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German Pages 218 Year 2015
Martin Gessmann Wittgenstein als Moralist
2009-09-22 10-06-00 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02f4221507515798|(S.
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Martin Gessmann lehrt Philosophie an der Universität Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Phänomenologie in Verbindung mit den Neurowissenschaften, Technikphilosophie, Filmtheorie und Modernetheorie.
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Martin Gessmann
Wittgenstein als Moralist Eine medienphilosophische Relektüre
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Inhalt
Einleitung ..................................................................................................
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I. Moralistik und Moderne ....................................................................... Auszug aus der entzauberten Welt: zweierlei Motivationen .................... Auszug aus der entzauberten Welt: zweierlei Richtungen ...................... Wittgenstein als Moralist ......................................................................... A. Das Wiederfinden des Wunderbaren in der Welt ....................... B. Die Erfindung des Sensationellen ................................................ C. Das Ende der Moralistik ................................................................
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II. Wittgensteins Bilddenken und die Kulturtheorie ............................. 157 III. Wittgensteins Weltbild und die Neurowissenschaften ................... 187 Bibliographie ............................................................................................. 203 Primärliteratur .......................................................................................... 203 Sekundärliteratur ..................................................................................... 204
Einleitung
»Das ist die kurze Geschichte einer langen Verwunderung. In den Grundzügen ist sie jedem vertraut, der sich schon einmal in einer Panik befand, diese Panik schließlich überwand und dann mit neuen Augen sein Leben anschaute. Panik, das ist der Zusammenbruch der Maßstäbe, das alles verschlingende Gefühl vollkommenen Ausgeliefertseins, die Entwertung aller Erfahrungswerte. Wer durch die Panik ging, dem kann man nichts mehr erzählen, dem sind die Selbstverständlichkeiten abhanden gekommen. Der sieht hinter allen Zufriedenheiten die prekäre Grundsituation: daß da möglicherweise gar nichts ist; daß vielleicht nicht er, der Panische, mit Blindheit geschlagen ist, sondern die anderen, die Zufriedenen. Nicht mehr zu wissen, was von den Dingen zu halten ist, macht einen wahnsinnig oder trübe oder zynisch. Oder poetisch, und man versucht, Schriftsteller zu werden. Weil man die Welt nur noch als Wunder begreifen kann, als unwahrscheinliches Spektakel, das man zu beschreiben verlangt, an dem man aber eigentlich nicht mehr teilnehmen möchte« 1.
Man muß wahrscheinlich gar nicht viel werben, um auf Wittgensteins Denkwegen eine solche »kurze Geschichte einer langen Verwunderung« plausibel zu finden. Zu präsent sind die permanenten Gesten seiner Philosophie, sich auf nichts mehr einlassen zu wollen, Gesten der Distanzierung von jedem verläßlichen Sinn in der Welt, wie sie schon am Ende des Tractatus dramatisch beginnen und in der Skepsis von On Certain1 | Chr. Geyer, »›Wir sind nicht in der Position, uns viel zuzutrauen‹.
Rezension von Geert Mak, Der Mord an Theo van Gogh. Geschichte einer moralischen Panik, Frankfurt a.M. 2005«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. November 2005, S. L 13.
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ty ein eigenartig gelassenes Ende finden. Wer Wittgenstein liest, hat es augenscheinlich immer schon mit der Gebärdensprache der Vanitas zu tun, das ›Wegwerfen der Leiter‹ nach mühsam errungenem Aufstieg ist nur die berühmteste unter ihnen, und daß ›Irren besonders menschlich‹ ist, bleibt das letzte Wort in jeder Sache2. Wer die Biographien liest, weiß von den vermeintlichen Höhen und ausgemessenen Tiefen, von Wittgensteins fast zehnjähriger Philosophie-Abstinenz, dem ersten Weltkrieg, der vorausging, dem Rückzug aus Cambridge in die österreichische Provinz und dem einsamen und kargen Volksschullehrerdasein, das folgen sollte. Auch ist jedem klar, daß Wittgensteins Rückkehr nach Cambridge und die Professur in den 30er Jahren nicht gerade eine triumphale Wiederauferstehung des Wittgenstein ist, der er einmal war oder zumindest sein wollte. Fragt man die Theologen, wird man von einem ›Gottsucher‹ erfahren, dem zumindest die letzte Offenbarung ganz sicher versagt blieb. Wer die Soziologen konsultiert, wird sich belehren lassen, daß bei Wittgenstein gerade nichts mehr auf ein Theorievertrauen hindeutet, von kritischer Haltung und Engagement, das daraus folgen könnte, ganz zu schweigen. Die Psychologen sind auf ihre Weise unzufrieden, weil sie hier auf einen Widerspruchsgeist treffen, der zwar viel von Philosophie als Therapie spricht, dabei aber nicht meint, der Mensch würde therapiert, sondern die Philosophie. Am besten wäre es nach Wittgenstein mit uns bestellt, sie würde ganz wegtherapiert. Jene Logiker schließlich, die sich ausdrücklich auf ihn berufen und sich im ›Wiener Kreis‹ identifizieren, finden in ihrem vermeintlichen Schulvater tatsächlich nur noch einen offen gelangweilten Zuhörer, der ihnen eigentlich lieber buddhistische Gedichte vorlesen würde. Verzweiflungsgeschichten, die schließlich in der Schriftstellerei enden, gibt es freilich viele, es gab sie immer schon. Die ganze Literatur ist voll davon, von den Spruchweisheiten der Wüstenheiligen bis zu den Lehren von Esoterikern unserer Tage. Sie alle schildern Verlusterfahrungen, die so groß und bedeutend sind, daß sie ein Individuum an den Rand seiner Existenz bringen können. Es handelt sich, wie Sartre diese Literatur getauft hat, um eine solche der ›grandes circonstances‹, der großen Umstände und Begebenheiten. Das kann objektiv gemeint sein und auf die Größe der Ereignisse deuten, auf das, was einem Autor tatsächlich 2 | Vgl. L. Wittgenstein, Über Gewißheit, hg. v. J. Schulte (7. Auflage), Frankfurt a.M. 1997 (im folgenden mit ÜG abgekürzt und im fortlaufenden Text zitiert), S. 255f.
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in der Welt zustößt, oder aber subjektiv, indem man fragt, wie sensibel er es empfindet. Auf dieser Linie ist schon manches auch mit Wittgenstein versucht worden. Als äußeres Ereignis kommt der erste Weltkrieg in Frage, während dem, für Brian McGuinness, Wittgenstein Tolstoi und Jesus für sich entdeckt3, nachahmt und zum Mystiker wird. Die innere Sensibilität, eine generelle Erregbarkeit des Intellekts, sieht Ray Monk als den Ursprung für die Pflicht, ein Genie zu werden 4, einer Pflicht, die in Zeiten der Geniereligion der Wiener Dekadenz den Denker Wittgenstein in ein tragisches Licht stellt. Auch andere Sensibilitäten werden angesprochen, wie beispielsweise William Bartley versucht hat5, die intellektuelle Exzentrik Wittgensteins aus einer homosexuellen Anlage heraus zu erklären. Die Liste kann erweitert werden, wo überhaupt der Umstand, daß man sich in der Welt an Dingen und Widerständen stößt, zur Ursache für radikale Einkehr und eine philosophische Selbstaufgabe wird, wie es Stanley Cavell stilisiert, indem er von »Literatur als« dem »Wissen des Outsiders«6 spricht. Philosophisch interessant werden solche Verzweiflungsgeschichten allerdings erst, wenn dahinter nicht nur Biographie und Literatur stehen, sondern eine Theorie. Was dem Protagonisten Wittgenstein zustößt, sollte dann nicht einfach den Umständen oder seinen individuellen Anlagen geschuldet sein, sondern als Antwort auf eine weiterreichende Frage und Problematik gelten. So werden die Geschichten sprechend, wenn Wittgenstein selbst an dem Verhängnis beteiligt ist, es selbst mit hervorgebracht hat, und dies zuletzt nicht als eine Laune seines Intellekts, sondern so – und von ihm selbst so verstanden –, als handelte es sich um eine notwendige gedankliche Entwicklung, der er offenbar folgen mußte. »Die Denkbewegung in meinem Philosophieren müßte sich in der Geschichte meines Geistes, seiner Moralbegriffe & dem Verständnis meiner Lage wiederfinden lassen«7. Die Denkbewegung steht so am Anfang, die besondere Lage, auf die Wittgenstein hier Anfang der 30er Jah3 | Vgl. Br. McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, Frankfurt a.M.,
1988, S. 420ff. 4 | R. Monk, Ludwig Wittgenstein, The Duty of Genius, London 1990, dt.: Wittgenstein. Das Handwerk des Genies, Stuttgart 2004 (zweite Auflage). 5 | W.W. Bartley, Wittgenstein. Ein Leben, München 1983. 6 | St. Cavell, Der Anspruch der Vernunft. Wittgenstein, Skeptizismus, Moral und Tragödie, Frankfurt 2006, S. 754. 7 | L. Wittgenstein, Denkbewegungen. Tagebücher 1930-1932, 1936-1937, hg. v. I. Somavilla, Frankfurt a.M. 1999, Eintrag vom 2.11.1931, S. 62.
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re reflektiert, am Ende; in der Mitte steht die Geschichte seines Geistes, und diese wiederum kann offenbar nicht ohne das besondere Verständnis von Wittgensteinschen »Moralbegriffe(n)« nachvollzogen werden. Wenn Wittgenstein im folgenden entsprechend als Moralist angesprochen wird, kann man damit wiederum eine vorläufige Stellungnahme verbinden, die vielleicht alle Zeitgenossen, die ihn erlebt haben, leicht hätten unterstützen können. Es ist die Vorstellung von einem Menschen mit einem besonders ausgeprägten Moralbewußtsein, besonderer Sensibilität gegenüber tiefgreifenden Ungerechtigkeiten, beides verbunden mit einer außergewöhnlichen Rigorosität der Anschauungen. Die Geschichten sind Legion, in denen Wittgenstein seine Umwelt oder sich selbst brüskiert hat mit Ansprüchen, die immer überzogen schienen und im Grunde niemals haltbar gewesen waren. Von einem »alttestamentarischen« Zorn8 ist mitunter die Rede, wo Wittgenstein im Augenblick der Verfehlung sein Gegenüber tadelt, von nicht nachvollziehbarer Selbstverachtung, wo er seine engsten Freunde heranzieht, um seine eigenen »Sünden«9 zu beichten. Hinter diesen Stellungnahmen verbirgt sich allerdings ein sachliches Motiv, das wesentlich weiter reicht als in den Charakter und die besondere Persönlichkeit Wittgensteins. Es ist klar, daß die Vehemenz, mit der er seine »Moralbegriffe« vertritt, übertragbar sein muß auf das Festhalten überhaupt an letzten Maßstäben. So werden schon im Tractatus zwei Bereiche unseres intellektuellen Umgangs mit der Welt von jeglichem Wandel ausgenommen und als in jeder Hinsicht grundlegend angenommen, die »Ethik« und die »Logik«, beide sind »transcendent«10. Eine solche Verbindung beider Bereiche findet sich stilbildend für Wittgenstein auch bei Otto Weininger, der das Auffinden letzter Beurteilungsgründe zur philosophischen Charakterfrage erklärt hatte. Die zweite sachliche Hinsicht, in der Wittgenstein als Moralist wichtig werden kann, ist damit auch schon angesprochen. Es ist die Vorstellung, daß mit moralischen wie logischen Verbindlichkeiten auf die besondere Lage und das geistige Klima einer 8 | E. Heller, »Wittgenstein und Nietzsche«, in: ders., Die Reise der Kunst ins Innere«, Frankfurt a.M. 1966, S. 238. 9 | Vgl. L. Wittgenstein, Portraits und Gespräche. Übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt a.M. 1987, S. 237. 10 | L. Wittgenstein, Tagebücher 1914-1916, in: ders., Tractatus logico-philosophicus, hg. v. J. Schulte, (11. Auflage) Frankfurt a.M. 1997 (im folgenden abgekürzt und im fortlaufenden Text zitiert mit TB und der Datumsangabe des jeweiligen Eintrags), hier: 30.7.16(9).
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Zeit reagiert wird. Im Falle Weiningers und dann Wittgensteins ist es das, was Allan Janik und Stephan Toulmin in Wittgensteins Wien als die paradigmatische Atmosphäre gesteigerter Dekadenz zum Ende einer belle époque beschrieben haben. Vor diesem Hintergrund erscheint Wittgenstein als Moralist, als ein zeitgemäßer Rigorist, dem es grundsätzlich darum geht, in einer Kultur der Oberflächlichkeit und Unverbindlichkeit feste Orientierungspunkte in der Philosophie zu finden. Er fühlt sich, wie er selbst sagt, beeinflußt von »Boltzmann, Hertz« in der Physik, in Kulturdingen von »Kraus, Loos, Weininger, Spengler«11. Zu ergänzen wäre, was im Umfeld von Wittgensteins Wien begründet liegt, der indirekte Einfluß von Musikern wie Schönberg, Malern wie Klimt, Dichtern wie Trakl. Noch weiter soll allerdings das sachliche Motiv reichen, das im folgenden mit der These von Wittgenstein als einem Moralisten verbunden sein soll. Das letztlich Interessante an einer Lektüre von ›Wittgenstein im Kontext‹ ist nämlich nicht so sehr der Umstand, daß sich in Zeiten der Dekadenz immer wieder Denker und Mahner finden, die ihre Aufgabe darin sehen, die Wahrheitsansprüche in Logik und Ethik erneut hochzuhalten. Hier wäre Wittgenstein nur einer in einer langen Liste, die mit Sokrates und den ersten Kulturkritikern in der Antike beginnt und womöglich immer erneuert wird, wo Gesellschaften und Kulturen im Wandel sind und es ein Feuilleton gibt. Wittgenstein dagegen scheint mit seiner Philosophie in einer besonderen Lage, die ihn zum wichtigen Glied einer anderen Traditionskette werden läßt. Der Grundgedanke der Moralistik wäre in dieser Wandlung am kürzesten so zu beschreiben, daß der Moralist in Haltung und Ansprüchen noch vollkommen seinen Vorbildern gleicht, im Unterschied zu diesen aber in Sachen Wiederherstellung alter, bewährter Maßstäbe nicht mehr mithalten kann. Wo es dem Moralisten alten Schlages noch leichtfällt, einfach zu wiederholen, was als recht und billig und richtig angesehen werden muß, und er dabei nur den Kontrast zur Wirklichkeit betonen muß, ist der Moralist der neuen Generation in einer schwierigeren Lage. Es fehlt ihm nämlich grundsätzlich an einer intakten Verbindungslinie zu den alten Gewißheiten, die aus sich heraus als evident und unbestreitbar gelten können. So steht er vor der Schwierigkeit, etwas zu erneuern, was er im Grunde selbst nicht mehr so präsent haben kann, daß es sich von alleine und ohne jede Künstlichkeit 11 | L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, in: ders., Über Gewißheit, hg. v. J. Schulte (7. Auflage), Frankfurt a.M. 1997, S. 476, im folgenden abgekürzt mit VB.
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nahelegt. Er muß schon stilisieren, ein Stück weit erfi nden und seine Gewißheiten mit Anstrengung hervorbringen, um glaubhaft zu machen, daß die vorgestellten Maßstäbe tatsächlich aus einer echten Intuition und bewährten Wahrheitsbefugnis hervorgehen. Aufs Praktische gemünzt ist das Urbild solcher Moralistik immer in dem zu finden, was man seit Cervantes einen Don Quixotismus nennt und damit eine Tragik meint, die den Helden gerade wegen seiner besten Absichten immer begleitet. Die Welt des Moralisten neuen Schlages ist prinzipiell eine vergangene Welt, die überhaupt nur durch die Fiktion von dem, was einst wahr und gültig gewesen ist, noch fortlebt. Sie ist die Wiederholung und die Propaganda eines Ideals, das zuletzt als ein Abbild ohne echtes, verläßliches Urbild erscheint. Rousseau hat in diesem Sinne stilbildend gewirkt, als er zu Beginn seines zweiten Discours vorausgeschickt hat, es komme gar nicht darauf an, daß es so etwas wie einen unverfälschten Urzustand zu aller zivilisatorischen Verstellung tatsächlich gegeben habe12. Während die Linie ausgehend von der Klassik und der Aufklärung vor allem eine moralphilosophische ist, die über die romanische Moralistik via Schopenhauer bis zur Wiener Dekadenzkultur und damit auch Wittgenstein reicht, kommt vor allem mit Nietzsche im 19. Jahrhundert zur Moralkritik noch eine metaphysische Dimension hinzu. Erich Heller war in diesem Sinne der erste, bei Wittgenstein die philosophische Neigung zu einer vorkantischen, vorkritischen Metaphysik gefunden zu haben, einer Metaphysik, in der ein Gott noch verbürgen kann, daß unsere eigenen Vorstellungen von der Welt weiterhin recht und gültig sind. Der ›Fortschritt‹, den Wittgenstein in Verlängerung dieser Linie geleistet habe, bestehe dann in dem Umstand, daß er einen »aufs genaueste definierten und eng begrenzten Bezirk des menschlichen Verstehens«13 benannt habe, in dem noch eine unmittelbare Gewißheit in der Übereinstimmung von Sprache und Welt behauptet wird. Philosophisches Gewicht bekommt die These von Wittgenstein als einem Moralisten entsprechend, wenn sich die Moralistik als eine philosophische Option vor dem Hintergrund spezifisch moderner Kulturverhältnisse profilieren läßt. Im Hintergrund stehen dann jene Modernetheorien, die generell mit dem Abbau intuitiver Gewißheiten und ihrer Relativierung durch die neuen Medien mit ihren anonymen Codierungs12 | Vgl. J.-J. Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen
der Ungleichheit unter den Menschen, hg. v. Ph. Rippel, Stuttgart 2005, S. 23. 13 | E. Heller, »Wittgenstein und Nietzsche«, in: ders., Die Reise der Kunst ins Innere, a.a.O., S. 244.
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und Bewertungsverfahren rechnen. Mit Marx und Max Weber läßt sich argumentieren, wo zuletzt alle überkommene ›Wertrationalität‹ droht, von einer gegenüber ethischen Zielen gleichgültigen ›Zweckrationalität‹ überboten zu werden. Heidegger gab der Klage zuletzt eine universalgeschichtliche Note, indem für ihn eine ›Gigantomachie‹ des Seins am Werke ist, in der die Kräfte der alten Besinnung auf das Sein in den modernen Weltanschauungen unterliegen müssen. Von hier aus nimmt dann die ›Verzweiflungsgeschichte‹ Wittgensteins ihren Ausgang und ihren spezifischen Lauf. Es muß so erscheinen, als sei es Wittgenstein in seiner ersten Werkphase vor allem darum gegangen, mit der logischen Brillanz seiner Argumentation das Grundvertrauen in die Sprache wiederherzustellen, und vor dem Hintergrund der diagnostizierten metaphysischen Verunsicherung darf dies dann als ein gekonnter Versuch neuerlicher Verzauberung längst ernüchterter Sprachverhältnisse interpretiert werden. Wie gekonnt beweisen bis heute alle Wissenschafts-Positivismen, die sich auf seine Autorität bei der Grundlegung ihrer Weltsicht berufen können. In einer zweiten Phase, die im Grunde schon während der Redaktionszeit des Tractatus einsetzt, gilt es dem graduellen Verfall der Wittgensteinschen Hoffnung zuzusehen, selbst von dem logisch-mathematischen ›Zauber‹ seiner Argumentation nachhaltig überzeugt zu sein. Hier wird sich die These von ›Wittgenstein als einem Moralisten‹ insofern als brauchbar erweisen, weil man damit eher verstehen kann, wie die historischen Umstände der Gültigkeit seiner Überzeugungen etwas anhaben konnten. Weil schon der Tractatus, wie er später sagt, ein ethisches Werk 14 ist, ist auch der Zustand der Welt keine Größe, die selbst bei heroischer Haltung zu vernachlässigen wäre. Zumindest erscheint dies so, wenn der Wendepunkt in der Beurteilung dessen, was mit dem Tractatus in Wahrheit geleistet ist, mit den Erfahrungen zu tun haben muß, die Wittgenstein während des ersten Weltkrieges als Frontsoldat machen mußte. Die ›Panik‹-Potentiale, von denen eingangs die Rede war, sind hier am besten zu verorten. Eben weil der Moralist mit seiner Erwartungshaltung so eng definierte und hochherzige Ziele verbindet, ist die
14 | In dem berühmten Brief an Ludwig von Ficker vom Oktober oder November 1919, wo es heißt: »In Wirklichkeit ist er Ihnen nicht fremd, denn der Sinn des Buches ist ein Ethischer.« (L. Wittgenstein, Briefwechsel mit B. Russell, G.E. Moore, J.M. Keynes, F.P. Ramsey, W. Eccles, P. Engelmann und L. von Ficker, hg. v. Br. McGuinness und G.H. von Wright, Frankfurt a.M. 1980, S. 96)
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Gefahr auch groß, an den selbstgesetzten Maßstäben ohne alle Beschönigung zu scheitern. Das gilt im Theoretischen wie im Praktischen. Wo dies bis zu Ende verfolgt ist, bleibt im Sinne des Eingangszitats zu fragen, was aus solch einer Geschichte, die mit Wittgenstein selbst als eine Verzweiflungsgeschichte gewertet werden darf, schließlich folgt. Daß er »wahnsinnig oder trübe oder zynisch« werden sollte, hat er selbst zwar immer befürchtet, ist aber für die weitere Wirkung unerheblich. Vielversprechend erscheint dagegen der Ansatz einer Wende von Wittgenstein als einem Philosophen zu Wittgenstein als einem Schriftsteller. »Weil man die Welt nur noch als Wunder begreifen kann, als unwahrscheinliches Spektakel, das man zu beschreiben verlangt, an dem man aber eigentlich nicht mehr teilnehmen möchte« – es scheint die radikalste Option, die ganz auf Theorieansprüche verzichten will und im Grunde nur noch das ›tiefere‹, bedeutungslose Fließen der Sprache dokumentiert, immer dann, wenn es scheint, daß über das Wunderbare dieses Vorgangs hinaus noch etwas Weiteres philosophisch festzuhalten wäre. Wirkungsvoll ist diese Form der Ernüchterung zuletzt geworden vor allem, weil sich die Bewegung des New Wittgenstein um Cora Diamond und James Conant einer solchen Vergeblichkeitsrhetorik sehr erfolgreich bedient hat. Positiv gewendet erscheint die Einsicht in eine unaufhörliche Bewegung der Sprache dagegen in der philosophischen Hermeneutik, die aus der Therapie überzogener Theorieansprüche immerhin noch auf ein Restvertrauen in die Fähigkeit des Logos zur Welterschließung schließen will. Einen grundsätzlich neuen Zug gewinnt die Debatte dort, wo das ›Poetische‹ des Neuansatzes eine ganz andere Qualität annimmt und am Ende gar nicht mehr im Horizont der Sprache allein zu verorten ist, sondern in deren naturalen und medialen Aspekten. Hier findet eine erstaunliche ›anabasis eis allo genos‹ statt, deren Ende noch nicht absehbar ist. Ein Stück weit in diese Richtung ist Richard Rorty gegangen, wo er Wittgenstein nach dem Muster von Dewey am liebsten zwischen Hegel und Darwin situieren wollte und ein pragmatisch ernüchtertes Sprachgeschehen zuletzt etwas Evolutionäres bekommt, vor allem dort, wo es zu einer dialektischen Kreativität in Fortsetzung und Bruch mit dem Gegebenen kommt. Stanley Cavell hat ausgehend von anderen Hintergründen, aber im selben Fahrwasser, darauf geschlossen, daß Wittgenstein mit der Sprache in Wahrheit gar nicht das Medium gefunden hat, in dem seine tiefste Einsicht von der Vorläufigkeit aller philosophischen Bedeutungen zum Tragen kommt. Mehr noch als alle Sprache, selbst wenn sie als Literatur im Sinne Wittgensteins auftritt, ist das Bild, vor allem
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das bewegte Bild in der Lage, die ›transparency‹ zu gewährleisten, die Durchsichtigkeit der Zeichen auf ihr Gemachtsein, ihre Inszenierung und ihre genuine Einseitigkeit in dem, was sie darstellen. Vor allem der Film transportiert so für Cavell über die Projektionen, die er entwirft, immer auch die Reflexion darauf mit, daß er selbst nichts anderes als eine Projektion und Abschattung der Wirklichkeit ist. Ganz zum Schluß kann man schließlich fragen, ob nicht überhaupt in der Vorbereitung eines Wechsels unseres Paradigmas der Weltwahrnehmung Wittgensteins aktuellster Beitrag zur Philosophie besteht. Ob nicht die Verabschiedung der Philosophie aus der transzendentalen Grammatik der Sprache zugleich die Möglichkeit des Eingangs in eine neue Grammatik bedeuten kann, die mit dem Medium Bild und dem Begriff der Gestalt zum Teil einer Hermeneutik der Natur wird. So sicher es ist, daß Wittgenstein solches nicht im Schilde führte, insofern er überhaupt keine philosophische Fundierung mehr leisten wollte, so sicher ist auch, daß sich zumindest eine solche Möglichkeit mit dem Vokabular auftut, das er zur Widerlegung idealistischer Erklärungsansprüche benutzt oder entworfen hat. Die Bildtheorie hat entsprechende Ansätze bei Wittgenstein ausgemacht, und es scheint eine Überlegung wert, diese mit Wittgensteins Rückgriff auf die ›Weltanschauung‹ seiner Zeit, die er mit Goethes und Spenglers morphologischer Methode benennt und zu der er sich in Maßen bekennt, in Verbindung zu bringen. Metaphysik und Metamorphose stünden so in einem Nachfolgeverhältnis. Anschlüsse zur zeitgenössischen Systemtheorie mit ihrer Grammatik der Metabiologie stünden damit zumindest offen. Eine medientheoretische Relektüre Wittgensteins kann allerdings am Ende noch ein Stück weiter gehen. Wenn es nämlich gelingt, mit Wittgenstein und seinen innovativen Gedanken zur Bildlogik nicht nur einen Abschied vom ›linguistic turn‹ des frühen 20. Jahrhunderts vorzubereiten und damit einen Nachvollzug des ›iconic turn‹ zu verbinden; sondern zugleich mit dem Abschied von der bisherigen Textzentrierung der Philosophie auch zugleich den Einstieg in ein nicht mehr symbolgeneriertes, sondern unmittelbares Weltverstehen anzubahnen. Was die Lebenswissenschaften, besonders die Neurowissenschaften in den vergangenen fünfzehn Jahren an Ergebnissen hierzu geliefert haben, wartet in gewisser Weise nur darauf, in einer an Wittgenstein anschließenden Betrachtung in diesem Sinne erschlossen zu werden. So wird es im Schlußteil des Buches darum gehen, wie Wittgensteins späte Rede von einem unmittelbar anzunehmenden ›Weltbild‹ grundsätzlich gemeinsame Züge mit den neuesten Nachrichten von unserer neuronalen
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Verfassung hat, wie sie uns ›zunächst und zumeist‹ mit unserer Umwelt sinnvoll deutend umgehen läßt. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei auf das Phänomen der ›Empathie‹ gelegt werden, an dem die Unmittelbarkeit eines gegenseitigen Einverständnisses und Mitfühlens besonders deutlich wird. Versteht man, wie bestimmte, philosophisch ausgezeichnete Stimmungen eine naturalisierte Form unserer Weltbilder darstellen und wie wir durch sie miteinander ›immer schon‹ verbunden sind, noch bevor die philosophische Reflexion einsetzt, kann man darin eine unerwartete wie auch positive Frucht von Wittgensteins später Skepsis gegenüber jedwedem Geltungsanspruch der Philosophie sehen. Es könnte demnach sein, daß Wittgenstein als Moralist am Ende einer langen und verwickelten Verzweiflungsgeschichte dennoch bewiesen hat, wie zukunftsweisend ein Moralist in Wahrheit sein kann, wo er vorgibt, an längst Vergangenem festzuhalten.
I.
Moralistik und Moderne
Auszug aus der entzauberten Welt: z weierlei Motivationen Ideengeschichtlich hat eine Verzweiflungsgeschichte wie die Wittgensteinsche einen spezifischen Ort. Ganz generell gesprochen ist sie Teil einer epochalen Wende, in der sich Gelehrte und Intellektuelle im Zuge der modernen Veränderungen nicht mehr als Repräsentanten ihrer Zeit wiederfinden, an der Spitze einer schulischen wie gesellschaftlichen Hierarchie, sondern als Außenseiter in kritischer Randstellung. Die Antike brauchte den Weisen, Spätantike und Mittelalter den Heiligen, die bürgerliche Gesellschaft das Genie als ein Vorbild, damit sich der Einzelne im Ganzen wiedererkennt. Wer so exponiert war, verstand sich als Repräsentant, und dem Publikum erschien er wie ein öffentlich gemachter Mikrokosmos, an dem sich der Makrokosmos gesellschaftlicher Verhältnisse beispielhaft erklären ließ, sei es in Glaubensdingen, politischen Angelegenheiten oder kultureller Selbstverständigung. Bis heute ist jede Star- und Kultorganisation noch auf derlei Idole angewiesen, und ihr zur Schau gestelltes Leben ist ein verläßlicher Platzhalter für die Gemeinschaftsseele der Anhängerschaft. Indem allerdings jene Eigenschaften, Tugenden und Werte mehr und mehr auf moderne Institutionen übertragen und dort funktionalisiert werden, wird auch die Stellung solcher Eilten prekär. Ein außerordentliches Vorbild, ein glänzender Vertreter der Sache wird nicht mehr dringend gebraucht, wo Verläßlichkeit von Routinen und Verfahren ausgeht, von Behörden, Verwaltungen wie Schiedsstellen und Geschmacksinstanzen. Von Hobbes bis Hegel zieht sich eine Linie der Entmachtung der großen Individuen im Staat, die ihre politische Wirkung grundsätz-
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lich teilen müssen mit der Herrschaft mechanischer Machtapparate und Institutionen. Der einstmals absolute Herrscher einer Dynastie ist nach Hegel nur noch der ›Punkt auf dem i‹. Mit Adam Smith setzt sich parallel dazu die Einsicht durch, daß sich auch moderne Volkswirtschaften nicht mehr nach Gutsherrenart verwalten lassen, sondern eine ›unsichtbare Hand‹ auch über mächtigen Akteuren schwebt, die später prosaischer als die Kräfte des Marktes und ihre Vernetzung im Zuge fortschreitender Globalisierung verstanden wird. In der Kultur wird der große Künstler mit dem Ende der Auftragskunst im 18. Jahrhundert zwar endlich auch Herr seines eigenen Tuns. Allerdings muß der von wirtschaftlichen Fesseln befreite Artist im Folgenden mit ansehen, wie sich seine Objekte ihrerseits seinem Zugriff entziehen. Im Zuge der literarischen Moderne muß er seit 1850 hinnehmen, daß sich seine Werke selbst emanzipieren und sie jetzt vor allem als das Produkt ihres eigenen Herstellungsprozesses erscheinen wollen und nicht mehr als das ihres Schöpfers. In ihrer Aussage ist seitdem die Reflexion auf ihre Genese und deren Techniken Pflicht. Der romantische Künstler, wie er seit Hegel konzipiert ist, ist damit nicht mehr so sehr Urheber wie privilegierter Zuschauer seines eigenen Tuns. Ihren besonderen Ausgangspunkt hat Wittgensteins Geschichte dort, wo die Übertragung der vorbildlichen Eigenschaften vom Weisen, Heiligen und Genie auf anonyme Institutionen und Verfahren als unbewältigt erscheinen muß, mehr noch als ein tragisches Versehen und epochales Verhängnis. Mit einem Aufklärungsoptimisten würde man sagen, es ist eine Zeit des Übergangs, in der die Bindungen an die alte Metaphysik, ihre Werte und ihre legitimen Vertreter bereits aufgelöst sind, die neuen Verfahren und routinierten Kulturen aber noch nicht in der Lage, regelungstechnisch die Defizite schon wieder aufzufangen. Mit einem Pessimisten würde man dagegen annehmen, daß derselbe Übergang in die Moderne nur die kulturelle Substanz immer weiter aushöhlt, und am Ende nur noch das reine Funktionieren ohne Sinn und Zweck übrig bleibt. Am Ende steht dann nicht Übertragung, sondern Verlust, nicht Transformation, sondern Vernichtung. Stilbildend für einen solchen Pessimismus ist die Soziologie geworden, die am Ende eines langen 19. Jahrhunderts mit Max Weber eine ernüchternde Bilanz zieht. Weber blickt dabei auf seinen Vorgänger Marx zurück und versteht ihn schon in dieser Hinsicht als einen Pessimisten, der sich allerdings noch einmal zu einem Optimismus unter extremen Bedingungen hat verleiten lassen. Marx tritt für Weber noch entschlossen das Erbe der Aufklärung an, indem er die um sich greifenden Fol-
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gen des ›Kapitalismus‹ erst einmal hinnimmt, die zugrundeliegenden Marktstrukturen für vernünftig erklärt und die Entwertung von Politik und Kunst zum bloßen ›Überbau‹ konsequent heißt. Für die Entmachtung ihrer Kultur- und Entscheidungsträger gilt das gleiche. Zugleich wird aber auch eine Gegenrechnung aufgemacht, die jene Übertragung von Rationalität und geistiger Dynamik auf anonyme Medien und seelenlose Produktionsverhältnisse beklagt. Industrielle Revolution bedeutet Entmenschlichung, wo es keiner leitenden Inspiration mehr für das Hervorbringen von Werken bedarf, Verdinglichung, indem der Körper wie der Geist gleichermaßen zum bloßen Teil einer Fabrikanstalt wird. Die Aussicht auf Besserung ergibt sich für Marx durch die Vorstellung, daß sich die Vernunft in der Geschichte dennoch durchsetzen wird und ihre Fortschrittslogik listig genug ist, um auch mit den bedauernswerten kapitalistischen Zuständen noch einmal fertig zu werden. Er denkt sich das Wirken der Vernunft als eine neuerliche Revolution, in der sich die Unvernunft der veränderten Produktionsverhältnisse von selbst zerstört und uns somit ein innerer Zusammenbruch des ganzen kapitalistischen Systems bevorsteht, eine hierarchiestürzende Revolution der wirtschaftspolitischen Verhältnisse, nach der es kein soziales Unten und kein Oben mehr gibt. Was sich aus dem Kulturkreis der Aufklärung um ihre Protagonisten herum auf die Sphäre der ›politischen Ökonomie‹ übertragen hatte, das höhere Human- und Vernunftpotential, wird dann von den anonymen Waren- und Geldsystemen wieder hergegeben und an alle demokratisch zurückverteilt. Jeder ist nach solcher Weltrevolution wie ein ›Candide‹ im eigenen Garten, den es mit den romantischen Vorstellungen eines ›freien Produzententums‹ zu bewirtschaften gilt. Die Gemeinschaft ähnelte dann wieder (dem Geiste nach, nicht nach dem Stand der Technik) dem mittelalterlichen Handwerks- und Zunftwesen, nur mit dem Unterschied, daß jetzt ein jeder sein eigener Meister sein darf. Webers weitergehende Ernüchterung stellt sich nachvollziehbar an dem Punkt ein, an dem für ihn klar ist, daß die Marxsche Analyse eines inflationären Kapitalismus vollkommen zutreffend ist, die Revolution aber historisch ausgeblieben ist und auf absehbare Zeit auch ausbleiben wird. Was Marx zum Motor revolutionärer Entwicklung machen wollte, die durchschaubare Selbststeigerung der Kapital-, Technik- und Produktionsverhältnisse zu Lasten aller Humanbeteiligten, vom Fabrikarbeiter bis zum Fabrikbesitzer wie den Konsumenten, wird jetzt zum fortlaufenden Motor des Verhängnisses. Die Schere von ›systemischer‹
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Bereicherung und menschlicher Verarmung geht immer weiter auseinander, führt aber schließlich nicht mehr zum Umschlag der Verhältnisse, sondern nur immer noch tiefer in eine universelle Pauperisierung. Anstatt an der Logik des Kapitals, sich selbst unablässig und unendlich zu vermehren, zuletzt im vorhersehbaren Übermaß zugrundezugehen, intensiviert und perfektioniert sich das ausschließlich marktorientierte Gesellschaftssystem nur noch weiter. Nimmt man schließlich die These von einer konsequenten ›Kolonialisierung‹ der noch verbliebenen Lebenswelten hinzu, verdüstert sich das Bild einer pessimistisch vorgestimmten Soziologie ein weiteres Mal. Das tragische Ende beginnt für Weber dort, wo der Kapitalismus schließlich noch seine eigenen Systemgrenzen überspringt und die intern ausgebildeten Betriebsstrukturen nach außen weitergibt. Entsprechend steht der Marxsche ›Überbau‹ zur Übernahme an. Bei Marx durfte er noch zur Beschönigung der herrschenden Verhältnisse dienen. Jetzt geht es nur noch um Gleichschaltung, also darum, Wirtschaft und Gesellschaft so zusammenzubringen, daß, konkret, auch die Staatsverfassung einer Betriebsverfassung gleicht. Die Evidenz hierfür bildet das moderne Verwaltungswesen. Einen analogen Umbau erlebt die Kultur, wo sich Wissenschaft als Beruf verstehen darf. Anschaulich wird dies, wer weiß es nicht, am Umbau der Universitäten zu Wissenschaftsbetrieben. In die Reichweite von Wittgensteins Philosophieren kommt jene Ernüchterung dort, wo der Pessimismus gute Gründe findet, von den Gesellschaftsverhältnissen ausgehend auch noch überzuschlagen auf scheinbar reine Theorieverhältnisse. Auch hier macht das 19. Jahrhundert einen vergleichbaren Transformationsprozeß durch, in dem sich die humanistischen Fixierungen auf den Magier und Alchemisten wie den genialen Wissenschaftler endgültig lösen und die Kompetenz sich auf die experimentellen Verfahren und ihre interne Logik der Forschung verlagert. Und auch hier wird am Ende eine Gewinn- und Verlustrechnung beim Übertrag aufgemacht, die unter dem letzten Strich bedenklich erscheinen kann. Die Vergleichbarkeit von Gesellschaftsverhältnissen und Weltverhältnissen ergibt sich dabei an der Stelle, an der zuletzt alles an der Effektivität der theoretischen Klärungs- wie Forschungsmittel hängt, und die alte Frage als obsolet gelten darf, ob damit auch eine Wirklichkeit getroffen ist, die als menschlich in dem Sinne gelten darf, daß darin so etwas wie eine letzte, für uns verbindliche Wahrheit angenommen wird. In diesem Schema wäre Goethes Streit mit Newton um die Farbenlehre als ein letztes literarisches Aufbäumen zu werten. Das einzig noch verbliebene Universalgenie wehrt sich dagegen, die neue Orthosprache
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der modernen Physik auch für sich als verbindlich zu akzeptieren. Er wird zwar philosophisch sekundiert, vor allem von Hegel, aber nur mit dem Ergebnis, daß seine Farbphysik von nun an erst recht als spekulativ und esoterisch gilt und ganz aus der Disziplin der Naturforschung herausgenommen werden muß. Der Abschied von der Vorstellung, daß ein einzelner Geist noch alles menschliche Wissen in seinem gesamten Umfang fassen könnte, verlangt nach Kompensation und wird noch innerhalb der Wissenschaften mit der romantischen Sehnsucht nach einer Einheitswissenschaft verbunden. Sie tritt bis heute als Reduktionismus auf und damit als die Vorstellung, alle Ausdifferenzierung der Disziplinen wie ihrer Ergebnisse ließe sich zuletzt in der Einheitssprache einer Fundamentalwissenschaft darstellen und begründen1. Sie hätte dafür zu sorgen, daß es am Ende aller Spezialisierungen, im vielfältigen Fortschritt einer konsequenten Wissens-Chancen-Verwertung, immer noch einmal zu einem alles entscheidenden Umschlag kommt. Es ist nicht als eine Regression gedacht. Nicht würde dafür die Entwicklung zurückgenommen, soweit, bis es für den interessierten Laien wieder überschaubar wird – was nicht nur unmöglich schiene und nur eine barbarische Reduktion sein könnte –, sondern, im Gegenteil, gälte es, dem herrschenden Emanzipationsmuster des 19. Jahrhunderts folgend, die Schere zwischen unmittelbarer Intuition und hochkomplexer Methodik ins letzte Extrem zu spreizen. Dort, wo kein Auge mehr hinreicht und kein Verstand mehr nachkommt, wo sich im absolut Nächsten wie vollkommen Fernsten, im Kleinsten wie im Größten die Dimensionen unserer natürlichen Anschauung krümmen, dort müßte sich die zentrifugale Drift aller Einzelwissenschaften noch einmal umkehren lassen und der versprengte Kosmos der Naturforschung sich wieder runden. Was wir in der Technisierung und Industrialisierung unserer Wissensbeschaff ung verloren haben an natürlichen Evidenzen, würde uns dann zurückgegeben, und wie die Utopie es will, für alle einsehbar, in demokratischer Form. Es bräuchte nämlich nur noch eine gelungene Popularisierung der Ergebnisse, um alle gleichermaßen in den Stand zu versetzen, von einem privaten Ort und der eigenen Wissenswarte aus, jetzt wieder eigenbestimmt, den Lauf der Dinge zu verfolgen. Bis in die 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts hält diese Vision von Perfektionierung bei gleichzeitiger Popularisierung
1 | Den ideengeschichtlichen Überblick gibt E. Nagel, The Structure of Science, New York 1961.
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des Wissens an. Noch der ›Wiener Kreis‹ wird sich so im Sinne einer anti-elitären Einheitswissenschaft verstehen. Eine besondere Motivation für Wittgensteins Philosophieren zeichnete sich in dieser Linie wiederum an der Stelle ab, an der von den Hauptbetreibern jener Einheitsvision zugestanden werden muß, daß die Analyse des physikalischen Extremismus zwar richtig, der letztmögliche Haltepunkt aber bereits schon wieder folgenlos überschritten ist. Auch hier ginge die Logik der Forschung weiter, indem ständig mit Zuwächsen und möglichst exponentiellen Steigerungen gerechnet wird, die Differenzierungen liefen dabei aber geradewegs ins Leere, wo schließlich und endlich letzte Wahrheiten erwartet werden. Die Relativitätstheorien der 30er Jahre mit der Physik als Leuchtturmwissenschaft sind darauf das endgültige Siegel. Augenfällig wird jene Ernüchterung, wo es tatsächlich gilt, bis an jene letzten Grenzen des physikalischen Universums vorzudringen, an denen sich die ausufernde Welle des Wissens voraussehbar brechen sollte. Der letzte Schritt von der Theorie zu ihrer Erdung in der Wirklichkeit erscheint dann paradoxerweise nicht mehr als ein endgültiger Ausweis von Objektivität, im Gegenteil. Anstatt das Freischwebende der wissenschaftlichen Konstruktionen aufzuheben, löst es sie im selben Augenblick, in dem es zum entscheidenden Kontakt kommen sollte. Es beschleunigt die Abkoppelung, wo es sie für immer aufhalten wollte. Im wesentlichen wird dies an einem Phänomen greif bar, das wegen seiner Popularität um die Jahrhundertwende als ein fundamentales Problem unübersehbar wird: gemeint sind die Fortschritte in der Teilchenphysik, die versprechen, bis zu den letzten Bausteinen des Universums vorzudringen, und damit den Namen Atomphysik verdienen. Heinrich Hertz und Ludwig Boltzmann als Wiener Promotoren der theoretischen Physik werden hier für die Vorgeschichte wichtig. Beide, insofern sie auf direkte Weise Wittgenstein inspiriert haben – bei Boltzmann wollte Wittgenstein noch studieren. Es kam nicht dazu. Boltzmann nahm sich 1906 in Duino das Leben. Die Expedition zu den atomaren Bestandteilen der Wirklichkeit, als deren Kombination sich alle Gegenstände grundsätzlich erklären lassen sollten, läßt das Wirklichkeitsproblem auf einfache Weise erkennen. Man rechnet mit der Wahrheit im klassischen Sinne dort, wo eine Korrespondenz besteht zwischen Annahme und Wirklichkeit. Jene Entsprechung kann ausgewiesen werden, wenn man auf einen Gegenstand zeigen kann, den die Theorie so beschreibt, wie er tatsächlich ist. Schwieriger wird es dagegen, wenn sich die fragliche Sache grundsätzlich einer alternativen Anschauung entzieht. Dann
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besteht der Verdacht, daß der Gegenstand ohne die Theorie und ihre experimentelle Technik vielleicht gar nicht wirklich ist, daß er also nur aus Gnaden der besonderen Art und Weise existiert, wie wir Zugang zu ihm haben. Er ist nur das, was wir in ihm sehen und hat sozusagen kein weiteres Eigenleben mehr außerhalb unserer theoretischen Beschäftigung mit ihm2. Kurz am Beispiel illustriert: Leicht nachvollziehen kann man eine Behauptung, die bestimmte Gegenstände auf dem Mond sehen will, einen Krater, eine Wüste oder was auch immer. Was ein Krater oder eine Wüste ist, wissen wir schon. Ein Blick durch das Teleskop legt die Vermutung der Existenz nahe. Und notfalls kann man hinreisen. Anders im Fall der Atomphysik. Hier kann man nicht hinreisen. Worüber das Mikroskop uns belehrt, kann schon unabhängig von der mikroskopischen Erschließung nicht weiter verifiziert werden. Hinzu kommt dann, daß auch das, was wir alleine nur durch die Vergrößerungslinse sehen, uns nicht in der gleichen Weise bekannt sein kann wie die Gegenstände auf dem Mond. Was wir hier erwarten, sind Entitäten, die noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat und die im besten Sinne beispiellos sein müssen. Um sie zu identifizieren, braucht es zuallererst eine Theorie, die uns darüber belehrt, was das ist, was uns in seiner angemessenen Vergrößerung als ein Gegenstand erscheint. Es braucht Analogien oder Vergleichsannahmen, die von etwas Bekanntem, mit dem wir uns auskennen, auf etwas noch Unbekanntes schließen lassen. Als was wir die Erscheinung identifizieren, hängt damit wesentlich davon ab, wozu wir es selbst zuvor erklärt haben. Es sind Unikate, die immer auf unsere Vorgaben hören müssen, weil sie nicht anders können. Sie sind ontologisch wehrlos, indem sie sich nur so melden können, wie wir sie aufgerufen haben. Die Atomphysik macht diese Einseitigkeit der Kommunikation schließlich im Extrem deutlich. Denn alle alternativen Informationen, die aus anderen naturwissenschaftlichen Zusammenhängen herbeigebracht werden, alles mögliche Zusatzwissen, soll sich ja gerade erst aus der physikalistischen Letzterklärung selbst ableiten und erläutern lassen. Biologie und Chemie und alle ihre Subdisziplinen sollten grundsätzlich auf einer Erklärung der Fundamente auf bauen, nicht umgekehrt. Der Seitenblick auf dasselbe Phänomen muß aus Gründen der Einheitswissenschaft versagt bleiben. Die Kernphysik braucht in dieser Stilisierung ein Erklärungsmonopol. 2 | R. Panek, Einstein, Freud und die Suche nach unsichtbaren Welten, Berlin 2005.
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Indem sie aber derart monologisch wird, wird sie auch anfällig für Vorstellungen, es handelte sich zuletzt um nicht mehr als Formen der Projektion, und nicht mehr um eine verläßliche Spiegelung der Wirklichkeit. Die Konkurrenz zumindest zwischen verschiedenen Theorien kann augenscheinlich nicht mehr einfach durch einen Abgleich mit der Wirklichkeit entschieden werden. Was beurteilt wird, ist nicht die Korrespondenz mit den Inhalten, sondern ihre formalen Eigenschaften. Hertz plädiert entsprechend dafür, sich von den Wesensfragen in der Physik möglichst ganz zu verabschieden und nur noch nach den ›Modellen‹ zu urteilen, der »Form der Darstellung« eines »Inhaltes«3. Boltzmann macht jene Modellrechnung anschaulich in der Metapher vom »Raum der theoretischen Möglichkeiten« 4. Es handelt sich hier um einen ›Bildraum‹, der die Wirklichkeit darstellt genau so, wie sie konstruiert erscheint. Er ist sozusagen die Reißbrettversion, die technische Ausspiegelung natürlicher Gegebenheiten, ein Schalt- und Flußschema ihrer Grenzen und Verläufe. Wittgenstein findet in solchen Schemata bekanntlich ein Vorbild für die ›Wahrheitstafeln‹ im Tractatus. Wenn hier die Tragweite der Theorieentscheidung noch kosmologisch gefaßt ist, wird der Wittgenstein der 30er Jahre sich zeitgemäß eher psychologischen Argumentationsmustern anschließen. Dann faszinieren Phänomene wie der psychologische Gestalt-Switch, in dem dieselbe graphische Anordnung jeweils grundverschiedene Zuschreibungen zuläßt. Der Mangel an möglicher Objektivität zeigt sich in dem Oszillieren seiner Wahrnehmung. Am Beispiel des Hasen-Enten-Kopfes kann unendlich durchgespielt werden, wie wenig Entscheidungshilfe das Weltphänomen gibt und wieviel am intellektuellen Design hängt, wie und als was man die Welt gerne in ihrem letzten Grunde ansehen würde. Die Vorlieben für bestimmte Ontologien erreichen uns dann nur noch aus den Zufallstiefen unseres Kognitionsapparates heraus. Die Lektion aus solcher ›inscrutability of reference‹, der letzten Undurchdringlichkeit unseres Weltbezuges, wie Quine sagen wird, legt für die Physiker der Jahrhundertwende noch einmal den Vergleich mit der Sphäre des Marktes nahe. Zuletzt entscheidet über die Wahrheit einer Theorie auch hier nur der Erfolg, den sie im Wettbewerb mit anderen 3 | H. Hertz, Die Prinzipien der Mechanik in neuem Zusammenhange dargestellt. Mit drei Arbeiten von Heinrich Hertz, einem Vorwort von Hermann von Helmholtz, einer Vorbemerkung von Philipp Lenard, hg. v. D. Goetz, Thun/Frankfurt a.M. 1994, S. 75. 4 | Ebd., S. 175.
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hat. Wie welthaltig sie tatsächlich ist, bemißt sich allein an dem Grad, wie sie mit ihren theoretischen Mitteln in der Lage ist, der sehr allgemein gehaltenen Forderung nach möglichst großem Erkenntnisgewinn zu entsprechen. Wo die größtmögliche Effektivität gegeben ist, ist auch die Wahrheitsvermutung. Wie ein Unternehmen recht hat, wenn es am Markt erfolgreich ist, so zuletzt auch die Theorie. Mit seinem Marketing schaff t es sich zuletzt selbst die Bestätigung in der Wirklichkeit, die es als Motivation für seinen Erfolg braucht. Alles hängt an einer »Ökonomie der Darstellungsweise«5. Mit Allan Janik und Stephen Toulmin ist dies im Doppelsinne des Wortes zu verstehen. Einerseits braucht es Ökonomie im Sinne des ›lean management‹, wo mit wenigen, am besten noch, wie es die ausgehende Dekadenzzeit wollte, eleganten Mitteln ein Erklärungserfolg erbracht werden kann. Die Darstellungsweise muß damit zum anderen aber auch selbst als eine Ökonomie verstanden werden, die ihre Erklärungsziele nach den entsprechenden Imperativen verfolgt.
Auszug aus der entzauberten Welt: z weierlei Richtungen Es braucht eine solche Dramatisierung als ständiges Steigerungsgeschehen und Verhängnisspirale, es braucht den Pessimismus der verpaßten Groß-Chance, daß alles noch einmal von alleine gut wird; beides, um die extreme Eigenart der kommenden Antwort Wittgensteins und alles weiteren zu motivieren. Es bleibt von nun an nur noch die Frage als dringend bestehen, was man noch tun kann, wenn die Lage verzweifelt scheint, die Möglichkeiten des Eingriffs begrenzt bis unmöglich erscheinen und das jeweilige System sich als stärker als jede Besinnung und Vernunft erweist. Gesucht wird, wie Norbert Bolz es einmal betitelt hat, alleine noch der Auszug aus der entzauberten Welt. Es wird dabei erwogen, ob sich die Modernisierung doch noch soweit rückgängig machen ließe, daß es wieder zu einer unmittelbaren Vertrautheit der Menschen mit sich und der Welt kommen könnte. Man kann das Wie dieses Auszugs einmal als reaktionäre Bewegung beschreiben, wo nach Möglichkeiten gesucht wird, sich auf die kulturelle und gesellschaftliche Rationalisierung ganz und gar nicht einzulassen. Die Dekadenz des 19. Jahrhunderts hatte diese Option noch als Evasion in zivilisatorische Fluchtorte vorinszeniert. Hier führt der Auszug aus 5 | A. Janik/St. Toulmin, Wittgensteins Wien, Wien 1998, S. 172.
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der routinierten Alltäglichkeit der Moderne in Ekstasen, die alleine noch Kunst und Erotik bieten. Der letzte Fluchtpunkt einer solchen Weltverweigerung führt zur religiösen Stilisierung. Wie weit die Zurückweisung zivilisatorischer Standards zuletzt zu gehen bereit ist, darüber belehrt der moderne Fundamentalismus. Das Neureligiöse erscheint so als nötigenfalls militante Reformulierung einer ungelösten Modernefrage. Zum anderen läßt sich der Ausstiegsgedanke auch diametral entgegengesetzt formulieren. Dann ist es der Futurismus, der genaugenommen die Reaktion weiterbetreibt, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Der Enthusiasmus des Ausstiegs wird in einen vorbehaltlosen Einstieg investiert. Anstatt die sprichwörtliche Technisierung des Alltags aufzuhalten, wird sie über ihr bitteres Ende hinaus gefeiert. Die Geschwindigkeit der modernen Veränderungen wird selbst zum Kult. Als Strategie formuliert ist es die Flucht in das, was uns krank macht. Heilung entsteht dadurch, daß man von dem, was man verloren hat, in letzter Konsequenz nichts mehr wissen will. Gedacht ist an die Überwindung des Verlustschmerzes durch den Verlust des Schmerzes. Die Futuristen um Marinetti und d’Annunzio konnten dieses Programm zwar nur äußerst diff us darstellen. Nicht zuletzt wurde es entstellt durch eine romantisierende Gestik aristokratischer Ästheten, die zu deutlich noch aus dem vorangegangenen Jahrhundert stammt. Die Linie reicht aber in der späteren Ernüchterung immerhin bis zur Begeisterung über eine Neue Sachlichkeit. Und aus der taktischen Anlage zu schließen wäre endlich auch auf eine weitere Verlängerung bis in den neuerlichen Naturalismus unserer Tage. Die Euphorie zumindest, die sich mit den rasanten Fortschritten der Biogenetik, Bionik, Robotik und nicht zuletzt der Hirnforschung verbindet, ließe die Vermutung zu, daß das alte Sinnproblem am besten auch jetzt wieder durch gesteigertes Weglassen kuriert werden könnte. Die Neubeschreibung unserer Seelenzustände in Maschinenmetaphern wie die virtuelle Mimetik unseres Weltverhaltens scheinen den Promotoren offenbar gelungen genug, um die damit einhergehende Kränkung unseres Selbstverständnisses selbst als vorläufiges und virtuelles Problem abzutun6. Der Auszug aus der entzauberten Welt sieht danach auch gemäßigtere Varianten vor. Hier gilt es, angesichts eines offenkundigen Irrlaufs der Moderne dennoch überhaupt die Fassung zu wahren. Nicht im Sinne ei6 | Ein philosophisches Auf bäumen gegen jene beiden Tendenzen der Verdrängung findet sich beispielhaft bei Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 2005.
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nes standhaften Konservatismus, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in der launigen Gewißheit verweilt, daß große Zeiten nicht mehr wiederkommen, den Fortschritt erträgt und sich dabei möglichst gleichgültig gibt. Vielmehr im Sinne einer messianischen Erwartungshaltung, die darauf spekuliert, daß mit der Logik des ›Ereignisses‹ eine plötzliche, metaphysische Wende zum Besseren eintritt. Jenseits der sichtbaren historischen Fehlläufe wird ein ungebrochener Strom intakter Sinngebung vermutet, dessen anfängliche Inspiration der Kultur zwar vergessen ist, der mit einem abrupten Ende der kulturellen Verstellungen aber wieder zum Vorschein kommen würde und so eine transhistorische Klammer bildet. Heidegger hat die Phänomenologie so zu einem Instrument gemacht, ursprüngliche Sinnschichten wieder zur seinsgeschichtlichen Erscheinung zu bringen. Dieselbe Ereignislogik kann man auch gesellschaftlich wenden und wie Benjamin und Adorno als eine Kritische Theorie ausformulieren. Das marxistisch-revolutionäre Theoriegerüst ist dann verbunden mit der messianischen Erwartung, die aus der Fassung geratene Welt könne kritisch gegen die Folie einer anderen, nur vergessenen Ordnung gehalten werden, eine Ordnung, die sie haben würde, wie wenn ein Jüngstes Gericht alles wieder an seinen ursprünglichen Ort zurückgestellt und somit endgültig ›gerichtet‹ hätte. Wie nahe sich Phänomenologie und Kritische Theorie tatsächlich und trotz aller Schulstreitigkeiten in ihrer letzten Stellung zur Moderne sind, erkennt man spätestens dann, wenn man vergeblich versucht, das radikale Ursprungsdenken von einer radikalisierten Geschichtsdialektik im Ergebnis zu unterscheiden. Wenn dies die progressive Variante ist, schließt daran exemplarisch noch eine Möglichkeit an, die man dann komplementär durchaus als regressiv bezeichnen muß. Der Auszug aus der entzauberten Welt tritt hier nicht mehr die Flucht nach vorn an, sondern zurück. Die Lösung wird nicht an den Rändern allen Verstehens und aller Geschichte zu suchen sein, sondern in einem intakt gebliebenen Innenbezirk. Es ist eine Strategie der Einkapselung, die von der modernen ›Verhexung‹ der Verhältnisse ausgeht, dabei aber an einen besonderen Zustand in der Geistesgeschichte zurückdenkt, in dem alles gerade noch unmittelbar so war, wie es sein sollte. Ein letztes Stück Wirklichkeit vor jedem Verfall scheint das Muster, nach dem im Gegenwärtigen weitergelebt werden soll. Bis hierhin geht der Auszug aus der entzauberten Welt zurück, und von hier aus wird der Versuch unternommen, den verlorenen Zauber zurück in die Gegenwart zu bringen. Goethes Zauberlehrling hat für solche romantischen Visionen schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Erwartun-
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gen vorgestimmt. Vor allem dahingehend, daß mit einer einzigen quasi magischen Formel die Dinge wieder an ihren gewohnten und richtigen Platz zurückkehren würden. Mit einem offenen Ende versehen handelt es sich um die Geschichte der europäischen Moralisten. Was der ›alte Meister‹ an Weisheiten hervorbringt, erscheint hier als ein Festhalten am Gestrigen, das sich in einem tieferen Sinne als unzeitgemäß erweisen muß. Es kann zwar einerseits den Reflex auslösen, daß man unmittelbar so empfindet, als sei ein Reflex einer ursprünglichen Ordnung der Dinge im jeweiligen Entwurf zu vernehmen. Im Grunde ist es immer so, wenn man denkt, daß es so ›früher‹ war, angenommen es sei früher gut gewesen, auch wenn schon kein Datum mehr benannt werden kann, auf das man das ›früher‹ festlegen wollte. Das ist seit Rousseaus Appell, der zu Herzen gehen soll, so vorgesehen. Es besteht bei genauerem Hinsehen aber auch der Verdacht, daß die alte Ordnung, die hochgehalten werden soll, selbst schon nicht mehr authentisch ist, sondern bestenfalls nachempfunden. Der Moralist hat historisch schon eine zu weite Strecke Weges hinter sich, als daß er noch aus zuverlässiger Quelle berichten könnte. Auch er hat den Bruch, den die Moderne bedeutet, prinzipiell schon hinter sich und folgt deshalb selbst bereits eher einer diff usen Sehnsucht als einer präzisen Intuition dessen, was ursprünglich wahr und richtig sein muß. Auch die Strenge seiner Sitten verdankt sich nicht wirklich der Reinheit seiner Normen, und der verschärften Anforderungen, die sich daraus im Kontrast zu den bedauerlichen Folgen ergeben. Sie erscheint vielmehr als eine Form, die Unsicherheit ihrer Herkunft wie ihres Gehalts durch gesteigertes Engagement zu kompensieren. Der Moralist ist dann, wenn man der Goetheschen Fabel folgt, der zwangsläufig jung gebliebene ›alte Meister‹, der, wenn er ehrlich zu sich sein könnte und nicht selbst dem Zauber seiner Worte mehr erliegt, in Wahrheit doch nur der Zauberlehrling selbst sein kann. Wer nach Anschaulichkeit sucht, wird diese letzte, regressive Variante der Modernekritik als Moralistik in der Literatur vielfach gespiegelt sehen. Im Nachkriegsgedächtnis bleibt in diesem Zusammenhang eine kurze, bedrückende Geschichte, die Friedrich Dürrenmatt 1952 programmatisch mit Der Tunnel 7 überschrieben hat. Es liest sich als eine Parabel auf die Ausweglosigkeit des Zustands einer Hochzivilisation nach den Weltkriegserlebnissen. Es wird darin ein junger Reisender in einem Zug in 7 | In: Fr. Dürrenmatt, Der Hund, Der Tunnel, Die Panne, Zürich 1998.
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den Schweizer Alpen begleitet, der in gelassener Stimmung eine alltägliche Fahrt auf bekannter Strecke unternimmt. Die Geschichte will es, daß der Zug ungewöhnlich lange in einem Tunnel verweilt, den er normalerweise nach kurzer Zeit wieder verlassen haben müßte. Es braucht nicht lange, und es schwant dem Reisenden, daß die Einfahrt nicht mehr enden will und der Tunnel nicht mehr ins Freie führt, sondern nur immer weiter ins Berginnere. Der Zug wird auf immer abschüssigerer Bahn immer schneller und droht schließlich, jeden Moment aus den Gleisen zu springen. Der Reisende arbeitet sich noch zur Lokomotive vor und bemerkt zum Schluß endlich, daß auch das Führerhaus verweist ist. Der Pilot war offenbar schon gleich nach der Abfahrt abgesprungen oder war womöglich gar nie an Bord. Die Geschichte endet in dem Augenblick vor der endgültigen Katastrophe. Wenn dies der stimmungsmäßige Endpunkt ist, der historisch natürlich noch aussteht, lassen sich die vorangegangenen Reaktionen kurz so resümieren: In der Vorahnung, daß es vorhersehbar so furchtbar enden würde, versuchen es die Reaktionäre mit einem bereits unmöglich gewordenen Absprung, die Futuristen und Naturalisten legen weiter Feuer nach und setzen auf ein Ende der Depression im Geschwindigkeitsrausch. Die Philosophen spekulieren auf die Möglichkeit einer übergeordneten Weichenstellung, wenn auch mit Divergenzen im politischen Richtungssinn; die Moralisten schließlich suchen im Zug noch nach der Möglichkeit einer Notbremsung. Letzteres mit der Gefahr des tragischen Vertuns, so daß sich die philosophische Konstruktion am Ende vielleicht zwar an sich als perfekt darstellen läßt, in der Funktion sich aber als bloße Attrappe erweist und somit die ursprüngliche Absicht mit in die Schußfahrt ins Leere nimmt. So wie Wittgenstein zu Ende des Tractatus dann tatsächlich feststellen wird, daß alle logischen und technischen Probleme seines Unternehmens als endgültig gelöst gelten dürfen, damit aber mit Blick auf den Weltlauf, die ›eigentlichen Probleme‹, dennoch gar nichts erreicht ist. Dem Moralisten droht am Ende immer die Enttäuschung, mit seinem Versuch, die Entwicklung unter extremen Bedingungen noch im alten Gleis zu halten, den falschen Hebel in der Hand zu halten.
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Wittgenstein als Moralist Wie weit der Moralist Wittgenstein bereit ist, aus der entzauberten Welt zurückzuweichen, um die Dinge wieder im rechten Lichte zu sehen, bezeugt eine kurze Bemerkung in einem Brief an den Architekten Paul Engelmann zum Neujahr 1921: »Ich hätte mein Leben zum Guten wenden sollen und ein Stern werden«. Thomas Macho hat in diese kurze Zeile zurecht hineingelesen, Wittgenstein habe zeit seines Lebens in dem »Gefühl« gelebt, »von einem anderen Stern zu sein, nicht wirklich zu den Menschen zu gehören – ein Mann zu sein, der ein Engel werden sollte, ein immaterielles Wesen, das verpflichtet ist, die ›Verschmutzungen‹ durch das irdische Leben wie eine unpassende Verkleidung abzustreifen«.8 Auf eine solche Astralmetaphorik kommt man leicht, wenn man zeitgenössischen Stilisierungen folgt. Eine Verschmelzung verschiedener Fin de siècle-Heroismen verlangt offenbar geradezu eine solche Überhöhung. Nationale Hochgefühle, Gründerzeitmythen, die generelle Vergottung von Kunst und Wissenschaft wie die spezielle Musikreligion legen solche sphärischen Erweiterungen ins Kosmische nahe9. Der Nietzschekult sah vor, daß der Mensch überwunden werden muß, und das Genie, das alle jene Eigenschaften irgendwie zumindest vereint, ist sein kometenhafter Agent. Ihm wird schließlich der Status zugesprochen, selbst zum Stifter von etwas wie einem neuen Glauben zu werden. Edgar Zilsel, der später dem ›Wiener Kreis‹ nahesteht, bringt dies am Ende des ersten Weltkrieges mit der Rede von der Geniereligion 10 auf den Punkt. Systematisch erscheint jene Exzentrik einer absoluten Weltfremde des Genies zugleich aber nicht nur als Zielvorstellung, sondern auch als Herkunftsindiz. So gesehen läßt sie sich auch umgekehrt fruchtbar machen für die Selbststilisierung des Moralisten. Denn er muß sich traditionell distanziert geben, soweit, daß er über alle Verstellungen und Heucheleien, Trübungen und Verschleierungen der Welt von vornherein und immer schon erhaben erscheint. Wer so auftreten will, daß man ihm die Reinheit seiner Grundsätze abnimmt und die Bestimmtheit seines Auftretens nicht als Masche abtut, der muß so erscheinen, als komme 8 | Th. H. Macho, »Einleitung« zu Wittgenstein. Ausgewählt und herausgegeben von Thomas H. Macho, München 2001, S. 58. 9 | Vgl. ebd., S. 15ff. 10 | E. Zilsel, Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal, mit einer historischen Begründung. Herausgegeben und eingeleitet von Johann Dvořak, Frankfurt a.M. 1990.
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er geradewegs noch von dem sprichwörtlich ›anderen Stern‹. Die Moralistik hat seit der frühen Neuzeit, und erst recht in der Aufklärung, immer mit dem moralischen Vorsprung solcher großen Entfernungen vom europäischen Alltag spekuliert und zuweilen auch kokettiert. Schon bei Montaigne sind ausgerechnet die ›Kannibalen‹ aus der eben entdeckten ›neuen Welt‹ die Berufungsinstanz für alle, die finden, im humanistischhöfischen Europa gehe es nicht mehr mit rechten Dingen zu 11. Schon Voltaire läßt in seinem Micromégas seine überlegensten Aufklärer aus fernen Galaxien anreisen, sie kommen, wie zuletzt bei Zilsel wieder im Vergleich, vom fernen Sirius12, Montesquieu zitiert in den Lettres persanes den literarischen Fremdblick des Orientalen herbei, La Hontan die amerikanischen Trapper und Indianer, um zuletzt immer wieder auf neue Weise die heimische Korruption aller sittlichen Verhältnisse darstellbar zu machen. Der Moralist braucht jene Naivität des unbedarften aber auch eben unbefleckten Gemütes, um das Woher und das Wohin der Fehlentwicklung in gebotener Drastik anschaulich zu machen. Ob es ein gutes Ende oder ein offenes Ende mit der Moralistik des Moralisten nimmt, entscheidet sich in der Folge daran, wieweit es gelingt, das Woher glaubhaft und eine Übertragung ins Wohin plausibel zu machen. Das gute Ende würde vorsehen, daß das intellektuelle Herkunftsland zwar immer sternenweit auch nur von unserer Vorstellungskraft entfernt bleibt, die Annahme seiner Verhältnisse aber anziehend genug erscheint, um sie zum verlorenen Standard und zugleich zum Standard des Verlorenen zu machen. Die Übertragung ist dann plausibel, wenn der Weltfremdling in der neuen Welt doch noch Spuren und Überbleibsel seiner alten Heimat wiederfindet, vor denen er hocherstaunt sein muß und die er als ausgesprochenes Wunder darstellen kann. Es muß einen letzten Rest unverfälschter Wirklichkeit geben, ein unter vielen Schichten von Routinen verborgenes Stück authentisches Urgestein, das die Vorstellung der Übertragung wie auch der Herkunft gleichermaßen attraktiv macht. Das gute Ende ist entsprechend abhängig davon, daß es mit dem Wiederfinden des Wunderbaren beginnt, damit auf der Wahrheit des Wunders eines unverhoff ten Fundes aufbauend alle künftige Freilegung der Fundamente motiviert und anschließend die Strenge der philosophischen Lehre als evident begründet werden kann. Gelingt dies nicht, steht solches Wiederfinden des Wunderbaren in dem Verdacht, nicht mehr 11 | M. de Montaigne, Les Essais, hg. v. J. Balsamo, M. Magnien, Ch. Magnien-Simonin, Paris, Gallimard 2007, S. 208-221. 12 | Ebd., S. 293.
