Baukunst als unmögliche Möglichkeit: Plädoyer für eine unbestimmte Architektur [1. Aufl.] 9783839426319

The etymology of architecture has deep allusions in Western culture. »Architecture« or »arché-techné« derives its life f

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German Pages 320 [318] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
DYSBALANCEN. VOM VERGESSEN DER ARCHÉ
1. Dysbalancen. Vom Vergessen der Arché
1.1. Die Trias der Artefakte: Zur Arché, Poiesis und Physis bei Aristoteles
1.2. Von der Antike in die Gegenwart: (Bau-)Kunst zwischen Zweck und Zufall
1.3. Am Leitfaden von M. Heidegger: Zur Architektur im „Ge-Stell“
UNMÖGLICHE MÖGLICHKEITEN. EINE ARCHÉ-GRAPHIE
2. Unmögliche Möglichkeiten. Eine Arché-Graphie
2.1. Zur unmöglichen Möglichkeit in der Erhabenheit
2.1.1. Zur Ungleichheit von Schönheit und Proportion bei E. Burke
2.1.2. Zur zaghaften Emanzipation der Erhabenheit bei I. Kant und F. Schiller
2.1.3. Gestaltung heißt Nichtgestalt. Erhabenheit bei T.W. Adorno
2.1.4. Über die Quantität im Reinzustand. Zur Erhabenheit bei J.F. Lyotard
2.1.5. Architektur und Erhabenheit im 20 Jh. am Beispiel von P. Eisenman
2.2. Zwischenstück: Möglichkeit, Kraft und Material bei Aristoteles
2.3. Unmögliche Möglichkeit im Material
2.3.1. Materie als All-Eines bei G. Bruno und B. de Spinoza
2.3.2. Zum Band in der Materie bei F.W.J. Schelling
2.3.3. Über die Erde, den Streit und den Riss bei M. Heidegger
2.3.4. Die Real-Möglichkeit als Substrat bei E. Bloch
2.3.5. Dialoge mit dem Material bei J. Itten und L. Moholy-Nagy
BALANCEN. VOM WIEDERFINDEN DER ARCHÉ
3. Balancen. Vom Wiederfinden der Arché
3.1. Chora, Gegnet und Geviert: Zum Gefüge der Arché
3.2. Über das Ereignis: Architektur und Zeit(-lichkeit)
3.3. Zur Performativität in Architektur und Urbanismus
Literatur
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Baukunst als unmögliche Möglichkeit: Plädoyer für eine unbestimmte Architektur [1. Aufl.]
 9783839426319

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Christian J. Grothaus Baukunst als unmögliche Möglichkeit

Architekturen | Band 22

Christian J. Grothaus ist Architekt und arbeitet als Autor, Berater und Kulturwissenschaftler. Seine Schwerpunkte sind künstlerische Forschung, Architektur und Philosophie.

Christian J. Grothaus

Baukunst als unmögliche Möglichkeit Plädoyer für eine unbestimmte Architektur

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine überarbeitete Fassung der Dissertation »Baukunst als unmögliche Möglichkeit. Eine Arché-Graphie«, die an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam eingereicht und am 11. Februar 2014 verteidigt wurde. Die Begutachtung erfolgte durch Herrn Prof. Dr. Dieter Mersch und Herrn Prof. Dr. Steffen Dietzsch.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt Einleitung | 7

DYSBALANCEN . V OM VERGESSEN DER ARCHÉ Dysbalancen. Vom Vergessen der Arché | 15 1.1. Die Trias der Artefakte: Zur Arché, Poiesis und Physis bei Aristoteles | 19 1.2. Von der Antike in die Gegenwart: (Bau-)Kunst zwischen Zweck und Zufall | 34 1.3. Am Leitfaden von M. Heidegger: Zur Architektur im „Ge-Stell“ | 60 1.

UNMÖGLICHE MÖGLICHKEITEN . E INE ARCHÉ -GRAPHIE Unmögliche Möglichkeiten. Eine Arché-Graphie | 79 2.1. Zur unmöglichen Möglichkeit in der Erhabenheit | 85 2.1.1. Zur Ungleichheit von Schönheit und Proportion bei E. Burke | 104 2.1.2. Zur zaghaften Emanzipation der Erhabenheit bei I. Kant und F. Schiller | 109 2.1.3. Gestaltung heißt Nichtgestalt. Erhabenheit bei T.W. Adorno | 118 2.1.4. Über die Quantität im Reinzustand. Zur Erhabenheit bei J.F. Lyotard | 124 2.1.5. Architektur und Erhabenheit im 20 Jh. am Beispiel von P. Eisenman | 128 2.2. Zwischenstück: Möglichkeit, Kraft und Material bei Aristoteles | 137 2.3. Unmögliche Möglichkeit im Material | 144 2.3.1. Materie als All-Eines bei G. Bruno und B. de Spinoza | 162 2.3.2. Zum Band in der Materie bei F.W.J. Schelling | 167 2.3.3. Über die Erde, den Streit und den Riss bei M. Heidegger | 178 2.3.4. Die Real-Möglichkeit als Substrat bei E. Bloch | 186 2.3.5. Dialoge mit dem Material bei J. Itten und L. Moholy-Nagy | 195 2.

BALANCEN . V OM W IEDERFINDEN DER ARCHÉ Balancen. Vom Wiederfinden der Arché | 211 3.1. Chora, Gegnet und Geviert: Zum Gefüge der Arché | 212 3.2. Über das Ereignis: Architektur und Zeit(-lichkeit) | 235 3.3. Zur Performativität in Architektur und Urbanismus | 260 3.

Literatur | 305

Einleitung

Architektur bezeichnet nicht nur Bauwerke bzw. die Arbeit von Architekten, vielmehr weist der zugehörige Begriff auf die Grundlagen der abendländischen Kultur. Er lässt sich zweiteilen in: αρχη [Arché] „Anfang“, „Ursprung“, „Grundlage“, „das Erste“ und τεχνη [Techné] „sachgerechte Verfertigung in Kunst und Handwerk“. Sind beide Themenfelder in der Balance, ist es die gebaute Umwelt auch. Bekommt eine Seite allerdings ein Übergewicht, wirkt sich das entsprechend aus. Das vorliegende Buch unterstellt eine Dysbalance zulasten der Arché, die bereits in der frühen Philosophie deutlich wird und sich auch in der (Bau-) Kunst niederschlägt. Deshalb wird in der Folge das zugehörige antike Denken bei Platon und Aristoteles offengelegt, dessen Wirkungs-Linien (Graphien) durch die Jahrhunderte vor allem in der Frühromantik und der Moderne des 20. Jahrhunderts nachskizziert und mit der entsprechenden Architekturtheorie bzw. geschichte parallelisiert. Bedeutsam ist, dass die Kunst in Archi-Tektur bzw. Arché-Techné zusammen mit dem Handwerk genannt wird und nicht etwa auf der anderen Seite des Begriffspaars steht. Die zugehörige Aristotelische Unterscheidung von Praxis und Poiesis weist ebenso in diese Richtung und sieht das künstlerische Geschehen als sachkundige Verfertigung von Hervorbringungen. Aristoteles setzte sich damit von Platon ab, für den es nur die Praxis gab, und billigte dem (bau-) künstlerischen Handeln damit auch Autonomie zu, denn das Hervorgebrachte verliert die Bindung an die Bestheit bzw. Tugend (Arete) und galt seither nicht mehr als bloße Nachahmung ewiger Ideen. Gleichzeitig jedoch verkoppelte er die Poiesis mit der Techné (als sachkundige Verfertigung). Handwerk, Kunst und Wissenschaft kamen damit aber gleichzeitig in den Zusammenhang der Prinzipien von Ursache und Wirkung (Kausalität) sowie einem ziel- und zweckgerichteten Handeln (Teleologie). Aus diesen Prämissen wuchs auch unerbittlich die Dominanz von Mathematik, Geometrie, Logik und Planung in der Architektur. Damit wiederum wurde die Arché bis zur Unkenntlichkeit verstellt. Sie näm-

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lich wird als Anfang gedacht und wirkt damit als Wegweisung in ein unbestimmbares Milieu, das auch die menschlichen Distanzierungs- bzw. Differenzierungsprozeduren (das Welt-Haben) zuerst möglich macht – anders gesagt, markiert die Arché die Grundkraft im Menschen, die sich auch im Hervorbringen zeigt. Allerdings hat Aristoteles mit dem Denken über den Zufall selbst einen Ausweg aus Logik, Kausalität und Teleologie geschaffen. Einen, der rege genutzt wurde und immer noch genutzt wird. Die rationalistische Stringenz der Techné hingegen hält die Menschen in einer Art Tunnelblick. In der Hermetik diesbezüglicher Vorprägungen gelten Sachverhalte, Wirkungsweisen oder Hervorbringungen, die sich außerhalb von eingeübten Deutungsmustern bewegen, gemeinhin wenig. An diesem Punkt setzt auch die Kritik Martin Heideggers an. Er zeigt in seinem Denken über das „GeStell“ eine denaturierte Existenz und ihr zugehörig eine förmlich stillgestellte Welt auf, deren selbsterfüllende Prophezeiungen das Denken wie Handeln prägen und alternative Weltbildungen bzw. -formungen im Sinne einer Arché verhindern. Im ersten Kapitel wird es also darum gehen, die o.g. Aristotelische Befreiungsbewegung für die (Bau-)Kunst nachzuzeichnen und das missverständliche Potenzial zu verdeutlichen, das auch die Architektur zu einer bloßen Vollzugsform des „Ge-Stell“ verkümmern ließ. Das Selbstverständnis des Architekten als Entwerfer für die Herrscher, seine Konditionierung durch die Technik und der Wille, zur künstlerischen Überwindung des Zwecks, zum produktiven Zufall und zur schöpferischen Unbestimmtheit einer Arché zurückzufinden, sind ebenfalls Bestandteile dieses Kapitels. Durch die o.g. teleologisch-kausale Prägung des Hervorgebrachten konnte auch bei Aristoteles eine Kluft zwischen intelligibel und sinnlich aufgehen, die sich im Verständnis von Möglichkeit und Wirklichkeit (Dynamis und Energeia) niederschlägt. Blieb also bei Platon und den ihm nachfolgenden christlichen Adaptionen die Möglichkeit direkt mit den ewigen Ideen bzw. Gott verbunden, konnte sie sich auch bei Aristoteles nicht vollständig davon lösen. So hielt er das Mögliche über den Formbegriff zwar direkt im Material, degradierte dieses dadurch allerdings zum bloßen Empfänger, eben zum ‚unge-formten‘ Medium einer gebundenen Idee bzw. unterwarf es dem zweckgesättigten Kalkül eines Hervorbringenden. Im Binnenverhältnis der Begriffspaarung zeigt sich also die permanente Versuchung einer Hierarchisierung zu Gunsten der (idealiten) Möglichkeit. Martin Heidegger hat versucht, dieser Dichotomie zu entrinnen, indem er die Möglichkeit von Mögen abgeleitet und sie dabei auch unmittelbar an die Wirklichkeit als Präsenzgeschehen gebunden hat. In der vorliegenden Publikation wird in diesem Sinne immer dann die unmögliche Möglichkeit benannt, wenn

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solch ein Anspruch erfüllt zu sein scheint. Nicht die Idee bestimmt in der unmöglichen Möglichkeit mehr den Stoff, sondern ein ergebnisoffener Prozess zwischen Substanzen, wobei der Gestalter und das zu Gestaltende in weltbildender Wechselwirkung die Gestalt hervorbringen. Auch Jacques Derrida gab im Rahmen eines gleichnamigen Vortrages einen Hinweis darauf, was unmögliche Möglichkeit bedeuten kann. Beide Protagonisten kommen ausführlich zu Wort. Ein Anspruch an das architektonische Gestalten im Sinne einer Baukunst als unmögliche Möglichkeit kann nur außerhalb der Themen Zweck, Nutzen und Kausalität stattfinden. Er muss sich aus den tradierten Vorstellungen der abendländischen Baukultur lösen. Im Laufe des zweiten Kapitels werden entsprechende philosophisch-architektonische Graphien gezeichnet. In diesem Zusammenhang besonders aufschlussreich ist die Betrachtung der Erhabenheit – markiert das Denken im damals noch jungen Feld der Ästhetik doch die ersten konsequenten Durchbrüche aus den Vorprägungen auf das ‚Wahre, Gute und Schöne‘ in Richtung eines Präsenzgeschehens in Sinne der Entbergung (Aletheia) bzw. des Ereignisses. Edmund Burke, beispielsweise, war einer der klarsten Kritiker eines absolut gesetzten und mathematisch beschreibbaren Kanons für die (Bau-) Künste. Er verlegte die Schönheit damit in das Auge des Betrachters und gab auch Immanuel Kant Anregung zur weiteren Destruktion entsprechender antiker Erbschaften. Dieser setzte auch die Erhabenheit als autonome ästhetische Kategorie ein und gab damit Impulse, die sich vor allem im 20. Jahrhundert fruchtbar entfalteten. So wird zum Beispiel Theodor W. Adorno der Erhabenheit im Rückgriff auf Kant das Prinzip ‚Gestaltung heißt Nichtgestalt‘ zuweisen. Weitere Arché-Graphien werden über die Emanzipation des Materials angelegt. Auch hier markiert der denkerische Übergang in das Zeitalter der Aufklärung den Beginn der zugehörigen Auseinandersetzungen. Die entsprechenden Analysen beginnen daher bei Giordano Bruno und führen über F.W.J. Schelling und Martin Heidegger bis zu Ernst Bloch. Besonders anschaulich kann die Entwicklung zur Autonomie auch von materialorientiert arbeitenden (Bau-) Künstlern dargestellt werden, denn hier kommt Wirkung fortan aus der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit und es können regelrechte ‚Dialoge‘ mit dem Material entstehen, wie vor allem an Johannes Itten und Laszlo Moholy-Nagy gezeigt werden wird. Wichtig ist dabei, dass nicht nur die äußeren Einflüsse wie Sonne, Schatten, Wind, Feuchtigkeit oder Klang entsprechende Wirkungen verursachen, sondern etwas, das dem Material zusätzlich innewohnt. Dieses Innewohnen ist nicht nur ideell, sondern verweist auf die unmögliche Möglichkeit, die in jedem Wirklichen anwesend-abwesend liegt und vom Architekten freigelegt bzw. ins Werk gesetzt wird. Die unmögliche Möglichkeit markiert also auch Unbestimmtheit, Dunkelheit, Noch-Nicht, Vielleicht, Sowohl-als-auch, Potenzial,

