränderliche Elemente einer Weltanschauung versteht. Als solche repräsentieren sie nicht die Welt an der Schnittstelle von Umgebung und Bewusstsein, sondern erlauben eine kreative kognitive Auseinandersetzung mit ihr. Diese Perspektive hat auch den Sinn, die Gegensätzlichkeit von subjektiven Wahrnehmungen und objektiver Welt zugunsten eines relationalen Verhältnisses abzumildern. Ihr Modell ist für meine Untersuchung insofern als Interpretationshilfe relevant, als es ähnliche Sachverhalte voraussetzt – die potenziell unendliche und dadurch nicht beschreibbare Menge emergenter Bedeutungen – und dessen Grundlagen mit einer systemtheoretischen Sichtweise verträglich erscheinen. Als Parallele zur Kontextabhängigkeit von Konzepten ziehen Gabora, Rosch und Aerts den «Beobachtereffekt» in der Quantenmechanik heran, bei dem eine gemes-

7 | Simon, a. a. O., S. 6. 8 | Liane Gabora, Eleanor Rosch und Diederik Aerts. «Toward an ecological theory of concepts». In: Ecological Psychology 20.1 (2008), S. 84–116.

164 | Gebrauch als Design

sene Einheit nur im Kontext der Messung über bestimmbare Werte verfügt. Dementsprechend haben bestimmte Eigenschaften für Konzepte nur unter dem Einfluss bestimmter Kontexte eine Bedeutung – eine Feststellung, die sich so auch auf die situationsabhängige Deutung von Gegenständen anwenden lässt. Entsprechend modellieren sie Konzepte als Einheiten mit Eigenschaften, Zuständen, und möglichen Kontexten. Als «Überlagerungszustand» benennen sie den Zustand eines Konzepts, zu dem es sich unter Einfluss eines bestimmten Kontextes verändern kann. Tritt dieser Fall ein, stellt dies einen «Kollaps» dar, eine Zustandsveränderung von aktuell zu potenziell und umgekehrt. Die quantenmechanische Herleitung erklärt so, warum sich Eigenschaften zu einem Konzept nur für den bestimmten Kontext ermitteln lassen, in dem sie aktuell auftreten. Mit dem jeweiligen Set an zugeschriebenen Eigenschaften ändert sich auch die Zuordnung der Prototypen zu einem Konzept mit dem Kontext. Gabora, Rosch und Aerts gehen des weiteren auch auf Konzepthierarchien ein und greifen hierfür auf die Annahme zurück, dass sogenannte «basic level objects» oder natürliche Kategorien (z.B. Stuhl oder Baum) einen privilegierten kognitiven Status haben, weil sie in ihrer korrelational organisierten Informationsstruktur der Wahrnehmung der Lebenswelt am ehesten entsprechen. Basic-Level-Konzepte werden mutmaßlich als erste gelernt, und erst später kommen Differenzierungen und abstrakte übergeordnete Kategorien hinzu9 . Diese Hierarchie an Konzepten entspricht einer größeren Menge an Eigenschaften oder Unterscheidungsmerkmalen für die untergeordneten Konzepte und einer größeren Inklusivität für die übergeordneten. Die Modellierung der Konzepthierarchien hat auch den Sinn, die Kontextsensitivität abstrakter Konzepte zu beobachten, die, wenn auch weniger direkt, von den Autoren ebenfalls auf die Wahrnehmung der Lebenswelt zurückgeführt werden. Das Kriterium der «Ähnlichkeit» von Konzepten aufgrund kontextabhängiger Vergleichsmerkmale präzisieren sie durch den Begriff der Kompatibilität. Kompatibel sind verglichene Eigenschaften, wenn sie sich auf die verglichenen Konzepte gleichermaßen als Kontext auswirken und ihre jeweiligen Eigenschaften somit beeinflussen, z.B. der Vergleichskontext «Ausmaße», der zu den kompatiblen vergleichbaren Eigenschaften «klein» und «groß» führt. Eine Konzepteigenschaft wie «blau», die von diesem Kontext unverändert bleibt, ist innerhalb dieses Vergleichskontextes demnach nicht kompatibel.

9 | Eleanor Rosch u. a. «Basic objects in natural categories». In: Cognitive Psychology 8 (1976), S. 382–439.

Potenzial und Aktualität | 165

6.1.2 Gegenstandseigenschaften und Konzeptzuordnung Gabora, Rosch und Aerts beschreiben, welche konkreten Objekte in ihrem Versuch mit den vorgegebenen sprachlichen Konzepten assoziiert wurden. Im Interfacedesign hat man es mit der umgekehrten Assoziationsrichtung zu tun, nämlich von den konkreten vorgegebenen Gegenständen zu den sprachlichen Konzepten, die damit in Verbindung gebracht werden. Anstelle der Aktualisierung bestimmter Eigenschaften eines (sprachlichen) Konzepts aufgrund von bestimmten Kontexten hat man es mit der Aktualisierung bestimmter Konzepte aufgrund der Objekt-Eigenschaften zu tun. Die materiellen Eigenschaften der Interfaces sind vergleichsweise statisch, d.h. sie sind, wenn der Gegenstand einmal so ist wie er ist, nicht so einfach von aktuell zu potenziell und umgekehrt zu kollabieren wie die Eigenschaften von sprachlichen Konzepten. Dies gilt zumindest für die unmittelbaren Interface-Eigenschaften; die mittelbaren sind dagegen viel eher in der Lage, ihren Zustand kontextabhängig zu verändern. Die unmittelbaren Interface-Eigenschaften können als ein bestimmtes Set betrachtet werden, das ein bereits bestehendes Konzept in einem bestimmten Kontext aktualisiert hat. Die Interpreten gleichen demnach das aktualisierte Set ab mit möglichen Konzepten und Kontexten und schlussfolgern so Anwendungssituation und -zweck der Objekte. In dem Maße, wie die unmittelbaren Objekteigenschaften stabil und unveränderlich erscheinen, ist häufig auch die konzeptionelle Einordnung konstant. Die Auswahl der unmittelbaren Eigenschaften ist allerdings eine Beobachtungsleistung. Das heißt, sie kann sich verschieben, je nachdem, welche Eigenschaften von der Benutzerin für das Set «ausgewählt» werden, aufgrund derer die konzeptionelle Zuordnung in der Wahrnehmung geschieht. Eine andere Auswahl, Beschränkung und Erweiterung bedeutet andere Schlussfolgerungen für das Konzept und seinen Kontext. Theoretisch ist die Menge an möglichen Bedeutungen des Gegenstands genau so groß wie die Menge an potenziellen Eigenschaften für ein Konzept. Viele Eigenschaften sind für bestimmte Konzepte und Kontexte irrelevant, sie sind – in der Sprache der Konzeptökologie – «Eigenzustände», die keinen Einfluss auf das Konzept ausüben, oder – in Krippendorffs Begriffen – entbehrliche «Features». Sie haben allerdings das Potenzial, in einem entsprechenden Konzept und einem passenden Kontext aktiviert zu werden. Textil als Kontext «aktiviert» somit bereits Eigenschaften an der Elektronik, die sie als Konzept mit einem anderen Interface nicht hätte. Design im Gebrauch lässt sich dann in dieser Perspektive als eine Beobachtung von Eigenschaften und ihren Korrelationen charakterisieren, die den Schluss auf ungewöhnliche Konzepte und Anwendungssituationen erlaubt. In diesen Anwendungssituationen können Gegenstandseigenschaften im Gebrauch «aktualisiert» werden,

166 | Gebrauch als Design

die vorher zwar vorhanden waren, aber nur «potenziell», also durch die Anwendung nicht aktiviert gewesen sind. Wenn die Eigenschaften-Sets charakteristisch für bekannte Alltagsobjekte sind, sinken die Chancen, dass eine ungewöhnliche Nutzung mit ihnen in Verbindung gebracht wird. Das Augenmerk bei der Provokation von Umnutzung sollte deswegen von vornherein darauf liegen, diejenigen Eigenschaften zu aktivieren, die nicht charakteristisch sind. Die Gestaltung des Interface sollte dann darauf abzielen, möglichst viele ungewöhnliche Sets an Eigenschaften im Gebrauch zugänglich zu machen. Der eigentliche Gewinn, das ökologische Konzeptmodell auf Design im Gebrauch anzuwenden, besteht darin, die Aufmerksamkeit von den «Dimensionen» auf die «Features» zu verschieben, also auf das vermeintlich austauschbare Beiwerk. Ungewöhnliche Kombinationen Das ökologische Konzeptmodell hat den Vorteil, dass es alle Kombinationen und Abstufungen von Eigenschaften zulässt, die an einem Gegenstand aktualisiert werden können. Alle beobachteten Eigenschaften in einem gewählten Set treffen mehr oder weniger auf bestimmte situationsbezogene Konzept-Archetypen zu. Welche Eigenschaften ausgewählt werden, um dem Gegenstand ein Konzept zuzuordnen, ist offen. Je weniger Eigenschaften als charakteristisch identifiziert werden, desto einfacher ist der Vergleich mit anderen Konzeptkategorien. Bei der Interpretation des Undercover als «Heizdecke» wurden relativ viele Eigenschaften in Einklang mit bestehenden Konzeptkategorien gebracht, um eine Korrelation mit bekannten Exemplaren herzustellen. Die Heizdecke als bekannter Gegenstand, der ebenfalls Textil und Elektronik kombiniert, mit dem man sich wärmt und zudeckt, ist dadurch ein passender Bezugspunkt. Besonders interessant für Design im Gebrauch wird es allerdings dann, wenn für das gewählte Eigenschaften-Set kein naheliegendes Konzept assoziiert werden kann. In diesen Fällen fangen die Interpreten an, imaginäre Anwendungsszenarien zu schildern und die Sets an Eigenschaften zu revidieren. Je kleiner und ungewöhnlicher dabei das Set an beobachteten Eigenschaften gesetzt wird, desto eher kommt es zu überraschenden Vergleichen (z.B. die Charakterisierung des Undercover als «Hundefallschirm» auf S. 140). Gebrauchsvorschläge aufgrund weniger und ungewöhnlicher Merkmale in Kombination fallen deutlich improvisierter und sub-optimaler aus als solche, die aufgrund bekannter und typischer Eigenschaften-Sets assoziiert werden. Nur die für den Gebrauch notwendigen Eigenschaften werden dann einbezogen, während andere Merkmale wie die visuelle Erscheinung, der monetäre Gegenwert, oder die Stabilität des Materials beiseite gelassen werden.

Potenzial und Aktualität | 167

Je weniger ein ausgewähltes Set von Eigenschaften eines Interface mit kognitiven Konzept-Archetypen korreliert, desto einfacher ist die Umdeutung in neue Anwendungskontexte. Es hängt dann an der unmittelbaren Ausprägung eines Interface, welche Eigenschaften in der Interpretation auffallen und als Korrelation mit bekannten Konzepten in Verbindung gebracht werden. Eine ungewöhnliche Kombination an Objekteigenschaften hilft maßgeblich dabei mit, auf die einzelnen Eigenschaften aufmerksam zu werden und ihren Status als notwendig oder kontingent bewusst zu beurteilen. Wenn also die schlauchförmige Form des Shuffle Sleeve nicht sofort mit bekannten Gegenständen in Verbindung gebracht werden kann, erleichtert dies die Analyse des Gegenstands in seinen Details enorm. Dadurch kommt es wiederum zu abweichenden, ungewöhnlichen Anwendungen, weil nur wenige bekannte Handlungsoptionen direkt auf den Sleeve übertragen werden können. Elektronik als potenzieller Zustand Die unmittelbaren Eigenschaften eines Gegenstands können zwar hervorgehoben oder ignoriert werden; sie erscheinen aber gegenüber den mittelbaren elektronischen Eigenschaften als verbindlicher und statischer und damit auch entscheidender bei der Assoziation von Anwendungssituationen. Die elektronischen Eigenschaften sind weniger deutlich wahrnehmbar, und es ist für die Interpreten leichter vorstellbar, dass sie sich abhängig von der Nutzung verändern. Sie sind sehr viel stärker situationsabhängig und können als «potenzielle Zustände» vorliegen, die sich erst in einer passenden Situation als nützlich herausstellen. Prozessorientierte Interfaces als «basic level objects»? Die Frage, ob bei elektronischen Interfaces die Gestalt von «basic level objects» zu origineller Umnutzung führt, kann ich mit meiner Studie nicht beantworten. Es lässt sich allerdings mutmaßen, dass es mit taktilen Interfaces leichter möglich ist, die reichhaltigen Bedeutungen von Alltagsobjekten aufzunehmen. Solche «basic level objects» verweisen auf eine ganze Reihe von Gebrauchspraktiken, die an sich etabliert sind, für ein elektronisches Gerät aber bereits eine Funktionserweiterung bedeuten. Es ist zwar kein origineller Gebrauch, eine elektronische Decke einfach nur als Decke zu benutzen; aber es ist mehr, als ein Aufnahmegerät aus Kunststoff bieten kann. Wie dann allerdings andere taktile Interfaces, die formal eher auf einer detaillierteren Ebene des basic level eingeordnet werden, interpretiert werden, ist unklar.

168 | Gebrauch als Design

6.1.3 Zusammenfassung Die Erkenntnisse der konstruktivistischen und ökologischen Kognitionstheorie von Gabora, Aerts und Rosch lässt folgende Schlüsse für die Analyse der Interviews zu:









Konzepte werden im Kontext anderer Konzepte interpretiert, und die Kategorisierung der Interface-Prototypen geschieht deswegen immer schon unter der gegenseitigen Beeinflussung von elektronischen und textilen Materialien. Dieser gegenseitige Einfluss wird sichtbar, wenn Anwendungszusammenhänge für textile Objekte auf die elektronische Funktion übertragen werden, und umgekehrt. Originelle Deutungen kommen vor allem dort zustande, wo für die Kombination dieser beiden Konzepte kein bereits existierendes Produkt-Exemplar verfügbar ist (wie z.B. die Heizdecke). Die Auswahl der Eigenschaften, die am Gegenstand für die Zuordnung zu einem Konzept oder einer Kategorie getroffen wird, entscheidet auch darüber, welche Anwendungssituationen damit in Verbindung gebracht werden. Je kleiner das Set an Eigenschaften, desto größer die Auswahl an Gebrauchsweisen; je ungewöhnlicher die Auswahl an Eigenschaften ausfällt, desto wahrscheinlicher wird es, dass es zu originellen Deutungen kommt. Mittelbare Eigenschaften, und damit auch die elektronischen Funktionalitäten, können einerseits in großer Zahl variiert werden; andererseits wechseln sie am ehesten von einem potenziellen in einen aktuellen Zustand, wenn die Interpreten einen anderen Anwendungszusammenhang für den Prototypen vorschlagen. Elektronik bietet viele potenzielle Zustände, die sensibel auf Kontextveränderungen reagieren. Einfach strukturierte Interfaces haben vermutlich eine größere Nähe zu «basic level objects» und dadurch ein großes Repertoire an Handlungsoptionen, die damit in Verbindung gebracht werden können.

6.2 S EMIOSE Kognitionswissenschaftliche Erklärungen sind dann hilfreich, wenn es um die Interpretation von Konzeptverbindungen untereinander geht, die mit den Interfaces assoziiert werden. Wenn man die Deutungen der Interpreten noch stärker auf die Gegenstände selbst zurückführen will, sind dafür Theorien nötig, die sich der Verknüpfung von Phänomenen und Konzepten auf spezifischere Weise widmen und gleichzeitig mit

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den Auffassungen der Kognitionspsychologie kompatibel bleiben. Eine vielversprechende Vorlage hierfür liefert die pragmatistisch begründete Semiotik von Charles Sanders Peirce. Peirces Interesse galt dem Schlussfolgern und der Logik, seine semiotische Theorie stellt aber durch die pragmatistische Denkrichtung gleichzeitig eine enge Verknüpfung von kognitiven Konzepten mit Wahrnehmungen und Empfindungen her. Dadurch ist seine Theorie für kulturell orientierte Kognitionswissenschaftler, die sich mit Schlussfolgerungen und Lernverhalten beschäftigen, anschlussfähig. Außerdem bietet sie Begriffe und theoretische Konzepte, die sich sehr viel direkter auf die konkreten Gegenstände des Designs beziehen lassen. Dies liegt zum einen an dem umfassenden Begriff der Semiose, den Peirce einführt, und der sich nicht auf symbolische oder verbalsprachliche Zeichen beschränkt. Zum anderen führt Peirce den Begriff der Abduktion als Art des Schlussfolgerns ein, die anders als (wissenschaftliche) Induktion und Deduktion nicht auf streng logischen Zusammenhängen beruhe, aber die einzige Art und Weise darstelle, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Ich halte Peirces Begrifflichkeit für geeignet, um die Interpretation der Interfaces als originelle Deutung näher in Augenschein zu nehmen. Für die Interpretation der Interviews sind aus Peirces umfangreichem Werk vor allem die Idee des abduktiven Schließens und die semiotische Theorie relevant. Abduktion kann als kreativer Schritt der Hypothesengenerierung im wissenschaftlichen Schlussfolgern auch mit Design in Verbindung gebracht werden, weil es darin um Möglichkeiten (statt allein um Tatsachen und Regeln) geht. Gleichzeitig ist abduktives Schließen im Alltag allgegenwärtig, um plausible handlungsleitende Erklärungen für Sachverhalte zu finden, selbst wenn es sich dabei im Sinne einer deduktiven Logik um «falsches» Schließen handelt10 . Die alltägliche Bedeutungskonstruktion unbekannter Gegenstände sollten wir also als eine Form der Abduktion betrachten können, die ähnlich auch im Design auftritt. Peirces semiotisches System, vor allem die Dreiteilung der Zeichen-Objekt-Beziehung, ist von Designern bereits häufig verwendet worden, um die Wirkungen von Gestaltung zu beschreiben11 . Im Vergleich zu an-

10 | Andrea Smorti. «Everyday life reasoning, possible worlds and cultural processes». In: Integrative Psychological and Behavioural Science 42.2 (2008), S. 224–232. 11 | Z.B. für den Gebrauch von visuellen Metaphern bei bildschirmbasierten Interfaces (Pippin Barr, Robert Biddle und James Noble. «A semiotic model of user-interface metaphor». In: Virtual, distributed and flexible organisations: Studies in organizational semiotics. Hrsg. von Kecheng Liu. Springer Netherlands, 2004. Kap. 13, S. 189–216) oder die detaillierte Analyse von Produkten (Alvise Mattozzi. «A model for the semiotic analysis of objects». In: Design Semiotics in Use. Proceedings of the Sixth Nordcode Seminar and Workshop. Helsinki: Nordcode, 2007).