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als eine geschickte Erfindung von Sensationellem zu sein. Dann muß das Authentizitätsgefälle zwischen dem Woher und Wohin umgekehrt werden, die Übereinstimmung mit sich am Ende stehen und am Anfang die geschickte Verstellung, mit allen entsprechenden Umkehrfolgen von ›Wahrheit und Lüge im außermoralischen Zusammenhang‹, wie Nietzsche es paradigmatisch beschreiben wird.
A. Das Wieder finden des Wunderbaren in der Welt Das Wunder, das den Moralisten angeht, findet sich bei Wittgenstein in dem einzigen Vortrag beschrieben, den er als solchen auf zusammenhängende Weise ausgearbeitet hat und der lakonisch oder minimalistisch, wie alle Titel bei Wittgenstein, auch nur eben beschreibt, um was es geht: Vortrag über Ethik. Der Vortrag ist von 1929, und damit im Grunde schon über die Tractatus-Phase hinaus, beschreibt das Problem aber noch als Bestandteil der früheren Ideenwelt. Die Dramatisierung der Lage ist demnach noch gültig, die den Abschied eminenter Wahrheiten zugunsten von Verfahren der Wissenschaft und ihrer methodischen Regelungen meint, dargestellt als eine vollkommene Verlusterfahrung. Wittgenstein steigert zusätzlich die Fallhöhe zwischen einem Quell der Wahrheit und ihrer modernen Aufnahmeform, indem er annimmt, wie im Tractatus noch begründet, daß es auch für die Ethik wie für alles Wissen nur eine einzige gültige Form der Darstellung gibt. Nach dem Vorbild des Reduktionismus, nach dem sich alles zuletzt in eine Einheitsbeschreibung der Naturwissenschaft übersetzen lassen muß, fi ndet sich demnach auch die Moral, so erhaben sie auch sein mag, grundsätzlich auf Tatsachenniveau – sobald man sie aussprechen will: »Die Ethik ist, sofern sie überhaupt etwas ist, übernatürlich, und unsere Worte werden nur Fakten ausdrücken; so, wie in eine Teetasse eben nur eine Teetasse voll Wasser hineingeht, auch wenn ich’s literweise darübergösse«13. Die ›übernatürliche‹ Wahrheit wird so verschüttet, sobald sie angemessen wahrgenommen sein will. Sie findet keine Aufnahme mehr, wollte man sie in ihrem eigentlichen Umfang wiedergeben. Selbst wenn sie da wäre, ist sie nicht mehr faßbar. Dasselbe gilt vergleichbar und mit eben denselben Vorzeichen neben der ethischen Wahrheit auch für die theoretische. Auch hier hatte schon 13 | L. Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hg. v. J. Schulte, Frankfurt a.M. 1989 (im folgenden abgekürzt und im fortlaufenden Text zitiert mit VüE), S. 13.
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der Tractatus selbstkritisch geschlossen, daß man zum Schluß noch höher steigen müßte, um zur Wahrheit selbst zu kommen. Die berühmte Schlußmetapher will ja, daß sich die philosophischen Sätze dadurch erläutern, »daß sie der«, wie Wittgenstein sagt, »welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)« 14. Der Vortrag über Ethik bestätigt dies noch einmal generell, so daß auch die logischen Wahrheiten, selbst die »Tautologie« (VüE15), die notwendig immer wahr sein muß, als Satz noch nicht die Wahrheit selbst ist: »Es gibt keine Sätze, die in einem absoluten Sinne erhaben, wichtig oder belanglos sind«. Alles muß auf Augenhöhe der Fakten sein, und diese »stünden gleichsam auf derselben Ebene, und ebenso stehen sämtliche Sätze auf derselben Ebene« (VüE12). Ethik und Logik bleiben beide ›metaphysisch‹ und damit unbegreiflich, wo sich ihre Darstellung in der faktischen Nivellierung aller Wahrheit gleichermaßen verliert. Nur das Natürliche erscheint in dieser wissenschaftlichen Form, nicht das Übernatürliche. Dies bleibt eine unerreichbare Sphäre jenseits aller beschreibbaren Sachverhalte. Das Wunderbare in der Logik
Das Wunderbare muß demnach anders erscheinen, wenn die Moderne mit dem Monopol der Wissenschaften lebt und diese mit Blick auf alles Höhere stumm bleiben und alle überschießende Wahrheit versikkern lassen. Das Wunder kann nicht ausgesprochen werden, dennoch bleibt es präsent, nur in anderer Form. Es ist substantiell das, was der Seins-Migrant aus seiner alten Welt in die neue Heimat mitgebracht hat. Auch wenn er sich den Konventionen und Sprachregelungen der Wissenschaftsmoderne schon beinahe ganz gefügt hat, bleibt es doch tief im Verborgenen als ein aufschlußreiches ›Erlebnis‹ präsent: »Und da geschieht es mir, in meinem eigenen Fall, immer wieder, daß mir die Vorstellung eines ganz bestimmten Erlebnisses in den Sinn kommt, und das ist daher gewissermaßen mein Erlebnis par excellence, weshalb ich jetzt, indem ich zu Ihnen spreche, dieses Erlebnis als mein erstes und wichtigstes Beispiel anführen werde. (Dies ist, wie gesagt, eine ganz persönliche 14 | L. Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-
philosophicus, hg. v. Br. McGuinness und J. Schulte, Frankfurt a.M. 1989 (im folgenden wie üblich abgekürzt durch das Kürzel TLP mit nachfolgender Tractatus-Numerierung), Satz 6.54.
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Sache, und andere würden andere Beispiele eher frappierend finden.) … Am ehesten läßt sich dieses Erlebnis, glaube ich, mit den Worten beschreiben, daß ich, wenn ich es habe, über die Existenz der Welt staune. Dann neige ich dazu, Formulierungen der folgenden Art zu verwenden: ›Wie sonderbar, daß überhaupt etwas existiert‹, oder ›Wie seltsam, daß die Welt existiert‹« (VüE14). Das Staunen ist ein altes Thema der Philosophie und gehört seit Platon zu ihrem Gründungsmythos. Abendländische Philosophie beginnt grundsätzlich da, wo auch das Staunen beginnt. So wie Wittgenstein aber das Staunen radikalisiert und gleich darauf noch mit dem Wunder der Weltschöpfung (vgl. VüE16) in Verbindung bringt, zeigt sich hier eine Gabelung, die typisch ist für eine extreme Selbstverortung der Philosophie und ihre besondere Lage in der Zwischenkriegszeit. Mit Platon und Aristoteles kann das Erstaunen – das thaumázein – durchaus verstanden werden als so etwas wie eine Initialzündung abendländischer Wissenschaft. Es erscheint das Gewohnte in einem ungewohnten Licht und verlangt nach Erklärung. Man staunt, wie anders das Selbstverständliche plötzlich einem entgegenkommt und fragt solange nach dem Warum, bis damit genug Erklärung und Beruhigung da ist, um über Neues ins Staunen zu geraten. Philosophie, als Wissenschaft, stößt auf eine neue Erscheinung als ein Etwas, das man so noch nicht gesehen hat – sei es etwas Alltägliches mit bizarren Auswüchsen oder auch nur die bizarre Sicht auf etwas Alltägliches – und nimmt die Verwirrung zum Anlaß, neue Gründe und Kontexte für diesen Fall zu finden; und dies solange, bis das Phänomen wieder Teil unserer routinierten Weltbeschreibung ist und wir ohne Umstände das Wesen des Gegenstandes bestimmen können, ohne uns von dem Wie seines Erscheinens noch weiter verwirren zu lassen. Wittgenstein zitiert jene wissenschaftliche Betrachtungsweise kurz mit einem Beispiel: »Setzen wir den Fall, einem von Ihnen wachse plötzlich ein Löwenkopf und er begänne zu brüllen. Etwas Ungewöhnlicheres kann ich mir kaum ausmalen. Sobald wir uns von unserer Überraschung erholt haben, würde ich vorschlagen, einen Mediziner zu holen und den Fall wissenschaftlich zu untersuchen; und wenn es nicht weh täte, würde ich eine Vivisektion vornehmen lassen. Und was wäre dann aus dem Wunder geworden? Sobald wir die Sache in dieser Weise betrachten, ist alles Wunderbare offenbar verschwunden, es sei denn, wir verstehen unter einem Wunder nichts weiter als eine Tatsache, die noch nicht wissenschaftlich erklärt ist, was seinerseits nichts anderes bedeutet, als daß es uns bisher nicht gelungen ist, diese Tatsache mit anderen in einem wissenschaftlichen System zusammenzustellen.« (VüE17) Das
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Staunen führt so zwar zuerst aus dem bekannten Wissen heraus, es ist dessen vorläufiges Dementi, aber nur, um in der Folge um so nachhaltiger wieder in es hineinzuführen. Der Unterschied zum echten, philosophischen Wunder besteht im Anschluß an das Beispiel darin, daß dort, wo nicht ein Einzelnes, ein besonderes Phänomen auff ällig wird und erstaunlich erscheint, sondern die ganze »Welt als Wunder« (VüE18) angesehen werden muß, sich auch das Wesen des Staunens ändert. Es führt dann nämlich die Philosophie überhaupt nicht mehr weiter in die Wissenschaft hinein, sondern konsequent und ganz aus ihr heraus. Das Staunen über Wunder und Monster wäre noch verschwistert mit der Neugier, die mit Blumenberg zuletzt nur zum Aufweis der Legitimität der Neuzeit beitragen kann. Vielmehr ist das Wittgensteinsche Staunen eine Form von Extase, die uns ganz aus der irdischen Fakten-Sphäre der Philosophie als Wissenschaft entrücken soll und einer noch helleren logischen Intuition zuführen: »Hätte ich dieses Erlebnis z.B., während ich den blauen Himmel betrachte, könnte ich darüber staunen, daß der Himmel blau ist – im Gegensatz etwa zu dem Fall, in dem er bewölkt ist. Darum geht es mir jedoch nicht, sondern ich staune über das Dasein des Himmels, egal wie er aussieht« (VüE15). Wo die Fragen über das Wie der Welt gleichgültig geworden sind, weil alle Antworten der Wissenschaft gleich gültig sein müssen, bleibt nur noch die Verwunderung über das schiere Daß-Sein der Welt übrig, also darüber, daß hinter der Firnis der Erscheinungen und Beschreibungen nicht die Welt vollkommen verschwindet. Ein Seitenblick auf die zeitgenössische Konkurrenz ist für die weitere Ausdeutung eines solchen ontologischen Wunders aufschlußreich. Auch Heidegger arbeitet bekanntlich mit einer vergleichbaren Verdrängungsgeschichte von ›Sein‹, ausgehend von der Unfähigkeit der abendländischen Wissenschaften, den ›Sinn von Sein‹ überhaupt angemessen wiederzugeben. Und auch für ihn stellt sich in diesem Zusammenhang zuletzt die Leibnizsche Frage neu, ›warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts‹. Ob nicht die Zurichtung der Wirklichkeit zu bloßem Faktenmaterial technischer und wissenschaftlicher Weiterverarbeitung das Eigentliche so vollkommen übersehen läßt, daß es schließlich ganz zu verschwinden droht 15. Wer das philosophische Staunen erneut wecken 15 | Eine psychoanalytisch aktualisierte Fassung jener Verdrängungsge-
schichte bietet Stefan Matuschek in seiner Monographie Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Analyse (Tübingen 1991). Hier erscheinen die Steigerungen des Staunens im 20. Jahrhundert als der nachhaltige Effekt der Repression
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will, muß sich auch hier ontologisch vom Staunen-Wie zum Staunen-Daß aufschwingen. Allerdings ist die Betrachterposition, die dann eingenommen wird, diametral entgegengesetzt zu der Wittgensteins. Das Staunen steigert sich nicht zur Extase, sondern zum Entsetzen. Heidegger sieht den Philosophen am »Abgrund des Wunders aller Wunder, daß Seiendes ist«16. Die philosophische Verwunderung ist in Steigerung des Staunens ein Vordringen in die Sphäre des Ungeheuren, in der (wenn man Heideggers Neigung zu Landschaftsmetaphern folgen mag) wie in einem Hochgebirge des Denkens Strömungen und Kräfte von epochalen Veränderungen am Werke sind, von denen in den Tallagen der Alltäglichkeit nichts auch nur geahnt werden kann. Es ist die Vorstellung, daß nur im Vorlaufen zu dem Punkte, an dem es kein intellektuelles Halten mehr gibt, man der Wahrheit noch angemessen Paroli bietet. Gerade das letzte Woher und Wohin jener Urbewegung der ›Seinsgeschichte‹ ist es, was zuletzt im Dunkel der Wissenschaften bleiben muß. Das philosophische Sich-Wundern ist das standhafte Staunen vor der Abgründigkeit unseres äußersten Wissens. Anders Wittgenstein: »Wie sonderbar, daß überhaupt etwas existiert«, ist nicht das Erstaunen vor der Bodenlosigkeit der Welt, sondern vor dem Wiederaufscheinen einer letzten Weltordnung. Das Wunder-Erlebnis wird so interpretiert, als sei es eine Inspiration aus längst vergangenen Tagen. Es ist, glaubt Wittgenstein, »genau das, worauf sich die Menschen früher bezogen, wenn sie sagten, Gott habe die Welt erschaffen« (VüE16). Die Spiegelungen der modernen Wissenschaften werden damit zurückgestellt in eine festgefügte Schöpfungsordnung, in der unsere Weltbezüge nicht mehr veränderlich und prekär sind. In jener Ordnung ist auch das Verhältnis von Sprache und Welt noch kein Verstellungszusammenhang, im Gegenteil. Hier ist die Sprache gerade das, was nicht in unserer Verfügung steht und erst die Welt zu ihrer wahren Erscheinung bringt. Sie ist das uns Vorgegebene, und überhaupt ist so der »richtige Ausdruck« für das »Wunder« zuletzt nichts anderes als »die Existenz der Sprache selbst« (VüE18). eines Vernunft- und Wissenstriebes. Aus der Beugehaft der mittelalterlichen Untertänigkeit entlassen wie der szientistischen Depotenzierung alles Wundersamen entronnen wird die Wiederkehr der Rede vom Wunder in der Philosophie als die Entladung lange aufgestauter Energien nachvollziehbar. 16 | P. Sloterdijk, »Domestikation des Seins. Die Verdeutlichung der Lichtung«, in: ders., Nicht gerettet, Versuche nach Heidegger, Frankfurt a.M. 2001, S. 145.
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Erich Heller hat vor mehr als 40 Jahren Wittgensteins Staunen vor dem Wunder einmal entsprechend als »Teil an einem vor-Kantischen metaphysischen Glauben« identifiziert: »dem Glauben nämlich, daß es, wenn auch nur in einem aufs genaueste defi nierten und eng begrenzten Bezirk des menschlichen Verstehens, eine in der Natur des Seins begründete Entsprechung zwischen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und dem Wesen der Welt gibt. Mit anderen Worten: was der Mensch über die Welt denkt und fühlt – und also sagt –, darf darauf hoffen, metaphysisch wahr zu sein«17. Gott hat die Welt erschaffen und den »Menschen mit dem Verlangen, sie zu verstehen; auch gab Er ihm Vernunft und Erkenntnisvermögen, Begabungen, in welchen Diener jenes Verlangens zu sehen der Mensch gar nicht umhin kann. Sollte es Gottes Absicht sein, diesen Erkenntnistrieb jeglicher Erfüllungsmöglichkeit zu berauben, indem er dem Menschen nichts anderes gewährte als die Illusion des Begreifens?« Das ›eng-Begrenzte‹ des Bezirks menschlichen Verstehens ist freilich der Preis, der für die Wiederkehr solchen Erstaunens und Gottvertrauens in der Moderne zu zahlen ist. Die alte Metaphysik läßt sich zunehmend nur noch in Abstraktionen übersetzen, und je weiter sich das Gebiet der Wissenschaften und ihrer Entzauberungen ausdehnt, um so begrenzter sind die Felder, in denen sich Sprache und Welt zur Deckung bringen lassen. Die Übersetzung metaphysischen Grundvertrauens muß dazu immer verborgenere, noch unberührte Schichten der Sprache berühren, um die alte Welt-Korrespondenz noch fraglos und intakt zu halten. Das Wiederfinden des Wunderbaren in der Sprache kann so in der Tat leicht in einer Verfallslinie des »vor-Kantischen metaphysischen Glauben[s]« nachverfolgt werden. Sie beginnt mit dem Rationalismus des 17. Jahrhunderts. Es geht in ihm darum, jenen Bereich des Verstehens auszuzirkeln, der von der generellen Anfälligkeit für Täuschung und Skepsis noch ausgenommen ist und damit auf Gottes gütige Unterstützung und kognitiven Gegenhalt hoffen darf. Descartes ist der erste, der eine Reduktion in diesem Sinne vornimmt. Indem er nur das Klare und Distinkte gelten läßt, das am Ende eines methodisch regulierten Erkenntnisgangs steht, soll diese Mühe belohnt werden dadurch, daß Gott seinen souveränen Täuschungsvorbehalt aufgibt, für diese Fälle. Ein guter Gott, von dem wir zurecht eine solche Idee haben, kann dann nicht mehr täuschen wollen. Bei Leibniz findet sich entsprechend eine gemeinsame Sache mit Gott da, wo wir noch genauso denken wie er, wenn wir ihn uns als genialen Mathematiker und Uhrwerkskonstrukteur im Gro17 | E. Heller, »Wittgenstein und Nietzsche«, a.a.O., S. 244.
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ßen und Ganzen vorstellen dürfen. Zwar hat er sich aus seiner Schöpfung schon längst zurückgezogen und sieht nur noch ihrem geregelten Ablauf zu, aber die besondere Harmonie, die wir in die Kombinatorik der Sphären und Monaden hineinlesen, darf mit dem Gedanken an den Schöpfer noch als ›prästabiliert‹ gelten. Mit Spinoza kommt schließlich auch der Naturalismus ins Spiel. ›Deus sive natura‹ meint in diesem Zusammenhang, daß wir nur noch dem kausalen Determinismus in der Natur und spiegelbildlich im Geiste trauen dürfen. Mit seinem eigenen Fund des Wunderbaren in der formalen Logik der Sprache reagiert Wittgenstein bereits bewußt auf seine Vorgänger, und er tut dies in dem Bewußtsein der Notwendigkeit, noch weiter im selben Geiste voranzugehen und noch radikaler zu rationalisieren und ontologisch zu reduzieren. Stellvertretend wird die Newtonsche Mechanik für den ganzen Mechanismus in der Physik und den Glauben an das Kausalitätsgesetz haftbar gemacht. Das Mißverständnis besteht darin, daß man glaubt, darin schon die Gesetze der Welt zu erkennen. Tatsächlich ist das »Kausalitätsgesetz […] kein Gesetz, sondern die Form eines Gesetzes« (TB29.03.15). Die Newtonsche Physik ist keine letzte »Weltbeschreibung«, sie bringt sie vielmehr nur »auf eine einheitliche Form« (TLP6.341). Naturwissenschaftliche Systeme sind allesamt wie »Netze« anzusehen, die man in die Welt auswirft, und was sich darin verfängt, gilt als wirklich – allerdings nur vorläufig. Wenn man sich nämlich vorstellt, daß sie je verschieden, aber für sich gültig die Welt wie eine »weiße Fläche« mustern und beschreiben, bleibt bei solchen hermeneutischen Spielräumen nichts in einer endgültigen Form bestehen. Der metaphysische Glaube an die Welt erneuert sich demnach erst wieder dort, wo es der Philosophie im Gegensatz zu den Wissenschaften gelingt, in einem letzten meditativen Schritt noch hinter solch relative Weltbeschreibungen zu blicken. »Die logischen Sätze beschreiben das Gerüst der Welt, oder vielmehr, sie stellen es dar. … Sie setzen voraus, daß Namen Bedeutung, und Elementarsätze Sinn haben: und dies ist ihre Verbindung mit der Welt« (TLP6.124). In der Metaphorik Wittgensteins muß man sich dazu die Wissenschaft als ein »Gebäude« (TLP6.341) vorstellen, dessen Axiome und Ableitungen als seine »Bausteine«. Während die Konstruktionen wechseln können, muß das »Gerüst«, in das sie eingefügt werden, immer dasselbe bleiben. Alle müssen sie sich in ein und dieselbe Grundstruktur einfügen lassen, die sich aus einer formalen Vorformung aller überhaupt möglichen Weltinhalte ergibt. Diese erkennt Wittgenstein in der Rückführung aller möglichen Aussagen auf Elementarsätze und die logischen Konstanten, die sie un-
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tereinander verbinden. Die Terminologie übernimmt Wittgenstein von Russells Principia Mathematica, verfeinert sie und wendet sie von ihrem Funktionieren in der logischen Prinzipienlehre weg zum Ausgriff auf eine letzte Wirklichkeit. Denn mit den Elementarsätzen und den Namen, die in ihnen im Rahmen einer Funktion gebraucht werden, ist der feste Stand der Sprache auf dem Boden der Realität für ihn verbürgt. Namen referieren auf Gegenstände, Elementarsätze bilden Sachverhalte ab, die, wenn sie wirklich sind, die Tatsachen der Welt sind, und ihre Kombination durch logische Operatoren eröff net den gesamten Möglichkeitsraum des Wißbaren wie des Wirklichen. Aus all dem folgt: »Die Logik ist keine Lehre, sondern ein Spiegelbild der Welt« (TLP6.13). Die metaphysischen Reflexe der Vorgänger tauchen zwar nur sporadisch auf, sind aber immer noch intakt. Wieder ist die ›logische Form der Welt‹ dasjenige, was Gott unmöglich zu unserer nachhaltigen Täuschung hätte zulassen können, unter keinen uns denkbaren Umständen: »Wenn ein Gott eine Welt erschaff t, worin gewissen Sätze wahr sind, so schaff t er damit auch schon eine Welt, in welcher alle ihre Folgesätze stimmen. Und ähnlich könnte er keine Welt schaffen, worin der Satz ›p‹ wahr ist, ohne seine sämtlichen Gegenstände zu schaffen« (TLP5.123). Und wieder gibt Wittgenstein so nur die Ahnung der »Menschheit« wieder, »daß es ein Gebiet von Fragen geben muß, worin die Antworten – a priori – symmetrisch und zu einem abgeschlossenen, regelmäßigen Gebilde vereint – liegen« (TB5.3.15[1]). Das ist die Metaphysik, wie zu jenen stoischen Zeiten18, in denen noch nicht die bewegliche Ökonomie der Erkenntnismittel, sondern einzig ein unmittelbar zu durchschauender Weltbau das Siegel auf alle Wahrheit war: ein »Gebiet, in dem der Satz gilt: simplex sigillum veri« (TLP5.4541). »Die vergessene, anonyme Spra-
18 | Der antikisierende oder romantische Zug wurde zumindest in der Einschätzung von Wittgensteins Stil immer wieder festgestellt. An den Stellen, an denen er zu Ende des Tractatus seine vernünftige Weltordnung in Frage stellt, erscheint es Ludwig Klages so, als handele es sich um einen »manichäischen Text aus dem 4. Jahrhundert« (L. Klages, Gespräche mit Peter Sloterdijk (Januar 1987). Unveröffentlichtes Typoskript. Bergisch Gladbach 1987, S. 97, zitiert aus Th. Macho, »Einleitung« zu Wittgenstein, a.a.O., S. 65). Die Nähe der Schlußpassagen zur mittelalterlichen Mystik hat Umberto Eco im Namen der Rose an einer Stelle zur Kenntlichkeit entstellt. Er übersetzt TLP6.54 ins Mittelhochdeutsche zurück: »Er muoz gelỉchesame die leiter abwerfen, sŏ er an ir ufgestigen.« (U. Eco, Der Name der Rose, München 1986, S. 625)
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che aller Menschen wiederfinden«19, und »sie wird erstrahlen in Selbstverständlichkeit«. Das Motto ist von Peter Handke, paßt aber genausogut auf seinen literarischen Vorgänger Wittgenstein. Dieser hatte sich in den Vorstadien der Arbeit am Tractatus entsprechend einmal als Titel notiert, was seine Philosophie sein würde: »Die Mythologie in den Formen unserer Sprache«20. Das Wunderbare in der Ethik
Auch das zweite Erlebnis, in dem es Wittgenstein um die Ethik geht, läßt sich nach demselben Muster erklären. Im Vortrag über Ethik schließt auch entsprechend die Schilderung gleich an das Staunen über die Existenz der Welt unmittelbar an. Wittgenstein nennt es das »Erlebnis der absoluten Sicherheit«. Und er erklärt: »Damit meine ich den Bewußtseinszustand, in dem man zu sagen neigt: ›Ich bin in Sicherheit, nichts kann mir weh tun, egal, was passiert‹« (VüE14f). Auch hier geht es zuletzt um eine Sicherheit, die man mit Heidegger gesprochen wieder besser ›ontologisch‹ oder metaphysisch versteht, und nicht ›ontisch‹. Auch wenn es mißverständlich klingt, ist mit Sicherheit nicht gemeint, daß man in ausreichender Distanz ist zu allem, was einem ›weh tun‹ kann im üblichen Sinne. Vielleicht kann man es als einen Hinweis darauf verstehen, woher Wittgenstein, wie er selbst sagt, sein Erlebnis nimmt 21. Er will jenes Erlebnis als eine quasi ›mystische‹ Erfahrung bei der Auff ührung eines Stückes des Wiener Mundart-Dramatikers Ludwig Anzengruber gehabt haben. In den Kreuzelschreibern, eine Adaption von Aristophanes’ Lysistrate im Gewand des altwiener Volkstheaters22, tritt eine Figur auf, die in der 19 | P. Handke, Das Gewicht der Welt, Salzburg 1977, S. 70. 20 | Vgl. P.M.S. Hacker, Einsicht und Täuschung. Wittgenstein und die Me-
taphysik der Erfahrung, Frankfurt a.M. 1978, S. 21, Anmerkung 12. Beide Hinweise finden sich bei Wolfram Hogrebe, Echo des Nichtwissens, Berlin 2006, S. 329. 21 | Vgl. Br. McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, a.a.O., S. 160. 22 | Anlaß für das Stück ist das Erste Vatikanische Konzil und vor allem das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes. Anzengruber macht aus dem Theologenstreit eine Komödie fürs Bauerntheater. Dabei entschließt sich beim sonntäglichen Umtrunk eine Gruppe Bauern zum Widerstand und unterschreibt eine Protestnote, zur Not auch nur mit »drei Kreuz«. Die Amtsmacht der Kirche mobilisiert dagegen die Frauen der Abtrünnigen, die frei nach dem Vorbild von Lysistrate zum ›Ehestreik‹ angestiftet werden. Mit Hilfe einer bau-
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Rolle des ›Steinklopferhans‹ es als einzige im ganzen Stück fertig bringt, sich grundsätzlich von allem Händel und weitergehenden Verwicklungen fernzuhalten. Die Symbolik des sozialkritischen Stücks will es so, daß er in dieser privilegierten Position erscheint, weil es dem einfachen Tagelöhner als einzigem offensteht, sich völlig in die Einsamkeit der kargen, aber übersichtlichen Umgebung seines Steinbruchs zurückzuziehen. Dort kann er sich sinnbildlich der elementaren Ordnung der Dinge versichern, in einer ›übersichtlichen Darstellung‹, wie Wittgenstein später sagen wird. Es ist sein eigentliches Metier, nichts anderes zu tun, als ständig nur mit jener fundamentalen Gewißheit umzugehen, indem er tagaus tagein merkt, wie sich ›der Spaten biegt‹ an einer letzten natürlichen Realität. »Es kann dir nix gschehn!« ist der existenzielle Mundartausdruck dieser ontologischen Gewißheit. Denn die Gefahr, daß man ihm ›wehtut‹ in einem handgreiflichen Sinne, besteht im Stück nie. Auch im zweiten Wittgensteinschen Erlebnis eines Wunders geht es demnach wieder um eine weitergehende Sicherheit, die uns überzeugt sein läßt, daß das, »was der Mensch über die Welt denkt und fühlt – und also sagt –«, darauf hoffen darf, »metaphysisch wahr zu sein«. Der Unterschied besteht nur darin, daß das Fühlen und Denken jetzt nicht das logische, sondern das ethische ›Gerüst‹ der Welt betriff t. Es zeigt sich wieder als eines, das von bestimmten Vorkommnissen in der Welt unabhängig sein muß: »nichts kann mir weh tun, egal, was passiert«. Auch wenn der Mutant mit dem Löwenkopf wieder auftauchte, könnte er doch dieser Sicherheit nicht schaden. Er erscheint nur als ein besonderes Wie der Bedrohung und als ein Wovor der Furcht. Er könnte aber die Existenz einer ethischen Welt, ihr Daß-Sein nie in Frage stellen. Vieles ernschlauen List des Steinklopferhans endet der Streit in Umarmungen. Will man eine tiefere Bedeutung im Wittgensteinschen Sinne in das Stück hineinlesen, liegt sie zweifellos in der Anlage der Wiener Volkstheater-Tradition, die Wittgenstein auch mit der Hochschätzung Nestroys verbindet. Die Kalamität ist darin immer vorausgesetzt, es kommt nur noch darauf an, ohne Aufsehen und größeren Schaden künftig mit ihr fertig zu werden. Der metaphysische Streit um letzte papale Gewißheiten wird am besten durch geschicktes Umgehen und Liegenlassen des Problems entschieden. In die Sprache des Volksmunds übersetzt erscheint zuletzt alles Tiefsinnige in die Vieldeutigkeit der Unterschriften der Kreuzelschreiber übersetzt, und wenn man so will, damit symbolisch zuletzt am besten ausgestrichen. Der Moral der Geschichte kommt es darauf an, daß der natürliche Lauf der Dinge möglichst wenig gestört wird. L. Anzengruber, Die Kreuzelschreiber, Gmünd 1993.
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kann uns das Fürchten lehren, aber der Glaube an die Gültigkeit unserer Grundüberzeugungen – die allererst den Raum dafür geben, daß uns etwas unangenehm, unerhört, ungewohnt oder unverschämt erscheint und uns damit die Möglichkeit des Wehleidens erst eröffnet – bleibt davon unberührt. Heidegger hat dies in Sein und Zeit mit der phänomenologischen Unterscheidung von ›Furcht‹ und ›Angst‹ zu erklären versucht23. So fürchten wir uns immer vor Bestimmtem, im weitesten Sinne Gegenständlichem, etwas was uns zustößt, Ereignisse, Schicksalsschläge, generell Dinge, die uns leiden machen. Angst aber, in dem Sinne, wie es von Kierkegaard bis in den Existenzialismus verstanden wurde, haben wir nur dort, wo uns eine ganze Welt abhanden kommt. Wir ängstigen uns davor, daß alle bisher gültigen Maßstäbe zusammenbrechen, alle Selbstverständlichkeiten abhanden kommen und mit einem Male nichts mehr so gültig ist, wie es bisher zu sein schien. Während uns noch die höchste Furcht zeitweilig mit dem Gedanken konfrontiert, aus der Welt auszuscheiden, und zwar als Todesfurcht, führt sie doch auch in der Folge prinzipiell nur wieder in die Welt hinein, indem sie uns zu Anstrengungen motiviert, uns das Objekt der Furcht vom Leib zu halten und immer besser zu beherrschen. Die Angst führt dagegen stimmungsmäßig in eine Weltfremde anderer Art, in der es kein einfaches Zurück mehr gibt. Sie will, daß die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit unserer Weltbezüge selbst gelenkt wird, darauf, daß mit dem, was wir meinen, auch tatsächlich etwas Reelles getroffen ist. Angst muß man um die Ordnung der Welt im Ganzen haben, darum, daß sie überhaupt verständlich wird und sinnvoll gedeutet werden kann. Es geht um die letzten Korrespondenzen zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Furcht hat man vor Seiendem, Angst im Kontrast von Sein und Nicht-Sein. Auch hier ist die Wittgensteinsche Versicherung einer mystischen, absoluten Sicherheit wiederum aufschlußreich, weil sie der Heideggerschen Angstrhetorik so fundamental widerspricht. Sie ist sozusagen die Kur für eine Verunsicherung, die vom Existenzialisten schon nicht mehr zu kurieren ist. Heidegger meint, das philosophische Durchleben der Angst führe dazu, die Grenzen einer möglichen Rückversicherung in den traditionellen Konzepten und Gewißheiten nur immer weiter schwinden zu sehen. Die ganze Seinsgeschichte ist derart eine Geschichte von Mißverständnissen, schon am Ziel zu sein, wo die Geschichte doch gerade 23 | Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, (15. Auflage) Tübingen 1984,
S. 140ff.
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erst anfängt. Alles kommt in Fluß, wenn man erst einmal angstvoll der Tatsache gewahr wird, wie entrückt uns alle bisherigen Welt-Sicherheiten in der Moderne grundsätzlich erscheinen müssen. Wittgenstein dagegen erlebt denselben Anflug an Verunsicherung nur als Motivation, den resoluten Sprung zurück zu überzeitlichen Wahrheiten zu wagen. Das Erlebnis absoluter Sicherheit ist die Erinnerung daran, daß es ein Sein vor diesem Dasein gibt, in dem alles schon richtig und gerichtet ist. Nicht zu unrecht hat man Wittgensteins Formel von einer unbedingten Sicherheit, in der uns nichts mehr zustoßen und berühren kann, als eine Übersetzung stoischer Weltüberlegenheit gelesen. »Dieser stoische Gedanke ist von Sokrates und Kierkegaard her bekannt. Bei Wittgenstein folgt er aus der logischen Unabhängigkeit von Welt und ethischem Willen: so wie der letztere erstere nicht beeinflussen kann, kann die Welt einer tugendhaften Person nicht schaden«24. Was auch immer die Welt an Zumutungen mit sich bringt, ist doch eine Tugend nicht gefährdet, die einfach auf einer grundsätzlichen Übereinstimmung von Norm und Wirklichkeit besteht. Nichts anderes will der ethische oder »gute« Wille (TLP6.43). Kann sich der gute Wille nicht durchsetzen, weil es die Umstände nicht erlauben, führt dies nicht zu einem Dementi des Willens, sondern zu einem Dementi der Welt. Zumindest wenn man es in der letzten Radikalität des Gedankens begreift. In der Praxis führt es, wie Wittgenstein sagt, dazu, daß sich »die Grenzen der Welt ändern«. Die Welt »muß sozusagen als Ganzes abnehmen oder zunehmen«. Was so tugendgefährdend sein könnte, wird per definitionem ausgeschlossen. Das Ausgeschlossene ist einfach eine andere Welt, die Welt des »böse(n) Wollen(s)«. Die ethische Welt ist damit koextensiv mit dem »Dazukommen oder Wegfallen eines Sinnes« (TB5.7.16[4]). Und der Tugendhafte ist solange auf sicherem Terrain, wie er seine Welt des guten Willens nicht aufgibt, wie begrenzt und klein sie auch immer werden mag angesichts ungünstiger Weltläufe. Nimmt man es genau, dann ist für den Tugendhaften sogar die Welt des bösen Willens im Grunde gar nicht existent. Sie ist nämlich eine Welt, in der es für ihn keinen Sinn gibt. Das böse Wollen ist wiederum nichts anderes als die Nicht-Übereinstimmung von Norm und Wirklichkeit. Diese ist aber der Ausbund an Absurdität. So kann Wittgenstein schließlich behaupten, die »Ethik ist transcendent« (TB30.7.16[9]), wie er zuvor schon die Logik im gleichen Sinne als transzendent dargestellt hat. Das ethische ›Gerüst‹ der Welt bleibt wie das logische in kristalliner Reinheit und Form bestehen unter allen möglichen 24 | H.-J. Glock, Wittgenstein Lexikon, Darmstadt 2000, S. 103.
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Umständen. Wer darüber hinausschaut und anderes wahrnehmen will, mögliche Differenzen in der Weltgrammatik und sittlichen Lebensformen, wie Wittgenstein später selber sagen wird, der scheint nur für das einzig Wirkliche mit Blindheit geschlagen. Daran muß man festhalten, und sei es um den Preis, daß der Philosoph, der solches behauptet, erscheint, als sei er von einem anderen Stern25. Um eine solche Haltung anschaulich zu machen und zugleich zu aktualisieren, kann man sich vielleicht keine bessere Wiedergabe denken als diejenige, in der ein Philosoph wie Peter Bieri sich dazu entschließt, als Pascal Mercier das Romaneske dieser intellektuellen Sternenferne auszuformulieren. So findet man im Nachtzug nach Lissabon folgende Passage, die von der Kunstfigur »Amadeu de Prado« stammt, und nur schwer ihr eigentliches Vorbild Wittgenstein verbirgt. Es genügt für die Übertragung, bei der Lektüre das ›Portugiesische‹ stellvertretend für unsere dekadenten Kultursprachen zu nehmen, und deren ›zwingend‹ gewordene Revision kurzerhand als das ›Tractarianische‹: »Vielleicht ist es so: Ich möchte die portugiesischen Worte neu setzen. Die Sätze, die aus dieser neuen Setzung entstünden, möchten nicht ausgefallen sein und verschroben, nicht exaltiert, maniriert und gewollt. Es müßten archetypische Sätze des Portugiesischen sein, die sein Zentrum ausmachten, so daß man das Gefühl hätte, sie entsprängen ohne Umweg und ohne Verunreinigung aus dem transparenten, diamantenen Wesen dieser Sprache. Die Worte müßten makellos sein wie polierter Marmor, und sie müßten rein sein wie Töne in einer Partita von Bach, die alles, was nicht sie selbst sind, in vollkommene Stille verwandeln. Manchmal, wenn noch ein Rest von Versöhnlichkeit mit dem sprachlichen Schlamm in mir ist, denke ich, es könnte die wohlige Stille eines zufriedenen Wohnzimmers sein oder auch die entspannte Stille zwischen Liebenden. Doch wenn mich die Wut über die klebrigen Wortgewohnheiten ganz und gar in Besitz nimmt, dann darf es nicht weniger sein als die klare, kühle Stille des lichtlosen Weltraums, in dem ich als der einzige, der Portugiesisch spricht, meine geräuschlosen 25 | Robert Menasse hat allerdings jüngst ein Beispiel dafür gegeben, daß diese ›zeitlose‹ Haltung des Moralisten auch als Fortsetzung enttäuschter 68er Utopien noch denkbar bleibt: »Und wann werden wir diesen Anspruch wieder zu unserem machen: nach den Sternen greifen, wissend: Die Erde ist nicht die beste aller Welten, sie ist der fernste Stern. Und wir wollen ihn mit Menschen besiedeln. Noch einmal. Wieder von vorn« (R. Menasse, Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung, Frankfurt a.M. 2006, S. 57).
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Bahnen ziehe. Der Kellner, die Friseuse, der Schaffner – sie würden stutzen, wenn sie die neu gesetzten Worte hörten, und ihr Erstaunen würde der Schönheit der Sätze gelten, einer Schönheit, die nichts anderes wäre als der Glanz ihrer Klarheit. Es wären – stelle ich mir vor – zwingende Sätze, und auch unerbittlich könnte man sie nennen. Unbestechlich und unverrückbar stünden sie da, und darin gleichen sie den Worten eines Gottes. Zugleich wären sie ohne Übertreibung und ohne jedes Pathos, genau und von einer Kargheit, daß man kein einziges Wort wegnehmen könnte und kein einziges Komma. Darin wären sie einem Gedicht vergleichbar, geflochten von einem Goldschmied der Worte«26.
Resümee
In einer langen Liste ist Wittgenstein damit der letzte, oder zumindest einer der letzten: all derer, für die es ein Vorteil ist, weltfremd zu sein. Die Position des sozialen Außenseiters hatte schon seit der Antike etwas anziehendes, insofern sie grundsätzlich passend schien für das Gelingen einer notwendigen Erneuerung. Der Fremde wurde sittlich gebraucht und politisch geschätzt, zuweilen religiös verehrt dafür, daß er bei einer anstehenden Neuordnung des Gemeinwesens in der Lage ist, angesichts neuer Umstände und veränderter Herausforderungen der alten Grundordnung eine ganz neue und zukunftsfähige Form zu geben. Der unverstellte Blick von außen, der fremde Erfahrungshorizont, die Kenntnisse des Weitherumgekommenen und rundum Gebildeten motivieren den Vorzug vor dem heimischen Ratgeber. Von Aristoteles bis Rousseau reicht der Mythos jener verfassungsgebenden Fremdbefruchtung. Als Mythos von der Rettung aus der Fremde hat er literarisch schon in der Odyssee Homers seinen Ursprung. In der modernen Wendung zeichnet sich dagegen eine grundlegende Achsenverschiebung ab, in der fremde Vergangenheit und heimische Zukunft nicht mehr in ein fruchtbares Ausgleichsverhältnis gebracht werden. Wo die weltliche Gegenwart als Horizont grundsätzlich verstellt erscheint, erscheint es als besonderer Vorteil, nicht immer schon dazugehört zu haben. Besonders groß ist dieser Vorteil dazuhin, wenn mit Blick auf eine vollkommen aussichtslose Lage überhaupt eine vorgängige Verstrickung in weltliche Verhältnisse bestritten wird. Jetzt ist es entsprechend förderlich, nicht immer schon dazugehört zu haben, nicht 26 | P. Mercier, Nachtzug nach Lissabon, (15. Auflage) München 2006,
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mehr um der Verbesserung des Bestehenden willen, sondern nur noch wegen der Möglichkeit von Exodus und Rückkehr. Die Nichteinmischung des Weltfremdlings erscheint dann schätzenswert, gradmäßig verschieden allerdings, je nachdem für wie aussichtslos die Lage tatsächlich eingeschätzt wird. Gemäßigte Versionen sehen immerhin noch vor, Verbesserung in der Welt in Form von Antizipationen einer besseren Zukunft und einer Bildung von lokalen Enklaven nahezulegen. So läßt sich die stoische Variante verstehen, die wie bei Seneca Trost noch im Exil und ein Refugium in der Gewißheit einer allumfassenden Weltvernunft sucht, die das gegenwärtige Übel in der Verkettung mit zukünftiger Kompensation zu synchronisieren weiß. Die radikalere Abkehr kommt mit der Gnosis und dem Neuplatonismus ins Spiel, in der die profane Welt nur noch als bedauerlicher Abfall von metaphysisch reinen Vorbildern bewertet wird und damit wenigstens im Geiste schon wieder zum vorzeitigen Verlassen nötigt. Christliche Sehnsüchte dieser Art schließen mit Augustinus’ Lehre von den ›zwei Reichen‹ an. Das 19. Jahrhundert spätestens modernisiert diese Exilsehnsüchte und kehrt die Stoßrichtung einer notwendigen Grenzüberschreitung diametral um. Nur noch das Bewußtsein und die eigene Psyche wird erweitert, nicht mehr der Welthorizont. Die absolute Weltfremde beginnt bereits in dem, was uns unbewußt am allernächsten liegt. Sie bedeutet eine letzte Form von Weltnähe in den Untiefen des eigenen Bewußtseins. Die abfallende Traditionslinie endet in der unendlichen Verknappung des Raums, in dem sich das authentisch Gebliebene wiederfindet. Wo es gelingt, durch künstlerische, chemische oder psychogene Extasen eine Vorstellung vom Baudelairschen ›paradis artificiel‹ hervorzubringen, scheint die Kompensation gegenüber den christlich metaphysischen Jenseitsannahmen schon gelungen. Wenn Wittgenstein als ein legitimer Vollender dieser Tradition gelten darf, dann wird es im folgenden darum gehen, wie sich das glaubhafte Leiden an so vollendeter Weltfremde und Weltenge zugleich als Strategie einer unschätzbaren philosophischen Vorteilsnahme umwerten läßt.
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B. Die Er findung des Sensationellen Das Wiederfinden des Wunders in der Welt der Moderne wäre die Erfolgsgeschichte des Tractatus gewesen. Eine kristallklare Logik und Ethik ihr Fund. Die Voraussetzung dazu, daß man bei ihrer Präsentation durchaus nachvollziehen kann, was Wittgenstein in seinen mystischen Momenten selbst erlebt haben mag: daß es sich hier um die äußerste Erscheinungsweise von Wahrheit und Moral handelt, die im Grunde nicht mehr von dieser Welt sind, sondern von einer überzeitlichen Sphäre ewiger Gewißheiten und Sicherheiten her stammen. »Gott offenbart sich nicht in der Welt« (TLP6.432), aber dort, wo die Sprache auf wunderbare Weise noch ›eins zu eins‹ mit der Welt übereinstimmt – wo auch ein Gott nicht anders konnte, als die Schöpfung so einzurichten, daß sie uns als vollkommen wirklich erscheint und nicht als beweglicher Traum oder bloße Illusion. »Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist« (TLP6.44). Der Tractatus ist so das Unternehmen, alles ostentativ wegzulassen, was der Erscheinung der Welt als einer wirklichen im Wege steht, und die Bedingungen zu definieren, unter denen unser altes Weltverhältnis noch sprachlich intakt ist. So folgt das berühmte Resümee am Anfang: »Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen« (TLP Vorwort). Im künftigen Kontrast des sinnlos Gewordenen, das man verschweigt, und der gereinigten Form, in der alles Wirkliche erscheint, müßte sich die letzte Evidenz einstellen, daß es bei all dem mit rechten Dingen zugeht. Es müßte wie von selbst einleuchten, daß die Sprache ein verläßlicher Spiegel der Welt ist, wo man sie mit einer Symbolik exaktester Wissenschaftlichkeit auslegt. Die mögliche Gegenlektüre zu dieser Erfolgsgeschichte beginnt aber auch schon im Vorwort zum Tractatus selbst: »Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht hat. – Es ist also kein Lehrbuch. – Sein Zweck wäre erreicht, wenn es Einem, der es mit Verständnis liest Vergnügen bereitete« (TLP Vorwort). Wittgenstein distanziert sich mit dem Vorbehalt, daß der verständige Leser wenigstens einmal in der Lage gewesen sein muß, ähnliche Gedanken und philosophische Hoff nungen wie er gehabt zu haben. Offen bleibt dabei schon, inwieweit es noch gelingen mag, den ›höheren‹ Sinn nachzuvollziehen, der nicht in dem ›Lehrbuch‹-Wissen aufgeht, das man aus dem Tractatus auch erwerben kann. »Vergnügen« wäre dafür eine recht schwache Vo-
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kabel, wenn damit wirklich gemeint ist, was Wittgenstein noch während der Ausarbeitung des Tractatus mit einer Form von Offenbarung assoziiert. Eher dächte man, einem etwas bitteren Humor folgend, wie er am Ende des ›Vorworts‹ aus dem Eingeständnis der Vergeblichkeit spricht, an das, was in der Tradition philosophischer Schicksalsbetrachtungen mit Blumenbergs Schiff bruch mit Zuschauer gemeint ist: eine distanzierte Teilhabe, einen ästhetisches Gefallen am tragischen Scheitern einer großangelegten Fahrt. Das Wiederfinden des Wunders in der Welt unter schon zweifelhaften Vorzeichen lädt jedenfalls zu einer Lektüre ein, in der die kurzen, apodiktischen Sentenzen des Tractatus bereits nicht mehr den unbedingten Zauber verbreiten, unter dem jedes weitere Wort überflüssig erscheint. Man kann sich vielmehr ausmalen, wie das ganze Unternehmen seinen Charakter wechselt, wenn die Tractatus-Worte nicht eine geniale Übersetzung aus einem vergangenen Reich unbedingter Geltung sind. Wenn, wie Wittgenstein es metaphorisch andeutet, am Ende nicht ein Engel gesprochen hat, sondern ein gefallener Engel, oder noch genauer, einer, der ein Engel sein wollte, aber nicht einmal die notwendige Fallhöhe jemals erreichen konnte. Das Anfangszitat aus dem Brief an Engelmann zum Jahreswechsel 1921: »Ich hätte mein Leben zum Guten wenden sollen und ein Stern werden«, geht so weiter, daß Wittgenstein resignierend gleich anschließt: »Ich bin auf der Erde sitzengeblieben und nun gehe ich nach und nach ein«. Weniger metaphorisch, aber nicht weniger melancholisch erklärt er zum Schluß seines Vortrags über Ethik, wie man jenes philosophische Sitzenbleiben verstehen kann. In Wahrheit gab es nämlich nie die Versetzung in eine höhere Warte, von der aus der nötige Blick aufs Original möglich gewesen wäre, es gab in Wahrheit keine sinnstiftende Intuition über die Grenzen unseres beschränkten begrifflichen Verstehens hinaus. So gesteht er sich ein: »Es drängte mich, gegen die Grenzen der Sprache anzurennen, und dies ist, glaube ich, der Trieb aller Menschen, die je versucht haben, über Ethik und Religion zu schreiben oder zu reden. Dieses Anrennen gegen die Wände unseres Käfigs ist völlig und absolut aussichtslos. Soweit die Ethik aus dem Wunsch hervorgeht, etwas über den letzten Sinn des Lebens, das absolut Gute, das absolut Wertvolle zu sagen, kann sie keine Wissenschaft sein. Durch das, was sie sagt, wird unser Wissen in keinem Sinne vermehrt« (VüE18f). Es ist zwar ein »Zeugnis eines Drangs im menschlichen Bewußtsein«, das damit weiter Hochachtung verdient, aber zuletzt notwendig und immer ins Leere laufen muß. Die Vorstellung schließlich davon, daß wir völlig außer Stande sind, uns in die Sicherheit einer metaphysischen Ordnung zurückzuver-
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setzen, erscheint selbstverständlich auch nicht mehr in Form einer wissenschaftlichen Erkenntnis. Sie erscheint wiederum als ein Erlebnis, das man mystisch nennen darf, nur hat es jetzt umgekehrte Vorzeichen. Es ist das Gefühl, das ich nach Wittgenstein habe, wenn ich mich mit Gott und der Welt nicht mehr eins weiß, sondern vom Gegenteil ausgehen muß. Es ist das »Schuldgefühl«, und »dies wiederum hat man mit der Formulierung gekennzeichnet, Gott mißbillige unser Benehmen« (VüE16). Das Wiederfinden des Wunders in der Welt wäre so tatsächlich die Erfolgsgeschichte des Tractatus gewesen, die tractarianische Logik und Ethik ihr Fund, hätte nicht am Ende ihrer Ausarbeitung die Einsicht gestanden, daß die Erscheinung dieses Wunders durchaus selbstgemacht oder gar ›selbstverschuldet‹ war. Auf den ›Wahrheitstafeln‹ sollte die logische Form der Welt angeschrieben stehen, das ›Gerüst‹ der Wirklichkeit, tatsächlich sieht der späte Wittgenstein nur noch die sprachliche Form des Käfigs aufgezeichnet, die uns von der Welt trennt, wie sie wirklich ist (oder von der wir nicht wissen können, wie sie wirklich ist, oder auch ob sie wirklich ist). Das Fazit wird sein: Anstatt einer Übertragung metaphysischer Sicherheiten ins Sprachliche, handelt es sich umgekehrt nur um eine Rückprojektion sprachlicher Sicherheiten ins Metaphysische. Geht man einen Schritt zurück und fragt sich nach den besonderen Maximen solcher Umkehrverfahren, kann man finden, daß Wittgensteins Selbstmißverständnis durchaus nicht untypisch ist. Es zeigt vielmehr generelle Tendenzen, die sich verallgemeinern lassen und zu einer Strategie verdichten, die der einzigartigen Situation des Moralisten in der Moderne angemessen ist. Dieser sieht sich mit der begründeten Vermutung konfrontiert, daß er sein Unternehmen schon nicht mehr als Philosoph formuliert, der den Ausgang aus dem Käfig der Sprache tatsächlich gefunden hätte, sondern weiter nur als dessen Insasse, der sich zum Künstler macht und es geschickt versteht, sich darin profitlich einzurichten. Was er als unabhängige Wahrheit jenseits der veränderlichen Sprachkonventionen anvisiert hatte, ist in Wahrheit nur ein diff uses Außen, das er als solches wiederum nur durch die ›Gitter‹-Strukturen des gängigen Sprachverkehrs hindurch wahrnimmt. Was es in Wahrheit sein könnte, erscheint nur als ein geniales Sichausmalen dessen, was aus der bedrängten Binnensicht heraus noch erstrebenswert schiene. Im besten Falle ist es so eine Rekonstruktion, die um ihrer Wirkung willen allerdings darauf bestehen muß, ihre genuine Künstlichkeit nachhaltig zu verbergen. Es muß eine Kunst des ›trompe l’œil‹ sein, in der man sich selbst verlieren kann.
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Die spezielle Strategie des Moralisten, für seine Belange eine Kunst der Kunstlosigkeit zu beherrschen, ließe sich a priori dann zu folgendem Anforderungsprofi l verdichten. Der Moralist lebt in der prekären Lage, so zu tun, als gäbe es noch die intakten sittlichen Verhältnisse, an die er nahtlos anschließen möchte, mitsamt einer zugehörigen Rahmenordnung, in der, wie auch immer begründet, alle Phänomene ihren Platz haben. Er muß den Eindruck erwecken, als seien wir in Wahrheit zumindest alle noch Teil solcher Grundordnungen, in denen die Kodierung von gut und böse, richtig und falsch auf ein letztes Prinzip hin zurückzuverfolgen und gut zu begründen ist. Wir lebten in ›inklusiven‹ Verhältnissen, wie es die Systemtheorie sagt, in denen wir mit unserem Verhalten so etwas wie organische Bestandteile einer sinnvollen Sphäre bilden und damit aktiv wie passiv zum Gelingen des Ganzen beitragen können. Das Problem beginnt dort, wo schon im Ausgang klar ist, daß wir von all solchen ›traditionell‹ verstandenen Gemeinschaftsvorstellungen ausgeschlossen sind, wir in den modernisierten Verhältnissen nur noch ›Exklusion‹ haben und uns in eine Umwelt zurückversetzt fühlen müssen, in der wir nur anschlußfähig sind, weil wir uns fremdbestimmen lassen von anonymen und von uns unabhängigen Systemimperativen. Was als wahrhafte und höchste Ordnung herausgestellt wird, muß demnach so aussehen, wie man sich gemeinhin vorstellt, daß eine wahrhafte Ordnung nur aussehen kann. Das heißt, im schon ernüchterten, entzauberten Zustand, in dem die modernen ›Systeme‹ sich flächendeckend sozial und kulturell selbst koordinieren, muß man so tun, als könne man zurückschließen auf das, was einst Zauber und Magie in einer Sphäre des Unbedingten ausmachten. Aus dem Gewohnten und Gewöhnlichen, das zur Verfügung steht im Rahmen der neuen Verfahren und Institutionen, muß das Außergewöhnliche extrapoliert werden. Für die Moral heißt das, daß die absoluten Maßstäbe zuletzt nur eine Überhöhung der bereits verweltlichten und routinierten Vorstellung von Exzellenz und ›Anständigkeit‹ – so sagt Wittgenstein – sein können, also von selbst konventionell gewordenen Wahrheiten. Für die Wissenschaft gesprochen bedeutet dies, daß das, was jetzt als Metaphysik angesprochen wird, zuletzt nichts anderes als eine Form der Steigerung des gegenwärtigen ›state of the art‹ ist. Für beide darf man annehmen, daß es sich in bloßer Verlängerung und Radikalisierung des Bestehenden nur um eine Form von ›science fiction‹ handelt, mit dem Unterschied freilich, daß diese ›wissenschaftliche Erfindung‹ nicht in die Zukunft verweist, sondern der Tendenz nach zumindest in die Vergangenheit. Wie in der einschlägigen Literatur bekommt man auch hier nicht qualitativ Neues
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vorgeführt, nichts wirklich Vergangenes, wie auch die Zukunftsromane in Wahrheit nichts Zukünftiges bieten, sondern nur den gegenwärtigen Stand der Technik in etwas grellerem Lichte, ohne bevorstehende Revisionen und ihre gesellschaftlichen Konsequenzen auch nur im geringsten zu antizipieren, oder wenn überhaupt, dann nur zufällig. Dazu ist die Wirklichkeit, seit Hegel von Dialektik in der Geschichte spricht, in jeder Hinsicht noch immer viel zu ironisch gewesen. Somit wäre diese ›science fiction‹ radikal gewendet zugleich auch nur eine erweiterte Form von Folklore, denn sie malt nur in kräftigeren Farben und stärkeren Tönen aus, was schon nicht mehr lebendige Tradition sein kann, vielmehr verstärkte Projektion einer Herkunft in die Zukunft ist, von der man substantiell aber im Grunde nichts mehr beibehalten hat. Der erste Teil der Strategie des modernen Moralisten besteht zusammengefaßt dann darin, das gewöhnlich Gewordene und längst Normalisierte nicht mehr, wie man sich es denken müßte, qualitativ ganz anders und erneuert erscheinen zu lassen, denn das entzieht sich schon nachhaltig seinen Möglichkeiten. Es kann nur noch darum gehen, es in Form einer Stilisierung und ausgefeilten Fiktion so darzustellen, daß es auf eine der Zeit angemessene Weise neue Nahrung für den alten Wunderglauben an die Metaphysik gibt. Der zweite Teil der Strategie betriff t im Anschluß das Wie des Übergangs vom Selbstverständlichen zum neuen Wunder-›Ersatz‹. Wo sich der natürliche Zauber einer alle überzeugenden Wahrheit nicht mehr von selbst einstellt – dann hätten wir ja das Problem nicht – hilft nur noch der Versuch, denselben Effekt kunstvoll hervorzubringen. Das, was nicht mehr von alleine geschieht, muß durch außerordentliche Anstrengung und gesteigerte Geschicklichkeit hervorgebracht werden. Das Wunderbare hat sich als sonderbare Übertreibung des Selbstverständlichen zu erweisen, es muß wiederaufleben, indem es als solches verfremdet zur Schau gestellt wird. Ist es nicht einfach nur zauberhaft, braucht es die extrem komplizierte Darstellung, die es für alle sichtbar vom Gewöhnlichen abhebt. Das Wunderbare wird zur Sensation. Sucht man nach einem schlagenden Bild und einer Berufsbezeichnung für eine solch sensationelle Anstrengung, weiß Nietzsche aus Erfahrung mehr: »Für die Höhe der Berge ist die Mühsal ihrer Besteigung durchaus kein Maßstab. Und in der Wissenschaft soll es anders sein! – sagen uns einige, die für eingeweiht gelten wollen – die Mühsal um die Wahrheit soll gerade über den Wert der Wahrheit entscheiden! Diese tolle Moral geht von dem Gedanken aus, daß die ›Wahrheiten‹ eigentlich nichts weiter seien als Turngerätschaften, an denen wir uns wacker
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müde zu turnen hätten, – eine Moral für Athleten und Festturner des Geistes«27. Robert Musil, Wittgenstein noch näher, beschreibt einmal in seinem Mann ohne Eigenschaften einen äußerst talentierten Denker, der zuweilen äußerst angespannt wirkte und zur Schwermut neigte: »[…] er hatte die Vorhänge zugezogen und arbeitete im gedämpften Licht wie ein Akrobat, der in einem halbdunklen Zirkus, ehe noch die Zuschauer zugelassen sind, einem Parkett von Kennern gefährliche neue Sprünge vorführt«28. Der Philosoph als Athlet im Moralischen oder Akrobat im Logischen: Der Sache nach hätte Wittgenstein wohl zugestimmt, die Karikatur von der »tollen Moral« als sportlichem Spleen29 hat er allerdings immer vermieden. Obwohl auch er einmal in einem Gespräch zugestand, »es sei beim Denken genau so wie beim Schwimmen: wir haben eine natürliche Neigung zur Oberfläche und müssen uns sehr anstrengen, um auf den Grund zu kommen. Und ein andermal, als die Rede war vom unter-
27 | Heller, a.a.O., S. 239. 28 | R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1952, S. 114. 29 | In diesem Zusammenhang ist zuletzt noch anzumerken, wie weit die Kontroverse um die Versportlichung unseres Weltverständnisses in der Zwischenzeit geht. Auf der einen Seite ist es phänomenologisch verlockend, die Welt als großen Sportplatz zu sehen und die echten Sportler dabei als Künstler, die es als letzte fertig bringen, Ereignisse und Wunder in einer ereignislos gewordenen Welt zu vollbringen. Wahrhafte Sportler sind diejenigen unter uns, die Momente der ›Epiphanie‹ schaffen. Das ist die These von Hans Ulrich Gumbrechts Lob des Sports (Frankfurt a.M. 2005). Was der Sport anschaulich macht, geht damit über das im üblichen Sinne Spektakuläre noch weit hinaus, weil es das ›Medium‹ des Spiels selbst in seiner ›Präsenz‹ offenbar werden läßt. Ein Letztkontakt mit der Wirklichkeit ist denkbar, indem ihre Möglichkeiten und Strukturen momentan konterkariert und überboten werden, so daß sie in ihrem schieren Bestehen und ihrer ›Materialität‹ plötzlich für alle sichtbar werden. Am entgegengesetzten Ende der Bewertung findet sich der Verdacht, daß mit der »sportivisation« des öffentlichen Raumes die Regulierungswut der Moderne nur auf eine letzte Spitze getrieben wird. Sie erscheint in der Nachfolge marxistischer Gesellschaftskritik als ein mediales Opium für die Massen, das zur »chloroformisation« des Bewußtseins und zur Versklavung der Massen beiträgt. Vgl. Jean Marie Brohm, La tyrannie sportive, Paris 2006 (Beauchesne).
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schiedlichen Rang von Philosophen, meinte er, das Maß der Größe eines Menschen sei die Mühe, die ihn sein Werk koste«30. Es hat ihn offenbar schon zuviel Anstrengung gekostet, um auf den letzten Grund der Tatsachen vorzustoßen, als daß es ihm in den Sinn kam, über die problematische Echtheit seines sensationellen Fundes zu scherzen. Was sich hier an dramatischem Ringen im Hintergrund abgespielt hat, läßt sich zwar nicht leicht aus den Büchern erschließen, wohl aber aus seinen Tagebüchern, vor allem den Geheimen Tagebüchern. Es ist vor allem der direkte Zusammenhang, den Wittgenstein im Redaktionsverlauf des Tractatus während des ersten Weltkrieges zwischen dem Erreichen logischer Gewißheit und existenzieller Sicherheit vor Augen hat, der klar macht, was es für ihn heißt, daß die »Mühsal um die Wahrheit« deren einziger und letzter Maßstab ist, und zugleich auch für die Größe eines Menschen steht. In Wittgensteins Selbstverständnis ist dies ein titanisches Ringen, in dem nur ein veritables Jahrhundertgenie bestehen kann. Ein zerzauster Beethoven ist das Vorbild31. Selbstironie vollkommen ausgeschlossen. 30 | E. Heller, »Wittgenstein und Nietzsche«, in: ders., Die Reise der Kunst ins Innere, Frankfurt a.M. 1966. Heller bezieht sich bei den Anekdoten auf Norman Malcolm, Ludwig Wittgenstein, A Memoir. With a Biographical Sketch by Georg Henrik von Wright, London 1958, S. 55. 31 | Man muß dabei auch noch vor Augen haben, wie Wittgensteins Beethoven-Bild sich selbst noch einmal zeitgemäßen Stilisierungen ins Ungeheure und Unnachahmliche verdankt. Bertrand Russell berichtet in einem Brief an Lady Morrell (vom 23. April 1912) folgende Episode: »Er redete über Beethoven: ein Freund habe beschrieben, wie er vor Beethovens Tür stand und ihn während der Arbeit an seiner neuen Fuge fluchen, heulen und singen hörte. Nach einer vollen Stunde sei Beethoven schließlich an die Tür gekommen und habe ausgesehen, als habe er mit dem Teufel gerungen. Seit 36 Stunden hatte er nichts mehr gegessen, weil Köchin und Dienstmädchen vor seinem Zorn davongelaufen waren« (Br. McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, a.a.O., S. 186f). Es besteht kein Zweifel, wie vorbildlich für Wittgenstein dieses Szene gewirkt hat (vgl. David Hume Pinsent, Reise mit Wittgenstein in den Norden. Tagebuchauszüge und Briefe, hg. v. Georg Henrik von Wright. Übersetzt von Wolfgang Sebastian Baur, Wien Bozen, 1994, S. 120). Wer aus einem solchen Kampf hervorgeht, tut das der Vorstellung entsprechend entweder als Schöpfer neuer Welten, oder am Boden zerstört. Nietzsche hat nicht wenig zu einem solchen Entweder-Oder beigetragen. Wagner hat es musikreligiös verklärt. Es ist generell die spätromantische Vorstellung, daß sich das Individuum in
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Moralistik als der Ver such, das Selbst ver ständliche wunderbar zu machen
Eine reiche Literatur europäischer Moralistik geht Wittgensteins unzeitgemäßem Bestehen auf der Gültigkeit letzter Maßstäbe voraus. Ihr historischer Einsatz ist der beschriebenen Logik gemäß dort, wo sich der Mensch neuzeitlich nicht mehr seiner zentralen Stellung in der Welt gewiß sein kann. Sie verarbeitet die Kränkungen, die von Kopernikus, Darwin und Freud nicht weniger ausgehen als von Descartes, Kant und Marx, insofern sie der exzentrischen Stellung des Menschen im Kosmos, wie es Max Scheler32 zum Schluß auf einen anthropologischen Nenner bringen wird, auf immer neue Weise und in neuen Abständen gewahr werden müssen. Diese Moralisten sind selbst Exzentriker, die virtuos genug aufgetreten sind, damit man ihnen ihre Fiktion abnimmt, sie seien im Grunde von einer anderen Welt, von der wir, verunsichert und entzaubert von unserer Moderne, im Grunde auch alle gerne noch sein würden. Bis auf den Don Quixote von Cervantes läßt sich in der Literatur die Linie zurückverfolgen. Er macht auch für alles folgende überdeutlich, was es heißt und wie es möglich ist, mit konsequentem Festhalten an Naivität und äußerster Weltfremdheit seine literarische Umwelt und Leserschaft gleichermaßen in einen zwiespältigen Bann zu schlagen. Die Sympathie entsteht offenkundig durch den Schein, er würde längst Vergangenes und zurecht Hochgeschätztes unbeirrbar für sich und seine Gegenwart einfordern. Sein moralistisches Steckenpferd ist die Courtoisie, die ›Höflichkeit‹ in einem unbedingten, ritterlichen Sinne. Seine Wertvorstellungen die von unverbrüchlicher Lehnstreue und der vollkommenen Devotion des Minnedienstes. Was schon in den modernen Verkehrsformen zur Höflichkeit im landläufigen Sinne herabgesunken ist, was jedermann geläufig ist, aber niemandem mehr wirklich auff ällt und betont werden muß, darum wird noch einmal ein großes Aufheben gemacht. Der Reiz des Romans besteht moralistisch gesehen eben nur darin, daß jedes höfliche Wort noch einmal so genommen wird, als sei es wirklich so gemeint. Als gebe es keine Konvention, die berechtigt, es keinem Fall mehr mit den Zeitläufen arrangieren kann, sondern nur noch in vollkommener Vereinzelung gegen sie antreten. Immer handelt es sich um ein »examen rigorosum« (Bolz, a.a.O., S. 47ff ). 32 | M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, (16. Auflage) Bonn 2006.
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als bloße Formel zu verwenden. Ein Quid pro quo, das entsteht, wenn an sich Unverfängliches wieder auf die Goldwaage gelegt wird33. Die Zwiespältigkeit in der Vereinnahmung entsteht vorhersehbar dadurch, daß jeder Beteiligte von Anfang an wissen muß, daß die zu neuem Leben erweckte Ritterwelt nicht authentisch sein kann. Die Nachrichten aus der alten Welt stammen selbst aus den Ritterromanen, die aus ihrer Stilisierung und ihrer Trivialisierung schon keinen Hehl mehr machen müssen. Don Quixote ist sozusagen ein Philologe des Trivialromans, der schließlich seiner ›Wissenschaft‹ erlegen ist. Glaubhaft wird der ›Ritter von der traurigen Gestalt‹ deshalb auch nur dadurch, daß er seine Rolle so hinreißend authentisch spielt. Obwohl man es besser wissen müßte, würde doch keiner wirklich unterstellen wollen, der Roman-Held handelte nicht in der vollkommenen Überzeugung, tatsächlich in einer verzauberten Welt zu sein. Don Quixotes Virtuosität erweist sich als eine Kunst der Übertreibung, in der die Welt mit solchem Aplomb verfremdet wird, daß es bis ganz zum Schluß keiner erfolgreich wagen wird, dem Spuk ein Ende zu machen. Don Quixote meint, er habe die Welt nur zur Kenntlichkeit entstellt. Solcher Sensation kann niemand leicht widerstehen. Georg Lukács kann als Gewährsmann dafür einstehen, eine solche Deutung und Zurechtlegung mit dem Moderneproblem der TractatusZeit in Verbindung zu bringen. In seiner letzten Arbeit vor der Konversion zum Marxismus, der Theorie des Romans von 1915, teilt Lukács selbst noch die Prämissen einer Kulturkritik, die sich nicht zuletzt angesichts 33 | Es muß vielleicht nicht verwundern, daß die Zeit wieder günstig ist für ein neuerliches Auftreten des Moralisten in diesem Sinne. Robert Menasse kann hier noch einmal zum Gewährsmann werden, was die Strategie betriff t – bis hin zur Anleitung für den Dichter, wie er auf kunstvolle Weise wieder glaubhaft naiv erscheinen kann. Spinoza ist das selbstgewählte Vorbild in der Haltung: »Wir können zurückgreifen auf gesellschaftlich bereits durchgesetzte Ideen und Ansprüche, die vernünftig sind, deren Makel es bloß ist, daß sie in der Realität nicht oder nur dem Schein nach durchgesetzt sind. Wir können zurückgreifen auf Sonntagsreden, die wir bloß von Montag bis Samstag beim Wort nehmen müssen. … Es geht um diese Differenz, diesen Spalt, in den sich Literatur hineinzwängen muß. Der Riß zwischen der Welt, in der ich schreibe, und der unbeschriebenen Welt. Die Welt, wie sie sich letztlich als bestmögliche legitimieren will, und die Welt, die sich als bestmögliche erst verwirklichen will, auch und erst recht dann, wenn das System, wie es jetzt ist, dann nicht hält«. (Menasse, a.a.O., S. 56).