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Wirkung, Wandel oder Prozess. Damit sind die Brücken für eine Architektur gebaut, die aus ihrem Material schöpft. Sie steht damit nicht mehr nur für den Raum, sondern für das Räumen bzw. die Räumlichkeit (aus) der Lebendigkeit und Materialität des Daseins selbst. Galt das erste Kapitel der Darstellung der Dysbalance, beschäftigen sich die letzten drei Abschnitte mit der Balance von ‚Archi-Tektur‘ bzw. Arché-Techné. Hierzu wird zunächst das Gefüge ausgeleuchtet, in dem Arché als Anfang und Grundkraft geschieht. Dieses Milieu (im Sinne von ‚Zwischen’) von Hervorbringungen, die vom Zweck emanzipiert sind, ist zumeist transzendent(al) charakterisiert, kommt aber ohne Platonische Idealitäten aus. Vielmehr findet ein entwerfender Über- und Rückstieg des Subjekts statt. Im Entwurf und der Materialität gibt es also die Chancen, sich eines ‚Sowohl-als-auch’ oder ‚Noch-nicht’ zu versichern. Beide (Be-)Handlungen gleichen damit eher Wegen oder roten Linien, an denen sich der Pfad in die unmögliche Möglichkeit abstecken lässt. Das Zwischen bzw. Milieu in diesem Zusammenhang gibt das Gefüge, in dem sich die Themen Hervorbringung, Mensch, Welt, Architektur, Möglichkeit und Wirklichkeit verdichten. Dieses Szenario ist kaum noch räumlich, materiell, auch nicht ideell, sondern eher im Sinne von vorbewusst-prozessual bzw. temporal zu beschreiben. So nimmt Jacques Derrida am Beispiel des Platonischen Dialogs Timaios eine Amme des Werdens (Chora) in den Blick, die nicht nur der Vor-Ursprung bzw. das Milieu des Intelligiblen verkörpert, sondern auch das des Sinnlichen bzw. Materialhaften und der Natur. Martin Heidegger hingegen versucht, mit dem Nicht-Wollen, der Gelassenheit bzw. ‚Gegnet’, einem zureichenden Zeit-Spiel-Raum oder auch dem Geviert in jenes Gefüge zu gelangen, das auch Hervorbringungen und das Milieu hierzu erst ermöglicht. Das Geschehnis darin ist das Ereignis im Sinne des Entbergens als ein zur Präsenz kommen. Nicht was in die Präsenz gerät ist dabei wichtig, sondern dass dieses geschieht. Das Ereignis ist ebenfalls das Merkmal einer Baukunst als unmögliche Möglichkeit, die nicht länger ihre Prozessualität bzw. Temporalität ausblendet bzw. geringschätzt. Das Motiv der Bewegung ist auch für die Architektur die Wirklichkeit ihrer unmöglichen Möglichkeit. Im weiteren Verlauf des Kapitels wird daher neben dem Ereignis auch die Zeitlichkeit im Gebauten untersucht. Michel Serres, Jacques Derrida und Peter Eisenman geben hierzu wertvolle Anregungen und leiten über in das Themenfeld der Performativität, das aus drei Sichtweisen dargestellt wird. So erscheint zunächst die menschliche Handlung als aktive Veränderung vorgefundener Verhältnisse bzw. als Grundlage zur Herstellung noch nicht vorhandener räumlicher Relationen. Verbunden ist hiermit auch die Fragestellung, ob Architektur ausschließlich von Architekten ‚ge-tan‘ wird oder

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mittlerweile die Zeit angebrochen ist, in der die Nutzer und Bewohner aus der passiven in eine aktive, partizipierende Rolle hinüberwechseln. Zweitens zeigt sich ein Einfluss auf Räume und Architekturen, der aus dem o.g. anwesendabwesenden ‚Noch-nicht’ im Material herrührt und über dessen Atmosphären als vernehmbare Ekstasen (Gernot Böhme) wirkt. Und schließlich ist die Grundlage zu verdeutlichen, auf der jeder Wandel bzw. Einfluss überhaupt geschehen kann. So vollzieht sich keine Handlung, kann kein Material wirken und keine Atmosphäre entstehen, ohne dass es Zeitlichkeit gäbe. Partizipation, Interaktion, produktive Zweckentfremdung, die Theorie des Umherschweifens und Praktiken der Improvisation geben ebenfalls Hinweise auf die Temporalität. Hiermit wird am Ende dieses Buches eine schließende Arché-Graphie auf die Performativität im Gebauten bzw. bei dem Bauen skizziert, die sich über die sog. Situationisten bis in die Gegenwart zieht. Christian J. Grothaus Berlin im März 2014

1. Dysbalancen. Vom Vergessen der Arché

1. Dysbalancen Vom Vergessen der Arché Wenn wir den Gegenstand isolieren, reinigen und konzentrieren, zerschneiden wir all seine Verbindungen mit dem Universum […]. Wenn dagegen der Gegenstand selbst gemäß einem ganzen Netzwerk natürlicher Relationen erweitert wird, steigt er aus seinem Rahmen heraus.1 GILLES DELEUZE/DIE FALTE

Im obigen Zitat ist die Rede von Gegenständen, Verbindungen, Relationen, Netzwerk, Natur, Überstieg und Rahmen. Diese Ausdrücke stehen allesamt auch in Verbindung mit der Architektur bzw. der Arbeit des Architekten und können helfen zu verstehen, wie die gebaute (Um-)Welt ihre heutige Gestalt finden konnte. Es zeigt sich im Zitat auch, wie eine ganze Spielart der bildenden Künste, manche reden sogar immer noch von der ‚Königin der Künste‘, sukzessive in die Selbstisolation fiel. Diejenigen, die die Architektur ins Werk setzten, haben die Isolierungsbewegung entweder nicht verstanden oder stumm erduldet. Manche hingegen leisteten Widerstand, der sich darin äußerte, die Relationen, den Überstieg, die Vermittlungsfunktionen, die Vernetzungen von Mensch und Welt in architektonischen Hervorbringungs- bzw. Schöpfungsvollzügen wieder einzufordern und ebenfalls in der gebauten Tat umgesetzt zu halten. Das Kappen der ‚natürlichen‘ Verbindungen läuft parallel zur Entwicklung, die die europäische Aufklärung eingeleitet. Mit der Bewusstwerdung des Subjekts entwickelte sich auch dessen Fähigkeit zur Perspektivität, die den Willen zur Vorstellung und Planung in einem kontrollierbaren, zukünftigen, räumlich1

Deleuze, Gilles: Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2000 [frz. 1988], S. 205.

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zeitlichen Gefüge markiert. Planung wiederum ist eng verbunden mit dem Entwerfen, Verfolgen bzw. Imaginieren oder Vorstellen von Zielen. Letzteres beschreibt das Hauptdilemma, denn das Entwerfen wird ausschließlich daran ausgerichtet. Nicht mehr das Entgegenkommende findet seine Verkörperung im Werk, sondern das selbst bzw. fremd gesetzte Ziel formt die Körper ohne Rücksicht auf das, was kommen will (fremd gesetzt deshalb, weil Ziele in der Architektur (fast) immer von deren Auftraggebern, also im weitestes Sinne Machtausübenden vorgegeben werden und nicht von den Baukünstlern selbst). Die Vorstellung ist die dominanteste Produktionsbedingung der aufgeklärten Moderne. In ihr sieht sich das autonome Subjekt als Schöpfer einer eigenen Welt, wobei es gleichzeitig auf dem Drahtseil zwischen Kunst und Künstlichkeit tanzt. Bei aller Verwandtschaft dieser beiden Worte, können sie doch Welten trennen, kann Künstlichkeit in den Gegensatz zur Kunst treten. Hier taucht das Thema der Verortung bzw. Unterscheidung beider Begriffe auf, denn Kunst kann mit den gleichen Tätigkeiten ins Werk gesetzt werden, wie die Artefakte der Künstlichkeit. Entwurf und Imagination sind schöpferische Verkehrsformen, die beide Gestaltungsprozesse begleiten. Vorstellung und Planung hingegen überformen seit dem Zeitalter der Aufklärung sukzessiv die Kunst und damit auch die Architektur. Sie weisen den Weg in die Isolierung, die denaturierte Relationalität der Künstlichkeit vor. Damit soll freilich nicht gesagt werden, dass etwa die ägyptischen Pyramiden oder griechischen Tempel ohne jede Art von Planung errichtet wurden. Ganz im Gegenteil wird in den nächsten Absätzen gezeigt, dass die antike Baukunst (hier vor allem die römische) hochartifiziell im o.g. Sinne war und es in ihr primär darum ging, durch virtuelle, vorgestellte Ordnungen Räume zu strukturieren und zu beherrschen. Der springende Punkt liegt woanders. Nämlich in einer schleichenden Dysbalance, einem Ungleichgewicht, das durch die Jahrhunderte zum Sturz des besagten Drahtseiltänzers geführt hat. Dieser Sturz verlief in Zeitlupe und ließ Künstler wie Architekten nach unsanfter Landung auf dem Feld einer sinnentleerten Imagination und einer leiblosen Planungswirklichkeit zurück. In diesem bereinigten Milieu wird nicht mehr gesehen, was sich zeigen will. Vielmehr verbleibt für den schöpferischen Künstler und Architekten nur noch das Agieren, Arrangieren oder Variieren aktueller Artefakte bzw. das Wiederentdecken oder die Reanimation bereits vergangener. Variiert werden aber nicht nur die Artefakte, sondern auch deren Produktionsbedingungen. Denaturiert ist der Architekt nämlich selbst, wenn er sich ausschließlich noch als Arrangeur von Vorschriften oder Konstruktionsmethoden durch seine Pläne bewegt. Eine Art verinnerlichte Isolierung im Sinne von Weltverlust zeigt sich in solchem Handeln, das sich ausschließlich auf das Bestimmbare stützt und allenfalls noch in denkerischen Bestimmtheiten zu operieren vermag.

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Aristoteles hat in seinen Büchern Physik, Metaphysik und Nikomachische Ethik versucht, u.a. die Themen Imagination, Vorstellung, Zufall, Kunst und Wissenschaft zu differenzieren. Seine Analysen hatten weitreichende Auswirkungen – nicht umsonst gilt er als Gründervater der europäischen Wissenschaft.2 Zu den Begriffen Bestimmtheit und Unbestimmtheit (hier Akzidens genannt) hielt er fest, dass nur das Bestimmte die Grundlage der Wissenschaft sein kann, nicht aber das Unbestimmte. Die Baukunst schlug er dabei der Seite der Wissenschaft zu: „Wer ein Haus baut, der baut nicht auch dasjenige, was sich an dem gewordenen Hause als Akzidens findet; denn dessen ist unbegrenzt vieles. Es steht ja nichts im Wege, dass das gebaute Haus für einige angenehm, für andere schädlich, für andere nützlich und verschieden von so gut wie allen Seienden sei; aber nichts von dem allem bringt die Baukunst hervor.“3

Argumente dieser Art scheinen geradewegs in die o.g. denaturierte Relationalität einer Architektur zu führen, die ausschließlich auf das Errichten von Gebäuden, also deren pragmatisch-konstruktive Realisierung, bezogen ist. Aber solche Verkürzung auf Bauphysik, Statik und auch praktische Konstruktionsverfahren ist bestenfalls nur die halbe ‚Wahrheit’. Aristoteles fährt fort: „Denn von dem anderen gibt es zuweilen hervorbringende Vermögen, von dem Akzidentellen aber gibt es keine bestimmte Kunst und kein bestimmtes Vermögen. Denn was in akzidentellem Sinne ist oder wird, hat auch eine Ursache, die nur im akzidentellen Sinne ist.“4

Hier fallen wichtige Worte, denn Hervorbringung, Bestimmtheit, Zufall, Kunst und Vermögen (Möglichkeit) werden zusammengedacht und auch das Motiv ei-

2

Die weit verbreitete Aristoteles-Übersetzung vom Felix Meiner Verlag, Hamburg reicht für diese Untersuchung aus. Es würde zu weit führen, ein philologischgräzistisches Optimum anzustreben bzw. die verschiedenen Interpretationen der griechischen Texte komplett zu sichten. Nur bei „Nikomachische Ethik VI“ wird die entsprechende Übersetzung von Hans-Georg Gadamer verwendet und extra ausgewiesen.

3

Aristoteles: Metaphysik, VI. Buch, 2. Kap., in: Ders.: Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 5, nach der Übers. von Hermann Bonitz, bearb. von Horst Seidl, Hamburg: Meiner, 1995, 1026 b–1027 a.

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Ebd., 1027 a–1027 b.

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ner Ursache taucht unter diesen ‚Zuständen‘ des Daseienden auf.5 Die Architektur ist jedoch ein Sonderfall, denn sie oszilliert zwischen Kunst und Wissenschaft, wenn man unter Wissenschaft das theoretische Durchdringen des Bauens verstehen will und ihre Ursachen werden zugehörig aus den Strömen von Erkenntnis und Erfahrung gespeist. Erstere markiert auch menschliches Streben und ist auf das Festhalten, Mathematisieren und Reproduzieren gerichtet, um dauerhaft in der zweckdienlichen Nutzung bleiben zu können. Das Thema des Zweckes schwingt also genauso in der Erkenntnis mit, wie das der Bestimmtheit. Diese steht aber ebenfalls im Zusammenhang mit der Erfahrung. Aristoteles unterscheidet nun verschiedene Weisen der Erfahrung und zieht für die Definition von Wissenschaft und Kunst Schlüsse daraus. Unterschieden werden Erfahrungen, die sich auf ein Einzelnes richten, von solchen, die das Allgemeine beschreiben: „Daher gilt, wie gesagt, der Erfahrene für weiser als der, welche irgendeine Sinneswahrnehmung besitzt, der Künstler für weiser als der Erfahrene, und wieder der leitende Künstler vor dem Handwerker, die theoretischen Wissenschaften aber vor den Hervorbringenden.“6

In einem Dreieck aus Kunst, Wissenschaft und Handwerk bewegt sich die über eine sinnliche Wahrnehmung beeinflusste, theoretische wie praktische Erkenntnis. Sie wurzelt in den natürlichen, umgebenden Dingen. Aus ihnen wird aber auch das Notwendige, Allgemeine und Unveränderliche erkannt, d.h. die Prinzipien und Ursachen liegen in der daseienden Welt. Hier unterscheidet sich Aristoteles deutlich von Platon, der die ewigen Ursachen in eine andere, übersinnliche Sphäre verschiebt. Freilich schließt sich hier das Problem an, das Notwendige aus dem Motiv einer permanenten Veränderung zu erklären, die die umgebenden Dinge bestimmt. Weiter wird der Mensch als Lebewesen gedeutet, das entweder intellektuell oder physisch produziert oder wie Aristoteles sagt, hervorbringt. 5

Vgl. hierzu: Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn: Bouvier 2007: Der Autor betont, dass Ähnlichkeit und Gleichheit voneinander unterschieden werden müssen und Aristoteles genau dieses tut mit den Begriffen ‚Gattung’ und ‚Art’: „Die Gattung ist nur Stoff der Art, der wesentlichen Differenz, die im Gegensatz zu den abstrakt differenzierenden Begriffsmerkmalen nur intuitiv erfasst (berührt) werden kann; erst die Art, namentlich die biologische, ist konkret als Maximum gestalthafter Prägnanz und Bestimmtheit, die nach zwei Seiten ins Unbestimmte abfällt, zur Gattung und zu den in Übergänge und verschwommene Nebenbestimmungen (Akzidenzien) verstrickten sinnlichen Einzelfällen hin.“ (S. 84)

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Aristoteles: Metaphysik, I, 1, 981 b–982 a.

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Selbstverständlich ist auch die Architektur eine Spielart dieser Produktionen der humanoiden Möglichkeiten wie Wirklichkeiten. Im Folgeabschnitt wird dargestellt, wie die Hervorbringung sich im Bauen zeigt, in ihrer definitorischen Breite eingeengt wird und schließlich im Lauf der Moderne bis in das Maschinenzeitalter nur noch verkümmert wirken wird.

1.1. D IE T RIAS DER ARTEFAKTE : Z UR ARCHÉ , P OIESIS UND P HYSIS BEI ARISTOTELES Die Zehn Bücher über Architektur gelten als die einzige umfassende Darstellung römischer Baukunst. Sie wurden vor rund 2.000 Jahren von Marcus Vitruvius Pollio verfasst7 und fußen auf den denkerischen Prämissen des antiken, griechischen Erbes. Ein Blick in die Aristotelische Argumentation wird also helfen, die Gedankengänge des Vitruv aufzuklären um von dort einige Linien bis in die Gegenwart zu ziehen.8 Der Begriff Poiesis ist in diesem Zusammenhang wichtig, denn er beschreibt ein zielgerichtetes Hervorbringen von Werken durch den Menschen, das sich von absichtslosem Handeln bzw. Tun oder Verhalten, der

7

Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass auch die Übersetzungen von Vitruv nicht unumstritten sind. Vgl. hierzu u.a.: Fischer, Günther: Vitruv NEU oder Was ist Architektur?, Basel: Birkhäuser, 2009. Der Autor bemängelt, dass die Zehn Bücher der Architektur in der Vergangenheit aus einem bau- bzw. kunstgeschichtlichen Blickwinkel übersetzt worden seien. Dieser Umstand würde den Blick auf die historische Denkweise von Vitruv verstellen und auch die Abgrenzung der Architektur als eigene Theoriedisziplin erschweren.