170 | Gebrauch als Design

o 1 : Ic OR

Z3: Leigsign IR 1 :R

n

: OR 2

Objekt

Z2: Sinsign

Z1: Qualisign

Zeichen

Ind

ex

: OR 3

IR 2 :D

Sy

mb

ol

he

me

icis

ign IR 3 : Ar gum ent

Interpretant

Abbildung 6.1: Die Zeichenaspekte der Erstheit, Zweitheit und Drittheit in der triadischen Beziehung zu Objekt und Interpretant. Darstellung nach Hoffmann12 .

deren semiotischen Modellen ist dasjenige von Peirce sehr differenziert und schließt ausdrücklich alle Arten von Ausprägungen und Eindrücken ein, so dass es sich leichter als andere auf nichtsprachliche (und nichtbildliche) Bereiche wie Produkt- und Interfacedesign beziehen lässt. 6.2.1 Die Peirceschen Zeichenklassen Peirce ordnet philosophische Konzepte in drei Kategorien ein, die der Erstheit oder Möglichkeit, der Zweitheit oder Aktualität, und Drittheit oder Generalität bzw. Regel. Diese Dreiteilung ist auch für sein semiotisches Zeichensystem bestimmend. Abduktion ist der Erstheit zuzurechnen und besteht als Form der Schlussfolgerung in der bloßen Möglichkeit eines Zusammenhangs. Entscheidend in der Abgrenzung von Induktion und Deduktion ist dabei die Art und Weise, mit der Erfahrungen und Regeln voneinander abhängig gemacht werden: Während bei der Deduktion aus der allgemeinen Regel Tatsachen für den Einzelfall abgeleitet werden und bei der Induktion vom Einzelfall auf die Regel geschlossen wird, wird bei der Abduktion eine hypothetische Regel aufgestellt, um einen Einzelfall sinnvoll deuten zu können. Eine solche ad-hoc-Hypothese mag plausibel sein, ist aber im Fall der Abduktion (noch) nicht logisch und empirisch abgesichert.

Potenzial und Aktualität | 171

Shank und Cunningham haben, basierend auf dem Peirceschen Kategorie- und Zeichensystem, sechs Modi des abduktiven Schlussfolgerns, drei Modi der Induktion und einen Modus der Deduktion identifiziert13 . Die sechs abduktiven Modi wurden von Chow und Jonas für das Design adaptiert mit der Absicht, den Transfer unterschiedlicher Aspekte von gestalterischen Inspirationsobjekten zu systematisieren14 . Chow und Jonas’ Interpretation lag bereits dem Design der Interfaces in meiner Studie zugrunde und bietet nun einen möglichen Ausgangspunkt, um weitere von Peirces semiotischen Konzepten für Design im Gebrauch zugänglich zu machen. Analog zu ihrer Methode habe ich die Interpreten in den Interviews gebeten, anhand des konkret vorliegenden Gegenstands Schlussfolgerungen über dessen möglichen Gebrauch und zweckmäßigen Einsatz zu machen. Ausgangspunkt der Überlegungen sind hier wie da konkrete gestaltete Dinge, die als Zeichen in einem Bedeutungsprozess agieren. Darüber hinaus entspricht Abduktion der Art des Schließens, bei der (auch im Alltag, nicht nur in der Wisssenschaft) ein sinnvolles Szenario für überraschende, weil zunächst sinnlos erscheinende, Phänomene konstruiert wird15 . Das Konstruieren eines Gebrauchszusammenhangs für ein «sinnloses» Interface könnte demnach strukturell ähnlich sein mit Ideentransfer im Design. Die sechs abduktiven Modi bei Shank bzw. Chow und Jonas beziehen sich auf die sechs Klassen an Zeichen, die sich aus der Erstheit und Zweitheit des Zeichens (oder allgemeiner: Representamen) bei Peirce ergeben. Die Grundbeziehung der Semiose bei Peirce ist die zwischen Zeichen, Objekt und Interpretant, bei der jeder Aspekt wiederum nach Erstheit, Zweitheit und Drittheit differenziert werden kann. Für die Beziehung des Zeichens zu sich selbst entspricht dies der Einteilung nach «qualisign», «sinsign» und «legisign», also des Zeichens als Qualität, als Singularität oder

12 | Michael H G Hoffmann. The 1903 Classification of Triadic Sign-Relations. 2012. URL: http://www.digitalpeirce.fee.unicamp.br/hoffmann/p-sighof.htm. 13 | Gary Shank und Donald J Cunningham. «Modeling the six modes of Peircean abduction for educational purposes». In: Proceedings of the Annual Meeting of Midwest AI and Cognitive Science Conference. Bloomington, 1996; Donald J Cunningham. «Cognition as semiosis: The role of inference». In: Theory and Psychology 8.6 (1998), S. 827–840. 14 | Rosan Chow, Wolfgang Jonas und Nadja Schäfer. «Peircean abduction, signs & design transfer». In: Design Connexity. Proceedings of the 8th European Academy of Design Conference. Aberdeen: European Academy of Design, 2009, S. 87–91. 15 | Donald J Cunningham. «Beyond educational psychology : Steps toward an educational semiotic». In: Educational Psychology Review 4.2 (1992), S. 165–194. 16 | Chow, Jonas und Schäfer, a. a. O.

172 | Gebrauch als Design

Icon

Index

Symbol

Tone (Qualisign)

Ahnung

-

-

Token (Sinsign)

Form

Hinweis, Symptom, Omen

-

Type (Legisign)

Metapher

Szenario

Prinzip

Abbildung 6.2: Die sechs Peirceschen Zeichenklassen, die sich auf Abduktion beziehen, nach der Darstellung von Chow und Jonas16 .

als Regel. Die Beziehung von Zeichen und Objekt, also die Art, wie das Zeichen das Objekt repräsentiert, ist unterteilt in «icon», «index» und «symbol», also nach Ähnlichkeit, existenzieller Abhängigkeit und Regelmäßigkeit oder Konvention. Die dritte Beziehung von Zeichen, Objekt und Interpretant ist differenziert in «rheme», «dicisign» und «argument», was einem Effekt als Attribut oder Qualität, einer wahren bzw. falschen Aussage oder Proposition und einem (sprachlichen) Argument entspricht (siehe Abb. 6.1). Die Elemente der Drittheit beinhalten dabei die der Erstheit und Zweitheit, aber nicht umgekehrt, so dass sich aus der Kombination aller Dreiteilungen zehn Klassen an Zeichen ableiten lassen, von denen sechs sich auf «rheme» und damit auf Abduktion beziehen. Diese sechs Klassen sind bei Chow und Jonas, basierend auf der Darstellung von Shank, für das Design interpretiert worden (siehe Abb. 6.2). Bei Chow und Jonas dienen die sechs abduktiven Zeichenklassen der Einordnung von Ideentransfers im Design. Sie erlauben eine differenzierte Beschreibung der Art, wie ein Attribut eines Artefakts in einem neuen Designentwurf interpretiert wird. Die erste Zeichenklasse, das ikonische Qualisign oder die «Ahnung», beschreibt das Gefühl oder die Möglichkeit eines Ideentransfers, jedoch ohne konkretes Objekt. Die beiden Zeichenklassen des Sinsign, das ikonische und das indexikalische Sinsign, beziehen sich auf konkrete Eigenschaften des Referenzobjekts, die – als Icon – einerseits auf die eigenen Gegenstandseigenschaften wie physische Form, Farbe oder Material verweisen, und andererseits – als Index – von der Designerin als Hinweise auf die Produktionsweise, den Anwendungsbereich und die potenziellen Anwender gelesen werden. Die drei Klassen des Legisign dienen der Interpretation eines Referenzgegenstands als Regel: Als ikonisches Legisign kann ein Gegenstand als Metapher, im Interfacedesign zum Beispiel als Bedienmetapher, interpretiert und trans-

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feriert werden. Als indexikalisches Legisign gibt es Hinweise auf ein Szenario oder eine Kultur; als symbolisches Legisign steht es für ein generelles Prinzip17 . Diese Übersetzung der Peirceschen Zeichenklassen in Gegenstandsaspekte, die für Design aussagekräftig sind, dient mir im weiteren Text als Bezugssystem und Hilfestellung, um andere Aspekte des Peirceschen Zeichensystems für meine Deutung heranzuziehen. 6.2.2 Interaktion als Zeichenproduktion Peirces Differenzierung der Zeichen ist logisch konstruiert und erlaubt theoretisch die Einordnung jedes Zeichens in der alltäglichen Wahrnehmung in eine der Zeichenklassen. Gleichzeitig läuft die Zeichenproduktion im Alltag bereits so dicht ab, dass sich die drei Korrelate von icon, index und symbol anhand von materiellen Gegenständen häufig nur logisch voneinander trennen lassen. Das Muster des Undercover beispielsweise kann in dichter Reihenfolge auf seinen symbolischen Verweischarakter, seine Ähnlichkeiten mit anderen Dingen sowie als Hinweis auf seine Herstellung interpretiert werden. Das «Objekt»18 besteht in demselben Attribut des Gegenstands, aber in unterschiedlicher Beziehung zum Zeichen. Mit dem Zeichensystem von Peirce lassen sich die Vorlieben der Interpreten benennen, eine bestimmte Gegenstandseigenschaft in erster Linie z.B. als symbol oder index und nicht als icon zu interpretieren. Dadurch wird auch deutlich, dass der Bezeichungsprozess von unbekannten Gegenständen selektiv abläuft und für jede Eigenschaft, die als bestimmtes Zeichen gedeutet wird, andere Deutungsmöglichkeiten potenziell vorhanden bleiben. Für bekannte Gegenstände ist diese Zeichenselektion bereits Routine, z.B. dass die rote Farbe einer Ampel symbolisch für Warnung und Gefahr steht und weniger an Blut oder Klatschmohn erinnern soll. Bei unbekannten Gegenständen ist die Auswahl der Zeichenkorrelate noch offen und unbestimmt. In Bezug auf Design-im-Gebrauch ist aufschlussreich, welche Auswahl der Zeichenkorrelate zu besonders interessanten Ergebnissen führt, und wie sie sich auf die Gestaltung zurückführen lassen.

17 | Ebd. 18 | «Objekt» ist hier im Peirceschen Sinne als Bezugspunkt für ein Zeichen gemeint, nicht als materieller Gegenstand.

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Ähnlichkeiten und Hinweise Durch die verfremdete Erscheinung der Interface-Prototypen werden Eigenschaften an den Gegenständen zeichenhaft gedeutet, die sonst im routinierten Gebrauch leicht ignoriert werden. Zum Beispiel macht die Konstruktion des Shuffle Sleeve Eigenschaften von Kleingeld (erneut) zugänglich, die für den konventionalisierten Gebrauch keine Rolle spielen, wie etwa das Gewicht und den Klang. Beim leitenden Garn trat die spezielle Haptik in den Vordergrund, die wiederum für das Stromleiten unerheblich ist. Eigenschaften, die eher einen symbolhaften Zusammenhang mit der Wirkweise der Interfaces haben, wurden gleichermaßen auf ihre Ähnlichkeiten wie auch auf ihre Qualitäten als Index geprüft. So werden die Quadrate auf der Oberfläche des Undercover als Hinweis auf die Nutzung als Spielbrett interpretiert, ergeben sich allerdings hauptsächlich aus der Konstruktion des Musters. Umgekehrt erscheint das Kleingeld als Hinweis auf Bezahlfunktionen des Shuffle Sleeve, über die das Gerät faktisch nicht verfügt. Für eine unerwartete Deutung der Interfaces ist die Interpretation von Eigenschaften als icon maßgeblich, weil sie am offensten und im Ergebnis unberechenbar ist. Über die Deutung als icon werden Bezüge zu anderen Gegenständen nur über Ähnlichkeit hergestellt, wodurch assoziative Sprünge besonders einfach sind. Die Verfremdung des Interface trägt dazu bei, seine Eigenschaften als unabhängig voneinander wahrzunehmen und dadurch stärker abweichende Bezüge herzustellen. Die (bekannte) Kombination mehrerer Eigenschaften an einem Gegenstand begünstigt dagegen die Deutung als Hinweis und damit als Index, vor allem auf bestimmte Anwendungszusammenhänge. Die Lesbarkeit von Zeichen als index beruht auf Erfahrungen und nimmt daher dort ab, wo Interpreten über den Anwendungszusammenhang wenig wissen. Dies würde dafür sprechen, dass bekannte InterfaceFormen eher zum Schließen auf Kontext und Szenario verwendet werden, und weniger über formale Ähnlichkeiten assoziiert. Besonders interessant – weil wirksam für die Umnutzung – sind solche Deutungen von Eigenschaften als «falscher» index, bei dem die gedeutete Interface-Eigenschaft mit einer Funktionsweise assoziiert wird, die faktisch nicht vorliegt (wie beim Muster des Undercover, das als elektronisch erkennbar gedeutet wird). Die Bandbreite der Deutungen als index ist für unmittelbare Eigenschaften deutlich eingeschränkter als für mittelbare Eigenschaften. Elektronische Effekte als mittelbare Eigenschaften sind Ergebnis einer wenig nachvollziehbaren Kausalkette von Abläufen und Komponenten innerhalb eines Elektrogeräts, die im Gebrauch nicht direkt zugänglich werden. Bei der Deutung der unmittelbaren Eigenschaften können sich die Interpreten zum Großteil auf ihre Alltagserfahrungen stützen. Die Verbin-

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dung von Material und Elektronik ist bei jedem einzelnen Gegenstand zwar genau so existenziell notwendig wie die Erfahrung, dass Stoff weich ist, wirkt aber dennoch austauschbar und deswegen immer symbolisch und durch Regelmäßigkeit und Konvention geprägt. Konventionen sind nicht grundsätzlich austauschbarer als existenziell notwendige Zusammenhänge; aber im Fall von Elektrogeräten lassen sich die Gegenstände als Symbol für sehr unterschiedliche elektronische Eigenschaften interpretieren. Anders verhält es sich bei den unmittelbaren Eigenschaften: Wenn das Undercover als fliegender Teppich interpretiert wird, dann nur mit dem ironischen Unterton, dass es sich um eine offensichtlich physikalisch unmögliche Deutung handelt. Anwendungsszenarien Bei der Beschreibung von icon und index im Abschnitt 6.2.1 bewegen wir uns in erster Linie noch in den zwei Zeichenklassen, die Chow und Jonas als «Form» und als «Hinweis, Symptom, Omen» bezeichnet haben und die das konkrete, singuläre Vorkommen des Gegenstands betreffen. Mit der Form des Interviews zur Interpretation der Prototypen ist aber immer auch schon die Verbindung der Gegenstände mit kognitiven und sprachlichen Konzepten verbunden und damit die regelmäßige und konventionelle Bezeichnung. Diese Art der Zeichenproduktion entspricht bei Peirce dem «legisign», dem Zeichenkorrelat der Drittheit, weil die Zuschreibung zu einem sprachlichen Begriff den Gegenstand als Instanz einer Regel zuordnet. Die drei abduktiven Zeichenklassen des legisign können dann als Metapher oder Analogie, als Szenario, oder als Prinzip beschrieben werden19 . Das Symbol als regelgeprägter Zusammenhang von Zeichen und Objekt kann daher als Klasse nur mit dem legisign, dem Korrelat des Zeichens als Regel, kombiniert werden. In den Interviews kommt die Anwendung nicht als konkreter Gebrauch, sondern in Form von sprachlich beschriebenen verallgemeinerten Anwendungsszenarien vor. Interessante Abweichungen sind dort zu beobachten, wo die Gegenstandseigenschaften zuvor in einem Zeichenaspekt entgegen routinierter Deutungen interpretiert wurden: Wenn z.B. die Streifen des Shuffle Sleeve nicht als Schal-Muster, sondern als Einteilungen auf einer Skala gedeutet werden, wird dadurch eine Ähnlichkeit zu Messgeräten hergestellt, die auf neue Anwendungssituationen verweist. Die Interpretation eines Icon als Index oder umgekehrt lässt also neue Gebrauchszusammenhänge aufscheinen (siehe Abb. 6.3)

19 | Chow und Jonas, a. a. O.

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gestrickt, gestreift, weich bekanntes Icon: Fußballschal

Szenario: Überwachung von Hooligans im Stadion

rund, grau, hohl von Innen abweichendes Icon: Fahrradmantel

Metapher: am Reifen festbinden, dreht sich mit

hohl von Innen, mit Geld gefüllt bekannter Index: Portemonnaie

Szenario: Diebstahlsicherung auf Reisen

zum Umhängen, mit Unterteilungen, schwer abweichender Index: variables Gewicht

Szenario: Waage

Abbildung 6.3: Vier Beispiele zu bekannten und abweichenden Zeicheninterpretationen und den daraus resultierenden Anwendungsszenarien beim Shuffle Sleeve.

Bedienmetaphern Deutlich seltener als die gewollte und ermutigte Einbettung der Prototypen in konkreten Gebrauchssituationen war ihre Deutung als Analogien oder Metaphern. Für das Interfacedesign ist diese Art der Deutung wichtig, weil darin eine narrative Entsprechung von elektronischer Funktionalität und materieller Erscheinung hergestellt werden soll. Diese Verbindung von Erscheinung und Effekten wird im Interfacedesign häufig als «Mapping» bezeichnet. In der Vergangenheit wurde mit Bedienanalogien und «Interface-Metaphern»20 der Versuch gemacht, so etwas wie narrativ logische – und dadurch zuverlässig interpretierbare – Mappings zu entwickeln. Eine metaphorische Interpretation der Interfaces war bezogen auf die hier untersuchten Prototypen allerdings vor allem dann möglich, wenn die Interpreten Abweichungen bei den unmittelbaren und mittelbaren Eigenschaften zugleich assoziierten,

20 | Dieser Begriff ist sehr vage und weit gefasst, wird aber von Designern als die Bemühung verstanden, das Interface in Form eines erklärenden narrativen Modells zu präsentieren. Siehe Alan F Blackwell. «The reification of metaphor as a design tool». In: Transactions on Computer-Human Interaction 13.4 (2006), S. 490–530.