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der Aktualitäten weiter dramatisch verschärft. Auch er denkt wie Wittgenstein mit Tolstoi und vor allem Dostojewski die ganze Neuzeit und erst recht die Gegenwart als eine Epoche vollendeter Sündhaftigkeit. Die Enttäuschung über die Verheißungen der Aufklärung erschließt er sich in einer Hegelschen Geschichtsdialektik, die nicht im Kantischen ›Ewigen Frieden‹, sondern in der Irre des Weltkrieges endet. Der Don Quixote erscheint dann als ein Übergangsphänomen: von einer romantisierten Vorgeschichte, in der es noch keine Spaltung in Innen und Außen, Ich und Welt, Seele und Tat gegeben hat, wo noch ein Zustand der »Lebensimmanenz des Sinnes« geherrscht hat (das soll die Antike im Sinne der Aufklärungs-Germanistik sein); zu einem kulturellen Bruch mit der Moderne, nach dem nur noch eine »Epopöe der gottverlassenen Welt« zu schreiben ist. Don Quixote ist deren erster Sekretär, insofern er die Dissidenz des intelligiblen Ich als eine phantastische Gegenwelt ausformuliert, oder wie Lukács es mit seiner berühmten Metapher sagt, als ein erstes literarisches Provisorium im Zeitalter »transzendentaler Obdachlosigkeit«34. Auch Lukács sieht dabei die ideengeschichtliche Beschränktheit des moralistischen Ansatzes. Während die spätere Romantik es immer mit Überschüssen an Sinnvermutung zu tun hat, die in die Zukunft weisen, bleibt der »Idealismus« des Don Quixote und seiner Nachfolger »abstrakt« und rückwärtsgewandt. Die späteren, er denkt vor allem an die Romanciers des 19. Jahrhunderts, Flaubert zuerst, betreiben das Geschäft einer »Desillusionsromantik«, weil ihre Helden der Welt immer viel zu weit vorausgeeilt sind. Die Moralisten dagegen müssen noch dem Versuch einer einmaligen Weltverzauberung nachgehen. Oder, wieder mit einschlägigen Metaphern belegt: »Die Seele ist entweder schmäler oder breiter als die Außenwelt, die ihr als Schauplatz und Substrat ihrer Taten aufgegeben ist«. Don Quixote ist dann das gültige Vorbild aller Helden mit einer zu schmalen Seele. Die nachfolgenden ›Helden‹ in diesem Sinne werden dann zwar alle bereits Intellektuelle sein, die grundsätzliche Disproportion zwischen Welt und Gemüt werden sie aber nicht überwinden können. Sie entwickeln zwar immer mehr und umfangreichere Theorien über das Verhängnisvolle ihrer Lage, sehen sich aber deshalb nur zu immer weiterer Verinnerlichung und Sublimierung ihres Anliegens gezwungen. Diese wechselseitige Dynamik von Einsicht und Verdrängung wird ausgehend von Molières Misanthropen über Rousseau und Tolstoi in eine direkte Li34 | G. Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Darmstadt/Neuwied 1982, S. 47.
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nie zu Wittgenstein führen. An das Ende ihrer Möglichkeiten gelangt diese Geschichte dort, wo es selbst für die ›schmale Seele‹ einerseits immer schwieriger werden wird, überhaupt noch Raum zur Entfaltung ihrer eigenen Logik zu finden. Und wo andererseits damit zugleich ihr »Idealismus« so »abstrakt« werden muß, daß ihre Stilisierung als weltfremde Seele im Grunde nicht mehr zu halten ist. Nur eine entschiedene ›Illusionsromantik‹ ist dann in der Lage, den Schein von einem naiven und unverstellten Blick auf die Welt aufrechtzuerhalten. Der Misanthrope kann als deren erster Versuch gelten, insofern der Molièrsche ›Menschenfeind‹ auch schon darum wissen kann, daß er sich im Grunde erst zu dem macht, was er ist. Er ist nicht mehr nur Findling aus einer romanesken Welt, sondern verdient sich sein Außenseitertum durch eine selbstquälerische Abrechnung mit der barocken Espritkultur. Die ganze Gesellschaft scheint sich einer perfekten Heuchelei verschrieben zu haben in allen menschlichen Beziehungen. Er selbst ist in dem Stück die knorrige ›Eiche‹ unter lauter bieg- und beugsamen Schilfrohren, wie es später die Lafontainesche Fabel vorsieht. Auch er stellt sich heroisch gegen die ganze Welt, und wie Cervantes darf sich auch Molière von diesem Umstand eine offene und latente Komik versprechen, mit dem Unterschied allerdings, daß hier nur der Protagonist selbst der leidtragende sein wird. Der forcierte Verstoß gegen die Spielregeln einer mondänen Gesellschaft endet jeweils in einer kontinuierlichen Serie von Demütigungen, die allerdings eben mit einem masochistischem Ehrgeiz angenommen und als solche zuletzt gewollt erscheinen. Es ist eine Lust am Schein, der gewahrt bleiben soll, das Scheitern selbst wird schon zelebriert. Auch in diesem Stück weiß das Publikum von vornherein von der wahren Herkunft des Helden aus der bloßen Fiktion einer besseren Vergangenheit. Auf der Bühne wird das deutlich, wo das Frankreich Ludwig XIV. mit der eleganten Macht einer Spottkultur das Heldenhafte vergangener Fronde-Geschichten für passé erklärt: Corneilles pathetischer Stoizismus wird von Racines beweglichem Skeptizismus mit Nachdruck, aber mühelos überspielt. Und dabei ist auch noch klar, daß bereits die Befreiungsgesten der Corneilleschen Helden schon selbst wieder nur geliehen waren aus einer bereits mythisch gewordenen Vorgeschichte, vornehmlich spanischer Volkshelden, im Glaubenskampf der Moderne, wie der eines Cid oder eines Don Sanche d’Aragon, wenn sie nicht in ihrer Sauvagerie noch bis zu Attile, roy des Huns zurückgehen mußten. Schließlich hat Molière aber auch schon in der Dramaturgie des Stücks selbst, wie es scheint, die Wendung vorhergesehen, daß seine Hauptfigur unter dem drohenden Wirklichkeitsverlust nicht so sehr lei-
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det, als daß er ihn vielmehr genießt. Ein Fanatismus der Aufrichtigkeit im Spiegelkabinett geschliffener Salonsprache erscheint selbst wieder verräterisch. Das rhetorische Zurückdrängen aller Neigung zur sprachlichen Verstellung ist vielleicht deren fortschrittlichste Variante und dient nur zu deren weiteren Enthemmung. Der Misanthrop ist für Molière zumindest mit dem Tartuffe lasterhaft verschwägert. Dramatisch sieht er diese Lektion gegeben in der fatalen Liebe seines Moralisten Alceste zur geistreichen Königin der Salons, Célimène, deren unüberbietbare Koketterie sich in seinem sittlichen Werben nur um so besser spiegelt. Auch für eine Theorie der Moralistik kann dieses Verhältnis aufschlußreich sein. Roland Barthes hat in seinem Essay Sur Racine aus dem Jahr 195635 vorgeführt, wie sich die Virtuosität sprachlicher Verstellung mit der Vorstellung psychoanalytischer Verdrängung verbinden und nutzen läßt. Auch dem Racineschen Helden gelingt es mit seiner moralistischen Bewegung, Gefangene im gegnerischen Lager zu machen, weil sie beide gleichermaßen Auf begehrende sind gegen eine viel weitergehende Gefangenschaft in ihrer modernen sprachlichen Prägung und semiotischen Vorcodierung. Für Barthes ist der Streit um die Moral bestenfalls ein vordergründiges Mißverständnis. Es trägt nur dazu bei, die grundlegende Hemmung durch ein strukturalistisches Zeichen-›Subjekt‹ zu verdecken, das wie ein Freudsches Über-Ich die ursprüngliche TriebPersönlichkeit von vornherein verbiegt. Auch im Strukturalismus bleibt so eine Restromantik als Voraussetzung, die sich von der Annahme einer kulturell unheilbaren Urverletzung des modernen Ich nährt. Die wahre ›Illusionsromantik‹ der Moralistik beginnt freilich erst bei Rousseau. Von Anfang an besteht hier überhaupt kein Zweifel mehr an der Fiktionalität der moralistischen Herkunftsbeschreibung. Rousseau räumt nicht nur ein, er rechnet fest damit, daß sein Idealzustand aus reinen Kontrastgründen so erscheinen muß und als des Menschen Urund Naturzustand eine Projektion ist. Er wird bereits als wissenschaftliche Hypothese eingeführt, und seine Ausgestaltung ist reine Theorie. So heißt es entsprechend zu Anfang des zweiten Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes: es sei möglich, »daß er vielleicht nie existiert hat, nie existieren wird und daß es dennoch notwendig ist, einen klaren Begriff von ihm zu haben, um auf diese Weise über unsern gegenwärtigen Zustand urteilen zu können«36. 35 | R. Barthes, Sur Racine, Éd. du Seuil, Paris 1979. 36 | J.-J. Rousseau, Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité par-
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Ebensowenig Zweifel besteht über die Konfrontation mit dem Verdacht, es handele sich dabei um eine geistreiche Stilisierung eines ›hommes de lettres‹ vor dem Hintergrund einer desperaten Karriereplanung. Unvergessen Voltaires verständnisvolle Replik auf die Zusendung des zweiten Discours: »Niemals hat jemand soviel Geist darauf verwandt, den Menschen zum Tier zu machen. Bei der Lektüre des Werks bekommt man Lust, auf allen Vieren zu kriechen«37. Unvergessen auch der Streit mit Diderot um die Urheberrechte der Strategie, die Preisfrage der Akademie von Dijon von 1749 Si le rétablissement des Sciences et des Arts ont contribué à épurer les mœurs mit einem so paradoxen wie entschiedenen Nein zu beantworten. Diderot wollte nie wirklich glauben, daß Rousseau in seiner neuen Stellung als Vernunft- und Zivilisationskritiker tatsächlich die Seiten gewechselt hat. Die freundschaftlichen Rückholversuche führten bekanntlich nur immer weiter zum Zerwürfnis. Auch keinen Zweifel kann es schließlich darüber geben, daß Rousseau der erste Moralist ist, der selbst schon eine Theorie hat, mit der er versucht, über die verhängnisvolle Dynamik von Einsicht und Verdrängung ins Klare zu kommen. Im Grunde ist die Akademiefrage nichts anderes als die Aufforderung, im Zweifelsfalle mit Argumenten zu kommen. Anschaulich werden diese für Rousseau nicht zuletzt bei seiner Mitarbeit in Diderots und d’Alemberts Aufklärungsunternehmen par excellence, der Encyclopédie des Arts et des Sciences. Diderot hat dort in dem Discours préliminaire den Dictionnaire als das Menschheitsprojekt beschrieben, den Aberglauben zu besiegen, überkommene Ansichten skeptisch zu prüfen und das Denken rationalen Kriterien zu unterwerfen. Die philosophischen ›Letztverbindlichkeiten‹ früherer Tage: Gott, angeborene Idee, Substanzen, wie überhaupt jede Form von hierarchischem System, gelten als unvereinbar mit der nachdrücklich vertretenen These von der stetigen Perfektionierung des menschlichen Geistes. Es ist der Anspruch der Enzyklopädisten, »nicht nur ein Abbild des Wissens ihrer Zeit zu geben, sondern dieses Wissen zugleich auch zu verändern und mit ihrem Werk ein mächtiges Instrument zur Zerstörung des Ancien Régime in religiöser wie politischer Hinsicht zu schaffen«. Problematisch wird dieses Projekt für Rousseau, wo nicht mehr zu übersehen ist, daß die kritische Abwendung von den alten Hierarchien zwar durchaus Fortschritt bedeutet, der Fortschritt aber schließlich nicht mi les hommes, in: ders., Œuvres complètes, hg. v. B. Gagnebin und M. Raymond, Band III, Paris 1964, édition de la Pléiade, S. 123. 37 | H. Gouhier, Rousseau et Voltaire, Paris 1983, S. 54.
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an das selbstgesteckte Ziel führt. Noch im Eingang seines Discours beschwört D’Alembert die Baconsche Vorstellung von einem Stammbaum der Wissenschaften, dem »arbre généalogique ou encylopédique«38, der nach ›Wiederherstellung‹ der Künste in der Renaissance und kräftigem Wachstum im Zeitalter des Rationalismus schließlich mit der Aufklärung als vollkommen ausgewachsen gelten dürfe. Die Encylopédie sollte selbst das Siegel darauf sein. Aber schon im Verlauf der Redaktion zeigt sich eine hermeneutische Halbwertszeit der Einträge in der Art, daß mit dem Ende der Redaktion bereits das Bedürfnis nach Verbesserung und Neuauflage dringlich wird. Das Wissen, einmal von seinen metaphysischen Fesseln gelöst, entfaltet jene Dynamik der Selbstüberbietung, die wir heute alle als Selbstverständlichkeit verstehen, wenn mit jeder Lieferung eines neuen Brockhaus oder einer Enzyklopédia britannica zugleich zur Subscription der Nachfolgebände aufgefordert wird. Die Vorstellung von der Perfektion ist noch die alte, metaphysische, auf dem Wege der neuzeitlichen Erfüllung hat aber eine Drift eingesetzt, in der nur in der ständigen Verschiebung dieses Zieles in die Zukunft selbst noch das ursprüngliche Anliegen der Vollendung wiederzuerkennen ist. Rousseau ersetzt entsprechend die Zielvorstellung der ›Perfektion‹ durch jene der »Perfektibilität«39. Die kleine Akzentverschiebung ist für Rousseau folgenreich, weil mit dem Aufschub der Vollendung, ist er einmal alltäglich geworden, im Laufe der Zeit unweigerlich das eigentliche Ende vollkommen aus dem Blick gerät, und die ständige Annäherung ans Ziel sich als eine bloße Restrhetorik zur weitergehenden Motivation erweist. In Wahrheit meint ›Perfektibilität‹ nur schleichender Zielverlust bei immer weiter gesteigerter Anstrengung. Und das gilt dann für alles, was an aufklärerischen Hoffnungen auf ein menschenwürdiges Dasein damit verbunden ist. Der ganze Fortschritt ist für Rousseau zuletzt eine Bewegung in die Irre, oder wie der Moralist erkennt: wer Fortschritt sagt, schaut immer schon in die falsche Richtung. Der ›Naturzustand‹ des Menschen ist naturgemäß die zugehörige Warte, von der aus jene Einsicht überhaupt noch formuliert werden kann. Es ist ein anthropologischer Ausgriff in eine Urzeit der Menschengeschichte, der grundsätzlich nur soviel bedeuten soll, daß moderne Zivilisation und Fortschritt noch nicht eingesetzt haben. Der Rest ist Staffage, die Rousseau aus einem 38 | J. le Rond D’Alembert, Discours préliminaire, in: ders./D. Diderot
(Hg.), Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, neu herausgegeben von A. Pons, Flammarion, Paris 1986, S. 110. 39 | Rousseau, a.a.O., S. 162.
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Verbund von barocker Bukolik und der Fernstensehnsucht der Südseeromantik einigermaßen synthetisch zusammensetzt. Die Folgeerzählung vom ›goldenen Zeitalter‹, von den Siegen Spartas über die Athener und dem Lob der späteren Barbaren ist der Versuch, nach Montesquieus historistischen Niedergangsstudien noch emphatischen Anschluß an die alten Geschichtsmythen zu finden. Und dies zuletzt, wie bemerkt, nicht ohne zu verbergen, daß es sich hier zwangsläufig um die eklektischen Ausführungen eines nur an sich rein gebliebenen Herzens handeln muß. Rousseau konnte schon, wie später auf seine Weise Wittgenstein, stolz darauf sein, sich seine Kulturkenntnisse im Selbststudium vermittelt und dabei auch auf einiges wohlwollend und für immer verzichtet zu haben. Nicht umsonst endet der erste Discours mit dem Bekenntnis: »O Tugend, erhabene Wissenschaft der schlichten Seelen«, heißt es in dem berühmten Hymnus auf die ›vertu‹ im ersten Discours: »Bedarf es wohl solch großer Mühen […] dich zu erkennen? […] Genügt es nicht, in sich zu gehen und die Stimme des Gewissens […] wahrzunehmen […] dich zu erkennen?«40 Daß es bei soviel Bekenntnis zur eigenen Lage doch nicht zur letzten Einsicht in die ›Faktizität‹ des Daseins des Moralisten kommen soll, hat auch hier noch den tieferen Grund, daß nichts anderes als eine unmittelbare Wiederherstellung der alten Verhältnisse als möglicher Ausweg akzeptiert wird. Rousseau wirbt dafür mit der Intuition der spontanen Herzensregungen, die man wie den plötzlichen ›Gewissensbiß‹ weder herbeireden noch -argumentieren kann. Im Gegenteil scheinen sie eine unbewußte Resistenz selbst gegen den zwanglosen Zwang des besseren Arguments anzuzeigen. Die psychoanalytisch inspirierte Postmoderne hat auch hier inzwischen überzeugend widersprochen. Auch der unverschleierte Auftritt des Moralisten ist wieder nur eine verbale Maske, hinter der sich eine ödipale Unfähigkeit verbirgt, auf die Welt, wie sie ist, zuzugehen. Jean Starobinski 41 hat dies auf die schlagende Formel gebracht La transparence et l’obstacle, nach der dem Moralisten die Welt, in seinem
40 | J.-J. Rousseau, Discours qui a remporté le prix à l’Académie de Dijon. En l’année 1750. Sur cette Question proposée par la même Académie: Si le rétablissement des Sciences et des Arts a contribué à épurer les mœurs, in: ders, Œuvres complètes, a.a.O., Bd. III, S. 30. 41 | J. Starobinski, Jean-Jacques Rousseau: La transparence et l’obstacle, Paris 1958; deutsch: Jean-Jacques Rousseau. Eine Welt von Widerständen, Frankfurt a.M. 1988.
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Bestehen auf vollkommener Durchsichtigkeit, schließlich nur noch als Hindernis und Widerstand begegnet. Letzte Station in der Dynamik von Einsicht und Verdrängung ist Tolstoi. Das Steigerungsgeschehen bringt der bedrängten ›Seele‹ noch mehr an Distanz, zugleich aber auch die Möglichkeit zu noch weitergehender Immunisierung. Die gesellschaftlichen Rückzugsräume werden dazu um die Dimension des Spirituellen erweitert. Nach dem Bestehen auf Höflichkeit, Aufrichtigkeit und Natürlichkeit wird zuletzt die Frömmigkeit zur schwer erreichbaren Enklave. Die alte Tugend kehrt damit zumindest scheinbar in das Stammland des Glaubens zurück. Der philologische Faden knüpft bei der Bekenntnisliteratur an, deren vorläufi ge Säkularisierung bei Rousseau mit Tolstoi neu religiös konnotiert wird. Wittgenstein wird sich in vielfacher Hinsicht als Erbe verstehen, in Wort und Tat, Brief und Traktat. Tolstois Bekenntnisse, tituliert als Meine Beichte, sind für Wittgenstein die Quelle. Sie sind das Ergebnis einer moralistischen Exzentrik, die aus der Mitte der europäischen Aufklärung heraus von neuem an deren äußersten Rand drängt. Vorausgegangen ist die Enttäuschung am Prozeß einer Verwestlichung, die mit Napoleons Krieg begann und für Tolstoi mit einem faulen Frieden endete. Der Sieg ist teuer erkauft, weil der scheinbar besiegte Gegner in seinem Fortschrittsgeiste zumindest jetzt vollkommen anwesend ist. Wie bei Dostojevski auch, erscheint der importierte Rationalismus als eine Art teufl ische Verführung im Großen, wie sie im kleinen immer wieder als ein mythischer Zusammenhang von Schuld und Sühne nacherzählt werden muß. Fast der ganze späte Tolstoi schreibt nur noch Varianten zu diesem Thema. Aus den Bestandteilen einer gläubigen Landkultur, aus dem, was er eine intakte Volksreligion wähnt, versucht er, wie seine Vorgänger auch, das fragmentierte Bild des sittlich Unberührten und Einwandfreien wiederherzustellen. Die religiöse Tendenz wird dabei um so stärker, je auswegloser die historischen Alternativen scheinen. Jene Tendenz war freilich seit den Anfängen der Moralistik immer da. Die moderne Weltflucht hatte immer etwas Klösterliches im Erbe. Montaigne in seinem Schloßturm, Pascal und der Port Royal, Rousseau und sein Savoyischer Vikar. Tolstoi will als der Weise von Jasnaia Poljana, der ›Lichten Wiese‹ vor Toren der Metropole, allerdings das Anti-Urbane schlechthin. Lichtung meint hier nicht nur einen Freiraum von Verwestlichung und Zivilisation, sondern auch den Vorzugsort einer möglichen Erleuchtung. Der landläufige Glaube, wie ihn Tolstoi hier festschreiben will, ist
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aber selbst nicht die sprichwörtlich feste Burg, sondern vor allem ein Produkt höchst eigenwilliger Erzähl-Literatur. Er knüpft nach außen hin zwar an die Traditionalisten unter den Glaubenserneuerern an, die den ursprünglichen Geist vor dem orthodoxen Buchstaben retten wollen. Innerlich erscheint er aber in einer ganz anderen Linie, nämlich jener der Modernen, die nicht nur Reinigung, sondern eine aufgeklärte ›Verbesserung‹ der guten Nachricht wollen. Thomas Jeffersons Bibelkürzung, The Jefferson Bible, und Nietzsches Zarathustra als 5. Evangelium 42 stehen der Schreibart nach näher. Es wird nur beibehalten, was noch irgendwie im Horizont einer Befindlichkeit liegt, die den Direktkontakt zu Gott verloren hat und sich deshalb ermächtigt fühlt zur selbstbewußten Kürzung und anschließenden Assemblage der Offenbarungsreste. Für Wittgenstein wird vor allem Tolstois Evangelium in Kürze, ein verlegerischer Auszug aus den Tolstoischen Bibelauszügen, wichtig werden. Es handelt sich um ein »merkwürdiges Konglomerat aus allen vier Evangelien, gegliedert nach den Textzeilen des ›Vater unser‹«43. Wittgenstein hat das Buch eher zufällig während des ersten Weltkrieges in Tarnow nahe der Front in Olmütz erstanden 44, und wie er selbst sagt, als eine Art »Talisman«45 den ganzen Krieg hindurch am Herzen getragen. Es ist in gewissem Sinne ein moralischer Prototraktatus, der es ihm offenbar erlaubt, immer noch ganz bei sich zu sein, auch wenn die Welt um ihn herum in Stücke bricht. Es ist jener moralische Ausschnitt Welt, der verheißt, »es kann dir nix gschehn!«, unter allen denkbaren Umständen. Dort bleibt alles Geschehen durchsichtig bis auf einen letzten Grund, der mit Tolstoi nur noch in der existenziellen Verknappung und radikalen Einfachheit aller alltäglichen Weltbezüge liegen kann. Dann kann man mit Wittgenstein soweit gehen, zu sagen: »Die Welt ist mir gegeben, d.h. mein Wille tritt an die Welt ganz von außen als etwas Fertiges heran« (TB8.7.1916), und dabei nur Tolstoi paraphrasieren, wenn er meint: »Er (Gott) ist der Anfang meines geistigen Ichs. Die äußere Welt aber bildet nur meine Grenzen« 46. Es 42 | Vgl. P. Sloterdijk, Über die Verbesserung der guten Nachricht: Nietzsches
fünftes »Evangelium« ; Rede zum 100. Todestag von Friedrich Nietzsche, gehalten in Weimar am 25. August 2000, Frankfurt a.M. 2001. 43 | Macho, a.a.O., S. 20f. 44 | Vgl. Br. McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, a.a.O., S. 344. 45 | L. Wittgenstein, Geheime Tagebücher 1914-1916, hg. v. W. Baum, Wien 1991 (im folgenden im fortlaufenden Text abgekürzt mit GT und der Seitenzahl der angegebenen Ausgabe), S. 28. 46 | L. Tolstoi, Wahrheit will gefunden werden. Aufzeichnungen eines Gottsu-
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folgt dann (im besten Falle) eine Identifikation von Ich und Gott im Sinne einer Willensübertragung und vollkommenen Entpersonalisierung. Die alte platonisch-neuplatonische Tradition der Teilhabe an einer Weltseele lebt wieder auf. Und die Abstraktion des »Idealismus«, die mit Lukács von der zu schmalen Seele gewünscht wird, ist dann spätestens perfekt. Das Ich ist in einer Transzendenz angekommen, die selbst noch die Zeitlichkeit seiner Existenz abstreiten kann. »Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann kann man sagen, daß der ewig lebt, der in der Gegenwart lebt« (TB6.7.16 [4])«. An diesem Punkt ist dann auch die Immunisierung des Moralisten gegen die bloße Möglichkeit der Einsicht in die eigene Verstellung soweit vorangeschritten, daß im Grunde nur eine ›Dekodierung‹ von außen über das Selbstmißverständnis belehren könnte. Eigentlich kann nur noch Gott selbst darüber Aufklärung bringen. Anders als bei Tolstoi ist im Falle Wittgensteins diese Möglichkeit immerhin noch grundsätzlich offen. Denn Wittgenstein wartet erst noch auf ein Zeichen, daß das Manöver einer letzten Weltentfernung auch wirklich gelungen ist. Er klopft sozusagen mit seinem Tractatus in der Hand – wie einst Rousseau mit seinen Confessions – erst an die Tür einer Warte, von der aus sich die »Welt sub specie aeterni … als – begrenztes – Ganzes« (TLP6.45) tatsächlich offenbart. Die Enttäuschung kann also noch kommen, und wenn sie kommt, dann ist Gott einfach das Schicksal, das es anders mit ihm meinte. »Ich bin ganz im Dunkeln darüber« schreibt er in sein Tagebuch im Kriegswinter 1915/16, »wie meine Arbeit weitergehen wird. Nur durch ein Wunder kann sie gelingen. Nur, indem VON AUSSERHALB MIR der Schleier von meinen Augen genommen wird. Ich muß mich ganz in mein Schicksal ergeben« (GT53). Nicht nur wird sich Wittgensteins Sehnsucht nach einer theonomen Erfahrung nicht erfüllen, wie sie der ›Kairos-Zirkel‹ um Paul Tillich Ende der 20er Jahre als ereignishafte Erleuchtung und Erlösung von der sozialen Frage stilisieren wird – trotz oder gerade wegen der durchlebten mystischen Augenblicke, die er im Vortrag über Ethik beschreibt. Der »Schleier«, den das »Schicksal« von seinen Augen nehmen wird, wird vielmehr, wie es die Spätphilosophie will, in der Depotenzierung aller Idealismen selbst zu sehen sein, in der ersatzlosen Rücknahme aller Abstraktion, die die Philosophie vom Leben scheinbar fordert. Schicksal ist dann die katastrophale Wendung, die auch nicht mehr nur den Moralisten widerlegt, sondern mit einem Mal gleich seine ganze Moralistik. chers, Zürich, Düsseldorf 1998, S. 81.
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Moralistik als der Ver such, das Wunderbare selbst ver ständlich zu machen
Vor diesem letzten Schritt bleibt eine zweite Strategielinie nachzutragen, die Wittgenstein in seiner Rolle als Moralisten mindestens ebenso berührt. In der Diskussion hat diese Verlängerung zuletzt Wellen geschlagen, insofern sie Wittgenstein mit Traditionen in Zusammenhang bringt, die man mit einem gewissen Recht als prekär, wenn nicht zuletzt auch als ›gefährlich‹ im Sinne politischer Korrektheit beschreiben kann. Prekär, schaut man auf die Möglichkeit, sittliche Konsequenzen aus einer Tugendlehre zu ziehen, die, wie es der mit Wittgenstein befreundete Architekt Paul Engelmann beschreibt, etwas mit »ethischem Totalitarismus in allen Fragen des Lebens« zu tun haben, mit »dem »unbeirrte(n) schmerzhafte(n) Reinhalten der kompromißlosen ethischen Forderungen«47. Suspekt, wenn man, wie es der australische Philosoph Kimberley Cornish in gewollt anstößigen Thesen formuliert hat, solchen ›Totalitarismus‹ (dem Typus nach wenigstens) in die Nähe der großen politischen Kollektiv-Projektionen der Zwischenkriegszeit bringen will. Der mögliche Umschlag von einer Licht- zu einer Schattenseite der Moralistik ist systematisch dort zu suchen, wo der philosophische Aufstieg in eine kristalline Lichtsphäre von Logik und Ethik nicht wirklich überzeugt und die Einlassungen des Moralisten auf die Welt, wie sie ist, nicht mehr zwanglos erscheinen können. Die philosophische Artistik zielt dann ganz offenbar nicht mehr wirklich darauf, einen höheren Betrachterstandpunkt einzunehmen, sondern nur noch darauf, das Gegebene auf eine logische Linie zu bringen. Daß sich die Welt gegenüber der Botschaft unmusikalisch zeigt, wird nicht als Belehrung akzeptiert, sondern nur als Kränkung hingenommen – die ihrerseits als Belehrung der Welt wieder zurückgegeben werden muß. Ein echter Moralist weigert sich auch im Versagensfall, seine Welt zu verlassen und rettet sich in die Versteifung auf seine Prinzipien. Er tut jetzt erst recht, was er tun würde, wäre die ganze Welt schon so, wie sie im Idealfall seiner Projektion erst wieder sein müßte. Die zu ›schmale Seele‹ für die Welt weitet sich nicht, sondern zieht sich nur noch weiter zusammen und wird dabei im schlimmsten Falle fassungslos. Um so schlimmer für die Welt, wenn 47 | P. Engelmann, Ludwig Wittgenstein. Briefe und Begegnungen, Wien, München 1970, S. 88.
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sie jene Depression nicht nachvollziehen kann. Moralistik bewegt sich jetzt an der Grenzlinie von prinzipienfestem Kreuzzug und grandiosem Scheitern. Hier kommen vorhersehbar Konnotationen ins Spiel, die dem Klang der philosophischen Berufsbezeichnung etwas von einer Weltfremde im beschränkten Sinne einverleiben. Kampf gegen Windmühlen
Jene Verbindung von ›Illusionsromantik‹ und einer Neigung zum ›Prinzipienterror‹ findet sich auch wiederum bereits im Gründungsdokument der Gattung beim Don Quixote so eingängig dargestellt, daß es für alles weitere zum Sprichwort werden kann. Wer immer von einem ›Kampf gegen Windmühlen‹ in passender Weise redet, hat im Grunde schon die tiefere Logik jenes Zusammenhangs verstanden. Wenn der Moralist einmal zu Felde zieht, sind dies nicht wirklich Aktionen, die einfach nur in einer phantastischen Parallelwelt spielen, es ist vielmehr eine Bestrafung der Wirklichkeit dafür, daß sie nicht der Vorstellung entsprechen will und sich beständig weigert, in die Welt einer vergangenen Ritterlichkeit einzutreten. Die Windmühlen werden mit der Lanze traktiert, weil sie nicht die Riesen sind, für die alleine der Phantast einen Namen und eine Funktion in seinem Roman-Universum hat. Scheinbar werden sie verflucht, weil sie unritterliche Gegner sind, die mit unfairen Mitteln und dämonischen Kräften kämpfen, in Wahrheit aber doch nur deshalb, weil sie sich gerade nicht provozieren und verzaubern lassen. Don Quixote greift sie an, weil sie als die angesprochenen Riesen nicht antworten wollen. Und auch in der anderen Eingangsszene, in der Don Quixote im Vorbeiziehen einer Schafherde eine feindliche Invasion vermutet, müssen die Tiere nicht sterben, weil sie in der zahlenmäßigen Übermacht sind und die Macht des Ritters unterschätzen, sondern weil sie sich nicht aus der perfiden Verstellung ihres wahren Wesens locken lassen. Letztenendes werden sie alle zu Opfern einer ›ontologischen Differenz‹, die sie nicht verstehen wollen 48. 48 | Don Quixote ist in der Literatur allerdings nicht der erste, der meint, gegen treulos gewordene Helden zu wüten, und dabei ein Blutbad in einer Schafherde anrichtet. Homer läßt in seiner Ilias den kräftigsten der griechischen Helden, Ajax, auf gleiche Weise um sich schlagen, als diesem das Erbe der Waffen des toten Achilles vorenthalten und Odysseus zugesprochen wird. Wie bodenlos schon dieser Zorn ist, hat gerade eben André Glucksmann wieder neu betont in der vergleichbaren Absicht, eine ›Ausweitung der Kampfzone‹ vom
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Freilich ist dies ideengeschichtlich gedacht schon nur noch das phantastische Satyrspiel zu der ebenfalls sprichwörtlichen Moraltragödie des Michael Kohlhaas. Nicht umsonst hat Kleist die Erzählung in die Mitte des 16. Jahrhunderts zurückdatiert und im Zusammenhang moderner Glaubenskriege präsentiert. Das Romaneske der Moralistik ist sozusagen in das Reformatorische zurückübersetzt. Kohlhaas ist der »Sohn eines Schulmeisters«, »einer der rechtschaffensten und zugleich entsetzlichsten Menschen seiner Zeit« 49. Der Umschlag von sittlicher Rechtschaffenheit zum moralischem Fundamentalismus ist so schon der Herkunft nach motiviert. Die tragische Geschichte von Michael Koolhaas ist nichts anderes als der Versuch einer Schulmeisterung der Welt. So wenig nämlich wie der Don Quixote wirklich einen bösen Ritter besiegen möchte, sondern nur die Verstellung der Welt, ihren Naturalismus und Mechanizismus, der aus Soldaten Schafe und aus Helden Windmühlen macht, so wenig geht es Michael Kohlhaas in seinem Feldzug zuletzt um den Sieg in seiner konkreten Rechtsangelegenheit. Der zu Tode geschundene Gaul, den Kohlhaas in fremdes Gewahrsam gegeben hat, ist nur trauriges Sinnbild für das zu Tode geschundene Recht, das Kohlhaas so aus der fremden Hand der Gerichtsbarkeit zurückerhält. Prozeß, Verfahren und Fehlurteil stehen zwischen berechtigtem Anspruch und Wirklichkeit. Die Sache mit dem Pferd scheint eben deshalb nicht wieder gutzumachen, weil zugleich eine ganze Welt abhanden gekommen ist. Eine Welt, in der ein gegebenes Wort noch unverbrüchlich gilt und seine Verletzung eine logische Konsequenz hat. Die grundlegende Entsprechung von Norm und Wirklichkeit scheint nicht mehr unproblematisch. So wie es sich darstellt, hat in der modernen Welt des Rechts vielmehr die Rechtssphäre als Ganzes damit begonnen, sich von dieser Wirklichkeit zu lösen und zu verselbständigen. Die Willkür, die Kohlhaas erleidet, macht das Setzen und Umsetzen von Rechtsmaßstäben zu einer so interessierten wie autonomen Angelegenheit, die ihre verborgenen Gründe nur noch in sich selbst findet. Dahinter steht natürlich Kleists Kant-Krise, die sich Ontischen ins Ontologische nahezulegen. Der Haß erscheint bei Glucksmann wie eine gnostische Gegenmacht und »elementare Gewalt« im neuzeitlichen Kosmos einer sublimierten Verständigungskultur. Und natürlich erscheint er mehr als wesensverwandt mit dem aktuellen Phänomen des Terrorismus. Vgl. A. Glucksmann, Haß. Die Rückkehr einer elementaren Gewalt, München, Wien 2005, S. 46. 49 | H.v. Kleist, Michael Kohlhaas, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. H. Sembdner, Darmstadt 1983, Bd. II, S. 9.
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dem abgründigen Gedanken stellt, daß uns die ›Dinge an sich‹ vollkommen unverständlich bleiben und wir nur mit Schemen der Wirklichkeit umgehen, die wir zudem noch selber zuvor konditionieren. Entsprechend versteht sich die extreme Gewalt in der Erzählung ein Stück weit auch ontologisch. Die Dinge, wie sie in Wahrheit sind, müßten aus ihrer Entfernung und Entfremdung geradezu zurückgezwungen werden in den Kreis einer unmittelbaren Verständlichkeit. Man müßte sie notfalls mit Gewalt dazu bringen, daß sie sich uns zu erkennen geben. Kohlhaas denkt so, daß er meint, im Grunde wüßten wir noch genau, was zuletzt recht und gerecht ist. Wir fühlten es, auch wenn wir es nicht mehr vor Gericht richtig aussprechen könnten, weil sich schon wieder zu viele Fremdurteile und Abhängigkeiten mit hineinmischen. Wenn er aber alles niederbrennen würde, was die Wahrheit so verstellt, Gerichte und Politik und Anwaltswesen sowie alles was sie stützt, Städte, ganze Reiche, notfalls die ganze Welt, dann, so meint er, wüßten wir auch wieder zu sagen, was sachlich richtig ist, und wem es angemessen ist, und wie es gültig und gerecht bewertet werden muß. Die traurige Ironie aus der Sicht des Erzählers ist es, daß Kohlhaas sich täuscht. Zwar würde man ihm schon bald zugeben, was er rechtmäßig fordert, aber eben nicht aus gesundem Rechtsempfinden, sondern aus bloßem Kalkül, daß es sonst noch schlimmer kommt. So bleibt das Resümee gleich zu Anfang: »Die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift wäre. Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder«. Kleist Erzählung ist ein offener Anachronismus. Es ist eine Art germanistische Verarbeitung der Französischen Revolution und dem, was Hegel in der Phänomenologie des Geistes den ›Terror der Vernunft‹ genannt hat. Rousseaus Diktum klingt nach, daß man schließlich auch zur Freiheit zwingen kann50. 50 | Kimberley Cornish meint, mit seiner ›Gefahrenanalyse‹ im Fall Wittgenstein noch auf jener politischen Linie fortfahren zu können bis in die Hochzeit des Nationalsozialismus und des Kommunismus. Zwei wesentliche Voraussetzungen sind dazu nötig: einmal unterstellt die schwächere These, daß Wittgensteins apolitisches Philosophieren eine offene Flanke für Ideologien bietet, insofern sie nicht zwingend ausgeschlossen werden. Habermas hatte in seiner ersten Rezeption der Wittgensteinrenaissance der 60er Jahre noch so gewertet. Die stärkere These, die Cornish vor allem verfolgt, will aus demselben Sachverhalt auf eine Hyperpolitisierung schließen. Das Hinausgehen des Ich aus seiner subjektiven, weltlichen Sphäre, und das Eingehen in einen unbedingten
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Kleist rechnet wie Kant und später Heine nicht mehr damit, daß die Geschichte einer solchen Moralisierung der Politik nachhaltig günstig sein könnte. Ressentiment und Revolution werden künftig zur Privatsache, und stilbildend ist jetzt nicht mehr das ontologische Prinzip der Weltfremde, sondern das numerische Prinzip ›einer gegen alle‹. Das Abgründige des Genres verliert sich in der Populärliteratur des 19. JahrhunGeltungsbereich soll eine ideologischer Anfälligkeit mit sich bringen. Cornish argumentiert dabei mit Peter Strawsons »Theorie des Nicht-Besitzes des Geistes« (Cornish, a.a.O., S. 162). Nicht-Besitz des Geistes bedeutet, daß das Ich in einer übersubjektiven Instanz aufgehen soll. Jene Instanz sei in ihrem Wesen in jedem Fall illiberal und mit einem Kollektivismus gleichzusetzen. Bei Wittgenstein habe dies in der idealistischen Variante zu einem »geistigen Sozialismus« geführt, bei Hitler in einer rassistischen Version zum Nationalsozialismus. Die philosophische Zumutung besteht dann darin, daß es sich in beiden Fällen um Formen des Antipragmatismus handelt, die aus einer gemeinsamen intellektuellen Quelle stammen. Freilich ist gerade der entscheidende Schritt dieser Deutung von der Annahme einer transzendenten Sphäre zum Schluß auf liberale Defizite mehr als problematisch. Nichts weist darauf hin, daß Wittgensteins Anspielung auf eine Weltseele, wie Cornish behauptet, etwas mit einem kollektiven Gedächtnis zu tun haben muß. Das frühe Bestehen auf logischer Klarheit und Durchsichtigkeit will sich weit eher von allem irdischen Ballast entfernt wissen. Der späte Verweis auf einen fatalen Selbstlauf der Sprachspielgenese im Speziellen wie auch der Lebensformen im Allgemeinen umgeht die politische Option offensichtlich durch konsequente Naturalisierung. Beide Ausformulierungen lassen gerade keinen Schluß darauf zu, daß irgendeine kollektive Verbindlichkeit entsteht, die sich ideologisch präzisieren ließe. Wenn es denn eine Lektion gibt, die aus den Provokationen von Cornish zu gewinnen ist, dann müßte sie weit eher in der Benennung der generellen Gefahr liegen, die sich aus dem ›abstrakten Idealismus‹ der Position ergeben kann. Es ist eher, wie eingangs mit der Positionierung des ganzen Problems im Rahmen einer Modernediskussion angedeutet werden sollte, die Frage, ob nicht die spätromantische Sehnsucht nach einer intakten Metaphysik Haltungen begünstigt, die, vorsichtig formuliert, die Aufmerksamkeit auf die sich beschleunigenden Verhältnisse einer Welt im Wandel schwächt und damit zumindest nichts aktiv beitragen will zu historisch wirksamen und angemessenen Lösungen – wenn man einmal das Politische als Maßstab der Bewertung annimmt. Der Moralist Wittgenstein jedenfalls ist ein philosophischer Einzelkämpfer und hat mit den Visionen kollektiven politischen Engagements nur erzwungenermaßen etwas zu tun. K. Cornish, Der Jude aus Linz: Hitler und Wittgenstein, Berlin 1998.
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derts. Es geht nicht mehr um bodenlosen Wirklichkeitsverlust, sondern nur um den himmelstürzenden Austrag einer Privatfehde. Alexandre Dumas’ Graf von Monte Christo hält gerade noch die Balance zwischen Gottesauftrag und Privatfeldzug, was ihn auch so nachhaltig schillernd macht. Das 20. Jahrhundert kennt das Thema solcher Selbstjustiz dann vor allem unter Filmtiteln wie Ein Mann sieht rot. Es geht dann nicht mehr um Metaphysik, sondern um die »große Szene«51. Es ist keine Frage nach letzten Maßstäben mehr, sondern nur noch, ob die gerade bestehende Ordnung emotional wirksam und nachvollziehbar übertreten werden kann. Der populäre Rächer ist ein Held, der im Grunde nur will, was ihm schon nach gewöhnlicher Rechtsmeinung und Rechtsusus zusteht. Applaus bekommt er meist, wenn er in der Lage ist, ein langwieriges Verfahren abzukürzen, dessen tatsächlicher Ausgang ungewiß wäre. Schillers Räuber folgen auf dem Theater dieser Logik wie noch Ben Hur und John Rambo auf der Leinwand52. Eine Neigung zum Problematisieren findet sich neuerdings eher wieder auf ›ontischer‹, nicht ›ontologischer‹ Ebene, das heißt dort, wo nicht die Ordnung selbst in Frage steht, sondern ›nur‹ ein Normkonflikt innerhalb der Sphäre von Recht und Moral aufbricht. Jack Bauers Grenzheldentum in 24 Stunden zeugt davon. Die Frage ist dann eine alte, moralphilosophische, in der es um die Erlaubnis unerlaubter Mittel zum Erreichen eines guten Zweckes geht, dort, wo der ›gute Zweck‹ scheinbar unwiderstehlich ist. Darf man foltern, wenn es um den Fortbestand einer ganzen Nation, wenn nicht der Menschheit geht? Im Vergleich zu den Feldzügen der an der Welt verzweifelnden Moralisten sind dies allerdings, dem Genre nach, nur systeminterne Rechenspiele. Moralistik und Abrichtung
Wenn der ›Kampf gegen Windmühlen‹ die offensivste Variante einer Moralistik am Rande ihrer Möglichkeiten bedeutet, kann man als Ergänzung derselben Strategie den Ansatz des Moralisten bei einer Proto-Pädagogik werten. Die Zwangsoption einer robusten ›reeducation‹ der Welt fällt dann bereits weg und wird ersetzt durch die Vorstellung von einer Primärerziehung des Menschen zum Menschen, noch bevor er durch 51 | Vgl. J. Vogel, Die Furie und das Gesetz. Zur Dramaturgie der ›großen
Szene‹ in der Tragödie des 19. Jahrhunderts, Freiburg 2002. 52 | Vgl. zum Typus des modernen Rächers P. Sloterdijk, Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt a.M. 2006, S. 82ff.
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weitere Bildungsmaßnahmen irgend etwas anderes werden könnte, was man moralisch als bedenklich ansehen müßte. Der philosophische Eingriff erfolgt so nicht mehr ex post, sondern im A priori einer UrsprungsAnthropologie; nicht bei denen, die es ›besser‹ wissen müßten, sondern bei jenen, die noch gar nicht von möglicher Verstellung berührt wurden. Es handelt sich demnach um eine offensive Vermeidungsstrategie. Der Ausgangspunkt für eine solche Linie ist wiederum Rousseau, wo er nicht mehr im öffentlichen Raum philosophiert, sondern im Rückzug ins Private den Fortschritt sucht; also nicht im Contrat social, sondern im Émile. Das Erziehungskonzept besteht wesentlich darin, dem Kind einen ursprünglichen Begriff von Realität zu vermitteln, indem man pädagogisch einfach alles wegläßt, was den Zugang zu ihr verstellen oder behindern könnte. Das Kind soll sich auch im wörtlichen Sinne den Kopf an der Wirklichkeit stoßen können, so lange, bis es keinen Zweifel mehr geben kann, was schon natürlicher Weise recht und in Ordnung ist. Ewigkeitswerte vermitteln sich im Direktkontakt zu einer Notwendigkeit, die nicht verzeiht. Das zivilisatorische Ich wird gekränkt, bis sein natürlicher Narzißmus erwachsen geworden ist. Die Erziehung gelingt schließlich in dem Verlangen, immer ein großes Kind sein zu dürfen, solange man als ›enfant sauvage‹ zugleich Bürger einer rauheren, aber besseren Welt ist. Moralistik als negative Pädagogik, darauf kommt Wittgenstein über Tolstoi zurück. Sein Wörterbuch für Volksschulen ergänzt nicht ohne Pointe den Tractatus logico-philosophicus als einzige weitere Veröffentlichung zu Lebzeiten53. Das Lehrbuch lehrt im Grunde das, was bleibt, wenn die »Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst« sind, die Einsicht in die letzten, transzendenten Gründe von Wissen und Moral feststeht, aber »wenig damit getan ist, daß diese Probleme gelöst sind« (TLP Vorwort). Wittgenstein imitiert auf seine Weise Tolstois neues Alphabet, das der Dichter für die Bildung von Bauernkindern auf seinem Landgut Jasnaia Poljana geschrieben hatte. Tolstoi meint seinerseits Rousseau getreu wiederzugeben, den er allerdings noch mit Bildungsmotiven aus dem Deutschen Idealismus von Fröbel bis Diesterweg ergänzt. Auch spielen romantische Motive mit hinein, die im Kind das kommende Dichtergenie sehen, wie es in einem Brief an eine Verwandte in Moskau heißt (A.A. Tolstaja): »Ich will Bildung für das Volk einzig und allein, um die dort ertrinkenden Puschkins, … Lomonossows zu retten«. Die libertäre 53 | Vgl. zuletzt: M. Peters/J. Marshall (Hg.), Wittgenstein: Philosophy, postmodernism, pedagogy, Westport, Conn. (u.a.) 1999.
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Pädagogik, so zwangfrei sie erscheint, hat aber ihre grund-moralische Lektion darin, daß sie in ultimativer Nähe zu Natur und Freiheit zuletzt doch nur den Hang zur gebildeten Unaufrichtigkeit brechen will, bevor er sich stark macht. Das Gottgefällige, das Tolstoi dabei immer vor Augen hat, ist im Abarbeiten an den Härten des bäuerlichen Alltags schon enthalten. In Wittgensteins Bildungskonzeption erscheint der heilsame Erziehungs-Kulturbruch zuletzt als eine quasi-natürliche ›Abrichtung‹. Wenn Alphabet bei Wittgenstein das Erlernen von Sprachspielen bedeutet, findet sich noch am Anfang der PU ein Echo, wie radikal dies im Extrem gemeint sein kann: »Würfel«, »Säule«, »Platte«, »Balken« stehen als wortgewordene Imperative des »Bauenden A« an den »Gehilfen B«, den so benannten Gegenstand herbeizuschaffen: »Fasse dies als vollständig primitive Sprache auf«54. Die Abrichtung erscheint dabei als die naturale Voraussetzung für logisch korrektes Regelfolgen. Sie geht damit auch jeder Erklärung der Regel voraus55. Wo sich eine logische Form der Welt nicht mehr von selbst zeigt, muß sie eben solange nachvollzogen werden, bis sie sich wiederum ›intuitiv‹ wie von alleine dem erfolgreichen Regelfolger vor Augen stellt. Wo wir nicht platonisch uns einfach wiedererinnern können und unmittelbar teilhaben an den immerwährenden Wahrheiten, bleibt nur noch der beschwerliche Rückweg über das Ausschließen von Täuschung, Vertauschung und bloßem Irrtum. Oder wie George Steiner es mit Blick auf Wittgenstein zuletzt zum ›paradigmatischen‹ Typus der Lehre stilisiert hat: »Triftige Lehre macht anschaulich«56. Wer meint, Wittgenstein habe die Rede von Abrichtung im Volksschulunterricht nicht zuweilen auch ganz wörtlich verstanden, muß sich von den biographischen Zeugnissen, auch den autobiographischen Beichten Wittgensteins, belehren lassen. Der Volksschullehrer mußte auch schon 54 | L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, (dritte Auflage) Frankfurt a.M. 1982 (im folgenden wird wie üblich nach Paragraphen zitiert im Teil I, im Teil II mit Seitenangabe), § 2. 55 | Vgl. L. Wittgenstein, Zettel, in: ders., Über Gewißheit, a.a.O., (im folgenden mit dem Kürzel Z und der Numerierung in Paragraphen im fortlaufenden Text angegeben) hier: §419; vgl. auch PU§§5, 86, 157-158, 189, 198, 206, 441; sowie L. Wittgenstein, Über die Grundlagen der Mathematik, hg. v. G.E.M. Anscombe, R. Rhees, G.H. von Wright, Frankfurt a.M. 1984 (im folgenden zitiert mit dem Kürzel VGM und nachfolgender Seitenzahl), hier S. 67f, 224-229. 56 | G. Steiner, Der Meister und seine Schüler (original: Lessons of the Masters), München, Wien 2004, S. 12.
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mal bei Eltern vorsprechen und sich entschuldigen. Das Ende seiner außerakademischen Pädagogik in Trattenbach und Otterthal begleiten Gerüchte, der Lehrer habe sich in seinen Strafaktionen pedantisch bis exzentrisch verhalten57. Norman Malcolm berichtet in seinen Erinnerungen, Wittgenstein sei auch im Umgang mit Kollegen nicht immer frei gewesen von der Neigung, Nachlässigkeiten zu verfolgen und Unaufrichtigkeiten zu ahnden: »So eignete denn seiner Art zu debattieren oft der Tonfall von alttestamentarisch-prophetischem Grimm: plötzlich war er vom unwiderstehlichen Zwang besessen, intellektuelle Strafen auszuteilen. Dann begegnete er Mängeln philosophischen Urteilsvermögens, als wären es Versündigungen des Herzens, und wehrte mit eiferndem Zorn Meinungen ab, welche ›an sich‹ (hätte es diese Unterscheidung für ihn gegeben) harmlos genug, vielleicht sogar ›korrekt‹ waren; und wehrte sie ab, weil sie unwahr waren in der Person, die sie äußerte: sie ermangelten des Siegels der Not, erlitten im Dienst der Wahrheit«58. Einer aus dem Intellektuellenzirkel der (Cambridge-)Apostel, Richard Deacon, bemerkte einmal sarkastisch: »Wittgenstein zu oft zuzuhören war, als werde man ins Mittelalter zurückgezogen. Man fühlte fast, daß er Gottes Stellvertreter auf Erden gewesen war und daß er am Kreuz gehangen hatte, nicht Jesus Christus«59.
57 | Vgl. Die Schilderung des »Vorfalls Haidbauer« bei Monk: »Josef
Haidbauer war ein elfjähriger Schüler Wittgensteins, … . Haidbauer, blaß und kränklich, starb mit vierzehn Jahren an Leukämie. Er war nicht störrisch, beantwortete Fragen der Lehrer aber stets langsam und widerwillig. Eines Tages riß Wittgenstein der Geduldsfaden, und er schlug dem Jungen mehrmals auf den Kopf, worauf dieser zusammenbrach. Auf die Frage, ob Wittgenstein den Jungen übertrieben brutal geschlagen habe – ihn also mißhandelte –, antwortete dessen Klassenkamerad August Riegler mit eigenwilliger Logik: Davon, daß Wittgenstein den Buben mißhandelt hätte, kann keine Rede sein. Wenn Haidbauers Strafe eine Mißhandlung gewesen wäre, wären 80 Prozent von Wittgensteins Strafen Mißhandlungen gewesen«. Monk, a.a.O., S. 252. Wittgenstein selbst mag zwar die ›Übertreibungen‹ später bedauert haben, ohne ein gewisses ›Leiden‹ kann sich ein Moralist allerdings ›Erziehung‹ prinzipiell nicht vorstellen: »Eine Schule gilt heute für gut, ›if the children have a good time‹. Und das war früher nicht der Maßstab … Auf die Leidensfähigkeit gibt man nichts, denn Leiden soll es nicht geben, sie sind eigentlich veraltet« (VB550f). 58 | Heller, a.a.O., S. 238. 59 | K. Cornish, Der Jude aus Linz, Hitler und Wittgenstein, a.a.O., S. 116.
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Moralistik als Bekehrung
Gewalt nach außen, Gewalt nach innen: der Gedanke von der Zurichtung der Welt nach den Maßstäben der Moral geht weiter, auch dort, wo sich schon kein externes Ziel mehr findet. Die Literatur hat zu Demonstrationszwecken hier zuweilen sauber getrennt. Michael Kohlhaas muß bis zum bitteren Ende unberührt bleiben von Selbstzweifeln und Beichtnöten – soweit, daß es selbst dem in der Erzählung auftretenden Martin Luther unheimlich werden muß – und wo die Inquisition gegen sich selbst betrieben wird, ist es schon ein anderes Stück, ein anderes Genre, und heißt dann, wie man weiß, Der zerbrochene Krug. Umgekehrt steht Cervantes’ Don Quixote gegen Shakespeares Hamlet, und so weiter. Bei den Moralisten aus Fleisch und Blut sind die Zustände dagegen nie ganz ungemischt. Wie bei der Wendung nach außen sind auch bei der Wendung nach innen wieder zwei Strategien auseinanderzuhalten: die Umkehr durch Meditation letzter Maßstäbe, und Umkehr durch Abkehr von Weltzerstreuung. Das eine heißt ursprünglich Bekehrung, das andere Askese. Bekehrung ist wiederum nur ein anderes Wort für die platonische Vorstellung von dem plötzlichen Wiedererinnern von Wahrheiten, die immer schon da und gewußt waren und nur darauf warten, vor dem geistigen Auge wieder aufzuleuchten. Die christliche Wendung wird freilich moralisch wie existenziell verstärkt dadurch, daß es nicht um irgendeine Wahrheit geht, sondern um das Seelenheil schlechthin. Vorbild ist das evangelische Damaskuserlebnis, und es braucht Situationen, die dazu geeignet sind, die metaphysische Umkehr nach dessen Vorbild nachvollziehbar zu machen. Diese können sich prinzipiell durch glückliche Fügung oder aber wegen der Unerträglichkeit der Umstände nahelegen. Von Augustinus geht hier eine lange Linie der Säkularisierung und der Umwertung aus. Ohne Not bekommt der künftige Kirchenvater das Buch mit der Heilsbotschaft quasi noch von Gott selbst vor die Füße geworfen (tolle, lege); aus Ehrgeiz muß Petrarca dagegen schon den Mont Ventoux besteigen und Gott mit dem Buch in der Hand entgegenkommen; der von der feinen Gesellschaft verstoßene Rousseau erhält auf seinem Weg nach Vincennes die erlösende Botschaft immerhin noch aus dem Mercure de France; von Kierkegaard bis Camus ist dagegen klar, daß das Anschreiben gegen eine absurd gewordene Welt nur noch aus der eigenen Feder kommen kann. Die Mythenproduktion benennt nicht mehr den Ausweg, sondern nur noch die Absurdität der eigenen Lage: Abraham und Isaak, Le mythe de Sysiphe.
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Rechnet man den frühen Wittgenstein bereits zu den Existenzialisten, gibt es gute Gründe für die Vermutung, seine Kriegstagebücher aus dem ersten Weltkrieg seien auf dieser Linie ein letzter Umkehrversuch. Durch die Exposition des eigenen Ich in höllische Umstände sollen sich die letzten Maßstäbe noch einmal wie vom Himmel gesandt offenbaren. Das Ich würde sich plötzlich besinnen können auf das, was seine übermenschliche Gabe ausmacht, was es aus sich heraus eigentlich und in seinem tiefsten Grunde ist. Aus der Feuertaufe würde das Talent als Genie wieder herauskommen oder gar nicht. Es ist das Vorgehen des Michael Kohlhaas, nur nicht als Fremd-, sondern als reiner Selbstversuch. Blaise Pascal und seine »Feuernacht« am 23. November 1654 sind ein Vorbild60. Die Umstände sind nicht hervorgebracht, aber gewollt, insofern man sich ihnen nicht entzieht, sondern hoffnungsvoll aussetzt. Im Sinne eines solchen Exerzitiums läßt sich vielleicht auch besser verstehen, warum sich Wittgenstein knapp eine Woche nach Kriegsbeginn freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hat. Die ›übliche‹ Kriegs-Euphorie unter Intellektuellen hat er jedenfalls nicht geteilt, soweit es überliefert ist. Hermine Wittgenstein, die ältere Schwester, versichert: »Es war ihm, wie ich genau weiß, nicht nur darum zu tun, sein Vaterland zu verteidigen, sondern er hatte den intensiven Wunsch, etwas Schweres auf sich zu nehmen«61. Auch die Biographen folgen meist dieser Linie: »Ende März 1916 wurde Wittgenstein, wie seit langem gewünscht, in eine Kampfeinheit an der russischen Front versetzt. Er kam zu einem Artillerie-Regiment des 7. Österreichischen Armeekorps, das – nahe der rumänischen Grenze – am südlichsten Punkt der Ostfront stationiert war. In den wenigen Wochen bis zur Verlegung seines Regiments an die Front bereitete er sich geistig und seelisch auf den Tod vor. ›Gott erleuchte mich! Gott erleuchte mich! Gott erleuchte meine Seele‹, schrieb er am 29. März«62.
60 | Vgl. B. Pascal, Über die Religion und über einige andere Gegenstände. Übersetzt und herausgegeben von Ewald Wasmuth, Frankfurt a.M. 1987, S. 248. 61 | H. Wittgenstein, Mein Bruder Ludwig, in: R. Rhees (Hg.), Ludwig Wittgenstein: Portraits und Gespräche. Übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt a.M. 1987, S. 24. 62 | Monk, a.a.O., S. 155.
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Moralistik als Konfession
Systematisch ergänzend zur Meditation über letzte Maßstäbe – konzipiert als Ernstfall-Logik – tritt auch bei Wittgenstein die Konfession hinzu als Versuch einer einmaligen Reinigung von all dem, was jenen Ansprüchen nicht genügt – sozusagen als existenzielle Notoperation. Im einen Fall soll wie durch göttliches Röntgenlicht das logische und ethische Gerüst der Welt plötzlich durchscheinen, im anderen Fall geht es darum, möglichst radikal alles Menschliche wegzuschneiden, was sich nicht einer solchen Wertform mehr fügt. Auch hier geht es wie bei der Meditation im Genre der Bekenntnisse immer um ein pars-pro-toto-Verfahren. Schon bei Augustinus sind nur kleine Verfehlungen, was den weltlichen Wert betriff t, schwerwiegende Sünden, aber insofern sie das Seelenheil im Ganzen gefährden. Bei Augustinus ist es der Mundraub in Nachbars Obstgarten, bei Rousseau ist es der Diebstahl einer Haarschleife. Allerdings steht dahinter jeweils eine abgründige Unaufrichtigkeit, die als ein Ausscheren aus der Weltordnung im Ganzen verstanden wird. Augustinus stiehlt im jugendlichen Übermut mit seinen Freunden Pfirsiche, nicht um sie zu essen, sondern aus der schieren Willkür, um sie nur gleich wieder wegzuwerfen. Rousseau belügt die Jury, die den Diebstahl aufklären will und belastet hartnäckig ein unschuldiges Hausmädchen, und schwört dabei noch, die volle Wahrheit zu sprechen. In Verlängerung dieser Verfehlungslogik, die das Kleine groß und exemplarisch macht, operieren auch die Wittgensteinschen Geständnisse. Nüchtern beschreibt er jenen Zusammenhang einmal so: »Sich über sich selbst belügen, sich über die eigene Unechtheit belügen, muß einen schlimmen Einfluß auf den Stil haben; denn die Folge wird sein, daß man in ihm nichts Echtes von Falschem unterscheiden kann«63. Alles ist nichts, wenn schon eines nicht übereinstimmt mit dem, wie es in Wahrheit gemeint sein muß. Im Jahre 1936 unternimmt Wittgenstein einen letzten Großversuch, einmal im Leben zu einer absoluten Authentizität in diesem Sinne zurückzukommen. Ohne jenen Versuch wähnt er seine philosophischen Anstrengungen für sinn- und bedeutungslos. Er legt es als eine Sündenbeichte an, die er in Cambridge gleich vor mehreren Freunden konsekutiv ablegen will, darunter auch G.E. Moore. ›Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen vor Gott‹ ist auch hier wieder die passende moralistische Regel. Wie sich eine von Wittgenstein erwählte Beichtmutter erinnert, war es vor allem ein Vorfall in seiner Schullehrerzeit, der 63 | Portraits und Gespräche, a.a.O., S. 238.
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ihn nachhaltig belastet hat. Er berichtet, er habe ein Mädchen »heftig« geschlagen, als dieses zum Schulleiter lief und sich beschwerte, »bestritt Wittgenstein die Tat«64. Wenn es stimmt, was der zuvor zitierte Schüler von der Häufigkeit der Wittgensteinschen Zurechtweisungen sagt, kann es eben nicht die Tat alleine sein, die ihn reut, sondern vor allem die Verstellung vor der Welt65. Auf Dauer genützt hat es offenbar nichts. Das resignierte Resümee Wittgensteins: »Im vorigen Jahr habe ich mich mit Gottes Hilfe aufgerafft und ein Geständnis abgelegt. Das brachte mich in ein reines Fahrwasser, ein besseres Verhältnis zu den Menschen, und zu größerem Ernst. Nun aber ist alles gleichsam aufgezehrt und ich bin nicht weit von dort, wo ich war. Vor allem bin ich unendlich feige. Wenn ich nichts rechtes tue, so werde ich wieder ganz in das alte Fahrwasser hineintreiben«66. Moralistik und Suizid
Die Konfession als Notoperation hatte im Ursprung bei Wittgenstein auch existenzielle Ausmaße angenommen. »Daß das Leben problematisch ist, heißt, daß Dein Leben nicht in die Form des Lebens paßt« (VB 487). Lange Zeit hat Wittgenstein das so interpretiert, daß nicht Teile, sondern das ganze Leben der vorgesehenen Gedanken-Form nicht entspricht. Nicht Teilversagen, sondern Totalversagen. Es bleibt dann als Möglichkeit der Reinigung und Besserung nur die Ausscheidung des weltlichen Lebens als ganzem aus dem geistigen Leben, vulgo: der Suizid. Und unter allen Formen moralistischer Selbstverstümmelung ist dies vielleicht Wittgensteins nachhaltigste Versuchung gewesen. Die Herkunftslinie des Selbstmordgedankens, die hier paßt, beginnt zweifellos mit der Vorstellung vom Märtyrertum. Martyrium will eigentlich noch nicht mehr besagen, dem Namen nach, als daß ein Zeugnis (von ›martys‹: Zeuge; ›martyrion‹: Zeugnis) abgelegt wird: davon, daß man die Wahrheit und Wirklichkeit eines Glaubens oder einer Lehre höher als
64 | Ebd., S. 68. 65 | Allerdings hat Wittgenstein schließlich auch noch für diese Verfehlungen einen Dispens gesucht. »Im Jahr seiner Generalbeichte erstaunte Wittgenstein die Otterthaler, als er im Dorf erschien, um sich persönlich bei allen Kindern zu entschuldigen, die er gezüchtigt hatte. Er besuchte mindestens vier von ihnen und leistete Abbitte für sein Fehlverhalten« (Monk, a.a.O., S. 394). 66 | Portraits und Gespräche, a.a.O., S. 237.
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alles andere schätzt67. Das Zeugnis, das der Märtyrer ausstellt, besteht folglich darin, für das Festhalten an der Wahrheit am Ende einzustehen, mit dem eigenen Leben, gegen die ganze Welt. Die rein moralistischen Martyrien haben im alten Cato ihren Stammvater, und ihre Konjunktur reicht bis zu den Stoikern, wie Seneca sie stilisiert. Der Heroismus wird dabei sanfter, je weniger erstrebenswert die irdische Gegenwart an sich erscheint und je leichter dem Weltauswanderer der Übergang gemacht wird, um ganz auf die Seite der kosmischen Weltvernunft zu wechseln. Die christlichen Paradiesvorstellungen versprechen später wieder mehr, was erneut zur Dramatisierung beiträgt und die Gründe für die Entschlossenheit anschaulicher macht. Das moderne Martyrium des Moralisten erscheint dagegen unter anderen Vorzeichen. Würde man stilistisch argumentieren, würde man sagen, der Heiligenschein fällt weg. Sachlich ist es so, daß das, was zuvor als objektive Wahrheit (der Väter, eines Gottes und der Mythen um die Elysischen Felder und so weiter) mit dem Tode besiegelt wurde, jetzt zur subjektiven Errungenschaft wird, von der man meint, nicht mehr ohne einen unerträglichen Gesichtsverlust lassen zu können. Schon Kleists Michael Kohlhaas schließt so gesehen undramatisch im eminenten Sinne, weil der Held in den Tod geht, nicht mehr um einer höheren Überzeugung willen, sondern weil er nach allem, was war und was er billigend in Kauf genommen hat, schließlich nicht mehr anders kann. Er hat sich soweit verrannt, daß er, um überhaupt einen Schluß zu finden, jetzt auch noch den letzten Schritt gehen muß. Moderne Helden seit Shakespeares Hamlet ringen grundsätzlich mit der Verpflichtung ihres Autors, im vorhersehbaren Ausgang des Intellektuellen-Dramas den vorzeitigen Abgang durch die ›Tapetentür‹ im Stück glaubhaft zu verhindern. Verlängert man diese Form von Verhängnis als Verstrickung im eigenen Heroismus bis in die letzten Steigerungsformen der ausgehenden Dekadenz, kommt man bei Leben und Werk Otto Weiningers zum stehen. Weininger ist berühmt und berüchtigt zugleich geworden durch seine monumentale Studie Geschlecht und Charakter. Darin stilisiert er, Wittgenstein vorgreifend und inspirierend, das Wiener Wissenschaftsmilieu als Versuchung und Gefahr für die Integrität des Menschen schlechthin. Der Psychologismus zuletzt ist schuld daran, daß in der Erkenntnistheorie seit Ernst Mach und in der Ethik mit Sigmund Freud nichts mehr so sicher ist, wie es einmal war. Das Ich ist theoretisch ›unrettbar‹ geworden 67 | Zur Herkunft des Gedankens vgl. H. Rieke-Benninghaus, Zeugen für den Glauben; Dinklage, 2005.