8

Vgl. hierzu: Deutschmann, Frank: Aristoteles und die Architekturtheorie, in: der architekt; Heft 6 (2009), S. 28–33. Der Autor betont, dass in der Antike (um 400 v. Chr.) keine Architekturtheorie im heutigen Sinne betrieben wurde, sondern vielmehr Gebäudebeschreibungen (sog. Syngraphé) entstanden. Auf diese hat sich Vitruv bezogen und die Architekten Pytheos sowie Hippodamos erwähnt. Deutschmann bezieht sich in seiner Suche nach Verbindungen von Aristoteles zur antiken Architektur primär auf dessen Buch Politik, in dem er die Ethik der Polis skizziert. Diese dient als Rahmen für die Bürger und muss deren Ansprüchen genügen. Ein Leben in Muße, die Autarkie (physisch wie politisch) und die räumliche Überschaubarkeit sind die Garanten für das Gelingen des Stadtstaates. Die Struktur der Städte ist geprägt von einem orthogonalen Straßennetz, Schutzmauern, Trinkwasserversorgung, Einrichtungen für Bildung, Wohnen, Verwaltung. Die Kultstätten werden durch die Agora (dem Platz zur Versammlung, Diskussion und zum Handel) gleichberechtigt ergänzt.

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Praxis, unterscheidet. Aristoteles äußert sich in Nikomachische Ethik folgendermaßen dazu: „Denn das Handeln ist so wenig ein Hervorbringen als das Hervorbringen ein Handeln.“9 Dementsprechend wird auch unterschieden zwischen einem natürlich bewegten Grund, der in sich zweckmäßig ist und einem menschlichen, äußeren Zweckprinzip: „Denn jeder Hervorbringende bringt sein Erzeugnis für einen bestimmten Zweck hervor, und was er hervorbringt, ist nicht schlechthin Zweck, sondern nur mit Bezug auf ein anderes und für ein anderes. Wohl aber ist die Handlung und ihr Inhalt schlechthin Zweck.“10 Das, was von Natur aus da ist, trägt also bereits ein bewegendes Prinzip in sich, während das Hergestellte vom Menschen bewegt worden ist. Diese Differenzierung unterscheidet ihn von Platon, der die Praxis nicht weiter unterteilt und sowohl im Naturerzeugnis als auch in der Hervorbringung dasselbe Zweckprinzip am Werk sieht. Auf diese Weise verurteilt Platon allerdings u.a. die Kunst, ein unwahres und blasses Abbild von Abbildern der ewigen Ideen, also bloße Nachahmung, zu sein. Hervorbringungen geschehen – wie in der Metaphysik zu lesen ist – im Modus von künstlerischem, wissenschaftlichem oder handwerklichem Herstellen: „Die anderen Arten des Werdens heißen Hervorbringungen. Alle Hervorbringungen aber gehen entweder von der Kunst oder von dem Vermögen oder vom Denken aus.“11 Stets ist die Einhaltung von Verfahren und Regeln notwendig, die sog. Sachkundigkeit, die auch mit Techné übersetzt wird und gleichzeitig zur Kennzeichnung der Kunst dient. Das, was in diesem Sinne ‚künst-lich‘ entsteht bzw. hervorgebracht wird, existiert vorher in dieser speziellen Weise nicht: „Gegenstand jeder Kunst ist das Entstehen, das regelrechte Herstellen und die Überlegung, wie etwas, was sowohl sein als nicht sein kann, und dessen Prinzip im Hervorbringenden, nicht im Hervorgebrachten liegt, zustande kommen mag.“12 Bedeutsam ist die Betonung, dass etwas auch nicht sein kann, werden doch hier die Brücken geschlagen in die (unmögliche) Möglichkeit zur Existenz bzw. Präsenz, die dem Hervorzubringenden durch den Hervorbringenden gewährt wird. Freilich behält das Artefakt auch die Möglichkeiten, die ihm von Natur aus innewohnen (z.B. seine Materialität oder die relationalen wie ästhetischen Eigenschaften), wenngleich diese in die artifiziellen Kontexte des Hergestellten eingerückt werden. Darin liegt ein Spannungsfeld, das das typische Charakteristikum 9

Aristoteles: Nikomachische Ethik, VI. Buch, 4. Kap., in: Ders.: Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 3, nach der Übers. von Eugen Rolfes bearb. von Günther Bien, Hamburg: Meiner, 1995, 1140 a, 5–10.

10 Ebd., 2, 1139 b, 1–5. 11 Aristoteles: Metaphysik, VII, 7b, 1031 b–1032 b. 12 Aristoteles: Nikomachische Ethik, VI, 4. Kap. Hamburg: Meiner, 1140 a, 10–15.

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vieler durchgebildeter Umgebungen ist, da sich quasi zwei gestaltprägende Wirkungsfelder miteinander überlagern. Es kommt also auch auf den Prozess der Hervorbringung an, in dem der Herstellende mit dem Herzustellenden interagiert. Dieses Können ist eine Grundkraft (Arché): „Deswegen ist die Vorzugwahl entweder eine vom Lebenstrieb bestimmte Vernunft oder ein von der Vernunft bestimmter Lebenstrieb, und solche Grundkraft [arché] ist der Mensch.“13 Hans-Georg Gadamer hat in der Einführung zu seiner Übersetzung der Nikomachischen Ethik VI darauf hingewiesen, dass das Da des Daseins, also die reine Existenz oder Faktizität der Ausgangspunkt des praktischen, herstellenden Wissens ist und sieht hier die große Leistung des Aristoteles: „Die Gegenwärtigkeit des Seienden, sein Da, kommt im Bewusstsein des Menschen zu seiner Gegenwart.“14 Bei Vitruv steht der Satz zu lesen: „Diese Bauten [Stadtmauern, öffentliche und private Gebäude, CJG] müssen aber so ausgeführt werden, dass dabei der Festigkeit, Zweckmäßigkeit und Schönheit Rechnung getragen wird“.15 Hier zeigt sich ebenfalls die Aristotelische Wurzel der zweckgerichteten Hervorbringung (Poiesis). Diese wird auch sichtbar im zweiten Teil des zusammengesetzten Wortes Archi-tektur: αρχη [Arché] „Anfang“, „Ursprung“, „Grundlage“, „das Erste“ und τεχνη [Techné] „sachgerechte Verfertigung in Kunst und Handwerk“. Der Begriff Techné ist dabei der Poiesis zugeordnet, während die Praxis mit der Arete verbunden wird. Arete wiederum meint die Bestheit oder Tugend, auf die ein vernünftiges Handeln (Praxis) gerichtet ist: „So ergibt sich, dass es immer um Wahrheit (eigentlich Unvergessenheit, Entbergung, Aletheia) geht, aber im Falle der Praxis ist es also eine besondere Art von Wahrheit (Aletheia): nicht, dass eine Sache so oder so ist, sondern, dass das Gute getan wird“.16 Die Techné und mit ihr die Poiesis sind in diesem Sinne nicht tugendhaft angelegt. Das praktische Wissen des Hervorbringens ist eben nur auf dieses gerichtet und das Hergestellte erfährt seinen Ursprung und seine Wandlungen aus der zweckgerichteten Tätigkeit. Eine Tätigkeit freilich, die selbst wiederum Einflüssen (z.B. durch fehlende handwerkliche Fähigkeiten oder auch unzureichend eingesetzte Materialien) ausgesetzt ist und damit nie abgeschlossen sein kann. Das 13 Aristoteles: Nikomachische Ethik VI, 2. Kap., hrsg. und übers. von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt/M.: Klostermann, 1998, 1139 b. [Im Folgenden zur besseren Unterscheidbarkeit: Gadamer] 14 Ebd. 15 Vitruv: De architectura libri decem. Zehn Bücher über Architektur, übers. durch Franz Reber nach der Ausgabe Berlin 1908, neugesetzte und überarbeitete Ausgabe Wiesbaden: matrix, 2004, S. 27. 16 Aristoteles: Nikomachische Ethik VI [Gadamer], 2, 1139 b.

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jeweilige Ergebnis bzw. Artefakt der Poiesis verfehlt deshalb die Bestheit und genügt der Arete nicht. Diese Unterscheidung ist auch höchst bedeutsam für die Architektur, denn mit der Arete ist ebenfalls das Maß bzw. Maßhalten, die Wohlproportioniertheit von Städten und Bauwerken verbunden worden. Folgt man nun der Aristotelischen Unterscheidung von Praxis und Poiesis, verlässt man den antiken Kanon der Harmonie. Er setzt nämlich kein absolutes Maß, sondern plädiert für eine relative und von Fall zu Fall angemessene Mitte (Maß): „Das Mittlere für uns kann dagegen so [in einem arithmetischen Verhältnis, CJG] nicht bestimmt werden […]. So meidet denn jeder Kundige das Übermaß und den Mangel und sucht und wählt die Mitte, nicht die Mitte der Sache nach, sondern die Mitte für uns.“17

Das Hergestellte verfehlt damit also die Arete, d.h. das absolute Maß, das Platon der Baukunst und auch den Bewohnern der Polis als erstrebenswert auferlegte. Dieser hatte u.a. in den Dialogen Philebos und Staat die Arete mit dem mathematisierbaren Kosmos vereint und damit auch das Hervorgebrachte einem berechenbaren Maß unterworfen. Die ewige Idee zeigt sich nämlich als Zahl und Seelenausdruck gleichzeitig und fortan gibt es die Trias vom Wahren, Guten und Schönen. Der Betrachter einer solchen, gebauten Schönheit wird selbst schön, gerecht und wohl geordnet: „Sokrates: Wohlredenheit also und Wohlgestimmtheit und edle Haltung und Wohlgemessenheit sind eine Folge der Gutherzigkeit, nicht jener Gutherzigkeit, die tatsächlich unverstanden ist und von uns nur beschönigend als Gutherzigkeit bezeichnet wird, sondern der wahrhaft trefflichen und wohlbeschaffenen sittlichen Gesinnung […]. Eine Fülle dessen weist die Malerei auf und alle mit ihr verwandte Tätigkeit, eine Fülle auch die Weberei und die Stickerei und die Baukunst […], denn alle diese zeigen edle oder unedle Haltung. Und die unedle Haltung und der Mangel an Maß und Harmonie ist verschwistert mit Übelreden und mit Schlechtherzigkeit, während das Gegenteil mit dem Gegenteil, nämlich mit besonnener und guter Sinnesart verschwistert und dessen Nachahmung ist.“18

Die Arete zügelt bei Platon also alle Unordnung im Menschen und den von ihm hergestellten Artefakten. Sie integriert die Bewohner der Polis in den Kosmos eines harmonischen Ganzen, der gerecht und gut ist: „Sokrates: Für diese beiden [Ebenmaß und Anmut, CJG] also hat, wie es scheint, -so möchte ich behauptenein Gott den Menschen die beiden Künste gegeben, die Musik und die Gymnas17 Aristoteles: Nikomachische Ethik, II, 5, 1106 b. 18 Platon: Der Staat, in: Ders.: Sämtliche Dialoge, Bd. 5, übers. und hrsg. von Otto Apelt, Hamburg: Meiner, 1998, 400–401 St.

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tik, für die Anlagen nämlich zum Mut und zur Weisheitsliebe, nicht für Leib und Seele, es müsste denn ganz nebenbei sein, sondern für jene beiden, auf dass sie miteinander in Harmonie kommen durch Anspannen und Nachlassen bis zur richtigen Mitte.“19 Arete und das richtige Maß machen auch die Architektur zum Platzhalter und Symbol der göttlichen und ewigen Ordnung und neben dieser hat naturgemäß kaum etwas anderes Platz. Der Zufall kommt in diesem Denken folgerichtig ebenfalls schlecht weg: „Sokrates: Sollen wir, Protarchos, sagen, dass die bildende Macht des Unvernünftigen und der bloße Zufall über dem Fall der Dinge und dem so genannten Weltganzen walte, oder im Gegenteil, wie unsere Vorgänger sagten, dass Vernunft und eine bewundernswerte Einsicht sie ordne und lenke? Protarchos: Es bedarf gar nicht erst der Versicherung des Gegenteils, mein wunderlicher Sokrates. Denn was du eben sagst, scheint mir sogar gotteslästerlich zu sein. Aber zu sagen, dass die Vernunft all dies ordnet, ist würdig des Anblickes der Welt und der Sonne und des Mondes und der Sterne und des ganzen Himmelumschwunges, und niemals möchte ich anders darüber reden oder denken.“20

Anders bei Aristoteles: Der Zufall steht bei ihm in der Nähe zur Poiesis also auch zur Kunst, die sachgerecht (der Techné gemäß) hervorgebracht wurde. Wie oben gezeigt, folgt Aristoteles bei der Hervorbringung bzw. Herstellung keiner kosmischen Ordnung mehr und verbucht sie vielmehr unter einem unvollkommenen, sachgerechten Wissen. Eben dieses Wissen wird in die Nähe des Zufalls gerückt, den Platon ja kategorisch dem Missgestalteten zugeordnet hatte. In der Nikomachischen Ethik liest man hierzu: „Denn diese beiden Arten [Praxis und Poiesis, CJG] des Seins haben vielmehr ihren Grund in sich selbst. Da nun Herstellen und Verhalten zweierlei ist, so muss die Sachkundigkeit in den Bereich des Herstellens, nicht in den des Verhaltens gehören. In gewissem Sinn bewegen sich Sachkundigkeit und Zufall um dasselbe, wie auch Agathon sagt: „Sachkundigkeit liebt den Zufall, der Zufall liebt die Sachkundigkeit.“21

Der Zufall weist auch auf eine andere Kraft und Dimension in der Hervorbringung, nämlich die des Herstellen-Könnens überhaupt. Weiter oben wurde bereits 19 Ebd., 411 St. 20 Platon: Theätet - Parmenides - Philebos, in: Ders.: Sämtliche Dialoge, Bd. 4, hrsg. von Otto Apelt, Hamburg: Meiner, 1998, S. 27. 21 Aristoteles: Nikomachische Ethik VI [Gadamer], 2, 1139 b. Es sei hier daran erinnert, dass Techné als Sachkundigkeit auf Kunst, Wissenschaft und Handwerk gleichermaßen bezogen und auch so übersetzt wird.

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die Herleitung von Arché als Grundkraft gezeigt. Auch in der Etymologie des Wortes Archi-tektur zeigt sich, dass im Bauen nicht nur zwei, sondern (mindestens) vier Themen verborgen liegen, die mit Aristoteles entschlüsselt werden können. Arché als Anfang und Grundkraft des Menschen und Techné als sachkundige wie zweckgerichtete Verfertigung (u.a. von Kunst) stecken nur einen Rahmen ab, der von dem Wahrheitsgeschehen des Dasein-Könnens und dem Zufall belebt wird. Ludger Schwarte betont in seinem Buch Philosophie der Architektur ebenfalls die Wichtigkeit der Arché. Sie markiert in der Vorsokratik bei Anaximander den Übergang vom Grenzenlosen und Unbestimmten, also von der Ewigkeit der Zeit, in die artifizielle, menschliche Sphäre einer Sukzession der Zeitlichkeit: „Der Mensch lebt in einem Modell, in einem Theorie-Gebäude, je mehr er seine Lebensform an der aus einer architektonischen Raumgestaltung gewonnenen Zeitmessung ausrichtet“.22 Die Arché als der Anfang steht also für das Handeln-Können, das Ordnung-setzen-Können und wirkt als Wegweiser in eine Art unendliche wie omnipotente Matrix, die die menschlichen Distanzierungs- bzw. Differenzierungsprozeduren (das Welt-Haben) zuerst möglich macht – anders gesagt markiert die Arché die Möglichkeit zur Möglichkeit (mehr dazu im 3. Kapitel). Aristoteles verbindet sie mit dem Begriff des Prinzips und differenziert in der Physik die drei Hauptarten: das Zugrundeliegende, die Form (Eidos) und die Gestalt (Morphé). Die Prinzipien liegen dem Werden und der Veränderung zugrunde, die schließlich die Wirklichkeit bestimmen. Dabei ist klar, dass es einen Unterschied gibt zwischen den Dingen und der Weise, in der sie von den Menschen gedeutet werden: „Denn was uns bekannter ist und was an sich, ist nicht dasselbe.“23 Ebenfalls schlägt er sich eindeutig auf die Seite der vorsokratischen Naturphilosophie eines Heraklit und argumentiert für den Wandel des Werdenden und gegen eine Vorstellung des Parmenides vom ersten Grund oder ersten Anfang als etwas Unveränderlichem und Statischem: „Es gibt nämlich gar keinen Anfang mehr, wenn nur eins und in diesem Sinne eines da ist. Denn »Anfang« ist immer Anfang »von etwas«, einem oder mehreren.“24 Die Erläuterung des Daseienden kann über die Arché gelingen, wenn sie sich nicht auf einen Grund bezieht, sondern stets der jeweilige Anfang ist. Die Fähigkeit auch andere Gestalten (z.B. einen Baum, der zu einem Floß wird) einnehmen zu können, wohnt jeder natürlichen Materie als noch nicht verwirklichte Möglichkeit bereits inne und bestimmt damit auch dessen jeweilige Wirklichkeit: „Das Verändernde ist ja ein Veränderndes eines Veränderbaren, und umgekehrt das 22 Schwarte, Ludger: Philosophie der Architektur, München: Fink, 2009, S. 15. 23 Aristoteles: Physik, I. Buch, 1. Kap., in: Ders.: Philosophische Schriften, Bd. 6, nach der Übers. von Eugen Rolfes bearb. von Günther Bien, Hamburg: Meiner, 1995, 184 a 24 Ebd., Physik, I, 2, 185 a.