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was nicht sehr häufig vorkam. In einigen Fällen nannten die Interpreten strukturelle Ähnlichkeiten der Interfaces mit Mechanismen, die assoziativ recht weit entfernt waren, wenn z.B. ein Interpret die leicht lösbaren Verbindungen des Undercover als eine Art Alarm-Mechanismus beschrieb, oder ein anderer den Prozess des Zusammenlegens von Textil mit dem Komprimieren von Daten verglich. Solche Abstraktionen von den Anwendungssituationen, die sich sowohl von der vorhandenen Erscheinung als auch von der vorliegenden elektronischen Funktion entfernten, waren allerdings alles andere als naheliegend. 6.2.3 Abduktion, Induktion, Deduktion Die abweichende Zeicheninterpretation an bekannten Gegenständen hing in den Interviews häufig ab von der Bereitschaft, sich auf ein solches Gedankenspiel überhaupt erst einzulassen. Die Interpretation war dabei immer eine Mischung aus tatsächlichem Erkennen und Schlussfolgern sowie der Suche nach originellen Anwendungsmöglichkeiten. Deswegen ist es an dieser Stelle hilfreich, diejenigen vier Zeichenklassen kurz einzubeziehen, die Chow und Jonas in ihrem Modell nicht thematisieren, weil sie sich nicht auf Abduktion, sondern auf Induktion und Deduktion beziehen. Dort, wo das Alltagswissen ausreicht, um zutreffende Schlussfolgerungen über die unbekannten Gegenstände zu treffen, haben wir es eher mit induktivem und deduktivem Schlussfolgern zu tun. Dies ist dann der Fall, wenn keine ad-hoc-Erklärungen notwendig sind, um das Interface befriedigend deuten zu können, und stattdessen bekannte, regelmäßig auftretende Sachverhalte hinzugezogen werden können. Die Zeichenklassen von Induktion und Deduktion beziehen sich nicht auf die Erstheit der Zeichen-Interpretant-Beziehung, das «rheme», sondern auf «dicent» (wahre oder falsche Aussagen oder einzelne Propositionen) bzw. «argument» (zusammenhängende Propositionen als Argument)21 . Der Unterschied, ob in den Interviews eher abduktiv oder induktiv und deduktiv argumentiert wurde, kann an dem Ausmaß liegen, in dem existierende Gebrauchsweisen sich als Erklärungsmuster für den jeweiligen Gegenstand anbieten. Die routinierte Handlungspraxis des Alltags nimmt den Stellenwert von Regeln ein, für die

21 | Diese Formulierung bezieht sich auf die Zeichen-Interpretant-Beziehung in Form intellektueller Konzepte. Peirce hat sich jedoch auch um eine verallgemeinerte Form der semiotischen Begriffe bemüht, die auf nichtsprachliche und nicht-kognitive Semiose anwendbar ist, im Fall des Interpretanten bezeichnet als «seme», «pheme» und «delome», siehe Cary W Spinks. Peirce and triadomania: A walk in the semiotic wilderness. Berlin u.a.: Mouton de Gruyter, 1991, S. 175.

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das Interface als Zeichen fungieren kann. In diesen Fällen geht es nicht um mögliche Handlungen, sondern solche, die mit dem konkreten Objekt tatsächlich vollzogen werden können, bzw. die konventionell damit vollzogen werden. Diese Deutungen zielen darauf ab, aufgrund eigener Erfahrungen realistisch zutreffende Kontexte für den Gegenstand zu identifizieren, also den wahren Charakter des Gegenstands herauszufinden (was in einigen Fällen ja auch gelungen ist) oder darüber hinaus seinen etablierten Gebrauch als Vertreter einer Produktklasse zu erinnern. Je mehr ein neues Interface kohärente Eigenschaften aufweist, desto weniger erscheint es abduktives Denken zu erfordern, und desto naheliegender ist die Auswirkung der Zeichen in Form von Propositionen und Argumenten. 6.2.4 Die «Grundlage» der Zeichenproduktion In den Interviews waren abweichende ikonische und falsche (im Sinne von nicht zutreffende) indexikalische Deutungen hilfreich dabei, abweichende Gebrauchssituationen zu assoziieren. Die Interface-Prototypen dienen demnach auch als Grundlage für eine vorläufige Deutung, die nicht ihrer Funktionsweise entspricht. In den Gedankenexperimenten des Interviews ist diese Deutung möglich, im tatsächlichen Gebrauch dagegen nicht. Um die Auswirkungen unterschiedlicher Formen der Deutung in der Umnutzung zu verstehen, müssen wir einen Blick auf die Peirceschen Korrelate des Objekts und des Interpreten werfen. Dabei geht es um die Grenzen der sprachlichen Interpretation in Bezug auf die Umnutzung, und die Grenzen der Umnutzung auf Basis eines konkret vorhandenen Gegenstands. Die Dreiteilung, die Peirce anhand des Zeichens und seiner Relationen durchführt, findet sich auch bei Objekt und Interpretant wieder. Für den Interpretanten führt Peirce zwei Triaden ein22 : Eine, um den Effekt eines Zeichens als Interpretant zu beschreiben, die andere, um die Beziehung zu Zeichen und Objekt zu differenzieren.

22 | Die Beziehung beider Dreiteilungen scheint in Peirces Schriften weniger präzise ausformuliert als die Zeichenklassen und führt unter Peirce-Forschern teils zu sehr unterschiedlichen Interpretationen, z.B. von Spinks (ebd., S. 134), Short (Thomas Lloyd Short. Peirce’s theory of signs. Cambridge [u.a.]: Cambridge University Press, 2007, S. 200 ff.) und Liszka (James Jakob Liszka. «Peirce’s interpretant». In: Transactions of the Charles Sanders Peirce Society 26.1 [1990], S. 17–62, hier S. 21). Ich halte mich an Shorts Version, da sie sich am besten auf Interfacedesign beziehen lässt.

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Reden und Handeln: Logischer und energetischer Interpretant Anhand der ersten Triade lässt sich der Unterschied von singulärer Handlung und Handlungsgewohnheit oder kognitivem Konzept als Effekt einer Semiose darstellen. Peirce differenziert hier den emotionalen, den energetischen und den logischen Interpretanten. Konkrete Gebrauchshandlungen, die an einem Gegenstand durchgeführt werden, entsprächen demnach dem energetischen Interpretanten; Konzepte oder auch Gewohnheiten, mit denen der Gegenstand in Verbindung gebracht wird, sind logische Interpretanten. Die zweite Triade beschreibt die Beziehung zu Zeichen und Objekt und differenziert den Interpretanten in den unmittelbaren, dynamischen und finalen Interpretanten. Diese Unterteilung wird von Short in Zusammenhang gebracht mit dem Zweck der Zeichendeutung und der Grundlage, auf der Zeichen gedeutet werden. Den unmittelbaren Interpretanten charakterisiert Short als die bloße Möglichkeit, dass ein Zeichen einen Interpretanten hervorbringt; er entspricht dem Korrelat der Erstheit. Im dynamischen Interpretanten finden wir eine dieser Möglichkeiten realisiert, weil er eine tatsächliche Deutung des Zeichens in einem Interpretanten darstellt. Dies entspricht dem Korrelat der Zweitheit. Der finale Interpretant als Korrelat der Drittheit steht für die Art und Weise, wie ein Zeichen interpretiert werden soll, und kann sich mit dem dynamischen Interpretanten decken oder sich von ihm unterscheiden. Ob die Deutung eines Zeichens also zutreffend oder richtig ist, hängt davon ab, ob der dynamische Interpretant auch der finale ist. Die Unterscheidung von energetischem Interpretant und logischem Interpretanten ist kritisch, wenn es darum geht, die Assoziationen der Interviews auf die tatsächliche Umnutzung von Interfaces zu beziehen. Es ist sehr viel einfacher, auf sprachlicher Ebene Konzepte mit einem Gegenstand in Verbindung zu bringen, wenn dieser die Funktion nicht tatsächlich vorweisen muss. Elektronische mittelbare Eigenschaften können leicht assoziiert und variiert, aber in manchen Fällen gar nicht real an einem Gegenstand implementiert werden, wie z.B. die Verwendung des Undercover als MRT-Gerät. Design-im-Gebrauch kann aber letztlich nur auf Handlungsvorschlägen basieren, die eine Grundlage in den existenziellen Bedingungen des Gegenstands haben. In seinen elektronischen Funktionen ist dann eine unerwartete Umnutzung eines Gegenstands kaum möglich. Nun umfasst der logische Interpretant neben sprachlichen Konzepten auch Handlungsgewohnheiten und erlaubt damit die Unterscheidung eines einzelnen, konkreten Gebrauchsprozesses (im energetischen Interpretanten) und des wiederkehrenden oder verallgemeinerten Gebrauchs. Damit erinnert das Konzept wiederum an die «Indexikalität», die Suchman als ein unüberwindbares Hindernis bei der regelbasierten For-

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malisierung von Prozessen beschreibt23 . Diese Perspektive auf den Gebrauch elektronischer Gegenstände steht wiederum im Einklang mit der kognitionspsychologischen Sichtweise, mit der Rosch et. al. die Kontextabhängigkeit von kognitiven Konzepten beschreiben. Was in den Interviews als Handlungsroutine erinnert wird, ist als Konzept etwas vollkommen anderes als das singuläre Ausführen einer solchen Handlung; entsprechend unberechenbar ist der Unterschied zwischen den Eigenschaften, die mit einer Gebrauchsweise als Konzept verbunden werden, und denen, die beim tatsächlichen Gebrauch in den Vordergrund treten. Letzterer erfordert wahrscheinlich sehr viel mehr unberechenbare Abweichungen als in der reinen Vorstellung. Erst der tatsächliche Gebrauch kann diese Abweichungen hervorrufen; er ist aber auch auf real vorhandene Funktionen und Features des Gegenstands beschränkt. Der tut nichts: Dynamischer und finaler Interpretant Was die Unterteilung in dynamischen und finalen Interpretanten angeht, so ist sie ebenfalls vor allem für den tatsächlichen Funktionsumfang eines Interface kritisch. Ein elektronischer Effekt tritt schlicht nicht ein, wenn man nicht das Interface als Zeichen im Sinne des Konstrukteurs interpretiert. Der finale Interpretant eines Interface als Zeichen ist insofern immer der, durch den eine elektronische Funktion hervorgerufen wird. Ohne diese Grundlage zwischen Zeichen und Objekt passiert dagegen nichts. Die «Basis» des Interpretanten ist bei Peirce gekoppelt an den Zweck oder die Absicht, mit der ein Zeichen interpretiert wird. Soll ein Interface im Sinne des Erfinders genutzt werden, muss sich dessen Zweckvorstellung mit der des Benutzers decken, das heißt, es kommt zu beabsichtigter Nutzung. Unterscheidet sich die Basis des Benutzers von der des Designers, kommt es zu einer eigenen und unabhängigen Zeichenproduktion: Der Benutzer verwendet den Gegenstand für einen anderen Zweck als den vorgesehenen, ohne dass dieser Unterschied ihm unbedingt bewusst sein muss. Variationen in der Basis stellen eine Verschiebung der Form dar, die auf dem gleichen Gegenstand und sogar auf der gleichen Eigenschaft basieren können. Der finale Interpretant ist dann abhängig von der Handlungsabsicht des Benutzers, nicht von der Designabsicht. Gleichzeitig macht das Auseinanderfallen von energetischem und logischem Interpretant deutlich, warum diese Art der Aneignung sich ohne Eingriff in die Materie vor allem auf die unmittelbaren Eigenschaften beziehen kann: Elektronische Interfaces werden nur dann nicht als falsche oder missverständliche Zeichen interpretiert,

23 | Suchman, a. a. O., S. 77-80, S. 176.

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wenn bei der Umnutzung ihre elektronischen Eigenschaften keine Rolle spielen. Die Umnutzung aufgrund unmittelbarer Eigenschaften ist leichter zugänglich, zugleich aber stärker in existierenden Handlungsroutinen verankert. Originelle Umdeutungen von Interfaces kommen jedoch weniger über deren etablierte Anwendungen als über ungewöhnliche Ähnlichkeiten zustande. Diese beiden Aspekte der Grundlage von Interaktion als Zeichenproduktion machen deutlich, dass abweichende Deutungen im Gespräch und im Gebrauch wiederum zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen dürften. 6.2.5 Zusammenfassung Peirces semiotische Konzepte lassen im Hinblick auf Design-im-Gebrauch und die Auswertung der Interviews folgende Schlüsse zu: •







Jeder Aspekt an jedem Gegenstand lässt Deutungen als icon, index und symbol zu; für gewöhnlich gibt es aber routinisierte Deutungen von Gegenstandseigenschaften, bei denen ein Zeichenaspekt bevorzugt wird und die anderen vernachlässigt. Originelle Deutungen entstehen, wenn einer der vernachlässigten Zeichenaspekte gewählt wird. Besonders wirksam für die Umnutzung ist die Deutung von Eigenschaften als icon, im Kontrast zu Deutungen als index, die einen bekannten Herstellungs- und Gebrauchszusammenhang thematisieren und häufig nah an bestehenden Deutungen bleiben. Falsche indexikalische Deutungen zu Herstellung und Gebrauch, die auf das Interface nicht zutreffen, führen ebenfalls zu originellen Abweichungen. Die Gegenstände werden häufig als Hinweise für Anwendungsszenarien (d.h.: auch nicht unbedingt als Hinweise auf die Herstellung) gedeutet, unabhängig davon, welcher Zeichenaspekt als bedeutsam ausgewählt wird. Die Deutung der Interfaces als Analogie und Metapher ist selten. Gegenstände, die kohärente Eigenschaften aufweisen und korrekt indexikalisch gedeutet werden, provozieren eher Induktion und Deduktion und weniger Abduktion als Art der Schlussfolgerung, so dass es in der Regel nur zu bekannten Assoziationen kommt. Bei elektronischen Interfaces ist die intendierte Nutzung der elektronischen Funktionalität häufig die einzig mögliche, weil nur dann der Benutzer das Interface so interpretiert, dass tatsächlich auch etwas damit passiert. Abweichungen, die ohne Eingriff in die Materie auskommen sollen, sind dann vor allem möglich, wenn man die unmittelbaren Eigenschaften des Gegenstands umdeutet.

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6.3 N ETZWERKE Um weiter analysieren zu können, inwiefern Assoziationen mit einem materiellen Gegenstand von Deutungs- und Handlungsgewohnheiten abweichen können, ziehe ich eine weitere Perspektive hinzu, die semiotische Begrifflichkeiten für soziale und kulturelle Sachverhalte eingeführt hat, nämlich die der materiellen Semiotik und Akteurs-Netzwerk-Theorie (ANT). Die Relevanz der ANT für Design begründet sich zum einen durch den netzwerkhaften Verweischarakter, der materiellen Gegenständen darin zugeschrieben wird. Zum anderen ist damit die Vorstellung verbunden, dass soziale – vor allem politische – Einflussnahme über eine Verkettung inter-semiotischer Übersetzungen aufrechterhalten werden kann. Das entspricht der Vorstellung, dass ein verbal geäußerter Befehl durch eine entsprechende materielle Struktur, z.B. ein Warnschild oder ein Vorhängeschloss, ähnlich effektiv ersetzt werden kann: Ein menschlicher Akteur wird in solchen Fällen durch einen gegenständlichen Aktanten ausgetauscht, der ihn in seiner Handlungsautorität repräsentiert. Damit verbunden ist auch der Gedanke, dass es bei den Netzwerken von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren und Aktanten auch zu einer Delegation menschlicher Kompetenzen (nicht nur Autorität) an die materiellen Aktanten kommen kann. Der materielle Gegenstand repräsentiert in dieser Perspektive vor allem auch die politischen Handlungsintentionen seines Erfinders, die in Form eines «Skripts» mehr oder weniger bewusst in die materielle Struktur eingeschrieben sind. Der Nutzer hat bis zu einem gewissen Grad die Freiheit, sich diesen Vorgaben zu widersetzen, so dass der Akteur, dessen Skript in dieser Weise ignoriert wird, mehr menschliche oder nichtmenschliche Alliierte hinter sich scharen muss, um seine Autorität zu stützen. Ein materieller Gegenstand kann in diesem Sinne als eine Art Zeichenansammlung für ein Nutzungsszenario betrachtet werden; sein Skript entspricht dann dem finalen Interpretanten des Gestalters. Die ANT bietet damit eine Reihe von Konzepten an, die für die Interpretation der Interviews hilfreich sind. Erstens thematisieren empirische Studien in materieller Semiotik sehr plastisch, wo die Grenze von Form und Kontext konkret verlaufen kann, und wie viel weiter als erwartet sie möglicherweise ausfällt. Zweitens erlaubt sie einen Blick auf die materiellen Anordnungen und die damit verbundenen Übersetzungen, die an elektronischen Interfaces für eine Zeicheninterpretation notwendig sind, und geben Aufschlüsse auf die Natur mittelbarer und unmittelbarer InterfaceEigenschaften für die Umdeutung. Drittens erlaubt uns das Konzept der Delegation von Kompetenzen Spekulationen darüber, wie das Verhältnis von menschlicher und materieller Kompetenz bei erfolgreicher Umdeutung gelagert sein könnte.

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6.3.1 Die Unersetzbarkeit des konkreten Dings Das Bild der «materiellen Semiotik» in der ANT dient dazu, soziale Einflussnahme nicht nur zwischen menschlichen Akteuren zu beschreiben, sondern ihre Vermittlungen durch materielle Gegenstände einzubeziehen. Dementsprechend erhellen empirische Beispiele auch, wie Interaktionen vom partikulären Aufbau eines technischen Gegenstands abhängig sein können. Ein Austausch solcher Gegenstände gegen andere, die zwar eine ähnliche Funktion, aber eine andere materielle Ausprägung haben, ermöglicht nicht dieselben sozialen Handlungen24 . Die Abgrenzung einer Form für einen bestimmten Zweck endet demnach nicht bei der bloßen technischen Funktion des Gegenstands, sondern bezieht Details im Umgang und – je nach Benutzergruppe – formalästhetische Erwägungen mit ein. Welche Merkmale eines Gegenstands für den Gebrauch in einer konkreten Situation notwendig sind, lässt sich allerdings erst entscheiden, wenn ein Ersatz diese Merkmale nicht mehr aufweist. Diese Beschreibung zeigt auch, wie Produkteigenschaften, die vermeintlich beliebig sind, sich als essentiell herausstellen können. Das «Netzwerk» aus Handlungen und anderen Gegenständen, in das ein Ding eingebunden ist, beruht im semiotischen Sinne auf einer Deutung des Gegenstands als Zeichen, das durch Handlungsroutinen normiert ist. Eine Netzwerkanalyse gibt uns also Aufschluss über die finale, gewohnheitsmäßige Interpretation des Zwecks, zu dem der Gegenstand eingesetzt wird; sie lässt uns auch – indirekt – erfahren, auf welcher Basis diese Interpretation stattfindet. Je mehr das Netzwerk auf eine ganz bestimmte Ausprägung des Gegenstands als Basis angewiesen ist, desto schwieriger wird es, ihn zu ersetzen. Andersherum erscheint es sinnvoll, dass Gegenstände mit einer ganz ähnlichen Ausprägung Rückschlüsse auf ähnliche Assoziationen zu einem Netzwerk erlauben. Ein bekannter Gegenstand als Netzwerk stellt eine konventionelle Grenze von Form und Kontext dar. Eine Mütze sollte aus Wolle sein, sie braucht einen Kopf, auf den sie passt, und kaltes Wetter, vor dem sie schützt. Dies sagt noch nicht viel über potenziell andere Form-Kontext-Unterscheidungen, die auf dem gleichen materiellen Gegenstand beruhen können.