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und praktisch nicht mehr ›Herr im eigenen Haus‹, es wird getrieben von Affekten und Erregungen, über die es keine ausreichende Kontrolle mehr hat und nicht mehr treibende Kraft, sondern selbst das Getriebene ist. Weininger stellt dagegen ein radikalisiertes Aufklärungsprogramm, das zuerst selbst naturalistisch, dann idealistisch vorgeht. Es soll zuletzt im Rückgriff auf Kant jenseits aller psycho-somatischen Anfechtungen noch Freiraum für eine vollkommen distanzierte Beurteilung geschaffen werden, konzipiert als ein Gerichtshof der Vernunft, vor dem dann mit einer letzten Konsequenz alle Erkenntnis-Neurosen und Zeitkrankheiten verhandelt und abgeurteilt werden. Allerdings steht als Instanz dahinter nicht mehr die Tradition der Aufklärung und der Vernunft als einer klugen Vertrauensmacht. Nur noch die originelle Intuition des genialen Individuums erscheint in der Lage, als eine übermenschliche Zweifelsinstanz den Anfechtungen der Dekadenz standzuhalten. Es ist schon die expressionistische Hoffnung damit verbunden, es ließe sich das Subjekt durch einen plötzlichen erlittenen Schock über seine hoffnungslose Lage dazu bewegen, eine letzte Sphäre absoluter Metaphysik auszubilden (à la Munch). Was in der plötzlichen Bedrängnis zum Vorschein kommt, müßte sich künstlerisch durchsichtig und philosophisch zu einem Gebilde reinster Maßstäbe machen lassen (à la Klimt). Als eine Projektion aus dem intuitiven Nichts heraus sind dann Kants kategorischer Imperativ und die reinen Denkgesetze im Grunde ihres physischen ›Unwesens‹ identisch: »Logik und Ethik aber sind im Grunde nur eines und dasselbe – Pflicht gegen sich selbst … Alle Ethik ist nur nach den Gesetzen der Logik möglich, alle Logik ist zugleich ein ethisches Gesetz«68. Logik und Ethik, wie Wittgenstein es im Tractatus wiederholen wird, sind metaphysisch eins (vgl. TB24.7.16). Weiningers Gerichtshof der Vernunft ist demnach in einem überwörtlichen Sinne schon zu einer ›Ein-Mann-Veranstaltung‹ geworden. Der ganze Prozeß muß höchst persönlich genommen werden, auf Seiten des Richters wie des Beschuldigten. Muster ist immer noch Kleists Zerbrochener Krug. Geschlecht und Charakter präzisiert nur die Rollenverteilung. Das Festhalten an den letzten Maßstäben wird zur Charakterfrage, alles, was das Individuum zur Dekadenz bewegt, zur Frage des Geschlechts. Weininger weiß wie Kleists Dorfrichter Adam schon im voraus, daß er in allen Punkten der Anklage sich selbst würde für schuldig befi nden müs68 | O. Weininger, Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, München 1997, S. 207. Zu den Einflüssen und Übernahmen vgl. zuletzt David D. Stern, Wittgenstein reads Weininger, Cambridge 2004.
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sen. Und wie schon im Zerbrochenen Krug – bei Kleist unschwer als Metapher für die zerstörte Jungfräulichkeit des Opfers zu verstehen –, wird es bei Weininger zuletzt eine Verhandlung über die sexuelle Veranlagung des ›Täters‹. Ohne auf die vielen bizarren Details einzugehen, die um eine Verdrängung seiner Homosexualität und um eine selbstquälerische Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Abstammung kreisen, kann man festhalten, daß die philosophische Komödie zuletzt zur menschlichen Tragödie wird. Der metaphysische Aufschwung zu einem absoluten Ich jenseits aller naturalen Anfechtungen scheint nur noch durch eine heroische Tat der Selbstnegierung zu einem Ende zu bringen zu sein. Wo das transzendentale Ich sich nicht lösen will, muß ihm das endliche Ich weggenommen werden. Die Auseinandersetzung von Geschlecht und Charakter endet entsprechend in einem hoch symbolischen Akt. Die »geistige steht mit der sinnlichen Welt im Wettkampfe«69, schreibt Weininger in der nachgelassenen Aufsatzsammlung Über die letzten Dinge, und ersterer gilt es, einen unmöglichen Sieg über letztere zu verschaffen. Auf seinem Grabstein steht geschrieben, vom Vater verfaßt: »Er suchte den Todesbezirk eines Allergrößten im Wiener Schwarzspanierhause und vernichtete dort seine Leiblichkeit«70. Weininger nimmt sich im Alter von 23 Jahren im Sterbehaus Beethovens das Leben, offenbar um das Genie in sich zum ewigen Leben zu verhelfen. Er schießt sich ins Herz, dem »Feind in der eigenen Brust«71, damit das Hirn überlebt 72. Der jun69 | O. Weininger, Über die letzten Dinge, München 1997, S. 92. 70 | J. Le Rider, Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und Antisemitismus, München 1985, S. 48. 71 | Ebd. 72 | Jean Améry hat sich Weiningers Hineinsteigern in eine ausweglose Dramatik einmal beispielhaft ausgemalt: »[…] man vergegenwärtige sich nun den 23jährigen Weininger, der vor sich hinstarrt und in dessen zum Tode erregten Hirn sich immer nur das Weib spiegelt, das er verachtet, ohne seines Begehrens nach ihm Meister werden zu können; der stets nur den Juden sieht, das schimpflichste, niedrigste aller Geschöpfe, den Juden, der er selber ist. Vielleicht war es ihm, als befände er sich in einem schmalen Raum, dessen Wände immer enger zusammenrücken. Dabei wurde sein Kopf größer, wie ein Ballon, den man auf bläst, und zugleich dünner. Der Kopf schlägt an alle vier einander unerbittlich sich nähernden Mauern. Jede Berührung schmerzt und hallt wieder, wie der Schlag auf eine Kesselpauke. Am Ende trommelt der nach allen Richtungen rennende Weininger-Schädel einen rasenden Wirbel – bis er zerspringt oder durch die Wand fährt, sagen jene, die außerhalb des
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ge Wittgenstein wird seine Schwester Hermine auf den evangelischen Friedhof von Matzleinsdorf zum Begräbnis Weiningers begleiten. Weininger ist kein Einzelfall. Wittgenstein wird drei Brüder durch Selbstmord verlieren. Hans (1877-1902), der älteste Bruder, floh vor den Karriereplänen des Vaters nach Nordamerika, um Künstler zu werden, und nahm sich dort unter ungeklärten Umständen das Leben. Angeblich soll er in der Chesapeake Bay (an der nordamerikanischen Atlantikküste) ins Wasser gesprungen sein73. Rudolf (1881-1904), der zweitälteste Bruder, trug scheinbar ähnlich wie Weininger einen Kampf zwischen der geistigen und der sinnlichen, homosexuellen Welt in seiner Brust aus und vergiftete sich in einer Berliner Bar mit Zyankali. Kurt Wittgenstein (1878-1918) entschloß sich zu der Tat zum Kriegsende, weil er als österreichischer Kavallerieoffizier nicht mit der Schmach leben wollte, in italienische Kriegsgefangenschaft zu kommen. Wie Bartley spekuliert 74, haben Wittgensteins Geschwister die Schenkung des Ludwigschen Vermögens nicht zuletzt deshalb bereitwillig und aus sachlichen Motiven hingenommen, weil sie offenbar ernsthaft damit rechneten, ihr jüngster Bruder trage Ähnliches im Sinn75. Raumes stehen und ihn beobachten […] Weininger wußte nichts von einem ›suizidären Verhalten‹. Er sah und hörte, […] mit aller Kraft eines sich zusammennehmenden Herzens, nur ohne Unterbrechung: Weib, Jude, Ich, weg mit allem« (J. Améry, Hand an sich legen – Diskurs über den Freitod, (7. Auflage), Stuttgart 1994). 73 | Vgl. Macho, a.a.O., S. 72f. 74 | W.W. Bartley, Wittgenstein. Ein Leben, a.a.O., S. 39. 75 | Im weiteren Umfeld erinnert man sich in Wien bis heute an den Suizid von Ludwig Boltzmann, bei dem Wittgenstein Physik studieren wollte, sowie dem von Eduard von Nüll, dem Erbauer der Wiener Hofoper. Beide gaben die Kritik an ihrer professionellen Leistung, den öffentlichen Zweifel an ihrem Genie als Grund an, sowohl für ihre Verzweiflung wie für den letzten Schritt aus ihr heraus. Weitere Casus sind Otto Mahler, der Bruder des Komponisten, der Maler Richard Gerstl, mit Arnold Schönberg befreundet, der sich nach einer Liebesaff äre mit dessen Frau das Leben nahm, zuletzt der eher bizarre Fall des Generals Baron Franz von Uchatius, der sich nach einem Fehlversuch mit einer von ihm konstruierten Feldhaubitze die Kehle durchschnitt, und nicht zuletzt war das Kaiserhaus von der Lebensmüdigkeit betroffen, als 1889 Kronprinz Rudolf zusammen mit seiner Geliebten, der Baronin Mary Vetsera, einen romantischen Liebestod starben (vgl. A. Janik/S. Toulmin, Wittgensteins Wien, Wien 1998, S. 77).
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Moralistik und Askese
Während Konfession und Selbstmordgedanken darauf spekulieren, unmittelbar in den Heiligenstand zurückversetzt zu werden, beruht die Askese auf der Vorstellung von einer langsamen und schrittweisen Wiederannäherung. Nicht plötzliche Offenbarung und unmittelbare Selbststeigerung, sondern das kontinuierliche Absterben störender Antriebe ist das Ziel. Solange Wittgenstein im Grunde seines Herzens die Hoff nung auf das ›exakte‹, vollkommene Leben nicht begraben hat, steht er formal zumindest noch in einer Reihe mit dem klassischen Asketentum. Askese kommt von griechisch ›askesis‹ und meint ursprünglich nur so viel wie Übung, Einübung. Die Athleten des Altertums waren die ersten Asketen, insofern sie für ihre Wettkämpfe trainierten, eine besondere Diät einhielten, und damit Verhaltensweisen an den Tag legten, die Enthaltsamkeit bei bestimmten Annehmlichkeiten bedeuten. Askese als ein Einhalten war damit gebunden an ein Sich-Verausgaben an anderer Stelle. Das Training ist nicht Selbstzweck, sondern Vorbereitung für eine besondere Beanspruchung, die bestanden sein will. Vom Körper schließlich auf die Seele übertragen handelt es sich um eine »Gymnastik des Willens«76. Bei den Stoikern erscheint die Askese schon nicht mehr auf eine bestimmte Beanspruchung hin ausgelegt, sondern als eine generelle Rücknahme der Aktivitäten mit dem Ziel, umso reibungsloser mit der kosmischen Weltvernunft in Denken und Handeln in Einklang zu kommen. Das meint ›naturae convenienter vivere‹77. Die christliche Askese schließlich verschiebt das anzustrebende Ideal vom Kosmischen ins Jenseitige. Was die Mönche des 3. nachchristlichen Jahrhunderts sich als Lebensregeln auferlegen, zielt bereits auf ein künftiges Leben, dem man sich jetzt schon so gut es geht anpaßt. Die Unterdrückung sinnlicher Lust und die Enthaltung von allen Sinneseindrücken wollen den Heiligen in spe dazu bringen, möglichst bruchlos den Übergang zu schaffen. Der Asket ist ein transzendentaler Mauerspringer, der darauf hoffen
76 | Fr. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. G. Colli und M. Montinari, München 1980, Band 12, S. 387. Der Übergang vom Körperlichen zum Geistigen läßt sich philologisch bei Platon nachweisen, Belege für die somatische Übung finden sich bei Xenophon und Epiktet. Vgl. W.M. Sprondel, »Askese«, in: J. Ritter u.a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel, Stuttgart, I, S. 538f). 77 | Cicero, De finibus bonorum et malorum, IV, 14.
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darf, ganz am Ende all seiner Übungen nicht mehr auf den irdischen Ausgangspunkt zurückgeworfen zu werden. Die moderne Wendung der Askese beginnt dort, wo wiederum das Ideal als solches nicht mehr greifbar und von sich aus gültig ist, von der Askese aber dennoch eine heilsame Wirkung erwartet wird. Nicht mehr eine bestimmte Lebensform steuert die Askese an, aus der Askese soll vielmehr erst die verlorene Lebensform wieder hervorgehen. Man beginnt so zu tun, wie man immer getan hat, wenn man meinte, etwas entbehrungsvoll Gutes zu tun, und erwartet dann, daß sich aus dem Vollzug eines solch planlosen Verzichts wie von alleine die Vorstellung ergibt, wofür man diesen Verzicht übt. Man beginnt erst einmal mit dem Weglassen und will hoffen, daß man später vollkommen versteht, warum jener Verzicht unverzichtbar war. Solcherlei Askese ist eine Art Heiligsein auf Probe, heilstechnisch gesprochen ein ›trial and error‹ in Sachen Gnadenwahl. Hat man das Richtige weggelassen und vor allem auch genug davon, würde die klassische Himmels- und Heilsmechanik von alleine wieder greifen und das irdische Leben mit einem Ideal synchronisieren, von dem man zuvor nicht mehr viel wußte, nicht nur worin es besteht, sondern auch, ob es dieses tatsächlich noch gibt. Es ist unschwer zu sehen, wie sich aus der Modernisierung des Askesegedankens eine fatale Steigerungslogik ergibt. Askese bedeutet zwar der Idee nach, aus dem Leben alle Drapierungen und Polsterungen wegzunehmen, solange, bis die ursprüngliche Form als solche wieder sichtbar wird. Tatsächlich aber ist auch diese Ursprungsform selbst wieder nichts mehr zeitlos Gegebenes und an sich Formfestes, sondern nur spektakuläre Staffage und modischer Exzeß. Rousseaus Ablegen aller Zivilisationskleider führt schließlich nur dazu, daß am Ende auch noch die Nacktheit selbst zum Kostüm des Asketen wird. Die später noch so gestimmten ›sans-culottes‹ erkennt Goethe luzide als den letzten Pariser Modeschrei. Auch Wittgenstein wird später selbstkritisch das Spektakuläre jener Entblößung registrieren: »Eine Seele die nackter als die andern vom Nichts durch die Welt zur Hölle geht, macht einen größeren Eindruck auf die Welt als die bekleideten bürgerlichen Seelen« 78. Anstatt eines objektiven Gegenhaltes zeigt sich immer nur von neuem die subjektive Gemachtheit. In der Logik der modernen Moral-Priester, wie Nietzsche sie nennen wird, liegt es aber, das Scheitern umzudeuten. Das 78 | Wittgenstein, Denkbewegungen. Tagebücher 1930-1932. 1936-1937, a.a.O., S. 67, Eintrag vom 28.01.1932.
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Gesuchte ist nicht tatsächlich nicht da, sondern liegt nur tiefer verborgen. Was dann die Konsequenz nahelegt, daß die Askese nicht aufgegeben, sondern noch weiter verschärft werden muß, und es noch mehr abzulegen gilt an selbstverständlichem Habit und eingespielter Gewohnheit. Damit führt auch die Askese nicht zum Ideal, sie ersetzt bereits das Ideal79. Wo das Wegnehmen von außen schließlich an seine Grenzen stößt, muß es einfach von innen weiter betrieben werden. Am Ende solcher Eskalation steht Kafkas Hungerkünstler. Das Wesen des Asketen stabilisiert sich zuletzt nur durch immer noch mehr Askese. Es besteht überhaupt nur in der Übertreibung. Und eine immanente Grenze kann es für sie nicht geben. In den gebrochenen Augen seines Hungerkünstlers verrät sich denn auch nur »die feste, wenn auch nicht mehr stolze Überzeugung, daß er weiterhungere«80. Daß es sich bei der Askese zuletzt um eine virtuose Kunst81, und 79 | In der tieferen Logik der Moralisten-Kritik Nietzsches geschieht das Festhalten am asketischen Ideal nur noch »faute de mieux« (F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in ders., Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. 5, S. 411). Um der Einsicht in das Synthetische und das grundmoderne Design seiner Haltung zu entkommen, erscheint dessen philosophische Hochstilisierung noch die leichtere Übung. Umgekehrt, mit Nietzsche gesagt: »Was bedeuten asketische Ideale? […] Dass aber überhaupt das asketische Ideal dem Menschen so viel bedeutet hat, darin drückt sich die Grundtatsache des menschlichen Willens aus, sein horror vacui: er braucht ein Ziel, – und eher will er noch das Nichts wollen, als nicht wollen« (ebd., S. 339). Über den Umkreis all dessen, was Nietzsche an unterschiedlichen Orten jeweils neu und originell mit der Konzeption der Askese verbindet, zuweilen auch widersprüchlich, belehrt das NietzscheWörterbuch, Bd. 1, hg. v. der Nietzsche Research Group (Nijmegen) unter der Leitung von Paul van Tongeren, Gerd Schank und Herman Siemens, Berlin New York 2004, auf den Seiten 155-173. 80 | F. Kaf ka, Ein Hungerkünstler, in: ders., Ein Landarzt und andere Erzählungen, Stuttgart 2005, S. 121. 81 | Vgl. zuletzt Niklaus Largiers medientheoretische Studie über den Zusammenhang von Askese und Dekadenz. Das Unnatürliche der Exerzitien und Kasteiungen kann man nach Largier grundsätzlich nicht nur in moralischer, sondern auch in künstlerischer Perspektive bewerten. Asketen sind demnach solche, denen es gelingt, durch Erfindung von Exerzitien und Kasteiungen ihre Sinnlichkeit in einer Weise zu reizen und zu schärfen, daß damit ganz neue Erfahrungsräume erschlossen werden. Askese ist das Raffi nement einer Inszenierung, die allererst das Begehren hervorbringt, nach dessen Erfüllung sich
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nicht um eine natürliche Begabung handelt, hat Wittgenstein sich vielleicht nie vollständig einzugestehen vermocht. Die Anekdoten sind Legion, die einen Ehrgeiz erkennen lassen, nochmals mit Kafka gesprochen, »nicht nur der größte Hungerkünstler aller Zeiten zu werden, der er ja wahrscheinlich schon war, aber auch noch sich selbst zu übertreffen bis ins Unbegreifliche«82. Und das gilt im übertragenen wie im wörtlichen Sinne. Beleg ist einmal Wittgensteins Neigung zur extremen Anachorese, wenn man so will zur unmäßigen Bändigung eines natürlichen ›Raumhungers‹. Es scheint, als konnte keine Behausung zu nüchtern, zu klein, zu verlassen und zu erhaben sein, als daß nicht Wittgenstein noch Anlaß gefunden hätte, konsequent weiterzusuchen. Die Ferienhütte in Norwegen war nur der Anfang einer Flucht ins Randständige und Zwergenhafte. Während des ersten Weltkrieges soll Wittgenstein in Olmütz den Turmwächter genötigt haben – vergeblich übrigens –, in die 73 Meter hoch gelegene Turmstube des Rathauses mit einziehen zu dürfen83. Im niederösterreichischen Otterthal war die Bleibe des Volksschullehrers so klein, daß nicht einmal ein Bett hineinpaßte, und das, nachdem er sich zuvor in Trattenbach in der Schulküche einquartiert hatte84. Später kampierte er als Gärtner im Werkzeugschuppen der Johannitermönche in Hütteldorf, nahe Wien85. Aus dieser Zeit stammen auch die Anekdoten um Wittgensteins frugale Eßgewohnheiten. Einmal soll er sich vier Wochen nur von Käse ernährt haben. Er habe dies so kommentiert: es sei ihm ganz egal, was er esse, Hauptsache, es sei immer dasselbe. Ein anderes Mal wird berichtet, er habe die Gewohnheit gehabt, sich in einem (an sich schon kleinen) Topf Kakao zu erhitzen und darin dann Haferflocken eingerührt. Mit der Zeit soll der Topf aber mehr und mehr zugewachsen sein. So seien auch die Portionen schließlich verschwindend klein geworden, bis irgendwann gar nichts mehr hineinging. 1923 ist der Student Ramsey bei den Wittgensteins in Wien zu Gast und berichtet das folgende: »Sie der Asket zuvor noch nicht einmal sehnen konnte. Mit der Dekadenz des 19. Jahrhunderts kommt zu dem Verfahren schließlich nur noch das Eingeständnis hinzu, die sündige Verführung zu wollen, die zu immer neuen Genüssen und ungeahnten Intensitäten führt (N. Largier, Die Kunst des Begehrens. Dekadenz, Sinnlichkeit und Askese, München 2006. 82 | Kaf ka, a.a.O., S. 114. 83 | Monk, a.a.O., S. 165f. 84 | Ebd., S. 213. 85 | Ebd., S. 255.
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alle sind steinreich und sehr darauf bedacht, ihm Geld zu geben oder sonstwie zu helfen, aber er lehnt alles ab; selbst Weihnachtsgeschenke oder Kraftnahrung, wenn er krank ist, schickt er zurück. Nicht etwa, weil sie zerstritten sind, sondern weil er kein Geld mag…«86. Hierhin gehört dann auch die Geschichte um die vorzeitige Übertragung seines Vermögens an die Geschwister. Das Kunststück für den schwerreichen Sohn eines Stahlbarons bestand dabei darin, unter allen Umständen sicherzustellen, daß es ihm unmöglich sei, jemals wieder in rechtliche Reichweite des verschenkten Geldes zu kommen. Es ist nicht wirklich klar, inwieweit Wittgenstein sich jemals wirklich von seinen Vorbildern aus den Romanen und Bekenntnissen Dostojewskis und Tolstois lösen konnte. Die Askese und das Akrobatische in ihrem Wesen bleiben bis in die späte Zeit nach der Wiederkehr nach Cambridge stilprägend. Auch hier hat man den Professor bestaunt, der nicht am Professorentisch essen wollte, der keine Krawatte trug, immer offenes Hemd und altes Jackett, man hat sich einnehmen lassen für den späten Musikschüler, der seine Klarinette nicht im Etui, sondern in einem alten Kniestrumpf zum Unterricht trug, von einer Enthaltsamkeit in scheinbar allen Dingen, die beim Frühstück mit einem Ei ohne etwas dazu anfing und mit einem einfachen Gemüse zum Mittagessen weiterging und so fort. Man hat sich vor dem beinahe heiligen Enthusiasmus verbeugt, mit dem Wittgenstein im Unterricht seine Schüler begeistert hat und, wie er selbst meint, zu einem momentanen Höhenflug inspirieren konnte, der aber sofort wieder vorüber war, sobald der charismatische Lehrer ihnen nicht mehr zur Seite stand: »Ein Lehrer, der während des Unterrichts gute, oder sogar erstaunliche Resultate aufweisen kann, ist darum noch kein guter Lehrer, denn es ist ihm möglich, daß er seine Schüler, während sie unter seinem unmittelbaren Einfluß stehen, zu einer ihnen unnatürlichen Höhe emporzieht, ohne sie doch zu dieser Höhe zu entwickeln, so daß sie sofort zusammensinken, wenn der Lehrer die Schulstube verläßt. Dies gilt vielleicht von mir; ich habe daran gedacht« (VB503). Ob er mit diesen Übungen und dieser Magie immer noch in seinem tiefsten Inneren versucht hat, sich auf den Stand eines Genies und Heiligen zu bringen, kann man allerdings auch bezweifeln. Es könnte auch sein, daß er jenes Einüben nur noch als eine Form der Abrichtung seiner selbst verstanden hat, die man sich weiter auferlegen muß, gerade dann, wenn alle Hoffnung auf eine gutes Ende vom Pilgrims Progress unmöglich geworden ist. Man folgt dann den Vorstellungen von 86 | Ebd., S. 240.
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der Einfachheit der Natur, nicht um ans Ideal hinzureichen, sondern gerade weil es kein Ideal mehr gibt, das man erstreben könnte. Die weitergeführte Askese wäre so gleichsam die Trophäe, die der geschlagene Idealist der siegreichen Natur vor die Füße legt. Sie ist Erinnerung und Tribut des Moralisten daran, daß jede Anstrengung, über sich hinauszuwachsen, vergeblich ist. Askese wäre dann die Anstrengung, jede weitere Anstrengung zu vermeiden. Sie wendet sich am Ende gegen nichts mehr in der Welt, sondern nur noch gegen sich selbst. Wittgenstein nennt diese paradoxe Haltung, wie man weiß, eine ›Therapie‹, die im Paradox des Weglassens des Weglassens ihre Erfüllung fände. Nur so käme seine Philosophie wirklich zu einem Ende. Und auch hier hat Wittgenstein zuletzt, wie man weiß, alles daran gesetzt, »auch noch sich selbst zu übertreffen bis ins Unbegreifliche«.
C. Das Ende der Moralistik »[Ich] fühle mich fremd//als Fremdling//in der Welt. Wenn dich kein Band an Menschen und kein Band an Gott bindet, so bist du ein Fremdling«87.
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Die zweite Phase beginnt mit der Einsicht in die Vergeblichkeit aller moralistischen Mühen wie in die Flüchtigkeit logischen Zaubers. Es ist die endgültige Gewißheit, nicht der geniale Meister seines Faches zu sein, sondern nur der sprichwörtliche Zauberlehrling. Wittgenstein ist sich am Ende seines Tractatus sicher, alles Nötige auf sich genommen zu haben, extreme Strapazen, existenzielle Gefahren, um die Formel zu finden und auszusprechen, mit der die philosophische Welt wieder in ihren alten Zustand hätte zurückversetzt werden können. Einen Zustand, in dem die Sprache wieder ein verläßlicher Spiegel der Welt sein kann und der Gerechte vollkommen glücklich in seiner Welt. Ein Zustand, in dem die alte Metaphysik wie die alte Moral gleichermaßen auf begrenztem Gebiet, aber in genialem Aufschwung in ihre traditionellen Rechte zurückversetzt worden wären. Doch Wittgenstein ist sich ebenso sicher, daß er die Formel ganz umsonst gesprochen hat, daß zwar alles richtig 87 | L. Wittgenstein, Kodierte Tagebücher, Eintrag vom 28. Juli 1947, in: Monk, a.a.O., S. 546.
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und formal korrekt vollzogen wurde, die Probleme »endgültig« gelöst, damit doch überhaupt nichts erreicht ist. »Meine Sätze erläutern sich dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. […] Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig« (TLP6.54). Man kann gut verstehen, auf welchen Anschauungen eine solche Einsicht in die Vergeblichkeit, wenn nicht sogar Perversion der vorangegangenen Mühen gründet. Unmittelbar und zuvorderst spielt die Beteiligung am Weltkrieg ihre Rolle. Man hat sich daran gewöhnt, Wittgensteins freiwillige Meldung zum Kriegsdienst »aufgrund seines ethischen Rigorismus« für »völlig selbstverständlich«88 zu halten. Die Freiwilligkeit, mit der Wittgenstein wie viele andere Intellektuelle in diesen Krieg ging, hat neben persönlichem, traditionellem und patriotischem Pflichtbewußtsein aber auch den philosophisch interessanten Aspekt, daß man das Engagement Wittgensteins auch im Zusammenhang einer ultimativen Antwort auf eine generelle Modernefrage betrachten kann. Auch wenn, wie bei Wittgenstein, dies nicht eigens und ohne Abstand reflektiert wird, liegt es doch unübersehbar in der Anlage einer generellen Zeittendenz und Kulturkritik mit beschlossen. »Wir können die Atmosphäre der Lüge nicht ertragen«, schreibt Georg Simmel in der Frankfurter Zeitung in einem Leserbrief am 16.10.1914 als Antwort auf einen Beitrag von Friedrich Gundolf in derselben Zeitung mit der Überschrift ›Wort und Tat im Krieg‹, »die Europa verpestet. Weder wollen wir uns verteidigen, noch wollen wir Sympathien gewinnen, die nun einmal nicht für uns wachsen. Denn jeder weiß freilich, daß wir – von den österreichischen Waffengenossen abgesehen – einsam auf unserem Planeten sind. Es ist, als ob niemand uns begriffe; und vielleicht sind wir in einer jener Lagen, die man nur von innen her versteht, nicht aber als Betrachtender. Daß unsere Not und unsere Verteidigung um die nackte Existenz, des Ganzen und des Einzelnen, geht und zugleich das höchste Seelische und Ideelle, um das schlechthin Zeitliche und das schlechthin Zeitlose – um die Einheit, aus der und zu der beides sich in uns verbindet, zu verstehen, muß man offenbar im Zentrum des Erlebens selbst stehen: mit Logik und mit Psychologie ist sie nicht zu erfassen. […] Nach dem Erfolg aber können wir nicht fragen, nicht nach dem prozentualen Verhältnis von Aufwand und Ergebnis. Das gehört 88 | W. Baum, »Wittgensteins Kriegsdienst im ersten Weltkrieg«, in: GT, S. 140.
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doch zur Größe der Zeit, daß keiner sich mehr überlegt, was es kostet, wieviel wir einsetzen für das, was uns nun einmal notwendig erscheint. Zu einem Augenblick, in dem hundert kostbare Existenzen sich aufs Spiel setzen, um einen kleinen Hügel in den Argonnen vielleicht einzunehmen, der morgen vielleicht wieder geräumt wird, werden wir wohl nicht fragen, ob wir hundert Flugblätter, Erklärungen, Briefe vielleicht umsonst schreiben. Denn endlich sind wir einmal in der absoluten Situation, endlich fragen wir nicht mehr nach dem Preise und der Relativität seiner Abwägungen. Heut setzt ein jeder alles ein für die erfüllende und zu erfüllende Idee, unabhängig von dem Maß des Erfolges, das er gerade von seinem Tun erwarten kann; dies eben gibt uns, unter dem fast zermalmenden Druck von Gefahr, Opfer und Schicksal das Gefühl von Freiheit, in dem wir jetzt alle atmen«89. Es ist erstaunlich, aber nicht zu leugnen: Der Autor der Philosophie des Geldes, der sich von Max Weber zur Kulturkritik und von Nietzsche zur Lebensphilosophie90 hinwenden läßt, formuliert gleich zu Kriegsbeginn den ›wahren‹ Kriegseinsatz als einen metaphysischen. Das »Gefühl von Freiheit«, von dem zuletzt die Rede ist, definiert sich in letzter Entgegensetzung zu jeder Form zweckrationalen Wirtschaftens. Alle äußeren, strategischen Überlegungen sind ausgeblendet, jede soziale Form der Renditerechnung suspendiert. Sogar die Psychologie, die das Wirtschaften kulturell verinnerlicht, ist außer Kraft gesetzt. Die Motivation ist jene der existenziellen Not, die in der Frage nach der »nackten Existenz«, kollektiv wie individuell, die üblichen Verständniszugänge offenbar versperrt. Ein tieferer Gehalt des »Erlebens« ist an die Stelle der üblicherweise nachvollziehbaren Argumentation gerückt. Ohne die frühe Kriegsbegeisterung Simmels zu bewerten, scheint interessant an jenem ›Erlebnisbericht‹, daß sich hier die gesamte Achse der soziologischen Kulturbetrachtung noch einmal verschoben bzw. gedreht hat, von einer Differenz, die nur Systeme untereinander vernetzt und opponiert, zu einer Opposition, die mit einem Jenseits aller soziologischen 89 | G. Simmel, Miszellen, Glossen, Stellungnahmen, Umfrageantworten, Leserbriefe, Diskussionsbeiträge 1889-1918. Anonyme und pseudonyme Veröffentlichungen 1888-1920, Band 17 der Gesamtausgabe, hg. v. O. Rammstedt, Frankfurt a.M., 2004, S. 121f. 90 | Vgl. zu den vitalistischen Hintergründen Angela Sendlinger, Lebenspathos und Décadence um 1900. Studien zur Dialektik der Décadence und der Lebensphilosophie am Beispiel Eduard von Keyserlings und Georg Simmels. Frankfurt a.M. (u.a.) 1994.
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und politischen Systemwelten operiert. Wo sonst immer nur Relationen und Relativitäten die Analyse des Wissenschaftlers beschäftigen können, von Situationen, die nur ›strukturalistisch‹ im Gegensatz zueinander bestimmt werden können, ist hier von der »absoluten Situation« die Rede. Jener Krieg scheint als ›Ausnahmezustand‹ konzipiert werden zu müssen, der sich aus dem Gegensatz vom »schlechthin Zeitlichen« und dem »schlechthin Zeitlosen« ergibt, und der Kampf, den es zu führen gilt, erscheint als ein ›Kulturkampf‹ um eine letzte Möglichkeit, einen übergreifenden Sinn und eine »Einheit« in die anonym gewordene Vielheit zu bringen. Die Logik, die hier in Ansatz gebracht werden soll, ist jene einer Ökonomie der Verschwendung, in der angesichts des unermeßlichen Einsatzes alle Mittel im Grunde soviel wie nichts zählen. Es scheint Simmel offenbar, als sei überhaupt der »Erfolg« schon nicht mehr relevant, insofern das Aufscheinen einer letzten Kulturgröße sowieso nicht mehr in die üblichen Kategorien einer verweltlichten Welt des »schlechthin Zeitlichen« eingehen kann. Eine tiefe Kluft tut sich auf zwischen gefühlter Wahrheit und einer »Atmosphäre der Lüge«, in die bereits alles andere als ›Wort und Tat im Krieg‹ getaucht ist. Es ist nur eine Stimme, beschreibt aber die Ausgangslage in den wesentlichen Konturen. Entscheidend für eine Übersicht in einer Flut von Zeitzeugnissen ist die Trennlinie zwischen dem schlechthin Zeitlichen und schlechthin Zeitlosen, vor allem dann, wenn man noch einen Zusammenhang zwischen den Parteien vollkommener Ablehnung und begeisterter Zustimmung unter den Intellektuellen zumindest postulieren will91. Einerseits nämlich läßt sich aus der Ablehnung von Nützlichkeitsdenken und Materialismus insgesamt der Kriegsbeginn als die Wiederkehr des Idealismus werten. Dann steht die Vorstellung vom Opfer 91 | Eine Wertung von Simmels Stellungnahmen zur ›Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts‹ findet sich im größeren Zusammenhang und im Vergleich mit Max Scheler, Ernst Troeltsch, Rudolf Borchardt, Hugo Ball, Friedrich Meinecke und Annette Kolb bei Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung, Berlin 2000. Instruktiv für die Frage nach dem Einfluß jüdischer Kontexte in eine messianische Stilisierung eines kommenden ›Kollektivsubjektes‹ ist die Habilitationsschrift von Ulrich Sieg, Jüdische Intellektuelle im ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001. Vor dem Hintergrund des Marburger Neukantianismus erscheint die Kriegspublizistik von Hermann Cohen, weiter wegweisend sind Ernst Troeltschs Interpretation des Prophetismus oder Martin Bubers Ethnisierung des Nationalismus.
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für zeitlose Werte, Ehrbegriffe, Patriotismus und einen metaphysischen Volksgeist im Vordergrund. Im Krieg geht es zuletzt um den Wert aller Werte. »Endlich ein Gott«92 dichtet Rilke. Ernst Troeltsch verbindet damit beispielsweise eine entschiedene Dekadenzkritik, mit den Schlagworten »Genußsucht«, »Vergötterung des Geldes«, und »stumpfe Ergebung in die Gesetzmäßigkeit der Natur«93, mit der es mit Kriegsbeginn endlich ein Ende haben soll. Auf der anderen Seite kann die neuerliche Absonderung der idealen Sphäre vom Alltäglichen und Realen aber auch zum entgegengesetzten Resultat führen. Der Krieg mit seinen Materialschlachten wird dann selbst als der Ausbund der Empirie und der endlichen Zerstörungskräfte gesehen, die die Sphäre des Geistes überhaupt nicht berühren und für den Philosophen entschiedenes Desengagement, im Sinne einer wesentlichen Gleichgültigkeit, nahelegt. Anhänger des Neukantianismus können so werten94. Schließlich sind die Vorstellungen in der Mehrzahl, die im Krieg jene Zwangsgewalt sehen, die alleine noch eine letzte Verbindung zeitloser Werte mit einer zeitgebundenen Kultur hervorbringen kann. Der Ursprung des Gedankens liegt bei Nietzsche, wo er in der Geburt der Tragödie überhaupt die Kristallisation einer Kultur als eine glückliche Fügung unter dem Druck an sich zerstörerischer Verhältnisse denkt. Thomas Mann nimmt den Gedanken in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen während des Weltkrieges wieder auf und überträgt das Schema ins Weltpolitische95. Deutschland ist wegen »seiner Bildungsgeschichte« ein »Volk, das eine Nation in jenem sicheren Sinne, wie die Franzosen oder Engländer Nationen sind, nicht ist und es wahrscheinlich niemals wer-
92 | Zitiert in R. Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München Wien 1994, S. 74, dieser zitiert aus: W. Falk, Die Literatur vor dem Ersten Weltkrieg. Funkkolleg Jahrhundertwende 1880 – 1930. Die Entstehung der modernen Gesellschaft. Studienbegleitbrief 4. Weinheim u. Basel 1988, S. 247. 93 | E. Troeltsch, Deutscher Geist und Westeuropa, Aalen 1966, S. 39. 94 | Vgl. noch einmal die Anekdoten und Wertungen bei Safranski, a.a.O., S. 73. 95 | »Nietzsches Kritik des abgelaufenen Jahrhunderts, dieser gewaltigen, aber wenig ›hochherzigen‹, im Geistigen wenig galanten Epoche, erschien niemals großartiger zutreffend, als unter der Optik des Jetzt und Heute« (Th. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt a.M. 2001, S. 44).
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den kann«96. Wenn es so ist, daß »große Gemeinschaften … nicht jene geistige Einheitlichkeit« besitzen, »die sie in Kriegszeiten«97 haben, dann erscheint in der Tat der Krieg als ein extremes Mittel des ›nationbuilding‹; ähnlich wie bei Simmel, wenn dieser von der »Einheit« spricht, »aus der und zu der beides«, Zeitloses und Zeitliches, »sich in uns verbindet«. Was Nietzsche als kulturelle Gegenüberstellung französischer und englischer Umgangsformen, des Handelsgeistes und der EspritKultur gegenüber einer deutschen Romantik konzipiert hatte, wird zur nationalen Identitätsfrage weiter stilisiert. In der Typologie steht so eine »tiefe Kultur gegen oberflächliche Zivilisation; organische Gemeinschaft gegen mechanische Gesellschaft; Helden gegen Händler; Gefühl gegen Sentimentalität; Tugend gegen berechnende Gesinnung«98, ›Formkultur‹ gegen ›Inhaltskultur‹99. Hinzu kommt, daß der Krieg nicht nur die europäischen Nationen in ihrem Wesen und Eigensinn ausdifferenzieren soll. Es geht nicht nur um Sammlung und Scheidung, sondern auch um die Endauswahl der Geister. Das metaphysische Konzept Hegels von der ›Weltgeschichte als Weltgericht‹ kehrt wieder, allerdings unter lebensphilosophischen Prämissen. Gefragt ist die Fähigkeit der Konzepte zur Selbstbehauptung in absoluter Konkurrenzlage. Nicht Vernunft, nicht Geist, sondern Vitalität und Kreativität sollen den Ausschlag geben100. Die Unterscheidung wird zu einer solchen des Menschenschlages, das meint zumindest Max Scheler mit dem »Genius des Krieges und der Deutsche Krieg« 101. Insgesamt ist klar, daß alle jene Visionen auf eine Art Apokalypse hinauslaufen sollten, in der zuletzt eine Kultur entweder als rein und unberührt von allem noch bestehen bliebe, oder aber aus der Gewalt der Ereignisse 96 | Ebd., S. 74. 97 | Ebd., S. 73. 98 | Safranksi, a.a.O., S. 75, 99 | Die Unterscheidung stammt von Rudolf Eucken in: Die weltge-
schichtliche Bedeutung des deutschen Geistes, Stuttgart, Berlin 1914. Aufgenommen und weitergeführt wurde sie von dem Neukantianer Alois Riehl; vgl. dazu P. Hoeres, Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im 1. Weltkrieg, Paderborn, München, Wien 2004. 100 | Zur Umdeutung der Idealtypen zu sozialen Vektoren vgl. W. Geßner, Der Schatz im Acker, Weilerswist, 2003. 101 | M. Scheler, Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg, Leipzig 1915.
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allererst hervorgehen sollte, oder schließlich als letzte und immer gültige Übersetzung des Idealen ins Reale triumphieren müßte. Klar ist auch, daß der Ausgang des Ersten Weltkrieges das gerade Gegenteil in der Wertung nahelegt und als eine Apokalypse der Realität erscheinen mußte. Nicht das Empirische hat sich zerrieben und Platz gemacht für die höhere Bestimmung des Menschen, sondern alles Ideale ist dabei zuschanden geworden. Es war nicht Geisterschlacht, sondern Materialschlacht. Himmel und Erde haben sich berührt, es ist aber keine ›Aufhebung‹ der Realität daraus geworden, sondern eine Auflösung aller Atmosphäre, in der noch an Ewigkeitswerte geglaubt werden konnte. Wo die Welt selbst in Stücke geht, ist auch eine letzte Orientierung sinnlos geworden, wenn sie mehr will als nur noch den Lauf der Dinge zu beschreiben. Die Erfahrung der Vergeblichkeit, die Wittgenstein während seines Kriegseinsatzes machen muß, läßt sich aus dem allgemeinen Kontext heraus weiter konkretisieren. Weininger hatte das Vorbild gegeben, wie man durch Überwindung aller dekadenten Um- und Antriebe in sich zur Reinheit des Ich jenseits aller Psychologie zurückzufinden sollte, notfalls durch deren definitive Abtötung. In Verlängerung dieser Linie erscheint das Kriegsgeschehen auch für die Moralistik als eine Option. Georg Simmel kann dazu noch einmal herangezogen werden mit einem Beitrag von Ende 1914, weil bei ihm das Unwahrscheinliche wirklich wird, man von ihm als einem der letztem vielleicht eine solche Formulierung zur »Vollendung der Aufgabe« hätte erwarten können: »Dies ist von je und je so empfunden worden: daß unser empirisches Ich, wie es aus den Stücken der Stunden seiner Tage zusammengesetzt, vielspältig, zufällig, dem Schicksal preisgegeben, bloß wirklich – daß dies nicht unser ganzes Sein ausmachen kann. Irgend etwas muß da sein, gleichviel welchen Wesens, das für uns als Idee, Forderung, metaphysische Mächtigkeit lebt und jenem Zerspaltnen, Fragmentarischen Einheit gäbe, Notwendigkeit und Sinn. Dieses Etwas ist nun aber doch unser eigentliches Ich, im Gegensatz zwar gegen jenes empirische Sein, ist unser tiefstes Sein selbst, und gerade weil es in solchen Grundtiefen unter jenem liegt, befähigt, über ihm zu stehn, als ein Gesolltes, sein Wert und Ideal« 102. Mit Fichte nennt Simmel jenes Ich das »›reine‹ Ich« und formuliert die Aussicht auf den anstehenden Kriegseinsatz so: »Im ›reinen Ich‹ vollzieht sich das Wunder, daß der tiefste Kern der Persönlichkeit Eines ist mit einem Allgemeinen, einer lebendigen Idee, einem Gemeinsamen vereinheitlichter Millionen – und dieses hat das ›empirische Ich‹ so übergriffen und in 102 | G. Simmel, »Vollendung der Aufgabe«, in: ders., a.a.O., S. 124.
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sich hineingenommen, daß dessen seelische Vergleichgültigung sich in die selbstverständlich hingenommene physische Vernichtung fortsetzt. … Für den Krieger, der den Opfertod gestorben ist, ist das Unendliche eingegangen in die Form: Deutschland« 103. Wie Wittgenstein später selbst sagt, habe er sich 1914 freiwillig zum Militär gemeldet, »weil er den Tod gesucht habe«104. Er kam als einfacher Kanonier zu dem 2. Festungsartillerieregiment nach Krakau. Dort wird er dann auf das Wachschiff ›Goplana‹ auf der Weichsel eingeteilt. Im Dezember 1914 wird er in die Artilleriewerkstatt der Festung Krakau versetzt. Anfang 1916 kommt er als Artilleriebobachter an die russische Front. Er wird zum Korporal, nach Besuch einer Artillerieoffiziersschule in Olmütz zum Fähnrich befördert. Während der ersten ›BrussilowOffensive‹ wird sein Regiment unter schweren Beschuß genommen, er selbst hat die Angriffe an einem vorgeschobenen Beobachtungsposten durchlebt. 1917 verbringt er zum größten Teil im Stellungskrieg an der Ostfront in der Bukowina, zwischen den Karpaten und dem Dnjestr. Nach dem Waffenstillstand im November 1917 kommt er an die Südfront bei Asiago als Aufklärungsoffizier der Gebirgsartillerie. Im November 1918 gerät er bei Trento in Kriegsgefangenschaft. Im August 1919 wird Wittgenstein aus dem Lager von Monte Cassino entlassen. Unter dem Eindruck wechselnder Umstände entstehen die Einträge in seine Geheimen Tagebücher. Aus ihnen läßt sich zumindest in Ansätzen erschließen, inwieweit Wittgenstein sich ebenfalls in diese ›idealistische‹ Linie einer Suche nach dem reinen Ich einschreibt, dem Wunder der Verschmelzung der Persönlichkeit mit einem höchsten Allgemeinen, so, daß dies »unser ganzes Sein ausmachen kann«. Eine nationale Identifi kation ist zumindest rhetorisch vorhanden: »Fühle … heute mehr als je die furchtbare Traurigkeit unserer – der deutschen Rasse – Lage! … Der Gedanke, daß unsere Rasse geschlagen werden soll, deprimiert mich furchtbar, denn ich bin ganz und gar deutsch!« Ein vitalistisches Moment ist sporadisch nachzuweisen: »Komme morgen vielleicht auf mein Ansuchen zu den Aufklärern hinaus. Dann wird für mich erst der Krieg anfangen. Und kann sein – auch das Leben! Vielleicht bringt mir die Nähe des Todes das Licht des Lebens. Möchte Gott mich erleuchten. Ich bin ein Wurm, aber durch Gott werde ich zum Menschen. Gott stehe mir bei. Amen« (GT66). Der moralistische Aspekt auf jeden Fall: »Ich 103 | Ebd., S. 125. 104 | W. Baum, Ludwig Wittgenstein, Berlin 1985, S. 26.
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verstehe es noch immer nicht, meine Pflicht nur zu tun, weil es meine Pflicht ist, und meinen ganzen Menschen für das geistige Leben zu reservieren. Ich kann in einer Stunde sterben, ich kann in zwei Stunden sterben, ich kann in einem Monat sterben oder erst in ein paar Jahren. Ich kann es nicht wissen und nichts dafür oder dagegen tun: So ist das Leben. Wie muß ich also leben, um in jedem Augenblick zu bestehen? Im Guten und Schönen zu leben, bis das Leben von selbst aufhört« (GT27). Wer solchen Bekenntnissen nicht grundsätzlich mißtraut, weil es sich um persönliche Dinge handelt, die nur Geheimen Tagebüchern anvertraut werden, und wer darin nicht von vornherein unzulässige Stilisierungen, Selbsttäuschungen, Übertreibungen am Werke sieht, die man auf keinen Fall beim Wort nehmen darf, der hat guten Grund, Wittgensteins Engagement im Ersten Weltkrieg, seinen Verlauf und sein Ende, mit symbolischem Wert zu betrachten. Es ist dann nicht nur eine biographische Episode damit verbunden, sondern eine intellektuelle Charakterprägung, die damit einsetzt, daß die ersehnte Formung, das Aushärten des Intellekts, die endgültige Scheidung von Gut und Böse und die letzte Transzendenz des Ideellen gegenüber allem Reellen nicht stattgefunden hat. Auf solche Gedanken kann man bei Ray Monks Resümee der Schlüsselstelle kommen, die Wittgensteins persönliche Bravour und zugleich sein Scheitern im Ganzen schildert: »Beim Vormarsch Österreichs am 15. Juni war Wittgenstein wieder gesund und diente als Aufklärer für die Attacke der Artillerie gegen die französischen, belgischen und italienischen Truppen in den Trentiner Bergen. Erneut wurde er wegen Tapferkeit dekoriert. ›Sein hervorragendes tapferes Verhalten, Ruhe, Kaltblütigkeit und Heldenmut erweckte bei der Mannschaft vollste Bewunderung‹105. Er sollte die Goldene Tapferkeitsmedaille für Offiziere erhalten, bekam aber schließlich nur die Militärverdienstmedaille am Band mit Schwertern, da sein Verhalten zwar mutig, aber ohne größere Wirkung auf den Feind gewesen sei. Dieser Angriff – der letzte, an dem Wittgenstein teilnahm und den Österreichs Armee führen konnte – wurde schnell zurückgeschlagen«106. Wittgensteins Einsatz war mutig bis verwegen, wie es andere Quellen auch belegen, er war bis zum Äußersten konsequent, mit existenziellem Pathos und ›kaltblütiger‹ Leidenschaft, und dennoch muß der Held im 105 | Vgl. Br. McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, a.a.O., S. 406. 106 | Monk, a.a.O., S. 172. Vgl. auch W. Baum, »Wittgensteins Kriegsdienst im ersten Weltkrieg«, in: GT, S. 133f.
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Nachhinein erfahren, daß er im Grunde an der ganz falschen Front gekämpft, oder daß dort, wo er seinen Einsatz hatte, die wahre Auseinandersetzung schon längst nicht mehr stattgefunden hatte. Er bekommt seine Medaille, es wird ihm Anerkennung gezollt, aber er weiß ebensogut, daß diese gerade so gut wie ein Karnevalsorden ist. Es hat nicht nur der Held nicht gesiegt, es hat das ›Heldische‹ versagt, Pflicht und Tugend waren nicht genug gegenüber dem Mechanischen und Technischen der Kriegsführung, das motivierende Gefühl mußte ohnmächtig sein gegenüber der Anonymität des Kriegsgeschicks, die Kultur zivilisatorisch überfordert. Sinnbild für dieses Kulturverhängnis ist der erste Weltkrieg, weil er bis heute als der Wendepunkt gilt, an dem sich Kriegstechnik und -logistik emanzipieren, vor den Wert ihrer bisherigen Akteure stellen und unübersehbar dominant werden. Aktualisiert man diese alte Einsicht und Erkenntnis mit den Mitteln der neueren Technikphilosophie und Systemtheorie, kann man dies vom Standpunkt der Maschinen aus beurteilen und die erstaunliche Verfeinerung und Vernetzung von Kommunikation und Aktion als Fortschritt beschreiben. Systemtheoretisch gedacht läuft dies zuletzt darauf hinaus, daß sich in absehbarer Zeit der Mensch überhaupt als zu schwerfällig und unbeholfen erweisen wird, als daß er noch vom robotisierten Medium sinnvoll in das Kriegsgeschehen eingebunden werden könnte. Künftige Kriege werden zeigen, so die Vorhersagen, daß Flugzeuge besser agieren, wenn kein Mensch mehr pilotiert, kleiner, wendiger und damit effizienter werden können, Landfahrzeuge ohne Besatzung entsprechend weit besser vorankommen, Waffen sich insgesamt, wie es zum Teil jetzt schon geschieht, ihr Ziel von alleine suchen und bewerten. Wie es die neuere Technikphilosophie will, ist die Militär- und Waffengeschichte so gesehen nur die sichtbarste Vorhut für die generelle Tendenz kybernetischer Maschinen, in ein selbstreflexives und selbstgenügsames Stadium zu kommen. In der Rückschau zeichnete sich dann ab dem ersten Weltkrieg ab, daß die militarisierte Technosphäre stellvertretend für die Marginalisierung aller Humanbeteiligten steht, die von nun an nur noch als Umwelt für das System funktionieren. Selbst die Geschichte eines Siegeszuges der Militärsysteme müßte dann vom System selbst entworfen werden107.
107 | Vgl. M. de Landa: »… Und wenn dieser Historikerroboter sich der Entwicklung der Armeen zuwendet, um die Geschichte seiner eigenen Waffen zu erforschen, so würde er Menschen schlicht als Teile einer größeren mi-
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Generalisiert man diese Erfahrung der Marginalisierung, läßt sich eine Form von ›Frontverschiebung‹ als Konsequenz und Übertragung vom Existenziellen ins Kulturelle nachvollziehen. Carl E. Schorske hat die entsprechenden Auswirkungen der geistigen Verlusterfahrung im Wiener Milieu exemplarisch vorgeführt. Er findet sie in den Theaterproduktionen von Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus und Arnold Schönberg während der Zwischenkriegszeit. Die typischen Wiener Exempla müssen demnach alle Kriegs-›Dramen‹ sein, wenigstens der Anlage nach: Hofmannsthals Der Turm (1926), Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit (1926) und Schönbergs Moses und Aron (1932). Alle, die hier als Helden auftreten, treten grundsätzlich nur noch als Opfer in Erscheinung, und für alle gilt es, aus ihrer Erfahrung nur die eine Schlußfolgerung zu ziehen, die mit Krausens Dramentitel schon ausgesprochen ist: wo der höchste persönliche Einsatz geleistet wurde für eine Sache, die alle Personalität übersteigt und erst in der Transzendenz endet (wenn auch deutlich wiedererkennbar als ein typisches Ideal des ausgehenden 19. Jahrhunderts), dort gibt es kein Weiterkommen in der Welt mehr. Mit dem Protagonisten geht zwangsläufig eine ganze Welt, oder – dem Universalismus der Maßstäbe huldigend – besser gleich die ganze Welt unter. ›Weltzeit und Lebenszeit‹, wie Blumenberg es sagt, koinzidieren im Ende. Der Weltkrieg ist in diesen Zusammenhängen nichts anderes als das Jüngste Gericht. Die Apokalypse, die der Kulturkritiker noch als Befürworter des Krieges erwartet hatte, tritt damit tatsächlich ein, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. Nicht die Idealismen triumphieren über die materialistischen Mächte, umgekehrt: die Letzten Tage der Menschheit sind das Siegel auf die Apokalypse der Realität. Im einzelnen differenzieren die Dramen als verschiedene ›Weltuntergänge‹ diskret aus, was zuvor der Neukantianismus philosophisch trokken als eine robuste Reinigung des ›empirischen Ich‹ von seinen nichtintelligiblen Bestandteilen angesprochen hatte. Jedes der Stücke folgt einem der alten Kulturideale in seinen vollkommenen Untergang, der mit dem bodenlosen Scheitern seines Trägers zu Ende inszeniert wird. Hofmannsthal verfolgt ein letztes Mal die Vorstellung einer Kulturreligion, deren Begeisterung dazu gedacht war, einer in ihrer Modernität abstrakt gewordenen Gesetzesherrschaft, die verlorene Dynamik und lebendige Legitimität wiederzugeben. Das Drama ist Calderons Das Leben ist ein Traum nachempfunden, und auch hier kommt es zu einem kurzen litärisch-industriellen Maschinerie ansehen: der Kriegsmaschinerie«. M. de Landa, War in the Age of intelligent Machines, New York 1992, S. 3.
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Interregnum der Macht, einer probeweisen Traumphase im routinierten Gesetzeskalkül. Wie im Vorbild beginnt alles mit dem Aufstand eines vom Herrscher-Vater drangsalierten und weggesperrten Thronfolgers. Dieser versucht es im Moment der Machtergreifung mit Gewaltverzicht und ästhetischer Erziehung. Das ›abstrakte Ich‹ der Massen soll zwanglos und wie durch eine höhere Begeisterung zu neuem, kollektivem Leben erwachen. Aber auch diesmal hält die momentane Verzauberung wiederum nicht lange den Ansprüchen der Wirklichkeit stand. Der Dichter-Prinz scheitert, und eine Rückkehr zur alten Gesetzes-Ordnung erscheint auch nicht mehr möglich. Anstatt zu gnädiger Versöhnung führt die Kunst direkt ins Chaos. Hofmannsthals Resumée, das sowohl das Schicksal seines Helden wie auch seiner Mission im eigenen Land ausspricht, ist das einer vollkommenen Vergeblichkeit. Ihr letzter Akt ist der einer Selbstaufhebung, ein dichterisches Zurücksinken in die vollkommene Anonymität: »Gebet Zeugnis: ich war da, wenngleich mich niemand gekannt hat«108. Karl Kraus inszeniert die Vergeblichkeit seines Lebenswerks, das schon vor dem Krieg in der alten Klage gegen Täuschung und Betrug in der konventionellen Sprache besteht. Adressat war die populäre Wiener Theater- und Journalistenkultur. Anstatt Besinnung aufs Wesentliche und Beschämung durch die Wahrheit, auf die es dem satirischen Kraus ankommt, bringt der Krieg nur die Steigerung der Publizistik zur Propaganda und macht die Welt zur Bühne ihrer lügenhaften Erscheinung. Die letzten Tage der Menschheit lassen keinen Zweifel, in welchen Dimensionen man sich die Hyperbolik seiner mahnenden Worte ausmalen muß. Die Katastrophe des Weltkriegs ist nur die ›Parallelaktion‹ zum endgültigen Untergang der Sprachkultur. Die Wahrheit erscheint nicht in ihrer endgültigen Gestalt, sondern nur noch als das Unsagbare. Von dem Ideal, von der Reinheit ihrer Logik, der Schlüssigkeit und ihrem Wahrheitsgehalt ist längst nicht mehr die Rede, sie scheint nur noch auf als das, was vollkommen fehlt. Die Energie, die zu ihrer Wiederherstellung hätte eingesetzt werden sollen, ergießt sich geradewegs in ihr publizistisches Gegenteil. Schon die Form des Dramas, die eigentlich eine Unform ist, zeugt davon. Die Hälfte der rund 800 Seiten besteht nur noch aus einer losen Collage von Dokumentarstücken: Zeitungsartikel, Reden, Erlässe, Gedichte. In der anderen Hälfte versucht ein Reporter und Theatermensch, jene ultimative Zerstreuung wahrhafter 108 | H.v. Hofmannsthal, Dramen, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hg. v. Herbert Steiner, Frankfurt a.M. 1953, Bd. 4. S. 207.
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Berichterstattung wie ein letzter ›homo juridicus‹ in Grund und Boden zu kommentieren. Der einstige Wiener Fackel-Träger der Aufklärung erscheint in seinem Stück nur noch als vereinsamter Kommentator und pessimistischer Nörgler, das Drama selbst als »apokalyptische Satire« 109, in der Österreichs endgültige Selbstzerstörung in barocken Ausmaßen vorgeführt wird. Das letzte Wort in Krausens Trauerspiel wird wie zur ultimativen Begründung von einem frustrierten Gott selbst gesprochen, der das Diktum eines überforderten Kaisers Franz Joseph vom Beginn des Krieges als das letzte Bekenntnis seiner Ohnmacht wiederholt – »Ich habe es nicht gewollt«110. Arnold Schönberg gibt Anfang der 30er Jahre das Ende aller Hoff nungen wieder, die sich in vergleichbaren Zusammenhängen mit der Musikreligion des ausgehenden 19. Jahrhunderts verbunden hatten. Schon Nietzsche hatte in seiner Abwendung von Wagner unterstellt, daß gerade die ›absolute Musik‹ keinen Zugang mehr zum Absoluten verspricht, zur echten Inspiration vergangener Tage, sondern bestenfalls zu hysterischer Erregung und intellektueller Neurose führt. Schönberg, wie Kraus und Hofmannsthal auf ihre Weise, verbindet damit die Frage nach dem Gelingen seines Lebenswerks, wenn man darin die Möglichkeit sieht, eine von aller unmittelbaren Sinnlichkeit gereinigte Musik mit einem höheren Geist zu begaben. Es wäre die Aufgabe des Genies gewesen, die reine musikalische Gedankenform in all ihrer Abstraktion erst recht zu einem unvergleichlichen Klingen zu bringen. Das Drama, das sich so zwischen Wahrheit und Schönheit entfaltet, erscheint jetzt in der Ernüchterung als ein alttestamentarisches Singspiel, in dem das Scheitern der abendländisch-christlichen Menschheit offenbar schon von Anfang an beschlossen war: Moses und Aron. Das ungleiche Brüderpaar ist sinnbildlich zu verstehen: der eine steht für den unvorstellbaren Gott, den reinen Geist der Worte, der andere für das Volk und das verführbare Fleisch, das der Erlösung bedurfte. Die ersehnte Versöhnung scheint auch hier bereits unmöglich, die Kluft der Verständigung unendlich. Der unmusikalische Prophet erreicht mit seiner Botschaft das Volk nicht, weil das Volk Gottes Wort nicht mehr als solches und in seiner Reinheit verstehen kann. Und der Künstler kann sich nur noch mitteilen, indem er sich selbst unterbietet und seine Sprache verkauft: »Das goldene Kalb ersetzt den Deka109 | C.E. Schorske, Mit Geschichten denken. Übergänge in die Moderne,
Wien 2004, S. 164. 110 | Die berühmten Worte Kaiser Franz Josephs zu Kriegsbeginn wiederholend. Schorske, a.a.O., S. 165.
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log«. Die Oper, so wendet Schorske den tragischen Ausgang als lokales Drama, die als die »Königin unter Österreichs theatralischen Künsten« 111 gilt, dankt gesellschaftlich ab, die Figuren und einstigen Spielführer verstreuen sich im Ungewissen. Wie zum Hohn wird Moses am Ende seiner prophetischen Worte nachgerufen: »Aber in der Wüste seid ihr unüberwindlich und werdet das Ziel erreichen: Vereinigt mit Gott«112. Es ist, zusammengefaßt, die Lage der intellektuellen Kriegsheimkehrer. Der Vorstoß in der eigenen Kunst ist soweit getrieben, wie es nur möglich schien. An deren Ausgang erscheint aber jeweils nur noch das Unwegsame und Ungeheure, und wo einst das Ziel ausgemacht wurde, beginnt jetzt der weitere Weg in die Irre. Später hat Wittgenstein einmal seine eigene ›Holzweg‹-Metapher für diese Lage gefunden: »Es ist als hätte ich mich verirrt und fragte ich jemand nun den Weg nach Hause. Er sagt, er wird mich ihn führen und geht mit mir einen schönen ebenen Weg. Der kommt plötzlich zu einem Ende. Und nun sagt mein Freund: ›Alles, was Du zu tun hast, ist jetzt noch von hier an den Weg nach Hause finden‹«. (VB515). Generalisiert man mit Wittgenstein diese Erfahrung, ergeben sich drei Lektionen: Erstens ist klar, daß die Annahme einer reinen Kultursphäre jenseits aller modernen Routinen als Feld einer philosophischen Auseinandersetzung ein völliges Mißverständnis war. Zweitens ist zwingend, daß auf diesem Feld der metaphysischen Ehre auch die späte Opposition verwegen war, in der sich solipsistische Entwürfe gegenüberstanden, hinter denen ein endliches Ich noch einmal versucht, absolut in seiner Welt zu werden. Drittens muß sich daraus ergeben, daß alteuropäische Kultur und philosophischer Kulturkampf nicht die Entscheidung über eine Metaphysik treffen, der dann für immer die Zukunft gehört, sondern vielmehr die ganze Sphäre endgültig in die Vergangenheit verabschieden. Nicht das eine philosophische Ich konkurrierte mit dem anderen philosophischen Ich (erst recht nicht deren interessierte Kollektiverweiterungen nationaler oder sprachlicher oder schulischer Art), sondern beider Illusion mit der neuen Wirklichkeit der Moderne. Die Achse der Opposition hat sich so vollkommen gedreht, daß im Streit um die Ideale der Idealismus als Ganzer unhaltbar geworden ist – und die romantischen Avantgarden im Nachhinein nur noch als die vorgeschobenen Posten einer eigensinnig gewordenen Realität erscheinen. 111 | Schorske, a.a.O., 166. 112 | A. Schönberg, Moses und Aron. Übersetzt von P. Hamburger, New York 1963, S. 204.
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Noch mitten in der Entstehungszeit des Tractatus reflektiert Wittgenstein in diesem Sinne auf seinen eigenen philosophischen Werdegang: »Der Weg, den ich gegangen bin, ist der: Der Idealismus scheidet aus der Welt als unik die Menschen aus, der Solipsismus scheidet mich allein aus, und endlich sehe ich, daß auch ich zur übrigen Welt gehöre, auf der einen Seite bleibt also nichts übrig, auf der anderen Seite als unik die Welt. So führt der Idealismus streng durchdacht zum Realismus« (TB15.10.16). Das »Ich«, wie es an der zugehörigen Tractatus-Stelle heißt, »schrumpft zum ausdehnungslosen Punkt zusammen, und es bleibt die ihm koordinierte Realität« (TLP5.64). Jene Instanz, die zuvor idealistischer Welt-Wiederholer war, ist jetzt nur noch anonyme Koordinate in einem selbstgenerierten System, einem »reinen« Realismus, der wie die anonym gewordene Logik vollkommen für sich selbst aufkommt. »Das denkende, vorstellende, Subjekt gibt es nicht« mehr (TLP5.631). Man kann das so verstehen, wie es die Kommentare wollen, daß nämlich damit nur gesagt sein sollte, daß man die Struktur der Wirklichkeit, das Transzendentale, für das das Ich einsteht, nicht erkennen kann wie einen Gegenstand oder einen Sachverhalt in der Welt. Man kann es aber auch so deuten, daß hinter dem »reinen Realismus« der Strukturen es überhaupt kein Subjekt mehr geben kann, dem irgendeine Strukturleistung für die Welt zugesprochen werden dürfte, weil sie in der Realität schon ohne jede Fremdeinmischung von statten geht. So wäre am Ende auch TLP6.53 zu verstehen: »Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat –, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese Methode wäre für den anderen unbefriedigend – er hätte nicht das Gefühl, daß wir ihn Philosophie lehrten – aber sie wäre die einzig streng richtige«. Was die streng richtige Methode ist, macht die Wissenschaft künftig unter sich aus, und nur wenn die Versuchung entsteht, dahinter noch irgend etwas mehr als jenen Schematismus des Verstehens zu sehen, muß die Philosophie eingreifen, um sich selbst ad absurdum zu führen. Das wird die letzte Lektion sein, die ein ursprünglich idealistischer Wittgenstein aus der Weltkriegserfahrung zieht, die so zuletzt als eine ›Apokalypse der Realität‹ erscheint. Das finale Schweigegebot über das, »wovon man nicht sprechen kann« (TLP7), ist nichts anderes mehr, als jene Endzeiterfahrung zum letzten Wort der Philosophie gemacht.
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Auszug aus einer entzauber ten Philosophie: Wit tgenstein als Schrif t steller oder Heiliger
An dieser Stelle in der Geschichte ›rächt‹ sich, wenn man so will, vom Standpunkt der Philosophie aus gesehen, die ideengeschichtliche Vorentscheidung Wittgensteins für die Moralistik. Sie kämpft zwar, um die Rittermetaphorik des Don Quixote noch einmal zu bemühen, mit offenem Visier: Der Moralist stellt sich als philosophisches Subjekt der Welt und der Geschichte, und konfrontiert sie mit seinen Vorstellungen von dem, was sie einmal gewesen sein mag, was sie im besten Fall wieder sein könnte und was sie überhaupt sein müßte, wenn sie als Welt in einem wesentlichen Sinne weiterbestehen wollte. Das macht ihn zugleich aber auch philosophisch anfällig, denn er setzt sich offen auch der Gefahr aus, von der Welt dementiert und gekränkt zu werden, und was am Ende noch schlimmer ist, als vollkommen gleichgültig hingenommen zu werden. Je klarer definiert seine Wertvorstellungen sind und um so präziser das Gerüst ausgearbeitet ist, in dem das Sein wieder eine letzte Begrenzung und Behausung finden soll, um so leichter ist das Dementi und um so deutlicher kann es ausfallen bis zu dem Punkt, an dem sich die philosophischen Ausgangsverhältnisse am Ende umkehren. Das Richterverhältnis über die Welt, das der ›abstrakte Idealismus‹ des Moralisten mit seinem kompromißlosen Vorleben von Anfang an für sich beansprucht, ist dann nicht mehr zu halten, und das Ich, das ontologisch über allem und jedem stehen wollte, wird selbst zur empirisch und soziologisch verfügbaren Koordinate. Wo dem Ich der reinen Moral und unumstößlichen Wahrheiten demonstriert wird, daß es selbst mit formalen Korrekturen nicht getan sein würde, selbst mit neuen Toleranzen nichts mehr auszurichten, Erweiterungen nur noch Notlösungen sein würden und eine Rebellion sinnlos, weil die Welt an sich schon genug rebelliert – da bleibt philosophisch gesehen nur eines übrig: die Selbstaufgabe. Dem Aufschwung zur Verschmelzung mit einer logischen Weltseele folgt notwendig der wegverkehrte Abschwung und eine neue Solidarität des Ich mit allem, ›was der Fall ist‹. Wenn Wittgenstein später launisch bemerkt: »ich ›have done with the world‹« (VB462), ist das nur noch die Retourkutsche für die Gleichgültigkeit, mit der die Welt dem Moralisten jetzt begegnet. »Oder vielleicht richtiger«, wie Wittgenstein in einer Bemerkung von 1931 ergänzt: »das ganze Resultat der ganzen Arbeit ist das Linksliegenlassen der Welt. (Das In-die-Rumpelkammer-werfen der ganzen Welt)« (VB463). Der Hauptstrom der Philosophie, wie er sich nach 1919 in Deutschland herausbildet, hat diese letzte Konsequenz dagegen vermeiden kön-
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nen, indem er sich grundsätzlich flexibler gegenüber der Geschichte zeigt und damit zugleich an spätere, modernere Traditionen anknüpft. Nimmt man aus der Geschichte das philosophische Subjekt, das sinnstiftende Genie, heraus, kann man zwar der Wiener Linie folgen und wie Wittgenstein, Kraus, Hofmannsthal und Schönberg auf die vollkommene Sinnlosigkeit des ganzen Geschehens schließen. Man kann aber auch, wie es Heidegger und Lukács und später viele andere tun und als Lektion aus dem intellektuellen Debakel gezogen haben, darauf schließen wollen, daß man das philosophische Subjekt nur an der falschen Stelle vermutet hat: nicht in der Geschichte, sondern hinter der Geschichte. Nicht dort, wo es im absurd gewordenen Geschehen untergeht, sondern sich vielmehr in seiner Verborgenheit bestätigt, je undurchsichtiger die Weltverhältnisse werden. Manchem intellektuellen Kriegsheimkehrer wird dies zuerst als eine Variation des alten Vorsehungsglaubens einleuchten. Die Literatur um Ernst Jünger hat das vielfach bestätigt. Der Erfolg von Karl Barths Interpretation des Römerbriefs ist das theologische Siegel darauf. Gott, »in unendlichem qualitativem Unterschied dem Menschen und allem Menschlichen gegenüberstehend«113, ist die sinnvolle Letztbestätigung für alles Absurde, das uns widerfährt. Und wer tatsächlich in der Lage ist, aus den Stahlgewittern zurückzukehren, kann die Unwahrscheinlichkeit des eigenen Durchkommens zwar leicht als einen sinnlosen Zufall der Geschichte verstehen, er kann aber auch geneigt sein, darin eine tiefere Absicht und einen verborgenen Sinn zu sehen. Er kann glauben, daß es Teil einer Aufgabe und die Fügung eines Geschicks war, dem man vertrauen muß so weit, daß doch nicht alles umsonst war und am Ende offenbar wird, zu welchem tieferen Zweck alles geschehen mußte. Freilich läßt sich dies nicht nur in den klassischen Termini eines Hinweises auf persönliche Heilsgewißheit ausdeuten 114. Der Gedanke hat auch politische wie metaphysische Folgen bis weit in die 30er Jahre hinein, versehen mit den verschiedensten Akzentsetzungen. Eine deutschnationale Heldenkultur, die verzweifelt auf Revanche spekuliert 115, speist sich daraus eben113 | K. Barth, Der Römerbrief, Zürich 1984, S. 315. 114 | Wie verschieden ausgedeutet dies werden kann, wird zuletzt in Jürgen Busches Zusammenstellung exemplarischer Biographien von 1. Weltkriegsheimkehrer anschaulich, in: J. Busche, Heldenprüfungen. Das verweigerte Erbe des Ersten Weltkriegs, München 2004. 115 | Vgl. R. Herzinger, »Wachtposten in der Götternacht des Nihilismus«, in: L. Heidbrink (Hg.), Entzauberte Zeit, München 1997, S. 184-209.