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Veränderliche ist veränderbar durch ein Veränderndes“.25 Bezogen auf die Baukunst erläutert Aristoteles das Prinzip wie folgt: „Ein Haus entsteht aus dem Vorzustand des Nicht-Zusammengesetztseins, sondern vielmehr Getrennt-Herumliegens von diesem und jenem (Baustoff) […]. Das Zugrundeliegende ist doch der Anfang, und scheint vor dem von ihm Ausgesagten zu liegen […]. Denn »Dasein« ist eine einheitliche Gattung des Seienden, so dass sich die Anfangsgründe allein der größeren oder geringeren Grundsätzlichkeit nach voneinander unterscheiden werden.“26

Diese Sichtweise eines Zugrundeliegenden, also eines Prinzips, scheint auch Martin Heidegger im Text Über den Anfang aufzunehmen wenn er betont, dass der Anfang (also die Arché) die Wahrheit des Seins selbst ist, die wir freilich nicht wissen können, aber verstehen – nämlich über die Erfahrung des Daseins. Heidegger wie Aristoteles sehen aber auch den Fallstrick im Nachdenken über den Anfang, denn er kann nicht vom Daseienden her gedacht werden, weil er vor diesem liegt und sich somit auch der begrifflichen Bestimmung entzieht: „Wenn aber hier das Wort »Anfang« das Wesen des Seyns und die Wesenheit des Wesens nennen soll, wenn zugleich das Seyn sich nicht herleiten lässt aus dem Seienden, und wenn das Seyn gleichwohl nicht das Absolute und Unbedingte ist, was nur von Seiendem ausgesagt werden kann, dann muss »Anfang« solches nennen, was in sich west und aus dieser Wesung doch gerade verwehrt, das Wesende wie ein bedingnisfreies Ding an sich zu nehmen.“27

Heidegger geht freilich mit diesem Anspruch an den Anfang über den Dualismus der Aristotelischen Metaphysik hinaus und markiert damit auch die Argumentation für deren Überwindung. Die Radikalität seiner Fragestellung bzw. sein Angebot, einen solchen Sprung in den Anfang zu machen, eröffnet auch die Möglichkeit, die Arché in der Architektur wiederzufinden und die Dominanz der Techné auszubalancieren (hierzu mehr in Kapitel 3). Dieser zweite Teil im Wort Archi-tektur kommt durch die Erblast der ewigen Ideen und die Gleichbehandlung von Praxis und Poiesis bei Platon auch bei Vitruv in den kanonischen Zwang eines Schönheitsbegriffs, der das Hervorzubringende harmonischproportional zurichtet. Die Platonische Bindung der Techné an die (notwendig 25 Ebd., Physik, III, 1, 200 b–201 a. 26 Ebd., Physik, I, 6, 188 b–190 a. 27 Heidegger, Martin: Über den Anfang, in: Ders.: Gesamtausgabe [im Folgenden GA], Bd. 70, hrsg. von Paola-Ludovika Coriando, Frankfurt/M.: Klostermann, 2005, S. 10.

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unzureichende) Nachahmung der ewigen Ideen degradiert die Kunst und zusätzlich wird das Hervorzubringende noch in einem (ohnehin schon falschen) Bedeutungshorizont verortet, der, sofern „richtig“ angesteuert, automatisch (ebenso falsche) Schönheit hervorzubringen hilft (siehe S. 92 f.). Ferner ist dieser Horizont auch noch in die Wissenschaft (vor allem der Mathematik) eingelassen und damit wird das (falsche) Schöne kontrollier- wie konstruierbar. Vitruv schreibt hierzu: „Denn wie in allem, so sind ganz besonders auch in der Architektur diese beiden Dinge enthalten: das Dargestellte und das Darzustellende. Dargestellt wird der vorgestreckte Gegenstand, um den es sich handelt, diesen aber stellt dar die auf Grund wissenschaftlicher Gesetze entwickelte Erklärung.“28

Aber auch die Poiesis bei Aristoteles bleibt verbunden mit einer Einschränkung, die dem Hervorzubringenden zu Grunde liegt. Die Rede ist vom Zweck, dem Weswegen oder der Ursache. So hat ein an Zwecken und damit an Nützlichkeiten orientiertes Hervorbringen keine transzendente Salbung mehr nötig und es ist auch nicht mehr (wie die Praxis) an die Areté geknüpft (s.o.): „Überdies ist es auch mit den Künsten nicht in gleicher Weise wie mit den Tugenden bestellt. Die Erzeugnisse der Künste haben ihre Güte in sich selbst, so dass es genügt, wenn man sie so hervorbringt, dass sie eine bestimmte Beschaffenheit haben […]. Für die Künste zählen diese Bedingungen [auf die sittliche Haltung gerichteter Vorsatz, CJG] nicht mit, da es bei ihnen nur auf das Wissen und Können ankommt.“29

Im praktischen Handeln der Hervorbringung setzt nämlich der Mensch den Zweck – er ist damit auch Anfang und das Artefakt kann dem Modus der oben beschriebenen Platonischen Nachahmung entrinnen. Der Zweck ist während seiner Umsetzung primär auf seine Mittel ausgerichtet: „Der Mensch ist also, wie gesagt, Prinzip der Handlungen. Die Überlegung aber bezieht sich auf das, was er selbst tun kann. Was er aber tut, ist Mittel zum Zweck. Mithin fällt der Zweck nicht unter die Überlegung, sondern die Mittel zum Zweck.“30 Die Freiheit, die hier für die Formung der Artefakte entsteht, ist jedoch überschattet von der Gefahr einer umfassenden ‚Denaturierung‘. Im folgenden Abschnitt wird gezeigt, wie der Zufall dabei hilft, den Zweck in Schach zu halten, um damit die Poiesis bzw. Techné in ein Gefüge mit der Natur zu bringen. Jenes gibt es nämlich bei 28 Vitruv: De architectura libri decem, S. 13. 29 Aristoteles: Nikomachische Ethik, II, 3, 1105 a–1105 b. 30 Aristoteles: Nikomachische Ethik, III, 5, 1112 a–1113 a.

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Aristoteles durchaus. Er hatte die Praxis (von Natur aus bewegt) mit einem Endzweck gedeutet, auf den alle (Natur-)Teilzwecke zulaufen, d.h., dass das Zurückdrängen der Platonischen Nachahmung und ein Ringen um die Autonomie der Hervorbringungen nicht nur in der Gegenüberstellung von Praxis und Poiesis stattfindet, sondern auch zwischen Techné und Natur (Physis). Die Zwecke und Ziele, die die Natur selbst verfolgt und die damit außerhalb des Menschen und innerhalb der Naturdinge liegen, weisen bei Aristoteles nicht in eine harmoniegesättigte wie stillgestellte Schönheit. Vielmehr zeigen sie sich zuvörderst in der Bewegung: „Die natürlichen Gegenstände unterliegen entweder alle oder zum Teil dem Wechsel.“31 D.h. aber nicht, dass es bei ihm keinen umgreifenden Endzweck gebe, also ein Milieu, auf das alle Teilziele zulaufen: „Doch zeigt sich ein Unterschied der Ziele. Die einen sind Tätigkeiten, die anderen noch gewisse Werke oder Dinge außer ihnen.“32 Es gibt also auch in der Natur verschiedene Ziele und doch wohnt allen Teilzielen ein Endziel inne: „Als Endziel in höherem Sinne gilt uns das seiner selbst wegen Erstrebte gegenüber dem eines anderen wegen Erstrebten.“33 Das Endziel kann jemandem also wie die Teilziele durch Handlungen bzw. Hervorbringungen gewahr werden. Wird aber im Verfolgen bzw. Genügen des Natur-Zwecks die in der Poiesis gewonnene, gestalterische Freiheit wieder aufgegeben? Der durch den Menschen gesetzte Zweck hatte dessen Artefakte doch gerade dem kanonischen Diktat entwunden und damit die Kunst aus dem Modus der bloßen Nachahmung befreit. Was bleibt also übrig von der gewonnenen Wertschätzung des Relativen, die in der Nikomachischen Ethik wie folgt umrissen wird: „Man verlange Genauigkeit nicht bei allen Gegenständen in gleichem Maße, sondern immer nur nach Maßgabe des gegebenen Stoffes und nur soweit, als es zu dem jeweiligen Vorhaben passt. Der Zimmermann und der Geometer suchen die gerade Linie in verschiedener Weise; der eine nur, insofern er sie für seine Arbeit braucht, während der andere wissen will, was und wie sie beschaffen ist.“34

Ein Verweis auf den Natur-Zweckbegriff ist u.a. in dem Buch Politik zu finden: „Man sieht aber ebenso, wie auch nach dem Eintritt ins fertige Dasein für alles Lebendige die Annahme gelten muss, einmal, dass die Pflanzen der Tiere wegen, und dann, dass die anderen animalischen Wesen der Menschen wegen da sind, die zahmen zur Dienstleistung 31 Aristoteles: Physik, I, 2, 185 a. 32 Aristoteles: Nikomachische Ethik, I, 1, 1094 a, 1–5. 33 Ebd., 5, 1097 a. 34 Ebd., 7, 1098 a.

28 | B AUKUNST ALS UNMÖGLICHE MÖGLICHKEIT und Nahrung, die wilden, wenn nicht alle, so doch die meisten, zur Nahrung und zu sonstiger Hilfe, um Kleidung und Gerätschaften von ihnen zu gewinnen. Wenn nun die Natur nichts unvollständig und auch nichts umsonst macht, so muss sie alle um des Menschen willen gemacht haben.“35

In diesem Textausschnitt wird deutlich, dass jedes natürliche Ding dem Zweck für ein nächstes zugedacht ist und dass der Mensch an der Spitze dieser Prozesse steht bzw. von der Natur einen solchen Platz zugewiesen bekam. Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zum Verständnis einer Kunstproduktion, die einem Naturzweck folgen kann. Aristoteles schreibt hierzu in seiner Metaphysik: „Es ist aber auch zu erwägen, auf welche von beiden Weisen die Natur des Alls das Gute und das Beste enthält, ob als etwas Abgetrenntes, selbstständig an sich Bestehendes, oder als die Ordnung seiner Teile. Oder wohl auf beide Arten zugleich, wie dies bei dem Heer der Fall ist; denn für dieses liegt das Gute sowohl in der Ordnung als auch im Feldherren, und mehr noch in diesem. Nicht er ist nämlich durch die Ordnung, sondern die Ordnung durch ihn.“36

In diesem kriegerischen Bild kommt auch zum Ausdruck, dass das Hervorbringen bereits Teil eines Natur-Zwecks ist und die Kunstfertigkeit (Techné) nur das zu Ende führt, was die Natur allein nicht konnte: „Wenn z.B. ein Haus zu den Naturgegenständen gehörte, dann entstünde es genau so, wie jetzt auf Grund handwerklicher Fähigkeit; wenn umgekehrt die Naturdinge nicht allein aus Naturanlage, sondern auch aus Kunstfertigkeit entstünden, dann würden sie genauso entstehen, wie sie natürlich zusammengesetzt sind […] die Kunstfertigkeit bringt teils zur Vollendung, was die Natur nicht zu Ende bringen kann, teils eifert sie ihr [der Natur, CJG] nach.“37 35 Aristoteles: Politik, I. Buch, 8. Kap., in: Ders.: Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 4, übers. von Eugen Rolfes, Hamburg: Meiner, 1995, 1256 b, 10–25. 36 Aristoteles: Metaphysik, XII, 10. Kap., 1075 a–1075 b. 37 Aristoteles: Physik, II, 8, 199 a. Vgl. hierzu: Artikel „Natur“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6: Mo-O, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Basel/Stuttgart: Schwabe, 1984, S. 421-478: „Aristoteles reagiert mit seinem Begriff von Physis (welcher nun eindeutig ein Natur-Begriff genannt werden kann) gegen die Überordnung von (göttlicher) Techne, Gesetzlichkeit und demiurgischem Wirken über alle, insbesondere die sichtbare Natur durch Platon: Nicht die Physis ahmt die Techne nach, sondern umgekehrt die Techne die Physis, wobei die menschliche Kunst nur das noch ergänzen kann, was die Physis ihr übrigläßt.“ (S. 430)

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Aristoteles verdeutlicht nun an einigen Beispielen die Kausalbeziehungen innerhalb verschiedener Pflanzen (z.B. Wurzeln zu haben, um Wasser aufnehmen zu können) und untermauert damit die im ersten Buch der Physik schon vorausgesetzte Notwendigkeit eines Weswegen, das sowohl für den Stoff als auch die Form die Ursache gibt: „Wenn es Ursachen und Anfangsgründe des von Natur aus Vorhandenen gibt, aus welchen als den ersten es ist und geworden ist, und zwar nicht in der Nebenbedeutung der Worte, sondern ein jedes, das ausgesagt wird, nach seinem Wesen, dann entsteht alles aus dem Zugrundeliegenden und der Form(gebung).“38

Entscheidend ist bei diesen Überlegungen allerdings, dass die Natur (Physis) und mit ihr der Wandel und die Bewegung höher angesetzt werden, als die Ideen: „(1.) Natur heißt in einer Bedeutung die Entstehung des Wachsenden […], (2.) in einer anderen der erste immanente (Stoff), woraus das Wachsende erwächst; (3.) ferner dasjenige, wovon bei einem jeden natürlichen Dinge die erste Bewegung ausgeht, welche ihm selbst zukommt, insofern es das ist, was es ist […].“39

Hier wird also eine Ordnung deutlich, deren Befolgung bzw. Entsprechung nicht in Stillstand und kontemplative Entweltlichung führt, sondern in den Wandel und die Bewegung. Tatsächlich lassen sich diese Spuren auch in der Kunst zeigen, die im Geiste einer umfassenden Thematisierung von Natur-Dynamik Mitte des 17. bis ins 20. Jahrhundert40 sukzessive ihre Selbstbefreiung betreibt.41 Die 38 Aristoteles: Physik, I, 7, 190 b. Ein letztes Zugrundeliegendes wiederum zeigt sich als unbewegt Bewegendes: „Für alles, was da in bewegter Veränderung ist, gibt es ein ureigentlich Unbewegt-Bewegendes.“ (Physik, VIII, 6, 285 b) Aristoteles ist sich freilich klar darüber, wie schwierig es ist über den Anfang vom Ende her (also aus der Perspektive des Daseienden) zu sprechen: „[…] ein Grund-Satz darf aber nicht von etwas schon Vorliegendem ausgesagt werden, denn dann gäbe es ja einen Grund des Grundes. Das Zugrundeliegende ist doch der Anfang und es scheint vor dem von ihm Ausgesagten zu liegen.“ (Physik, I, 6, 189 a) 39 Aristoteles: Metaphysik, V, 4, 1014 b. 40 Bereits in der Spätrenaissance, im sog. Manierismus, beginnt langsam das Heraufdämmern der Imaginationskraft in den Künsten. Vgl. hierzu: Wölfflin, Heinrich: Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien, Basel: Schwabe, 2009. Der Autor stellte am Beispiel der Malerei das Moment der Unfassbarkeit oder Unbegrenztheit heraus, das die einzelnen Gegenstände auflöst und ihre eindeutige Identifizierbarkeit negiert: „Der alte Stil gab z.B. stets