24 | Ein bekanntes Beispiel liefert Akrich mit dem Vergleich eines photoelektrischen Beleuchtungssets mit den benzingetriebenen Generatoren, deren Rolle sie erfüllen sollen. Während die Generatoren es einfach machen, die Kosten ihrer Nutzung durch den Treibstoffverbrauch zu beziffern, ist diese Art von Kostenumlage bei den solargetriebenen Beleuchtungssets nicht möglich. Siehe Madeleine Akrich. «The de-scription of technical objects». In: Shaping technology/Building society. Studies in sociotechnical change. Hrsg. von Wiebe E Bijker und John Law. Cambridge: MIT Press, 1992. Kap. 7, S. 205–224, hier S. 212-213.

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Bei der Deutung der Interfaces lässt sich daher eine Art Netzwerksog beobachten, der Gegenstände umso mehr in bekannte Form-Kontext-Unterscheidungen hineinzieht, je mehr sie vorhandene Assoziationen bedienen. Um neue Handlungspraktiken und Anwendungszusammenhänge zu erkunden, sind etablierte Netzwerke eher hinderlich. Neue Deutungen sind daher vermutlich eher nicht in bestehenden Netzwerken und Nutzungssituationen zu finden, weil sie es erschweren, Assoziationen aufgrund einer anderen Basis herzustellen. Die Wavecap ist ein Beispiel für einen Gegenstand, dessen einzelne Eigenschaften bereits auf so konventionelle Weise ineinandergreifen, dass Abweichungen von vorhandenen Netzwerkstrukturen erschwert werden. Für die kontextabhängige oder -unabhängige Gestaltung von Interfaces führt dies zu der umgekehrten Interpretation, dass kontextabhängige Gestaltung mehr Unabhängigkeit für die Deutung des Gegenstands herstellt. Dies mag im Fall des Shuffle Sleeve eine Eigentümlichkeit des gewählten Kontextes sein. Die Konstruktion des Sleeve stellt als solche schon eine Assoziation von Geld und Elektronik her, die den vorhandenen Netzwerken nicht entspricht. Sie erleichtert es möglicherweise so den Interpreten, entgegen der bekannten Assoziationen auch andere Eigenschaften des Interface als Basis für die Interpretation hinzuzuziehen. Im Kontrast dazu gibt es bei der kontextunabhängigen Gestaltung nicht den Anpassungsdruck, den die Einbeziehung des Kleingelds beim Shuffle Sleeve für die formale Gestaltung ausübt. Dadurch ist das Risiko größer, konventionelle Netzwerk-Assoziationen zu reproduzieren. 6.3.2 Die Vertrautheit des Unmittelbaren Entscheidend für das Hineingezogenwerden in bestehende Netzwerkstrukturen ist vor allem die materielle Ausprägung der unmittelbaren Eigenschaften. Um dies besser zu verstehen, ist der Begriff der Übersetzung, wie er in der ANT verwendet wird, hilfreich. Demnach ist jedes elektronische Interface ein Beispiel für die Übersetzung von menschlichen Handlungen in elektrische Impulse und zurück in menschlich wahrnehmbare Phänomene. Dass die Elektronik den menschlich wahrnehmbaren Maßstab verlässt, ist eine Voraussetzung dafür, dass sie als Inhalt einer «black box» mit allerhand materiellen Ausprägungen assoziiert werden kann. Elektronische Eigenschaften eines Gegenstands, die ich als mittelbar bezeichnet habe, erfordern mehr Übersetzung in unterschiedliche Ein- und Auswirkungen als die unmittelbaren Eigenschaften (und dies ist ihr eigentlicher, vor allem gradueller Unterschied). Bei prozess- und strukturorientierten Interfaces sind die materiellen Strukturen, die bestimmte Eigenschaften aufweisen, über das Interface unterschiedlich gut zugänglich. Prozessorientiertes Design verschiebt die Eigenschaften auf die mittelbare Ebene, und dies könnte als Ur-

Potenzial und Aktualität | 185

sache dafür interpretiert werden, warum es mehr abweichende Assoziationen zulässt. Das Verschieben von Objekteigenschaften von der unmittelbar wahrnehmbaren auf die mittelbar wahrnehmbare Ebene lässt die Eigenschaften als Ereignisse erscheinen, die erst in der Performance des Gegenstands deutlich werden, und weniger als fest strukturierte Bestandteile. Dadurch lassen sie sich – zumindest imaginär – leichter variieren. 6.3.3 Kognitive Kompetenzen Mit der Verschiebung von der unmittelbaren auf die mittelbare Ebene geht eine Delegation der Kompetenz vom Interface weg auf den Computer und die menschliche Kognition einher. Diese Delegation ist bei prozessorientierten Interfaces stärker als bei strukturorientierten: Letztere lassen durch ihre materiellen Beschränkungen weniger Handlungs- und Deutungsspielraum. Prozessorientierte Interfaces ermöglichen es dagegen, die Komplexität der Interaktion stärker auf den Softwarecode zu verschieben, und erlauben durch eine weniger strukturierte Oberfläche mehr Abweichungen im Gebrauch. Andererseits erfordern sie auf diese Weise mehr Handlungswissen vom menschlichen Nutzer, und entsprechend fähige Software, um komplexe Handlungsabläufe identifizieren und unterscheiden zu können. Die Komplexität zeigt, anders als bei der Strukturorientierung, zu beiden Seiten vom eigentlichen Interface weg. Für Design-im-Gebrauch ist auch deswegen eine Kompetenzverschiebung weg vom unmittelbaren Material und hin zu digitaler Intelligenz und kompetentem menschlichen Verhalten Voraussetzung. Die digitale Intelligenz kann dabei nur das abdecken, was zuvor im Design antizipiert wurde; die menschliche Kompetenz kann in einem Gegenstand die Basis für unterschiedliche zweckmäßige Anwendungen identifizieren und sie als Handlung aktualisieren. 6.3.4 Zusammenfassung Die Perspektive der Akteurs-Netzwerk-Theorie lässt sich folgendermaßen auf Designim-Gebrauch beziehen: •

Kohärente Eigenschaften eines Gegenstands sorgen für einen Netzwerksog, der dazu führt, dass der Gegenstand in erster Linie in bekannten Anwendungssituationen verortet wird. Im Umfeld des etablierten Netzwerks werden Abweichungen als Unzulänglichkeiten interpretiert. Das Netzwerk stabilisiert existierende Gegenstände, weil deren kritische Eigenschaften erst beim Versuch sichtbar werden, sie durch funktionale Äquivalente zu ersetzen.

186 | Gebrauch als Design





Das Ausmaß, in dem eine Eigenschaft eines Gegenstands vermittelt werden muss, beeinflusst, ob sie als verbindliche materielle Eigenschaft oder als flüchtiges Ereignis wahrgenommen wird. Unmittelbare Eigenschaften erfordern weniger Vermittlung und wirken sich verbindlicher auf die Wahl möglicher Anwendungssituationen aus. Mittelbare Eigenschaften erscheinen austauschbarer. Die Kompetenzverschiebung von menschlichen Akteuren hin zu dinglichen Aktanten vermindert die kognitive Last, erfordert aber, dass man sich auf antizipierbare Abläufe festlegt. Eine Maschine kann komplizierte Prozesse reproduzieren und auf unterschiedliche menschliche Handlungsweisen reagieren; dies gilt jedoch nur, wenn diese in der Programmierung antizipiert wurden. Die Kompetenzverschiebung auf den menschlichen Akteur erfordert mehr kognitive Ressourcen vom Benutzer, wie etwa das Erinnern von Abläufen. Sie bringt aber auch mehr Entscheidungsfreiheit mit sich, weil der menschliche Akteur sehr viel einfacher in der Lage ist, seine Handlungen auf unerwartete Weise zu variieren.

6.4 F ORMVERSCHIEBUNGEN

BEOBACHTEN

In Kapitel 3 habe ich vorgeschlagen, dass sich Design-im-Gebrauch (oder instrumentelle Aneignung) als das Beobachten unerwarteter Formen in bekannten Gegenständen beschreiben lässt, oder auch als eine Verschiebung der Form im gleichen Gegenstand. Diese Art von Design-Variation beruht auf der (mehr oder weniger gezielten) Aktualisierung von potenziellen Bedeutungen, die sich an der partikulären Ausprägung eines Gegenstands ausmachen lassen – oder anders gesagt, an der Deutung von Eigenschaften als zweckmäßig, die für den gestalteten Zweck unerheblich sind. Diese Charakterisierung erlaubt nun eine feinere Abstufung der Originalität von Design-im-Gebrauch. In einer strengen Lesart haben wir es vor allem dann mit Design zu tun, wenn man eine deutliche Formverschiebung im Gebrauch erkennen kann. Dadurch würden viele alltägliche Umnutzungen ausgeschlossen, die situative Implementierungen des Gebrauchs darstellen, den Gebrauch aber nicht deutlich variieren. In vielen solcher Fälle werden die Dinge für das benutzt, wofür man sie kennt: Das Wasserglas wird immer noch befüllt, wenn auch mit Stiften; der Stuhl trägt immer noch, wenn auch Jacken und Bücher. Bei anderen Beispielen verschiebt sich ganz offensichtlich die Form (etwa bei der Flasche, die zum Teigausrollen benutzt wird), sie sind allerdings häufig auch schon als Handlungspraxis mit dem Gegenstand gewohnheitsmäßig verbunden. Das heißt, ihre Umnutzung wird zwar nur durch die Handlung aufrechterhalten; die Entwicklung der Handlungsroutine selbst als Idee und Variation

Potenzial und Aktualität | 187

notwendige und

kontingente Eigenschaften ungewöhnliche Kombination erlaubt Abweichungen im

Gebrauch

und

Gegenstand

ungewöhnlicheKombination schafft Unklarheit über

ergeben

Form

verfügt über

verweist auf

Zweck

erlaubt die Unterscheidung in

Abbildung 6.4: Rückwirkung der irritierenden Gestaltung auf die Umdeutung im Gebrauch. liegt jedoch zeitlich schon länger zurück, die Umnutzung ist Teil der Gebrauchskultur geworden. In den Grundzügen bleibt die Abstufung der Umnutzung nur eine graduelle Unterscheidung. Doch welche materiellen Ausprägungen eines Gegenstands erleichtern nun die unerwartete Aktualisierung von potenziellen Nutzungen im Gebrauch? Mit anderen Worten, welche Rückschlüsse lassen die abweichenden Interpretationen für die Fragen nach Gebrauch und Zweck, Prozess und Struktur, sowie Situationsabhängigkeit zu? Die Lage ist kompliziert, aber ich schlage folgende Deutung vor: Verfremdungseffekt. Je unerwarteter die Ausprägung eines Gegenstands für einen bestimmten Zweck ist, desto mehr Potenzial hat er, dass kontingente Eigenschaften für einen Zweck als notwendige Eigenschaften für einen anderen Zweck gedeutet werden können. Die eindeutige Kategorisierung aufgrund der unmittelbaren Erscheinung fällt dann schwerer. Unerwartete Gestaltung begünstigt, dass ein Gegenstand über seine Ähnlichkeit mit anderen Gegenständen assoziiert wird, anstatt

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als Hinweis auf einen bestehenden konventionellen Anwendungskontext interpretiert zu werden, und vermindert den Netzwerksog und damit die Festlegung auf bestehende Netzwerke an Dingen und Praktiken. Ungewöhnliche Materialkombinationen als Verfremdungsstrategie stellen einen gegenseitigen Deutungskontext her, der zu produktiven abweichenden Deutungen führen kann. Prozessorientierung. Prozessorientierung (und damit auch Orientierung an mittelbaren Eigenschaften) hat zur Folge, dass derselbe Gegenstand aufgrund von prototypischen Konzeptzuordnungen und abweichenden Handlungsweisen insgesamt mehr potenzielle Zustände hat. So erlaubt das Undercover die Zuordnung zu diversen Konzept-Archetypen wie Teppich, Vorhang, Umhang oder Bettlaken, die alle eine ähnlich schwach strukturierte Oberfläche haben, aber unterschiedliche Handlungsweisen erfordern wie z.B. Aufhängen, Hinlegen, Einwickeln und dergleichen. Die Assoziation beruht jedoch auf einem sehr ähnlichen Set von Eigenschaften, die als notwendig interpretiert werden. Prozessorientiert gestaltete Gegenstände haben mehr Potenzial, um in ähnlichen Situationen auf unterschiedliche Weise gebraucht zu werden. Prozessorientierte Gestaltung stabilisiert vorhandene Anwendungskontexte und erlaubt Variation in den Gebrauchsweisen. Sie bietet sich dort an, wo das gleiche Interface für unterschiedliche mittelbare Eigenschaften zugänglich sein soll. Strukturorientierung. Strukturorientierung (und damit Orientierung an unmittelbaren Eigenschaften) bewirkt, dass derselbe Gegenstand aufgrund unterschiedlicher Konzeptzuordnungen und prototypischer Handlungsweisen insgesamt mehr potenzielle Zustände hat. Der Shuffle Sleeve wird demnach mit unterschiedlichen Produktgruppen in Verbindung gebracht, bei denen die notwendigen Eigenschaften stärker variieren: Bei seiner Interpretation als Tasche spielt der Reißverschluss eine Rolle sowie die Tatsache, dass der Sleeve von innen hohl ist; bei der Interpretation als Gürtel sind es eher seine Länge und die verstellbaren Bänder, und in der Deutung als Schal sein wärmendes Material und seine farbliche Gestaltung. Strukturorientierte Interfaces bieten durch ihre differenzierte Erscheinung mehr Details und dadurch mehr Anhaltspunkte für ikonische Deutungen. Strukturorientiert gestaltete Gegenstände haben deswegen mehr Potenzial, um in unterschiedlichen Situationen auf ähnliche Weise benutzt zu werden: Sie stabilisieren die Gebrauchsweise und variieren die Anwendungssituationen. Strukturorientierte Gestaltung bietet sich dort an, wo für die gleichen mittelbaren Eigenschaften unterschiedliche Gebrauchskontexte erprobt werden sollen. Situationsunabhängige Gestaltung. Situationsunabhängige Gestaltung führt eher zu einer formal kohärenten Gestaltung, bei der wenig äußere Einflüsse die Assoziation von konventionellen Kontexten ablenken. Die Wavecap ist als Kombination

Potenzial und Aktualität | 189

aus strukturorientierter und situationsunabhängiger Gestaltung wenig Komplikationen im Designprozess ausgesetzt gewesen. Dadurch ist ihr Verfremdungseffekt wesentlich zurückhaltender ausgefallen, und die Bezugsobjekte sind stark als solche erkennbar. Situationsunabhängige Gestaltung bietet sich da an, wo ein starker Bezug zu bestehenden Anwendungskontexten unkritisch oder sogar erwünscht ist und mittelbare Eigenschaften im Rahmen bestehender Gebrauchsweisen variiert werden sollen. Situationsabhängige Gestaltung. Situationsabhängige Gestaltung hat deutlichen Einfluss auf die Assoziation mit Anwendungssituationen und ermöglicht zugleich eine formal ungewöhnliche Gestaltung, die es erleichtert, abweichende Kategoriezuordnungen aufgrund einzelner Eigenschaften vorzunehmen. Bei einer Einbeziehung von anderen Gegenständen als Teil des Stromkreises fungieren diese als Kontrastkontext, der die Deutung des Interface auf unvorhergesehene Weise beeinflusst. Beim Shuffle Sleeve sind am Münzgeld im Laufe der Interpretation auch Eigenschaften wie das Gewicht und das Geräusch der Münzen thematisiert worden, was die Interpreten als Anlass für Deutungen als Waage oder Warnsignal nahmen. Anders herum wurden Details wie der Verschluss des Sleeve oder seine unterteilten Segmente auf die Funktion hin gedeutet, die sie für das Kleingeld in seiner Rolle als Zahlungsmittel haben könnten. So werden mehr Eigenschaften des einbezogenen Gegenstands für die Deutung zugänglich (z.B. Geld als Hinweis auf Gewicht, aber auch auf Zahlungsmittel) und damit verfügbar als Basis für den Zeichenprozess. Situationsabhängige Gestaltung bietet sich da an, wo handlungspraktisches Experimentieren mit neuen Anwendungssituationen und Handlungsweisen unkritisch ist und die Verbindung von unmittelbarer Erscheinung und mittelbaren Eigenschaften offen gehalten werden soll. Der relativ eng gesteckte Rahmen für die Interpretation der Interface-Prototypen legt nahe, dass diese Schlüsse vorläufig und teilweise hypothetisch sind. So stellt es eine große Einschränkung dar, dass die Interviews vor allem den gedankenexperimentellen Umgang, aber nur sehr wenig von der tatsächlichen Nutzung dokumentieren können. Weitere Studien sind nötig, um mehr darüber herauszufinden, ob die so gewonnenen Zusammenhänge von Gestaltung und Deutung sich in der praktischen Aneignung bestätigen lassen. Erst dabei wird auch der Einfluss der Deutungs- und Handlungssituation, die ja ebenfalls einen kognitiven Kontext darstellt, spürbar, den ich in meiner Analyse zunächst beiseite gelassen habe. Außerdem ist ungeklärt, inwieweit meine Ergebnisse spezifisch für die von mir gebauten Interface-Prototypen sind, und was sich davon möglicherweise nicht ohne Weiteres auf andere Gestaltungssituationen übertragen lässt.

190 | Gebrauch als Design

Trotz des vorläufigen Charakters, den eine solche Untersuchung notwendigerweise hat, lässt sich aus den Ergebnissen der Untersuchung und den Erfahrungen mit Interpretation als einer Form des Gestaltens ein Standpunkt ableiten, der eine etwas andere Sicht auf Design als Tätigkeit erlaubt. Die Schlussfolgerungen, die ein solcher Standpunkt zulässt, möchte ich im folgenden Kapitel schildern.