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so wie eine sozialistische Kairos-Kultur 116, die das Ende des Kapitalismus als Erlösung konzipiert. Jener Vorsehungsglaube erscheint noch esoterisch, aber bereits säkularisiert, in Ernst Blochs Geist der Utopie, wo die seit Hegel übliche Dialektik in der Geschichte mit ihren Auf- und Abschwüngen nur von der Katastrophe des Weltkriegs ›gestaucht‹ erscheint und so zuletzt (paradoxerweise) doch wieder Anlaß für neue Hoff nung gibt. Das Auf und Ab von Besserung und Verschlechterung, im Sinne der Aufklärung, ist mit dem Erreichen eines absoluten Tiefpunktes in der spekulativen Lage, jetzt auch einen absoluten Höhepunkt anzustreben. Erlösung wird zum erweiterten Geschichtsprogramm als die »Deutung eines Wachtraums«, als das »Eine, das stets Gesuchte, die eine Ahnung, das eine Gewissen, das eine Heil«, das sich »über allen Masken und abgelaufenen Kulturen«117 erhebt. Die Apokalypse ist dann die ultimative Vorstellung von einem Aufschwung in einer geschichtlichen Lage, in der eigentlich nichts mehr geht. Die alte Welt muß untergehen, das Böse exorziert werden, damit prophezeit werden kann: »incipit vita nova«. In Sachen Stilbildung sei daran erinnert, daß schon Fichte mit seiner Polemik gegen Napoleon als den Antichristen das, noch einmal mit Bloch gesprochen, »Wahre Wirkliche« sucht, »wo das bloß Tatsächliche schwindet«. Man denke auch an Richard Wagners dunkle Vorahnungen nach der gescheiterten Revolution von 1848 und vieles mehr, was an enttäuschter »Naherwartung«118 im ausgehenden 19. Jahrhundert entweder zu einer weiter gesteigerten Erwartungseuphorie oder aber weiter versonnenen Melancholie führen konnte. Geht man noch eine Säkularisierungsstufe tiefer, erscheint die Esoterik des ›abstrakten Idealismus‹ schon wieder in der Lage, konkrete geschichtliche Züge anzunehmen. Georg Lukács ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich dies erreichen läßt, wenn man nur die historischen Geduldsmargen passend verlängert. Der Geist der Utopie ist dann in der Lage, auf die Enttäuschung nicht mehr mit poetischer Flucht aus der Geschichte, 116 | Vgl. P. Tillich, »Kairos«, in: Der Widerstreit von Zeit und Raum. Schriften zur Geschichtsphilosophie (Gesammelte Werke 6), Stuttgart 1963, sowie die Vorgeschichte vergleichbarer Gedanken bei E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Bd. 1 u. 2 (1912), Tübingen 1994. 117 | E. Bloch, Der Geist der Utopie, zweite Fassung, Frankfurt a.M. 1964, S. 13. 118 | K. Vondung, »Zwischen Melancholie und Euphorie: Die Apokalypse«, in: L. Heidbrink (Hg.), Entzauberte Zeit, a.a.O., S. 167.
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sondern mit prosaischem Nacharbeiten zu reagieren. Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein 119 von 1923 ist in diesem Lichte der Versuch, der Kaderrevolution in Rußland nachträglich Legitimation zu verschaffen, indem das fehlende Klassenbewußtsein der Geschichte vom Intellektuellen einfach nachgereicht wird. Geschichtliches Nacharbeiten ist im Grunde auch noch das Programm der ›Kritischen Theorie‹ um Horkheimer und Adorno in den frühen 30er Jahren, nur daß jetzt nicht mehr im proletarischen Unterbau, sondern im bourgeoisen Überbau nachträglich missioniert werden muß. Voraus geht Siegfried Kracauers soziologische Feststellung, daß der Arbeiter in der Theorie der fortgeschrittenen Industriemoderne längst zu dem Angestellten 120 geworden ist, das Bewußtsein des Klassensubjektes entsprechend bürokratisch erweitert werden muß. Es gilt, wie Adorno dies bis zuletzt durchgehalten hat, mit der Klärung der historisch schwierigen Lage jetzt schon in der Hochkultur anzufangen. Und wo zuletzt die kapitalistische ›Ausweitung der Kampfzone‹ auch noch jene bürgerliche Sphäre eingenommen hat und die Annexion als ›Kulturindustrie‹ mit ihren Kunst-Börsen feiert, bleiben immer noch weitere Möglichkeiten, dem ein erfolgreiches Nachspiel zu geben. Es gilt dann, jene Avantgarden zu favorisieren, die in ihrer Aufklärung umso authentischer sind, je rätselhafter sie erscheinen. Man kann daraus lernen, daß es das immer noch Wahre gibt, daß es uns aber als solches nur noch als das ›ganz Andere‹ erscheinen kann. Wer will, kann eine analoge Historie des Zurückweichens der Theorie vor einer invasiven Wirklichkeit auch im konservativen Lager leicht nachvollziehen. Auch hier ist wiederum charakteristisch, daß der ›Glaube‹ – woran auch immer – doch nie ganz schwindet, wie viele Abstriche dann auch an der Hoff nung auf ›Besserung‹ gemacht werden müssen. Heidegger hat es in diesem Sinne verstanden, den Begriff des Existenzialismus schließlich bis zur Selbstaufgabe zu dehnen. War es anfangs die Vorstellung, das Individuum besitze aus sich heraus die Kraft zur äußersten Besinnung, gar die Verve zum lokalen Gegenentwurf gegen eine Kultur der Neuen Sachlichkeit, wird auch hier später die Hoff nung mehr und mehr auf das Große und Ganze verteilt und am Ende ins Ungewisse übertragen. Die Beiträge zur Philosophie lassen mitverfolgen, wie politische, philosophische, ästhetische und religiöse Konzepte in verschiede119 | G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxisti-
sche Dialektik, Berlin 1923. 120 | S. Kracauer, Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland, Berlin 1930.
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nen Wendungen der jeweils neuen Weltlage anverwandelt werden. Auch hier bleibt mit der Katastrophenerfahrung im Rücken letztlich nur der Verweis auf den unbeschreiblichen Erscheinungscharakter dessen, was unbedingt hätte kommen müssen und doch nicht eingetreten ist. Aber auch dies erscheint wiederum nur als die äußerste Dehnung einer Ereignisrhetorik 121, die noch im Ausbleiben ihrer Prophezeiung Nahrung für einen gesteigerten Attentismus findet. Wer zeitgemäß denken will, muß nur noch mehr das Gehör schärfen für alle intuitiven Botschaften, die aus dem Jenseits der nunmehr eingetretenen ›Weltnacht‹ herübergesprochen werden. Auch wenn die größte aller Kultur-Schlachten geschlagen scheint, mit eindeutigem Ausgang, ist doch die Sache nicht verloren. Carl Schmitts Rede vom künftigen ›Partisanentum‹ der politischen Theorie ist nur eine Variante, an der Überzeugung von der Hinter- und Untergründigkeit 122 der eigenen Sache festzuhalten und ihr auch noch aus der größten Defensive heraus eine mögliche Zukunft zu geben. Die französische (und später anglo-amerikanische) Postmoderne gibt dazu einen ganzen Strauß weiterer Möglichkeiten in ihrem ganzen Umfang, wie sie uns heute gerade noch vor Augen stehen: Ob man sich mehr oder weniger stoisch zu dem Weltgeschick stellt und einfach distanziert bleibt, wie Foucault es in seiner Geistesgeschichtsschreibung der 60er Jahre getan hat; oder aber sich in eine kabbalistische Zeichen-Euphorie flüchtet, noch in der tiefsten Resignation angesichts längst verlorener ›Sinn-Schlachten‹, wie bei dem Derrida der 70er und 80er Jahre; ob man spinozistisch auf einen ›deus sive natura‹ baut im sinnlos scheinenden Wechselspiel von Entropie und Negentropie, wie Deleuze und Guattari in den 90er Jahren; oder schließlich mit Negri und Hardt nach dem Jahrtausendwechsel wieder spätmarxistisch aufbegehrt gegen die Systemzwänge eines globalisierten Empire – derart, daß man die aktuelle Verzweiflung am Neo-Kapitalismus noch einmal umcodiert zur virtuellen Selbstbegeisterung einer Multitude 123 –, die Strategie der ›flexible response‹ erscheint als der Schlüssel zum Verständnis, wie eine beinahe 121 | Vgl. »Das Seyn und seine Erschweigung (die Sigetik)«, in: M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Frankfurt a.M. 1989, S. 78. 122 | Wird doch das »vorbürgerliche, vorindustrielle, vorkonventionelle Volk« als Hoffnungsträger rekrutiert, das als ›vor-politischer‹ Agent in geistige Frontstellung zu einer Moderne anonymer Verwaltung und Institutionen gebracht werden soll. C. Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkungen zum Begriff des Politischen (5. Auflage), Berlin 2002, S. 11. 123 | Vgl. A. Negri/M. Hardt, Empire – die neue Weltordnung, Frankfurt
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50-jährige belle époque der Philosophie vor dem dunklen Hintergrund eines ›Zeitalters der Extreme‹ möglich werden konnte. Im Kontrast versteht sich Wittgensteins Rückzugsgeste in ihrer ganzen Ausweglosigkeit. Sein Versagen wertet er so, daß schon die theologische Vorstellung von der Vorsehung keinen Trost mehr bringen kann, im Gegenteil. Für den Rest seines intellektuellen Lebens hadert er in seinen Tagebüchern vielleicht mit nichts so sehr wie mit der Annahme einer unvordenklichen ›Gnadenwahl‹. Obwohl er zu den unversehrten Heimkehrern unter den Kriegsteilnehmern zählt, kann er doch nicht mehr hoffen, deshalb zu den ›Auserwählten‹ für irgendeine weitere, höhere Mission zu gelten. Zu groß ist der Illusionsverlust, der ihn die ganze Vorstellung einer planmäßigen Überbietung unserer Menschenvernunft als nicht mehr denn eine weitere wissenschaftliche Annahme verstehen läßt, eine von der Art, wie sie uns in die Irre führen, wenn man ihr metaphysischen Glauben schenkt. Was bleibt, ist nur die Ernüchterung auch hier, das tiefere Menschenschicksal sei das oberflächliche Produkt anonymer Naturkräfte: »Wie Gott den Menschen beurteilt, das kann man sich gar nicht vorstellen. Wenn er dabei wirklich die Stärke der Versuchung und die Schwäche der Natur in Anschlag bringt, wen kann er dann verurteilen? Wenn aber nicht, so ergibt eben die Resultierende dieser beiden Kräfte das Ziel, zu dem er prädestiniert wurde. Er wurde also geschaffen, um entweder durch das Zusammenspiel der Kräfte zu siegen, oder unterzugehen. Und das ist überhaupt kein religiöser Gedanke, sondern eher eine wissenschaftliche Hypothese« (VB572, vgl. auch VB564; 559). Vergleichbar finden sich bei den Angeboten der Säkularisierung solcher paradoxer Rettungsgedanken durchgehend nur noch Verneinungen. Meist mit der Geste eines philosophischen Abschieds, so resignativ vorgetragen, daß klar ist, man solle sich im Detail besser nicht mehr darauf einlassen. Dem Gedanken einer Apokalypse, einem kollektiven Vorlaufen zum erlösenden Tode, folgt er beispielsweise nur noch soweit, daß sie als eine Option erscheint, alles einfach zuende zu bringen, vielleicht mit dem Vorteil, daß es auf einmal und plötzlich geschieht, und nicht mehr langsam und quälend. An die Vorstellung von einer ultimativen Besserung der Weltlage, an Vernichtung des Bösen und Triumph des Guten, wagt er nicht mehr zu denken. Der Trost besteht, wenn überhaupt, dann darin, daß derselbe ›Untergang des Abendlandes‹ vielleicht a.M. 2002; sowie dies., Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt a.M. 2004.
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nicht zweimal kommt. Die zugehörige Hoffnung in der Aussicht, daß die Vorstellung von der ewigen Wiederkehr desselben als Hypothese nichts taugen möge. Die ganze Kulturkritik, obwohl sie Wittgenstein verbal nicht fremd ist und er sie immer wieder artikuliert – permanent in den Vorworten zu seinen geplanten Veröffentlichungen beispielsweise –, taugt in Wahrheit nicht mehr für irgendeine Schlußfolgerung daraus, die auf die Notwendigkeit eines Bruchs mit der Geschichte, eines ultimativen ›Ereignisses‹ schließen ließe. »Die apokalyptische Ansicht der Welt ist eigentlich die, daß sich die Dinge nicht wiederholen. Es ist z.B. nicht unsinnig, zu glauben, daß das wissenschaftliche und technische Zeitalter der Anfang vom Ende der Menschheit ist; daß die Idee vom großen Fortschritt eine Verblendung ist, wie auch von der endlichen Erkenntnis der Wahrheit; daß an der wissenschaftlichen Erkenntnis nichts Gutes oder Wünschenswertes ist und daß die Menschheit, die nach ihr strebt, in eine Falle läuft. Es ist durchaus nicht klar, daß dies nicht so ist« (VB529). Wo die Erlösungskonzepte schließlich konkret werden, wird Wittgensteins Absage ironisch. Engagement wird zu Defaitismus. Die theoretische Weitung des Zielhorizontes erscheint als praktische Verblendung. »Der Mensch reagiert so: er sagt ›Nicht das!‹ – und kämpft es an. Daraus entstehen vielleicht Zustände, die ebenso unerträglich sind; und vielleicht ist dann die Kraft zu weiterer Revolte verausgabt. Man sagt ›Hätte der nicht das getan, so wäre das Übel nicht gekommen‹. Aber mit welchem Recht? Wer kennt die Gesetze, nach denen die Gesellschaft sich entwickelt? Ich bin überzeugt, daß auch der Gescheiteste keine Ahnung hat. Kämpfst Du, so kämpfst Du. Hoffst Du, so hoffst Du« (VB535). Auch auf ›konservativer Seite‹ sehen die Dinge nicht viel anders aus. Trotz der Nähe in der Theorieanlage, die man beispielsweise zwischen dem späten Wittgenstein und Heidegger feststellen kann 124, ist auch hier die Ferne Wittgensteins zu jeder programmatischen Einlassung auf eine zukunftsgerichtete Philosophie deutlich spürbar, bis hinein in die Wahl des Theorievokabulars. Kein Zweifel über eine Parallele in der ›Denkbewegung‹, die auch Wittgenstein selbst in einer Sitzung mit dem ›Wiener Kreis‹ zu Moritz Schlick bemerkt (dies am 30. Dezember 1929): »Ich kann mir wohl denken, was Heidegger mit ›Sein‹ und ›Angst‹ meint. Der
124 | Vgl. grundlegend dazu Th. Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 2003.
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Mensch hat den Trieb, gegen die Grenzen der Sprache anzurennen«125. Während sich Wittgenstein aber der Grenze stellt als einem Zeichen zur philosophischen Umkehr, steigert sie bei Heidegger schließlich noch den metaphysischen Elan. Heidegger sieht in der Endlichkeit unserer Sinnzuschreibungen eine noch tiefere ›Bewandtnis‹, in der unser Dasein wieder bedeutend und sinnvoll wird, wo Wittgenstein wie ein Ethnologe in fremden Kulturen teilnahmslos erscheinen will. ›Sprachspiele‹ haben nur noch Bedeutung für jene, die sich dem Zauber und der Magie eines an sich sinnlosen Spiels hingeben. Heidegger findet gute Gründe, seine Philosophie in metaphysische Weiten eines unvordenklichen Seinsgeschehens einzubetten. Wittgenstein sucht diametral entgegengesetzt nur noch eine Möglichkeit, sich vollkommenen zurückzuziehen in die Gewißheit, daß ihn all dies nichts mehr angehen möge, und hegt dabei die letzte Aussicht auf eine heilsame Selbstaufgabe der Philosophie. Selbst noch die postmodernen Anschlüsse an die Phänomenologie erscheinen in diesem Kontrastlicht als ein unhaltbares Engagement, so resigniert auch immer sie sich selbst ausgeben mögen. Es besteht grundsätzlich ein Unterschied, ob man eine metaphysische Hoff nung schwinden sieht und dennoch geneigt ist, in ihrem Entzug ihr weiter zu folgen, wie auch immer, ob in heroischer oder demütiger, trotziger oder nachgiebiger Haltung, in hochnervöser Gelassenheit oder resigniert-philosophischem Dauereinsatz; oder, im Gegenteil zu all dem, ob man, wie Wittgenstein, in der Enttäuschung noch einen Schritt weiter geht und nicht mehr nur einem verlorenen Glauben nachhängt und nachdenkt, sondern zuletzt und schließlich den Glauben an den Glauben selbst verliert. In einer solchen Situation bekommt die postmoderne Beteuerung einen anderen Klang, wenn behauptet wird, wie Derrida beispielsweise es immer wieder sagt, daß grundsätzlich nur noch verlorene Schlachten, ›des batailles perdues d’avance‹ geschlagen werden. Man kann nämlich auch in der Absurdität des Unternehmens noch einen letzten Grund finden, immer noch weiter zu machen, wenn man überhaupt den Sinn noch nicht verloren hat dafür, was es heißt, sich für eine Sache mit dem ganzen Aufwand seiner denkerischen Mittel einzusetzen. Man kämpft weiter, weiß dabei nur, daß es zu keinem Ende in irgendeinem Sinne mehr führen könnte, den man sich ursprünglich hätte erhoffen dürfen. Der Weg aber, der Ansatz und die Zielrichtung immerhin, wie unbestimmt sie selbst bei jedem vermeintlichen Zielverfolg geworden sein 125 | Br. McGuinness (Hg.), Wittgenstein und der Wiener Kreis (5. Auflage), Frankfurt a.M. 1996, S. 68.
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mögen, bleiben als geteilte Voraussetzung intakt und erhalten. Wittgenstein dagegen richtet seinen letzten philosophischen Einsatz nur noch gegen das philosophische Sich-Einsetzen, selbst für irgend etwas, was man zuvor noch für metaphysisch sinnvoll und nachvollziehbar halten konnte. Es ist eine Retro-Variante der philosophischen Anstrengung, die nicht mehr in der unmöglich gewordenen Abwehr philosophischer Kränkungen wirkt, sondern dieser Immunisierung selbst noch einmal in den Rücken fällt. Sie wehrt noch den Abwehrgedanken an sich ab und wird Teil eines Engagements, das in jedem Antrieb zur Wiederherstellung alter, unverwundeter Glaubens-Verhältnisse nur noch den Antrieb zu solchem Tun bekämpft, nicht mehr. Es ist ein Unternehmen, das Philosophie heißt, insofern es in der Tat noch daran gekoppelt ist, aber nur so, daß es in den Untersuchungen das Motiv für sein notwendiges Mißlingen pflanzt in dem Moment, in dem es feststellt, daß es auch schon am Werke ist. Es ist der grundsätzlich gemeinte Versuch, die Dinge schon voneinander zu entkoppeln an dem Punkt, an dem eine metaphysische Anspannung überhaupt nur sich abzeichnet. Das philosophische Widerspiel von Aufrechthaltung eines Konzeptes gegen die Anfechtungen von Bedeutungs- und Lebenswandel gilt es, als solches zu unterwandern. Es bleibt im besten Falle das ungehinderte, teilnahmslose Strömen von Bedeutungen, die sich zum natürlichen Zusammenspiel formen können und später auch wieder von alleine vergehen. Die Philosophie muß zuletzt Anschluß gewinnen an eine Gelassenheit, die sich nicht mehr mit Heidegger metaphysisch ausmessen läßt, sondern viel nüchterner auf einer quasi-naturalen Basis ermittelt werden muß. Schaut man hier auf die Wirkungen, wird man allerdings finden, daß mit Wittgensteins Resignation am Bedeutungs-Platonismus der Sprache nicht nur eine Tradition an einem bestimmten Punkt vor der Zeit zuende geht, jene des ›linguistic turn‹ nämlich, die im 20. Jahrhundert bis in die Postmoderne hinein präsent und dominant bleibt. Man wird auch finden, daß mit jener Entwertung philosophischer Sprachbedeutung auch zugleich Raum geschaffen wird für eine mögliche Neuorientierung. Überall dort, wo die Philosophie, vor allem seit den 60er Jahren, findet, daß neue, ›härtere‹ Realitäten maßgeblich sind für unseren letzten Blick auf die Welt, erscheint Wittgenstein wieder als ein möglicher Inspirator, ein Inspirator, der weit mehr an theoretischem Erbe und schulbildenden Elementen hinterlassen hat, als er es wollen konnte. Der Wittgensteinsche Abschied von der Metaphysik wird dann grundsätzlich als Chance zum Einstieg in eine Metabiologie gedacht. Metabiologie erscheint als das Ergebnis der Ernüchterung, wo sich die Bedeutung
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sprachlicher Zeichen nicht mehr in ihrer eigenen Sphäre bestimmt, sondern nur noch als Effekt einer Differenzierung von System und Umwelt verstehen läßt. Sprache ist dann nur einer von vielen Codes, die sich in der Natur wie in der Menschenwelt, in der Soziologie wie in der Kybernetik gleichermaßen finden und nach ein und demselben quasi-naturalen Schema ausbilden lassen. Humberto Maturana, Niklas Luhmann und Friedrich Kittler sind dafür zu Gewährsmännern geworden, so sie sich die Legitimität der Vergleichbarkeit ihrer Felder gegenseitig attestieren. Zieht man diese Linie zuende, hätte Wittgenstein damit zum Schluß auch nicht nur die Befreiung vom Sprachidealismus im 20. Jahrhundert vorbereitet, er wäre zugleich auch richtungsweisend im positiven Sinne geworden. Dort nämlich, wo seine Versuche der Depotenzierung mit einem Vokabular geschehen, das nicht nur subversiv, sondern auch konstitutiv wirken kann. Was er von Goethe und Spengler als Lehre von der Morphologie übernimmt und sie deutet als eine Prozeßlogik der Natur, die unsere Kultur bestimmt; was er aus der generellen Promotion des emphatisch verstandenen ›Lebens‹ als ein Apriori der Lebensphilosophie aufnimmt, wie er es schon beim Schopenhauer’schen Willensbegriff angelegt sieht und über Nietzsche, Bergson, Dilthey und Simmel, zuletzt Otto Weininger aktiv oder passiv rezipiert – das alles wäre dann nicht mehr nur ein großes Haltezeichen für die Philosophie, an dieser Stelle nicht mehr weiterzufragen, weil alles Wesentliche schon zuvor als Teil eines naturalen Formgeschehens entschieden wäre. Es wären zugleich auch Bausteine, wie die Philosophie in der Position eines distanzierten Beobachters die eigene Kultur noch einmal als Teil eines Großen und Ganzen betrachten könnte, das allerdings nicht mehr vom Geist durchdrungen wird, sondern vom anonymen Prozedere systemtheoretischen Wirtschaftens. Schließlich ergibt sich noch eine weitergehende und zukunftsträchtige Perspektive aus der Wittgensteinschen Strategie einer Depotenzierung aller Philosophie und ihre Rückbettung in natürlich-alltägliche Lebensverhältnisse. Nicht nur erscheinen unsere natürlichen Lebensverhältnisse als ein Rätsel, das man der Philosophie mit ihren Rationalitätsansprüchen immer wieder stellen kann, so daß es zu keiner dogmatischen Festlegung seitens des Denkens gegenüber dem Leben kommen kann. Nicht nur kann man, der Linie des Vitalismus folgend und von Goethe ausgehend, weiter noch nach internen Gestaltungsmustern und Dynamikverläufen jener Natursphäre des Menschen und seiner kulturellen Überformung fragen. Die Wittgensteinsche Rückführung von Metaphysik auf Metabiologie und Morphologie hat eine letzte Pointe dort, wo die
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Biologie menschlicher Lebensverhältnisse dazuhin noch als das Medium gedacht werden kann, in dem und durch es hindurch der Mensch seine Kontakte zur Welt überhaupt erst aufbauen und unterhalten kann. Was der späteste Wittgenstein in Über Gewißheit ein ›Weltbild‹ nannte, wäre dann als eine Vorlage für eine Philosophie zu verstehen, die sich mit den Neurowissenschaften und ihren spektakulären Forschungen der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte verbindet und in unseren hirnphysiologischen Anlagen, Bedingungen der Möglichkeit für unsere kognitiven wie affektiven Weltkontakte sieht. Besonders aufschlußreich wird sich Wittgensteins späte Rede vom ›Weltbild‹ dabei erweisen, insofern Wittgenstein darin schon nicht mehr von einem theoretischen und durchreflektierten Zugang zur Welt nach dem Vorbild der Wissenschaften ausgeht, sondern von unseren intuitiven Gewißheiten und Sicherheiten im Weltumgang. ›Weltbild‹ ist das, was wir zunächst und zumeist als fraglos richtig betrachten, in seiner Gesamtheit betrachtet. Und hier schließen die Neurowissenschaften mit Entdeckungen an, die uns auf hirnbiologischer Ebene ebenfalls verstehen lassen, daß es Mechanismen gibt, die sowohl präreflexiv als auch vorsprachlich agieren und uns doch bereits mit einem ›Bild‹ der Welt versorgen, in dem wir uns im Alltag erfolgreich orientieren und im Normalfall fast immer richtig liegen. Für eine zukunftsweisende Rezeption Wittgensteins kommt es demnach darauf an, so stellt sich mir die Lage jedenfalls dar, das späte Weltbilddenken Wittgensteins als eine mediale Analyse zu verstehen und damit an das Medium unserer hirnphysiologischen Bildgebung anzuschließen. Fraglos ist dabei, daß die späte Theorieabstinenz Wittgensteins überwunden und ergänzt werden muß durch einschlägige Disziplinen, von denen für die Lebensweltanalyse wie für die Subjektivitätsfragen zweifellos die Phänomenologie die wichtigste ist. Dennoch bietet sich hier eine Chance, Wittgensteins Grundanliegen als eines anzusehen, das jenseits seiner persönlichen Enttäuschung, die ihn hat zum Moralisten werden lassen, auch als ein positiver Ausdruck einer Zeit erscheint, die für ihn das Sinnbild der Moderne war und die er als Philosoph versucht hat, gültig in Gedanken zu fassen.
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Vor diesem Hintergrund gibt es zwei wesentliche Möglichkeiten, wie man mit Wittgenstein als einem enttäuschten Moralisten umgehen kann. Einmal kann man seine Philosophie seit dem Ende und dem Vorwort des Tractatus ausschließlich als eine Form von Literatur betrachten, die im Einklang mit den Untergangsszenarien der Wiener DekadenzKultur nur noch ein Staunen dokumentiert, wie es nach den Letzten Tagen der Menschheit überhaupt noch im emphatischen Sinne ›etwas gibt, und nicht vielmehr nichts‹. Es ist der anfangs beschriebene Weg, auf dem nur noch die eine Option offen scheint, die darin besteht, daß man »die Welt nur noch als Wunder begreifen kann, als unwahrscheinliches Spektakel, das man zu beschreiben verlangt, an dem man aber eigentlich nicht mehr teilnehmen möchte«. In einer Gesprächsnotiz findet sich bei Wittgenstein dazu eine passende Metapher. Sie belehrt darüber, was es heißt, aus der Weltfremde zurückzukehren und dabei das Gefühl nicht mehr loszuwerden, daß womöglich dort das bessere Zuhause ist und nicht in dem, was man sonst immer für vertraut und sinnvoll gehalten hatte: »In the city streets are nicely laid out. And you drive on the right and you have traffic lights etc. There are rules. When you leave the city, there are still roads, but no traffic lights. And when you get far off there are no roads, no lights, no rules, nothing to guide you. It’s all woods. And when you return to the city you may feel that the rules are wrong, that there should be no rules«126. Für den Heimkehrer aus einem Zustand, in dem alle Kulturevidenz auf Null gesunken ist, sind alle bestehenden Regelungen nur noch Konvention, und wenn sie überhaupt Beachtung verdienen, dann nur deshalb, weil sie zwar irgendwie funktionieren, man aber nicht mehr glauben will und kann, daß sie in einem tieferen Sinne etwas zu bedeuten haben. Die Wahrnehmung bleibt jene eines Beobachters, der, obwohl wieder mitten im Geschehen, allem bestehenden Sinn entrückt bleibt. Die Ordnung erscheint als eine, die zwar besteht, aber auch so oder anders ebensogut sein könnte. Im Grunde könnte sie auch überhaupt nicht sein. Das Nachdenken schließlich verfolgt demnach nur noch das Ansinnen, aus durchlittener Desillusionierung und Entfernung von allem Selbstverständlichen, das Staunen über die eigene Naivität zur Sprache zu bringen. Und wo sie dies tut und im Rahmen einer Lehre auftritt, ist es der Versuch, aus der metaphysisch gewordenen 126 | O. K. Bouwsma: Wittgenstein. Conversations 1949-1951. Indianapolis 1986, S. 35.
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Verbitterung über die Verirrung schließlich noch eine Philosophie zu machen. Sie tritt dann auf als eine Form der Warnung an alle und sich selbst, nicht denselben Fehler zweimal zu begehen und dort etwas zu vermuten, wo es sich im ›learning the hard way‹ erwiesen hat, daß hinter aller Aussicht auf Substanz und Ewigkeit zuletzt gar nichts ist, was hält. Die zweite Option besteht umgekehrt darin, die Literatur zwar immer noch als Literatur zu verstehen, das metaphysische Vakuum aber, das Wittgenstein damit erzeugen will, erneut mit Inhalten zu füllen. Die Entdeckung Wittgensteins als Literaten in den vergangenen Dekaden geht damit einher und erscheint umso interessanter, als damit vor allem ein Zug zur Sachlichkeit und genaueren Sicht auf den Anspruch der Texte verbunden ist. Die Evidenz setzt sich durch, daß mit den eingespielten Deutungsmustern die Sache nicht getroffen wird, solange man nur zwischen einer Fortsetzung in der formalen Sprachanalytik oder der Sprachpragmatik wählen kann. Interessant und nachteilig ist in dem Zusammenhang, daß der von Wittgenstein anvisierte Theoriepessimismus in seiner Literatur auch in den neueren Deutungen nicht durchgehalten werden kann. Das liegt nicht zuletzt an der Konkurrenz, in der sich die Literatur-Wittgenstein-Thesen zu den optimistischen Wirkungsgeschichten im Angloamerikanischen zwangsläufig sehen müssen. Man kann die These wagen, daß die neueren Arbeiten nicht so sehr als Opposition zu den bisherigen Vereinnahmungen erscheinen – als Gegengewicht beispielsweise zum Szientismus (ausgehend vom Wiener Kreis), zum ›Empirizismus‹ Quines, zum Pragmatismus Davidsons oder Skeptizismus Kripkes (und all derer, die in der einen oder anderen Weise ihnen folgen) –, sondern weit eher als eine Ergänzung, bei der es darum geht, die dort herrschende positive metaphysische Grundstimmung in unserem möglichen Zugang zur Welt auf die eher unmethodischen Aspekte der Wittgensteinschen Philosophie zu übertragen. An der Stelle, an der im folgenden vom New Wittgenstein gesprochen wird, ist das Neue an Wittgenstein nicht eine Neigung zur Literatur, die mit der methodengeleiteten Philosophie nichts mehr zu tun haben will, sondern umgekehrt eine Literaturanlage, die den Erkenntnisoptimismus der Philosophie nur auf andere Weise und bestens bestätigt. Wittgenstein als Literat hat offenbar vor allem die Aufgabe, ›performativ‹ auszuformulieren, was in den Urteilen der Wissenschaften ›propositional‹ behauptet wird. Ausgangspunkt für jene zweite Option der Literaturverwendung ist entsprechend die Unterscheidung einer Wissenschaftssprache von einer Literatursprache: »Wittgenstein hat seine Philosophie in einer Zeit ent-
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wickelt, in der die meisten analytischen Philosophen unter dem Einfluß von Russells Analyse der definiten Kennzeichnungen versucht haben, das Phänomen der Sprache auf der Grundlage der Begriffe Wahrheit und Referenz zu erklären. Beide Aspekte dieses referenziellen Modells der Sprache sind allerdings nicht geeignet, um die literarische Sprache zu fassen«127. Literarische Sprachen bringen zum einen das Problem der Fiktionalität ins Spiel, das sich nicht leicht mit dem Referenz-Modell der Sprache in Einklang bringen läßt (worauf referieren erfundene Geschichten, erfundene Figuren, erfundene Gegenstände?); zum anderen haben sie aber auch die Eigenheit, daß der Aufschluß, den sie dem Leser bieten, sich nicht nur auf das Was der Darstellung bezieht (wie in jeder Wissenschaft), sondern ebensosehr auf das Wie ihrer Präsentation. Die Betrachtung Wittgensteins als Literaten reiht sich damit generell in die Debatte um ›Stil-Fragen‹ ein, wie sie seit der Romantik auch philosophischen Wert zugesprochen bekommen. Voraussetzen muß man mit Hegel die historische Einsicht, daß auch die Literatur als Teil moderner Kunst ihre darstellerischen Möglichkeiten als Mimesis von Welt im wesentlichen ausgereizt hat und zuletzt auf ihre eigenen Darstellungsmittel zurückkommen, sie reflektieren und thematisieren muß. Seitdem gilt zurecht die moderne Kunst im Bruch mit ihren Vorgängern als diejenige, die gezwungen ist, ihre Entstehungsbedingungen noch in ihrem Werk zumindest durchscheinen zu lassen, wo diese nicht zuletzt zum einzigen gültigen Thema der Kunst erhoben werden. Man kann dies phänomenologisch ausbuchstabieren und als eine Form von ›Epoché‹ ansetzen, ein Abstandnehmen, in dem man sich die Primär-Intention auf den Gegenstand in der Welt noch einmal separat vor Augen stellt und damit die Aufmerksamkeit auf die Weise der Bezugnahme selbst zurücklenkt – was dann einer Intention zweiter Ordnung entspricht. Man kann dies auch sprachanalytisch ausformulieren und dann mit Nelson Goodman128 unterscheiden zwischen ›Sinn und Bedeutung‹ (in der Nomenklatur Freges), oder zwischen Extension und Intension, Signifi kant und Signifikat, und dann finden, die Kunst sei wie die Sprache eine Form, auf diese Ebenendifferenz selbst erfolgreich Bezug zu nehmen. Mit Wittgenstein gilt
127 | W. Huemer, »Wittgensteins Hintergrund: das referenzielle Modell der Sprache«, in: J. Gibson/ders. (Hg.), Wittgenstein und die Literatur, Frankfurt a.M. 2006, S. 14. 128 | Vgl. N. Goodman, Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a.M. 1997.
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es jetzt, »einer einseitigen Orientierung der Philosophie an der Wahrheit im Sinne der Aussagewahrheit entgegenzutreten«129. Diese zweite Option kennt in der Zwischenzeit einige Gradunterschiede und läßt sich folgendermaßen durchstufen: • Man kann zumindest behaupten, daß die Selbstreflexion der Sprache ohne jeden weiteren Hintergrund und tiefere Absicht geschieht. Die Literatur, die so entsteht, will gar nichts mehr sagen, sondern einzig auf ihr zufälliges und sinnloses Dahinströmen verweisen. Das ist in der radikalsten Ausformulierung die Position des New Wittgenstein von Cora Diamond und James Conant. Sie läuft zwar theoretisch auf eine Art ›l’art pour l’art‹ hinaus, zeigt aber praktisch sehr deutliche Züge eines höchsten moralischen Engagements, das sich hinter dieser Form von Teilnahmslosigkeit in Wahrheit nur verbirgt. • Man kann wollen und behaupten, daß noch in der bloßen Infragestellung der Sprache als Medium der Welterschließung sich schon wieder eine ganze Theorie über die Konsistenz und Kohärenz des Mediums selbst findet. Dies hat vor allem die kontinentale Rezeption herausgearbeitet. Sie reicht von hermeneutischen Ansätzen (Erich Heller, Rüdiger Bubner) bis zu postmodernen Ansätzen (Manfred Frank). • Richard Rorty und Stanley Cavell machen schließlich verständlich, wie aus dieser Feststellung eine radikale Umcodierung Wittgensteinscher Resignation in Kultur-Optimismus möglich erscheint. Bei Rorty geschieht dies in pragmatischer und naturalistischer Erdung vormals idealer sprachlicher Bedeutungen. Durch diese Depotenzierung der Philosophie würde erst der Raum für die freie, liberale Entfaltung sprachlicher Kreativität geschaffen. Stanley Cavell geht noch einen Schritt weiter mit seinem Ansatz und spricht von einer praktischen ›Versöhnung‹, die mit dem Abschied von der Theorie in der Literatur bei Wittgenstein verbunden sein soll. Er sieht im Gegensatz zu Rorty nicht nur eine partielle Erweiterung unserer moralischen Sensibilität als Ziel, sondern eine gänzliche Rückversetzung (psychologisch wie lebenspraktisch) in den Naturzustand einer ursprünglich gebliebenen Liebe und Güte. In ihr hätte noch kein skeptischer Gedanke das naive Glück menschlicher Beziehungen verfälscht, und zu ihr gilt es in einer Form von ›remarriage‹ zurückzufinden. Die besondere Ori129 | G. Gabriel, »Literarische Form und nicht-propositionale Erkenntnis in der Philosophie«, in: ders. (Hg.), Literarische Formen der Philosophie, Stuttgart 1990, S. 1.
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ginalität Cavells zeigt sich bei diesem Ansatz schließlich darin, daß er den Rückweg von den Zeichen zum Leben nicht nur symbolisch faßt, sondern auch medial mitvollzieht. Schon in der Literatur wird so eine Aphoristik gegenüber den geschlossenen Darstellungsformen bevorzugt, gegenüber der Literatur noch einmal das Medium Film, das die ›Transparenz‹ auf sein Gemachtsein durch seine medialen Stilisierungen und Festlegungen deutlicher macht. Das Medium ist dann, frei nach Wittgenstein, zuletzt nur noch dazu da, sich ganz zurückzunehmen und Platz zu machen für eine Rückbettung unserer Darstellungskünste in einen Lebensstrom, in dem sich die theoretisch verkomplizierten Dinge praktisch von ganz alleine fügen. Daß jene versöhnliche Sicht rein ›cineastisch‹ nicht ohne den Rückgriff auf die Hollywood-Komödien der 40er Jahre auskommt, sei noch vorausgeschickt. New Wit tgenstein Cora Diamond
Das große Aufsehen, das der New Wittgenstein in der Fachdiskussion machen konnte, scheint vordergründig einem internen Schulstreit verdankt 130. Es geht um die alte Frage nach den zwei Wittgensteinen, der Kohärenz des Œeuvres, um den Zusammenhang von Früh- und Spätwerk. Die neuerliche Diskussion plädiert für eine einheitliche Werksicht und versucht dazu, den Tractatus mit den Augen der Philosophischen Untersuchungen zu lesen und auf eine Linie zu bringen. Genauer steht zur Diskussion, ob der Tractatus Ausdruck eines Technizismus der Frühphilosophie ist, auf die sich noch der ›logische Empirismus‹ berufen konnte (zuweilen ergänzt durch einen Mystizismus für all das, was dann unerklärbar bleibt 131); oder ob er bereits eine Vorausschau auf den Pragmatismus der Spätphilosophie bietet, vielleicht selbst schon deren 130 | Zur Vorgeschichte des New Wittgenstein vgl. W. Kienzler, »Neue Lektüren von Wittgensteins ›Logisch-Philosophischer Abhandlung‹«, in: Philosophische Rundschau 55 (2008), Heft 2, S. 95-122. 131 | James Conant sieht dies als eine beinahe unausweichliche Allianz, wo die literarische Natur des Tractatus von entgegengesetzten Seiten gleichermaßen konsequent übersehen wird: vgl. J. Conant, »Frege and Early Wittgenstein«, in: A. Crary/R. Read (Hg.), The New Wittgenstein, London und New York 2000, S. 185ff.
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Beginn darstellt. Für letzteres treten die Anhänger des New Wittgenstein ein, zu denen sich in loser Gruppierung um Cora Diamond und James Conant auch Stanley Cavell und John McDowell und andere mehr rechnen132. Für ihr Anliegen knüpfen sie an die Wittgensteinsche Vorgabe aus dem Tractatus an, Philosophie sei keine Lehre, sondern eine Lebensform, und verstehen die PU als das spätere Unternehmen, diese Ur-Einsicht ›therapeutisch‹ immer und immer wieder neu zu generieren. Sachlich bedeutet das eine Festlegung auf die Depotenzierung philosophischer Lehrweisheiten, die als Metaphysik erscheinen und in Wahrheit als mißverstandene Alltagsäußerungen verstanden werden müssen. Zuletzt ist es der überlegene Standpunkt der Philosophie, den es als ein ›view from nowhere‹ zu unterminieren gilt. Auf die besondere Disziplin der Sprachphilosophie gemünzt heißt das den Nachweis zu erbringen, schon das ganze Sprachmodell des frühen Wittgenstein hätte zu nichts anderem dienen sollen, als die überzogenen Wahrheitsansprüche der Theorie – und damit zugleich einer jeden philosophischen Theorie – in radikaler Weise ad absurdum zu führen. Weil der Anschein in Stil und Form des Tractatus zunächst dagegen spricht, ist die These: Der Tractatus ist der Strategie nach ein ausgelegter Köder, der nur aussieht wie eine selbstbewußte Theorie, in Wahrheit aber vom Leser fordert, hinter die Sätze zurückzugehen und dort den Autor Wittgenstein wahrzunehmen. Mit ihm soll er soweit mitfühlen, daß auch ihm, dem Leser, evident wird, nichts von dem, was gesagt ist, ist als solches gemeint. Es ist nur ein Anlaß, sich von allem Wahrheitsanspruch des logischen Weltbildes zu distanzieren und das Theoriegebäude als Teil einer literarischen Anstrengung zu verstehen, die als ›debunking‹ ihren eigentlichen Zweck erfüllt. Cora Diamond buchstabiert diese Position in der Nachfolge Schleiermachers in Richtung einer Hermeneutik der Einfühlung aus, mit deren Hilfe es uns gelingen sollte, genug Phantasie zu entwickeln, um nachzuvollziehen, was im Menschen Wittgenstein vorgeht, wenn er so schreibt, wie er eben schreibt 133. Dagegen hat P.M.S. Hacker Bedenken angemeldet, die 132 | Vgl. A. Crary/R. Read (Hg.), The New Wittgenstein, a.a.O. 133 | »My point is then, that the Tractatus, in its understanding of itself as addressed to those who are in the grip of philosophical nonsense, and in its understandings of the kind of demands it makes on its readers, supposes a kind of imaginative activity, an exercise of the capacity to enter into the taking of nonsense for sense, of the capacity to share imaginatively the inclination that one is thinking something in it« (C. Diamond, »Ethic, Imagination, and the Method of Wittgenstein’s Tractatus«, in: Crary/Read (Hg.), a.a.O, S. 157f).
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man haben kann, oder sogar haben muß, wenn man sich in der Tat die Frage nach dem Theoriecharakter des Tractatus stellt. Bleibt es doch bei einer schwer zu erklärenden Disproportion, auch wenn man der These des New Wittgenstein gegenüber wohlgesonnen ist, daß der ganze Aufwand einer wohl ausformulierten Sprachanalytik einzig den Zweck verfolgen sollte, nur ihre eigene Möglichkeit in ein schräges Licht zu stellen. Wie soll man, mit Hacker gefragt, die vielen affirmativen Äußerungen Wittgensteins während der Zeit der Tractatus-Redaktion in Wahrheit verstehen, wenn er es schon von Anfang an nur negativ und nicht wirklich ernst gemeint haben sollte134. Und Kommentatoren des Streits legen das Argument nach, das leicht nachvollziehbar ist und nur folgendes zu bedenken gibt: wenn es sich wirklich beim Tractatus um eine List handelt, dann ist sie Wittgenstein so gut gelungen, daß sie am Ende ihren eigentlichen Effekt grandios verfehlt hat. Denn die Strategie wäre so raffiniert gewesen, daß sie beinahe allen und beinahe für immer auch hätte gut verborgen bleiben können. Kann man dann aber noch von einer tieferen Absicht und sinnvollen Text-Strategie reden?135 Jener Schulstreit allerdings scheint im vorliegenden Zusammenhang nicht das Entscheidende. Vielleicht ist er dies noch nicht einmal für die Wortführer, wenn man nur die Vehemenz und Nachhaltigkeit verstehen will, mit der die Auseinandersetzung zuletzt geführt wird. In traditionellem Lichte besehen erscheint es zumindest erstaunlich, daß es offenbar weniger um den theoretischen Sinn und Unsinn des Tractatus geht, son134 | Hacker fragt sicher zurecht, was dann aus der ganzen Auseinandersetzung mit Frege und Russell wird (vgl. P.M.S. Hacker, »Was he trying to whistle it?« in: Crary/Read (Hg.), a.a.O., S. 368), was aus den »pre-Tractatus writings« (ebd., S. 371), was aus den Briefen aus der Zeit (vgl. ebd., S. 372) und den »Diskussionen mit den Freunden« (ebd., S. 373), dem Vortrag vor der »Aristotelian Society« (ebd., S. 374) sowie den »Vorlesungen und Diskussionen« (ebd., S. 376). Müßte man nicht behaupten, dies wäre dann alles auch nicht ernst gemeint gewesen und über einen Zeitraum von 6 bis 8 Jahren hinweg einfach nur schiere Ironie? 135 | Vgl. stellvertretend Diarmuid Costello zur Frage nach Sinn und Unsinn der Literaturthese der Neu-Wittgensteinianer: »›Making Sense‹ of Nonsense: Conant and Diamond Read Wittgenstein’s Tractatus«, in: B. Stocker (Hg.), Post-Analytic Tractatus, Ashgate Aldershot/Burlington 2004, S. 119: »If the Tractatus is the elaborate ruse suggested by their account, then it is a highly successful one – so successful that it has failed to have the effect on is readers that their account suggests that Wittgenstein would have wanted«.
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dern vielmehr darum, welcher Hintersinn sich hinter der neuen Literaturzuordnung verbirgt. Es ist nämlich ein Grundzug der New Wittgensteinianer, daß die klassische Metaphysikkritik nicht alleine steht und als Selbstzweck erscheint. ›Therapie‹ bedeutet in diesen Zusammenhängen nicht nur Abschied von unhaltbaren Theoriestandpunkten, der ›Sicht von Nirgendwo‹ auf die Welt. Sie bedeutet vielmehr eine dezidiert sittliche Stellungnahme. Die Autoren sehen sich berechtigt, den alten Wittgensteinschen Anspruch, es handele sich beim Tractatus, mit all seinem Nichtgesagten, um ein Buch der Ethik, auf eine eigenwillige Weise einzulösen. Diamond und Conant insinuieren, der Abbau metaphysischer Prätensionen sei zugleich eine Form, mit ethischer Hybris umzugehen. Diamond unumwunden: »The attempt to articulate Wittgenstein’s views on ethics leads one, I want to suggest, to an idea of the understanding of someone who utters nonsense and an idea of someone – oneself or someone else – to whom one ascribes an evil will« 136. Die Redeweise in der Theorie verrät zugleich die Gefahr einer fundamentalen sittlichen Verfehlung. Warum dies so ist, bleibt allerdings offen, einschlägige Kontexte unberührt. Und um es in den Grundzügen zu verstehen, muß man zuerst eine erstaunliche philosophiegeschichtliche Umwertung gutheißen. Diamond versteht Wittgenstein offenbar als einen radikalisierten Kantianer. Dies wäre – wegen des transzendentalphilosophischen Erbes im Generellen, wegen des Weiningerschen Idealismus im Speziellen – noch nicht so erstaunlich, aber der Umstand, daß schon Kant offenbar nichts anderes im Sinne gehabt haben soll, als ein »refusal of an empirical psychology of the evil will« 137, dann schon. So müßte man annehmen, die ethische Verfehlung sei schon bei Kant ganz aus dem Widerspiel von Neigung und Pflicht, natürlicher Triebfeder und Norm, von kategorischem Imperativ und persönlicher Eitelkeit des Menschen herausgenommen. Das ethische Ringen findet nicht zwischen Vernunft und Egoismus statt, sondern in einer beinahe gnostischen 138 Tiefe des Subjekts, in einem Bereich, »dark and sinister in the human heart«. Womit wir es zu tun haben, ist demnach ein »unnahbares Böses«, das als Problem Kant Wittgenstein vererbt habe. Wittgensteins scheinbar neutrale und nüchterne Sprachanalyse verbirgt demnach nur nach außen sein seeli136 | C. Diamond, »Ethics, Imagination and the Method of Wittgenstein’s Tractatus«, a.a.O., S. 167. 137 | Ebd., S. 170. 138 | Die Rede ist nicht umsonst vom »supernatural evil« im Kontrast zum nur natürlichem Bösen (ebd., S. 171).
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sches Ringen mit einem wahren Menschheitsfeind139. Die Blickrichtung, die der Tractatus einnimmt, indem er die Welt als ein abgeschlossenes Ganzes wahrnehmen will, »outside the world«140 sozusagen, ist nach Diamond zugleich die einer ethischen Allmachtsposition, und jene Allmachtsposition, die in ihrer Anmaßung etwas geradezu Teuflisches hat, ist es, die Wittgenstein von Anfang an mit seinem Tractatus austreiben wollte. So ist das ›literarische‹ Verfahren der Depotenzierung metaphysischer Sinnvermutungen zugleich eine Form der ethischen Teufelsaustreibung. Wer letztere Formulierung für übertrieben hält, kann auf Diamonds ein wenig willkürliche Illustrationen ihrer These durch Zitate aus den Grimmschen Märchen verwiesen werden. Hier wird Wittgensteins Raunen über Rumpelstilzchens »Ach wie gut daß niemand weiß …« – als der beherzte Blick in ethische Abgründe gedeutet 141. 139 | Daß diese Vermutung im Umkreis der besprochenen Wittgensteinliteratur nicht eine Einzelmeinung, sondern eher ›common sense‹ ist, dafür steht zum Beispiel folgende Aussage von Philip R. Shields: »Throughout Wittgenstein’s philosophical writings there is an expressed concern that all is not well with the world, or more specifically, that all is not well with language. He repeatedly speaks of being ›seduced‹ by logic, ›misled‹ by grammar and ›tempted‹ both by appearances and ideals. One form this deeply rooted apprehension takes is the abiding belief that natural languages hide their true structure, ›surface‹ grammar hides the underlying ›depth‹ grammar. While it is not immediately obvious that such problems deserve to be compared to religious problems more than, for example, to those of engineering or the hard sciences, it is not without justification that Anthony Kenny notes that there is an air of original sin in Wittgenstein’s attitude to language« (P. Shields, Logic and Sin in The Writings of Ludwig Wittgenstein, Chicago 1997, S. 5). 140 | Diamond, a.a.O., S. 171. 141 | An dem romantischen Zug ist prinzipiell interessant, wie zuletzt, gegen alle Beteuerung, den sozialen Charakter von Wittgensteins Sprachspielen ernst zu nehmen, doch immer wieder am Bedeutungsschema von Subjekt und Objekt, von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, bei der letzten Wahrheitsfindung festgehalten wird. Was als echte, wahre, genuine Äußerung verstanden werden darf, ist so zuletzt nur als Herausarbeiten einer tief verborgenen Intuition, einer »inner experience« (242ff ), zu verstehen. Richard Eldridge hat dies im Anschluß an Wittgensteins »Romanticism« herausgearbeitet, den er in einer direkten Linie von Hegel und Kant und Fichte bis Schiller und Schlegel sieht. Sie alle stehen für »expressive freedom« (6), und wie es schon Charles Taylor mit seinem Hegel verstanden hat, ist jede Form von Philosophie zuletzt
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James Conant geht dieselbe Deutung zwar analytischer und reflektierter an, am Ende scheint er sich aber doch einig mit Diamond über die ethisch-metaphysische Stoßrichtung. Zum entscheidenden Stilmerkmal gegenüber allen gängigen Tractatus-Deutungen macht Conant den Umstand, daß alle finden wollen, es würde am Ende bei Wittgenstein doch etwas ›gezeigt‹, wo der Tractatus das Wesentliche verschweigt, weil er es nicht ›sagen‹ kann. Was sich für Wittgenstein zeigen sollte, ist natürlich die ›logische Struktur‹ der Welt. Keine Frage ist, daß der späte Wittgenstein nicht mehr findet, daß sich überhaupt etwas Derartiges zeigt, im Gegenteil, daß es der Philosophie darum zu tun sein muß, jene Illusion einer verläßlichen Weltstruktur immer von neuem nur aufzunehmen, um sie dann geduldig wieder zu zerstreuen. Das sieht Conant wie Diamond schon als die ›Moral‹ des Tractatus 142. Auch die Vordatierung jener späten Einstellung auf die frühe Position wäre wieder, wie bei Diamond ja auch, nur schulintern ein Grund für scharfsinnige Auseinandersetzungen. Der Kern der Debatte liegt aber auch hier einmal mehr darin, daß es in Wahrheit nicht um Metaphysik, sondern um Religion geht, um den Umstand, daß Wittgenstein mit seinem literarischen Verfahren nicht nur theoretische Sinn-Ansprüche absoluter Natur abbaut, sondern zugleich ethische auf baut. Die Depotenzierung der moralischen Überlegenheit soll ganz im Sinne Kierkegaards die Einübung einer Art Demutsgeste bedeuten, in deren Vollzug der Autor sich und den Leser ›therapiert‹. Er soll nicht glauben, daß es ihm möglich sein könne, einen philosophisch absoluten Standpunkt einzunehmen. Indem er darin das Böse erkennt, gilt es umgekehrt, den Weg zu Gott zurückzufi nden. Wie Kiereine Form von ›expressivism‹. Richard Eldridge, Leading a Human Life, London, 1997. Nicht umsonst schließt die letzte Bemerkung der Zettel mit der Bemerkung: »›Gott kannst du nicht mit einem anderen reden hören, sondern nur, wenn du der Angeredete bist‹ – Das ist eine grammatische Bemerkung« (L. Wittgenstein, Zettel, in: ders., Über Gewißheit, a.a.O., S. 443). Auch was expressivistisch aus dem Ich ans Licht kommt, ist schon sozialisiert, insofern es nur sprachlich ist, gerade und selbst, wenn es als Wahrheit und Offenbarung von Gott dem Empfänger ins Bewußtsein gelegt wurde. 142 | Vgl. Conants Fazit: »The aim of the work is to show us that beyond the limits of language lies – not ineffable truth, but rather – (as the preface of the Tractatus warns) einfach Unsinn, simply nonsense« (J. Conant, »Frege and the Early Wittgenstein«, in: Crary/Read (Hg.), a.a.O., S. 198).
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kegaard gegen die Hybris des idealistischen Systemdenkens aufbegehrt hat, so Wittgenstein gegen den Götzendienst der philosophischen Logik. Der Autor des Tractatus ist damit seelenverwandt mit dem Kierkegaardschen Pseudonym des Johannes Climacus, der als Humorist sein Buch nur schreibt, um es am Ende zu revozieren143. Wenn nach außen hin der Eindruck erweckt wird, der New Wittgenstein wolle mit seiner »austere nonsense«144-Vermutung, die am Ende schon des Tractatus nichts Sinnvolles mehr stehen läßt, einen Beitrag zur Rückführung von Philosophie auf Literatur leisten, ist diese Zuschreibung womöglich vorschnell. Es sei denn, man setzt hinzu, daß es sich hier um eine erbauliche Literatur handelt: fabelhafte Märchen und Erzählungen, in denen wir etwas über die böse, gottabgewandte Seite unseres Selbst lernen, oder romantische Literatur, die es versteht, durch geschickt-ironisches Weglassen uns dem Absoluten doch wieder zuzuwenden145. Das Schweigen Wittgensteins am Ende des Tractatus ist auch in dieser Version noch dröhnend, insofern es von einer höheren Instanz diktiert scheint. Es ist »a kind of deception in which one deceives a person for the truth’s sake«, wie im Conantschen Kapitelmotto aus Kierkegaard zitiert wird146. Aus der Sicht einer Lektüre von Wittgenstein als Moralisten scheinen beide Beiträge hochinteressant. Die Verbindung von Logik und Ethik wird hier zwar im Grunde nur vorausgesetzt und ohne literarische Traditionsbindung und philosophische Situationsanalyse angenommen. Vollkommen einig darf man aber sein in der Betonung des therapeutischen Anliegens des späten Wittgenstein, wenn es dabei um den ›Abstieg von der Leiter‹ geht, also um das Loslassen von einer märchenhaften Moral des Moralisten wie der Konfrontation der Welt mit dem Entweder/Oder 143 | Vgl. J. Conant, »Kierkegaard, Wittgenstein and Nonsense«, in: T. Cohen/P. Guyer/H. Putnam (Hg.), Pursuits of Reason, Lubbock, Texas, 1993, S. 195-224. 144 | Conant, »Frege and early Wittgenstein«, a.a.O., S. 191. 145 | Zu einer Gegenlektüre in diesem Sinne fordert Mariele Nientied in ihrem Vergleich von Kierkegaard und Wittgenstein auf. Nicht wird Kierkegaard als Vorbild gewählt, um Wittgenstein romantisierend den Ausdruck einer »verborgenen Innerlichkeit« nahezulegen, sondern umgekehrt: »Es deutet sich in der Ausgangskonstellation an, was letztlich eingeräumt werden muß, nämlich daß sich Religiosität (und jedes andere Fürwahrhalten) in der Lebensführung ausdrückt, sich zeigt« (M. Nientied, Kierkegaard und Wittgenstein. Hineintäuschen in das Wahre, Berlin/New York 2003, S. 7.). 146 | Conant, »Frege and early Wittgenstein«, a.a.O., S. 195.
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einer ultimativen ›logischen Form‹. Erstaunlich ist aber schließlich die Schlußfolgerung. Mit der vorgestellten Distanzierung von dem logischempiristischen Tractatus-Unternehmen ist nämlich weit mehr gemeint als eine bloße Verabschiedung eines metaphysischen Projektes. Die neue Querlektüre der Philosophie als moralisierende Literatur scheint zuletzt unzertrennlich mit dem Anliegen einer noch weitergehenden Moralisierung der Wittgensteinschen Philosophie verbunden. Der Preis dafür ist folgende Umstellung: man geht nicht mehr von einem frühen Wittgenstein aus, der als Moralist logische wie ethische Maßstäbe setzen will, um dann aus seiner bodenlosen Enttäuschung eine Spätphilosophie zu machen, die nur noch das Ziel hat, von solchem Vorsatz wieder wegzukommen, sondern umgekehrt: der späte Wittgenstein ist erst der Moralist, oder besser, ein Hyper-Moralist, insofern er seit seiner Frühphilosophie nichts anderes tut als festzustellen, wie alle gängigen Festsetzungsversuche auf diesem Gebiet notwendig scheitern müssen. Der Tractatus erscheint als deren stellvertretende Stilisierung und Entstellung zur logisch-empiristischen Kenntlichkeit. Alles Nachfolgende sind nur Variationen und Aufweichungen des Themas. Das heißt aber, weitergedacht, nicht die Aufgabe der logifizierenden und moralisierenden Position an sich ist das Ziel der Philosophischen Untersuchungen, vielmehr ist deren geduldiges Wegräumen nur Vorbedingung dafür, sich der wahren ethischen Auszeichnung erst als würdig zu erweisen. Die Spätphilosophie will dann nur beständig alle intellektuellen Hindernisse beseitigen, die zu überwinden sind, wenn man zu einer ausgezeichneten ethischen Position allererst kommen will. Sie will, wie Kierkegaard, die wahre Moral als ein höheres Gut ausweisen, an das unsere systematischen und definitorischen Möglichkeiten nicht heranreichen, und Philosophie konsequent als das betreiben, was in der ironischen Brechung jener Mühen doch die Verbindung zum Ethischen schlechthin schafft, wenn man es schließlich mit der Unvordenklichkeit Gottes147 geradewegs in Verbindung bringen darf. 147 | Wer glaubt, die religiöse Dimension in der Deutung sei nur einer lokalen ›façon de parler‹ geschuldet, kann vielleicht mit folgendem Fazit von James C. Edwards überzeugt werden. Edwards hatte schon vor der Debatte um den New Wittgenstein in den 80er Jahren Ethics without Philosophy konzipiert, um der anglo-amerikanischen Deutungstradition eine neue Dimension jenseits von Erkenntnistheorie und Sprachpragmatik zu eröffnen. Die Verbindung von Wittgenstein and the Moral Life scheint aber schon hier nur um den Preis einer religiösen Vereinnahmung zu haben zu sein: »… Wittgenstein’s
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Hermeneutik Erich Heller
Ein Hauptunterschied zwischen dem New Wittgenstein und dem hermeneutischen Wittgenstein ist der Umgang mit der Leere, die Wittgensteins Abschied von einer Philosophie als strenger Wissenschaft und Hinwendung zur Philosophie als Literatur hinterläßt. Der New Wittgenstein will das philosophische Vakuum nach dem Aufhören mit der Philosophie zuletzt als Grund unserer Sehnsucht nach höheren oder tieferen Inspirationsquellen verstehen. Die Literatur ist so Ausdruck des Versagens der Philosophie, wo sie skeptischerweise alle metaphysischen Sinnangebote verwirft; und ein solches Dementi in der Literatur braucht zum Ausgleich etwas, was nicht mehr in Frage gestellt werden kann, jenseits von Literatur und Philosophie; und sie berührt durch Verschweigen zuletzt die Sphäre des Glaubens. Aus Sicht der Hermeneutik muß solcher Umgang mit den Leerstellen, die Wittgensteins Philosophieren hinterläßt, vorschnell und unbefriedigend erscheinen. Die Hermeneutik erinnert daran, wie ähnliche Reflexe seit den Krisen der Aufklärung wiederkehren, wo das Vertrauen in die Aufklärungskräfte philosophischer Kultur schwindet und sich ein Ausweg als der Sprung in den Glauben oder in die bloße Faktengläubigkeit anbietet. Die pietistischen Mystiker haben so auf die Metaphysik des Rationalismus reagiert, Friedrich Christoph Oettinger zum Beispiel, Friedrich Heinrich Jacobi ist so gegenüber Kant aufgetreten, Kierkegaard gegenüber Hegel, Carl Schmitt gegenüber Kelsen. Die Mystik, später die Romantik und der Existenzialismus haben jeder auf seine Weise auf das verlorengegangene Geheimnis echten Glaubens reagiert und eine Form philosophischer Andacht nahegelegt. Erbauliche Literatur und Naturmystik sind die gemeinsame Folge (erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Vorlieben vieler Neu-Wittgensteinianer für die Literatur von Emmerson und Thoreau). later philosophy is at its core a return to an important moment of western religious vision, namely, that moment which exalts the essential sacredness and mystery of all things, which demands an astonished worship as the proper response to that mystery, and which identifies worship of God with an infinitely patient, detailed, and self-surpassing attention to the individual realities facing one, which is love« (J.C. Edwards, Ethics without Philosophy. Wittgenstein and the Moral Life, Oxford 1985, S. 240).
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Die philosophische Hermeneutik will dagegen von der Vorstellung ausgehen, daß die philosophische Leere zuletzt doch nur von einer philosophischen Lehre überwunden werden kann. Konkret heißt das, das Staunen über die Verstellungskräfte der Sprache, ihre Potenz zur ›Verhexung des Verstandes‹ nicht als Motiv für deren Überwindung zu nehmen (in welche Richtung auch immer), sondern vielmehr als einen nachhaltigen Grund zur Vertiefung in das Medium Sprache. Hermeneutik im allerweitesten Sinne geht davon aus, daß wir zuletzt den Schein niemals wirklich überwinden können, sondern nur Mittel und Wege finden, damit angemessen umzugehen. Und wenn die Sprache das Medium ist, in dem sich das Wesen der Dinge verklärt, muß es auch im Wesen der Sprache liegen, daß sich die Dinge wieder klären. Von außerhalb zumindest kann eine brauchbare Hilfe nicht mehr erwartet werden. Hermeneutik ist so die Lehre von der Selbsthilfe in der metaphysischen Krise aus eigenen Bordmitteln. Es gibt nur konsequente Immanenz, keine Transzendenz. Das ist eine Einsicht, die grundsätzlich aus dem Kantischen Kritizismus hervorgeht, aus der Beschränkung der Philosophie auf das, was sie vernünftigerweise selbst einsehen kann. Zwei wesentliche Linien lassen sich als hermeneutische Rettungsversuche nach Wittgensteins Verabschiedung der Philosophie identifizieren. Beide halten daran fest, daß die Philosophie auch in ihrem therapeutischen Ansatz noch Philosophie bleibt und in der Reflexion auf ihr Medium keinen Grund zur Verzweiflung, sondern zum Weitermachen sieht. Das kann man selbstbewußt vertreten mit dem Hintersinn, daß der Wegfall der alten Wahrhaftigkeitspflichten erst den nötigen Raum schaff t für das moderne Individuum, ›an sich selbst‹ zu genesen und sich und seine besondere Welt aus eigenen Geisteskräften hervorzubringen; man kann das Problem aber auch genau umgekehrt angehen und die Emanzipation in die andere Richtung vorantreiben. Dann ist in der Reflexion auf die mediale Bedingtheit unserer Weltzugänge nicht die Lizenz für eine ›große Phantasiekunst‹; vielmehr ist darin die entgegengesetzte Verpflichtung enthalten, sich erst recht an eine Restvernunft im Medium zu halten, sofern es gelingt, die Sinnverluste zu begrenzen. Im wesentlichen ist nur die Fundierung weggefallen, die noch das 19. Jahrhundert durch eine religiöse oder metaphysische Rahmung des sprachlichen Bezugsfeldes sehen wollte. Erhalten bleibt aber eine Orientierungsleistung, die das Medium selbst hervorbringt, um die Welt einigermaßen sinnvoll zu strukturieren und zu differenzieren. Man muß in der Krise auf dessen Selbstheilungskräfte vertrauen. Wittgenstein wird in dieser Vereinnahmung zum Anwalt für eine therapeutische Nichtein-
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mischung von Seiten der Philosophie, die diesmal den ›tieferen‹ Sinn hat, die philosophische Aufmerksamkeit auf das interne Funktionieren der Sprache zurückzulenken. Im ersten Fall geht die Linie grundsätzlich von Nietzsche aus. Es wird dabei die Rückwendung auf das problematisch gewordene Medium zum Teil einer dramatischen Inszenierung. Was Wittgenstein pessimistisch und einseitig als bloße ›Verhexung des Verstandes‹ ansieht, wird zugleich als Chance und Ressource gewertet: es kommt nur darauf an, daraus eine erneute Möglichkeit zur ›Verzauberung‹ unseres Verstandes zu machen. Die Resignation angesichts der Verstellungen der Welt durch die Sprache wird in ihr Gegenteil verkehrt, wo man dieselbe Verstellung auch als eine Öffnung für eine autonome Weltgestaltung interpretieren kann. Wenn, mit Nietzsche gesprochen, das Medium sich aus seiner metaphysischen Verankerung gelöst hat und uns überhaupt nur in Spiegelwelten hineinversetzt, gilt es zuletzt, von diesem unheimlichen Geschehen zu profitieren und zum selbstbewußten Mitspieler zu werden. Das Verfallsmotiv bleibt zwar erhalten und erscheint bei Nietzsche als eine anonyme, zuletzt chaotisch-dionysische Kraft, in deren Sog die Welt gnadenlos zur Entropie getrieben wird mit allem, was auch immer nur einmal Sinn und Bestand hatte. Andererseits ist diese Generaltendenz zur Auflösung der Freibrief für den apollinischen Menschen, es mit einer unbedingten Schöpfung und genialen Zurichtung der Welt zu versuchen, ohne sich zugleich an ihr zu versündigen. Erich Heller hat in solcher Hinsicht auf die prekäre Möglichkeit einer Verbrüderung von Wittgenstein und Nietzsche geschlossen: »Zwei Philosophen könnten kaum verschiedener sein im Blickfeld und in der Richtung, im Zugriff und in der Stimmung, in der Tonart und im Tempo ihres Philosophierens; und dennoch ist ihnen etwas gemeinsam, ein Etwas von größter Bedeutung: das schöpferische Mißtrauen gegen alle kategorischen Gewißheiten, denen es, gerade so als wären sie eine ererbte Anatomie, erlaubt war, das Corpus des überlieferten Denkens zu formen. Nietzsche und Wittgenstein schicken den gleichen Spürsinn-Zweifel in die verborgensten Schlupfwinkel von Irrtum und Täuschung: nämlich dorthin, wo, wie es bei Wittgenstein heißt, ›alles offen daliegt‹, wo alles einfach, alltäglich und vertraut scheint, wo man nichts bemerkt, ›weil man es immer vor Augen hat‹, bis einem gerade ›dies einmal aufgefallen ist‹« (PU §§126; 129). Solches könnte an dem Tag geschehen, an welchem der Verdacht auf den Begriff von ›Sinn‹ fällt, nämlich auf die Vorstellung, die, wie vage sie auch sein mag, sich darauf verläßt, daß durch irgendeine kosmische Einrichtung, von Gott getroffen, oder von der Logik, oder vom Geist der Sprache, ein unabdingbarer
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Sinn der Welt, dem Leben, den Tatsachen und den Worten auf ewig zugestellt hat. Als Nietzsche vom Tod Gottes erfuhr, begann jedes Ding wie nie vorher nach seinem Sinn zu fragen, jedes Ding und alles, was sich auf den transzendenten Glauben gestützt oder an ihn angelehnt hatte oder mit ihm verwachsen war: also, wie Nietzsche argwöhnte, jedes Ding und alles; und jedes Ding und alles verlangte von da an nach seiner »Neubewertung«148. »Neubewertung« kann man freilich in zwei Richtungen ausdeuten. Heller zitiert Wittgenstein passend, wenn er ihn als Fazit obiger Anmoderation sagen läßt: »In der Welt ist alles wie es ist und geschieht alles wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert – und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert (TLP6.41)«149. Jetzt hat der Philosoph die Wahl: »entweder mit der ganzen Schöpferkraft seines eigenen Herrseins seine eigene Welt zu erschaffen oder spirituell zugrunde zu gehen«. Natürlich ist klar, daß Wittgenstein hier nicht einfach zum Schöpfer virtueller Welten erklärt werden kann, die wie bei Nietzsche als verbesserte Wirklichkeit durchgehen können. Soweit geht Heller und die gesamte Hermeneutik nicht. Das ist schon die Option der Postmoderne. Wittgenstein wird jedenfalls selbst nie wieder auch nur in die Nähe der Vorstellung kommen, es gebe noch ein philosophisches »Herrsein«, ebensowenig wie es für ihn genug genialische »Schöpferkraft« gibt, die ausreichen würde, um eine eigene Welt zu erschaffen. Dennoch soll und darf Wittgenstein an der Tod-Gottes-Erfahrung, die er mit Nietzsche teilt, nicht »spirituell« zugrundegehen. Und so kommt es bei Heller zu der Kompromißformel von einem »Dennoch-Glaube(n) an die Sprache« 150. Es ist der Glaube, der sich noch in der Kritik und Entwertung des Mediums erneuert und erhält. Heller versteht das Paradox nach dem Vorbild des Fortschritts in der modernen Kunst 151. Immer wieder wird zwar auf das Material und das Medium reflektiert, in dem sich Kunst zuvor problemlos ausdrücken konnte, und immer wird dadurch ein falscher Schein durchstoßen, ein heilsamer Schock erzielt, mit einer Gewohnheit gebrochen, und so weiter. Jenes Brechen mit der Vergangenheit und dem unbedingten Glauben 148 | Heller, a.a.O., S. 250f. 149 | Ebd., S. 255. 150 | Ebd., S. 256. 151 | Zur Zeitgebundenheit dieser Kunstauffassung vgl. Peter Bürger, Das
Altern der Moderne. Schriften zur bildenden Kunst, Frankfurt a.M. 2001; sowie ders., Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 2002; vgl. auch J. Früchtl/J. Zimmermann (Hg.), Ästhetik der Inszenierung, Frankfurt a.M. 2001.