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bloße Nachahmung wurde ersetzt durch die solchermaßen naturgemäße Handlung/Hervorbringung, die quasi direkt an die Quelle des Daseienden (die Natur/Physis) anschließen will. ‚Zurück zu den (Aristotelischen) Wurzeln‘ scheint hier ganz wörtlich genommen worden zu sein und skizziert auch für die Architektur einen Ausweg aus den überkommenen Vorstellungen und Orientierungen an der Platonischen Antike. Im Zeitalter der Aufklärung finden sich zwei bekannte Zeugen dieses naturfokussierten, baulichen Emanzipationsprozesses, nämlich Johann Wolfgang von Goethe und Etienne-Louis Boullée. Goethe hatte ein Besuch des Münsters in Straßburg dazu veranlasst, einen Hymnus auf den Baumeister Erwin von Steinbach und dessen Werk zu verfassen.42 Bereits zu Beginn des Textes wird das Motiv des Turmbaus zu Babel positiv gewendet und damit auch die Hybris des bauenden Menschen in Kauf genommen. Bereits wenige Abschnitte später hebt er zu einer Kritik der Griechenlandseeligkeit im damaligen Bauwesen an:

nur eine geschlossene Zahl von Gestalten, leicht übersichtlich, jede vollkommen fassbar […] bei der Unmöglichkeit, Alles zu fassen, resultiert der Eindruck des Unerschöpflichen, die Fantasie bleibt in beständiger Tätigkeit und eben dies ist es, was der Maler beabsichtigt.“ (S. 34) Das Streben nach Unendlichkeit manifestiert sich auch in der Architektur. Hier versetzte man Formen und Ornamente in die Bewegung, die auf diese Weise das Statische der Gebäude und Räume zum Fließen bringen. Vgl. hierzu: Deleuze, Gilles: Die Falte. Der Autor charakterisiert die Architektur im Zeitalter des Barock durch die Falte, denn diese ist es, die das Unendliche verkörpert. Er bezieht sich ebenfalls auf Heinrich Wölfflin und macht anhand seiner Äußerungen die Besonderheit der Bauten an einer Aufspaltung von Innen und Außen fest: „Autonomie des Inneren und Unabhängigkeit vom Äußeren unter solchen Bedingungen, dass jeder der beiden Ausdrücke den anderen auslöst.“ (S. 51) 41 Vgl. hierzu Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2002. Der Autor stellt heraus, dass nach dem Umschlag der Bedeutung der Kunst in der Zeit der Aufklärung der an die Hervorbringung gekoppelte Zweck verloren geht: „[…] hingegen ist dem neuzeitlichen Kunstverständnis Freiheit wesentlich: Das Werk steht für sich selbst, bedarf keines äußeren Anlasses, ist nach Schiller »Spiel« und wäre entsprechend seiner Zwecklosigkeit der Aristotelischen praxis, nicht mehr der poiesis zuzuschlagen.“ (S. 116) 42 Goethe hatte sich häufig mit Architektur befasst. Das Straßburger Münster war für ihn in seiner Jugendzeit (1773) ein starkes Architekturerlebnis. Die Fokussierung der gotischen Baukunst stand auch im Zusammenhang mit den Versuchen einer geistigen Grundlegung der deutschen Nation.

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„Hättest du mehr gefühlt als gemessen, wäre der Geist der Massen über dich gekommen, die du anstauntest, du hättest nicht so nur nachgeahmt, weil sie’s [die alten Griechen, CJG] thaten und es schön ist; nothwendig und wahr hättest du deine Pläne geschaffen, und lebendige Schönheit wäre bildend aus ihnen gequollen.“43

Grundsätzlich wird die Eignung antiker Formen, Maße und Proportionen für die damalige Gegenwart und deren Bedürfnisse angezweifelt und die allgemeine Kritik zurückgewiesen, die der gotischen Baukunst von den Verfechtern der Reinheit, Schönheit und Klarheit des griechischen Maßes entgegengehalten wurde. In der Folge betont Goethe die Schöpferkraft: „Sobald er [der Mensch, CJG] nichts zu sorgen und zu fürchten hat, greift der Halbgott, wirksam in seiner Ruhe, umher nach Stoff ihm seinen Geist einzuhauchen.“44 Darüber hinaus fordert er, dass sich diese Schöpferkraft frei entfalten kann, ohne auf überkommene Vorschriften und Maße zu achten. Offenbar in direktem Widerspruch zu Vitruvs Diktum einer „universalen Bildung der Architekten“45, kommt nach Goethes Ansicht die Kunst erst dann zu sich selbst und zu ihrer Wahrheit, wenn sie „aus inniger, einiger, eigner, selbstständiger Empfindung um sich wirkt, unbekümmert, ja unwissend alles Fremden, da mag sie aus rauer Wildheit, oder aus gebildeter Empfindsamkeit geboren werden, sie ist ganz und lebendig.“46 Etienne-Louis Boullée forderte ebenfalls diesen selbstbewusst denkenden und ohne traditionelle Fesseln agierenden Baukünstler. Ungefähr zur Zeit des Goetheschen Besuches in Straßburg (1775) wurde er Bauintendant des Grafen von Artois. Während bzw. unmittelbar nach der französischen Revolution verfasste Boullée einige Schriften, die erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts ins Deutsche übersetzt wurden. Die Texte, die unter dem Titel Architektur. Abhandlung über die Kunst versammelt sind, zeugen ebenfalls vom Willen zur Emanzipation und widersprechen dem Prinzip der kritiklosen Übernahme der antiken, griechischen Bauformen. Zunächst stellt Boullée heraus, dass Bauwerke wie

43 Goethe, Johann Wolfgang von: Von Deutscher Baukunst, [Nachdr. der Ausg.] aus Goethes Privatbibliothek, 1773, durchges. und mit einem Nachw. vers. von Lutz Unbehaun, Rudolstadt/Jena: Hain-Verl., 1997, S. 8. 44 Ebd., S. 14. 45 Vitruv empfahl dem Nachwuchs seiner Zunft das ganze Spektrum der Wissensproduktion (Zeichnen, Geometrie, Optik, Arithmetik, Geschichte, Philosophie, Tonkunst, Heilkunst, Rechtslehre, Sternenkunde). Die hiermit verbundene Disziplinierung der Architekten schien offenbar nötig, um eine Welt im Dienste der angestrebten Bedeutung baulich entstehen zu lassen. 46 Goethe, Johann Wolfgang von: Von Deutscher Baukunst, S. 15.

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sinnliche Gedichte sein sollen und nennt die „magische Poesie“47 als eine Aufgabe der Architektur. Er erwähnt im Text dann auch folgerichtig immer wieder, dass die anderen Kunstformen, etwa Malerei oder Dichtkunst, der Architektur voraus seien. Schnell und direkt attestiert Boullée Vitruv danach, nur ungenügend die Bedeutung des Entwurfs bedacht zu haben: „Was ist Architektur? Soll ich Vitruv folgen und sie als die Kunst zu bauen definieren? Sicherlich nicht! In dieser Definition steckt ein grober Fehler: Vitruv verwechselt Ursache und Wirkung.“48 Der antike Römer nämlich hatte geschildert, dass zwei Faktoren das architektonische Schaffen bestimmen – Theorie und Praxis. Für sich genommen könne weder das eine noch das andere den Baumeister bilden, so bliebe ein auf Erfahrung und Können gestütztes Handwerk in der zusammenhanglosen Formung des Stoffes befangen und die ausschließliche Fokussierung auf Theorien schiene „einen Schatten und nicht die Sache angestrebt zu haben.“49 Diese antike Balance zwischen Theorie und Praxis verschiebt Boullée doppelt, indem er sich gegen eine Verwissenschaftlichung durch die Theorie verwahrt und gleichzeitig das (konkrete) Hervorbringen aus dem Zentrum der Baukunst entfernt. Vielmehr ist es deren geistig-poetische Durchdringung, die einen gleichberechtigten Weg ins Kunstgeschehen markiert. Er will dabei auf einen organischen Entwurfsprozess hinaus, der auch jenseits einer rein geistigen Baukunst liegt: „Dank dieser Entdeckung [Forschungen über den Organismus, CJG] war es mir möglich zu beweisen, dass die Architektur aus den Körpern entsteht und, da ihre gesamte Wirkung auf ihnen beruht, sie folglich aus der Natur stammt.“50 Boullées Interesse gilt also der Verbindung der Baukunst zur Natur – denn in ihr liegen für ihn „die Brücken zur Schönheit“. So behauptet er in der Folge, dass die Architekten durch die o.g. Gründe bislang daran gehindert worden wären, der Natur ihren Stellenwert zuzubilligen und daher das Niveau ihrer Kunst im Vergleich zu deren anderen Spielarten so niedrig sei. In diesem Argument spiegeln sich förmlich auch die Goetheschen Gedanken und geben damit Zeugnis von der Aufbruchsstimmung jener Zeit: „[…] wie in Werken der ewigen Natur, bis aufs geringste Zäserchen, alles Gestalt, und alles zweckend zum Ganzen; wie das festgegründete ungeheure Gebäude sich leicht in die Luft hebt; wie durchbrochen alles und doch für die Ewigkeit.“51 Das beschriebene Spannungsverhältnis von or-

47 Boullée, Etienne-Louis: Architektur. Abhandlung über die Kunst, hrsg. von Beat Wyss, Zürich/München: Artemis, 1987, S. 44. 48 Ebd., S. 45. 49 Vitruv: De architectura libri decem, S. 13. 50 Boullée, Etienne-Louis: Architektur, S. 151. 51 Goethe, Johann Wolfgang von: Von Deutscher Baukunst, S. 13.

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ganischer Fragilität und dem gleichzeitigen Versprechen auf Zweck und Dauer, lässt die Hauptlinien einer Dysbalance der Baukunst deutlich hervortreten. Die Architektur beginnt zur Zeit der französischen Revolution bzw. europäischen Aufklärung, sich aus den Fesseln der Nachahmung der Antike zu befreien und nach einem neuen Selbstverständnis zu suchen. Diese Suche glich der Erkundung des Wesens der Architektur und fand in der Hinwendung zum Ganzen der Natur ihr Zielgebiet. Zwar folgt auch die Natur gewissen Zwecken, diese sind aber unhintergehbar und bilden vielmehr die Grundlage eines jeden lebendigen Organismus. Bauend in die Nähe dieses Organischen zu kommen, schien das Programm jener Jahre zu sein und damit auch der Anspruch, die in der Aristotelischen Definition festgelegte Kluft zwischen Dingen, die ihren Anfangsgrund in sich selbst haben und jenen, denen ihr Anfangsgrund durch die Hervorbringung zugewiesen wird, zu überwinden. Konnte man sich mit den natürlichen Zwecken, die die höchsten sind, abfinden, so wurde die suchende Emanzipationsbewegung jener Zeit deutlich erschwert durch das grundlegende Dilemma einer Kunstform, die sich benutzen lassen muss. Denn der Zweck trägt eine Ambivalenz in sich, die die Architektur zu einem gebrauchsfähigen Werkzeug macht und sie der Nützlichkeit für die Bürger unterwirft.52 Zwecke, die aus solchen Motiven abgeleitet sind, werden diskursiv verhandelt und sind alles andere als unhintergehbar53 – aus ihren Verklammerungen ragen bestenfalls noch die ge52 Vgl. hierzu: Bruyn, Gerd de/Reuter, Wolf: Das Wissen der Architektur, Bielefeld: transcript, 2011. Die Autoren stellen heraus, dass die vormoderne Architektur enzyklopädisch angelegt war, d.h., dass sie als Einheit von Kunst wie Wissenschaft operierte – in der Gewissheit, eine sinnvolle, einheitliche und harmonische Ordnung des gesamten Kosmos widerzuspiegeln. Nach der Aufklärung jedoch veränderte sich ihr Selbstverständnis radikal: „Durand war es, der dafür sorgte, dass es mit dieser „eitlen“ Zugehörigkeit [zu den schönen Künsten, CJG] sehr schnell vorbei sein und die Architektur schon bald zu einer sparsamen Zweckkunst herabsinken sollte, die sich seitdem die Kompetenzen, die ihr einst selber (freilich nur in vormoderner Ausprägung) zugehörten, von Disziplinen ausleihen muss, die ihr entlaufen sind.“ (S. 21) 53 Vgl. hierzu: Picon, Antoine: Das Projekt. Von der Poesie der Kunst zur Entwurfsmethode, in: Arch+ Zeitschrift für Architektur und Städtebau, Heft 189 (2008), S. 12–17. Der Autor zeigt, dass aus dem säkularisierten bzw. republikanischen Staat ein neuer Zweck an die Baukunst herangetragen wird, der vorübergehend die Feudal- bzw. Kirchenherrschaft ablösen sollte. Weiter schildert Picon am Beispiel des vorrevolutionären Frankreichs in der Mitte des 18. Jahrhunderts ebenfalls die Abkehr von der Vitruvschen Ausrichtung auf die Abbildung der kosmischen Ordnung und Hinwendung zur Komposition und zum zweckgesteuerten Entwurf von Gebrauchsarchitektur. Der Architekt, der in diesem Geiste arbeitet, muss fortan nicht mehr dem König die-

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zeichneten Architekturen im Geiste der Erhabenheit hervor. (siehe hierzu auch Kap. 2)

1.2. V ON DER ANTIKE IN DIE G EGENWART : (B AU -)K UNST ZWISCHEN Z WECK UND Z UFALL Wie im vorherigen Abschnitt gezeigt wurde, gibt Aristoteles Argumente, die die Kunst aus einer kanonisch-proportionalen Schönheitserwartung und auch aus dem Modus der Platonisch motivierten Nachahmung befreien. Ferner konnten mit Goethe und Boullée die Versuche aufgezeigt werden, die künstlerischen Hervorbringungen direkt aus der Natur (Physis) zu schöpfen, um damit auch an der Kraft eines unaufhörlichen Wandels teilzuhaben. Nun unterliegen allerdings in der Aristotelischen Betrachtung die Artefakte gemeinhin dem menschengemachten Zweck. Dieser ist mit Zielen bzw. Zielvorstellungen und dem Prinzip der Kausalität verbunden. Er ebnet damit auch der Dysbalance einer verkürzten wie denaturierten Sicht auf die Welt den Weg, die sich nicht zuletzt in Architektur zeigte und zeigt. In diesem Abschnitt wird es darum gehen, die Auswege aus dieser Art Zweck deutlicher zu skizzieren, die Aristoteles auch unter dem Begriff des Zufalls54 angedeutet hat. Entsprechende Fluchtlinien weisen wiederum in die Richtung der Physis:

nen, sondern private Aufträge abarbeiten und sich um Gebäude der öffentlichen Verwaltung oder des Gemeinwesens bewerben (Gerichte, Schulen, Krankenhäuser, Kasernen, Gefängnisse etc.). Es geht nicht mehr um die Repräsentation einer (göttlichen) Ordnung, vielmehr sind ausdifferenzierte Spezifikationen gefordert. Der architektonische Entwurf wird daher wichtig, denn er ermöglicht die planerische Bearbeitung eines Projekts, um eine maßgeschneiderte bauliche Lösung zu finden. Diese ist den Prämissen der Effizienz unterworfen und genügt sich darin, die geforderten Ziele und Zwecke beherrschen und baulich umsetzen zu können. Es scheint, dass hierin auch die Geburtsstunde dessen liegt, was im 20. Jahrhundert Funktionalismus bzw. Rationalismus genannt wird. Bereits kurz nach der französischen Revolution zeigt sich also auch schon das Spannungsfeld, das ein Kunstgeschehen in der Architektur mitbestimmt – denn Nützlichkeit für einen einzelnen Auftraggeber führt zu anderen Lösungen als jene, die auf ein Kollektiv gerichtet ist. Die Rede ist hier von Standardisierung und Massenproduktion (siehe hierzu auch Abschnitt 1.3). 54 Der Zufall wurde in der antiken Ideengeschichte oft in Zusammenhang mit dem Schicksal gebracht. Für diese Untersuchung ist aber eine andere Lesart von Bedeutung. Eine, die ihn dasjenige markieren lässt, was sich einem planvollen, zielgerichte-