7 «Form» und Gegenstand

Im vorherigen Kapitel habe ich im Vokabular drei verschiedener theoretischer Perspektiven näher beschrieben, wie sich Design-im-Gebrauch als Formverschiebung charakterisieren lässt. Aus der ökologischen Kognitionstheorie habe ich das Verständnis von Gabora, Rosch und Aerts, das diese von potenziellen Deutungen kognitiver Konzepte entwickelt haben, mit meiner eigenen Konzeption von Umdeutung im Gebrauch in Verbindung gebracht, bei der kontingente Eigenschaften in den Status von notwendigen Eigenschaften überwechseln. Die Zeichenkorrelate und Zeichenklassen aus der semiotischen Theorie von Charles Sanders Peirce habe ich hinzugezogen, um den unterschiedlichen Verweischarakter von strukturorientierten und prozessorientierten Interfaces zu beleuchten. Die Akteurs-Netzwerk-Theorie nach Bruno Latour diente mir als Bezugspunkt, um den Verfremdungseffekt und die damit einhergehende Kompetenzverschiebung auf den Benutzer zu diskutieren. In diesem Kapitel thematisiere ich nun die Bedeutung, die meine Beobachtungen für Design in der professionellen Praxis, in der Ausbildung und in der Forschung meiner Ansicht nach haben. Auch hierbei orientiere ich mich an dem Modell der «Forschung-durch-Design», bei dem es grundlegend ist, dass theoretische Kenntnisse aus projektgeleiteten Designstudien direkte oder indirekte Auswirkungen auf die Weiterentwicklung der Praxis, Lehre und Forschung gleichermaßen haben1 . Diese Schlussfolgerungen auch für Lehre und Praxis sind in der Designforschung, deren Gegenstand und Medium das Entwerfen ist, besonders wichtig. Ich erläutere daher 1 | Siehe Alain Findeli. «Will design ever become a science? Epistemological and methodological issues in design research, followed by a proposition». In: No Guru No Method? Discussion on Art and Design Research. Hrsg. von Pia Strandman. Helsinki: Publication Series of University of Art und Design Helsinki UIAH B 55, 1998, S. 63–69, darin mit Bezugnahme auf Nigel Cross, der diese Anforderungen formuliert hat.

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in den folgenden Abschnitten die Beziehung zu den verwandten Designansätzen des partizipativen und des kritischen Design, die ich als Grundlage für diese Untersuchung herangezogen habe, und benenne zum Schluss einige zentrale Punkte, die im Laufe der Arbeit deutlich geworden sind und Anlass für weitere Forschung geben.

7.1 S CHLUSSFOLGERUNGEN Die etwas ungewohnte Unterscheidung von Form und Gegenstand und das Konzept der Umnutzung als Formbeobachtung lockert die enge Beziehung von Gebrauch und Gegenstand, die bei problemorientiertem Design vorausgesetzt wird. Sie erlaubt uns außerdem, Variationen im Gebrauch als vollwertige Designvariationen zu behandeln, sofern sie kontingente Gegenstandseigenschaften zu einem unerwarteten Zweck hervorheben. Die konzeptionelle Trennung von Gegenstand und Form bildet eine handhabbare Grundlage, um Gebrauch-als-Design vom routinisierten Gebrauch unterscheiden zu können. Zwar ist eine vollkommen trennscharfe Abgrenzung von Gebrauch-alsDesign und anderen Gebrauchsweisen nicht möglich und wahrscheinlich auch nicht nötig. Der Begriff der Formunterscheidung macht die einzelnen Akte der Umnutzung aber immerhin beschreibbar, führt sie auf konkrete Designattribute zurück und hilft so bei der Einordnung und beim Vergleich. Auf diese Weise müssen nicht alle Umnutzungen undifferenziert nebeneinander gestellt werden, sondern können nach Aufwand, Kompetenz und Signifikanz der Variation unterschieden werden. So lassen sich von routinisierten Umnutzungen bis zu originellen Gebrauchsweisen und von einfachen Handgriffen bis zu komplizierten Umbauten begründete Abstufungen machen. Diese Abstufungen lassen sich auf Improvisation als Designmethode und situierte Umnutzung im Gebrauchskontext gleichermaßen anwenden. Dies stellt eine deutliche Kontinuität zwischen Gestaltungsprofis und -amateuren her. Der Unterschied von professionellen und anderen Gestalterinnen liegt nicht in der grundsätzlichen Fähigkeit zur Variation, wohl aber in der Erfahrung zum Variieren, dem dafür hilfreichen Hintergrundwissen, und dem Zugriff auf zusätzliche Ressourcen und Kompetenzen, die den Entwurf ermöglichen und erleichtern. Auch wenn man grundsätzlich die Kompetenzen von Designern nicht nur im Design und die von Benutzerinnen nicht nur im Gebrauch verorten kann, besteht faktisch eine Arbeitsteilung zwischen diesen beiden Arten von Akteuren. Nicht in allen Designprojekten ist es möglich und sinnvoll, sich über die professionellen Praktiken des jeweils anderen auszutauschen und dieses Wissen in den Entwurf einfließen zu lassen. Gestaltung ist mit einem erheblichen Aufwand an Arbeit, Zeit und Ressourcen verbunden, der sich

«Form» und Gegenstand | 193

im Design und Gebrauch auszahlen muss. Deswegen ist es sinnvoll, diesen Vorteil der Professionalität auch zu nutzen. Je prozesslastiger die Gestaltung ist, desto mehr trägt sie zu einer Ressourcengleichheit zwischen Profi- und Amateurgestalterinnen bei. Design als Design von Beziehungen zwischen vorhandenen Gegenständen benötigt vor allem eine gute Dokumentation oder stetige Wiederholung, um als innovative Bedienweise Verbreitung zu finden. Als Ressource ist Kommunikation in diesem Fall fast bedeutender als Material. Die materiellen Voraussetzungen müssen zwar gegeben sein; dann kann aber jeder, der die gleichen paar Dinge zur Hand hat, den neu erfundenen Umnutzungsprozess nachempfinden2 . Meine Interpretation von Design-im-Gebrauch für Praxis, Ausbildung und Forschung im Design fußt deswegen auf der Annahme, dass eine Angleichung der Designtätigkeit zwischen Design und Gebrauch in der Prozessgestaltung sinnvoll ist; aufgrund gesellschaftlicher Differenzierung muss man die gegenständliche Gestaltung in erster Linie allerdings immer noch vorrangig bei professionell ausgebildeten Designerinnen verorten. 7.1.1 Praxis Für Design-im-Gebrauch taucht die Designpraxis sowohl im klassischen Design als auch im Gebrauch auf. Wir haben es also einerseits mit den unterschiedlichen Gestaltungssituationen des Designstudios und der Gebrauchssituationen zu tun. Andererseits betrachten wir die klassische gestaltgebende Entwurfspraxis und die Gebrauchspraxis als zwei Extreme von Gestaltungsarbeit. Die Schlussfolgerungen aus meiner Untersuchung müssen sich auf professionelle Designer und Benutzer sowie auf beide Designsituationen beziehen. Daraus ergeben sich wiederum vier Bereiche: Design im Design, Gebrauch im Design, Design im Gebrauch und Gebrauch im Gebrauch. Wenn der Zusammenhang von Gegenstand und Form als weniger statisch konzipiert wird, muss derselbe Gegenstand nicht immer auch dieselbe Form und damit einen festgelegten Zweck implizieren. Eine veränderliche Verbindung von Gegenstand und Form bietet dabei in der Designpraxis wie im Gebrauch, für Designerinnen wie für Benutzer, Spielraum für Designvariationen. Bei der prozesslastigen Gestaltung geht es um die Identifikation von neuen Gebrauchsformen für vorhandene Gegenstände; bei der gegenständlichen Gestaltung geht es um die Identifikation von neuen Gegenständen für vorhandene Formen. Das heißt auch, dass weder der Gegenstand noch der Gebrauch an sich vollkommen neu und unbekannt sein müssen. 2 | Das Beispiel der Kunststoffflasche als Fliegenfalle illustriert diesen Umstand sehr schön. In diversen Ausführungen zu finden auf Instructables.com (Autodesk, a. a. O.).

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Jede Designsituation und designerische Vorgehensweise hat dabei andere Stärken im Bezug auf Design-im-Gebrauch. Auch die Verbreitung von Designideen in Form von Beispielen, Anleitungen und Handlungsroutinen, die bei Design-im-Gebrauch auffallend wichtig ist, hat unterschiedliche Konsequenzen für die Bereiche von Design und Gebrauch, die ich ebenfalls ansprechen werde. Design im Design Die professionelle Verantwortung der Designer liegt darin, den ihnen gegebenen Spielraum an gegenständlicher Variation so weit wie möglich im Hinblick auf die Umnutzung auszureizen. Das Herstellen möglichst weitreichender Variationen ist der Bereich, in dem die eigentliche Expertise von Designern liegt. Der größte Vorteil des Designs liegt dann im Zugriff auf unterschiedliche Materialien und Herstellungsweisen und dem Hintergrundwissen über gegenständliche Variationen. Für den Bereich professionellen Designs lassen sich daher am ehesten konkrete Gestaltungsempfehlungen geben, die bereits existierende Praktiken mit origineller Aneignung im Gebrauch in Beziehung setzen. Verfremdung durch Material: Bei der experimentellen Entwicklung elektronischer Interfaces ist es auch jetzt schon üblich, in Material und Gebrauchsweise deutlich von bekannten Interfaces abzuweichen. Die Verfremdung durch eine abweichende Erscheinung schafft den nötigen Interpretationsspielraum dahingehend, welche Gegenstandseigenschaften notwendig und welche kontingent sind. Besonders wirksam erscheinen hier produkt-semantische Widersprüche, bei denen durch neue Materialität elektronischen Gegenständen zusätzliche Eigenschaften verliehen werden, wie dies z.B. bei Stoff oder Papier der Fall ist. Ein dankbares Arbeitsfeld bietet die Materialforschung oder die Entwicklung neuer Produktionsverfahren; solche semantischen Widersprüche können aber auch mit bekannten Materialien und Technologien erreicht werden. Verfremdung durch Kontextorientierung: Ein bestehender Kontext kann nicht nur benutzt werden, um einen Gegenstand vertrauter zu machen, sondern er kann auch der gezielten Verfremdung dienen. Die Gestaltung eines Interface kann als Teil einer lokalen Ökologie an Gegenständen – oder einem Netzwerk im Sinne der ANT – konzipiert werden. Bei elektronischen Interfaces ist es z.B. möglich, jede Art von leitenden Gegenständen als Teil des gestalteten Gegenstands einzubeziehen. Wird ein vertrauter Gegenstand als Teil eines elektronischen Interface umgenutzt, entsteht dadurch eine Zweideutigkeit, die dessen Bedeutung produktiv erweitert. Die Komplikation, die durch die Einbettung in einen vorhandenen Kontext zustan-

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de kommt, sollte verhindern, dass das Interface sich allzu stark an existierenden Formkonventionen orientiert, die durch die Materialwahl bedingt sind. Komplexität im Prozess, nicht im Material: Wird die Komplexität auf den Bedienprozess und damit auf die Programmierung verlagert, lässt sich der Gebrauch leichter verändern. Ein schwach strukturiertes materielles Interface mit komplexen Bedienprozessen unterstützt mehrere und unterschiedliche Bedienweisen: Eine Tastatur auf einem berührungssensitiven Bildschirm macht es unproblematisch, sprachenabhängig die Tastenanordnung zu verändern oder chinesische Schriftzeichen nachzuzeichnen. Beides wäre mit der materiellen Struktur einer Schreibmaschine nicht ohne weiteres möglich. Komplexe Programmierung und künstliche Intelligenz können genutzt werden, um möglichst unterschiedliche Interaktionen zu erkennen und auszuwerten. Durch die Verlagerung auf den Programmcode bleibt das Interface als materieller Gegenstand potenziell veränderlich. Eine anpassbare Auswahl des Funktionsumfangs stellt eine andere Möglichkeit dar, die Anwendung eines Interface schon vom Design aus offen zu halten3 . Ungewöhnliche Kompetenzen nutzen: Für erfolgreiches Design-im-Gebrauch sind kompetente Benutzerinnen unerlässlich. Indem die Komplexität auf den Bedienprozess verlagert wird, bietet das Interface weniger materielle Beschränkungen für den Umgang. Der Nutzer muss allerdings mit Gebrauchspraktiken vertraut sein, die er auf den Gegenstand anwenden kann. Da sich Umnutzung aus der Aktualisierung ungewöhnlicher Eigenschaften ergibt, ist es hilfreich, einen Gegenstand vielen unterschiedlichen Gebrauchsperspektiven auszusetzen. Eine erfolgreiche Kontextualisierung des Gegenstands ist dann davon abhängig, inwiefern die Nutzer ihre Gebrauchsroutinen auf den Gegenstand anwenden können. Um den Einfluss verschiedener Kompetenzbereiche auf einen Gegenstand einschätzen zu können, ist außerdem ein enges Ineinandergreifen von Design und Gebrauch wichtig. Die Ergebnisse der Aneignung müssen für die Gestalterin in irgendeiner Weise wieder zugänglich werden, ob in Form von Interviews, Workshops, oder per digitaler Kommunikation. Begründeter Regelbruch: Irritierende Interfaces für Design-im-Gebrauch erzielen ihren Effekt aufgrund gezielter Verfremdung. Für einen kontrollierten Regelbruch muss man die Kenntnis der existierenden Gestaltungsregeln voraussetzen. Es ist unbedingt notwendig, dass die Bedienlogik experimenteller Interfaces bekannte Prinzipien der Interfacegestaltung wie sinnvolle räumliche Organisation und nach3 | Die Modularisierung von Smartphone-Software in «Apps», also individuell zusammenstellbare Funktionsschnipsel, bietet diese Art der Anpassbarkeit und ist aus dem Alltag bereits vertraut.

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vollziehbare Mappings einbezieht. Die Irritation ergibt sich aus dem Kontrast zu existierenden Interfaces, um den Interpretationsspielraum des Gegenstands dehnen zu können. Für Design-im-Gebrauch ist aber auch Voraussetzung, dass die Interface-Funktionalität grundsätzlich zugänglich ist (auch wenn sie letztlich nicht zweckbestimmend sein muss). Solange das Ziel der Übung neues Wissen im Interfacedesign sein soll, muss man im Design auf verfügbare Wissen Bezug nehmen. Gebrauch im Design Professionelle Designer können im Gestaltungsprozess in begrenztem Umfang selbst zwischen der Rolle des Gestalters und der des Benutzers wechseln. Designer als Benutzer verfügen theoretisch über relativ viel Routine darin, ihre Einfälle zu variieren, und sollten aus diesem Grund in der Lage sein, unterschiedliche Gebrauchsformen an einem Gegenstand spielerisch identifizieren zu können. Die Gestalterin hat darin einen Vorteil; den Nachteil hat sie, wenn es darum geht, spezifische Gebrauchspraxen aus anderen Bereichen selbst auszuagieren. Gebrauch im Designprozess ist deswegen von größerer Freiheit in der Variation und weniger tiefgehendem Wissen über Anwendungsprozesse geprägt. Designmethoden, die Gebrauch während der Gestaltung simulieren oder improvisieren, existieren bereits. Ihre Rolle liegt häufig darin, eine schnelle, anwendungsund kontextsensitive Möglichkeit zur iterativen Evaluation von Ideen zu bieten. Improvisationsexperimente, wie z.B. die Methode des Bodystorming, werden dabei sowohl im Designstudio als auch in der Problemsituation der Designaufgabe ausgeführt4 . Als projektive Vorgehensweise eignet es sich auch dafür, unterschiedliche Gebrauchsweisen für vorhandene Gegenstände zu entwickeln. Das Setting des Designstudios bietet den Vorteil, viele mögliche Bezugskontexte und -praktiken gleichwertig erproben zu können. Design im Gebrauch Die Delegation von Designkompetenz auf den Benutzer eröffnet diesem mehr Möglichkeiten, materielle Gegenstände an die eigenen Gewohnheiten anzupassen. Für 4 | Bodystorming als Vorgehensweise kann im Design sehr unterschiedlich angewandt werden. Im Zusammenhang mit Design-im-Gebrauch geht es mir um Bodystorming als generative Methode und weniger als verhaltensbetonte Simulation von Anwendungsszenarien (Schleicher, Jones und Kachur, a. a. O.) oder als Improvisation in der Anwendungssituation selbst (Antti Oulasvirta, Esko Kurvinen und Tomi Kankainen. «Understanding contexts by being there: Case studies in bodystorming». In: Personal Ubiquitous Computing 7 [2003], S. 125–134).

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professionelle Designerinnen stellt die Verbreitung von Gegenständen als Idee oder als Bausatz eine Möglichkeit dar, die Beschränkungen der Massenproduktion zumindest teilweise zu umgehen. Rapid-Prototyping-Verfahren und die rege Vernetzung von DIY-Bastlern unterstützen diese Entwicklung. Eine Ökologie individualisierter Produktion, die auf diesen Angeboten aufbaut, könnte die Verbreitung experimenteller Designs erheblich erleichtern. Der Schwerpunkt dieses Designs im Gebrauch liegt auf Veränderungen der materiellen Struktur, während ich mich in meiner Untersuchung vorwiegend den Veränderungen des Bedienprozesses gewidmet habe. Nun sagt das bloße Ausmaß an materiellen Strukturveränderungen nicht unbedingt etwas über die Qualität der Formverschiebung – oder auch nur über ihr bloßes Auftreten – aus. Das Selbermachen ist eindeutig eine Art der Produktion, aber nicht immer auch eine Variation. Der Gebrauch bezeichnet hier die Gebrauchssituation, nicht unbedingt die Gebrauchshandlung. Beides greift allerdings dort ineinander, wo die Benutzerin selbst zur Designerin für Design-im-Gebrauch wird. Dass stark abweichende Design-Variationen es in der Vergangenheit schwer hatten, liegt auch an den großen finanziellen Risiken in ihrer Produktion und Vermarktung. Irritierendes Design profitiert dagegen von Verbreitungsmöglichkeiten, die nicht auf Massenproduktion angewiesen sind. Gleichzeitig ist es möglich, jedes individuelle Exemplar einer Designidee anders auszuführen. Durch offene Verbreitung kann eine größere Bandbreite an realistischen Anwendungsfällen erprobt und der Entwurf mit jeder Iteration leicht angepasst werden. Bei der Bereitstellung von Materialien für Design-im-Gebrauch ist ausschlaggebend, wie viel Kompetenz professionelle Gestalter an Anleitungen und Komponenten delegieren und damit sicherstellen können, dass sie damit das fehlende Fachwissen der Design-Amateure ergänzen können. Trotzdem erfordern die kompetenten Materialien auch Nutzer, die bereit sind, sich die Arbeit des Zusammensetzens im höheren Maße zuzumuten, um mehr Kontrolle über die gegenständliche Welt zu erlangen5 . Gebrauch im Gebrauch: Gebrauch als Design Die eigenständigste und am stärksten prozesshaft ausgeprägte Form des Design-imGebrauch ist die, die mit möglichst wenigen Eingriffen in die materielle Struktur

5 | Dafür ist wohlgemerkt das Zusammenspiel von Benutzerkompetenz und Kompetenz im Material ausschlaggebend für den Erfolg. Die Kompetenzverteilung in DIY-Projekten stellt sich selbst wieder als komplexes Netzwerk an Menschen und Materialien dar, die sich nicht auf einen Nutzer und einen Gegenstand reduzieren lassen. Siehe Shove u. a., «Consumption and competence: DIY projects», S. 56-57.