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an die Substanz der Kunst ist aber nicht nur ein Werk der Zerstörung, sondern, so sehr sich auch der Künstler an die Seite der Destruktion hält, ›se invito‹ immer wieder zugleich auch wieder ein Akt der Konstruktion, des Weitermachens, das heißt, der Kontinuität im Bruch. Denn all das, was entsprechend als eine Avantgarde erscheint, die dem klassischen Kunstgeschehen davoneilen will, ist doch, wie der Name auch sagt, nur die Vorhut für den nacheilenden Zeitgeschmack, so es ihm spielend gelingt, sich in ihr wieder zu gefallen und ganz bürgerlich am Ende wiederzuerkennen. »Was … die Philosophie betriff t, so tritt sie mit Wittgenstein in jenes Stadium, das längst schon von mancher anderen schöpferischen Tätigkeit des menschlichen Geistes erreicht wurde – von der Dichtung zum Beispiel, oder von der Malerei –: das Stadium, wo jeder schöpferische Akt eins ist mit der Kritik seines Mediums, und jedes geschaffene Werk in seiner gebannten Selbstreflexion so aussieht, als wäre es der verkörperte Zweifel an seiner eigenen Möglichkeit«152. Im zweiten Fall geht dieselbe Linie von Heidegger und den Folgen seiner Phänomenologie für unser Sprachverständnis aus. Dieselbe Erfahrung eines ›Glaubensverlustes‹ wie bei Nietzsche geht voraus, wird aber nicht vom Individuum künstlerisch kompensiert, indem es seine eigene Welt hervorbringt durch Sprachschöpfung; das Medium muß vielmehr autonom werden und seine Sinnausrichtungen und -koordinaten umstellen. Diese Umstellung geschieht konsequent von einer Vertikalen in eine Horizontale, von der Rückbindung an ein jenseitig Göttliches zum Sich-Einlassen auf ein diesseitig Weltliches und Endliches. Ihren wahren Gehalt empfangen unsere Gedanken entsprechend nicht von übergeordneten (oder untergeordneten) Instanzen, sondern konsequent aus ihrer eigenen Genese und Geschichte, aus der Art, wie sie mit einander verbunden erscheinen in ihren historischen Wechselwirkungen. Hermeneutik ist dann die philosophische Kunst, solche Bezüge wieder offensichtlich und vernehmbar zu machen. Sie spürt dem ›tieferen‹ Wirken des ›Logos‹ nach, der sich erst demjenigen erschließt, der in der Lage ist, dazu genug Abstand von sich und der Welt zu nehmen.
152 | Heller, a.a.O., S. 262.
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Rüdiger Bubner. Wittgenstein als meditativer Denker
An diese Vorstellung einer medialen Sondierung des Eigentlichen und Wesentlichen im Uneigentlichen und Unwesentlichen schließt die Überzeugung an, Wittgenstein in die große und lange Tradition philosophischer Meditation zu stellen. Rüdiger Bubner hat im Sinne der Hermeneutik herausgestellt, wie weit man mit dieser Vereinnahmung gehen kann. Meditation ist in diesem Zusammenhang ein ursprünglich theologisch gemeinter Vorbote für das, was bis zur Phänomenologie Husserls das probeweise Heraustreten aus allen gegebenen Sinnzusammenhängen meint. Der theologische Akzent betont dabei die Bewegung auf Gott zu, der phänomenologische die ›Epoché‹, die Abstandnahme von den bloßen Erscheinungen der Welt. Charakteristisch ist immer die Vorstellung von einer Zäsur als einer temporären Herausnahme des eigenen Denkens aus allen praktischen und theoretischen Vollzügen, aus allen Routinen und Denkgewohnheiten, in denen wir darin geübt sind, in der Welt zurechtzukommen. Robert Musil hat in seinem Mann ohne Eigenschaften den Gedanken einmal als das Experiment beschrieben, ›Urlaub vom Leben‹ zu nehmen. Die selbstgeschaffene Entlastung von den alltäglich gewordenen Zwängen und Pflichten schaff t Raum dafür, das Wesentliche und Wichtige zu erkennen. Solche gedankliche Urlaubsstimmung kann man mit Husserl als ein rein akademisches Unternehmen betrachten mit dem Ziel, theoretisch ins Reine zu kommen, das heißt, für die Wissenschaften ein sicheres Fundament zu finden. Philosophische Meditation ist dann das Verfahren der Dissidenz vom Wissenschaftsbetrieb. Mit Heidegger gilt es in den bewegten 20er Jahren mit demselben Verfahren überhaupt Halt für die menschliche Existenz zu finden. Entsprechend läuft der Gedanke auf eine Totalentlastung von allen lebensweltlichen Zwängen hinaus, auf vorgebahnten Wegen zu einer Konklusion kommen zu müssen. Dann ist es die Dissidenz zu all dem, was ›man‹ gemeinhin tut und läßt, was ›man‹ für richtig und falsch erachtet. Das ›Man‹ ist mit Heidegger verstanden als das ›singulare tantum‹ all dessen, was wir tun und lassen, wenn wir in Wahrheit nur als Teil der ›Masse‹ bewegt werden, und dabei fälschlicherweise annehmen wollen, ganz wir selbst zu sein. Wer nicht genug von den Konsumkritiken hat, findet spielend die passenden Aktualisierungen. Philosophische Meditation ist so genommen das Konzept für einen reflexiven Abstand vom Weltgetriebe. Sie öffnet dem Denken einen Freiraum, der es erlaubt, wie unbeteiligt und aus
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sicherer Entfernung auf alles bekannte Wollen und Können, Erkennen und Vollziehen zurückzuschauen153. Zwei wesentliche Antworten werden dem Typus nach skizziert, die sich nach dem Ausgang der geistigen Übung definieren: Zum einen ist es die Meditation nach dem Vorbild ihres Namensgebers Augustinus. Hier wird die momentane Suspension aller Weltverstrickung und Zwänge damit beendet, daß der Meditierende bei seiner Entfernung von der Welt sich einen neuen Grund ›ermißt‹, von dem aus alles wieder überschaubar und neugeordnet erscheint: Gott 154. Zum anderen steht dagegen die moderne Antwort Descartes’, für den sich keine transzendente Sicherheit mehr auftut, und der Zweifel an sich und der Welt erst dort aufhört, wo er ganz von außen nach innen gekehrt ist und dort sein letztes Ende findet. Nicht im Himmel, sondern auf Erden, und dort nur, wo der Zweifel es ganz zuletzt nur noch mit sich zu tun hat. Weil der Zweifel, der sich gegen sich selbst richtet, sich zugleich wiederherstellt, wenn er sich in Frage stellt – auch beim Bezweifeln des Zweifels ist der Zweifel als solcher ja noch da – kommt das ›cogito me cogitare‹ in den Rang des ›fundamentum inconcussum‹. Seine Unerschütterlichkeit wächst nur 153 | So steckt in der phänomenologischen Wurzel von Meditation in der Tat auch das etymologische »ermessen, geistig abmessen« (Eintrag »Meditation«, in: Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. Die Geschichte der deutschen Wörter und der Fremdwörter von ihrem Ursprung bis zur Gegenwart, 2. Auflage, hg. v. G. Drosdowski, Mannheim/Wien 1989, S. 449). 154 | Man kann unter der theologischen Prämisse, daß sich am Ende aller Meditation und Weltskepsis Gott über allen Zweifel erhaben zeigen wird, noch einmal feiner unterscheiden. Auf der einen Seite stehen dann jene, die Augustinus dem Wesen nach als einen modernen Hermeneutiker verteidigen und finden, die Confessiones hätten aufs Ganze gesehen keine geschlossene Doktrin und seien dem Charakter nach nur als eine ›exercitatio animi‹ recht zu verstehen. Dann wird in der Tat auch schon mit Augustinus nur die Absetzbewegung geübt, das Aufstacheln des Geistes und der Seele zur ruhelosen Weltabkehr und Sinnsuche. Was Augustinus über das literarische Genus hinaus noch an persönlicher Glaubenssicherheit hinzubringt, ist dann sekundär. H.-I. Marrou hat mit einer solchen These bereits in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Aufsehen erregt (vgl. H.-I. Marrou, Saint Augustin et la fin de la culture antique, Paris 1938). Neuerdings ist man im Zuge religiöser Erneuerungsbedürfnisse eher wieder geneigt, das Hermeneutische kleinzuschreiben und die Glaubensinhalte groß. Vgl. Johannes Brachtendorf, Augustins Confessionen, Darmstadt 2006, S. 12ff.
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noch mit jeder weiteren Welle der Verunsicherung, weil das Denken, als das Denken des Denkens, wenigstens dabei nicht wirklich aufhören kann. Am Ende der Meditation steht so das eigene Ich, nicht mehr, weil es wie Gott allen Zweifel nimmt und in der Lage wäre, die verlorene Harmonie der Welt wiederherzustellen. Das ›cogito‹, das denkende Subjekt, bleibt alleine deshalb bestehen, weil es wenigstens als der Träger all seiner Bedenken nicht mehr wegzudenken ist. Der späte Wittgenstein ist für die Hermeneutik besonders interessant, weil er wohl den Ausgangspunkt der klassischen Meditationen teilt, den Zielpunkt einer letzten Sicherheit beim Wiederfinden in der Welt aber ganz offenbar verfehlt. Die Klausur des Philosophen führt ihn wie alle seine Vorgänger an den Rand allen Verstehens, wo die Dinge ihren ontologischen Anstrich und Wert verlieren, nichts mehr gilt, was vorher Anspruch auf Sein hatte. Der frühe Wittgenstein konnte sogar noch nach altem Muster meinen, sich »mühsam« vorzuarbeiten »zu derjenigen Lösung …, die dann der Tractatus geradewegs apodiktisch vertritt« 155. Der späte Wittgenstein setzt dieselbe Arbeit fort, aber offenbar ohne das glückliche Ende. Und hier wird Wittgensteins Meditation als Stil des Philosophierens prägnant im Sinne der Hermeneutik. Sie ist nämlich auch bereits über die Annahme eines letzten Anhaltspunktes hinaus, an dem die Meditation zur Ruhe kommen könnte und die Welt erneut zugänglich würde, auf neuer Theoriebasis. Ergo bleibt ihr nichts anderes, als das Geschäft der Meditation weiter zu treiben, ohne noch den Zielpunkt der prima philosophia als einen sicheren Hafen im neuzeitlichen Meer des Denkens anzusteuern. Es ist der ›deuteros plous‹, die zweitbeste Fahrt, die seit Platon als die bessere gilt und seit Bacon zur philosophischen Pflicht erklärt wird. Nur noch die Abwehr von groben Entstellungen und nachhaltigen Mißverständnissen ist Teil der Philosophischen Untersuchungen. Die Hoffnung der Hermeneutik besteht dabei allerdings darin, daß dies nicht nur ein rein negatives Geschäft ist. Wie bei Heller scheint es nicht denkbar, daß die enttäuschte Rückwendung der Aufmerksamkeit von letzten Prinzipien auf das bewegliche Medium unserer Selbstverständigung nur eine wiederholte Geste der Verzweiflung ist. Vielmehr erscheint es so, als sei in der Entwertung einzelner Theorieansprüche eine Aufwertung einer überlegenen Logos-Überlegung gleich mitenthalten. Dafür spricht zweifellos die berühmte und immer wieder durchgenommene Schmerz-Diskussion Wittgensteins aus den PU: »Wittgensteins 155 | R. Bubner, »Wittgenstein als meditativer Denker«, in: ders., Antike Themen und ihre moderne Verwandlung, Frankfurt a.M. 1992, S. 206f.
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Interesse, das in den bohrenden Grübeleien über Schmerz und ähnliches schier nicht zur Ruhe kommen will, richtet sich allerdings weniger auf die Destruktion einer falschen Theorie. Es geht um die Vergewisserung, daß wir bei der Mitteilung subjektiver Befindlichkeiten unmittelbar auf intersubjektive Aufnahmechancen bauen müssen, weil jede Alternative einer quasi verdinglichenden Redeweise sinnlos würde« 156. So scheint in der Tat der Zweifel am einzelnen Theoriestück zugleich eine Vergewisserung des Ganzen in seinem überlegenen Funktionieren mitzuenthalten. Daß man mit Hilfe scheinbar unmittelbarer Sinnesdaten wie Schmerzen nicht wirklich Referenten für eine Privatsprache findet, läßt die notwendigen Kontexte solchen Privatsprechens prominent werden. Ohne die Einbettung von Theorien in Sprachspiele und von Sprachspielen in Lebensformen (wie uneindeutig auch immer das genaue Verhältnis bei Wittgenstein bestimmt sein mag), wird nichts wirklich plastisch werden, was wir noch als echte sprachliche Mitteilung verstehen wollen. Im Fazit und allgemein gesprochen: »Wittgenstein stellt uns die philosophische Aufgabe, den Reichtum einer komplex organisierten Sprache tätig zu nutzen, indem das Philosophieren im Unterschied zu abgesonderter Denkakrobatik zum konkreten Arbeiten mit der Sprache wird. Ist es dann am Ende gar die Sprache, die philosophiert?« 157 Hier kommt auf natürliche Weise die Parallele zu Heidegger ins Spiel, weil klar ist, wenn Wittgenstein sich derart nicht nur skeptisch, sondern affirmativ als das »Mundstück einer anonymen Weisheit« gebärden würde, würden die sprachlichen Meditationsströme beider irgendwo in der Richtung einer Kryptotheologie ineinanderfließen. Man müßte dann Wittgenstein und Heidegger gleichermaßen als unzeitgemäße Gnostiker ansprechen. Was vor dieser Konklusion bewahrt, ist noch einmal das Eigenwillige und Sperrige, wenn man so will, der Wittgensteinschen ›Hermeneutik‹. Denn Wittgenstein arbeitet mit dem Medium der Sprache in der Tat insoweit, daß sich die »Abwege, auf die man nun einmal geraten ist«, im Zuge der abendländischen Philosophie erkennen und vielleicht auch vermeiden lassen. Zugleich aber fehlt es, anders als der Hermeneutik und Heidegger, doch an der Möglichkeit, von der vereinzelten und punktuell durchgeführten Sprachkritik noch einmal zurückzukommen auf eine Idee, was das Große und Ganze, das Medium in seinem internen Weben und Leben noch einmal bedeuten könnte. Man kommt mit Wittgenstein von den Abwegen nicht wieder auf die Hauptwege der Phi156 | Ebd., S. 212. 157 | Ebd., S. 214.
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losophie zurück. Wo die Hermeneutik noch eine Theorie hat, die man auch im akademischen Unterricht vermitteln kann, und mit Gadamers Wahrheit und Methode Ansprüche auf Erhellung und Nachvollzug im Denken stellt, ist bei Wittgenstein am Ende eben doch nicht mehr als die klaffende Lücke, ein Sichausschweigen darüber, wie es jetzt noch einmal philosophisch weitergehen könnte. Diese Verweigerungshaltung geht bei Wittgenstein so weit, daß er am Ende vom Schema des privaten Vor-sichhin-Meditierens im Grunde überhaupt nicht mehr abläßt und unablässig so spricht, als gebe er nur noch Nachrichten aus einer fernen Welt der Selbstversenkung des Denkens von sich. Jeder Philosoph, der ›semel in vita‹ von der Welt Abstand nimmt, eine Zäsur setzt als ›Epoché‹, hat sich irgendwann genug besonnen und folgt dem Drang, doch noch einmal in die Welt zurückzukehren, schon nur um zu sagen, wie es wirklich ist. Das Detachement und die Entfernung ist das eine, um den Andrang der Welt und die Aufdringlichkeit der Dinge fernzuhalten; das andere ist das, was sich daraus ergibt. Wer als Philosoph gelten will, muß der Entwertung aller Gegenstände wieder eine Neubewertung folgen lassen, er muß aus dem Staunen über die Nichtigkeit der Welt eine Mutmaßung über ihre Richtigkeit generieren, aus der Intuition ein Information, aus der Information eine zusammenhängende Lehre. Keiner, so scheint es vor Wittgenstein, will wirklich nur Meditieren um des Meditierens willen und dabei vollkommen absent bleiben; er will mit einer neu gewonnenen Einsicht die Welt verbessern, oder, wenn dies nicht geht, zumindest besser erklären. Selbst dort ist das noch möglich, dem Schema folgend, wo auch die Zeitgenossen Heidegger und Adorno am Ende eingestehen müssen, daß im Grunde für solche geistig hoch motivierten Richtigstellungen gar kein Platz mehr in der Welt ist. Aber selbst dann wird der Meditator noch zum »Mundstück einer anonymen Weisheit«, auch wenn die Stimme aus ihm heraus nur noch verkünden kann, daß die wirkliche Lösung aller grundlegenden Weltprobleme völlig anders aussehen muß, als alles, was man sich darunter gemeinhin noch vorstellen kann. Dennoch wird bei aller ›Verbergung‹ immer noch soviel offenbar, daß daraus eine Mitteilung im eminenten Sinne werden soll, eine Mitteilung von der Art, daß sie wiederholt werden, evident erscheinen, Anhänger finden, Verfechter stimulieren, widerrufen, neu ausgegeben werden kann, und so weiter. Immerhin erscheint nämlich die Welt in solcher seinsmäßigen Verdunklung tatsächlich noch in einem anderen Licht als zuvor, und wenn sich dazu noch die passenden Begriffe finden lassen, in Form außerordentlich innovativer oder konservativer Rede, kann man auch wieder Traditionen darauf begründen und schulmäßig daran teilhaben. Die
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Transformation von Meditation in Philosophie gelingt, sobald ein Modus des begrifflichen Einstimmens gefunden ist. Anders bei Wittgenstein. Die PU wollen keine Lehre verkünden (das wollte auch schon der Tractatus nicht, zumindest in der nachgereichten Absichtserklärung des ›Vorworts‹), sie wollen keine philosophische Begrifflichkeit finden, fi xieren, ausarbeiten und konservieren; alles, was sie tun, geht vielmehr darin auf, immer und immer wieder nur die Situation nachzustellen, in der die Meditation selbst noch gar nicht beendet und der Übergang zur Lehre immer noch aufgeschoben werden muß. Wittgenstein berichtet nicht umsonst von seiner gefühlten Unfähigkeit, aus seinen Aufzeichnungen und ›Skizzen‹ ein Buch zu machen. Der Schritt in die Theorie- und Buchform ist in Wahrheit gar nie gewollt und intendiert. Und um das Niveau der philosophischen Nichtbeteiligung zu halten, entwirft Wittgenstein unablässig so etwas wie »Denkaufgaben«158, mit deren Hilfe das Absinken in die einfache Mitteilbarkeit immerhin verzögert werden soll. Diese bestehen zumindest in der Zumutung, sich nicht mit Resultaten zufrieden zu geben, sondern jedesmal die besondere Mühe auf sich zu nehmen, den ganzen Erkenntnisweg, von der Überwindung von Vorurteilen bis zur Weitung des Verständnis-Horizontes, eigens und persönlich mitzugehen. ›Bild‹ und ›Metapher‹ erscheinen hier als die passenden literarischen Rezepte: »Wo etwas Bestimmtes durch Vergleich mit etwas anderem verdeutlicht wird, gilt es, beim Lesen von selber auf den Punkt zu kommen, der einem vorliegenden Problem und dem an dieser Stelle gewählten Bild gemeinsam ist. Die gemeinsame Hinsicht, die den Gehalt eines jeden Vergleichs erst erschließt, muß eigens entworfen werden. Dann ist die Klärung nicht nur ein einseitiges Versprechen des Autors, das er in schriftlicher Form niedergelegt hat, so daß jeder Leser unmittelbar dem Text die Lösung zu entreißen sucht. Klärung entsteht vielmehr aus der eigenen Leistung des mitdenkenden Lesers, die ihn vor Mißverständnissen bewahrt, das fi xierte Wort für die Sache zu halten, die es doch nur vertritt«. Das ist das Paradoxe an der Wittgensteinschen Hermeneutik: sie folgt in gewissem Sinne dem traditionellen Schema des philosophischen Erkenntnisgewinns, einigt man sich einmal darauf, daß er im Entwerfen neuer ›Hinsichten‹ auf die Welt besteht. So als würde in der Tat mit dem ständigen Vergleichen und Anders-Sehen eine Borniertheit beim Leser kuriert, die von einer neuen, souveränen Übersicht abgelöst wird. Die Bilder und Metaphern, das Wittgensteinsche »Sieh’ es so« zielten nur auf eine Weitung der philoso158 | Ebd., S. 208.
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phischen Begriffe bis an den Punkt, an dem sich solcherlei Übung zur hermeneutischen Haltung verfestigt und in ihrem tieferen Erkenntnissinn sich eingestehen läßt. Andererseits muß man auch sagen, bei Wittgenstein läßt sich auch das schiere Gegenteil behaupten. »Die gemeinsame Hinsicht, die den Gehalt eines jeden Vergleichs erst erschließt«, ist für Wittgenstein gerade dann erreicht, wenn sich im Vergleich herausstellt, daß die philosophischen Probleme allesamt gehaltlos sind. Es ist in Wahrheit nicht ein Erkenntnis-Aufstieg gemeint, wenn man von einer bestimmten, fi xen Idee dahin kommt, von ihr abzulassen. Vielmehr ist die Bewegung gegenzulesen als die Vermeidung des Abstiegs, irgendwo wieder bei fi xen Ideen zu landen. Der Sinn der ›hermeneutischen‹ Übung besteht in letzter Konsequenz darin, den Prozeß der Auslegung im Fluß zu halten, nicht um Besseres, oder auch nur anderes Verstehen möglich zu machen, sondern nur um schlechteres, das heißt überhaupt philosophisch bestimmtes Verstehen zu verhindern. Wo es der Hermeneutik auf die Übergänge ankommt, ist sie Wittgenstein immer nahe, wo sie aber noch mehr als philosophisches Staunen oder existenzielles Entsetzen generieren will, muß sie ihn zwangsläufig theoretisch überbieten. Das Einschwingen in Überlieferungszusammenhänge, das Gadamer immer als die Übersetzung der metaphysischen Gelassenheit Heideggers ausgegeben hat, wird bei Wittgenstein zum dem prekären Versuch, sich aus demselben mit jeder neuen Wendung zu lösen. Nicht das immer neue Aufgehoben-Sein in umfassenderen Sinnzusammenhängen, sondern das hermeneutische Herunterkommen von solchen Standards erscheint Wittgenstein als eine letzte Losung angemessen: »What’s ragged should be left ragged« (VB513). Postmoderne Manfred Frank
Der Hauptunterschied zwischen dem New Wittgenstein und dem hermeneutischen Wittgenstein bleibt auch in der Postmoderne noch der Umgang mit der Leere, die Wittgensteins Abschied von einer Philosophie als strenger Wissenschaft und seiner Hinwendung zur Philosophie als Literatur hinterläßt. Die Leichtigkeit des philosophischen Seins als Literatur scheint zwar an sich erwünscht, aber nicht bis zu dem Punkt, an dem die Theorie offenbar gar kein Gewicht mehr hat. Hermeneutische Entwicklungslinien scheinen hier konsequent weitergeführt an zwei Enden auszulaufen. Folgt man der Nietzsche-Linie und verankert sie sprachlich
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im amerikanischen Pragmatismus, orientiert man sich am besten an Richard Rorty. Die kontinentale Linie hat dagegen Manfred Frank phänomenologisch ausgezogen, soweit, daß das verschüttete Theorieerbe der Phänomenologie bis zum Frühidealismus hin wieder sichtbar wird. Zwischen diesen Extremen bewegt sich ein breiter Strom postmoderner Vereinnahmungen Wittgensteins, die im Umkreis von Derrida das Heideggererbe aktualisieren. Die Grenzen einer frühromantisch-poststrukturalistischen Vereinnahmung Wittgensteins hat Manfred Frank in diesem Zusammenhang am Ende von Wittgensteins Gang in die Literatur erkannt und offen ausgesprochen. Eine abschließende Zusammenschau von Wittgenstein und Novalis hat zum Ergebnis: »Nach meiner Kenntnis gibt es in der philosophischen Literatur keine zwei Diskurse, die im stilistischen Gestus einander so nahe kommen. Anders als Wittgenstein, der das Abgerissene und Aperçuhafte der Weise, wie ihm Gedanken zufielen und sich anordneten, eher verdrängte oder wegrationalisierte, hat Novalis die fragmentarische écriture seines Philosophierens aus der Angemessenheit der schriftlichen Darbietungsform an einen systematisch unbezwingbaren Gegenstand, den er ›das Absolute‹ nannte, eigens reflektiert und gerechtfertigt. Inhalt und Form stehen bei ihm in bewußter Entsprechung« 159. Anders gewendet: trotz aller äußeren, stilistischen Nähe, die frappierend und aufschlußreich sein kann, weil sie die Verlängerung der Schreibtraditionen aus der Décadence des 19. Jahrhunderts spiegelt, liegt hier offenbar ein ›Paradigmenwechsel‹ vor. Der Umstand, daß bei Wittgenstein kein Bewußtsein da ist und keine Reflexion mehr vorliegt auf das ›Absolute‹ als ›systematisch unbezwingbaren Gegenstand‹, deutet darauf hin, daß die literarische Ordnung und Regie der Fragmente eben nicht mehr im Ausgang vom Absoluten, dem Idealismus und seinen Verfallsformen schlüssig gedacht werden kann. Anstatt Bruchstücke eines Geistes zu sein, der sich selbst im Fragmentarischen wiedererkennt, hat die Wittgensteinsche Fragmentliteratur, wenn überhaupt, einen ›systematischen‹ Kern, der nur noch nicht-reflexiv und an sich unbewußt sein kann. Wenn es nicht nur eine Laune Wittgensteins gewesen sein soll, aus dem Sprachspiel der Frühromantiker die Komponente der Selbstreflexion herauszunehmen, scheint es naheliegend, von der Geistregie Abstand zu nehmen und die Vorstellung einer Naturregie ernst zu nehmen. 159 | M. Frank, »Wittgensteins Gang in die Dichtung«, in: ders./G. Soldati, Wittgenstein. Literat und Philosoph, Pfullingen 1989, S. 56f.
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Richard Rorty
Vorbild für Richard Rorty wäre dazu ein »Dewey zwischen Hegel und Darwin«160. Es wäre das Beste aus zwei Jahrhunderten: ein pragmatischer Abschied von philosophischen Fixierungen verbunden mit dem dynamischen Aspekt im Fortschreiten begriffener Horizonte der Moderne. Ersteres ergibt sich bei Rorty systematisch aus dem Verlangen, den ursprünglichen Ganzheitsanspruch der klassischen Metaphysik zu ›erden‹, indem man die Illusion vom archimedischen Punkt in der Philosophie aufgibt und in eine heterogene Vielheit neuer Paradigmen und Erscheinungen übersetzt. Hier klingt bei Rorty die Heideggersche ›Ereignis‹-Rhetorik nach, in der sich das, was ursprüngliche Einheit war, im metaphysischen Fall als dramatischer Bruch in der Seinsgeschichte des Abendlandes bemerkbar macht. Es klingt die Derridasche Strategie einer weitergehenden ›Logo-Dezentrierung‹ nach, die jene Exzentrik des Denkens in noch viel weitergehenden Bruchlinien nachverfolgt, wo die Philosophie zum Seismograph noch der leisesten Selbsterschütterungen wird. Auch Wittgenstein wird vergleichbar zum Ausgangspunkt. Mit ihm schließt die Linie der konsequenten Naturalisierung der Philosophie an jene der Depotenzierung des Geistes an. In einer solchen Abwärtsbewegung vom ›Logos‹ zur ›Physis‹ muß für Rorty nur noch der Restempirismus getilgt werden, oder umgekehrt gesprochen, der Glaube an eine mögliche Ablösung der allgemeinen Regel-Grammatik von ihren besonderen Fallregelungen. Also muß noch der Davidsonianische Zug nachgeholt werden. We »make up the rules as we go along« (PU § 83), und die Regeln regulieren und deregulieren nur noch sich selbst, nichts mehr, was ihnen in der Welt wirklich gegenübersteht. Am Kreuzungspunkt beider Linien käme zur Metaphysikkritik des 20. Jahrhunderts hinzu eine historistische Querverbindung aus dem 19. Jahrhundert. Ein »Dewey zwischen Hegel und Darwin« hieße dann: Biologismus und Mechanismus sind schon nicht mehr Selbstzweck, vielmehr werden sie im Rückblick der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nur noch als Antidot gebraucht gegen philosophische Verhärtungen, besonders gegen moralische Rigorismen, des Pragmatismus natürliche Feinde. Was vorher als Erdung der transzendentalen Formen beschrieben wurde, wird so als natürliche Einbettung in die Geschichte von der 160 | R. Rorty, »Dewey zwischen Hegel und Darwin«, in: ders., Wahrheit und Fortschritt, Frankfurt a.M., 2000, S. 419-443.
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anderen Seite her aufgerollt. Es ist dann der Ausgang von einem »Wachstum«, das »selbst das einzige moralische Ziel ist«161, wobei gleich betont werden muß, daß sich jenes Wachstum nur noch an den vorteilhaften Brechungen als solches ermessen läßt. Es ist die Vereinigung von »Darwin mit einem entabsolutierten Hegel«162, das heißt, ein philosophisches »Wachstum« als Fortschritt durch kluges Weglassen. Eine Bewegung, die sich zuletzt also einzig aus der Notwendigkeit ständiger Erneuerung versteht: die »besondere Aufgabe der Philosophie liege darin, sicherzustellen, daß es alten philosophischen Ideen nicht gelingt, den Weg der Forschung zu blockieren«163. Ein solcher Pragmatismus wäre eine Evolutionslehre, die nicht mehr den Fehler begeht, sich als ›évolution créatrice‹ positiv mißzuverstehen, oder im Sinne eines Vitalismus als treibender Kraft, sondern nur noch komplementär dazu als das negative Wegräumen von philosophisch aufgebauschten Hindernissen. Zwar macht die Natur immer noch alles von selbst, aber sie ist jetzt listig genug, in ihrem Vorankommen nicht zu selbstbewußt zu sein (hier drohte auch gleich Habermasens Vorwurf der Siegermentalität des Pragmatismus). Sie verdankt ihren eigentlichen Erfolg vielmehr einem dauernden Selbstdementi der Vernunft. Ihre neue Souveränität besteht nur darin, daß die Philosophie sie nicht mehr hindert, selbst kreativ zu sein. Alle ehemals positiven geistigen Potenzen finden sich so als negative Akzente in einer ›Evolution‹ des Denkens wieder. Dort, wo der Sprung zu einer neuen Selbstbeschreibung fällig ist, wird die positive Neuausrichtung nur als Überwindung einer Fixierung gefaßt. Der ehemals äußere Eingriff einer überlegenen Vernunft erscheint als das bloße Platzmachen für Anderes, man möchte auch sagen Besseres, wenn nicht der alte Maßstab dabei noch mitgeschleppt würde. Auch noch eine sophistifizierte Selbststeuerung des Geistes läßt sich so im Negativ einer erfolgreichen Deregulierung darstellen. Der vormals bewußte Bruch als eine unbewußte Selbstüberwindung, die ingeniöse Neuorganisation als raffinierte Kristallisation des Kommenden. Und wo sich zuvor die Systemvernunft in ihrem Schaffen und Zerstören am Ende selbst begriffen hat und nachdenklich wird, steht die kritische Geste einer Philosophie, die sich im Großen und Ganzen ständig selbst in den Arm fällt. Damit entsteht schließlich auch das intellektuelle Raumangebot für »viele verschiedene Entwicklungen in unserem Jahrhundert – Freudsche Erklärungen innerer moralischer 161 | Ebd., S. 441. 162 | Ebd., S. 439. 163 | Ebd., S. 442.
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Konflikte, ethnographische Schilderungen alternativer Formen des gesellschaftlichen Lebens sowie experimentelle Bewegungen in Literatur und Kunst«. Als Beispiel für eine solche Lektüre wäre an Wittgensteins Rede von natürlicher Morphologie und kultureller Familienähnlichkeit zu denken. Hier käme es darauf an, das Spenglersche Erbe darin mit entsprechend neuen Akzenten zu versehen. Es wäre der Versuch – ein Stück weit sicher auch gegen Wittgenstein – in dem dauernden Zuendegehen aller Kulturformen ein innovatives Moment zu sehen. Die Lösung von den »alten philosophischen Ideen« bedeutete zugleich wiederum, den Boden zu bereiten für das Auftreten ihrer Nachfolger. Während Wittgenstein noch meinte, seine Alternativbeschreibungen könnten die Philosophie soweit entstellen, daß der Denker Lust und Freude daran verliert, wäre man in der Natur der Sache schon einen Schritt weiter. Die Abweichung vom Dogma wäre nicht nur eine Reduktion bedeutungsvoller Rede auf das Niveau der Alltagssprache, sondern umgekehrt als beachtenswerte Originalität wieder zu feiern. Der aufgewiesene Mangel an Sein führte nicht ins Nichts, sondern in die Umdeutung des Alltäglichen zur Kunst. Die Entstellung wäre auch eine Herstellung, die Abweichung eine Horizontöffnung, die fortgesetzte Selbstaufgabe der Philosophie in Wahrheit eine unendlich kreative Selbstschöpfung. Kreativität könnte gar nicht anders als wieder Kreativität hervorzubringen, und schon Wittgensteins Wunschvorstellung, endgültig von der Bedrängnis philosophischer Fragen weg zu kommen, wäre nur die List der Natur, ihn unendlich zum Weitermachen zu bewegen. Wo er glaubt, endgültig ins Freie zu kommen, warten nur wieder neue und andere Aufgaben, die es ingeniös zu bewältigen gilt. Im letzten Ende ist der philosophische Erfi ndungsgeist einzig und alleine nur noch dazu da, es jeweils dahin zubringen, daß er auch in der Folge wieder kreativ sein kann. Wittgensteins ›Therapie‹ wäre so nur eine listige Umschreibung des Therapeuten, seine Genesungswünsche so zu formulieren, daß sie doch nie ganz in Erfüllung gehen mögen. Die Decodierung der bedrängenden Botschaften lieferte in allen ihren Einzelheiten schon wieder das Material für neue, ›fruchtbare‹ Belastungen der philosophischen Psyche.
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Stanley Cavell
Die fortschrittlichste Position bei der Rückbettung des Wittgensteinschen Theoriepessimismus in neue Sinnzusammenhänge fi ndet sich zweifellos bei Stanley Cavell. Bei manchen Neu-Wittgensteinianern mag es zuweilen so scheinen, als sei nur der Versuch unternommen, der alten These von Wittgenstein als einem Mystiker ein moderneres Gewand zu geben. Es ist dann nicht mehr von einer mystischen Versenkung und positiven Erfahrung die Rede, sondern nur noch negativ von der korrespondierenden Verflüssigung aller Theorie in an sich sinnlose Literatur. Wo die wahre Sinnfülle alle unsere Ausdrucksversuche (das Sagbare) unendlich übertriff t, wir uns aber zugleich nicht mehr auf eine irrationale Ur-Erfahrung berufen wollen, da zeigt sich diese Fülle wenigstens im unwiderstehlichen Literarischwerden der Philosophie. Was bleibt, ist nur der absolute Vertrauensschwund in das Medium Sprache als dem Erscheinungsort des Rechten und Wahren. Nur wo das philosophische Medium zum literarischen Selbstdementi gezwungen wird, hat es noch Teil an dem, was es nicht zu fassen in der Lage ist. Fortschrittlich ist Cavells Philosophie im Anschluß an Wittgenstein, weil er gegenüber Diamond und Conant noch eine positive Antwort auf die Frage hat, worauf am Ende alle Verflüssigung von Theorie bei Wittgenstein zielt. Die Pointe besteht nicht mehr in der bloßen Zurückweisung der Frage, die bei Diamond und Conant mit dem Recht legitimiert erscheint, daß Wittgensteins Literatur-Lektion nicht verstanden wurde bei dem, der noch die Theoriefrage stellt. Sie besteht vielmehr darin, an die Stelle des Mystischen oder auch nur Unbefragbaren das Naheliegendste und Auskunftsfreudigste zu setzen: das Alltägliche in der Menschenwelt. An die Stelle des absoluten Hintergrunds tritt der absolute Vordergrund, wo vorher Sinnleere war, ist jetzt Sinnfülle. Würde man es in den genannten Zusammenhängen verstehen, wäre es mit der protestantisch anmutenden These zu verbinden, daß sich das Gottvertrauen nicht in einer ›unio mystica‹, nicht nur in der Abstinenz von aller moralischen wie theoretischen Hybris, sondern zugleich im Sich-Einlassen auf den gottgewollten Gang der Dinge zu finden ist. Das Zurückweisen hybrider Ansprüche an sich und die Welt ist verbunden mit der Wiedereingliederung des sinnsuchenden Individuums in eine allumfassende Ordnung. Eine Ordnung, die es zwar nicht durchschaut, in der es sich aber von neuem und ganz und gar aufgehoben fühlen darf. Cavell nennt dies programmatisch Declining Decline, eine doppelte philosophi-
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sche Verneinung, die zur existenziellen Affi rmation führen soll164. Es ist ein Essay, wie er selbst sagt, »der dem nicht unvertrauten Gefühl eines moralischen oder religiösen Eifers in den Untersuchungen nachgeht und zu dem Ergebnis kommt, daß deren moralische Arbeit nicht von ihrer philosophischen Arbeit getrennt ist, daß für sie irgend etwas wie Moral für die Philosophie alldurchdringlich geworden oder wieder geworden ist«165. Durch diese Brille gesehen erscheinen Cavell die harmlos anmutenden Sprachanalysen als das verzweifelte Mühen, aus einem Problem herauszufinden, das mit PU § 123 nüchtern formuliert zwar nur sagt: »Ein philosophisches Problem hat die Form: ›Ich kenne mich nicht aus‹«, zugleich aber weiter geht und meint, dieses Problem »sei verwandt mit der Verlorenheit, die Dante in der Mitte seiner Lebensreise angesichts des dunklen Waldes fühlt (Verlust des Weges), als er beginnt, von der Reise zu berichten. … Religion nennt einen ähnlichen Anfang Verdammnis«166. Der Weg aus solcher Verdammnis verläuft auch bei Cavell wiederum ekstatisch, als ein plötzliches Heraustreten aus der undurchschaubar gewordenen Welt in eine Fremde, in der alles Problematische weit genug wegrückt, damit es sich schließlich ganz verliert. Allerdings ist dies nicht mehr als eine Entrückung ins Nicht-mehr-Menschliche angesetzt, sondern mit Nietzsche, der herangezogen wird, als eine Rückkehr ins Allzumenschliche. Wie bei der sprichwörtlichen Rückkehr des verlorenen Sohnes geht es ihm um eine erlösende Umcodierung der FreudLeid-, der Fremd-Heimat-Erfahrung, die sich am literarischen Charakter der PU festmacht und dann wie ein Wiederaufstieg aus Dantes Inferno vorgestellt wird: »Wenn man, wie ich es hier tue, auf eine Bereitschaft zählt, an der Kontinuität zwischen nah und fern festzuhalten, dann rechnet man auf eine bestimmte Möglichkeit, den impliziten Kontinuitäten zwischen dem Vergnügen, das ich für bestimmte literarische Gesten 164 | Vgl. dazu auch folgende Passage aus »Wittgenstein als Philosoph der Kultur. Alltäglichkeit als Heimat«, in: St. Cavell, Nach der Philosophie, hg. v. L. Nagl/K. Fischer, Berlin 2001, S. 97: »Die Kraft dieser Anerkennung des Alltäglichen für die Philosophie hängt untrennbar mit der Anerkennung der Einsicht zusammen, daß in der Zurückweisung oder Verbiegung der Ordnung des Alttäglichen ein Grund für philosophische Leere (sprich Nichtigkeit) und Gewalt liegt«. 165 | St. Cavell, »Die Alltagsästhetik der ›Philosophischen Untersuchungen‹«, in: J. Gibson/W. Huemer, Wittgenstein und die Literatur, Frankfurt a.M. 2006, S. 40. 166 | Ebd., S. 42.
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in den Untersuchungen behauptet habe, und dem Porträt des menschlichen Pathos, das ich ihnen entnahm, nachzugehen. Die Art des Folgens erfordert eine Bereitschaft, in sich selbst die Momente der Fremdheit, Krankheit, Enttäuschung, Perversität, Erstickung, Qual, Verlorenheit zu erkennen, die in der Sprache der Untersuchungen artikuliert werden, und in ihrem Philosophieren zu erkennen, daß ihre Freuden (sie werden bis zu Beispielen des Ekstatischen zu reichen haben) in den spezifischen Formen und Momenten der Erholung, die sie vorschlagen, liegen werden – der Vertrautheit (folglich der Unheimlichkeit. Da die Worte der Erholung schon vertraut waren, allzu vertraut), der Gesundheit, der Endlichkeit, der Nützlichkeit, der Reibung, der Anerkennung, der Ruhe«167. Verschiedene Schichten einer Phänomenologie des Alltags sind hier übereinandergesetzt. Jeder kennt das Gefühl, das Aristoteles zu Anfang der Nikomachischen Ethik als eine einzigartige Lust beschreibt, die paradoxerweise nicht als Triebmittel einer Aktion vorausgeht, sondern, im Gegenteil, einer an sich mühseligen, schwierigen, oder prüfungsähnlichen Situation nachfolgt 168. Sie ist die Lust oder die Freude, die sich in der Entspannung nach der Anspannung einstellt, wenn die vorangegangene Aktion als gelungen gewertet werden darf, oder, wenn es weniger auf Erfolg oder Mißerfolg ankommt, also mehr auf das bloße Durchstehen einer Situation, einfach nur dadurch entsteht, daß die Gefahr des Scheiterns oder die andauernden Qualen ein definitives Ende haben. Wie Wittgenstein sagt, ist auch noch der Umstand gemeint, daß man endlich von einem Problem lassen kann, das einen sonst unablässig weiter quält, und er meint dabei natürlich die Philosophie (in der berühmten Wendung von PU § 133: »Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will«). Nicht umsonst stehen im Hintergrund alle Verhältnisse, die eine Form des ›Liebeskummers‹, auch des metaphysischen, anzeigen. Das souveräne Schlußmachenkönnen ist dasjenige, was alleine Erleichterung verschaffen kann, überall dort, wo eine weitherkommende Passion ihre Gefangenen macht. Als zweite Lage kommt bei Cavell jene existenzialistische hinzu, die irgendwo zwischen Kierkegaard und Hemingway auf einen Heroismus des Scheiterns abzielt. Nicht die gelungene Aktion, sondern die zum metaphysischen Scheitern verdammte Mühe ist Anlaß einer letzten pathetischen Glückserfahrung noch im Schmerz des Mißlingens. Weil die Sache insgesamt verloren scheint und kein tieferer Sinn mehr hinter 167 | Ebd., S. 48f. 168 | Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch II, 2, 1104b3ff.
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dem aufleuchtet, für das der letzte Einsatz gewagt wird, erscheint der entschlossene Abschluß noch ruhmreich, wenn auch in einem verkehrten Sinne. Der Moment des endgültigen Abspannens aus der bloßen Fiktion einer echten ethischen Tat ist das, was das zugehörige Pathos meint: das Gefühl einer entspannten Euphorie, wo alles längst verloren ist, die ›grundlose‹ Freude über den bloßen Umstand, daß die ganze Lüge zusammen mit einer vergeblich gewollten Wahrheit endlich zusammenbricht. Hemingway ist für Cavell das Vorbild solcher Triumphe im endgültigen Ablassen von Dingen, die sich schon in ihrer Echtheit nicht mehr mitteilen lassen, sondern nur noch ein vages, eben ›pathetisches‹ Mitgefühl hervorrufen, rein literarisch. Cavell vermutet so hinter der ganzen Diskussion der PU um Schmerz und Privatsprache zuletzt ein schriftstellerisches Echo auf die Ohnmacht des Philosophen, zu sagen, was jene für immer verlorene Gesundheit unserer Sprache noch in ihrem Schwinden uns mitteilen wollte: »Mir fiel auf, daß – lange vor der Beschreibung der Phantasie der unausdrückbaren Privatheit oder Erstikkung, kurz vor Beginn des Teils IV – eine Aura von Pathos gegen Ende von Kapitel 4 und 5, die Teil I abschließen, an Intensität gewinnen. Wir finden dort erstickte Schreie in einem Hemingwayschen Krankensaal; Keats’ Trauer um einen toten Dichter; Bilder von verhungernden oder verlassenen Kindern«169. Kurz: das Portrait eines »modernen Selbst«170. Philosophie als Aphoristik
Fortschrittlich ist Cavell zuletzt, weil mit seiner These von der Erlösung im Alltäglichen auch das Verhältnis zum Medium der Philosophie interessanter, weil deutlich komplexer, wird. Dies in zwei Richtungen, einmal was die Philosophie der Sprache betriff t, dann aber auch in der grundlegenden Frage, was die Sprache der Philosophie bestenfalls sein kann. Wenn im Gefolge der New Wittgenstein-Bewegung vorausgesetzt werden darf, daß die Philosophie eine literarische Form annehmen muß, um alle Theorievermutung zu unterlaufen, dann hat Cavell noch einen Vorschlag, welche präzise Form es dabei sein muß und welcher philosophische Hintersinn mit ihr verbunden scheint. Diamond und Conant sind, vereinfacht gesprochen, schon zufrieden alleine mit der abweisenden Geste, und mögen es dem erbaulichen oder märchenhaften Ton über169 | Cavell, »Die Alltagsästhetik der ›Philosophischen Untersuchungen‹«, a.a.O., S. 45f. 170 | Ebd., S. 46.
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lassen, die passenden Intuitionen beim Leser zu wecken. Im Grunde muß auch jeder Anhänger ihrer Literaturthese schon spüren, worauf sie hinaus will, und daß hier ein Wittgenstein spricht, der wie Kierkegaard einzig und allein Platz für den Glauben schaff t. Cavell dagegen schließt in der Formfrage an eine kontinentale Tradition an, die Wittgensteins Schreiben gerne in die Reihe der Aphoristik einreihen möchte171. Ohne daß die Kontexte benannt werden, meint Cavell hier ähnlich wie Adorno und Benjamin, der Aphorismus sei jene Verkehrsform der Sprache, in der durch das Aufeinandertreffen antagonistischer Aussagekräfte eine »schockartige Empfindung«172 ausgelöst werden kann, die als eine »Empfindung von Befreiung« erfahren werden muß. Im Aphorismus neutralisieren sich die aufgebotenen Wahrheitsansprüche der Philosophie soweit, daß sie für einen momenthaften Theorie-Augenblick die Sicht frei machen auf ein dahinterliegendes Ganzes, das dann als die Sphäre einer vollkommenen Erlösung von aller philosophischen Verstellung anvisiert ist. Die Unbedingtheit der erfahrenen Einsicht ist für Cavell das formale Merkmal dafür, daß eine höhere Einsicht gesucht und gefunden wurde. Die Bereitschaft, alle weitere Sinnsuche danach sein zu lassen, Zeichen einer therapeutischen Wirkung. Cavell vergleicht dazu Wesen und Wirkung mathematischer Beweise mit der Konzeption der Wittgensteinschen Kurzprosa. Der frühe Wittgenstein, das will Cavell damit sagen, suchte schon das Absolute in solchen Formen der ›übersichtlichen Darstellung‹173. Der späte hat nur die sprachlichen Mittel dazu vertauscht. Der Beweis ist eine »Struktur, die mir sagt, daß etwas vorbei ist, daß ein Boden erreicht ist, daß ich meine Wünsche nicht zu konsultieren brauche, daß es keine intellektuelle Relevanz hätte, sie zu konsultieren, um zu bestimmen, ob ich dieses Denken abbrechen kann. Der vollkommene Beweis bricht es ab. Er gewährt mir eine Ekstase, der keine Qual vorangeht (aber vielleicht die Höhen und Tiefen des Staunens). Darin 171 | Dies nicht zuletzt ausgehend von der oft wiederholten, generellen Vermutung: »Die Aphoristik ist die österreichische Form des Philosophierens« (I. Ivask, »Theologie als Grammatik. Der Aphorismus als die österreichische Form des Philosophierens«, in: Basil, Eisenreich, Ivask, Das große Erbe, Graz und Wien 1962, S. 40). 172 | Cavell, »Die Alltagsästhetik der ›Philosophischen Untersuchungen‹«, a.a.O., S. 44. 173 | Vgl. Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, hg. v. G.E.M. Anscombe, R. Rhees, G.E. von Wright (5. Auflage), Frankfurt a.M. 1994, S. 143.
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liegt ihre Schönheit«174. Auch die PU liefern in dieser Hinsicht nichts anderes als Beweise, mit dem formalen Unterschied nur, daß dabei eine »Erweiterung formaler Übersichtlichkeit auf eine Entdeckung nichtformaler Übersichtlichkeit«175 nötig ist. Es scheint für Cavell, als würden Beweis und Aphorismus ein und dieselbe Funktion ausüben: Schlußstein zu sein in einem Argumentationsbogen, der eine formal, der andere nichtformal. In diesem Zusammenhang kann man daran erinnern, wie es Manfred Frank auch schon zuvor zu seiner These gemacht hat, daß der zeitgenössische Aphorismus in der Tat eine Literaturform ist, die aus dem Ringen der Romantiker um die (schon unmöglich gewordene) Möglichkeit eines letzten Systems entstanden ist. Cavell begnügt sich für den Nachweis mit einer ›übersichtlichen Darstellung‹, die als eine Art Quiz erscheint: 10 ›Aphorismen‹ Wittgensteins werden ähnlich lautenden Fragmenten der Gebrüder Schlegel gegenübergestellt, ein Zitat stammt von Ralph Waldoo Emerson176. Es entsteht das gewünschte Quid pro quo, das natürlich vorhersehbar bleibt, aber in der vorgestellten Perfektion des Gleich- und Ähnlichlautens immer noch eine Restfreude für den Leser (wie den Autor, der darauf lauert) bereithält. Die eigentliche Pointe ist für Cavell aber ganz offenbar erst dann gemacht, wenn die Spannung der Prüfung überhaupt schwindet und in Freude umschlägt über die Einsicht, daß man jetzt nicht weiter zu forschen braucht, und sich auch das Problem der Traditionszuschreibung mit einem Mal erledigt hat. Die PU sinken vor den Augen gespannter Theorieerwartung zurück in den literarischen Strom europäischer Aphoristik. Die Philologen hätten zwar sicher noch einiges anzumerken gehabt, zum Beispiel, wie der Terminus des Aphorismus ursprünglich aus den medizinischen Lehrsatzformen in einer Tradition ausgehend von Hippokrates kommt und erst im späten 18. Jahrhundert den Weg ins Deutsche findet, und zwar auf dem Umweg über die Juristensprache177. Interessant ist dabei, wie aus der Metapher des Aphorismus als ein ›Abgetrenntsein‹ einzelner Lehrsätze vom übrigen Gedankengebäude im Lauf der Zeit ein Programmtitel für ein antisystematisches Philosophieren 174 | Ebd., S. 50. 175 | Ebd., S. 51. 176 | Vgl. ebd., S. 53f. 177 | Vgl. H. Krüger, Studien über den Aphorismus als philosophische Form,
Frankfurt a.M. 1956. Vgl. zur Geschichte der Gattung besonders im deutschsprachigen Raum Fr. Spicker, Der Aphorismus: Begriff und Gattung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1912, Berlin 1997.
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schlechthin wird. Heinz Krüger hat Mitte der 1950er Jahre dazu einmal eine exemplarische Herleitung im Sinne Adornos konzipiert, in der man leicht fündig wird für solcherlei Anschlüsse. Umgekehrt kann man aus der gleichen Herkunft des Aphorismus aus der Gelehrtensprache auch den Schluß ziehen, wie es Thomas Macho zuletzt getan hat, daß die Zuordnung Wittgensteins zu den Aphoristikern nicht wirklich einschlägig ist: »Der Aphorismus ist nach meinem Verständnis eine Theorie in Miniaturform, ein abgeschlossener Gedanke, oft nur ein Witz, ein Wortspiel oder eine knappe Pointe; Wittgenstein war fasziniert von Witzen, aber gleichzeitig völlig humorlos, was sich verläßlich daran zeigte, wenn er zu scherzen versuchte«178. Für Cavell kann es allerdings auch nach solchem Einspruch bei seiner Zuordnung bleiben. Die Aphorismen, in deren Sammlung die Wittgensteinschen Bewertungen nur ein Teil sind, sind nur noch der Form nach echte Literatur, dem Inhalt nach aber schon in ein anderes, lebendigeres Medium getaucht. Anders als die ›Miniaturformen‹ von Theorie, wie sie seit Lichtenberg zuletzt eine gesteigerte Form von Scharfsinn verraten, begrenzen sie ein bestimmtes Wissen um die Welt nicht mehr und heben es heraus, sondern entgrenzen es und fügen es ein in eine ›Aphoristik‹, die zunehmend von der Ironie der Dinge selbst übernommen wird. Film as Philosophy
Die Philosophie der Sprache scheint mit Wittgensteins Gang in die Literatur schon eine Pointe zu haben – was Cavell aber als die eigentliche Frucht seiner Mühen sieht, Wittgenstein zeitgemäß zu lesen, ist die Vorstellung, die Sprache insgesamt tauge nur unvollkommen dazu, das auszudrücken, was er eigentlich zu verstehen geben wollte. Der Aphorismus ist demnach zwar schon eine Darstellungsform, in der sich eine vorschnelle Stilisierung von Alltäglichkeiten zu Theorien über die Welt als eine solche selbst entlarvt. Der Cavellsche Aphorismus zumindest zitiert unsichtbar den ganzen Kontext wieder hinzu, aus dem die Theorieansprüche genommen und abstrahiert sind, bettet sie wieder ein in den Fluß der Kontingenzen, über die sie sich damit in Wahrheit doch nicht wirklich erheben können, und er tut dies vor allem durch seine literarische Form. Er gibt in seinem vereinzelten, unsystematischen Auftreten zu verstehen, wie sehr all jene prätendierte Letztverbindlichkeit doch nicht mehr als das Aufscheinen einer Hinsicht, das 178 | Th. Macho, »Einleitung« zu Wittgenstein, a.a.O., S. 25.
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Feststellen eines Aspektes, das Exklusivwerden eines Gedankens auf dem Weg zur ›idée fi xe‹ sein kann. Das alles, meint Cavell allerdings, geht noch besser. Die Sprache ist nicht das beste Medium, um in dieser Weise Auf klärung über sein eigenes Funktionieren zu schaffen. Es gibt eine Form der Selbstreflexion, die in besagter Hinsicht noch weniger theorieanfällig und noch intuitiv eingängiger ist, noch weniger mißverständlich und damit noch ›oberfl ächlicher‹ im Hervorkehren dessen, was sie eigentlich und ganz zuletzt will: »What I wanted to capture by saying that fi lm is inherently selfreflexive is simply the significance of the fact that what you’re given in fi lm is a view of a place or a person or an object that is from one place rather than any other, at this time and with this texture and no others, and so on. Choice – thought, reflection – is on the surface. Obviously there are homologous choices in the other arts, but with fi lm the alternatives (of angle, distance, lighting, interval etc.) are in principle so obvious as to be imponderable. The reason for emphasising this, even so brusquely, is that it is just the thing that is invisible about fi lm. It’s on the surface, you can’t miss it; but you inveterately miss it. Film trades on this, on missing it; it is part of fi lm’s emotionality. Call it the false transparency of fi lm. If we say that this transparency is achieved through fi lm’s power to induce trance-like states, then our next task is to uncover the sources of this power. Should we relate false transparency to a resistance to the recognition of reality’s independence of us?« 179 Film ist wie Sprache ein Medium, um es mit Wittgenstein zu sagen, das uns ›verhext‹. Es scheint ›transparent‹ zu sein, so daß es den Blick auf die Wirklichkeit freigibt, und doch ist es eine ›false transparency‹, die so entsteht, weil Film nur ein Mittel der Simulation ist, geeignet zur Erweckung subjektiver Trance-Zustände. Wenn es der Wittgensteinschen Sprache gelingt, durch eine Verfremdung der Theorieform ins Aphoristische die Aufmerksamkeit auf jene Verhexung unseres Verstandes zurückzulenken, dann tut der Film dasselbe, nur vielleicht noch besser und stärker und wohl noch mit weniger Zutun des Philosophen. Denn was an Verstellung im Film angelegt ist, liegt so an der Oberfläche des Mediums selbst, daß es sich dem Betrachter nahezu von alleine aufdrängen müßte. Jeder, der einen Film sieht, ist über die phänomenale Stilisierung der Ansichten, über ihre Raum-Zeit-Koordination und dem Wie ihrer 179 | »Stanley Cavell in conversation with Andrew Klevan«, in: Film as Philosophy. Essays on Cinema After Wittgenstein and Cavell, hg. v. R. Read/J. Goodenough, Houndmills, Basingstoke, Hampshire, New York 2005, S. 189.
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Darstellung nach Cavell immer schon ›im Bilde‹ (spätestens der außergewöhnliche Umstand, daß bei Filmproduktionen die Regie immer besser bezahlt wird als das Skript, die Umsetzung eines Stoffes also mehr gewürdigt als dessen Erfindung, ruft es uns zuweilen ins Gedächtnis zurück). Ursache dafür ist die schiere Evidenz, daß es grundsätzlich unerschöpflich viele Möglichkeiten gibt, dieselbe Sequenz anders in Szene zu setzen, mit Variationen in Einstellung, Winkel, Licht und Schatten, Farbe und Ton, nochmals deren Färbung und Tönung, und so weiter. Die durch eine bestimmte Regie ausgeschlossenen Möglichkeiten sind damit immer schon ›via negativa‹ mitpräsent. Der Film kann zuletzt gar nicht anders, als im Zeigen der Bilder, in dem, was er zeigt, auf das Wie ihrer Stilisierung Bezug zu nehmen. Sie wird, im Jargon der Phänomenologie, adpräsentiert, das heißt, mit einem Bewußtsein begleitet, das sie zwar nicht in ihr Zentrum nimmt, und damit als solche vorstellt, aber doch im Modus einer hinter- oder untergründigen Präsenz. Das ist der Teil der ›Emotionalität‹, die aus der Spannung zwischen der Ausblendung möglicher anderer ›Wirklichkeiten‹ und der Einblendung ihrer dauernden Sichtbarkeit entsteht, als das, was die Einstellung vor aller Augen liegend ›verdrängt‹. »Film trades on this«. Kino tut nach Cavell gar nichts anderes, als im Film auf die von ihm selbst herausgehobene und damit verabsolutierte Möglichkeit fi lmischer Wirklichkeit zu reflektieren, so daß sich im Reflex auf sein Gemachtsein die vom Film erzeugte Spannung zu der ihn umgebenden Alltäglichkeit am Ende von selbst aufhebt. Das Durchsichtigwerden der ›false transparency‹ führt für Cavell zu einem filmspezifischen ›happy ending‹, in dem sich die dramatische Blickverengung als das intrinsische Mißverständnis des Films löst und die Stilisierung der Ausnahmebetrachtung durch Einbettung ins Alltägliche zurückgenommen wird. Unnötig zu sagen, daß Cavell natürlich nicht nur die Form, sondern auch den Inhalt des Films betroffen sieht. Was das Wesen des Films ausmacht, hat demnach die amerikanische Filmindustrie schon früh genug erkannt, um es in den Klassikern der 40er und 50er Jahre zum Plot des Hollywood-Films schlechthin zu machen. Cavell nennt es die »Remarriage Comedy« 180. Das Drama der Entzweiung wird zurückgenommen, und am Ende steht eine wunderbare Versöhnung. Die antike Hamartia, der eine entscheidende Fehler muß nicht mehr gleich tragisch sein, es gibt in Hollywood eine ›second chance‹, einen zweiten Anfang, ein Versöh180 | Vgl. St. Cavell, Pursuits of Happiness: The Hollywood Comedy of Remarriage, Cambridge, MA: Harvard University Press 1981.
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nungsangebot, wie es die Möglichkeit der Heilung des Geschehens noch am Ort größter Verirrung vorsieht. ›Remarriage‹ ist die Befreiung vom alten tragischen Fluch, ›Comedy‹ ihr neues Genre. Wer zuweilen nicht umhinkommt, mit Cavell auch noch das amerikanische Fernsehen mit analytischem Anspruch zu kommentieren, wird sich in dieser Evidenz eines Erlösungsgenres wiederfinden, oder er kann zumindest nachvollziehen, wie man darauf kommt. Jeder Konsument von daily soaps ist immer schon zu der festen Erwartungshaltung erzogen, daß es immer erst ein unglückliches Zusammentreffen geben muß, das die weitere Geschichte eigentlich unmöglich macht oder zumindest schwer belastet, ein Mißgeschick oder Streit oder auch nur eine nicht zu lösende Situation, in der sich die künftigen Hauptdarsteller zum ersten Mal in ihrer Geschichte begegnen. Und er weiß ebensogut, daß dies am Ende nur der vorläufige Anlaß gewesen ist zu dem magischen Satz, »Ich bin der und der, mein Name ist …, lassen Sie uns noch mal ganz von vorn anfangen«. Cavell besteht entsprechend darauf, daß es nicht die Qualität der Gefühle ist, die Shakespeare vom Slapstick unterscheidet. »The genre of remarriage allows room for the expression of the commonest, most conventional of human emotions, and between the most primitive or comprehensible of human actions, including moments of slapstick loss of control. Yet their range of variation serves to align these common human themes or frailties with their most refined expressions«181. Es geht einzig und allein um die reflexive Einstellung zu ihnen. Bei Shakespeare auf der Bühne mußte noch als Drama enden, was im Hollywood-Film sich so in Wohlgefallen auflöst. Die Entspannung gelingt, wenn die »most refined expressions« des Dramas sich in ihrer Stilisierung an der Seite der »common human themes or frailties« der Komödie unverhoff t wiederfinden. Und das kann passieren, wenn das Dramatische in seiner ganzen Stilisierung offensichtlich wird, wenn die ganze Unwahrscheinlichkeit der Verwicklungen deutlich wird, vor dem Hintergrund der Art und Weise, wie sich die Dinge alltäglich und von alleine regeln. Das Verhängnis ist so eigentlich nur eine stilistische Störung im Lauf der Dinge, deren unheilvolle Dramatik sich durch einen Seitenblick auf die Künstlichkeit in der Steigerung der Gefühle beheben läßt. Es gilt hier, »the highest and lowest moods may be seperated by the thickness of a membrane. They join hands here with Shakespeare«182. Diese dünne Membran bildet das ausdehnungslose Re-
181 | Ebd., S. 198. 182 | »St. Cavell in conversation with Andrew Klevan«, a.a.O., S. 188.
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flexionsverhältnis, mit dem in Hollywood der glücklichere Ausgang von Stratford upon Avon aus genommen wird. Ein wenig theologisch angehaucht kann man dabei auch von einer Art ›Inkarnation‹ sprechen als dem passenden Schlüssel zur Erlösung. Die einzige Instanz, die schon das Drama in seiner schicksalhaften Unauflöslichkeit noch hätte retten können, ein mit den Menschen gnädiger Gott, ist Fleisch geworden. Eine letzte Versöhnung ist nicht mehr nur jenseitig denkbar, sondern bereits wirklich. Ein guter Geist ist herabgestiegen, der alle Dinge in einem neuen, befreienden Licht aufscheinen läßt. Für Cavell tritt der »Regisseur« des Hollywoodfi lms mit Hegel gesprochen als eine Art Geschäftsführer dieses Geistes auf, er ist ein »Magus« 183, der es fertig bringt, daß auf wunderbare Weise aus der Unmöglichkeit von Rettung plötzlich Wirklichkeit wird. Er bringt den Geist in die Welt als ein Reflexionsverhältnis, in dem alles, was zuvor sinnlos und verwirrend geworden war, sich nun in das Wohlgefallen eines unmittelbaren Wiedererkennens auflöst. »Der Geist der Komödie in diesen Filmen hängt an unserer Bereitschaft, die Möglichkeit einer solchen Welt in Erwägung zu ziehen, einer Welt, in der gute Träume wahr werden« 184 . Daran schließt die Theorie von der Unknown woman nahtlos an. Wiederheirat bedeutet nichts weniger als Wiedergeburt, und Wiedergeburt ist die »Erschaff ung der Frau, der neuen Frau oder der neuen Erschaff ung des Menschen«185. Ein wenig Freudianisches Erbgut ist darin enthalten. Die Freudsche Maxime »Zweite Ehen gehen in der Regel besser aus« 186 rechnet mit der Befreiung von unlösbaren Mutter-Tochter-Konkurrenzen einfach dadurch, daß mit der Scheidung auch die alten FamilienRivalitäten zusammen »mit der ersten schlechten Ehe zertrümmert«187 werden. Das Therapeutische der Filmregie hat aber auch die spirituelle Dimension, daß die »Protagonistin in gewisser Weise stirbt und zu neu-
183 | St. Cavell, »Die Nacht vor der Hochzeit, oder: Die Wichtigkeit der
Wichtigkeit«, in: ders., Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen, hg. v. D. Sparti/E. Hammer, Frankfurt a.M. 2002, S. 120. 184 | Ebd., S. 123. 185 | Ebd., S. 121. 186 | S. Freud, »Über die weibliche Sexualität«, in: ders., Studienausgabe, Bd. 5, Sexualleben, Frankfurt a.M. 1972, S. 284. 187 | Cavell, »Die Nacht vor der Hochzeit, oder: Die Wichtigkeit der Wichtigkeit«, a.a.O., S. 119.