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„Das Werdende wird teils durch Natur, teils durch Kunst, teils von ungefähr (spontan) […] So wird also durch die Natur das Werdende. Die anderen Arten des Werdens heißen Hervorbringungen. Alle Hervorbringungen aber gehen entweder von der Kunst oder von dem Vermögen oder vom Denken aus. Manche darunter geschehen auf ähnliche Weise auch von ungefähr und durch Zufall, so wie es auch bei dem natürlich Werdenden vorkommt.“55

In Friedrich Nietzsches Aphorismensammlung Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile findet sich eine Passage, die das Dilemma um den Zweck sehr gut veranschaulicht: „Wir fürchten uns vor diesem mächtigen Reiche der grossen kosmischen Dummheit, denn wir lernen es meistens so kennen, dass es in die andere Welt, in die der Zwecke und Absichten, hineinfällt wie ein Ziegelstein vom Dache, und uns irgend einen schönen Zweck todtschlägt […] wir klugen Zwerge, mit unserem Willen und unseren Zwecken, werden durch die dummen, erzdummen Riesen, die Zufälle, belästigt, über den Haufen gerannt, oft todt getreten, — aber trotz alledem möchten wir nicht ohne die schauerliche Poesie dieser Nachbarschaft sein, denn jene Unthiere kommen oft, wenn uns das Leben im Spin-

ten Handeln entzieht. Der Zufall lässt sich mit Aristoteles in mehrfacher Weise deuten. Zunächst als Kairos, den er im Gegensatz zu Platon an der empirischen Realität orientiert. Vgl. hierzu den Artikel „Kairos“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4: I-K, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Basel/Stuttgart: Schwabe, 1976, S. 667-669: Der Mensch hat Aristoteles zufolge ein instinktives Gespür für das Sinnvolle und dieses führt dazu, dass die „unvorhersehbaren Erfordernisse des Augenblicks die an sich sinnwidrigsten Aktionen zu sinnvollen, weil rechtzeitig unternommenen Handlungen werden lassen.“ (S. 668). Aristoteles zielt hier also auf eine Art schicksalhafte Notwendigkeit im Unvorhersehbaren. Er deutet allerdings den Zufall ebenso im Sinne von Tyche und Automatos. Hier spielen Unsicherheit und Glück viel größere Rollen. Vgl. hierzu auch Rapp, Christof/Corcilius, Klaus (Hg.): Aristoteles Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart: Metzler, 2011, S. 78 ff.: Tyche bekommt hier auch die Verbindung zu Automatos (von allein) und damit zu einer nächsten Begriffsbindung des Zufalls. Verbunden mit ihm bleibt die Ursächlichkeit (Kausalität). Nach Aristoteles gibt es vier Ursachentypen (Material, Form, Bewegung und Zweck), die kausale Rollen von Dingen festlegen. Tyche bzw. Automatos sind als eine Art negative Vollständigkeitsbeweise gedacht. Tyche wird dabei eher auf menschliches Handeln bezogen, während Automatos natürliche Zufallsprozesse beschreibt. 55 Aristoteles: Metaphysik, VII, 7, 1032 a.

36 | B AUKUNST ALS UNMÖGLICHE MÖGLICHKEIT nennetze der Zwecke zu langweilig oder zu ängstlich geworden ist und geben eine erhabene Diversion, dadurch dass ihre Hand einmal das ganze Netz zerreisst.“56

Nietzsche unterscheidet im Anschluss das griechische Reich der kosmischen Dummheit vom christlichen Umgang mit dem Zufall. Diesen gibt es dort nicht mehr, sondern nur noch einen allesumgreifenden Universalzweck, der von Gott selbst gesetzt ist. Schließlich verdeutlicht er, dass es weder das eine noch das andere wirklich gibt, sondern nur uns selbst: „Ja, vielleicht giebt es nur Ein Reich, vielleicht giebt es weder Willen noch Zwecke, und wir haben sie uns eingebildet.“57 Nietzsche skizziert hier den abendländischen Menschen im Modus der „äußersten Beschränktheit“, in dem er abhängig von Ziel und Kausalität die „absichtlichsten Handlungen“ ausführt. Diese Beschränktheit ist frei gewählt bzw. nur kulturell tradiert und eigentlich bestünde jederzeit die Möglichkeit, sie zu überwinden – wenn auch nur wenige daran Interesse zu haben scheinen. Die menschliche Welt der Zwecke steht (mindestens) einer anderen gegenüber. Einer, die in enger Nachbarschaft existiert und von Zeit zu Zeit in den Zustand der Präsenz gerät, indem sie das „Spiel der Nothwendigkeit“ entlarvt, das die Menschen mit sich selbst und anderen spielen. Diese Momente kommen meist überraschend, sind nicht kontrollierbar und entziehen sich der Planbarkeit. Hier wird gleichzeitig die Argumentation für eine Hervorbringung von Kunstwerken gegeben, die sich nicht damit begnügt, planvoll und am Zweck orientiert ein Artefakt zu gestalten. Vielmehr entzieht sich der Produktionsprozess von Kunst der Voraussehbarkeit und etwas drängt in die Präsenz. Am Leitfaden Nietzsches liegt die folgende Frage nah: Vielleicht ist die Kunst am stärksten in der Nachbarschaft zum „Reich der kosmischen Dummheit“ und das Dilemma einer fehlgeleiteten Architektur deshalb so groß? Es scheint, als habe auch Aristoteles deutliche Zweifel daran gehabt, die Kunst im Felde der Poiesis mit der Wissenschaft und dem Handwerk komplett zu egalisieren. Diese beiden Arten der Hervorbringung unterliegen nämlich der Kausalverschränkung von Annahme und Schlussfolgerung: „Wo nämlich eine bestimmte Überzeugung ist, und man die Prinzipien kennt, da ist Wissenschaft. Kännte man dieselbe nicht vollkommener als den Schlusssatz, so hätte man das

56 Nietzsche, Friedrich: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile, in: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 3, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Neuausg., München: dtv; Berlin/New York: de Gruyter, 1999 [im Folgenden KSA], S. 120. 57 Ebd., S. 122.

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Wissen nur zufällig.“58 In Bezug auf das künstlerische Artefakt hingegen lässt er in der Nikomachischen Ethik ein Hintertürchen offen, auf dem das Wort Zufall steht: „Und in gewissem Sinne bewegen sich die Kunst und der Zufall um das nämliche Objekt [das Hervorbringen, CJG], wie auch Agathon sagt: >Die Kunst den Zufall liebt, der Zufall liebt die Kunst.Leben< wird in dieser Hinsicht noch einmal verwandelt. Das Sichermächtigende des Subjektums in der Ermächtigung der Machenschaft.“154

Wichtig in der Argumentation Heideggers wird die Auseinandersetzung von Technik und Techné. Er verbindet in seiner Einführung in die Metaphysik die Techné mit dem Wissen. Eines jedoch, das in die Physis (als das Walten in die Unverborgenheit) weist und damit nicht unmittelbar dem Handwerk oder der Wissenschaft (im Aristotelischen Sinne) zugehört. Die Techné ist zwar an den Hervorbringungen von Artefakten beteiligt, jedoch bekommen diese nicht ihre Bestimmungen im Sinne der materiellen Gestalt, sondern es werden deren Möglichkeiten zum Präsenzhaben beschrieben, bevor sie sie haben: „Dieses Hinaussein [in das Sein, CJG] setzt in verschiedener Weise und auf verschiedenen Bahnen und in verschiedenen Bereichen das zuvor ins Werk, was dem schon Vorhandenen sein verhältnismäßiges Recht, seine mögliche Bestimmtheit und damit seine Grenze gibt. Wissen ist das Ins-Werk-setzten-können des Seins als eines je so und so Seienden.“155

Wissen verbindet Heidegger in diesem Sinne also mit dem Fragen, das ja der ‚Seinsmodus‘ des Menschen ist und auch mit dessen ‚Gewalt-tätigkeit‘ als Bewältigung des Überwältigenden (s.o.). Die Techné ist demnach verstanden als das wissende Ringen mit dem Sein, das über eine Fügung passiert, die der Mensch auslöst, um es ins Walten der Erscheinung (Physis) zu zwingen. Freilich kann die Techné damit auch die o.g. ‚schiefe‘ Bahn der Ausweglosigkeit befördem folgt, was erfolgt. So gestellt, ist alles: in Folge von … Die Folge aber wird zum Voraus als Erfolg bestellt. Der Erfolg ist jene Art von Folge, die selbst auf das Ergebnis weiterer Folgen abgestellt bleibt.“ (S. 26) 154 Heidegger, Martin: Techné [im Text griechisch, CJG] und Technik, in: Ders.: Leitgedanken zur Entstehung der Metaphysik, der neuzeitlichen Wissenschaft und der modernen Technik, GA, Bd. 76; hrsg. von Claudius Strube, Frankfurt/M.: Klostermann 2009, S. 285-319, hier S. 297. 155 Heidegger, Martin: Einführung in die Metaphysik, S. 168.

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dern helfen. Hier beschreibt sich die große Ambivalenz, die in der menschlichen Hervorbringung liegt und die Heidegger radikal zuspitzt: „Die unbedingte Einrichtung des bedingungslosen Sichdurchsetzens der vorsätzlichen Herstellung der Welt in den Zustand des menschlichen Befehls ist ein Vorgang, der aus dem verborgenen Wesen der Technik hervorkommt.“156 Der Text „Die Frage nach der Technik“ datiert auf das Jahr 1957. Der Aufsatz beginnt mit eben der Feststellung, dass Technik sich von ihrem Wesen unterscheidet und führt in der Folge aus, dass ein Durchgang durch ihren instrumentalen Charakter dieses Verhältnis klären hilft: „Damit wir zu diesem [Wesen, CJG] oder wenigstens in seine Nähe gelangen, müssen wir durch das Richtige hindurch das Wahre suchen.“157 Das heißt auch, sich nicht in den Zwängen der (logischen) Zwecke, Ursachen, Ziele und auch Kausalitäten zu verfangen, sondern nach dem zu fragen, was diese zunächst bedingt. Die Technik hat durch ihre Apparaturen Teil am Entbergen und ist als Technik selbst daher mehr als das bloß Richtige im o.g. Sinne. Heidegger zeigt hier, dass er kein Feind der Technik ist, denn genauso vermeintlich wie das Richtige, ist auch ihr Falsches: „Die Technik ist also nicht bloß ein Mittel. Die Technik ist eine Weise des Entbergens. Achten wir darauf, dann öffnet sich uns ein ganz anderer Bereich für das Wesen der Technik. Er ist der Bereich der Entbergung, d.h. der Wahrheit.“158 Die Technik steht im Zusammenhang mit der Hervorbringung, denn ihr Beweger ist der Mensch und damit fungiert sie stets im Gegensatz zur Natur. Die Maschinen stehen im Allgemeinen für die Welt der Technik. Durch sie stellt der Mensch Artefakte her; allerdings stellen die Maschinen auch sich selbst her. In den Bremer Vorträgen fragt Heidegger in diesem Zusammenhang daher auch, ob das maschinelle Herstellen überhaupt noch ein Hervorbringen ist. Seine Frage speist sich aus der Erkenntnis, dass die Maschine keinem Werkzeug gleicht, sondern gemeinhin im Getriebe eines auf Ziele ausgerichteten Betriebs läuft: „Maschinen sind innerhalb einer Maschinerie. Aber diese ist keine Anhäufung von Maschinen […]. Darum ist auch die Art, wie die Maschine selbst etwas herstellt, eine wesentlich andere als das handwerkliche Tun.“159 Aufweiten lässt sich diese Frage freilich, indem man darüber nachdenkt, in welcher Weise das maschinell Hervorgebrachte auf die Menschen wirkt, die damit umgehen (müssen). In engem Zusammenhang damit steht auch dessen Charakter als ersetzbares Stück im 156 Heidegger, Martin: Wozu Dichter?, S. 289. 157 Heidegger, Martin: Die Frage nach der Technik, in: Ders.: Vorträge und Aufsätze, S. 5-37, hier S. 9. 158 Ebd., S. 13. 159 Heidegger, Martin: Das Ge-Stell, S. 35.

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bestellbaren Bestand. Das Stück ist etwas anderes als ein Teil, denn es definiert sich nur über die Nachbarschaft zu einem anderen Stück. Zusammen ergeben sie ein Ganzes, bleiben aber gleichzeitig voneinander getrennt und sind auf Ersetzbarkeit ausgerichtet: „Bestand-Stück sagt: das als Stück Abgesperrte ist auswechselbar in ein Bestellen eingesperrt.“160 In den Unterschied hierzu bringt Heidegger den Organismus, indem er seine Hand erwähnt, denn in deren Bewegung bzw. Gestik ist zu jeder Zeit der ganze Mensch. Ebenso kann die Hand nicht einfach ersetzt werden durch eine andere. Auch an dieser Stelle schließt sich nahtlos die Frage an, was aus einer Architektur wird, die ihre Bauwerke nur noch durch das Zusammensetzen von industriell gefertigten Einzelstücken errichtet (mehr hierzu am Ende des Abschnitts). Ein Leben ohne Artefakte jedoch scheint unmöglich, ist doch schon die Weidenrute, die zur Angel wird, ein Stück Technik. Die Weidenrute allerdings wird weniger als Herausforderung empfunden, als eine Flotte von Fischkuttern auf Thunfischjagd. Das Problem liegt also nicht in einem grundsätzlichen Für und Wider von Technik, sondern in der Art und Weise des technischen Entbergens.161 Es gibt nämlich jenes, das in der Natur und im Einklang mit ihr passiert und solches, das sie herausfordert: „Das bäuerliche Tun fordert den Ackerboden nicht heraus. Im Säen des Korns gibt es die Saat den Wachstumskräften anheim und hütet ihr Gedeihen. Inzwischen ist auch die Feldbestellung in den Sog eines andersgearteten Bestellens geraten, das die Natur stellt. Es stellt sie im Sinne der Herausforderung. Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie.“162

Der Begriff Stellen wird nun wichtig, zeigt er doch, dass die spezielle Weise des Entbergens der modernen Technik nur durch Vorstellung, Steuerung, Planung und Kontrolle vonstatten geht. In einer daraus resultierenden (mittlerweile globalen) ‚Vernutzungsbestrebung’ darf es so wenig wie möglich Störkonturen oder Unbestimmtheiten geben, denn sie würden Zielstellungen be- oder gar verhindern. Ein vorgestelltes Konstrukt aus logischen, kausalen Zusammenhängen, die allesamt ihre physischen Entsprechungen in Gegenständen (nicht zuletzt den architektonischen) finden, befördert das herausfordernde Entbergen und mit ihm

160 Ebd., S. 37. 161 Vgl. hierzu: Ebd., S. 34: „Allein, das Wesen der Technik ist selbst nichts Technisches. Jede Konstruktion jeder Maschine bewegt sich bereits innerhalb des Wesensraumes der Technik. Als technische Konstruktion vermag sie jedoch niemals, das Wesen der Maschine zu entwerfen.“ 162 Heidegger, Martin: Die Frage nach der Technik, S. 16.