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auskommt und auf diese Weise mehr als Gebrauch denn als Design erscheint. Im Idealfall gelingt es, durch Rekonfigurationen, die sich ohne weiteres rückgängig machen lassen, neue Gebrauchsformen für bekannte Gegenstände zu finden und sie als funktionale Äquivalente für unerwartete andere Dinge aufgrund gemeinsamer Eigenschaften einzusetzen (wie das etwa bei der Teigrollen-Weinflasche sehr gut funktioniert). In diesen Fällen erscheint nur der Gebrauch selbst als Design; die materielle Struktur bleibt erhalten. Diese Art von Gebrauch unterscheidet sich von sonstigem Gebrauch darin, dass sie selbst Variationen produziert, anstatt einen vorgegebenen Bedienprozess einzuhalten oder abzulehnen. Gebrauch-als-Design benötigt außer einem Gegenstand und einer Anwendungssituation noch die Fähigkeit der Benutzerin, einen Anwendungszweck in der Kombination von beiden zu entdecken, der vorher nicht offensichtlich war. Weil die Innovation im Gebrauch vor allem den Anwendungkontext und den Bedienprozess angehen, ist auf der Seite der Nutzer vor allem die analytische Fähigkeit wichtig, die bekannten Gegenstände des Alltags auf ihre unauffälligen Eigenschaften hin zu prüfen, die zur Umnutzung einladen. Obwohl man mit wenigen Mitteln auskommt, ist Design-imGebrauch keine leichte Aufgabe, sondern eine, die Mühe und Experiment erfordert. Dazu gehört die Bereitschaft, den Dingen über die beabsichtigte Nutzung hinaus Aufmerksamkeit zu schenken. Experimenteller Gebrauch innerhalb der eigenen Lebenswelt ist auch deswegen selten, weil die Alternative zum beabsichtigten Gebrauch häufig nur der Nicht-Gebrauch ist und für eine Weiternutzung eines unnützen oder unnütz gewordenen Gegenstands vermeintlich keine Zeit bleibt. Auch wenn Gebrauch-alsDesign starke Ähnlichkeit mit routinisiertem Gebrauch hat, unterscheidet sich die Suche nach passenden Verwendungszwecken doch stark vom gewohnheitsmäßigen Verwenden von Dingen. Dieser Unterschied rechtfertigt den Einsatz irritierender Gegenstände. Irritierendes Design ist absichtlich nicht gebrauchsfertig, um kreative Abweichungen im Gebrauch zu erleichtern. Es drängt den Benutzerinnen deswegen auch nicht einfach nur eine bestimmte ungewohnte Interaktionsweise auf, weil Gebrauch nicht als die statische Einheit betrachtet wird, die sie in der zweckorientierten Produktgestaltung sein muss, um Erfolg zu garantieren. Gebrauch-als-Design funktioniert dann, wenn die Nutzer sich als die kreativen Akteure begreifen und verhalten, als die sie auch heute schon gerne beschrieben werden. Das Engagement im Gebrauch, das diesen zu einer Art Design macht, ist vergleichbar mit dem Einsatz, den partizipative Designerinnen innerhalb ihrer Designprojekte von den Beteiligten erwarten. Die Frage nach dem Potenzial der Dinge stellt sich zunehmend, nicht nur für alt gewordene, sondern auch für neue Gegenstände. Erst das Experimentieren in diversen Gebrauchskontexten kann das Potenzial einer Technik verdeutlichen (oder auch

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darauf hinweisen, dass sie keines besitzt). In diesem Sinne ist der zivile Ungehorsam des mündigen Verbrauchers aus ökologisch-nachhaltiger Sicht geradezu notwendig, wenn es um die Nutzung geht: Im erwartungskonformen Gebrauch allein kann sich das Potenzial eines Gegenstands nicht entfalten. Dies erfordert vielmehr den kreativen Missbrauch und die unerwartete Umnutzung. Das Delegieren von Produktion an die Benutzer, das als eine Spielart des Design im Gebrauch gewertet werden kann, ist beispielsweise durch Selbstbaumöbel und andere Bausätze weitgehend etabliert. Die Probleme, die beim Design einer guten Bauanleitung auftreten, sind allerdings andere als das Problem, neue Formen an bekannten Objekten zu identifizieren. Die Grenzen sind auch hier fließend. Trotzdem konzentriere ich mich im weiteren auf den originellen, prozesshaften Gebrauch als eine Designform, und auf die Frage, was in Designausbildung und -forschung relevant ist, um ihn zu ermöglichen. 7.1.2 Ausbildung Gebrauch als Design (in beiden Ausprägungen, der prozesshaften wie der materiellen) betrifft die Designausbildung in zwei wichtigen Punkten: Dem möglichkeitsorientierten Entwerfen im Kontrast zum problemorientierten Design, und dem Prozesswissen von Designern in Ergänzung zu ihrem Gegenstandswissen. Möglichkeitsorientiertes Entwerfen Design hat in der Vergangenheit als Problemlöser und Möglichkeiten-Generator gleichermaßen eine Rolle gespielt. Gegenüber den Problemlösungsmethoden ist das Möglichkeiten-Generieren weniger systematisch beschrieben worden. In der Ausbildung wird die Fähigkeit, Ideen aus unterschiedlichen Bereichen zu verknüpfen und zu übertragen, vor allem implizit vermittelt. Für irritierendes Design und Design-im-Gebrauch ist möglichkeitsorientiertes Entwerfen zentral. In der Entwicklung der Disziplin hat das Generieren von Alternativen seit jeher seinen Platz, sowohl formalästhetisch als auch anwendungsbezogen. Die methodisch stark durchstrukturierte Bearbeitung von Problemen ist eine jüngere Entwicklung im professionellen Design. In die Ausbildung haben problemlösende Ansätze (auch) in Form von benutzerorientierten Methoden Einzug gehalten. Kreativmethoden, durch die Alternativen generiert werden, sind dann konsequenterweise in den Kontext benutzerorientierter Entwurfsprozesse eingebettet. Wo problemorientiertes Arbeiten nicht explizit Teil des Studiums ist, wird möglichkeitsorientiertes Entwerfen in der Regel implizit, als vorherrschende Gestaltungspraxis an einer

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Hochschule, vermittelt. Damit ist das Generieren von Alternativen zwar grundlegender verankert als das problemlösende Entwerfen. Wenn aber die auf Möglichkeiten abzielende gestalterische Vorgehensweise als Intuition und nicht als Methode behandelt wird, ist es auch schwieriger, sie als veränderlichen Arbeitsprozess zu begreifen, den man an das jeweilige Entwurfsprojekt anpassen kann. Möglichkeitsorientiertes Entwerfen profitiert deswegen, genau wie problemorientiertes Entwerfen, von der Beschreibung und Reflexion seiner Arbeitsprozesse als Methoden. Variation im Design stellt dann keine exklusive Tätigkeit dar, die nur mit besonderem Talent zugänglich ist, sondern einen professionellen Wissensvorsprung in Gegenstandswissen und mehr Handlungs- und Denkroutine im Variieren selbst. Mit dem Fokus auf Möglichkeiten statt auf Probleme als Designkriterium sollte es einfacher sein, das jeweilige Problem als Konstrukt und damit als de-konstruierbar zu betrachten. Eine explizite Methodik im experimentellen Design kann wohl nicht dazu dienen, den Entwurfsprozess vollkommen erklärbar zu machen. Sie kann aber die Anschlussfähigkeit mit experimentellen Arbeitsweisen in anderen Berufen verbessern. Wir können strukturelle Ähnlichkeiten im Experimentieren von Designern und Naturwissenschaftlern vermuten6 ; diskutieren können wir sie sehr viel besser, wenn Designerinnen ihr Vorgehen in ähnlicher Weise explizieren und reflektieren. Dies ist vor allem dann wichtig, wenn wir möglichkeitsorientiertes irritierendes Design als relevantes Vorgehen in der Forschung und Entwicklung verorten.

6 | Speziell für das Design weist Ranulph Glanville auf diese Parallelen hin (Ranulph Glanville. «Researching design and designing research». In: Design Issues 15.2 [1999], S. 80–91, hier S. 87-88). Ähnliche Schlussfolgerungen ließen sich aber auch aus den Beobachtungen im Bereich der «laboratory studies» ziehen, wie sie z.B. Karin Knorr-Cetina oder Hans-Jörg Rheinberger vorgenommen haben. Knorr-Cetina hebt dabei den instrumentellen Charakter naturwissenschaftlicher Forschung im Labor hervor: «Forschung in der Werkstatt der Wissenserzeugung erscheint als vom Können der Akteure abhängige Handarbeit, nicht als Kopfarbeit im Reich der Ideen» (Karin Knorr-Cetina. Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft. 3. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2012, S. 25). Rheinberger beschreibt den Zusammenhang von Experimentalsystemen und «epistemischen Dingen» folgendermaßen: «Experimentalsysteme sind nicht Anordnungen zur Überprüfung und bestenfalls zur Erteilung von Antworten, sondern insbesondere zur Materialisierung von Fragen. In einer unauflösbaren Verquickung bringen sie sowohl die materiellen Einheiten hervor als auch die Begriffe, die sich in diesen verkörpern: Sie “treten zusammengepackt in Erscheinung”»(Hans-Jörg Rheinberger. Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S. 25). Hier bestehen ganz konkrete Parallelen zur projektorientierten Designforschung.

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Prozesswissen und Prozessdesign Die Gestaltung des abweichenden Gebrauchs ist eine Kompetenz, die Designern – in der Rolle der Benutzer – mutmaßlich nur wenig leichter fällt als anderen Nutzerinnen. Design als Feld ist längst nicht mehr darauf festgelegt, sich nur um die schöne Erscheinung materieller Gegenstände zu kümmern. Trotzdem widmet sich ein bedeutender Teil der Designausbildung der Gegenstandsseite der Form und weniger der Gebrauchsseite. Prozessdesign erstreckt sich konsequenterweise auf die materiellen Voraussetzungen, die ein durchkomponierter Ablauf als Stütze benötigt. Es ist noch eher ungewöhnlich, eine neue Gebrauchsweise (und keinerlei neue Gegenstände) als Resultat eines Designprozesses vorzuweisen7 . In der Vergangenheit war ein großer formalästhetischer Erfahrungsschatz als Grundlage für die Ausbildung notwendig, um souverän gestalterische Variationen in diesem Bereich anfertigen zu können. Die Gebrauchspraxis, die mit den Gegenständen einhergeht, ist dadurch ebenfalls indirekt präsent, wird aber nicht immer explizit thematisiert. Für Design-im-Gebrauch sind exzellente formalästhetische Entwürfe nicht zentral (obwohl natürlich schön), sondern die Anschlussfähigkeit für unterschiedliche Handlungspraxen. Diese erfordert bei der Gestalterin die notwendige Sensibilität für Gegenstände als soziomaterielle Anordnungen, von denen man sich nicht nur formalästhetisch, sondern auch handlungspraktisch inspirieren lassen kann8 . Gleichzeitig muss deutlich werden, dass Bediengewohnheiten und Konventionen genauso historisch kontingent sind wie die materiell strukturierten Gegenstände, auf denen sie beruhen. Ziel der Designausbildung wäre dann zu vermitteln, dass Gegenstände und Gebrauchsweisen immer verbunden – aber eben lose verbunden – auftreten, und der informierte Designer beides variieren kann. Aufgrund der marktwirtschaftlichen Risiken, die mit möglichkeitsorientiertem Entwerfen in der Massenproduktion einher gehen, eignet sich diese Vorgehensweise am besten für Anwendungsbereiche, in denen kleine Stückzahlen und abweichende Gebrauchsmuster vertretbar und erwünscht sind. Im Kontext von Forschung und

7 | Als Vorreiter in dieser Hinsicht kann Servicedesign betrachtet werden, das auch aus der reinen Neuanordnung existierender Elemente bestehen kann. 8 | Die design-analytische Beschreibung von Prozessen ist noch weniger routinisiert als die von Gegenständen, und deswegen ist auch weniger bekannt, welche Prozesseigenschaften sich z.B. aus Services auf neue Designartefakte übertragen lassen. Aber auch daran wird gearbeitet, siehe Wolfgang Jonas, Rosan Chow und Nadia Schaefer. «Service design descriptors: A step toward rigorous discourse». In: Design Connexity. Proceedings of the 8th European Academy of Design Conference. Aberdeen: European Academy of Design, 2009, S. 229–233.

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Entwicklung kann ergebnisoffenes Entwerfen als Methode sinnvoll sein, um das Potenzial einer Technik experimentell zu erweitern oder zu verändern, und um relevante Anwendungskontexte zu identifizieren. Daher erscheint es sinnvoll, ergebnisoffene Entwurfsmethoden vor allem als Bestandteil der designwissenschaftlichen Ausbildung einzubinden. 7.1.3 Forschung Irritierendes Design für Design-im-Gebrauch ist vor allem aufschlussreich, wenn die Variationen im Gebrauch als Teil des Entwurfsprozesses beobachtet, dokumentiert und verbreitet werden. Ein sinnvolles Einsatzgebiet für diesen Designansatz stellt die Entwicklung und Erforschung neuer Technologien dar, weil diese von sich aus als fremdartig und damit verfremdend wirken. Irritierendes Design hat dann die Rolle, mit möglichst vielen unterschiedlichen Variationen die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass eine neue Technologie auf einen Anwendungskontext trifft, in dem sie sinnvoll eingesetzt werden kann9 . Experimentelles Design ist auf ein Arbeitsumfeld angewiesen, in dem ergebnisoffene Gestaltung möglich und erwünscht ist, und das gleichzeitig gute Bedingungen für Design-im-Gebrauch schaffen kann. Im technischen Forschungskontext stellt irritierendes Design ein Pendant zur experimentellen Grundlagenforschung dar, die nicht nur problemorientiert vorgehen muss10 . Zwar sind es häufig konkrete Probleme, die diese Art von Forschung anstoßen, und nicht nur die problemunabhängige Suche nach neuen Möglichkeiten. Aber bei der Aneignung im Kontext kann Design deut-

9 | Eine solche stärkere Verknüpfung von Anwendern und Wissenschaftlern, auch als «Kontextualisierung» bezeichnet, ist laut Nowotny, Scott und Gibbons ein Anzeichen dessen, was sie als «Modus-2» der Wissensproduktion charakterisiert haben. Weiteres Anzeichen für diesen Modus ist die gesteigerte Erwartung, Innovationen zu generieren, Probleme zu lösen und dadurch mit einem entsprechenden Zuwachs an Komplexität und Unsicherheit umzugehen (Helga Nowotny, Peter Scott und Michael Gibbons. Wissenschaft neu denken. Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewissheit. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2004, Kap. 7, S. 125-154). Diese Beschreibung von Wissensgenerierung kommt den Designforschenden sehr entgegen. 10 | Die traditionelle Trennung in Grundlagenforschung und angewandte Forschung ist bei Design schwer zu ziehen – und erscheint im Lichte von Modus-2-Forschung vielleicht auch gar nicht mehr praktikabel; siehe Wolfgang Jonas. «Common ground - a product or a process?» In: Common Ground. Proceedings of the Design Research Society International Conference at Brunel University. London: Design Research Society, 2002, S. 517–530.

«Form» und Gegenstand | 203

lich dazu beitragen, die gesellschaftliche Relevanz neuer Technologien zu erhöhen. Irritierendes Design eignet sich dazu, abweichende Variationen herzustellen, die eine neue Technologie konkret erlebbar machen, und deren Aneignung im Kontext zu begleiten. Weil die Zweckmäßigkeit sich erst durch das Zusammenspiel von Form und Kontext ergibt, kann der Wert neuer Technologien erst im Kontext voll identifiziert werden. Der Verzicht auf einen eindeutigen Problemkontext im Design neuer Technologien kann demnach dazu beitragen, eine größere Bandbreite an Anwendungen potenziell offen zu halten. Irritierendes Design als Forschungsansatz ist damit sowohl technikgetrieben als auch – in einem anderen Sinne – benutzerorientiert: Technologie wird als Anlass verstanden, die Handlungsmöglichkeiten der Benutzer zu erweitern. Gleichzeitig ist die Bedeutungskonstruktion im Gebrauch ein integraler Bestandteil des Designprozesses. Die Anregung zu einer solchen Bedeutungskonstruktion soll auch dazu dienen, diejenigen potenziellen Nutzerinnen einer Technologie auszusetzen, die nicht sowieso schon damit vertraut sind. Darüber hinaus besitzt schon die Konstruktion von seltsamen, rätselhaften oder schlicht erfreulichen Interfaces einen Wert an sich, weil sie die Auseinandersetzung mit der gegenständlichen Welt interessanter und angenehmer macht. In diesem Sinne kann man experimentelles Interface-Design auch als Beitrag zur sozio-kulturellen Entwicklung verstehen, in der Kritik an bestehender Nutzung und Spaß an neuen Möglichkeiten, Nonsense und Zufall – und damit Alternativen zu rationalistisch geprägten Arten der Interaktion – ein Platz eingeräumt wird. Irritierendes Design im Forschungskontext ist damit alles andere als reiner Selbstzweck und nicht zu verwechseln mit nachlässiger Gestaltung. Als Teil eines Forschungsprozesses ist experimentelles Design vielmehr notwendig, um emergente Bedeutungen überhaupt produzieren und kenntlich machen zu können. Zudem ist die Reichweite und Zielsetzung irritierender Gegenstände in der Regel klar eingegrenzt und deutlich unterscheidbar von produktionsorientiertem angewandten Design. Es handelt sich bei ersterem zwar um funktionale Prototypen, die sich aber in ihrer experimentellen Form vor allem durch Imitation und Nachbau verbreiten, nicht durch Massenproduktion und -verkauf. Irritierendes Design stellt damit eine Art partizipativen gebrauchsorientierten Ansatz dar, eine Möglichkeit, Außenstehende in den Forschungsprozess einzubeziehen, von der das etablierte benutzerorientierte Design profitieren kann.