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em Leben erwacht«188. Ganz unverhohlen spielt Cavell schließlich noch auf einen theologisch-politischen Gründungsmythos an, in dem die Hollywood-Komödie etwas mit dem Auszug ins gelobte Land zu tun haben muß, mit der befreienden Vision von einer Flucht aus ›ägyptischer‹ Gefangenschaft (Europa) in die erlösende Weite eines heiligen Landes. »Mit Blick auf Die Nacht vor der Hochzeit 189«, in der sich für Cavell das Wesen der Hollywood-Komödie offenbart, »möchte ich behaupten, daß das Gespräch diese Fragen zuspitzt auf die Frage nach Amerika, auf die Frage also, ob Amerika den neuen Menschen geschaffen hat, den perfekten Zusammenschluß, die innere Ruhe und die neue Geburt der Freiheit, ob es mithin die Suche nach dem Glück erfolgreich gesichert hat und damit das Gespräch verdient, das es verlangt« 190. Cavells Antwort ist zumindest kultur-patriotisch und lautet ja, allerdings erst einmal nur für die Hollywood-Komödien der 40er und 50er Jahre191. 188 | Ebd., S. 121. 189 | Im Original: The Philadelphia Story, 1940, Regie George Cukors, mit Cary Grant, James Stewart und Katherine Hepburn in den Hauptrollen. 190 | Cavell, »Die Nacht vor der Hochzeit, oder: Die Wichtigkeit der Wichtigkeit«, a.a.O., S. 135. 191 | Stanley Cavell geht mit seiner ›Erlösungsthese‹ des Hollywoodfi lms immer noch am weitesten in der inzwischen reichhaltig gewordenen Diskussion, was das Verhältnis von Film und Philosophie angeht. Die ältere Kulturtheorie hatte mit Benjamin und Adorno geschwankt in einer kulturkritischen Bewertung des neuen Mediums. Béla Balázs und Siegfried Kracauer sehen im Marxschen Sinne schon ambivalente Qualitäten des Massenmediums im andauernden Klassenkampf (vgl. B. Bálasz, Der Geist des Films, Frankfurt 2001, bes. S. 145 ff; S. Kracauer, Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1993). Benjamin und Adorno differenzieren und verfeinern diese Bedenken aus Sicht der Kritischen Theorie, wenn auch uneins über die Orthodoxie der Schule. Josef Früchtl hat mit Berufung auf die erste Frankfurter Schule kürzlich eine »Heldengeschichte der Moderne« konzipiert, in der sich die alte Klassenkampff rage in den virtuellen Welten der Postmoderne auflösen dürfte, in ästhetisches Wohlgefallen (J. Früchtl, Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne, Frankfurt a.M. 2004). Nicht zuletzt der Einfluß von Gilles Deleuze ist hier spürbar. Zumindest insoweit, als dessen Kino-Studien immer auf den Umstand abgehoben haben, daß sich die Begriffe des Kinos nicht leicht klassifi zieren und instrumentalisieren lassen. Vielmehr erscheint das Kino als ein Medium, das mit seinen Bildern in die Welt eingewoben ist, so wie die Welt sich
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Resümee: ›Wittgenstein goes Amerika‹: Mit Stanley Cavell findet sich die vielleicht raffinierteste Umdeutung der philosophischen Stimmungslage des späten Wittgenstein. Die Anhänger des New Wittgenstein hatten sich insgesamt darauf verständigt, überhaupt nur den ›therapeutischen‹ Wittgenstein ernst zu nehmen, alles andere als überflüssige Theoriebelastung abzutun. »Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will« (PU §133). Diamond und Conant interpretieren das so, daß alles auf den Abbruch ankommt, um damit Raum zu schaffen für das, was hinter der Philosophie liegt. Sie meinen, dies geschähe ganz im Sinne Kants, wenn man fi ndet, daß seine Kritik einzig das Ziel verfolgt, die Ansprüche der Philosophie von innen heraus zu beschränken, um Platz für die Metaphysik und vor allem für den Glauben zu schaffen. Und die Grenzziehung kann nur in ihrem Verlauf eigentlich als bewegtes Bild erst richtig zu verstehen gibt, zuerst als Bewegungs-Bild, dann als Zeit-Bild. Kino ist zuletzt, philosophisch verstanden, eine ontologische Durchsicht auf das Wesen der Zeitlichkeit, auf die Endlichkeit der Welt, die von pictures in motion festgehalten, im wahrsten reflexiven Sinne, wird, dabei aber zugleich als Zäsur und Bruch mit jeder picturalen Feststellung erfahren werden kann. Film ist, mit Bergson verstanden, der ›élan vital‹, der sich selbst ansichtig wird (vgl. G. Deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M. 1997; ders., Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M. 1997). In dieses ganze kontinentale Schema paßt Cavells Ansatz nicht hinein. Es geht nicht um Moderne und Postmoderne, um dramatische oder spielerische Inszenierung ihrer epochalen Widersprüche. Film ist für ihn und seine inzwischen zahlreichen Anhänger vielmehr der phänomenale Ort, an dem einzig das Invididuum verstehen kann, daß es um seine ureigenen letzten Dinge geht, abgesehen von allem anderen auf der Welt. Kino ist der Ort, an dem einem Zuschauer seine eigene ›Verstocktheit‹ – interpretiert als existenzielle Hingabe an den falschen Schein – wie auf einer Großleinwand ansichtig werden kann. Vorgeführt wird ein Problem, wie es in der christlichen Anthropologie immer schon so vorgestellt wurde und im Kino jetzt nur besonders virulent wird, weil es als beispielhafter Simulationsraum der großen Gefühle auch der philosophischen Analyse plötzlich offen steht. Zuletzt sei angemerkt: Alle genannten Ansätze bestehen zurecht darauf, als genuine Film-Philosophien nicht verwechselt zu werden mit philosophischer Literatur, die sich des Films nur als besonders anschaulichem Beispiel bedient, oder gar nur Filme über Philosophie meint (vgl. dazu J. Goodenough, »Film as Philosophy«, in: R. Read/J. Goodenough, Film as Philosophy, a.a.O., S. 3-35; ebenso J. Früchtl, a.a.O., S. 22-24).
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gelingen, das ist ihre These, wenn die Philosophie an dem Punkt ihrer letzten Selbstbeschränkung und Selbstaufgabe schon nicht mehr philosophisch argumentiert, sondern nur noch ironisch depotenziert. So wird Philosophie zu Literatur, und Kierkegaard ist nachvollziehbar das Vorbild im anvisierten Raumgewinn für den Glauben. Cavell geht dagegen – und jene, die ihm in der Filmanalyse folgen192 – noch einen entscheidenden Schritt weiter. Er spekuliert nicht mehr mit dem metaphysisch-religiösen Raumgewinn auf ein Kommendes und jenseitig der Philosophie Liegendes; vielmehr sieht er schon im Wittgensteinschen Abbruch des Philosophierens selbst ein euphorisches Moment enthalten, nicht erst dessen Vorbereitung und Vorfreude. Im Loslassen aller Theorieansprüche leuchtet selbst unmittelbar die neue Gewißheit auf, theoretisch bereits ein ›neuer Mensch‹ geworden zu sein. Nach dem Wegfall aller philosophischen Forcierung ist im existenziellen Fallenlassen schon die Aufnahme in ein neues ›Heilsverhältnis‹ mitenthalten. Versteht man diesen Gedanken ohne Anführungszeichen, wird aus Therapie Konversion. Die Hollywood-Komödien der 40er und 50er Jahre sind nur die schwachsäkularisierten Belege jener These, und das auch von Wittgenstein so hochgehaltene Kintop das neue Medium seiner Erscheinung. Der ursprüngliche Gedanke Wittgensteins, daß nach dem Abbruch des Philosophierens oder mit dem Abbruch des Philosophierens vielleicht überhaupt nichts mehr kommen könnte oder gar nichts Neues entsteht, ist hier weit weggehalten. Das bloße, fassungslose Staunen vor dem Bestehen der Welt kann es für den New Wittgenstein nicht geben, weil er zugleich auch schon ein wiedergeborener, neuer Mensch sein muß. Was im Ur-Text zur Schau gestellte Weltfremde ist, die einen verzweifelten Moralisten als Autor Philosophischer Untersuchungen verrät, wird zur absoluten Weltnähe umcodiert. Wittgensteins unendliche Distanzierung von allen Sinnformen dieser Welt wird sogleich als euphorische Aufnahme 192 | Vgl. z.B. Stephen Mulhalls On Film, London 2002, wo es um die philosophische Weltfremdheit der ›Aliens‹ geht, oder die Fallanalyse des Cavell-Schülers Simon Critchley in seinem Beitrag »Calm: On Terence Malick’s The Thin Red Line«, in: R. Read/J. Goodenough (Hg.), Film as Philosophy, a.a.O., S. 133-148; von eher praktischer Seite folgt Andrew Klevan Cavell, wo es um Fragen angemessener Filmkritik geht (vgl. ders., »Habitual Remarriage: The Ends of Happiness in The Palm Beach Story, in: : R. Read/J. Goodenough (Hg.), Film as Philosophy, a.a.O., S. 149-163, sowie im Interview mit Stanley Cavell, aus dem bereits zitiert wurde (in: R. Read/J. Goodenough (Hg.), Film as Philosophy, a.a.O., S167-209).
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in eine höhere Existenzform gedeutet. Ohne ein Stück Augustinus und die Vorstellung einer Aufnahme in die ›civitas Dei‹ noch mitten in der ›civitas terrena‹ wird man im Grundverständnis dieser Unwertung nicht auskommen können. Die ›Gelassenheit‹ des späten Wittgenstein wird damit auch im weitesten Sinne verwandt mit der eines späten Heidegger, der sich der Vergeblichkeit seiner philosophischen Erneuerung bewußt geworden ist, ohne dies deshalb zum Motiv eines Versagens als eines Verzagens zu nehmen. Auch hier haben die Nahestehenden wie Gadamer immer vermutetet, Heidegger sei zeit seines Lebens ein ›Gottsucher‹ gewesen, der sich auch noch in der Not möglichen Scheiterns doch nie von einem Geiste verlassen wußte, der von viel weiter herkommt, wie Heidegger meint, als der Mensch je denken kann, und ebensoweit in die Zukunft weist.
II. Wittgensteins Bilddenken und die Kultur theorie
»›Die allgemeine Form des Satzes ist: Es verhält sich so und so‹. – Das ist ein Satz von jener Art, die man sich unzählige Male wiederholt. Man glaubt, wieder und wieder der Natur nachzufahren, und fährt nur der Form entlang, durch die wir sie betrachten« (PU § 114). »Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen« (PU § 115).
Die Serie möglicher Folgerungen aus der Enttäuschung, die Wittgenstein als Moralist erleidet, ist an dieser Stelle noch nicht beendet. Es bleiben noch Möglichkeiten zu skizzieren, wie das Ablassen von überzogenen Theorieansprüchen als ein neues Sich-einlassen auf ein anderes Paradigma der Weltverständigung umgedeutet werden kann. Die transatlantische Aufnahme Wittgensteins hat mit Rorty und Cavell dazu entscheidende Schritte gemacht mit Blick auf eine Aktualisierung des philosophischen Mediums. Die kontinentale Hermeneutik hat komplementär die weitergehenden Traditionen benannt, aus denen heraus das Wittgensteinsche Denken auch weiter wirken kann. Freilich gälte es zum Schluß, hier im Lichte der neuen Wendung der Medien- und Kulturwissenschaften wie auch neuerlich der Lebenswissenschaften noch weitere Schritte zu einer heutigen, zeitgemäßen Aneignung zu gehen.
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Hierzu sind vorläufig drei Operationen nötig. Zum einen gilt es an der ›Medienfront‹ die Wittgensteinsche Philosophie neu zu beleuchten und im Lichte eines vertieften Verständnisses des Wesens von Bildern im Besonderen und unserer kulturellen Kodierung im Allgemeinen darzustellen. Was bei Cavell noch als bloße Metapher gemeint war in dem Sinne, daß die Wittgensteinsche Reflexion auf Sprache als eine Reflexion im Bild, im bewegten Bild zumal, besser aufgehoben wäre, müßte sich dann im Sinne des ›iconic turn‹ als eine generell verstandene Bildbezogenheit der Wittgensteinschen Sprachphilosophie verallgemeinern lassen (I). Zum anderen ist es ergänzend dazu nötig, die hermeneutische Einbettung eines solchen ›Bilddenkens‹ anders und neu zu denken. Seit den Tagen des Rationalismus und des ausgehenden Mittelalters ist es so gesehen üblich, die Sprache grundsätzlich als Vernunftordnung der Natur dem Reich der Kontingenzen gegenüberzustellen. Wenn Rorty mit Nietzsche und Darwin von Kreativität und vitalen Kräften redet, Bubner von der Phänomenologie und der Lebenswelt, Cavell mit versöhnlichem Pragmatismus von den Lebensläufen und Frank von moderner Literatur und Lebensfragmenten, ist diese Vorstellung immer noch weitgehend intakt. Überall, wo unsere Kultur in diesem Sinne natürlich geblieben ist, kontextuiert sie unsere eigenen technisch-wissenschaftlichen Stilisierungen, und wenn wir, mit Cavell gesprochen, uns nicht zu ›verstockt‹ zeigen, bekommen wir mit Hilfe unserer philosophischen Therapien Abstand und Zugang zugleich zum heilsamen Strömen des natürlichhistorischen Sinns. Hier ist, nach medientheoretischer Präzision des Gedankens, noch einmal zu fragen, ob man diese Intuition der ›Einbettung‹ nicht vielleicht evidenter und zeitnäher reformulieren kann. Nicht zuletzt, weil, entgegen der wittgensteinschen Absicht, doch weiter noch an der Grammatik einer Geistphilosophie festgehalten wird und der Verdacht nicht weniger wird, hinter den natürlichen Versöhnungsangeboten und Naturkräften verbärgen sich doch wieder von weit her kommende ›Geister‹, im Sinne der hermeneutischen Wirkungsgeschichte, der literarischen Frühromantik, eines aufgeklärten Pragmatismus oder eines bildmächtig gewordenen Evangelismus. Die letzte Aussicht bietet dazu Wittgensteins Berufung auf die morphologische Methode Goethes, die selbst im Licht neuerer Interpretationen weniger romantisch und kulturtheoretisch beispielhaft erscheinen kann. Es wäre, wie mir scheint, etwas gewonnen, wenn es gelingt glaubhaft zu machen, daß bei Wittgenstein zuletzt keine Übergabe des Denkens an eine okkulte Kraft vorliegt, wenn er das Philosophieren für therapiert hält; vielmehr könnte es sich erweisen, daß zuletzt die Therapie
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– nicht nur negativ verstanden, sondern als positive Gedankenbewegung – gar nichts anderes übrigläßt und nachvollzieht als das Wirken einer Natur, die im Entfalten ihrer eigenen Möglichkeiten den Prozeß einer selbstkritisch gewordenen Kultur vor- und ausbildet. Wo Goethes Metamorphosenbegriff einen solchen Zuschnitt in der Fusion des Natur- und Kulturgedankens erhält, kann mit Olaf Breidbach zuletzt behauptet werden, es sei ein »Begriff, in dem Geschichte nicht als ein fortwährender Prozeß, sondern als eine sich in der Zeit entäußernde Bestimmung des Möglichen gedacht ist«1. Metamorphose tritt so an die Stelle von Metaphysik, und die Zumutung Wittgensteins, die er als Erbe hinterlassen hat, wäre zuletzt darin zu bestimmen, den Übergang von einer logischphilosophischen Grammatik zu einer Metabiologie der Kulturformen mit wohlwollendem Verständnis zu begleiten (II). Schließlich kann die Wende von einer Depotenzierung der Philosophie zu einer Form ihrer Neubegründung mit dem späten Wittgenstein sogar noch weiter ausgereizt werden. Der Rückgang von Metaphysik auf Metabiologie und Metamorphologie ist dann perfekt, wenn nachvollziehbar wird, wie sich im Medium natürlicher Weltbetrachtung nicht mehr nur eine Dekonstruktion, sondern eine Rekonstruktion unserer philosophischen Weltsicherheiten ergibt. Anknüpfungspunkt dafür ist Wittgensteins spätes Konzept eines ›Weltbildes‹, mit dem wir in der alltäglichen Auseinandersetzung mit der Welt immer schon vertraut sind, so sehr, daß es uns im Grunde nur bei spektakulärem Versagen als solches überhaupt bewußt wird. Es darf als der natürliche Hintergrund aller unserer Erfahrungen gelten, und wenn es überhaupt revidiert wird, dann nur so punktuell, daß sich im Mosaik der Einzelurteile dennoch und problemlos eine schlüssige Gesamtsicht auf die Welt erhält. Was auch immer an bewußten Veränderungen tatsächlich in es eingeht, sinkt somit sogleich wieder vom Vordergrund in den Hintergrund der Betrachtung zurück. Wenn das Konzept des ›Weltbildes‹ die schlagende Antwort Wittgensteins in seinem späten Ringen um skeptische Fragen Über Gewißheit ist, dann bieten die neueren Entwicklungen in den Lebenswissenschaften heute erstaunliche Möglichkeiten, an dieses Konzept anzuschließen. Was Wittgenstein als intuitives Hintergrundwissen anspricht wäre aus der Sicht der neueren Hirnforschung mit den biologischen Mechanismen in Verbindung zu bringen, die es uns erlauben, noch vor jeder bewußten Bewertung von Situationen und damit noch vor ihrer sprachlichen Problematisierung ein Grundverständnis herzustellen, mit dem wir uns erfolgreich im Alltag 1 | O. Breidbach, Goethes Metamorphosenlehre, München 2006, S. 307.
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orientieren. Unsere physiologischen Filter der Weltbetrachtung können so als ein fundamental gedachtes Medium gelten, in dem wir zunächst und zumeist mit den Dingen und Menschen in unserer Umwelt konfrontiert werden. Durch ihre Mediation erhalten wir überhaupt ein Bild von der Welt. Sie bilden den Automatikmodus, in dem uns die Welt zuerst als Welt erscheint. Es wird sich zeigen, daß Wittgensteins gewünschte Philosophieferne die negative Folge hat, daß zu einer passenden WeltbildAnalyse im vorsprachlich-lebenspraktischen Bereich sowohl biologische als auch phänomenologische Ergänzungen nötig sind. In ihrer Grundtendenz kann sie sich dennoch als wegweisend erweisen, und einmal mehr gilt: Die Bedeutung einer Philosophie zeigt sich zuletzt darin, daß sie auch gegen die erklärte Absicht ihres Autors recht behält (III).
I. Die Annäherung von Wittgensteins Sprachdenken an ein »Bilddenken«2 ist in den letzten zehn Jahren prominent geworden. Dahinter steht primär (vorläufig zumindest, und wie es scheint), ein rein sachliches Interesse. Es geht darum, mit Wittgenstein Anschluß zu gewinnen an die neuere Medientheorie, die auf den Siegeszug der Bilder in einer globalisierten Informationsgesellschaft reagiert und seit rund zweieinhalb Jahrzehnten den ›linguistic turn‹ erweitert, wenn nicht ablöst, durch den ›iconic turn‹. So gesehen ist dann das ›Bilddenken‹ ein neuer Kandidat für ein neues Apriori der Kultur, durch dessen ›Brille‹ die Welt uns sinnvoll erscheint. Zur Etablierung dieser Bildwissenschaft kann Wittgenstein einen Beitrag leisten, indem schon seine Sprachanalyse ganz offensichtlich nicht nur auf Bilder als Illustration seiner Sprachprobleme zurückgreift, sondern sie selbst (implizit oder explizit) mit ihrer eigenen Logik einer Analyse unterzieht. Dieter Mersch hat in diesem Sinne zuletzt Wittgenstein als Beiträger zu einer neuen Disziplin auf Originalität hin befragt. Wittgenstein gibt dazu offenbar selbst die Lizenz, wenn er einmal in den 30er Jahren bemerkt: »Ich glaube meine Sätze sind meistens Beschreibungen visueller Bilder die einfallen«3. Das gilt einmal für die Quantität der Bilder und deren Anwendungsgebiete: »Allein der Nach2 | D. Mersch, »Wittgensteins Bilddenken«, in: Deutsche Zeitschrift für
Philosophie, 54 (2006) 6, S. 925-942. 3 | L. Wittgenstein, Denkbewegungen. Tagebücher 1930-1932. 1936-1937, a.a.O., S. 58.
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laß enthält mehr als 1300 Skizzen, technische Zeichnungen, Diagramme oder geometrische Figuren, an denen Wittgenstein seine philosophischen Probleme teils graphisch, teils diskursiv behandelte. Entwickelt werden daran unter anderem zentrale Fragestellungen zur ›logischen Form‹, zum Gesichts- und Farbraum oder auch zur Ähnlichkeit von PortraitBildern, zum Gebrauch von Karten und Plänen oder zum Verstehen von Anweisungen und Abläufen« 4. Das gilt aber auch für die Qualität der Bildbetrachtung: zwar hat Wittgenstein einen »äquivoken« Bildbegriff, der in verschiedenen Kontexten Verschiedenes heißen kann, wo es um eine ›Versinnbildlichung‹ des Gemeinten geht als Teil des Beispielgebens, oder wo es um Hermeneutik geht, um das Auslegen von Bildern im Vergleich zur Auslegung von Texten. Ein univoker und medienwissenschaftlich interessanter Bildbegriff läßt sich dennoch herauslesen an der Stelle, an der es um das »Verständnis von ›epistemischen Bildern‹«5 geht. Bilder werden dann verstanden in der Weise, wie sich mit ihnen Welt erschließen läßt, wie sie dazu eine »eigenständige ›Logik‹« entwickeln, eine »mediale Logik«6, als Modelle im Sinne von »Denkmöglichkeiten«7, versehen mit einer eigenen Grammatik auftreten, mit eigener Strukturbildung, Regelhaftigkeit, als autonome Darstellungsformen mit einer ihnen eigenen »Transzendentalität«8. Zweierlei Dinge sind im Verfolg dieser Linie bemerkenswert: zum einen, wie groß die Nähe von Wittgensteins Bilddenken zur aktuellen Analyse der »Diagrammatik«9 ist, wie sehr also Wittgensteins philosophische ›Illustrationen‹ einen Verständniszugang erfordern, wie man ihn beim richtigen Lesen und zugleich intuitiven Verstehen von Diagrammen voraussetzen muß. Zum anderen aber, wie wenig Bereitschaft, nach dem Urteil von Mersch, Wittgenstein gezeigt hat, tatsächlich in die Erforschung solcher Bildlogiken im wissenschaftlichen Sinne zu investieren, wie wenig Strukturen und Funktionsweisen er in Wahrheit ans Licht gebracht hat, über den bloßen Ansatz jener neuen Zugangsweise hinaus. Hätte er sich eingelassen auf eine Ausarbeitung seiner Grundidee 4 | Mersch, a.a.O., S. 925. 5 | Ebd., S. 926. 6 | Ebd., S. 927. 7 | Ebd., S. 929. 8 | Ebd., S. 932. 9 | Ebd., S. 927.
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einer neuen Medienwissenschaft, hätte er zum Beispiel den konkreten Fragen der Bildgrammatik nachgehen können, der Bejahung und der Verneinung (d.h. der Unmöglichkeit von kontradiktorischer Verneinung, weil Bilder nur darstellen, nicht aber nicht darstellen können; der Möglichkeit dagegen einer Bildung von kontradiktischen Oppositionen bei der Farbwahrnehmung zum Beispiel), des Konjunktivs (der Unmöglichkeit einer ›Als ob‹-Darstellung), der Schwierigkeiten mit dem Konditional (für den Fall, daß…), der Modalitäten von Diskursivem und Performativem (wo Diagramme etwas unmittelbar anschaulich machen, im Vollzug der Anschauung, und zugleich doch eine ›Legende‹, einen bestimmten Schlüssel brauchen, um als intuitiv eingängig ihren Zweck zu erfüllen)10. Hinter dem diagnostizierten Defizit an medienwissenschaftlicher Ausarbeitung steht ein philosophisches Problem, ein Grundanliegen Wittgensteins, das er verfolgt und das ihm offenbar wichtiger war als die Theoriebildung nach neuem Paradigma. Es klingt bei Mersch an der Stelle an, an der die Enttäuschung über das Versäumte am deutlichsten wird. Eine »Kontinuität in der Fragestellung Wittgensteins von der Früh- zur Spätphilosophie« enthülle sich eigentlich nur dort, wo »sich im Prinzip die gleiche Begründungsschleife wie im Tractatus« ergibt, »jene Zirkelfigur, die sich an der Russellschen Antinomie rieb und die Saul Kripke mit dem Paradox des Regelfolgens in Verbindung gebracht hat«11. Wittgensteins medientheoretisches Interesse hat demnach damit zu tun, daß er mit Russells begrifflicher Lösung nicht zufrieden war, wie mit einer Letztbegründung aller Wissenschaft und ihr zuförderst der Logik zu verfahren sei. Russell hatte bekanntlich gegen Frege den Einwand gemacht, daß mit der Logik eine Letztbegründung unmöglich wird, wenn deren Vokabular ›selbstreferenziell‹ gebraucht werden kann. Wo dies der Fall ist, droht am höchsten Punkt der Begründungspyramide eine unauflösliche Antinomie nach dem Muster der ›Menge aller Mengen, die sich selbst nicht enthalten‹. Als Gegenmaßnahme konzipiert Russell seine Typenlehre gekoppelt mit dem Verbot einer Sprachstufenmischung. ›Typen‹ werden in den Principles of Mathematics definiert als 10 | Ausführlich und auch im philologischen Detail diskutiert werden diese Fragen von Uli Richtmeyer: »Logik und Aisthesis – Wittgenstein über Negationen, Variablen und Hypothesen im Bild«, in: M. Heßler/D. Mersch (Hg.), Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009, S. 139-162. 11 | Ebd., S. 938.
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Klassen von Elementen, die auf einer Stufe Einzeldinge, der nächsten Mengen von Einzeldingen, darauf folgend Mengen von Mengen von Einzeldingen enthalten, wobei die Typenlehre es will, daß diese Typen von Elementen eine Hierarchie bilden müssen, die jeweils nach oben und unten undurchlässig bleibt. So wird Selbstreferenzialität vermieden, indem die Termini der Begründung typologisch auseinandergehalten werden und für die Zwecke der Begründung jeweils auf die nächst höhere Ebene einer Metasprache gewechselt werden muß. Zusammen mit der Hierarchiebildung erscheint so die Möglichkeit der Begründung nicht gefährdet. Wittgenstein verwirft den Ansatz einer semantischen Erklärung, bei dem die Bedeutung der Grundbestandteile unserer Sprache defi niert werden, ebenso wie die Russellsche Vorstellung vom Stufenbau logischer Hierarchien zur Vermeidung logischer Antinomien. An beider Stelle setzt er die Konzeption von Sprache als einem Medium, das sich nicht über die Rückführung der Inhalte auf letzte Bedeutungs- und Funktionskerne, sondern allein über die Form bestimmen läßt. Es kommt zur »Unterstellung einer Strukturäquivalenz, die gleichzeitig die Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit steuert, wie sie als Beziehung innerhalb des Darstellungsprozesses ohne Korrelat bleibt. Dann erübrigen sich sowohl die Russellsche Paradoxie als auch das Problem von Selbstreferenz, weil zwar Ausdrücke wie f(x) geprägt werden können, nicht aber f(f)«12 (vgl. TLP3.332; 3.333). Was Russell sagen wollte, erweist sich somit als unsagbar, dafür muß es sich bei Wittgenstein zeigen. Das richtige Funktionieren der Sprache im Erkenntnissinne kann nicht noch einmal von einer weiteren Funktion abhängig sein. Jede weitere Bestimmung dieser Funktion, so meint Wittgenstein im Tractatus, wäre entweder nur wieder ein einfacher Bestandteil des schon genannten Funktionsschemas, oder aber nicht mehr begrifflich-semantisch nachzuvollziehen. Das Problem mit dem Regelfolgen, das Kripke seinerseits als Paradox herausgestellt hat, ergibt sich dann aus der späteren Einsicht Wittgensteins in den Philosophischen Untersuchungen, daß im Grunde doch ein ›f(f)‹ immer mit im Spiel sein muß. Damit nämlich der Ablauf irgendeines Geschehens als bedeutungsvoll im Sinne des Spiels gewertet werden darf, muß schon die Funktion der Funktion, oder die Regel zur richtigen Regelbefolgung, verstanden und mitgewußt werden. Beispielsweise: »Es genügt, um den Plan zu verstehen, nicht, daß ich diese Zeichnung sehe […]. Ich muß wissen, was es heißt, diesem Plan zu folgen. Einem Plan 12 | Ebd., S. 933.
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folgen ist wesentlich dieselbe Tätigkeit wie eine Projektion […] nach einer bestimmen Regel zu kontrollieren. Ich kontrolliere den Plan nach der Regel. Ich verbinde durch meine Tätigkeit die Regel mit dem Plan« 13. Der einzige Unterschied, der sich aus dieser Problemsicht zwischen der Frühund der Spätphilosophie Wittgensteins ergibt, ist die Verschiebung der anvisierten Lösung vom mystischen Sich-Zeigen der ›logischen Form‹ von Sprache und Welt zum performativen Regelfolgen eines Sprachspiels, das auch immer schon vorgängig präsent und gekonnt sein muß. Ein uneinsehbares Know-that macht einem vorsprachlichen Know-how Platz. Diese Einsicht wird aus medientheoretischer Sicht besonders deutlich, wenn auch schon das ›Bilddenken‹ Wittgensteins im Tractatus nicht nach einem vertikalen Abbildungsschema zwischen Denken und Welt gedacht wird, sondern entsprechend einer Diagramm-Logik als eine horizontale, logisch-semantische Vorstrukturierung unseres Sprachraums. Auf Heinrich Hertzens Modelltheorie kann dabei verwiesen werden, der auf theoretische Modelle für die Physik als reine »Denkmöglichkeiten« verweist, wo diese gezwungen ist, an den Rändern zur Beobachtbarkeit ihrer Phänomene zu operieren (und also spätestens dort das einfache Abbildungsschema als Theoriegrundlage obsolet wird). In der Verlängerung des Gedankens bei Wittgenstein wird aus dem physikalischen Modell ein Modell für unsere Welterkenntnis insgesamt, und während bei Hertz für die bloße Denkmöglichkeit nur Nicht-Widersprüchlichkeit verlangt wird und somit auch zwei physikalische Modelle nebeneinander bestehen können (die »Zweckmäßigkeit« soll dann den Ausschlag geben14), legt sich Wittgenstein anders fest. Einzig wiederum die ›logische 13 | L. Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen, in: ders., Wiener Ausgabe, Studien Texte, Bd. 1, hg. v. M. Nedo, Wien 1994, S. 43 und 44; zitiert aus Mersch, a.a.O., S. 938. 14 | »Von zwei Bildern desselben Gegenstandes wird dasjenige das zweckmäßigere sein, welches mehr wesentliche Beziehungen des Gegenstandes widerspiegelt als das andere; welches, wie wir sagen wollen, das deutlichere ist. Bei gleicher Deutlichkeit wird von zwei Bildern dasjenige zweckmäßiger sein, welches neben den wesentlichen Zügen die geringere Zahl überflüssiger oder leerer Beziehungen enthält, welches also das einfachere ist. Ganz werden sich leere Beziehungen nicht vermeiden lassen, denn sie kommen den Bildern schon deshalb zu, weil es eben nur Bilder und zwar Bilder unseres besonderen Geistes sind und also von den Eigenschaften seiner Abbildungsweise mitbestimmt sein müssen . […] Ob ein Bild zulässig ist oder nicht, kön-
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Form‹ ist ausschlaggebend. Nicht die »Notation, sondern die Syntax im Sinne ihres formalen Erzeugendensystems« 15 ist maßgeblich. Des weiteren kommen zwei andere Komponenten bei Wittgenstein der Diagramm-Logik entgegen: »Diesen Begriff des Bildes habe ich von zwei Seiten geerbt: erstens vom gezeichneten Bild und zweitens von dem Bild des Mathematikers, das schon ein allgemeiner Begriff ist. Denn der Mathematiker spricht ja auch dort von Abbildung, wo der Maler diesen Ausdruck nicht verwenden würde«16. So kommt es zum einen zu einer Verräumlichung des Modellbegriffs, indem der Bildbegriff mit dem des »logischen Raumes« gekoppelt ist (TLP1.13; 2.013; 2.202). Zum anderen wird jener ›logische Raum‹ als eine »Vorbedingung symbolischer Darstellung«17 aufgespannt, in dem die logischen Strukturen am Vorbild der mathematischen Modellbildung entwickelt werden. Schließlich das, was Mersch mit Wittgenstein als »Zusammenhang der Elemente des Bildes« als »Struktur und ihre Möglichkeit seine Form der Abbildung« anspricht (TLP2.15), die »Konkatenation«18, die Verkettung der Gegenstände durch die Art und Weise, wie sie eine »interne Relationalität«19 untereinander ausbilden. Entscheidend für den Charakter der Bildlichkeit ist hierbei die Codierung der Information, nicht mehr das räumliche Entsprechen, so daß die eigentliche Abbildung nur noch als Beiwerk erscheint und die reine Funktionalität der benutzten Symbole20 im Vordergrund steht. Wittgenstein denkt an eine »Projektionsmethode«, und meint damit die Struktur eines Modells sowie den nen wir eindeutig mit ja und nein entscheiden und zwar mit Gültigkeit unserer Entscheidung für alle Zeiten. […] Ob ein Bild zweckmäßig sei oder nicht dafür gibt es überhaupt keine eindeutige Entscheidung, sondern es können Meinungsverschiedenheiten bestehen. Das eine Bild kann nach der einen, das andere nach der anderen Richtung Vorteile bieten, und nur durch allmähliches Prüfen vieler Bilder werden im Laufe der Zeit schließlich die zweckmäßigsten gewonnen.« H. Hertz, Die Prinzipien der Mechanik, hg. v. P. Lenard, Leipzig 1910, S. 2f. Vgl. grundsätzlich zum Vorbild, das Hertz und auch Helmholtz für das Theoriedesign von Wittgensteins Tractatus geben konnten: Janik/Toulmin, Wittgensteins Wien, a.a.O., S. 168-173. 15 | Mersch, a.a.O., S. 929. 16 | Wittgenstein und der Wiener Kreis, a.a.O., S. 185. 17 | Glock, Wittgenstein Lexikon, Eintrag zur ›Bildtheorie‹, a.a.O., S. 85. 18 | Mersch, a.a.O., S. 929. 19 | Ebd., S. 930. 20 | So unterscheidet Wittgenstein auch Zeichen und Symbol im Tracta-
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Modus, in dem diese Struktur auf die Wirklichkeit übertragen werden soll (TLP3.11-3.13). Hertz sprach in dem Zusammenhang von den »Eigenschaften seiner Abbildungsweise«21, Freud in seiner Traumdeutung von einer »Chiffriermethode«22, die so funktioniert, daß der Trauminhalt uns erscheint »als eine Übertragung der Traumgedanken in eine andere Ausdrucksweise, deren Zeichen und Fügungsgesetze wir durch die Vergleichung von Original und Übersetzung kennenlernen sollen«, eine Kodierung, die an ein »Bilderrätsel« erinnert, bei dem man nicht den Fehler begehen darf, es »als zeichnerische Komposition«23 zu beurteilen. Der Epoche vor Augen liegt zuletzt die Art und Weise, wie durch die neuen Medien eine Möglichkeit der Explikation von bisher verborgen ablaufenden Erkenntnis- und Deutungsprozessen geboten wird 24. Instrumente und Maschinen, ihre Verarbeitungs- und Steuerungssysteme machen dies offenbar. Die Diagramme, von denen Mersch für die Medientheorie analytisch ausgeht, sind anschaulich gesprochen für die Zeit vor allem Baupläne und »Schaltkreise«25. Zuallerletzt gibt es noch eine biographische Stütze der These, die über alle generellen Zeiterfahrungen und unterschwelligen Konditionierungen weit hinausgehen dürfte. Wittgenstein, wie man weiß, hatte vor seiner ›Berufung‹ zum Philosophen durch Russell Ingenieur werden wollen. Er war vom 23. Oktober 1906 bis zum 5. Mai 1908 eingeschrieben in der Technischen Hochschule, der heutigen Technischen Universität, in Berlin Charlottenburg und hatte dort Maschinenbau studiert26. Anschließend war er im Frühjahr 1908 nach Manchester gegangen, um tus mit Blick auf den Vorrang der Funktionalität von Anwendungsregeln: »Das Zeichen ist das sinnlich Wahrnehmbare am Symbol.« (TLP3.32.) 21 | Vgl. H. Poser, »Hertz und Wittgenstein über Bilder«, in: G. Abel/M. Kroß/M. Nedo (Hg.), Ludwig Wittgenstein. Ingenieur – Philosoph – Künstler, Berlin 2007, S. 91-102. 22 | S. Freud, Die Traumdeutung, Studienausgabe Bd. II, Frankfurt a.M. 2002, S. 124. 23 | Ebd., S. 280 und 281. 24 | Vgl. in dem Zusammenhang grundsätzlich Fr. Kittler, Optische Medien, Berlin 2002. 25 | Mersch, a.a.O., S. 937. 26 | Einzelheiten finden sich bei Wolfgang König, »Die Technische Hochschule Berlin, die Studienstätte des jungen Wittgenstein«, in: G. Abel/M. Kroß/M. Nedo (Hg.), Ludwig Wittgenstein. Ingenieur – Philosoph – Künstler, a.a.O., S. 17-25.
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dort ein selbstentworfenes Flugzeug zu bauen. Er blieb zwei Jahre, wollte am Ende einen Jetmotor bauen, meldete zum Abschluß »Verbesserungsvorschläge für einen Flugzeugpropellor«27 zum Patent an, das er nach Verbesserungen im Oktober 1911 auch bekam. Kelly Hamilton28 hat zuletzt minutiös herausgearbeitet, wie Wittgenstein nicht alleine dort mit der Logik von technischem Zeichnen in Berührung kam, sondern noch mehr, wie auch schon in seiner Schulausbildung Wittgenstein einschlägig vorbereitet und sogar trainiert worden war, im Geiste einer Kultur, die den Fortschritt bei den Ingenieuren wußte. Zwei Dinge sind dabei über die Details der Stundenpläne von Wittgensteins Kursen und den pädagogischen Programmen der Ausbilder hinaus bemerkenswert. Es ist zum einen das Grundprinzip, mit dem er bereits in der Schule konfrontiert wurde, daß das technische Zeichnen grundsätzlich Dreidimensionales zweidimensional darstellen können muß. Die darstellende Geometrie operiert entsprechend mit ›Abkürzungen‹, die als Schlüssel verstanden werden, wie man aus der modellhaften Darstellung zurück auf das Darzustellende im Raum schließen kann. Es braucht eine ›Projektionsmethode‹, um die Punktverteilung im Raum auf eine schematische Weise in der Ebene wiederzugeben und umgekehrt. Es braucht Umrechnung von Längen, Winkeln und Größen, damit ein getreues Abbild entsteht. Das zweite, was bemerkenswert ist, ist der Umstand, daß die Didaktik für den Unterricht in der Schule wie den technischen Universitäten zu der Zeit davon ausging, wohl im weiteren Sinne einer ›Realschule‹, nicht mit den Schülern die theoretischen Grundlagen zu reflektieren, sondern vor allem für die Praxis zu schulen. Das heißt konkret, daß sehr viel geübt wurde, viel gezeichnet, immer wieder neue Probleme vorgestellt wurden, die es dann zeichnerisch zu bewältigen gab. Interessant erscheint dies nicht im Sinne einer Kulturkritik (mit dem Vorwurf, es würden schon damals zu wenig theoretische Grundlagen vermittelt), sondern im Zusammenhang hier mit der These Wittgensteins, daß man den Schlüssel zur Umsetzung von Plan und Wirklichkeit, die Regel, die das Regelbefolgen regelt, das ›f(f)‹, in der Tat nicht theoretisch in der Hand hält. Der Umsetzungsschlüssel ist nicht 27 | Vgl. Monk, a.a.O., S. 51, sowie J. Thorbeck und Fl. Böhm, »Wittgenstein und die Aeronautik in Wien, Berlin und Manchester«, in: G. Abel/M. Kroß/ M. Nedo (Hg.), Ludwig Wittgenstein. Ingenieur – Philosoph – Künstler, a.a.O., S. 27- 47. 28 | K. Hamilton, »Wittgenstein and the Mind’s Eye«, in. J.C. Klagge, Wittgenstein. Biography and Philosophy, Cambridge 2001, S. 53-97.
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Teil der Zeichnung, so wie es die dargestellten Elemente sein können, wie auch in der Sprache die Projektionsmethode nicht mehr in der Sprache auf diskrete Weise mitformuliert ist. Wie es der späte Wittgenstein dann wendet, handelt es sich um ein Gebrauchswissen, das »ganz unterschiedliche Erkenntnis-Tätigkeiten einbettet: Darstellen, Herstellen, Verweisen, Reagieren, Ins-Spiel-Bringen, Vergleichen und vieles mehr«29. Von der Medientheorie zur Metaphysik ist es an dieser Stelle nicht weit. Wittgenstein als Vorläufer einer »Gebrauchstheorie« der Diagrammatik mit dem Einbezug mathematisch-naturwissenschaftlicher Komponenten ist das eine; das andere ist die Frage, welche Bedeutung diese Analyse für den größeren Zusammenhang hat, in dem Wittgenstein zum Promotor einer neuen Weltsicht werden kann. Man kann denselben Befund nämlich auch so werten: »Die Maschinentechnik ist selbst eine eigenständige Verwandlung der Praxis derart, daß diese erst die Verwendung der mathematischen Naturwissenschaft fordert. Die Maschinentechnik bleibt der bis jetzt sichtbarste Ausläufer des Wesens der neuzeitlichen Technik, das mit dem Wesen der neuzeitlichen Metaphysik identisch ist«30.
II. Heidegger: »Bei dem Wort Bild denkt man zuerst an das Abbild von etwas. Demnach wäre das Weltbild gleichsam ein Gemälde vom Seienden im Ganzen. Doch Weltbild besagt mehr. Wir meinen damit die Welt selbst, sie, das Seiende im Ganzen, so wie es für uns maßgebend und verbindlich ist, Bild meint hier nicht einen Abklatsch, sondern jenes, was in der Redewendung herausklingt: wir sind über etwas im Bilde. Das will sagen: die Sache selbst steht so, wie es mit ihr für uns steht, vor uns. Sich über etwas ins Bild setzen heißt: das Seiende selbst in dem, wie es mit ihm steht, vor sich stellen und es als so gestelltes ständig vor sich haben. Aber noch fehlt eine entscheidende Bestimmung im Wesen des Bildes. ›Wir sind über etwas im Bilde‹ meint nicht nur, daß das Seiende uns überhaupt vorgestellt ist, sondern daß es in all dem, was zu ihm gehört und in ihm zusammensteht, als System vor uns steht. ›Im Bilde sein‹, darin schwingt mit: das Bescheid-Wissen, das Gerüstetsein und sich darauf Einrichten. Wo die Welt zum Bilde wird, ist das Seiende im Ganzen 29 | Mersch, a.a.O., S. 939. 30 | M. Heidegger, »Die Zeit des Weltbildes«, in: ders., Holzwege (8. Auflage), Frankfurt a.M. 1980, S. 73.
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angesetzt als jenes, worauf der Mensch sich einrichtet, was er deshalb entsprechend vor sich bringen und vor sich haben und somit in einem entscheidenden Sinne vor sich stellen will. Weltbild, wesentlich verstanden, meint daher nicht ein Bild von der Welt, sondern die Welt als Bild begriffen. Das Seiende im Ganzen wird jetzt so genommen, daß es erst und nur seiend ist, sofern es durch den vorstellend-herstellenden Menschen gestellt ist. Wo es zum Weltbild kommt, vollzieht sich eine wesentliche Entscheidung über das Seiende im Ganzen. Das Sein des Seienden wird in der Vorgestelltheit des Seienden gesucht und gefunden«31. Wittgenstein: »Man glaubt, wieder und wieder der Natur nachzufahren, und fährt nur der Form entlang, durch die wir sie betrachten« (PU § 114). Und: »Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen« (PU § 115). Nach Heidegger machen wir uns mit unserer Sprache, das heißt unserer Wissenschaftssprache, kein »Bild von der Welt, sondern die Welt« wird »als Bild begriffen«. Wenn wir mit Wittgenstein den »Formen der Natur« nachfahren, zeichnen wir nach Heidegger nur das schon vorgezeichnete Bild nach, das wir schon von der Welt entworfen haben, unser vorgefertigtes Weltbild als der »Form, durch die wir sie« auch mit Wittgenstein »betrachten«. »Ein Bild hält uns gefangen« heißt ergänzend, daß wir nicht in der Lage sind, die Projektion noch als solche zu durchschauen. Unsere Sprache ist »unerbittlich« an der Stelle, an der eigentlich Alternativen denkbar sein müßten, da sie es nicht erlaubt, über die Grenzen des Bildes zur Wirklichkeit hinauszugehen und nichts anderes tut, als nur immer wieder dasselbe Bild oder überhaupt eben Bilder vorzustellen. Die sprachlichen Mittel, die sich aus der Festlegung auf das physikalisch-mathematisch-sprachräumliche Modell der Weltbetrachtung ergeben, erlauben keine Dissidenz. Noch der Tractatus hat dies mit seiner Formel unterstrichen: »Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat –, und immer dann, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat« (TLP6.53). Was über das Bild und die Aussagen, die man entlang seiner Projektionslinien machen kann, hinausgeht, verfällt dem philosophischen Schweigen. Der letzte Grund für eine Konvergenz der Wittgensteinschen und der Heideggerschen Zeit-Diagnosen ließe sich dann im Anschluß an die neu31 | Ebd, S. 87f.
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ere Medientheorie wie folgt formulieren. Es ist das, was Heidegger als die »eigenständige Verwandlung der Praxis« durch die »Maschinentechnik« genannt hat und was Wittgenstein nicht zuletzt durch seine frühere akademische Sozialisation im Ingenieurswesen zuerst als selbstverständliches Hintergrundwissen, dann als logisches Know-how und schließlich als Gebrauchstheorie der Sprache verstanden hat; beides erschiene heute in der Retrospektive als Symptom einer Emanzipation der Medien, die von da an weitere Wendungen genommen und unsere Vorstellung vom Weltbild und einer (noch dahinterliegenden?) Wirklichkeit in noch viel prekärere Lagen gebracht hat. Der Kognitionsbiologe Gerhard Vollmer32 hat in diesem Zusammenhang ein Szenario von weitergehenden Kränkungen entwickelt, das mit dem technischen und analytischen Fortschritt auf den verschiedensten Ebenen so operiert, als bliebe dem Zeitgenossen immer weniger Spielraum, die Welt nicht schon durch Konstruktionsbrillen oder vorgefertigte Coderaster hindurch wahrzunehmen oder uns in die Schranken verwiesen zu sehen am Beispiel künstlicher Wesen, die alles schon besser können als wir es je vermocht haben: »Humanethologie« als jene Wissenschaft, die jede Form menschlicher Kulturerzeugung als Teil einer strukturellen Stammesgeschichte sieht, die sich bis ins Gruppenverhalten im Tierreich hinein zurückverfolgen läßt; »Evolutionäre Erkenntnistheorie«, die auf die Mangelausstattung des Menschen mit Blick auf die unerschlossenen Welten abhebt, die im Vergleich zu anderen Kreaturen mit anderer Ausstattung ihres Erkenntnisapparates deutlich werden; »Soziobiologie«, die unser Sozialverhalten konditioniert sieht durch den Egoismus der Gene; »Computer«, deren zunehmende Überlegenheit in der ›Datenverarbeitung‹ eigentlich auf jedem Gebiet die Frage aufkommen läßt, ob unsere humanbiologische Ausstattung nicht eine erkenntnismäßige Codierung unter vielen ist, die aus mehr oder weniger sentimentalen oder naiven Hinsichten noch mit einer Primärdeutung der Welt verbunden erscheint 33. Hinzu kommen, nach Sloterdijk, zwei weitere Erweiterungen: »die ökologische Kränkung, die sich anschickt zu beweisen, daß Menschen heißer Kulturen komplexe Umweltsysteme langfristig nur mißdeuten und zerstören, aber 32 | G. Vollmer, »Die vierte bis siebte Kränkung des Menschen – Gehirn, Evolution und Menschenbild«, in: Philosophia naturalis 29, 1992, S. 118ff. 33 | Zum Thema mit besonderem Blick auf die Medizintechnologie hat sich diesen Komplex Peter Sloterdijk in seinem Essay über »Kränkung durch Maschinen. Zur Epochenbedeutung der neuesten Medizintechnologie« gemacht, in: ders., Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, a.a.O., S. 338-367.
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weder verstehen noch schonen können; und schließlich eine neurobiologische Kränkung, die von der Allianz zwischen Genetik, Bionik und Robotik ausgehen wird und die es in Kürze dahin bringt, daß die intimsten selbsthaften Manifestationen der menschlichen Existenz wie Kreativität, Liebe und Willensfreiheit in einem von Irrlichtern übersäten Sumpf aus reflexiven Technologien, Therapien und Machtspielen untergehen«34. Im Stile der 20er und 30er Jahre hat Heidegger noch eine »Gigantomachie«35 vor Augen, wie dem Siegeszug der abendländischen ›Technik‹ zu begegnen sei, die er als singulare tantum zum Leitbegriff der Moderne macht, einer Moderne, die von den neuen Medien ganz durchdrungen und gesteuert wird. Das ›Sein‹, das sich als das Ursprüngliche und heute Verdrängte aller unserer Weltzugänge gegenüber der modernen Verwaltung und Verrechnung des ›Seienden‹ abhebt, soll in diesem Sinne als eine in sich geschlossene und kompakte Gegenmacht erscheinen. Wittgenstein denkt natürlich an alles andere als eine ›Gigantomachie‹, weil er die philosophischen Ambitionen vollkommen sein lassen will. Allerdings ist auch in seinem ›Kampf‹ gegen die ›Verhexung‹ unseres Geistes das abendländische Panorama der Geistesgeschichte immer noch zweigeteilt, in zwei große Blöcke. Auf der einen Seite sind die Versuche der Weltbild-Bildung, zu der er selbst mit seinem Tractatus den letzten, relevanten Beitrag geliefert hat. Auf der anderen Seite steht mit der Nennung der ›Natur‹ eine ebenso kompakte, als ein Ganzes genommene Vorstellung von dem, was wäre, wenn wir die Philosophie sein lassen könnten. Wittgenstein sucht wie Heidegger immer noch ein ›Außen‹ zu den verstellten Weltzugängen, zu dem »Bild«, in dem wir wie in einem Käfig unserer Wissenschaftssprache und unserer Sprachphilosophie gefangen bleiben. Wie Heidegger, findet Wittgenstein selbst, hat auch er den »Trieb, gegen die Grenzen der Sprache anzurennen«36. Angesichts der beschriebenen Systemveränderungen der ›Technik‹ im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert und der ebenso gewandelten Lage ihrer kulturkritischen Einschätzung scheint es mir ein Schritt in die richtige Richtung, eine besondere Möglichkeit zur Aktualisierung der Wittgensteinnachfolge zu skizzieren. Wo nicht schon die Paradigmen im Sinne neuer Wissenschaftlichkeit festgeschrieben sind, wie in dem logi34 | Ebd., S. 345. 35 | M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, hg. v. Friedrich Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. (5. Auflage) 1991, S. 239. 36 | Wittgenstein und der Wiener Kreis, a.a.O., S. 68.
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schen Positivismus, der Analytik und der Sprachpragmatik, ließe sich so an der ›weicheren‹ Front der Fortschreibung noch eine neue, hermeneutische Option gewinnen. Ein Umdenken in einem wesentlichen Punkt scheint mir dafür schließlich nötig. Es betriff t über alle bereits geleisteten Fortschreibungen von der philosophischen Therapie zur positiven Anwendung hinaus die Vorstellung, daß der Prozeß der Therapie an sich nichts Äußerliches ist, was der Philosophie beigebracht werden muß. Es legt sich vielmehr die Perspektive nahe, dieselbe Wittgensteinsche ›Denkbewegung‹ nicht nur als konsequenten Abbau von Idealismen zu verstehen, sondern umgekehrt als eine Form, wie die Natur unserer Kultur ständig gegen sich selbst Stellung nimmt und prozessiert, solange sie lebendig ist. Der Impuls wäre nicht der einer Beendigung der Philosophie, sondern der Erneuerung ihrer Erscheinungsformen. Er käme so aus einer neu verstandenen ›Sache selbst‹, insofern diese nicht als Wendung des (von sich enttäuschten) Geistes gegen seine eigenen Fixierungen verstanden wird, sondern als eine interne Auseinandersetzung der Natur in der Art, sich gegen sich selbst zu wenden und dadurch nur den Möglichkeiten nachzugehen, die sie selbst noch im Einwand gegen sich hervorbringt. Sachlicher Angelpunkt dieser Umkodierung wäre das Paradigma der Biologie, ausgehend von der Botanik, wie es Wittgenstein durch die Berufung auf die Goethesche Morphologie der Urpflanze selbst anspricht. Die Erweiterungen ins Humane müßten im Rahmen einer Kulturtheorie erfolgen, wie sie bei Goethe selbst mit der Erweiterung der Naturphilosophie auf unsere Kulturwahrnehmung angelegt ist. Dazu zum Schluß wenigstens noch Grundzüge. »›Was der Gescheite weiß, ist schwer zu wissen.‹ Hat die Verachtung Goethes für das Experiment im Laboratorium und die Aufforderung in die freie Natur zu gehen und dort zu lernen, hat dies mit dem Gedanken zu tun, daß die Hypothese (unrichtig aufgefaßt) schon eine Fälschung der Wahrheit ist? Und mit dem Anfang, den ich mir jetzt für mein Buch denke, der in einer Naturbeschreibung bestehen könnte?« (VB465)
Wittgenstein hat geschwankt, wie er mit der Vorstellung einer »Naturbeschreibung« als das mögliche Andere zur Philosophie umgehen soll. Einerseits liegt die Weisheit des »Gescheiten« in der Naturbetrachtung offenbar nur darin, daß er immer wieder erkennt, wie wertlos die Weisheit im Sinne der strengen Wissenschaft ist, wo sie »Hypothesen« aufstellt und damit der Vielheit der Phänomene und ihrer möglichen Aspekte nie
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gerecht wird, sie immer verfälscht, sobald die ›Welt‹ zum ›Bild‹ wird. Naturbetrachtung wäre so nichts anderes als der Titel für die generelle Zurückweisung des Ansinnens unserer wissenschaftlichen Weltbildbetrachtung und hätte an sich auch kein anderes positives Ziel, als der »Fliege den Ausweg aus dem Fliegeglas« zu zeigen, indem die philosophischen Probleme mit einem Mal »vollkommen verschwinden« (PU §§ 309; 133). Schon das Fragezeichen, das Wittgenstein in seiner Vermischten Bemerkung hinter das Vorhaben setzt, den »Anfang« für sein Buch mit einer »Naturbeschreibung« zu machen, die dem Anspruch gerecht werden sollte, ist weiter aufschlußreich. Denn um die wissenschaftliche Hypothese als eine »unrichtig aufgefaßt(e)« darzustellen, um ihr Verfehlen der Welt in der theoretischen Ersetzung durch die Abbildung offenbar zu machen, braucht es nicht Naturbetrachtung schlechthin und ohne jeden Zusatz, sondern eine solche, die in der Lage ist, diese Botschaft zu transportieren. Es gilt die wissenschaftlichen Erkenntnisansprüche gezielt zu konterkarieren. Hierzu entwickelt Wittgenstein das Konzept der ›übersichtlichen Darstellung‹, das entsprechend seine methodischen zwei Seiten hat. Auf der einen Seite steht die Herkunft aus den mathematisch-physikalischen Zusammenhängen, wo mit Frege, Hertz und Boltzmann das ›Modell‹ zum Erklärungsmittel wird und intuitiv – eben als ›Welt-Bild‹ – auch jene Aspekte evident und faßlich macht, die sich in der Theorie im Grunde jeder Anschaulichkeit entziehen. Von hier ging ja auch die Gefahr aus, daß die Theorie nur eine Projektion bietet, zu der es in Wahrheit – so wie die Dinge nach der Kantischen Auffassung des Ansichseins sind – in der ›Natur‹ gar keine echte Entsprechung geben kann. Im Tractatus erscheint der Modell-Gedanke theoretisch als die »richtige logische Auffassung« (TLP4.1213) und in der Praxis als Wahrheitstafel (TLP4.31; 5.101; 6.1203). In der Spätphilosophie operiert Wittgenstein mit Erweiterungen des Konzepts, die es zur ›übersichtlichen‹ Darstellung werden lassen. Wo der Tractatus die eine »richtige logische Auffassung« modelliert, setzen die Philosophischen Untersuchungen immer schon konkurrierende Verhältnisse voraus. Diese werden entsprechend der Wittgensteinschen Herabstufung von Logik auf Grammatik als Konfrontation gedacht, nicht der unmittelbaren Gegenüberstellung von fi xierter Bedeutung eines Konzeptes und der Wirklichkeit, die es behauptet, richtig wiederzugeben, sondern einer Konzeptbedeutung mit einer anderen Konzeptbedeutung: »Sieh es so an …, wenn dich das beruhigt, sieh es so …«37. Die übersichtliche Darstellung kann dabei eine begrenzte Anzahl 37 | Zitiert aus Glock, a.a.O., S. 345.
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von Kombinations- und Bedeutungsmöglichkeiten darstellen, wie bei der ›Grammatik‹, die zum Beispiel Farbkombinationen betreffen und die Wittgenstein in seinem Farbenoktaeder erschöpft behandelt sehen will38. Sie kann eine unbegrenzte und unbegrenzbare Vielzahl möglicher Anschlußvarianten nahelegen, ein grundsätzliches n+1, wie zum Beispiel in der Frage des Regelfolgens in den Philosophischen Untersuchungen. Immer kann beispielsweise die Fortsetzung einer gegebenen Zahlenreihe mit neuen Verläufen auch neue Regeln generieren (vgl. PU § 218). Die gegebene Übersicht hat dann die Pointe der prinzipiellen Unübersehbarkeit aller systematischen Ausformulierungen einer ›Grammatik‹. Schließlich kann die ›übersichtliche Darstellung‹ noch ein drittes nahelegen. Dort, wo es überhaupt nicht mehr um die Konfrontation einer philosophischen Festlegung mit aktuellen oder potentiellen Varianten und Differenzen geht, geht es schließlich darum, der Darstellung eine besondere ›Tiefe‹ zu geben: indem ein Bild nicht gegen ein anderes, sondern gegen seine möglichen Bedeutungshintergründe gehalten wird. Dann zeigt die Übersicht einen Gestaltwechsel an, der das materielle Bildsubstrat beibehält, und nur die Hinsicht der Betrachtung umspringen läßt. Der Hasen-Entenkopf aus den Philosophischen Untersuchungen (309) ist ein solches Beispiel. Als ein therapeutisches Unternehmen bietet die ›übersichtliche Darstellung‹ im Grunde nur das Potenzial zur Ernüchterung der Philosophie, wo sie mit überzogenen Wahrheitsansprüchen auftritt. Die Bandbreite reicht demnach von einer ›einfach‹ gedachten Konfrontation einer idealisierten Bedeutung mit der wahren Bedeutungsvielfalt der Grammatik; am anderen Ende der Skala sieht die Therapie eine ›mise en abîme‹ vor, wo sich zu gegebenen Hinsichten und Festlegungen Abgründe eines unauslotbaren Gestaltwechsels auftun. Der Umschlag der Bedeutung, das Ereignis des Wechsels, der Bruch zwischen dem »›stetigen Sehen‹ eines Aspekts und dem ›Aufleuchten‹ eines Aspekts« (PU 309) ist dann das Entscheidende. Die übersichtliche Darstellung gibt so zu verstehen, daß von einer ganz anderen Warte aus gesehen wir eine Ahnung bekommen könnten vom unvorhersehbaren Entstehen und Vergehen von Welt-Bildern – wenn es uns unheimlich erscheinen sollte, daß sich eine bestimmte und scheinbar fraglose Bedeutung so schlagartig und grundlegend ändern kann, je nach dem semantischen Winkel, aus dem heraus 38 | L. Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen (1929-30), hg. v. R. Rhees, Frankfurt a.M. (6. Auflage) 1996, S. 52.
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wir sie betrachten (wie z.B. eine Zeichnung als Hasenkopf oder als Entenkopf). Mit Blick auf die Genese der ›übersichtlichen Darstellung‹ aus einer methodischen Anleihe bei Goethe wäre es in der Tat nicht ausgeschlossen, von diesem rein negativen Befund noch einmal auf eine positive Grundlegung des sprachlichen Bedeutungswandels nach Wittgenstein zu schließen. So als hätte Wittgenstein im Grunde das Muster eines von Goethe naturalisierten Idealismus wie ein unsichtbares Geländer benutzt, um sich zu den jeweiligen Konfrontationen mit der abendländischen Metaphysik in ihren verschiedensten Spielarten vorzutasten. »Der Begriff der übersichtlichen Darstellung ist für uns von grundlegender Bedeutung. Er bezeichnet unsere Darstellungsform, die Art, wie wir die Dinge sehen. (Eine Art der ›Weltanschauung‹, wie sie scheinbar für unsere Zeit typisch ist. Spengler.)«39 Die Aussage fällt als eine Zwischenbemerkung in Wittgensteins Besprechung von Frazers Golden Bough40 . Wittgenstein stößt sich im Zusammenhang von Ethnologie und 39 | L. Wittgenstein, Bemerkungen zu Frazers Golden Bough, in: ders.,
Vortrag über Ethik, a.a.O., S. 37. 40 | James George Frazer ist viktorianischer Ethnologe, seine anthropologische Studie The Golden Bough. A Study in Magic and Religion wurde bereits vor der Jahrhundertwende ein Bestseller. Das Buch erscheint zuerst in zwei Bänden und wuchs im Laufe der Neuauflagen (1900; 1915; 1936) zu einer Monumentalstudie von 12 Bänden an. Wittgenstein benutzt die gekürzte Ausgabe von 1922. Anfang der 30er Jahre liest er nachweislich im ersten Band der Originalfassung. Der Titel spielt auf ein Gemälde von William Turner mit gleichnamigem Titel an. Das Bild geht auf eine mythische Begebenheit aus Vergils Aeneis zurück. Eine cumaeische Sybille hält einen Zweig in die Höhe. Im Hintergrund ist der Waldsee Nemi zu sehen. Davon ausgehend deutet Frazer die Landschaft als das Heiligtum der Diana Nemorensis und die Szene als den »Schauplatz einer seltsamen, immer wiederkehrenden Tragödie« (J.G. Frazer, Der Goldene Zweig. Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker (Übersetzung der gekürzten Fassung des ›Golden Bough‹ von 1928), Reinbek bei Hamburg 1989, S. 1). Die Tragödie besteht für Frazer in dem »barbarischen Brauch« der Priesternachfolge in dem Dorf Aricia nahe dem Hain von Nemi, bei der der Amtsinhaber nicht überleben konnte und der Nachfolger eben jenen ›goldenen‹ Zweig brach, um sich symbolisch zum neuen Priester und damit auch zugleich zum König zu erklären, nachdem der Königsmord einmal begangen war. Erstaunlich fi ndet Frazer die Vermengung von magischen und religiösen Riten, im Beispiel also den besonderen Umstand, daß
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Anthropologie an Frazers »Entwicklungshypothese«, die Magie und Ritual in ihrem ursprünglichen Sinn schon wie eine neuzeitliche Technik versteht, die auf Manipulation und kausale Beeinflussung aus ist, allerdings dazu noch nicht die passenden Mittel besitzt. Magie und Ritual sind so nur vorangehende Schwundformen dessen, was möglich und richtig ist. Einem solchen ›Eurozentrismus‹ und ›Technizismus‹ gegenüber plädiert er dafür, den beschriebenen Phänomenen in ihrem lokalen und historischen Kontext ein Eigenrecht einzuräumen. Methodisch bedeutet das vor allem, die Finalisierung der genetischen Methode aufzugeben. Eine genetische Erklärung müsse sich dagegen »analog dem Schema einer Pflanze« darstellen lassen, »oder aber durch Gruppierung des Tatsachenmaterials allein, in einer ›übersichtlichen‹ Darstellung«41. Offenbar hat Wittgenstein eine Verbindung von beidem im Auge, wenn er auf Goethes morphologische Methode zurückkommt 42. Mit Blick auf die Fortwirkung bei Spengler korrigiert er später den möglichen Status und die Reichweite der Morphologie als einer Theorie. Wo Spengler zu Beginn seines Untergang(s) des Abendlandes43 davon spricht, eine wissenschaftliche Methode bereitzuhalten, mit deren Hilfe Geschichte vorhersehbar wird, unterstellt ihm Wittgenstein Dogmatismus (vgl. VB469; 486-7). Dreh- und Angelpunkt der Umkodierung von ›übersichtlicher Darstellung‹ zu Goethes Morphologie ist Wittgensteins Entdeckung, wie wichtig die symbolische Geste des gebrochenen Zweiges mit dem rituellen Totschlag in engem Zusammenhang steht. Er deutet diesen als eine primitive Form des Ursachendenkens, bei dem die Magier – natürlich fälschlicherweise – annehmen, sie hätten in der Tat eine Möglichkeit kausaler Einflußnahme, und zwar per Fernwirkung oder durch Fernkoppelung. Gleiches müßte sich per Analogie dann tatsächlich gleich verhalten, die Tat ›in effi gie‹ als in der Praxis ausgeführt gelten. (Vgl. R. Munz, Religion als Beispiel. Sprache und Methode bei Ludwig Wittgenstein in theologischer Perspektive, Düsseldorf und Bonn 1997, S. 51ff.) 41 | Wittgenstein, Bemerkungen zu Frazers Golden Bough, a.a.O., S. 37. 42 | Vgl. F. Waismann, The Principles of Linguistic Philosophy, hg. v. R. Harré, London 1965, Kapitel IV. 43 | Vgl. O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (13. Auflage), München 1997, S. 3: »In diesem Buche wird zum ersten Mal der Versuch gewagt, Geschichte vorherzubestimmen«. Wenn auch nicht »mit der Strenge des Mathematikers« (5), so doch mit den Mitteln der »Analogie« (4), wo die »Morphologie der Natur« zu einer »Morphologie der Geschichte« (7) methodisch ausgeweitet wird.
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das Finden von »Zwischengliedern«44 ist. Die übersichtliche Darstellung »vermittelt das Verständnis, welches eben darin besteht, daß wir die ›Zusammenhänge sehen‹. […] Ein hypothetisches Zwischenglied aber soll in diesem Falle nichts tun, als die Aufmerksamkeit auf die Ähnlichkeit, den Zusammenhang, der Tatsachen lenken. Wie man eine interne Beziehung der Kreisform zur Ellipse dadurch illustrierte, daß man eine Ellipse allmählich in einen Kreis überführt; aber nicht um zu behaupten, daß eine gewisse Ellipse tatsächlich, historisch, aus einem Kreis entstanden wäre (Entwicklungshypothese), sondern nur um unser Auge für einen formalen Zusammenhang zu schärfen«45. Was an den ›Zwischengliedern‹ anschaulich wird, könnte man in einem oberflächlichen Sinn als den Umstand verstehen, daß, wie im Falle Frazers, der Endpunkt der Entwicklungslinie, die »Entwicklungshypothese«, nicht den Tatsachen entspricht, es zu keiner echten Deckung kommt, und die gefundenen oder erfundenen Zwischenglieder belegten dies besonders in den Verläufen. Der ›formale‹ Zusammenhang jedoch, auf den es ankommt, besteht offenbar im Zusammenhang der Formen der Darstellung selbst. Kreis und Ellipse nähern sich an, wenn die Mittelpunkte der Ellipse, von denen jeder Punkt der Peripherie gleichweit entfernt sein muß, sich einander annähern. Die Verwandtschaft der Erzeugungsregeln von Kreis und Ellipse als einem Ensemble von Punkten, die gleichweit von einem oder zwei Punkten entfernt sind, wird demnach anschaulich, je mehr ›gleitende‹ Übergänge einen solchen Zusammenhang der Regeln nahelegen. Die Aufmerksamkeit schließlich, die man philosophisch auf diese Weise erzeugen kann, geht auch noch dahin, aus der »Ähnlichkeit« der Tatsachen auf den Bildcharakter ihrer Darstellung und Deutung zu schließen. Vor allem dort, wo wir die Zwischenglieder hinzuerfinden, wird deutlich, daß die unterstellte Regelhaftigkeit sich zuletzt keiner bloßen Spiegelung der Welt, sondern einer Konstruktion und Projektion unsererseits verdankt. Es ist, wie Wittgenstein im Anschluß sagt, in der »Entwicklungshypothese […] nichts mehr, als eine Einkleidung eines formalen Zusammenhangs« sichtbar. Zwischenglieder lassen demnach das Theoriegeleitete als die hypothetische »Einkleidung« von Tatsachenfolgen in vorliegende Entwicklungslinien deutlicher werden. Auch im besten Falle müssen wir uns immer der Gefahr bewußt bleiben, daß wir mit einem »Bild« umgehen, »wonach wir die Wirklichkeit umfälschen«46. 44 | Wittgenstein, Bemerkungen zu Frazers Golden Bough, a.a.O., S. 37. 45 | Ebd. 46 | Tagebucheintrag vom 8.2.1937, in: L. Wittgenstein, Denkbewegungen, a.a.O., S. 76.