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die teilnehmenden Menschen in eine hermetische Welt, die neben der ursprünglichen existiert: „Das Entbergen entbirgt ihm selber seine eigenen, vielfach verzahnten Bahnen dadurch, dass es sie steuert. Die Steuerung selbst wird ihrerseits überall gesichert. Steuerung und Sicherung werden sogar die Hauptzüge des herausfordernden Entbergens.“163

Die Natur, als das von sich aus Bewegte, begegnet dem Menschen nun wie ein künstliches Artefakt. Es stellt sich in einem Bestand dar, aus dem heraus bestellt werden kann. So wird z.B. der Wald als Forstwirtschaft wahrgenommen und zur Produktion von Holz und Papier verarbeitet. Heidegger betont allerdings, dass das herausfordernde Entbergen nicht etwa eine Erfindung des heutigen Menschen ist, sondern dass dieser wesensmäßig dazu aufgerufen wurde. Zur Erläuterung wird noch einmal geklärt, dass er stets in eine Entborgenheit (Um-welt) hineingegeben ist, die vor ihm da war und, dass er immerfort in diesem Draußen lebt: „Dessen [des Menschen, CJG] Unverborgenheit hat sich schon ereignet, so oft sie den Menschen in die ihm zugemessenen Weisen des Entbergens hervorruft […]. Wenn also der Mensch forschend, betrachtend der Natur als einem Bezirk seines Vorstellens nachstellt, dann ist er bereits von einer Weise der Entbergung beansprucht, die ihn herausfordert, die Natur als einen Gegenstand der Forschung anzugehen, bis auch der Gegenstand in das Gegenstandlose des Bestandes verschwindet.“164

Das wiederum, was den Menschen auf diese Weise herausfordert, also das Wesen der Technik, nennt Heidegger das Ge-Stell. Selbst nichts Technisches, prägt es dessen Hervorbringungen und lässt sich zurückverfolgen bis in die Anfänge der neuzeitlichen Physik des 17. Jahrhunderts. Dort nämlich legten Mathematiker theoretische Zusammenhänge fest, die die Natur (Kraft und Materie) auf einen vorausberechenbaren Zusammenhang abstellten. Über diese sichernde Vergegenständlichungsstrategie konnte die Art von Technologie erst entstehen, die die Natur förmlich anzapft und zu einem bestellbaren Bestand umformt: „Das Wesen der modernen Technik, das Ge-Stell, begann mit dem wesensmäßigen Grundakt des Bestellens, insofern es zunächst die Natur als den Grund-Bestand im Vorhinein sicher stellte.“165 Fortan fand man in einer Art selbsterfüllenden Prophezeiung das, was man finden wollte. In dieser Wesensprägung ist die mo163 Ebd., S. 17. 164 Ebd., S. 19. 165 Heidegger, Martin: Das Ge-Stell, S. 43.

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derne Technik immer noch und reduziert nach wie vor die Entbergungen auf den o.g. steuerbaren Bestand: „Wir nennen jetzt die von sich her gesammelte Versammlung des Stellens, worin alles Bestellbare in seinem Bestand west, das Ge-Stell […]. Im Ge-Stell wird das Anwesen alles Anwesenden zum Bestand. Das Ge-Stell zieht das Bestellbare ständig in den Kreisgang des Bestellens herein, stellt es darin fest und stellt es als das so Beständige in den Bestand ab.“166

Freilich ließe sich vermuten, dass das Verbrauchen der als Ressource behandelten Natur (z.B. von Kohle, Öl, Gas) eine Art Webfehler im Ge-Stell darstellt, denn immerhin ist der Bestand für die Zukunft nicht gesichert. Vor diesem Hintergrund erscheint die Fokussierung auf regenerative Energien als Ge-Stellkonforme Modernisierungsmaßnahme des Zeitalters der Technik. Mithilfe diverser Hochtechnologieprodukte (Solarzellen, geothermische Bohrungen oder Blockheizkraftwerke) wird versucht, nur die Naturkräfte bzw. -materialien anzuzapfen, die sich nicht verbrauchen (lassen). Damit wäre die Natur auch zukünftig als bestellbarer Bestand des Ge-Stells gesichert. Mit dem Begriff Geschick beschreibt Heidegger die Weise, mit der der Mensch an die Entbergung des Seins gebunden ist. Dabei ist freilich nicht das gemeint, was sich jeweils zeigen will, sondern dass sich überhaupt etwas zeigen will. Das Geschick stellt keinen Zwang dar – bis auf denjenigen, geschickt zu sein. Es beschreibt also eine Art konstitutives Milieu, in dem das Walten passiert und damit auch das des Ge-Stells. Wohlgemerkt ist im Geschick nicht nur eine einzige Weise des Waltens möglich und in einer Art Tunnelblick liegt auch das Problem, in dem der Mensch sich befindet. Bezogen auf das Ge-Stell bedeutet das, dass das Entbergen auf das Bestellen im Sinne der Zurichtung in den o.g. Bestand reduziert wird: „Hierdurch verschließt sich die andere Möglichkeit, dass der Mensch eher und mehr und stets anfänglicher auf das Wesen des Unverborgenen und seine Unverborgenheit sich einlässt, um die gebrauchte Zugehörigkeit zum Entbergen als sein Wesen zu erfahren.“167

Das Problem, das das Unverborgene stets begleitet und das im Geschick des GeStells liegt, ist also, das Geschehnis der Verbergung und Entbergung zu vergessen und damit die Wahrheit zugunsten der bloßen Richtigkeit (des Bestands) zu verlieren. Auf diese Weise schneidet der Mensch sich seinen unmittelbarsten 166 Ebd., S. 32. 167 Heidegger, Martin: Die Frage nach der Technik, S. 27.

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Zugang zur Welt ab. Er entfremdet sich von sich selbst als Lebewesen und fristet sein Dasein fortan in einer Art allumfassenden Simulation: „Sobald das Unverborgene nicht einmal mehr als Gegenstand, sondern ausschließlich als Bestand den Menschen angeht und der Mensch innerhalb des Gegenstandlosen nur noch der Besteller des Bestands ist, - geht der Mensch am äußeren Rand des Absturzes, dorthin nämlich, wo er selbst nur noch als Bestand genommen werden soll.“168

Das Ge-Stell verstellt damit nicht nur jede andere Möglichkeit der Entbergung, sondern auch die Grundzüge des Entbergens selbst – sein Sein wird sein eigenes Problem, weil es die Seinsvergessenheit befördert. An die Stelle der Wahrheit (als Walten des Seins) tritt die kontrollierte und gesteuerte Bestellung des Bestandes und mit ihm der Irrtum, diesen (im Sinne der Entbergung) präsenzlosen wie entweltlichten Zustand für den alleinig möglichen zu halten. Wiederum in den Bremer Vorträgen überträgt Heidegger die Auswirkungen dieses Problems direkt auf die uns umgebenden Dinge: „Im Wesen des Ge-Stells ereignet sich die Verwahrlosung des Dinges als Ding.“169 Heidegger meint mit Verwahrlosung den Verlust von Welt, denn im ‚Dingen des Dings‘ ereignet sich die Entbergung des Seins als Wahrheit. Dieses Geschehen lässt erst das Objekt oder Kunstwerk als ein solches sein und räumt den Raum um es herum ein (siehe hierzu auch 2.3.3). Durch dieses Walten des Seins (Physis), das Wahrheit im ursprünglichen Sinne ist, entsteht zuallererst die Welt: „Welt ereignet, es lichtend-verwahrend, das Dingen des Dinges. Welt wahrt so das Wesen des Anwesens als solches. Welt wahrt weltend das Wesen dessen, was als das Sein des Seienden west.“170 Objekte, Dinge oder Artefakte, die dieses Geschehen nicht vermögen oder gar verhindern sind daher ohne Wahrheit oder anders gesagt ‚ver-wahrlost‘. Die Artefakte des Ge-Stells sind hierdurch auch ohne das notwendige Pendant der Unverborgenheit, nämlich die Verborgenheit. Diese gibt erst das Daseiende in die Unverborgenheit frei und schwingt in jeder Anwesenheit als das Sichentziehende mit. An die Stelle der sich entziehenden Entbergung tritt nun das Ge-Stell. Es wird zum Seinsgrund ohne Wahrheit, reklamiert fortan nur noch die (mathematisierbare) Richtigkeit und schreibt die Seinsvergessenheit als Programm (der neuen Welt) fest: „Indem das Ge-Stell alles Anwesende in den Bestand bestellt, setzt das Ge-Stell das Anwesen des Anwesenden heraus aus seiner Wesensher-

168 Ebd., S. 27 f. 169 Heidegger, Martin: Die Gefahr, in: Ders.: Bremer und Freiburger Vorträge, S. 4668, hier S. 47. 170 Ebd., S. 48.

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kunft, aus der Aletheia [im Text griechisch, CJG].“171 Auf diese Weise werden die Dinge und auch die Architektur förmlich kaltgestellt und sterilisiert. Heidegger skizziert allerdings auch Auswege aus dem Ge-Stell. Zunächst einmal können sie sich eröffnen, in dem nicht das Technische, sondern das Wesen der Technik in den Blick genommen wird – zeigt sich in ihm doch eine Weise des Entbergens. Selbst wenn sie im o.g. Sinne eine Reduzierung der Wahrheit auf das bloß Richtige darstellt, ist die Technik doch ein Verweis auf das Geschick des Menschen, dem Sein im ursprünglichen Sinne anzugehören. In diesem Bewusstsein ist der Weg frei für eine alternative Weise, auf das Sein zuzugehen.172 Indem der Mensch sich also des Grundes der Ermöglichung des GeStells als bestimmte Weise des Waltens bewusst wird, kann er auch die anderen Weisen wieder in den Blick nehmen. Freilich ist hierin nichts Geringeres als die Überwindung der Seinsvergessenheit gefordert. Einen zweiten Ausweg aus dem Ge-Stell bietet die Kunst - auch die Baukunst (siehe auch 2.3.3). Sie ist eine Hervorbringung im Sinne der Aristotelischen Poiesis und hat über Heideggers Definition der Techné Teil an der ursprünglichen Gewalt des Tätigen hinsichtlich der Überwältigung durch die Physis. Die Techné ist als praktisches Wissen mit der Technik verbunden, aber auch mit der Kunst. Diese wiederum weist am deutlichsten in eine Seinsweise, die im ursprünglichen Sinne mit der Wahrheit als Unverborgenheit ins Anwesen gerät. Damit markiert die Kunst eine Alternative zum Ge-Stell, in der Offenheit und Unkontrollierbarkeit (Zufall) die entgegenkommenden Größen sind und Rahmen abstecken, die nichts mit Bestand und Bestellen zu tun haben, sondern mit ungerichteter Teilhabe: „Weil das Wesen der Technik nichts Technisches ist, darum muss die wesentliche Besinnung auf die Technik und die entscheidende Auseinandersetzung mit ihr in einem Bereich geschehen, der einerseits mit dem Wesen der Technik verwandt und andererseits von ihm doch grundverschieden ist. Ein solcher Bereich ist die Kunst. Freilich nur dann, wenn die

171 Ebd., S. 52. 172 Vgl. hierzu: Heidegger, Martin: Das Ge-Stell: „Das Anwesen kann sich kundgeben als das Geschaffene des Schöpfers, der selbst der ständig und überall Anwesende ist in allem. Das Anwesende kann sich darbieten als das, was im menschlichen Vorstellen für es her und ihm entgegen gestellt wird. Das Anwesende ist so das Gegenständige für das Vorstellen […]. Der Gegenstand ist das Objekt für das Subjekt. Das Anwesende kann aber auch sein als das Beständige im Sinne der Bestandsstücke des Bestandes, der als das ständig Bestellbare in demjenigen Stellen gestellt ist, als welche das Ge-Stell waltet.“ (S. 39 f.).

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künstlerische Besinnung ihrerseits sich der Konstellation der Wahrheit nicht verschließt, nach der wir fragen.“173

Heideggers Denken verdeutlicht sich auch in einer im o.g. Sinne ‚verwahrlosten‘ Architektur, die sich kalt und wie sterilisiert darstellt und den Menschen hilft, sich im Ge-Stell einzurichten. Das Bauwerk wird im Ge-Stell ebenfalls zum Stück eines bestellbaren Bestands – so bestellt der Architekt heutzutage z.B. Fassadenelemente, Türen, Fenster, Wände, Fußbodenbeläge oder Möblierung aus Bauteilkatalogen und fügt diese als voneinander unabhängige Stücke zusammen. Wie bei einer Maschine kann nun jedes Stück ausgetauscht und durch ein weiteres ersetzt werden. So wird Architektur selbst zur Maschine und zum bestellbaren Stück umgewandelt. Ungeplante, zufällige Hervorbringungen im Sinne eines Konstitutionsverhältnisses der Physis als Entbergung eines Verborgenen finden nicht statt, sondern nur noch Bestellungen aus dem gesicherten, geplanten und gesteuerten Bestand. Um solches Hervorbringen möglich zu machen, bedient der Architekt sich der Rechenmaschinen mit entsprechender CADSoftware, die ihn dazu bringen, problemlos im Ge-Stell zu bestellen. Das GeStell beschreibt damit auch auf das deutlichste die Dysbalance einer ‚Architektur‘, die das Sein vergisst, obwohl es doch in ihrem eigenen Namen eingeschrieben ist. Im Wort steckt nämlich die Arché, die auf die Physis als Grund (auch) ihrer Kunst hinweist. Im folgenden Kapitel wird es darum gehen, von der Antike über die Zeit der Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert die Spuren der Arché aufzuzeigen. Die Versuche einer Besinnung auf sie hat es nämlich durch die Jahrhunderte sehr wohl gegeben, wenngleich die Dominanz des Ge-Stells sie erschwert haben.

173 Heidegger, Martin: Die Frage nach der Technik, S. 36. Vgl. hierzu: Ders.: Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Ders.: Holzwege, S. 1-75. Am Schluss des Textes kommt Heidegger auf die Bedeutung der Dichtung zu sprechen. Jede Kunst -auch die Baukunst- ist im Wesen Dichtung und kann auf die Poesie zurückgeführt werden. Freilich ist Poesie hier im Sinne von Poiesis gedacht: „Die Dichtung ist hier in einem so weiten Sinne und zugleich so inniger Wesenseinheit mit der Sprache und dem Wort gedacht, dass es offen bleiben muss, ob die Kunst und zwar in allen ihren Weisen, von der Baukunst bis zur Poesie, das Wesen der Dichtung erschöpft.“ (S. 62). (Bau-)Kunst setzt nach Heidegger also ins Werk, eröffnet Welt und stiftet damit Wahrheit. Sie gründet auch das Unvermittelte des Anfangs (Arché).

2. Unmögliche Möglichkeiten. Eine Arché-Graphie

2. Unmögliche Möglichkeiten Eine Arché-Graphie Die Stadt erscheint hier als ein Ganzes, in dem kein Wunsch verloren geht und von dem du selbst ein Teil bist, und da sie über alles verfügt, was dir fehlt, bleibt dir nichts anderes übrig, als diesen Wunsch zu bewohnen und dich damit zu begnügen.1 ITALO CALVINO/DIE UNSICHTBAREN STÄDTE

Dem Begriffspaar ‚Möglichkeit und Wirklichkeit‘ kommt im europäischen Denken seit Aristoteles Bedeutung zu. Allerdings ist auch ein Blick in die Unterschiede der griechischen und christlichen Schöpfungsgeschichte hilfreich, um sich die Auswirkungen des Gespanns auf die Ideen- und damit Kulturgeschichte zu verdeutlichen. Robert von Ranke-Graves gab in Griechische Mythologie. Quellen und Deutung eine gute Übersicht der pelasgischen, homerschen, orphischen und olympischen Schöpfungsmythen. Allen antiken Varianten gemeinsam ist, dass die Götter bereits etwas vorfanden, das sie in die Ordnung brachten.2 Es 1

Calvino, Italo: Die unsichtbaren Städte, München: dtv, 2009 [ital. 1972], S. 21.