204 | Gebrauch als Design

7.2 G EBRAUCH , K RITIK , PARTIZIPATION Die Vorgehensweise, die ich in meiner Untersuchung für Design-im-Gebrauch vorschlage, stützt sich auf partizipative und kritische Designansätze, die ich in Vorbereitung der Studie analysiert habe. Im folgenden Abschnitt gehe ich näher auf die Beziehung ein, die meine Arbeit zu beiden Ansätzen hat, und zeige die Anschlussmöglichkeiten auf, die ich für beide Bereiche für Design-im-Gebrauch sehe. 7.2.1 Partizipatives Design Theoretisch und methodisch sind partizipative Designforscher die Vorreiter darin gewesen, Aneignung und Umnutzung in das professionelle Design einzubeziehen. Die Kompetenzverteilung zwischen professionellen Designern und professionellen Nutzern spielte dabei ebenfalls schon früh eine wichtige Rolle. Hier sind klare Parallelen mit meinem Ansatz sichtbar. Auch der Einsatz ungewöhnlicher Designentwürfe als Mittel, durch eine Art Handlungskrise analytischen Abstand zur eigenen Handlungspraxis zu gewinnen, hat seine Wurzeln im partizipativen Design. Obwohl der eigentliche Entwurfsprozess, den ich für Design-im-Gebrauch vorschlage, mit traditionellen partizipativen Designmethoden letztlich nicht mehr viel gemein hat, beruht er auf ähnlichen Grundannahmen. Das Design seltsamer Sachen ist nicht dazu gedacht, den imaginären Rahmen eines geteilten Designprozess zu erweitern. Stattdessen soll es die Partizipation im Gebrauch bei Designprozessen ermöglichen, bei denen die Teilnahme während des Designs problematisch oder unpraktisch ist. Dies ist faktisch in vielen Entwicklungsprojekten der Fall, die sich den Aufwand an Zeit und Ressourcen nicht leisten können oder wollen, der mit ernstzunehmenden partizipativen Methoden verbunden ist. Die Kompetenztrennung von Design und Gebrauch ist nicht immer erfreulich, aber eine Tatsache. Das Design seltsamer Sachen kann Benutzer trotz dieser Trennung zu Designern machen, nämlich im Gebrauch. Ich verstehe daher meine Vorschläge als einen partizipativen Ansatz im weitesten Sinne, der gerade dort besonders wichtig ist, wo es um die Relevanz innovativer Technologien für möglichst viele Gesellschaftsgruppen geht. Der Einsatz als partizipative Methode in der innovationsorientierten Produktentwicklung setzt dann allerdings voraus, dass Pilotprojekte von kleiner Reichweite und mit geringen Stückzahlen salonfähig werden. Generell ginge es dann auch um die Entwicklung von Produktions- und Verbreitungsformen, die das finanzielle Risiko gering halten, also z.B. bestehende Gegenstände oder Netzwerke einbeziehen oder die Produktion in vertretbarem Maß an die Benutzer delegieren (wie dies bei DIY-Projekten ja auch der Fall ist).

«Form» und Gegenstand | 205

Deutliche Unterschiede lassen sich daher zum partizipativen Design ausmachen, wenn es um die Art der Projekte, ihre Zielsetzung und den Anspruch an die pragmatische Nutzung geht. Ergebnisoffenes Design ist auch mit partizipativen Methoden zweifelsohne möglich. Ihre Stärke – und ihre größte Berechtigung – haben sie jedoch in Situationen, in denen die Ansprüche unterschiedlicher sozialer Gruppen durch Design beeinflusst werden und deswegen im Design koordiniert werden müssen, um einen zufriedenstellenden Kompromiss zu generieren – also z.B. bei der Einführung digitaler Patientenakten in Krankenhäusern. In solchen Anwendungsgebieten lässt sich ein funktionaler Zusammenbruch des gestalteten Gegenstands in der Regel nicht verantworten. Partizipatives Design ist deshalb traditionell häufig zweckorientiert und nicht immer in dem Maße ergebnisoffen, wie die von mir vorgeschlagene Vorgehensweise es erfordert. Der Hauptunterschied liegt auch hier wieder in der Rolle, die man der Gebrauchspraxis zuschreibt. Im partizipativen Design ist Innovation der Anlass für eine Veränderung der Gebrauchsroutine, die gemeinsam modelliert wird. Angestrebt wird aber das routinisierte Handeln, auch wenn es darum geht, die alltäglichen Improvisationen und Veränderung im Umgang mit technischen Systemen einzubeziehen. Handeln als kreative Praxis hat seinen Platz eher im gemeinsamen Designprozess und weniger im Gebrauchsprozess, wie von mir vorgeschlagen. Zielstrebige Improvisation – wie im Alltagsgebrauch – ist ein Modus der Aneignung, bei dem die Auswahl der Gegenstände dem jeweiligen Zweck folgt. Spielerische Improvisation erforscht die Anwendungsmöglichkeiten des gleichen Gegenstands für unterschiedliche Zwecke. Design-im-Gebrauch benötigt daher ein Setting, das weniger unter den Zwängen alltäglicher Zuverlässigkeit steht11 . 7.2.2 Kritisches Design Kritisches Design hat einen maßgeblichen Anteil daran, dass experimentelle Verfremdungsstrategien auch im Interfacedesign Anwendung finden. Auch die Reichweite

11 | Dass die spielerische «uninteressierte» und damit undeterminierte Beschäftigung mit den Dingen die menschliche Kultur prägt, hat Johan Huizinga schon früh versucht nachzuweisen (Johan Huizinga. Homo Ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelementes in der Kultur. 3. Auflage. Amsterdam: Pantheon Akademische Verlangsanstalt, 1940). Im Bereich der MMI wird besonders von Bill Gaver auf die Fähigkeiten des «homo ludens» zur kreativen Aneignung hingewiesen (William W. Gaver u. a. «The drift table: Designing for ludic engagement». In: CHI ’04 Extended Abstracts on Human Factors in Computing Systems. CHI EA ’04. New York: ACM, 2004, S. 885–900).

206 | Gebrauch als Design

der Anwendungsszenarien ist durch den Ansatz deutlich größer geworden. In der Annäherung von kritischem und partizipativem Design zeigt sich deren gemeinsames Interesse an den sozialen Auswirkungen innovativer Technologien, und die zentrale Aufgabe, alternative Anwendungen narrativ zugänglich zu machen. Methodische Anleihen meines Ansatzes beim kritischen Design sind offensichtlich. Die Suche nach Alternativen für elektronische Interfaces, die etablierte Anwendungszwecke bei der Gestaltung als nachrangig behandeln, und auch die nachträgliche Auseinandersetzung mit einem Blick auf die persönliche Deutung der Benutzer hat sein Vorbild in den frühen Projekten des kritischen Designs. Die Unterschiede liegen hier vor allem in der Rolle, die den verfremdeten Gegenständen und den Deutungen der Benutzer zukommt. Kritisches Design setzt abweichende Entwürfe als Illustration für alternative Anwendungsszenarien ein, die Veränderungen in der Wertestruktur darstellen. Sie sind als Gegenstand und Anlass für Debatten darüber konzipiert, wie technische Entwicklungen in ihren sozialen und emotionalen Auswirkungen zu bewerten sind. Kritisches Design zielt auf Design als Akteur in sozialpolitischen Diskursen ab, in denen Entwürfe die Rolle von illustrierenden Diskursobjekten haben. Das tatsächliche Funktionieren eines Gegenstands lenkt davon eher ab12 . Benutzer können sich mit den Gegenständen häufig nur imaginär auseinandersetzen. Dort, wo Funktionsmodelle angeboten wurden, zielte die Interpretation der Benutzer nicht in erster Linie auf instrumentelle Umnutzung ab, sondern auf emotionale Aneignung. In einer Auseinandersetzung mit neuen Technologien, die weniger durch einen scharfen kritischen Abstand geprägt ist, liegt der Schwerpunkt auf Design als Vermittler in einem kritischen partizipativen Diskurs. Der tatsächliche Gebrauch ist je nach Projekt nachrangig oder sogar gar nicht erwünscht, wie bei provokativen und ethisch umstrittenen Entwürfen. Kritische Designer haben sich von existierendem subversiven Gebrauch inspirieren lassen. Ihnen kommt das Verdienst zu, diesen abweichenden Gebrauch prominent zu thematisieren. Die Subversion existierender Gegenstände kann nicht auf den Designer zurückgeführt werden, weil der eigentliche Gebrauchszweck ein anderer war, wie etwa bei der Umnutzung von Gegenständen zum Bombenbau. Subversives Design in Form von Konzepten kann ebenfalls nicht mit der möglichen Produktisierung dieser Konzepte durch andere direkt in Verbindung gebracht werden. Dadurch entzieht es sich dem möglichen Vorwurf von Kritikern, absichtsvoll unethisch gehandelt zu haben, weil Designvorschläge in Form von Konzepten ja faktisch nicht zu gebrauchen sind. Das tatsächliche Funktionieren ist aber Voraussetzung für die instrumen-

12 | Dunne, a. a. O., S. 84-86.

«Form» und Gegenstand | 207

telle Aneignung. Imaginärer Gebrauch ist nicht für dieselben Arten von Zufallsentdeckungen geeignet, die sich aus konkreten Anwendungssituationen und tatsächlichem Gebrauch ergeben, sondern bringt eben andere Freiheiten mit sich. Eine großer Unterschied zum kritischen Design liegt bei meiner Vorgehensweise deswegen darin, dass die gestalteten Interfaces zwar verfremdet, aber funktionstüchtig sein müssen. Ihr denkbarer Gebrauch muss sich deswegen im ethischen Rahmen bewegen und ist auf verfügbare Materialien und Techniken angewiesen. Angesichts dieser praktischen Einschränkungen ermöglicht das kritische Design, das sich auf Funktionstüchtigkeit einlässt, aber auch den kritischen Gebrauch seiner Gegenstände. Dadurch demonstriert es die Wirkmächtigkeit von Design jenseits von Diskurs und Debatten. 7.2.3 Seltsame Sachen und kritischer Gebrauch Partizipatives Design hat den Einsatz ungewöhnlicher Artefakte im Designprozess legitimiert; kritisches Design hat die Vermittlung streitbarer Themen durch gestaltete Gegenstände zusätzlich etabliert. Beide haben auf unterschiedliche Weise ihr Augenmerk auf abweichenden oder subversiven Gebrauch gerichtet, die einen als Problemlösungskompetenz im Gebrauch, die anderen als Quellmaterial für technische Utopien und Dystopien. Beide beziehen sich dabei auch auf die Spannung zwischen intendiertem – zweckmäßigem – und tatsächlichem Gebrauch, die durch Umnutzung entsteht. Hierfür wird (im partizipativen stärker als im kritischen Design) die Metapher des Skripts aus der Techniksoziologie herangezogen. Diese spiegelt die normative Dimension, die in Gegenständen abgebildet wird, und unterscheidet den intendierten vom nicht intendierten Gebrauch als die Befolgung oder Ablehnung eines durch das Objekt vorgeformten Skripts. Nun kommt kein gestalteter Gegenstand ohne Skript und normative Vorgabe aus. Aus der Tatsache, dass Design Variationen produziert, geht aber auch hervor, dass es sich dabei jeweils um eine neue Alternative handeln muss, die mehr oder weniger von den existierenden Vorbildern übernimmt. Eine Trennung von kritischer Praxis und Mainstream-Praxis ist dann nur noch anhand des Ausmaßes der Abweichung möglich, die bei kritischen Entwürfen gravierender ist. Die sozialen Auswirkungen kritischer Designobjekte werden dadurch abgeschwächt, dass sie Diskursobjekte bleiben (sollen). Dadurch entziehen sie sich wohlweislich auch ihrem eigenen subversiven Gebrauch. Variation beschränkt sich nicht auf Design, sondern kann im Gebrauch ebenso vorkommen. Auch hier muss man nicht immer eine subversive Absicht unterstellen. Wo kritisches Design auf Kontroversen im Diskurs abzielt, produziert kritischer Ge-

208 | Gebrauch als Design

brauch tatsächlich Alternativen zu etablierten Handlungsweisen. Das Nicht-Einhalten des vorgefertigten Skripts stellt eine Subversion der gegenständlich repräsentierten Norm dar. Der subversive Gebrauch ist deswegen eine Designkompetenz, die subversive Gestaltung ergänzen muss. Sonst lässt sich das kritische Design allzu leicht als selbstbezüglicher Diskursbeitrag der Designer abtun.

7.3 O FFENE F RAGEN

ZUR

M ETHODE

Die von mir vorgeschlagene Vorgehensweise zum Design für Design-im-Gebrauch ist das vorläufige Ergebnis des Versuchs, höhere Unsicherheit im Entwurf mit der stärkeren asynchronen Einbindung von Benutzern zu verbinden. Obwohl die Ansätze und Methoden, auf die ich mich beziehe, in ihren Anwendungsgebieten bereits etabliert sind, muss auch diese Vorgehensweise sich erst dem Realitätstest stellen. Im Zuge dessen wirft meine Untersuchung eine Reihe von Fragen auf, die Beobachtung und Dokumentation ebenso betreffen wie die Rahmenbedingungen und die Akteure des Design- und Nutzungsprozesses. 7.3.1 Beobachtung und Dokumentation von Bedeutungen Aus Sicht der Designerin ist es sehr viel einfacher, den Designprozess eines Gegenstands zu dokumentieren, als die Aneignung im Gebrauch zu beobachten. Dies liegt an der zeitlichen und räumlichen Dimension, die sich bei Design-im-Gebrauch mutmaßlich über einen sehr viel längeren Zeitraum und möglicherweise auch über unterschiedliche Anwendungszusammenhänge erstreckt. Dass bestimmte Gegenstandseigenschaften in bestimmten Situationen als notwendig hervortreten, ist deswegen momentan in weiten Teilen noch eine begründete Vermutung, die sich nicht vollständig durch die Untersuchungsergebnisse selbst belegen lässt. Im Rahmen meiner Untersuchung war es notwendig, den Prozess, in dem die Bedeutung eines Gegenstands generiert wird, beobachtbar und nachvollziehbar zu machen. Der Großteil meines Interpretationsmaterials ist deswegen unter Bedingungen entstanden, die eine sprachliche Bedeutung und Benennung begünstigen. Die Aneignung in Form von Gebrauchshandlungen habe ich in diesem Setting vernachlässigt, weil sie in einer kontrollierten Umgebung relativ begrenzt und zudem fremdbestimmt ist. Dennoch stellt sich die Frage, wie die nichtverbale Deutung sich auf die Umnutzung auswirken könnte. Diskrepanzen zwischen der sprachlichen Benennung und der

«Form» und Gegenstand | 209

Gebrauchspraxis lassen sich auch in anderen Zusammenhängen beobachten13 . Es ist unklar, inwiefern die Benennungs- und die Gebrauchspraxis auseinanderfallen, und wie breit die Gebrauchspraxis sich aufgrund der gleichen Benennung ausdifferenzieren kann (und umgekehrt). Dies ist entscheidend, um den Erfolg der Methode beurteilen zu können. Unter den gestalterischen Handlungsempfehlungen ist die Einbindung bestimmter Anwendungskontexte als Verfremdungsstrategie bisher am wenigsten geklärt. In meinem Fall stellt Münzgeld den Kontext her, der einerseits kulturell stark aufgeladen und andererseits von Hause aus mobil ist. Ob der Verfremdungseffekt bei weniger beweglichen Anwendungszusammenhängen ebenso eintritt, lässt sich nur durch kontrastierende Fälle abschätzen. Andersherum stellt das Münzgeld keinen starken Fall von Situationsabhängigkeit dar, wie sie durch Segelmasten, Strandkörbe oder Klettergerüste hergestellt werden könnte. Das Kriterium der Situationsabhängigkeit wird demnach nicht gleich gut durch alle Gegenstände erfüllt, die in einem bekannten Zusammenhang auftreten, sondern ist abhängig z.B. von ihrer Typizität in Verbindung mit einer Anwendungssituation. Eine grundlegende und haltbare Bestimmung dessen, was Situationsabhängigkeit bei gestalteten Gegenständen ausmacht, steht demnach noch aus. 7.3.2 Rahmenbedingungen Der Anwendungskontext als eine Art aktivierende Komponente spielt bei Design-imGebrauch eine wesentliche Rolle. Es gibt aber bisher wenig inhaltliche Anhaltspunkte dafür, welche Kombination von Interface und Kontext zu interessanten Ergebnissen führt, oder ob sich solche allgemeinen Anhaltspunkte überhaupt ausmachen lassen. Im Interview lässt sich einfach auf unterschiedliche Gebrauchszusammenhänge Bezug nehmen. Der tatsächliche – nicht nur der imaginäre – Gebrauch ist wesentlich aufwändiger und schwieriger einzurichten. Das Einbetten von unbekannten Gegenständen in die eigene Lebenswelt, und sei es nur als zeitlich begrenztes Experiment, ist recht problematisch. Eine sinnvolle Auswahl und Beschränkung auf aussichtsreiche Anwendungssituationen ist hier unbedingt notwendig, aber noch fehlen die Kriterien. Im Zusammenhang damit ist ebenfalls offen, wie der größere Rahmen von Design-im-Gebrauch aussehen muss, um sicherstellen zu können, dass originelle Ge13 | So kann z.B. der schöne Name «Nudelholz» für eine Teigrolle auch dann erhalten bleiben, wenn ich es vorziehe, damit Eiswürfel in einer Plastiktüte zu zerkleinern, und es sich um ein Exemplar aus Marmor handelt.

210 | Gebrauch als Design

brauchsweisen in Zusammenhang mit Design gebracht und kommuniziert werden. Anhaltspunkte dafür, wie die Kollaboration unterschiedlicher Gruppen über längere Zeiträume aufrechterhalten wird, finden sich in erster Linie im partizipativen Design. Modelle zur gemeinsamen Entwurfsarbeit in Workshops und in den jeweiligen Anwendungssituationen eignen sich aufgrund der vergleichbaren Intentionen als Grundlage für Kollaborationsmodelle, bei denen die originelle Kontextualisierung und Umnutzung im Vordergrund stehen. 7.3.3 Interpreten In der kontrollierten Umgebung der Interpretationssitzungen war der Erfahrungshintergrund der Interpreten weniger ausschlaggebend für die originelle Deutung als die Bereitschaft zu scheinbar sinnlosen Assoziationen. Dass gerade das spezialisierte Handlungswissen der Interpreten bei der Umnutzung keine Rolle spielen sollte, scheint jedoch als Ergebnis zunächst überraschend. Auch dieser Umstand kann sich als eine Besonderheit der Interviewsituation herausstellen, bei der die tatsächliche Benutzung nicht im vollen Ausmaß stattfindet. Dann wäre immer noch ungeklärt, welchen Kontext die Interpreten selbst in Form von Handlungsgewohnheiten zum kontextualisierten Gebrauch beitragen, und wie er sich äußert: ob sich der Umgang eines Schneiders mit elektronischen Textilien von dem einer Restaurantbesitzerin unterscheidet. Der bedeutende, aber nicht unbedingt sichtbare Unterschied von Gebrauch zu Gebrauch-als-Design erfordert von den Benutzer-Interpreten einen Einsatz an Improvisation und grauen Zellen, der deutlich über das übliche Ausmaß im routinisierten Gebrauch hinausgeht. Eine wichtige und ungelöste Frage ist daher auch die nach der Motivation und den Möglichkeiten von Außenstehenden, diesen Aufwand als aktive Interpreten auf sich zu nehmen. Hierfür stehen zurzeit vor allem Modelle zur Verfügung, die auf Gebrauch vor allem als Selektionsmechanismus setzen, also Probanden zum Bewerten und Beurteilen hinzuziehen. Obwohl hier die Grenzen immer mehr aufweichen, müssen brauchbare Grundlagen für Design-im-Gebrauch auch auf Seite der Interpreten erst etabliert werden. In der Art, in der originelle Umnutzung als Alltagsphänomen die Aufmerksamkeit von Designern geweckt hat, ist es schlicht zu selten und zu unauffällig, um als Modell für die Kontextualisierung neuer Technologien herzuhalten. Brauchbare Ansätze finden sich deswegen am ehesten in der Kombination und dem Ausbau der partizipativen Methoden, die jetzt schon den Gebrauch betreffen, wie Tage der offenen Türen in Labors und Universitäten, Langzeit-Nutzerstudien mit interessierten Probanden, Workshops, Interviews und Befragungen von Fokusgruppen,

«Form» und Gegenstand | 211

Crowdsourcing-Ideenwettbewerbe, Crowdfunding-Initiativen, Benutzerfeedback und Diskussionen auf Hersteller-Webseiten, Gadget-Blogs und Technikzeitschriften, Maker Lab und DIY-Messen, oder Mitmach-Exponate in Museen und Ausstellungen. Solche Einflussnahme- und Feedback-Mechanismen sind häufig oberflächlich, manchmal ethisch bedenklich (z.B. wenn große Firmen sich die Ideenfindung durch Crowdsourcing sparen, ohne die Ideengeber entsprechend zu würdigen) und in der Tendenz eher auf die Selektion vorhandener Ideen bedacht als auf eigene Variation. Es besteht aber die Chance, die Beteiligung interessierter Nutzer mit unterschiedlichen Mitteln in der Forschung und Entwicklung stärker zu einer Handlungsroutine werden zu lassen. Im Gegenzug wäre dann zu hoffen, dass sich interessierte Benutzer mit der Zeit nicht nur mehr Entscheidungsmacht, sondern auch mehr Handlungsspielraum in der gesellschaftlichen Entwicklung von Gegenständen und Gebrauch herausnehmen.