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Während Wittgenstein in den Zwischengliedern im Wesentlichen die Sprossen der ›Leiter‹ sieht, auf denen der Ausgang aus der Geistphilosophie therapeutisch gelingen kann, erkennt Goethe darin umgekehrt einen Einstieg in die Naturphilosophie. Der Terminus kommt als solcher bei Goethe nicht als Abstraktum vor, sondern nur am Phänomen, wie dem »Zwischenkieferknochen« zum Beispiel, der sich als ein Bindeglied in der Entwicklung vom Tier- zum Menschenschädel erweist und entsprechend selbst nur in vergleichender Betrachtung als solcher hervortritt 47. Die Bedeutung der Zwischenglieder ergibt sich in Goethes Morphologie durch eine entscheidende Wendung seiner Naturbetrachtung, die in einem sehr weiten Sinne durchaus Analogien zum Denkweg Wittgensteins zeigt. Daß Goethe überhaupt mit einer Naturphilosophie ansetzt und nicht grundsätzlich dem Deutschen Idealismus folgt, liegt nicht zuletzt am Eintrittsdatum seiner Überlegungen, das man um 1774 belegen kann. Goethe unternimmt um diese Zeit mit Johann Bernhard Basedow und Johann Caspar Lavater eine Reise an Rhein und Lahn. Von Herder geht die grundsätzliche Einsicht aus, daß Kultur schon in die Natur des Menschen eingelassen ist, der Mensch ›als Tier‹ entsprechend schon Sprache hat, in Überlieferungen denkt und seine Geschichte als eine horizontale Erweiterung seines Lebenskreises in Raum und Zeit ausbildet. Von Lavater, dem Begründer der Physiognomik, kommt für Goethe die spezielle Einsicht hinzu, daß kulturelle Phänomene wie Charakterbildung an besonderen Merkmalen der naturalen Ausgestaltung des Menschen zu ermitteln sind 48. Die Physiognomische(n) Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe49 werden unter Mit47 | Vgl. B. Peyer, »Goethes Wirbeltheorie des Schädels«, in: Vierteljah-
resschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich 94, Beiheft 2/3, Zürich 1950. 48 | Zum Prinzip dieser Analogie gibt es eine launige Bemerkung von Hermine Wittgenstein, Wittgensteins ältester Schwester, die sich in ihren postumen Aufzeichnungen findet und Spuren einer Inspiration durch den Bruder haben könnte, vor allem am Schluß: »Tatsächlich gehen höhere geistige Fähigkeiten mit compliciertem Körperbau Hand in Hand und mir scheint es nicht ausgeschlossen daß der Mama ihr Edelmut und Tante Ella ihre Verbitterung auf Vorgänge von innerer Secretion zurückzuführen sind. Es frägt sich nur was damit bewiesen wird« (›Ludwig sagt …‹ Die Aufzeichnungen der Hermine Wittgenstein, hg. v. M. Iven, Berlin 2006, S. 65). 49 | J.C. Lavater, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Leipzig und Winterthur 1775-1778.
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arbeit von Goethe und Herder verfaßt. Die Phrenologie, die Schädellehre, aus der über das Wesen des Menschen Auskunft ausgehend von seinem speziellen Knochenbau zu bekommen ist, bleibt bis zu Hegels Phänomenologie des Geistes ein diskussionswürdiges Thema. Das Vertrauen in die Aussagekraft solcher Naturbetrachtung wird für Goethe zumindest aber bereits um die Jahrhundertwende erschüttert. Das Gespräch mit Schiller ist ihm in bleibender Erinnerung geblieben, in dem dieser ihm in Kantianischer Manier erklärt, daß seine Naturphilosophie in Wahrheit nichts mit Naturerlebnis und evidentem Augenschein zu tun hat, sondern ein Gedankenprodukt sei: »das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee«50. Goethe konzipiert seine Naturbetrachtung grundsätzlich als ein pars-pro-toto-Verfahren. An einem bestimmten Naturphänomen wird das Ganze des Phänomenbereichs erschlossen, so wie an einem bestimmten Knochen der Knochenbau aller Wirbeltiere, so an einer bestimmten Pflanze die Pflanzenform insgesamt. Und an beidem jeweils die Verfahrensweise der Natur an sich, »aus dem Ganzen in die Theile strebend«. Im Hintergrund steht ein Spinozismus als der Vorstellung einer durchgängigen Weltsubstanz, Leibnizens Monadologie ist präsent mit der Mikrokosmos-Makrokosmos-Entsprechung, der Spiegelung und Abschattung einer komplexen in einer einfachen Ordnung der Dinge. Zwei Phasen sind zu unterscheiden. In einer ersten entwirft Goethe eine fiktive Urpflanze als einen Archetypus, aus dessen Anlage und Struktur sich die Möglichkeiten tatsächlicher Ausformung ergeben sollen. Wie es Olaf Breidbach darstellt, handelt es sich um ein Symbol, das als Zeichen für ein »Gefüge des Naturalen«, ein »Gefüge von Formeinheiten« steht, »das in seiner Anlage erkennen läßt, was es bedeutet, Pflanze zu sein«51. Es ist »kein Schematismus, kein Bauplan im Sinne einer idealtypischen Konstruktion […]. Was er zeichnet, sind für ihn Realitäten. Nur bleiben diese Realia nicht bei sich, sie explizieren nicht einfach ein Gefüge, das nach äußeren Kriterien zu ordnen ist. Ihre Darstellungen machen vielmehr im Vergleich möglicher Bezüge dieser Realitäten zueinander deutlich, daß die einzelnen Natur-Dinge nicht nur für sich stehen, sondern als solche Einzelheiten Teil eines Natur-Ganzen sind. Da es möglich ist, sie in Beziehung zu setzen, scheinen sie aufeinander zugeordnet zu sein. Dabei ist ihnen dieses Moment, in dem sie 50 | J.W. v. Goethe, Biographische Einzelheiten (1794), in: Goethes Werke,
hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar 1887-1905, Reprint Weimar 1999, Bd. 36, S. 250. 51 | O. Breidbach, Goethes Metamorphosenlehre, a.a.O., S. 18.
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zueinander finden, immanent, es wird ihnen eben nicht von außen vermittelt […] Der Bezug der Dinge ist real, die Zuordnung, die Goethe triff t, liegt in den Dingen selbst. Dies bedeutet dann aber auch, daß, wenn sich die Ordnung der Dinge derart an ihnen selbst darstellt, diese Ordnung durch die Natur selbst expliziert wird. Dies kann die Natur dadurch, daß sie diese Ordnung ausformt und so die Formen als Teil eines Formierungsgeschehens betrachten läßt«52. Die idealtypische Konstruktion hätte vorgesehen, daß ein Muster festgelegt wird, das ein Optimum an allem darstellt, was das Wesen einer Pflanze ausmacht, egal in welcher Hinsicht, und der Bezug zur Welt jener des Zusatzes von Kontingenzen gewesen wäre, ähnlich wie neuplatonische ›logoi spermatikoi‹ nur erdulden müssen, daß sie in endlichen Entitäten verhüllt erscheinen. Kant hat später bei der Vermittlung von Begriff und Anschauung mit vergleichbaren Vorstellungen operiert, wo in der Theorie die Vergleichsform wie die Ideallinie übereinandergeblendeter Projektionen tatsächlicher Gegenstände erscheint, aus denen sich eine Bestform ermitteln läßt, die so als solche allerdings nie vorkommt. Von Kant stammt aber auch die fortschrittliche Verwendung des Symbolbegriffs, die das Zeichen und Gezeichnete von jener Abbildungsfunktion entbindet und auf Funktionsanalogien ummünzt. Das berühmte Beispiel aus der Kritik der Urteilskraft § 59 will nahelegen, daß eine Handmühle ein Symbol für den modernen Staat sein kann, weil das mechanische Prinzip der Verarbeitung bzw. Verwaltung ihrer Gegenstände jeweils analog zueinander zu verstehen ist. Goethes Symbolbegriff geht bereits in eine ähnliche Richtung, wo er die funktionelle Gestaltformung aus dem Vorrat gegebener Anlagen nachzeichnen will und mit seiner Urpflanze nicht die stilisierten Umrisse der Pflanze ›an sich‹ entdecken, sondern eher, mit Wittgenstein gesprochen, die bestimmte Grammatik möglicher Gestaltung ›symbolisieren‹ will, die bei jeder Ausformung von Pflanzen so oder so zur Anwendung kommt. Das Archetypische an der Urpflanze liegt zuletzt darin, daß sie die Syntax der einzelnen Bestandteile überschaubar macht, noch bevor diese in ihren Konkretionen selbst unterschiedliche, vom Archetypus immer abweichende Gestalten annehmen. Die Darstellung der Urpflanze geht so, mit Wittgenstein gewendet, davon aus, daß die Natur hier, symbolisch gesprochen, ein Sprachspiel vollzieht, das mit einer intuitiv überschaubaren und damit grundsätzlich begrenzten Grammatik operiert, d.h. von einem beschränkten Set von Kombinationsmöglichkeiten ausgeht, wie sich die einzelnen Pflanzentei52 | Ebd., S. 18f.
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le in ihrer gegenseitigen Form- und Funktionsbestimmung ausgestalten. Der Möglichkeitsraum solcher Bestimmungen wird begrenzt. Kontingente Variationen im Formierungsprozeß mögen unabsehbar sein, ihre grundsätzlichen Grenzen sind aber im voraus festgelegt. In seiner zweiten Phase, die mit Goethes Italienreise beginnt, tritt diese Idee einer Urpflanze in den Hintergrund. Goethe schreibt: »In Sicilien, umgeben von einer ganz neuen Pflanzenwelt, aufmerksam auf neue Gestalten, erhob ich mich von dem beschränkten Begriff einer Urpflanze zum Begriff, und, wenn man will, zur Idee einer gesetzlichen, gleichmäßigen, wenn schon nicht gleich gestalteten Bildung und Umbildung des Pflanzenlebens von der Wurzel bis zum Samen«53. Was hinzukommt, zur Vorstellung von der Urpflanze, und mit ihrer Anlage nicht mehr vereinbar ist, ist eine Vielfalt der Formen, die jetzt in neuer Weise unüberschaubar erscheint und »als Resultat eines Naturprozesses zu verstehen ist, der nicht im Einzelnen vorgegeben, aber doch in den ihm möglichen Wegen bestimmt ist«54. Die Urpflanze erscheint als ein statisches Modell, das die Dynamik des Naturprozesses nicht mehr einfangen kann. Eine Dynamik, die nicht mehr im Konkretisieren grammatischer Ausgestaltungen aufgeht, die alle im Rahmen gegebener Möglichkeiten bleiben, sondern von der Art ist, daß sie im Prozessieren, im Fortschreiten ihrer Entwicklung, selbst ständig neue ›Grammatiken‹ hervorbringt. Die »Bildung und Umbildung des Pflanzenlebens von der Wurzel bis zum Samen« kann mit dem »beschränkten Begriff einer Urpflanze« nicht mehr verstanden werden, weil schon der Anblick der Sizilianischen Flora darüber belehrt, daß die Goethesche Urpflanze selbst noch einmal einem Wandel unterliegen mußte. Das Schema möglicher Pflanzenformen hat es mit einer solchen Mannigfaltigkeit von Erscheinungen zu tun, daß es kantisch gesprochen keinen ›Begriff‹ mehr geben kann, sondern nur noch eine ›Idee‹, bei der man von vornherein vom intellektuellen Überschuß des Gedankens über jede Möglichkeit eines empirischen Nachvollzugs ausgehen muß. Die entscheidende Wendung, die Goethes Einsicht hier systematisch nimmt, besteht darin, daß der Formierungsprozeß in der Lage scheint, Möglichkeitsmuster der Pflanzenentwicklung nicht nur auszufüllen, sondern selbst hervorzubringen. Im Fortschreiten der Genese müssen Wendungen als möglich gedacht werden, die aus den Bahnen des Bekannten herausführen und einen je53 | J.W. von Goethe, Der Verfasser theilt die Geschichte seiner botanischen Studien mit (Paralipomena), in: ders, Goethes Werke II, a.a.O., Bd. 13, S. 41. 54 | Breidbach, a.a.O., S. 19.
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weils ganz neuen Begriff von Flora nahelegen. Und was für die Goethesche Naturbetrachtung dabei vielleicht am wichtigsten ist, und wobei er sich im größten Gegensatz zu seinen idealistisch gestimmten Freunden sehen darf, ist, wie er selbst sagt, »daß ich Ideen habe ohne es zu wissen und sie sogar mit Augen sehe«55. Was sich für ihn in der Natur abspielt, ist etwas, was die Natur evidentermaßen selbst hervorbringt und auch so – augenscheinlich – rezipiert werden kann. Es ist die Natur, die an unvorhersehbaren Punkten ihrer Entwicklung und in räumlich und klimatisch verschiedenen Kontexten Erscheinungen hervorbringt, die in Kontinuität, aber auch im Bruch mit dem bisher Bekannten stehen. Aufs Ganze gesehen entscheidet der Formierungsprozeß, bildlich gesprochen, auf für uns unergründliche Weise über neue Grundregeln zur Gestaltung seiner Hervorbringungen. Lakonisch und mit Wittgenstein gesprochen: we »make up the rules as we go along« (PU § 83). Solcher Dynamik kann mit der Ausformulierung von Merkmalskatalogen nicht mehr entsprochen werden, überhaupt keine Festlegung auf Schemata der Variationenbildung reicht hier mehr aus, wo die Urpflanzen selbst in der Zeit verschiedene Gestalt annehmen können: will man in dieser Dynamik noch eine Einheit in der Vielheit verstehen, braucht es für Goethe das Konzept der Metamorphose. Metamorphose ist der Zusammenhang, in dem das ›formal‹ geschärfte Auge eine Ähnlichkeit auch in disparaten Ausformungen erkennt. Nicht mehr eine äußere Ähnlichkeit der Gestalt, sondern eine, die sich aus dem Prozeß der Entwicklung und seinem Verständnis ergibt, insofern sie Möglichkeiten der Gestaltung anzeigen, die aneinander anschließen, aufeinander auf bauen oder zuletzt auch in Gegenwendung und im Bruch mit allem Vorhergehenden plastisch werden. Die Breite des Begriffs und die methodische Öff nung des Konzepts ergibt sich für Goethe dabei aus der Verbindung, die am Vorbild der dichterischen Metamorphosen mit Ovid einerseits ansetzen und dabei mit göttlichen Einfällen und unvorhersehbaren Launen rechnen, und bis zu den Schematismen der Evolutionsbiologie reichen, wo diese eine Form von interner Notwendigkeit in der Abfolge von Entwicklungsstadien postulieren, wo wie bei Schmetterling und Larve eine Folgerichtigkeit trotz Gestaltwechsels besteht. Nicht umsonst wurde in diesem Abschnitt eine medientheoretische Sicht und Analyse herangezogen, um die Wirkungsweise von Urpflanze und Metamorphose bei Goethe zu referieren. Olaf Breidbach wählt 55 | J.W. von Goethe, Erste Bekanntschaft mit Schiller. 1794, in: Goethes Werke, a.a.O., Bd. 36, S. 251.
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die Goethesche Naturphilosophie nicht zuletzt, um eine exemplarische Form der Selbstverständigung über ein uns zeitgemäßes Bild unserer Kultur- und Lebenswelt zu konturieren. In seiner Rekonstruktion sind es drei Fronten, die für eine solche Aktualisierung im Rückblick auf Goethe fruchtbar werden. Zum einen ist es der Ausgang aus einem Ordnungsdenken, in dem ›les mots et les choses‹ noch nach irgendeiner Form von prästabilierter Harmonie gedacht werden. Illustriert wird dies am Linnéschen Ordnungsdenken. Einerseits ist hier noch die mittelalterliche Vorstellung vom göttlichen Schöpfungskanon präsent, in dem jedes Geschöpf an seine bestimmte Stelle in der Natur und ihren Hierarchien gestellt wird. Andererseits bringt schon der Rationalismus die subjektive Komponente solcher Ordnungen ins Spiel, die sich bei Linné in der konventionellen Wahl der Geschlechtsorgane als Unterscheidungsmerkmal der Pflanzenwelt äußert. Wesentliche Korrektur ist hier mit Goethe die Vorstellung einer Dynamik des Naturgeschehens. Die von Goethe und von Wittgenstein so geschätzten Zwischenformen sind hier ontologisch noch gar nicht präsent: sie sind »nach dieser Auffassung nichts anderes als Übergangsstadien, wie die Larven der Insekten, die nach einer Vielzahl von Häutungen letztlich in ihrer eigentlichen und vollkommenen Form nackt hervorkommen«56. Die zweite Front, gegen die sich die Medien- als eine Kulturwissenschaft absetzen will, ist jene des ernüchterten Wissenschaftsglaubens des 19. Jahrhunderts. Hier scheint mit Goethe der Zufrühgekommene einen grundsätzlichen strategischen Vorteil zu haben. »Dies, die Selbstbegründung der Naturformen in der Entfaltung des im Naturprozeß Möglichen, und nicht eine Vorwegnahme des Konzeptes, das Charles Robert Darwin […] in der Mitte des 19. Jahrhunderts konsequent zu Ende dachte, unterschied Goethes Naturvorstellung vom Ordnungsgedanken des 18. Jahrhunderts«57. Vom wissenschaftlichen Positivismus sowieso abgesehen, in dem eine Berufung auf Goethes Art und Weise der Naturbetrachtung als Teil der Romantik erscheinen mußte, ist hier eine Offenheit der Konzepte das, was schätzenswert bleibt. Breidbach versteht dies als eine ästhetische Komponente der Goetheschen Welterfahrung und meint damit den Umstand, daß über die jeweiligen Grenzen aller Einzeldiszipli56 | Breidbach, a.a.O., S. 69, Zitat: Carl von Linné, Metamorphosis Plantarum. Amoenitas academicae, Bd. 4/1755, S. 370, Übersetzung zitiert nach: Adolph Hansen, Goethes Metamorphose der Pfl anzen. Geschichte einer botanischen Hypothese, Gießen 1907, S. 189. 57 | Breidbach, a.a.O., S. 69.
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nen hinaus eine letzte Gesamtsicht auf Natur und Kultur gleichermaßen möglich wird58. Es scheint das zu sein, was auch bei Wittgenstein mit der »Weltanschauung« im Verweis auf Spengler gemeint war. Was daran als »typisch« angesehen werden kann, ist im besten Verständnis davon der Umstand, daß mit einer grundsätzlich genug gefaßten ›Morphologie‹ der Kulturbetrachtung die Übertragung struktureller Termini auf äußerst heterogene Anwendungsgebiete gelingt. Schon Spengler hatte in diesem Sinne von der universalen »morphologischen Verwandtschaft« geschwärmt, »welche die Formensprache aller Kulturgebiete innerlich verbindet. […] Wer weiß es, daß zwischen der Differentialrechnung und dem dynastischen Staatsprinzip der Zeit Ludwig XIV., zwischen der antiken Staatsform der Polis und der euklidischen Geometrie, zwischen der Raumperspektive der abendländischen Ölmalerei und der Überwindung des Raums durch Bahnen, Fernsprecher und Fernwaffen, zwischen der kontrapunktischen Instrumentalmusik und dem wirtschaftlichen Kreditsystem ein tiefer Zusammenhang der Form besteht?«59 Damit zeichnet sich auch zugleich die dritte Front ab, an der mit Goethe ein Stichwortgeber für die für Wittgenstein gesucht Form einer positiven ›Weltanschauung‹ gegeben sein kann. Eher unterschwellig bei Breidbach ist die Opposition einer Kultur-Morphologie zu den transzendentalphilosophischen Ansätzen, die ab 1794 mit Fichte und Schelling, Schiller und später Hegel ins Spiel kommen und dominant werden. Es scheint für ihn keine echte Opposition zu sein, weil im Grunde doch dieselbe Systemlogik des offenen Prozessierens am Werke ist. Hegels Philosophie erscheint entsprechend als »den Goetheschen Intentionen zwar diametral entgegenstehendes, in der Grundfigur des ›Ins Leben Setzens‹ dem Goetheschen Argumentationsschema aber dennoch entsprechendes Denkgefüge«60. In einer breiteren Perspektive ist das im Grunde auch common sense innerhalb der neueren Kulturtheorie. Friedrich Kittler hat so in seiner grundlegend gewordenen Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft schon Hegels Leben selbst »als Kulturgeschichte«61 aufgefaßt und die von ihm ausgehende Kulturphilosophie, wenn nicht naturalisiert, so doch zumindest kompatibel mit systemtheoretischen Ansätzen gemacht – oder genauer: gezeigt, wie Hegels eigentliche phi58 | Vgl. ebd., S. 307ff. 59 | O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, a.a.O., S. 8. 60 | Breidbach, a.a.O., S. 127. 61 | Fr. Kittler, Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft (2. Auflage), München 2001, S. 93.
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losophische Leistung darin besteht, ein einheitliches Gesamtvokabular zur gleichartigen Durchdringung von Natur und Kultur bereitzustellen. Wo vorher die Trennung von Theorie und Praxis, Metaphysik und Geschichte, Naturwissenschaft und Religion war, sind die Unterschiede auf einen Aspekt-Wechsel vom Ansichsein der Dinge zu ihrem Für-uns-Sein zusammengeschrumpft. Für die Traditionsbildung, die Wittgenstein als einen Hauptvertreter nennen will, wäre in dem Zusammenhang grundsätzlich zu fragen, ob nicht auch die gängige Ansicht vom transzendentalen Charakter der ›Lebensformen‹62 einseitig ist und eine Umkodierung in ›nicht-philosophische‹ Entfaltungsprozesse nach naturalem Muster ebenso annehmbar. »Es wird kein Zufall sein, daß derartige Alternativkonzeptionen, über die wir unser Wissen zu strukturieren suchen, und die vor unserer disziplinär organisierten Weltsicht entstanden, jetzt wieder Interesse gewinnen«63. Was Breidbach mit Hans Beltings Bildanthropologie64 und Hartmut Böhmes Goetheexegese65 im weiteren Sinne verbindet, ist kein primär historisches Interesse, sondern der Versuch, mit dem Konzept einer Morphologie die Bild- und Medientheorie in neuer Weise auf62 | Vgl. zuletzt Newton Garvers Plädoyer dafür, auch Wittgensteins Spätphilosophie als eine Fortsetzung des Kantianismus des Tractatus anzusehen: »…the recognition of unbridgeable differences between Kant and Wittgenstein still leaves room for Wittgenstein to be counted as the foremost twentieth-century contributor to Critical/Transcendental Philosophy, that is, to the tradition which begins with Kant« (N. Garver, »Naturalism and Transcendentality: The Case of ›Form of Life‹«, in: Wittgenstein and Contemporary Philosophy, hg. v. Souren Tegharian, Bristol 1994, S. 41). In einem ausgesprochen biologistischen Sinne hat dagegen J.F.M. Hunter schon Anfang der 70er Jahre den Kerngedanken der wittgensteinschen ›Lebensform‹ ›organologisch‹ verstanden: J.F.M Hunter, »›Forms of Life‹ in Wittgensteins Philosophical Investigations«, in: E.D. Klemke (Hg.), Essays on Wittgenstein, Urbana, Chicago, London 1971, S. 273-297. Zum Stand der Diskussion und der Vielfalt der Verständnisweisen ausgehend von verschiedensten Fachdisziplinen vgl. Wilhelm Lütterfelds’ Vorwort zu Der Konflikt der Lebensformen in Wittgensteins Philosophie der Sprache, hg. v. W. Lütterfelds und A. Roser, Frankfurt a.M. 1999, S. 7-16. 63 | Breidbach, a.a.O., S. 318. 64 | H. Belting, Bild-Anthropologie, München 2001. 65 | Vgl. H. Böhme, »Lebendige Natur, Wissenschaftskritik, Naturforschung und allegorische Hermetik bei Goethe«, in: H. Böhme, Natur und Subjekt, Frankfurt a.M. 1988, S. 145-178.
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schlußreich zu machen. Sie erscheint als die legitime Nachfolgerin einer Metaphysik, die nach der Grammatik der Geistphilosophie ausbuchstabiert scheint, und nach dem Ende der Postmoderne (oder der Phase, in der sie als zukunftsträchtig angesehen wurde) andere Orientierungsmuster fordert. Der Ausgangspunkt solcher Welt-Bild-Betrachtungen ist die Ästhetik, die sich aus der Kunstgeschichte kommend strukturalistisch hat belehren lassen und schließlich das welterschließende Potenzial des Bildmediums erkannt hat. Letztere Wendung hat auch mit der technischen Entwicklung zu tun, die die neueren Bildverfahren in Kommunikation und Wissenschaft im Rang von elementaren Informationscodes verstehen läßt. Was umgekehrt eine historisch belehrte Morphologie als Alternativkonzeption heute interessant macht, ist die Erweiterung des Horizontes, in dem die informierenden Einzelwissenschaften gezwungenermaßen operieren. Zum Beispiel wird »derzeit in den Naturwissenschaften im Kontext der Beschreibung von dynamischen Systemen der Begriff der Gestalt wieder bedeutend. Es geht dabei darum, die komplexen Wechselwirkungen zu erfassen, in denen sich natürliche Systeme auf den unterschiedlichsten Ebenen – von Wolkenformationen bis hin zu tierischen Organsystemen – aufbauen. Die Analyse, die solche komplexen Wechselwirkungsgefüge auf einfache Kausalreihen zurückbricht, scheint derzeit an eine Grenze gestoßen zu sein. Gesucht werden in der Forschung momentan denn auch Konzepte, über die die Komplexität der Wechselwirkungen darstellbar wird«66. Besonders für die Biowissenschaften scheinen solche Konzepte aufschlußreich, wo es um Kognitions- und Hirnforschung geht und intuitiv erfaßbare Ordnungsgefüge plausibel werden, weil es scheint, daß die physiologische Organisation des Wissens selbst nicht ohne solcherlei Reduktion von Komplexität auskommt.
66 | Breidbach, a.a.O., S. 315.
III. Wittgensteins Weltbild und die Neurowissenschaf ten
»Einmal muß man von der Erklärung auf die bloße Beschreibung kommen« (ÜG, S. 158, Nr. 189). Wittgensteins später Eintrag in Über Gewißheit könnte das Motto für eine neue Richtung der Phänomenologie sein, der es um die Rückführung der wissenschaftlichen ›Erklärung‹ unserer Weltannahmen auf die besondere Form ihrer hirnphysiologischen Aufnahme und Verarbeitung, also auf die biologischen Tatsachen, die ihnen zugrunde liegen, geht. In seiner Spätphilosophie hat Wittgenstein in der Tat noch einmal einen Akzentwechsel vollzogen, der ihn ein Stück weit von der Problematik einer bloßen Depotenzierung der Philosophie weg brachte und fragen ließ, wie schließlich die Gewißheiten aussehen, die nach dem Wegräumen aller philosophischen Mißverständnisse noch verbleiben. Während es ihm zuvor immer darauf ankam, hinter jeder philosophisch-wissenschaftlichen Hinsicht auf die Welt eine Alternative denkbar oder plausibel zu machen, deren Annahme uns ins Grübeln bringt, was die Verläßlichkeit unserer als ›Erklärung‹ ausgezeichneter Grundannahmen angeht; so geht es ihm zum letzten Ende seiner Überlegungen noch einmal darum, wie wir im Alltag und überhaupt in unserem Umgang mit der Welt erfolgreich zurecht und durchkommen, wenn wir nicht bereits schon ins philosophische Grübeln geraten sind. Über die späte Wende Wittgensteins und ihre Motive wurde viel spekuliert, zwei kurze Einordnungen seien hier noch in der Linie der bisherigen Darstellung angedacht. Zum einen kann man ein philosophie-internes Motiv veranschlagen, das sich aus dem Werdegang und dem Vollzug der Wittgensteinschen Ernüchterungsstrategie ergibt. Dann hat Wittgenstein – nicht zuletzt angesichts seines wachsenden Erfolgs bei den
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Schülern und seines Einflusses über Cambridge hinaus – noch einmal das Bedenken gehabt, daß seine eigene Strategie des Aufhören-Könnensmit-der-Philosophie selbst noch einmal als eine letzte, ›dogmatische‹ Form der Philosophie verstanden und rezipiert würde, und wenn dies das Bedenken ist, dann muß noch einmal ein Schritt weiter auf dem Weg fortschreitender Ernüchterung gegangen werden, und es gilt, sich zuletzt auch noch von jeder verbleibenden Form von Reflexion in der Philosophie zu verabschieden. Schon das Könnertum im Aushebeln von philosophischen Geltungsansprüchen ist dann suspekt, und wo es nicht mehr der geniale Einfall des Meisters ist und vielmehr nur noch eine Manie der Nachahmer, eine Manie, die zudem lehrbar erscheint und eine Manie, der man zu bereitwillig bereits in den Philosophischen Untersuchungen folgt, muß das Staunen angesichts der philosophischen Verstellung neu generiert werden. Das heißt in der Praxis, nicht mehr der Philosoph darf belehren, es muß die Welt und die Weise, wie sie ihre Dinge im Alltag ihrer Erscheinung alleine erledigt, auch von ganz alleine tun. Anstelle von Reflexion muß jetzt Unmittelbarkeit stehen, und die Unmittelbarkeit, in der mir die Welt sinnvoll erscheint, darf nicht einmal mehr die Spuren einer Dekonstruktion vorausgehender philosophischer Dogmen enthalten, sie muß sich uns von sich aus und unberührt von jedem Zweifel wie ein unbefragtes ›Immerschon‹ nahelegen: »Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf dem ich zwischen wahr und falsch unterscheide« (ÜG, S. 139, Nr. 94). Die Vorgaben des eigenen ›Weltbildes‹ haben entsprechend, erstens, theoretisch ungeklärte Ursprünge und sind uns, zweitens, womöglich auch an jeder Theorie vorbei vermittelt worden: »Die Sätze, die dies Weltbild beschreiben, könnten zu einer Art Mythologie gehören. Und ihre Rolle ist ähnlich der von Spielregeln, und das Spiel kann man auch rein praktisch, ohne ausgesprochene Regeln, lernen« (ÜG, S. 139, Nr. 95). Die zitierten Passagen lassen auch vermuten, daß es neben dem internen Motiv auch externe Plausibilisierungen für Wittgensteins spätes Vertrauen auf intuitives Weltwissen gibt. Schaut man auf die ganz großen Kontexte, ist klar, daß in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Blamage der Großideologien so offensichtlich war, daß es offenbar keines philosophischen Beistandes mehr bedurfte, um sie einmal mehr noch zu entzaubern, und das Zeitbedürfnis deutlich restaurativ war in dem Sinne, daß man schon froh war, wenn man sich wieder auf traditionell richtige Dinge vorbehaltlos verlassen durfte. Gerade die Ausblendung einer jeden
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gesteigerten Form von Zweifel ist ja das Kennzeichen einer bürgerlichfamiliär gestimmten Konsolidierung der Gesellschaften nach 1945, die dann nach 1968 als regressiv und kleinbürgerlich gebrandmarkt werden konnte. Innerakademisch bleibt ebenfalls ein Perspektivenwechsel festzuhalten. Hier zeichnet sich bereits in der Verarbeitung der Kriegsgeschehnisse eine Tendenz ab, die erst einmal vor einer im Krieg deutlich gewordenen Verbindung von existenzieller Bedrängnis und technologischer Verfügbarkeit, wie sie Friedrich Kittler später provokativ herausgestellt hat 1, zurückschreckt. Alan Turings Computer-Simulationen werden gemeinhin als der Startpunkt einer Entwicklung gewertet, in der uns bis heute vorgeführt wird, wie die technische Replikation von menschlichen Verhaltensweisen diese so sehr entzaubert, daß eine Neubesinnung auf das spezifisch Menschliche an unserem Verhalten nötig wird. Gegen die Gefahr der Verdinglichung des Menschen, der zum leiblichen Bruder der Maschinen mutiert, hatte Heidegger schon früh in seinem Humanismusbrief angeschrieben, Pessimisten wie Michel Foucault haben seitdem nur noch auf das nahe bevorstehende Ende des humanistischen Menschenbildes geschlossen, wenn nicht in postmoderner Zeit schon wieder gelassen von einer Vermählung von Mensch und Maschine zum Cyborg, der wir alle immer schon sind, ausgegangen wird (vgl. z.B. D. Haraway2). Auf Wittgensteins Argumentationslage nach dem Krieg bezogen, erscheint jedenfalls auch aus dieser Sicht die Arbeit einer Depotenzierung philosophischer Selbstverständlichkeiten und Weltdeutungsprivilegien im wesentlichen bereits geleistet oder schon in andere Hände übergegangen. Und die jetzt anstehende Frage scheint demnach eher zu sein, wie eine Selbstverständigung des Menschen unabhängig von aller regeltechnischen (Fremd-)Bestimmung noch zu denken ist. Was ist, wenn alle »Spielregeln« nach Art sich selbst steuernder Regelkreisläufe zu denken sind, sobald sie einmal »ausgesprochene Regeln« sind, und damit offen für theoretische Einsicht wie für technische Manipulation? Ist dann nicht die Vorstellung von einer »Mythologie«, deren »Sätze« ein »Weltbild beschreiben«, so romantisch diese Vorstellung klingt, noch einmal eine Option, eine Option, die freilich nicht mehr auf metaphysische Ursprünge, sondern auf natürliche, lebendige Medien zurückgeführt und ebenso expliziert werden muß? Wenn es schon stimmt, daß alle »Prüfung, alles Bekräften und Entkräften einer Annahme … schon innerhalb eines Systems« geschieht, wäre es dann nicht beruhigend, 1 | Vgl. Fr. Kittler, Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986. 2 | D. Haraway, When Species Meet, Minneapolis, 2008.
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wenn dieses »System nicht ein mehr oder weniger willkürlicher und zweifelhafter Anfangspunkt aller unserer Argumente« wäre, »sondern es [...] zum Wesen dessen« gehörte, »was wir ein Argument nennen«? »Das System ist nicht so sehr der Ausgangspunkt, als das Lebenselement der Argumente« (ÜG, S. 141, Nr. 105). Und als ein »Lebenselement« muß das System selbst offenbar auch so gedacht werden dürfen, als stamme es selbst aus lebendigen, d.h. menschlichen Zusammenhängen, die sich auf nicht-theoretische und nicht manipulierbare Weise auf praktischem Wege überliefern lassen und sich jedem von uns immer wieder aufs Neue nahelegen. So zumindest kann man sich eine Anmoderation denken, die eine neue Aufmerksamkeit auf Wittgenstein im Kontext der zeitgenössischen Debatte um die biologischen Grundlagen unseres Weltverständnisses lenkt. Die Neurowissenschaften haben Wittgenstein bislang nur in einem sehr speziellen Kontext schätzen gelernt. Grundsätzlich hätte man denken sollen, die prominente Diskussion um die Frage der Willensfreiheit im Rahmen einer konsequenten Naturalisierung des Geistes sei das Einfallstor. Dem ist aber nicht so. Obwohl Wittgenstein in seiner Spätphilosophie von jeder Form einer idealistischen Sinngebung der Welt Abstand nimmt und auf die Einbettung subjektiver Schöpferkraft in objektive Zusammenhänge besteht, d.h. in Zusammenhänge des tätigen Umgangs mit der Welt, eignet er sich doch nicht für eine Stellungnahme im Pro und Contra von Freiheit oder Determinismus. Denn die Freiheit, um die unsere allgegenwärtige Diskussion um die Fähigkeiten des menschlichen Gehirns kreist, ist grundsätzlich und im sehr losen Anschluß an Kant als eine Freiheit gedacht, Kausalketten in der Welt zu initiieren; und der Determinismus dementsprechend dann als die dazu komplementäre Variante, in der alle Kausalketten ohne menschlichen Anfang und Ende gedacht werden müssen3. Demgegenüber geht Wittgenstein davon aus, daß schon die Annahme einer Kausalordnung der Natur nur eine wissenschaftliche Zugangsweise unter anderen ist, die in seiner Frühphilosophie an die Notwendigkeit und Unhintergehbarkeit der formalen Logik in der Sprache nicht herankommt, und in seiner Spätphilosophie insgesamt nur noch als eine bloße wissenschaftliche Hypothese im Sinne eines bloßen Modells erscheint. Wo das Thema Freiheit bei Wittgenstein aufscheint, ist es dementsprechend immer schon auf einem transzen3 | Vgl. pars pro toto: G. Roth, Denken, Fühlen, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt a.M. 2003, S. 494ff.
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dentalen Niveau der Argumentation angesetzt, also prinzipiell gemeint und auf die Möglichkeiten gemünzt, überhaupt Ordnungen in der Welt zu stiften, und nicht, sich in den kausalmechanischen Lauf der Welt einzupassen oder nicht. Die Willensfreiheitsdiskussion tut also recht daran, Wittgenstein nicht am falschen Ende so oder so zu vereinnahmen. Die Aufnahme Wittgensteins in die aktuelle Diskussion geht daher auch besser und zurecht von der Frage aus, ob es im menschlichen Verständnis der Welt überhaupt Ordnungsleistungen gibt, die nicht nach dem Vorbild einer Wittgensteinschen ›Privatsprache‹ selbstgeneriert sind und einem theoretischen Konstrukt gleichen, mit dem das Ich auf die Welt zugeht; sondern umgekehrt, ob unser Weltverständnis uns nicht eher von der Weltseite selbst entgegengebracht wird und unsere subjektive Aneignung dann nicht mehr als einen objektiven Nachvollzug bedeutet, den wir angesichts von uns intuitiv einleuchtender Ordnungsvorgaben quasi ohne unser Zutun mitmachen. Das ›Weltbild‹, das wir gemeinhin haben, haben wir demnach eben nicht, weil »ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe« und auch nicht, »weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin«. Noch vor aller Verifikation und jedem bewußten ›make believe‹ muß es nach dem spätesten Wittgenstein ein Grundverständnis der Welt geben, das erst einmal und einfach als gegeben angenommen werden darf. Neurowissenschaftler haben bemerkt, wie fruchtbar diese Debatte auch mit Wittgenstein geführt werden kann, und besonders auff ällig an dem Punkt, an dem es um die Frage der Intersubjektivität geht, genauer, um die Frage, wie ich um die ›inneren‹ Vorgänge in meinem Gegenüber wissen kann. In den PU hatte Wittgenstein bereits die Schmerzempfindungen und ihre mögliche Privatheit diskutiert (PU §§ 253; 293; 302-303; 350-351; 391-392; 402; 408), und darauf bestanden, daß Schmerz uns nur als Äußerung präsent ist, und als Äußerung wieder nur im Kontext eines Sprach- und Verhaltensspiels, das eine intersubjektiv geteilte Grammatik hat. Noch wichtiger wird in dem Zusammenhang eine späte Formulierung, die in den Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie und in den Zetteln leicht erweitert zu finden ist, und die folgendermaßen von Marco Iacoboni, einem Protagonisten der neueren Forschungen, zitiert wird: »›Man sieht Gemütsbewegungen‹ […] Man sieht nicht die Gesichtsverziehungen und schließt nun, er fühle Freude, Trauer, Langeweile. Man beschreibt sein Gesicht unmittelbar als traurig, glückstrahlend, gelangweilt, auch wenn man nicht im Stande ist, sonst irgendeine Beschreibung der Gesichtszüge zu geben« 4. Die 4 | Iacoboni zitiert in englisch, M. Iacoboni, Mirroring People. The New
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Streitfrage im Hintergrund ist die nach dem Zugang zu ›other minds‹, verbunden mit dem endlosen Streit um die ›Qualia‹ und der Frage der Wahrnehmung dessen, was im Kopf des anderen ›tatsächlich‹ vorgeht. Bevor die anzitierte Pointe allerdings stechen kann, muß kurz über die neurologischen Entdeckungen berichtet werden, die Iacoboni und seine Kollegen zu einer Anleihe bei Wittgenstein motivieren. Die Entdeckung einer Forschergruppe aus Parma Mitte der 1990er Jahre ist unter dem Namen ›Spiegelneurone‹ bekannt geworden. Das Spektakuläre an den Spiegelneuronen ist, daß sie uns in gewisser Weise das Gedankenlesen5 ermöglichen (und nicht nur uns, sondern auch anderen Primaten wie Makakenäffchen, an denen die Spiegelneurone entdeckt wurden). Bei den Tierversuchen hatte man zuerst durch Zufall, dann methodisch einzelne Zellen isoliert, die bimodal codiert sind, wobei bimodal heißt, daß sie nicht nur für die Wahrnehmung bestimmter äußerer und innerer Reize taugen und bei ihrem Vorliegen aktiviert werden, sondern ebenso für die Steuerung und Ausführung von Handlungen zuständig sind. Und das Besondere an der Bimodalität der Spiegelneurone besteht darin, daß sie bei der Wahrnehmung von zielgerichteten Handlungen aktiviert werden, und dabei sogleich die Ausführung derselben angeschauten Handlung vorprogrammieren. So erleben wir eine bei anderen angeschaute Handlung so, als ob wir sie zugleich selbst ausführen würden, wobei es zu einer tatsächlichen Ausführung nicht kommt oder nicht kommen muß, weil vor einer Parallelhandlung (meistens) noch einmal unsere Ratio und unser Entscheidungsvermögen darüber befindet, ob es auch gut und richtig ist, die angeschaute Handlung auszuführen. Gespiegelt wird sie aber allemal, und zwar bevor Sprache ins Spiel kommt oder auch nur unser Bewußtsein aktiv das Fremdgeschehen mitverfolgt. So wissen wir ›intuitiv‹, was ein anderer will und worauf er aus ist, wenn wir seine Gesten verfolgen und eine Folgerichtigkeit in seinem Tun erkennen, so daß wir in der Lage sind, sein Handeln mit einer es leitenden Absicht zu verknüpfen. Wir können uns so ›einfühlen‹ in die Vorhaben eines anderen und spüren noch vor reiflicher Überlegung, wie etwas gemeint ist, ob gut oder schlecht, und ob Science of How We connect with Others, New York 2008, S. 262, das Original findet sich bei L. Wittgenstein, Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, Werkausgabe Bd. 7, 6. Auflage, Frankfurt a.M. 1994, S. 318, Nr. 570, vgl. Zettel, S. 321, Nr. 225. 5 | Vgl. S. Blakeslee, »Cells that can read minds«, New York Times vom 10.1.2006.
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wir betroffen sind oder nicht. Zuweilen wird uns dieses Vermögen auch bewußt, wenn wir nämlich unterschwellig bemerken, daß sich vor unseren Augen ›etwas zusammenbraut‹ und wir aufgrund dieser Evidenz gezwungen sind, geeignete Maßnahmen zu ergreifen und entschlossen zu reagieren. Wir sind dann zwar nicht in der Lage, einen ›objektiven‹ Grund für unsere Vorsicht anzugeben, dafür ist aber die subjektive Evidenz der aus dem Fremdverhalten abgelesenen Bedrohung groß genug, um uns deshalb dennoch nicht zweifeln zu lassen. Komplementär dazu gibt es auch positive Phänomene, die uns die Unwiderstehlichkeit und Spontaneität solch spiegelneuraler Einfühlung vor Augen führen, dann nämlich, wenn wir bspw. als Tänzer Tänzer beim Tanzen zuschauen und es uns sprichwörtlich ›in den Beinen kribbelt‹, ebenso bei Golfspielern, die den Schwung eines Golfspielers mit einem Zucken im Arm mitvollziehen u.s.w. Je besser, das haben die Forschungen ergeben, wir mit einer Tätigkeit vertraut oder gar in ihr trainiert sind, um so mehr feuern die einschlägigen Neurone, und um so mehr gelingt es uns, den Feinheiten nachzuspüren, mit denen ein Spezialist auf seinem Gebiet einen Spezialisten begeistern kann. Was die Forscher um Giacomo Rizzolatti die »Ketten-Organisation«6 der Spiegelneurone nennen, bewirkt schließlich, daß nicht nur jeweils ein bestimmter Handlungsvollzug für sich genommen von uns nachvollzogen werden kann, sondern die Spiegelneurone untereinander noch einmal, der eingeschlagenen Handlungslogik folgend, sich gegenseitig aktivieren: so daß mit dem Beginn einer Handlung sogleich ihre vorhersehbaren Folgen antizipiert werden und folgerichtig der fortgeschrittene Tänzer wiederum eine ganze Tanzfolge sogleich mitvollzieht, wenn er nur auch ihren ersten Schritt anschaut u.s.w. Schließlich wurden neben den ›klassischen‹ Spiegelneuronen noch weitere Arten gefunden, die sich alle wenigstens grundsätzlich in die beschriebene Handlungslogik einschreiben lassen. So sind die ›kanonischen‹ Neurone dazu da, beim Anblick eines Gegenstandes unsere motorischen Zugriffsmöglichkeiten auf den Gegenstand ›mitzubedenken‹, was vor dem Hintergrund der klassischen Gestalttheorie mit dem Begriff »affordance«7 beschrieben wird, mit Heidegger könnte man auch von der »Zuhandenheit« eines Dinges sprechen. Weiter gibt es noch Spiegelneurone, die nicht Gegenstände oder Handlungen, sondern Gefühle wie Ekel oder Angst mitteilbar machen. Wer bspw. einem Menschen zusieht, 6 | G. Rizzolatti/C. Sinigaglia, Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls, Frankfurt a.M. 2008, S. 95. 7 | Ebd., S. 48.
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wie er in eine verschimmelte Frucht beißt, wird unwillkürlich die Gesten nach- oder wenigstens mitvollziehen, die das Opfer zwangsläufig macht. Und zuletzt hat Iacoboni auch noch sogenannte »Superspiegelneurone«8 gefunden, die, wenn es sie so gibt, wie er sie beschreibt, für Stilfragen und für die moralisch wertende An- und Abschaltung unserer spiegelneuronalen Aktivität überhaupt zuständig sein sollen. Die Details, so spannend sie sind, müssen hier zurückgestellt werden9. Die analytische Theory of Mind hat in den vergangenen 50 Jahren zwei Theorieformen hervorgebracht, wie mit der Frage eines Zugangs zum Bewußtsein des anderen umzugehen ist, wobei beide Formen von der Ausbildung einer privaten Sphäre des Subjekts ausgehen, zu der erst einmal nur das Subjekt selbst einen letztgültigen Zugang hat. Es muß der Theory of Mind dann darauf ankommen, glaubhaft zu machen, wie eine objektiv verläßliche, d.h. schlüssige Verbindung und Kommunikation zwischen den beiden von einander getrennten Privatsphären der Subjekte zustande kommen kann. Eine Variante hört auf den redundant klingenden Namen Theory Theory und geht davon aus, daß wir durch eine Theorie, d.h. in der Praxis durch eine bestimmte Deutungstechnik in der Lage sind, uns zu erschließen, was unser Gegenüber vorhat, fühlt und entscheidet 10. Vorbild ist die Arbeit eines professionellen Profilers oder Lügendetektors, im Alltag reicht eine ›folk psychology‹ mit ihren Faustregeln als theoretische Grundlage. Dagegen steht die sogenannte Simulation Theory, die den einen Theorieanteil der Theory Theory nicht nur namenstechnisch durch das Verfahren der Simulation ersetzt. Um uns fremde Bewußtseinszustände zugänglich zu machen, sollen wir nicht von äußerem Verhalten auf innere Dispositionen schließen, sondern von innerem ›Ausdruck‹ auf ihm zugrundeliegende innere Zustän-
8 | Iacoboni, a.a.O., S. 184ff. 9 | Einen ausführlichen Literaturbericht über den Stand der Forschung von Seiten der Phänomenologie habe ich für die Philosophische Rundschau verfaßt, vgl. M. Gessmann, »Phänomenologie und Neurowissenschaften«, in: Philosophische Rundschau, 56 (2009) Heft 3. 10 | Namen, die mit der ›Theory Theory‹ in der Diskussion mit den Neurowissenschaften verbunden werden, sind zum einen P. Carruthers und S. Baron-Cohen. Sie gehen von einer angeborenen Regelkenntnis der ›folk psychology‹ aus, während A. Gopnik und H.M. Wellmann meinen, daß die Regeln zur Deutung fremden Verhaltens sozial variierbar und damit konventionell sind und entsprechend erst erlernt werden müssen.
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de11. Das geschieht, indem ich mich in die Haut des anderen versetze und aus der virtuell eingenommenen Binnensicht mir erschließe, was der andere vorhat, indem ich mich frage, wie ich selbst in einer solchen ›inneren‹ Angelegenheit reagieren würde. Mit Hilfe der neugewonnenen Erkenntnisse durch die Neurologie ist nun die Simulation Theory akademisch im Aufwind, weil sie eine biologische Basis für die Vorstellung liefert, wie es mir ›objektiv‹ gelingt ›to be in her/his shoes‹. War zuvor nur das Wissen aus der 3.-Person-Perspektive des beobachtenden Theoretikers alleinig als objektiv und gültig anzusehen, so ist nur die virtuelle Einnahme fremder 1.-Person-Perspektiven eine Brücke, die geforderte Objektivität aufrechtzuerhalten. Wittgenstein wird als Gewährsmann herangezogen, weil er als ein grundsätzlicher Gegner der cartesischen Rahmenannahme isolierter Subjekte gilt und die Trennung der Eigensphären der Subjekte in der Folge ihrer egalitären Einbettung in die Grammatik von Sprachspielen und Lebensformen aufheben will. Abstriche gilt es freilich dort zu machen, wo Wittgenstein auf den sprachlichen Ausdruck innerer Zustände besteht, wie bei der Formulierung »Ich habe Schmerzen«, oder die gestischen Ausdrucksformen wiederum nach dem Muster sprachlicher Äußerungen verstanden wissen will. So ist das natürliche, unmittelbare Einfühlen, das eben als vorsprachliche Simulation erscheint, bei Wittgenstein nicht vorgesehen 12. Wittgenstein bleibt aber auch ein Gewährsmann, wo selbst noch die Grenzen der Simulation Theory theoretisch zu eng gezogen scheinen. »›Man sieht Gemütsbewegungen‹ […] Man sieht nicht die Gesichtsverziehungen und schließt nun, er fühle Freude, Trauer, Langeweile. Man beschreibt sein Gesicht unmittelbar als traurig, glückstrahlend, gelangweilt, auch wenn man nicht im Stande ist, sonst irgendeine Beschreibung der Gesichtszüge zu geben«. Wenn dies stimmt, ist nicht nur das theoretische Schließen nach dem Muster der Theory Theory von Gesten auf mentale Zustände zuviel der Theorie, sondern auch noch die Vorstellung einer inneren Einspiegelung oder Simulation fremder Bewußtseinsinhalte. In der Wahrnehmung eines traurigen Gesichts ist es mir nicht 11 | Zur Simulationstheorie zählen sich A. Goldman, R.M. Gordon und V. Gallese. Sie unterscheiden sich in ihren Positionen durch die Voraussetzung verschiedener Bewußtseinsgrade bei der Simulation und der daraus folgenden mentalen Zustandszuschreibungen. 12 | Für die Details vgl. die aufschlußreiche Studie von Karsten R. Stueber, Rediscovering Empathy. Agency, Folk Psychology, and the Human Sciences, Cambridge/Mass. und London 2006, S. 138ff.
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so, als ob ich in mir den analogen Zustand reproduziere, um ihn dann auf den anderen zurückzuübertragen, ich sehe vielmehr »sein Gesicht unmittelbar als traurig, glückstrahlend, gelangweilt (Hervorhebung von mir, M.G.)«. Das Feuern der Spiegelneurone, so Iacoboni, bringt keine zwei Traurigkeiten hervor, die auf Sender und Empfängersubjekt verteilt wären, sondern läßt mich als einen Zuschauer ebenso unmittelbar an der Stimmung des anderen teilhaben, wie der andere selbst in der Stimmung ist, die von ihm ausgeht. Die akustische Metapher einer Resonanz wird dem Phänomen entsprechend besser gerecht als die Spiegelmetapher, weil mit ihr ein gemeinsames Ein- und Mitschwingen insinuiert wird, bei dem die alle umfassende Stimmung als das Primäre und Eigentliche erscheint, die Gestimmten dagegen als das Sekundäre, diese somit nur Teilhabende sind. »Mirror neurons seem to explain why and how Wittgenstein and the existentialist phenomenologists were correct all along«13, oder wie es Shaun Gallagher und Dan Zahavi unter Berufung auf Wittgensteins antisubjektivistisches Interaktionsmodell vom Anfang der PU wenden: »When one worker understands the other, the understanding in question does not involve grasping some hidden mental occurences. There is no problem of other minds« 14. Wittgenstein rückt damit in eine Linie mit Phänomenologen wie Theodor Lipps und Max Scheler, die schon vor hundert Jahren in Sachen Empathie den Teilhabegedanken stark machten und auf eine Einfühlung oder »Einsfühlung« abhoben, in der das Mitgefühl nichts mehr Fremdes in mir nachvollziehbar erscheinen läßt, sondern ich unmittelbar dem anderen verbunden scheine, wenn nicht gar mit ihm eins bin. Das Beispiel von Lipps, das in diesem Zusammenhang immer wieder zitiert wird, ist unsere Beobachtung eines Seiltänzers15, der akrobatische und gefährliche Kunststücke hoch oben in der Luft vollführt. Wir verschmelzen in der Wahrnehmung voll und ganz mit ihm, indem wir bei jeder falschen Zuckung wie bei drohenden Abstürzen sogleich mitreagieren und die Bewegung selbst ausgleichen wollen, oder wir halten uns intuitiv an unseren Stuhlgriffen fest. Während bei Lipps die Empathie noch in einer romantischen Theorie der ästhetischen Erfahrung gründet, die will, daß wir als Betrachter 13 | Iacoboni, a.a.O., S. 262. 14 | S. Gallagher/D. Zahavi, The Phenomenological Mind. An Introduction to the Philosophy of Mind and Cognitive Science, London/New York 2008, S. 191. 15 | Vgl. Th. Lipps, »Einfühlung, Innere Nachahmung und Organempfindung«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 1, S. 564-519.
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im Kunstwerk ›aufgehen‹, und Scheler darüber hinaus auch noch religiöse und vor allem mystische Ideen ins Spiel bringt, wenn er seine ›Einsfühlung‹16 auf dem höchstmenschenmöglichen Niveau beschreibt – denn in der gläubigen Versenkung und Meditation gibt es sowieso kein Innen und Außen, kein Mein und Dein mehr –, zielt die zeitgenössische, von der Neurologie bereits inspirierte oder belehrte Phänomenologie in andere, d.h. vor allem auch alltagstauglichere Richtungen. Evan Thompson, Zahavi und Gallagher sowie Jean-Luc Petit haben die spektakulären Funde der Neurowissenschaften zuletzt zum Anlaß genommen, das Einfühlen in der Nachfolge Husserls zu erklären und dementsprechend mit einer Analyse subjektiver Intentionalität angesetzt. Empathie bedeutet dann eine Synchronisierung der Weltbezüge, die von verschiedenen Subjekten und ihren Standpunkten in der Welt ausgehen und in ihrer intentionalen Ausrichtung auf einen Gegenstand oder die Welt im Ganzen für einen Moment als gleichgeschaltet zu denken sind. Unter Berufung auf Husserl und natürlich auch auf Maurice Merleau-Ponty wird zudem der menschliche Körper als ›Leib‹ verstanden und als eine Art transzendentaler Berührungspunkt der verschiedenen Ego-Sphären angesetzt. Weil Intentionalität als ein Ausgerichtetsein auf die Welt immer leibvermittelt erscheint, verbürgt seine analoge Anlage bei mir wie bei dir die Aussicht auf eine gemeinsam geteilte Weltsicht. Und wo es zu Phänomenen der Empathie als einem unwiderstehlichen Ein- und Mitfühlen kommt, leuchtet sozusagen die transzendentale Anlage unserer Leibkonstitution als solche auf, insofern wir nicht mehr mühsam im Sinne einer Theory Theory oder einer Simulation Theory auf die inneren, mentalen Zustände unseres Gegenübers schließen müssen, sondern uns für einmal von dieser Aufgabe entlastet fühlen dürfen und damit und zuletzt im gefühlten Einverständnis mit unserem Gegenüber der ›Leibhaftigkeit‹ selbst, unserer eigenen wie fremden Intentionalität, gewahr werden. Wenn diese Rekonstruktion richtig ist – und sie kommt in dieser Deutlichkeit zugegebenermaßen bei den genannten Autoren nicht vor, wäre aber wünschenswert –, bleibt es allerdings immer noch bei dem ästhetischen Schema der Einfühlung, das zuletzt Kantischen Ursprungs ist und dem Kunstwerk vor allem eine Entlastung von Theorie und Praxis zuschreibt, die uns in die Lage versetzt, der grundsätzlichen, transzendentalen Anlage und Struktur unseres Wahrnehmungsapparates auf gefühlte Weise ein Stück näher zu kommen. Mit Wittgenstein wäre demgegenüber ein Ansatz stark zu machen, 16 | M. Scheler, Wesen und Form der Sympathie, Bern/München 1923.
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der nicht mehr im methodischen Rückgriff auf Husserl von ursprünglich getrennten Subjektsphären ausgeht und dann die Einfühlung als den Ausnahmefall versteht, in dem uns unsere gemeinsame Leibkonstitution als der transzendentale Rahmen unserer Weltwahrnehmung selbst offenbar wird. Vielmehr ist Wittgensteins grundsätzliches Bestehen auf der Öffentlichkeit aller unserer Verständnisleistungen dazu geeignet, von der Alltäglichkeit der Einfühlung in andere auszugehen, wie dies ja auch die zitierten parmesaner Neurologen tun, indem sie darauf bestehen, daß wir nicht nur beim Anblick von Kunstwerken, sondern kontinuierlich und ständig in einer spiegelneuralen Wechselbeziehung zueinander und zur Welt stehen, so daß es unser gesamtes ›Weltbild‹ von morgens bis abends grundiert. ›Nothing is hidden‹ im Sinne Wittgensteins hieße dann, daß wir das Wechselspiel von Anblick und Angeblicktwerden, von Gestik und Spiegelung der Gestik, von Verhalten und Synchronisation bzw. Dissynchronisation eigenen und fremden Verhaltens, als das intersubjektive Grundmuster einer gemeinsamen Weltbewältigung in Theorie und Praxis annehmen dürften, ein Grundmuster, das selbst nicht mehr von den Leistungen der Subjekte und ihrer subjektiven Intentionalität abhinge, sondern umgekehrt diese erst ermöglichte, insofern es die von uns allen geteilten Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster repräsentierte, die jeder von uns nur in subjektiven Abweichungen und Konkretisierungen immer wieder neu verwirklichte. Das Apriori wechselt dementsprechend von der Intentionalität des Subjekts zur Intentionalität einer Lebenswelt. Ausgangspunkt der philosophischen Analyse ist nicht mehr das forum internum, in dem auch die Hoffnung auf einen Vorbehalt von Privatsprachen gehegt wird, sondern das forum externum der mit Wittgenstein immer gemeinsam geteilten Lebensformen17. Ein letztes Mal zeigt sich hier freilich die Grenze, die Wittgenstein mit seiner Enttäuschungshaltung seiner eigenen Disziplin zieht, insofern klar ist, daß er die Lebensformen als den sinnspendenden Kontext aller unserer Sprachspiele nicht mehr als solche analysieren 17 | Hierzu paßt besonders die Rede Vittorio Galleses von einem »shared manifold«, das sich im Phänomen der Empathie kundtut. Gallese geht allerdings nicht soweit, den neu entdeckten »mirror matching mechanism« als eine autonome, praktische Sphäre intersubjektiver Sinngebung anzusehen, sondern schließt sich A. Goldmans Fassung einer Simulation Theory an. Vgl. V. Gallese, »The ›Shared Manifod‹ Hypythesis. From Mirror Neurons to Empathy«, in: Journal of Conscious Studies, 2001, www.imprint-academic.com/jcs, S. 33-50.
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will. Es geht ihm nicht darum, die interne Struktur von Lebenswelten als solche auszuarbeiten, um darauf auf bauend neue Thesen zur Sinnkonstitution von Sprache zu gründen. Im Gegenteil: es kam ihm so wenig auf die strukturelle Eigenart der Lebensformen an, daß er sie im Grunde doch nur als eine Variante seiner Sprachspielkonzeption ansetzte, auch wenn er dies nie eigens ausführte – wozu auch. Lebensformen folgen so zuletzt auch wiederum nur Spielregeln, die nicht intentional analysiert werden, also nach ihrem genuinen Praxisgehalt und ihrem letzten, zielorientierten Ende; sondern wiederum nur als eine Form von Grammatik erscheinen, also zuletzt selbst wiederum quasi-sprachlich konstituiert sind. An diesem Punkt der Theorielage ist klar, daß der Grundansatz Wittgensteins bei der unbedingten ›Nicht-Privatheit‹ unserer Weltsinnbezüge methodisch ergänzt werden muß durch eine Phänomenologie, die einerseits die Analyse der Intentionalität ernst nimmt, andererseits aber die Wende weg vom Subjekt und seiner Privatsphäre entschlossen vollzieht, und nach dieser Aufgabenbeschreibung kann wenig Zweifel mehr herrschen, daß es die Lebensweltanalyse des frühen Heidegger ist, von der für ein solches Unternehmen auszugehen ist. Hier finden sich, auch wenn es in Sein und Zeit in einer eigenwilligen, zuweilen expressionistischen Sprache formuliert ist, die nötigen Anhaltspunkte, und für wie fruchtbar solche Ansätze neuerdings gehalten werden, ist mit der Formulierung Iacobonis schon angesprochen worden, daß die Reihe jetzt an den »existentialist phenomenolgists« ist, die Welt neu zu erklären18. Weiter ist klar, daß Wittgenstein in keiner Weise selbst an einer Ausarbeitung der biologischen Mechanik oder Organik interessiert war, mit deren Hilfe wir heute Phänomene wie Empathie erklären können. Es braucht demnach nicht nur eine substantielle Verbindung der Wittgensteinschen Lebensform-Philosophie mit einer aktualisierten Phänome18 | Zwei Literaturen können auch hier bereits genannt werden: Jan Slabys Analyse der Gefühle, Stimmungen und Emotionen, die sich grundsätzlich auf Heideggers Lebensweltanalyse berufen, zugleich aber die pragmatistischen Ansätze mit Davidson, Dreyfus und dem ›Neoexistentialisten‹ Haugeland mit aufnehmen. Vgl. J. Slaby, Gefühl und Weltbezug. Die menschliche Affektivität im Kontext einer neo-existentialistischen Konzeption von Personalität, Paderborn 2008. Von psychiatrischer Seite hat Matthew Ratcliffe zuletzt ein Plädoyer für eine Heideggerrenaissance gegeben, die allerdings auch bei ihm durch den Filter des amerikanischen Pragmatismus hindurch verstanden werden muß, vor allem mit Rückgriff auf William James: M. Ratcliffe, Feelings of Being. Phenomenology, Psychiatry and the Sense of Reality, Oxford/New York 2008.
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nologie der Lebenswelt, es braucht ebenso entschieden eine Anbindung an die zeitgenössischen Lebenswissenschaften. Thesenartig formuliert: Die Tendenz des spätesten Wittgenstein als dem Autor von On Certainty bleibt präsent und zukunftsträchtig, wenn es gelingt, erstens, die Rede von einem unser Verstehen fundierenden »Weltbild« von der romantischen Rede einer »Mythologie« zu entkoppeln. Mythologie muß wie gesehen durch Biologie ersetzt werden. Zweitens muß die Sprachzentrierung im Verständnis eines Weltbildes zugunsten einer Intentionalitätsanalyse weichen. Es sind dann nicht mehr »Sätze«, die als eine »Art Mythologie« dies »Weltbild beschreiben«, sondern Intentionen, eingebettet in die lebensweltlichen Horizonte, die sie strukturieren und ihnen Sinn und Bedeutung verleihen. Phänomenologie muß die Sprachphilosophie über ihre eigenen Grenzen hinaus verständlich machen. Drittens ist die Vorstellung einer ›neo-existentialistischen‹ Wende Wittgensteins ernst zu nehmen, indem Wittgensteins spätester Ansatz bei der unmittelbaren Evidenz der Weltbilder, ihrem zweifellosen Gelten noch diesseits jeder theoretischen Zweifelssphäre, einem zeitgemäßen Bedürfnis nach Reorientierung nachkommt. Es ist eine Tendenz, die sich sicher aus einem spürbaren Überdruß an postmodernen Spielformen der Philosophie speist, es ist aber auch eine Tendenz, die sich in den 0er Jahren des 21. Jahrhunderts aus vielfachen Formen einer existentiell gewordenen Verunsicherung ergibt, genaueres werden erst die Historiker sagen können, die später einmal am Flug der ›Eule der Minerva‹ teilhaben können. Fest steht jedoch soviel, daß ein Bedürfnis nach Philosophie als ein Bedürfnis nach einem verläßlichen »Hintergrund« erscheint, »auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide«. Daß mit einer solch neo-existentialistischen Wende nicht bereits wieder das Tor zu einem neuen Irrationalismus oder einem unhistorischen Verständnis unserer Philosophietraditionen aufgestoßen ist, kann abschließend noch einmal mit Wittgensteinzitaten angedeutet werden. Sollte nämlich eine phänomenologische Naturalisierung des Geistes Erfolg haben, heißt dies noch nicht, daß damit die alten Fragen nach den Geltungsansprüchen zugleich auch aufgehoben sein müssen: »Wenn aber einer sagte ›Also ist auch die Logik eine Erfahrungswissenschaft‹, so hätte er unrecht. Aber dies ist richtig, daß der gleiche Satz einmal als von der Erfahrung zu prüfen, einmal als Regel der Prüfung behandelt werden kann« (ÜG, S. 140, Nr. 98). Es geht also nur um die Lizenz, die Dinge aus ihrer naturalen Genese heraus gegenzulesen. Und zum Vorwurf einer Romantik der Unmittelbarkeit, also einer historisch uninformierten Philosophie, ließe sich mit Wittgenstein noch einmal
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antworten: »Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im Flußbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt« (ÜG, S. 140, Nr. 97). Hier gälte es also, die historischen Bedingungen philosophischer Geltungsansprüche unter naturalen Voraussetzung gegenlesen zu dürfen. Wie dies in der philosophischen Praxis dann aussieht, das muß das Thema eines neuen Buches sein. Wittgenstein der Exzentriker, der uns vor allem eine Lektion in philosophischer Weltfremde erteilen wollte, wäre so zuletzt auch ein Extremist in Sachen Weltnähe. Er wäre im Loslassen von den Visionen alter Überschaubarkeit der Welt, wie auch von einer überkommenen Verläßlichkeit unserer moralischen Standards, dem Leben in Wahrheit näher gekommen als er es theoretisch zuvor für möglich hielt. Er hätte bei aller Verweigerung gegen eine Rückkehr in die Bahnen akademischen Philosophierens dennoch wenigstens dazu beigetragen, daß im Vokabular, mit dem er seine Dissidenz formuliert, das Potenzial zu neuen und eigenständigen Weltsichten steckt. Geblieben wäre freilich am Ende auch etwas von der Vorsicht des einmal Enttäuschten. Zumindest an dem Punkt, an dem es die neuen, durch eine Postmoderne hindurchgegangenen Theorien schon lange nicht mehr versäumen, bei allem Erkenntnisoptimismus immer noch selbstreflexiv und zurückhaltend in ihren Ansprüchen zu bleiben. Das spezifisch Moderne an ›Wittgenstein als Moralisten‹ bleibt, daß er als eine tragische Gestalt reüssiert und seine Wirkung zuletzt dem Zauber einer gerechten, aber ohnmächtigen Empörung über den unvollkommenen Zustand der Welt verdankt.
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Edition Moderne Postmoderne Iris Därmann, Harald Lemke (Hg.) Die Tischgesellschaft Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen 2008, 244 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-694-6
Christian Filk Günther Anders lesen Der Ursprung der Medienphilosophie aus dem Geist der ›Negativen Anthropologie‹ Juni 2010, ca. 150 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-89942-687-8
Alexander García Düttmann Derrida und ich Das Problem der Dekonstruktion 2008, 198 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-89942-740-0
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3) ANZ1146.p 221422478814
Edition Moderne Postmoderne Claus Pias (Hg.) Abwehr Modelle – Strategien – Medien September 2009, 212 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-876-6
Kurt Röttgers Kritik der kulinarischen Vernunft Ein Menü der Sinne nach Kant Mai 2009, 256 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1215-8
Jörg Volbers Selbsterkenntnis und Lebensform Kritische Subjektivität nach Wittgenstein und Foucault Mai 2009, 290 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-925-1
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Edition Moderne Postmoderne Christine Abbt, Tim Kammasch (Hg.) Punkt, Punkt, Komma, Strich? Geste, Gestalt und Bedeutung philosophischer Zeichensetzung Juni 2009, 252 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-988-6
Waltraud Meints, Michael Daxner, Gerhard Kraiker (Hg.) Raum der Freiheit Reflexionen über Idee und Wirklichkeit Juli 2009, 448 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1143-4
Emmanuel Alloa, Alice Lagaay (Hg.) Nicht(s) sagen Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert
Maria Muhle Eine Genealogie der Biopolitik Zum Begriff des Lebens bei Foucault und Canguilhem
2008, 308 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-828-5
2008, 306 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-858-2
Ralf Krause, Marc Rölli (Hg.) Macht Begriff und Wirkung in der politischen Philosophie der Gegenwart
Peter Nickl, Georgios Terizakis (Hg.) Die Seele: Metapher oder Wirklichkeit? Philosophische Ergründungen. Texte zum ersten Festival der Philosophie in Hannover 2008
2008, 286 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-848-3
Miriam Mesquita Sampaio de Madureira Kommunikative Gleichheit Gleichheit und Intersubjektivität im Anschluss an Hegel Dezember 2009, ca. 224 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1069-7
Pravu Mazumdar Der archäologische Zirkel Zur Ontologie der Sprache in Michel Foucaults Geschichte des Wissens 2008, 598 Seiten, kart., 45,80 €, ISBN 978-3-89942-847-6
November 2009, ca. 210 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1268-4
Ulrich Richtmeyer Kants Ästhetik im Zeitalter der Photographie Analysen zwischen Sprache und Bild Februar 2009, 250 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1079-6
Eckard Rolf Der andere Austin Zur Rekonstruktion/Dekonstruktion performativer Äußerungen – von Searle über Derrida zu Cavell und darüber hinaus April 2009, 258 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1163-2
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