7.4 D ESIGN

ALS EINE

F ORM

DER

F ORSCHUNG

Als eine Arbeit, die im Bereich der Designforschung angesiedelt ist, war mein Ziel, exemplarisch die enge Verbindung von Gestaltungs- und Forschungspraxis zu erproben, die mit dem Ansatz der Forschung-durch-Design theoretisch konzipiert wird. In Laufe des Promotionsprojekts hat sich damit für mich selbst dieser Begriff von einer abstrakten Idee zu einer konkreten Handlungspraxis gewandelt und erleichtert diesen Prozess hoffentlich in Zukunft auch für andere. Im Sinne der Forschung-durch-Design habe ich hierbei die Gestaltungspraxis nicht als rein empirischen oder exekutiven Teil der Arbeit behandelt, sondern als grundlegenden Reflexionsmodus, der gleichberechtigt neben der Textarbeit steht. Die theoretischen Konzepte und ihre gestalterische Umsetzung wurden im engen Bezug zueinander entwickelt, so dass eine Trennung von Theorie und Praxis nicht sinnvoll vorgenommen werden kann. Diesen Prozess habe ich möglichst umfassend versucht offenzulegen, nachvollziehbar zu beschreiben und mit theoretischen Konzepten aus anderen Forschungsbereichen anschlussfähig zu machen. Diese ausführliche Beschreibung soll die Verständigung und die Rezeption auch über die Designforschung hinaus ermöglichen. Zugleich dient sie auch als Übersetzungshilfe für den dinglichen Teil meiner Arbeit, ohne ihn jedoch ersetzen zu können. Die Integration von Text und anderen Gegenständen ist für die Designforschung immer noch eine Herausforderung. Die nicht-textlichen, materiellen Anteile einer Designforschungsarbeit benötigen einen anderen Interpretationsprozess als ein wissenschaftlich verfasster Text, der – zumindest aus der Perspektive einer Nachwuchsforscherin – weniger routinisiert und reglementiert erscheint. Dass das Ergebnis mei-

212 | Gebrauch als Design

nes eigenen Forschungsprozesses im Vergleich zum Ablauf wiederum so textlastig ausfällt, ist ein Zugeständnis an die größere Routine, mit der wissenschaftliche Texte produziert und interpretiert werden können. Es bleibt jedoch abzuwarten, welche anderen Formen des Zusammenspiels die Designforschung für das Verhältnis von Gegenständen und Texten in Zukunft noch entwickelt.

8 Anhang

8.1 F RAGEBOGEN

ZUR

AUSWAHL

DER I NTERPRETEN

Die folgenden Fragen sind einem Fragebogen entnommen, mit dem Daten von interessierten Probanden für Kreativ-Workshops und Produktevaluationen erhoben wurden, um sie als potenzielle Studienteilnehmer in einer Datenbank zu verzeichnen. In meinem Interviews sind diese Fragen ausschlaggebend gewesen, um mögliche Probanden aus der Datenbank auszuwählen. Bei der Frage nach der Berufsgruppe ging es um die Vertrautheit mit Design im Arbeitsalltag; die als besonders relevant eingeschätzten Berufsgruppen sind hier hervorgehoben. Die Fragen nach der Selbsteinschätzung zielten darauf ab, Probanden auszuwählen, die motiviert waren, eigene Ideen zu entwickeln. 1. Wann sind Sie geboren? Bitte geben Sie Ihren Geburtsmonat zweistellig und das Geburtsjahr vierstellig ein. 2. Sind Sie . . . ? • •

Männlich Weiblich

3. Welche der folgenden Aussagen trifft auf Ihren derzeitigen beruflichen Status bzw. Ihre Ausbildung zu? Sind Sie. . . ? • • • • • • •

Voll berufstätig Teilweise berufstätig – Teilzeit/stundenweise/zeitweise Vorübergehend nicht berufstätig, arbeitslos Nicht mehr berufstätig – in Rente/Pension Nicht mehr berufstätig – Hausfrau/Hausmann In Berufsausbildung/Lehre/Wehrpflicht/Zivildienst In Schulausbildung – Schüler

214 | Gebrauch als Design

• •

In Hochschulausbildung – Student Nicht berufstätig und nie berufstätig gewesen

4. In welcher Branche sind Sie tätig? Bitte geben Sie alle zutreffenden Branchen an.

• • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •

Architekturleistungen Automobilbranche Banken und Versicherungen Baugewerbe/ Handwerk Beratungsdienstleistungen (Steuern, Recht) Buchhaltung/ Finanzen Bundeswehr Einzel-/ Großhandel/ e-Commerce Energie/ Rohstoffe Erziehung und Unterricht Freizeit und Tourismus/ Hotelgewerbe/ Unterhaltungsindustrie Herstellung und Fertigung Immobilienbranche/ Haus- und Vermögensverwaltung IT-Bereich Kommunikation/ Marketing/ Werbung/ Öffentlichkeitsarbeit Kunst/ Kultur Land- und Forstwirtschaft Luft- und Raumfahrt Markt- und Meinungsforschung Medien/ Neue Medien/ Journalismus Medizin und Gesundheitswesen Regierungsbehörden/ öffentlicher Dienst Telekommunikation Textilien/ Rohstoffe/ Chemikalien/ Pharmaunternehmen Transportwesen/ Logistik Unternehmensberatung Verlagswesen Wohltätigkeitsorganisation/ nicht gewinnorientiertes Unternehmen Wissenschaft/ Forschung/ Biotechnologie Andere, bitte angeben:

5. Im Folgenden sehen Sie eine Reihe von Aussagen. Inwieweit stimmen Sie diesen Aussagen zu? Stimme überhaupt - - weder noch - - Stimme voll und ganz zu nicht zu •

Ich erzähle gerne von mir und meinem Leben.

Anhang | 215





• • • • • •



• • • •













• •

Wenn mich ein Thema interessiert, macht es mir Spaß, meine Meinung dazu zu äußern. Meine Freunde kann ich nicht oft genug sehen, denn es gibt immer etwas zu erzählen. In Gesellschaft anderer fühle ich mich am wohlsten. Ich mag es etwas vor zu haben und bin gern viel unterwegs. Ich fahre gerne in den Urlaub und mache gerne Wochenendtrips. Für kleine Unternehmungen schaffe ich mir gerne Zeit. Ich habe Spaß daran, immer mal wieder was Neues und Anderes auszuprobieren. Ich habe viele verschiedene Interessen und gehe diesen in meiner Freizeit auch nach. Wenn ich ein Produkt benutze oder eine Dienstleistung in Anspruch nehme, überlege ich häufig, wie man das Produkt bzw. die Dienstleistung verbessern oder weiterentwickeln kann. Mir macht es Spaß, Dinge weiterzuentwickeln. Ich habe Spaß daran, mir Lösungen für bestehende Probleme zu überlegen. Beim Brainstorming habe ich immer besonders viele Ideen. Die besten Einfälle und Ideen habe ich, wenn ich mit anderen diskutieren oder mich austauschen kann. Die besten Einfälle und Ideen habe ich, wenn ich in Ruhe und alleine nachdenken kann. Mir macht es Spaß, über neue Telekommunikationsprodukte und -anwendungen nachzudenken. Technisch kreativ: Ich bin technisch interessiert und bastele gerne an eigenen Ideen. Künstlerisch kreativ: Meine Freunde sagen, dass ich sehr gut zeichnen und malen kann. Ich experimentiere gerne mit neuen Möglichkeiten, Dinge zu tun oder Produkte zu nutzen. Wenn ich ein neues Produkt/ eine neue Marke im Regal sehe, dann kaufe ich es oft, nur um es auszuprobieren. Mir ist es wichtig, kreativ zu sein und neue Ideen zu generieren. Am liebsten mache ich Dinge auf meine eigene Art und Weise.

216 | Gebrauch als Design

8.2 H ALBSTRUKTURIERTER F RAGEBOGEN I NTERVIEWLEITFADEN

ALS

Vielen Dank für Ihr Interesse an unserer Studie. Vorab noch ein paar formale Punkte: •







Die Interviews werden von uns vertraulich behandelt, das heißt, wir veröffentlichen die Daten in unserer Studie so, dass sie keinen Rückschluss auf ihre Person ermöglichen (z.B. ohne Nennung von Namen). Ihre Teilnahme an dem Interview ist freiwillig, das heißt, Sie können jederzeit das Interview unterbrechen oder abbrechen, wenn Sie dies wünschen. Die Dauer ist eineinhalb bis zwei Stunden. Lassen Sie uns wissen, wenn Sie pausieren möchten. Vertraulichkeitserklärung: Da es sich hier um relativ neue Entwicklungen handelt, möchten wir Sie bitten, diese Vertraulichkeitsverpflichtung zu unterschreiben. Einverständnis Video: Wie bereits erwähnt, werden die Sitzungen für die interne Auswertung gefilmt. Wir benötigen daher ebenfalls Ihre Einwilligung, dass wir diese Aufnahmen verwenden können.

Ergänzende Angaben zur Person •



Womit beschäftigen Sie sich beruflich am meisten? Was machen Sie in Ihrer Arbeitszeit typischerweise? Welche Art von praktischen Problemen müssen sie da lösen? Haben Sie irgendwelche Hobbies? Was machen sie gerne (oder häufig), wenn Sie nicht arbeiten?

Hintergrund der Studie Wie vorher schon einmal erwähnt, geht es um das Ausprobieren einer Designmethode. Die Idee hinter dem Projekt ist, dass jeder Mensch die Welt etwas anders wahrnimmt, je nachdem, welche Erfahrungen er oder sie gemacht hat. Das ist bei der Bedienung von Technik manchmal ein Problem, aber es führt auch zu originellen Einfällen. Das möchten wir hier mit Ihnen zusammen ausprobieren. Wir haben nun ein paar Gegenstände entworfen, die ein bisschen vertraut sind, aber auch ein bisschen ungewohnt. Sie haben sozusagen die Rolle eines Archäologen. Das heißt, wir möchten Sie bitten, diese Gegenstände zu untersuchen, und dadurch herauszufinden, was der Gegenstand ihrer Meinung nach sein könnte: Wo er verwendet wird, von

Anhang | 217

wem, und für was. Es geht dabei nicht darum, die tatsächliche Funktion des Gegenstands herauszufinden, sondern viele unterschiedliche Einfälle zu haben. Dabei ist es nicht so wichtig, dass alle total plausibel sind – wenn die Form oder das Material sich dafür eignen, reicht das schon. Wir sind interessiert an allen Sachen, an die Sie diese Gegenstände erinnern. Erläuterungen zur Vorgehensweise Wir werden Ihnen nun insgesamt drei Gegenstände präsentieren, zu denen wir Ihre Eindrücke hören möchten. Dabei möchten wir Sie bitten, laut zu denken, das heißt, möglichst viel von dem auszusprechen, was Ihnen zu den Gegenständen in den Sinn kommt. Das können auch Bemerkungen sein, die Ihnen selbstverständlich vorkommen und die Sie sonst nicht erwähnen würden. Wir werden diese Gegenstände immer in drei Schritten durchgehen: •





Im ersten Schritt möchten wir Sie bitten, erstmal nur zu beschreiben, was Sie vor sich haben und wofür Sie es halten. Wir werden dabei mehrmals nachfragen, wie sie genau darauf kommen. Auch wenn Ihnen die Antwort selbstverständlich und banal vorkommt, möchten wir sie bitten, auszusprechen, welches Detail oder welche Eigenschaft für den Eindruck entscheidend waren. Im zweiten Schritt werden wir sie bitten, den Gegenstand näher zu untersuchen und ein wenig auszuprobieren, was dann passiert. Erst im dritten Schritt werden wir dann kurz demonstrieren, was der Gegenstand kann, also wofür er ursprünglich gebaut wurde. Dazu würden wir Sie dann wiederum bitten, Ideen zu entwickeln, in welchen Situationen das nützlich sein könnte.

Wir gehen das ganz kurz an einem alltäglichen Beispiel durch, wie das mit dem laut denken aussehen könnte (Beispiel Glasflasche). Wir haben für jeden Gegenstand etwa eine halbe Stunde Zeit. Bitte sagen Sie Bescheid, wenn Sie eine Pause wünschen. (Die folgenden Fragen werden für jeden der drei Prototypen gestellt; die Prototypen werden zu Beginn der Interpretation aus einer Kiste hervorgeholt und auf einem Tisch präsentiert. Die Reihenfolge der Prototypen wird in den Interviews variiert, so dass alle Folgen gleichermaßen vertreten sind.) • •

Kennen Sie genau diesen Gegenstand schon? Bitte schildern Sie uns, was Sie da vor sich sehen. Worum könnte es sich handeln? Was könnte man damit machen?

218 | Gebrauch als Design





Nun möchte ich Sie bitten, den Gegenstand etwas näher in Augenschein zu nehmen. Bitte beschreiben Sie uns weiterhin, was Sie dabei entdecken, und worum es sich handeln könnte. Nun präsentieren wir Ihnen kurz, was man mit dem Gegenstand machen kann, bzw. wofür er konstruiert wurde. Bitte überlegen Sie, in welcher Situation oder für welche Nutzer dieser Gegenstand nützlich und sinnvoll sein könnte. Vielleicht fallen Ihnen auch andere Funktionen ein, die Sie mit dieser Art von Interaktion in Verbindung bringen?

Abbildungsverzeichnis

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 3.1 3.2 3.3 3.4

4.1 4.2 4.3 4.4

Der «Interfacing»-Prozess nach Krippendorff. | 30 Evolutionäres Prozessmodell nach Jonas. | 33 Design und Gebrauch als zirkulärer Prozess. | 49 Unterteilung von Design und Gebrauch gemäß den Jonas’schen Prozessphasen. | 50 Matrix mit vier Designansätzen nach Antizipation und Repräsentation. | 54 Benutzerorientiertes Design im Prozessmodell. | 57 Partizipatives Design im Prozessmodell. | 59 Nicht-intentionales Design. | 61 Kritisches Design. | 63 Unterschiedliche Intensitäten der Aneignung nach Ron Eglash. | 69 Geschlossene Systeme von Organismus, Bewusstsein und Kommunikation. | 82 Begriffe der Form-Gegenstand-Unterscheidung und ihre Beziehung. | 89 Gestaltungskritierien von Prozess und Struktur sowie Situationsabhängigkeit. | 91 Erster Prototyp eines Radios mit Textil-Interface. | 98 Radio mit angelöteteten Kabeln. | 99 Textile Radio-Interface-Elemente. | 100 Assoziationen zweiten Grades mit textilen Eigenschaftswörtern über Synonyme. | 102

220 | Gebrauch als Design

4.5 4.6 4.7 4.8 4.9 4.10 4.11 4.12 4.13 4.14 4.15 4.16 4.17 4.18 4.19 4.20

6.1 6.2 6.3

6.4

Ideenskizzen für textile Interaktion zum Steuern von elektronischen Geräten. | 104 Funktionsmodelle zum Testen textiler Interaktionen. | 105 Übersicht der Prototypen und der Zuordnung zu den zwei Variablen-Sets. | 107 Bedienelemente der Wavecap. | 108 Lautstärkeregelung der Wavecap. | 109 Das Innenfutter der Wavecap. | 110 Muster des Undercover. | 112 Antizipierte Benutzung des Undercover. | 113 Elektronische Komponenten des Undercover. | 114 Shuffle Sleeve. | 116 Verarbeitungsdetails des Shuffle Sleeve. | 117 Antizipierte Bedienweise des Shuffle Sleeve. | 118 Shuffle Sleeve mit aufgesetzem Controller. | 119 Mögliche Arten der Abweichung in Anwendungssituation und -zweck, und ihre Intensitäten. | 125 Verhältnis der Auswertungsaspekte und Gestaltungskriterien. | 129 Matrix zur Einordnung abweichender Assoziationen zu den Interfaces am Beispiel der Wavecap. | 133 Die Zeichenaspekte der Erstheit, Zweitheit und Drittheit. | 170 Die sechs Peirceschen Zeichenklassen der Abduktion nach Chow und Jonas. | 172 Vier Beispiele zu bekannten und abweichenden Zeicheninterpretationen und den daraus resultierenden Anwendungsszenarien beim Shuffle Sleeve. | 176 Rückwirkung der irritierenden Gestaltung auf die Umdeutung im Gebrauch. | 187

Abbildung 4.18 verwendet Fotos von folgenden Urhebern: James Allenspach, http://www.flickr.com/photos/jima/539182789/ Carol VanHook, http://www.flickr.com/photos/librariesrock/4733920397/ Alpha, https://www.flickr.com/photos/avlxyz/705162676 K.B. Owen, http://www.flickr.com/photos/kbowenwriter/7618981458/

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Andrea Rostásy, Tobias Sievers Handbuch Mediatektur Medien, Raum und Interaktion als Einheit gestalten. Methoden und Instrumente November 2014, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2517-2

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