2

Vgl. hierzu: Ranke-Graves, Robert von: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, Hamburg: Rowohlt, 1997 [engl. 1955], S. 22-26. Im pelasgischen Schöpfungsmythos erhob sich Eurynome, die Königin aller Dinge, nackt aus dem Chaos. Bei Homer gab es vor den Göttern und Lebewesen den Strom des Okeanos. Die Orphiker gingen davon aus, dass die Nacht und der Wind mit einem silbernen Ei (Mond) den Eros (Phanes) zeugten, der wiederum Erde, Himmel, Sonne, Mond schuf. Hier scheint kein Chaos geherrscht zu haben, sondern Dunkelheit. Damit ist der orphische Schöpfungsmythos möglicherweise in der größten Nähe zum christlichen. Es würde allerdings den Rahmen des vorliegenden Textes sprengen, dieser Frage erschöpfend nach-

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geschieht also Schöpfung und nicht Erzeugung und das heißt, dass es etwas geben muss, aus dem geschöpft werden kann – nämlich das Chaos und mit ihm die (noch) unbestimmte Materie.3 Ranke-Graves führt allerdings auch an, dass es zwei philosophische Hauptlinien bei den alten Griechen gab. Die erste geht davon aus, dass Dunkelheit war und aus ihr das Chaos und im Fortgang die Dinge entsprangen, während die zweite sagt, dass der Gott aller Dinge (Natur) im Chaos erschien und danach begann, die Dinge zu ordnen. Letztlich bleibt es dabei, dass das Chaos eine entscheidende Rolle bei der Schöpfung spielt und hier schält sich auch der Gegensatz zum christlichen Gott bzw. der biblischen Genesis heraus. In ihr nämlich wird das Prinzip „creatio ex nihilo“ gesetzt und die Dinge aus dem Nichts erschaffen: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Die Erde war noch leer und öde, Dunkel bedeckte sie und wogendes Wasser.“4 Dieser Gegensatz zwischen materiehaftem Chaos als eine Art Schöpfungsmatrix einerseits und dem Nichts andererseits hat weitreichende Auswirkungen auf die Beziehung zwischen Geist und Körper, Idee und Gestalt oder Form und Materie in der Ideengeschichte, die sich durch die Jahrhunderte entfaltet; denn während in der griechischen Lesart der Stoff vor dem ordnenden Eingriff des Göttlichen vorhanden war und also in gewisser Weise ‚älter‘ als dieser ist, so liegt im Prinzip

zugehen. Daher zum letzen, dem olympischen Mythos: In ihm taucht wieder das Chaos auf. Aus diesem entstand Mutter Erde und gebar den Sohn Uranus. Er blickte von den Bergen und sprühte fruchtbaren Regen. Aus diesem wiederum entstammten Erde, Blumen, Bäume, Tiere, Vögel. Es muss also schon die Materie gegeben haben, sonst könnte Uranus nicht von den Bergen blicken, bevor er es regnen lässt. 3

Vgl. hierzu den Artikel „Chaos“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Basel/Stuttgart: Schwabe, 1971, Bd. 1: A–C, S. 980-984, hier S. 980 ff. Der Begriff ist in der griechischen Antike nicht eindeutig gefasst, so wird er z.B. als Abgrund und lichtloser Schlund gedeutet. Während Aristoteles das Chaos als leeren Raum ansieht, gehen die Stoiker von etwas Fließendem und Sprühendem aus. Bei ihnen (wie zuvor schon bei Platon) trägt das Chaos die Züge einer formlosen, unbestimmten, Masse die noch ungeordnet ist. Dieser Deutung folgt auch Augustinus, einer der ersten christlichen Denker. Hingegen sieht Thomas von Aquin in der Scholastik das Chaos wieder im Aristotelischen Sinne als leeren Raum an. Diese These unterstützt freilich ein Möglichkeitsdenken, das unabhängig von der Wirklichkeit einer vorhandenen Materie operieren kann und diese auch dominiert.

4

Das erste Buch Mose (Genesis), in: Die Bibel. Die gute Nachricht, revidierte Fassung, durchges. Ausg. in neuer Rechtschreibung, ohne Spätschriften des Alten Testaments, hrsg. von der Deutschen Bibelgesellschaft, Stuttgart 2000, S. 3.

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eines ‚erschaffenden Wortes‘ eine Präferenz des Intelligiblen bzw. Geistigen.5 Materie ist hier untergeordnet, wird erst durch Gott geschaffen und anschließend muss sie mit dem Wort weiter geordnet werden: „Da sprach Gott: >Licht entsteheWahr< heißen demnach diejenigen Kenntnisse, die von der Welt wahr gemacht werden, nicht von der formierenden Spontanität oder irgendeinem >Vermögen< unserer (oder einer höheren) Subjektivität.“ (S. 314) 25 Kant, Immanuel: Von der innern Möglichkeit in so fern sie ein Dasein voraussetzet, in: Ders.: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, Werke in zwölf Bänden, Bd. 2, S. 619-654, hier S. 638. 26 Vgl. hierzu den Artikel „Repugnanz“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8: R-Sc, II, hrsg. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Basel/Stuttgart: Schwabe, 1992, S. 879-884, hier S. 883 f.

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von 1781 der Kombination von Möglichkeit und Wirklichkeit treu: „Und so enthält das Wirkliche nichts mehr als das bloß Mögliche. Hundert wirkliche Taler enthalten nicht das mindeste mehr, als hundert mögliche.“27 Eine Wirklichkeitserläuterung aus der Möglichkeit kann also nicht gelingen, wohl aber umgekehrt: „Denn durch den Begriff wird der Gegenstand nur mit den allgemeinen Bedingungen einer möglichen empirischen Erkenntnis überhaupt als einstimmig, durch die Existenz aber als in dem Kontext der gesamten Erfahrung enthalten gedacht; da denn durch die Verknüpfung mit dem Inhalte der gesamten Erfahrung der Begriff vom Gegenstande nicht im mindesten vermehrt wird, unser Denken aber durch denselben eine mögliche Wahrnehmung mehr bekommt.“28

Kant zufolge bereichert die Wirklichkeit. Sie steht keinesfalls für Erstarrung und Verfestigung, wohl aber für den Grenzbereich, an dem sich Möglichkeit erst entfalten kann. An dieser Stelle erkennt Heidegger einen Mangel, denn der preußische Aufklärer hätte es versäumt, eine vorgängige ontologische Analytik der Subjektivität des Subjekts (siehe Kapitel 3) zu unternehmen. Diesen ‚blinden Fleck’ bei Kant hat Schelling offenbar auch schon bemerkt, indem er versuchte, das Unvordenkliche näher zu fassen. Manfred Frank verweist auf einen diesbezüglichen Versuch in Schellings Philosophie der Offenbarung. Hier bricht der Romantiker gleichsam in etwas aus, das das Denken konstituiert: „>Unvordenklich seiend< ist darum ein solches, das in keiner ihm zuvor gedachten Potenz (potentia=Möglichkeit) seinen Grund hat: »absolute Wirklichkeit, vor aller Möglichkeit – Wirklichkeit, der keine Möglichkeit vorher geht.“29 Es kommt hier nicht nur die Kantisch priorisierte Bedeutung des Realgrunds der Möglichkeit gegenüber dem Dasein zum Tragen; vielmehr versucht Schelling, in das Milieu ‚vorzudenken’, das diese Möglichkeit konstituiert. Möglichkeit und Wirklichkeit werden zurückgeführt in die Möglichkeit zur Möglichkeit, also das Sein an sich. Bei Heidegger wird das Subjekt in diesem Prozess entwerfend (im Sinne von Weltverstehen), aber nicht konstruierend (im Sinne von Welterschaffen) eine Rolle spielen. Im Verweilen in der Gegenwart, das ein Entwerfen ist, wird der Mensch zum Nehmer des Gegebenen, zum Hörer des Gesprochenen, zum Gewahrer eines Ereignisses.

27 Kant, Immanuel: Von der Unmöglichkeit eines ontologischen Beweises vom Dasein Gottes, in: Ders.: Kritik der reinen Vernunft, Werke in zwölf Bänden, Bd. 3, S. 528536, hier S. 534. 28 Ebd., S. 535. 29 Frank, Manfred: Auswege aus dem Deutschen Idealismus, S. 317 f.

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Doch zurück zu Carl Schmitt. An Auszügen von Kant und Schelling wurde versucht zu zeigen, dass er die Epoche der Romantik ideengeschichtlich nicht genügend differenziert. Die unterschiedlichen Protagonisten werden über einen Kamm geschoren und auch der profunde Wirklichkeitsbezug in jener Zeit nicht genügend gewürdigt. Offensichtlich wollte er auf etwas anderes hinaus, nämlich die Ablösung der Repräsentation mittels Ästhetisierung durch das Subjekt, also die Verdrängung der Nachahmung (siehe auch 1.1) durch die Imagination. In dem, was Schmitt „occasionalistische Struktur der Romantik“ nennt, wird in vielen Variationen gezeigt, dass es ihm um den Verlust der Ordnung im Denken und Handeln geht. Folgerichtig wird auch die Vermischung von Phantasie und Realität missbilligt: „In einer allgemeinen Vertauschung und Vermengung der Begriffe, einer ungeheuerlichen Promiskuität der Worte, wird alles erklärlich und unerklärlich, identisch und gegensätzlich, und kann allem alles untergeschoben werden.“30 Der Kritiker weist damit auf die Ambivalenz hin, die mit dem Schritt in die subjektive Mündigkeit verbunden war. Hierzu Kant: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“31 Die Mündigkeit ist freilich auch eine Zumutung, denn das Subjekt steht der Ungeheuerlichkeit der eigenen Freiheit gegenüber. Es agiert damit zugleich in einer ausweglosen Pflicht, ohne (z.B. göttliche) Rückversicherung auszukommen. Friedrich Nietzsche hat diese Zäsur trefflich auf den Punkt gebracht: „Bist du eine neue Kraft und ein neues Recht? Eine erste Bewegung? Ein aus sich rollendes Rad? Kannst du auch Sterne zwingen, dass sie um dich sich drehen? […] Kannst du dir selber dein Böses und dein Gutes geben und deinen Willen über dich aufhängen wie ein Gesetz? Kannst du dir selber Richter sein und Rächer deines Gesetzes?“32 30 Schmitt, Carl: Politische Romantik, S. 87. 31 Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Werke in zwölf Bänden, Bd. 11, S. 53-61, hier S. 53. Die Ambivalenz dieses Satzes sollte nicht übersehen werden, denn aus solchem Denken wächst auch die rationalistische Dysbalance, die im 1. Kapitel beschrieben wurde. 32 Nietzsche, Friedrich: Vom Wege des Schaffenden, in: Ders.: Also sprach Zarathustra, KSA, Bd. 4, S. 80-81, hier S. 80. Freilich darf an dieser Stelle nicht vergessen werden, den Preis dieser Autonomie zu benennen, wie Hartmut und Gernot Böhme es ausführlich im ihrem Buch Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1983) getan haben – wenn Freiheit zur narzisstischen Verpanzerung führt, ist der Weg in die Dysbalance vorgezeichnet.

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Konfrontiert wird das Subjekt der Aufklärung auch mit der Erkenntnis, dass es existiert aufgrund des Existieren-könnens seiner Existenz. Dieser Umstand war bislang bestenfalls auf einen allmächtigen Schöpfer geschoben worden und damit versunken in der durch Kant so trefflich charakterisierten Unmündigkeit. Der Frühromantik ist diese Ordnung aber abhanden gekommen und deren Vertreter machten sich daran, auch die Konstellation von Möglichkeit und Wirklichkeit neu zu gründen. Besonders deutlich zeigt sich das im Begriff bzw. Empfinden des Erhabenen, denn hier begegnet das Seiende dem Sein. Nicht umsonst erscheint das Zeitalter der Aufklärung und Romantik auch als ein ästhetisches und auf das Engste verbunden mit der Kunst. Diese schließlich weist dem Subjekt in Form von Erfahrungen und Gefühlen Wege in eine neue sinnliche wie un-begriffliche Weltbildung.33 Über die Aufteilung der ästhetischen Phänomene in Schönheit und Erhabenheit wird in jener Zeit versucht, dieses Gefühlsspektrum aufzugliedern bzw. zuzuordnen. Gemeinhin gilt die Aufmerksamkeit in diesem Begriffspaar der Schönheit, denn sie trägt immer noch ihre vormoderne ‚Erblast‘ eines Verweises auf das Wahre, Gute und Schöne in einem Platonischen Sinne und besteht damit die Jahrhunderte hindurch als Platzhalterin einer maßgebenden Instanz der ewigen Wahrheit. So steht in Platons Dialog Timaios das ewige Sein dem werdenden Seienden gegenüber.34 Letzteres ist mittels Sinneswahrnehmung erfahrbar und Ersteres nur über den Verstand nachzuahmen. Das Weltall wie auch die Planeten mit allem Lebendigen sind von dem

33 Vgl. hierzu Baumgarten, Alexander G.: Ästhetik, Teil 1, übers. und hrsg. von Dagmar Mirach, Hamburg: Meiner, 2007. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Baumgarten als Begründer einer wissenschaftlichen Theorie der Ästhetik gilt. In seinem Werk stellte er eine durch die Sinne gestaltete Wissensform neben die bis dato dominierende Logik: „Die Ästhetik […] ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis“ (S. 11), die ein umfassenderes Verständnis „auch über die Mauer der von uns deutlich erkannten Dinge hinaus“ (S. 13) möglich macht. Damit würdigt er die prinzipielle Unabgeschlossenheit der dem Menschen begegnenden Dinge und Zustände als ebenso erkenntnisgewinnend. 34 Vgl. hierzu den Artikel „Zweck/Ziel“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, hrsg. von Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel, Basel/Stuttgart: Schwabe, 2004, S. 1486-1510: „Im ‹Timaios› schließlich entwickelt Platon eine dem entsprechende teleologische Kosmologie, die im einzelnen allerdings durchaus Zweck-Widrigkeiten wie auch Naturnotwendigkeiten zuläßt: Beides indes gewinnt seine eigentliche Bedeutung nur erst im Kontrast gegen eine in sich zweckhaft, als Totalität intelligible Weltordnung, der Platon einen selbst guten demiurgischen Intellekt zuordnet, welcher «will, daß alles gut ist».“ (S. 1488)

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Werkmeister (Demiurgen) gebildet, d.h. es liegen ihnen die ewigen Ideen, sprich Harmonien und Proportionen, zu Grunde: „Nun ist es doch für jedermann klar, dass er [der Vater des Alls, CJG] nach dem Ewigen blickte; denn die Welt ist das Schönste von allem Gewordenen, und was die Ursache anlangt, so hält nichts den Vergleich mit dem Meister (als Urheber) aus. Steht es aber mit ihrer Entstehung so, dann ist sie nach dem Muster des dem Verstande und der Einsicht Erfassbaren immer Gleichbleibenden geschaffen.“35

Verortet man diesen Umstand in dem, was Nachahmung (im Platonischen Sinne und damit im Widerspruch zu Aristoteles, der die Form direkt mit der Materie verknüpft) genannt wird, entspringt Zweierlei daraus: Zunächst kann man die Teilhabe am Wahren und Guten formalisieren, nämlich als (göttliche) Richtigkeit wie Richtung und im Folgenden deren Zugänge mittels entsprechend gestalteter Artefakte kontrollieren, wenngleich diese nur unwahren Abbildern gleichen. Hierzu äußert sich Platon in Der Staat: „Sokrates: Gut. Also den Urheber des auf dritter Stufe [nach dem Werkmeister [Gott] und Handwerker der Künstler, CJG] von der reinen Wirklichkeit stehenden Erzeugnisses nennst du Nachahmer? Glaukon: Allerdings.“36 Mit dieser Kategorisierung gerät der Künstler bzw. die Kunst auch in die größte Distanz zum wahrhaft Seienden: „Sokrates: Fernab von der Wahrheit also steht die Nachahmungskunst, und daher kommt es wohl auch, dass sie alles herstellen kann, aber eben nur ganz Weniges von jedem Gegenstande aufgreift und weil selbst dies Wenige nur einem Schattenbild angehört.“37

Die Platonische Nachahmung trägt demnach die Tendenz der Geringschätzung in sich, denn man erreicht die Nähe zu den ewigen Dingen nicht durch sinnliches Erfassen bzw. Formung des Materials. Über dieses Stadium freilich ist auch Immanuel Kant hinaus, denn die Sinnlichkeit entfaltet ihre besondere Bedeutung im Zeitalter der Aufklärung nicht nur für das erkennend-autonome Subjekt, sondern auch in Bezug zum Sein als Konstituens von Objekt und Subjekt schlechthin. Diesen Punkt bereitet Kant, wie Hartmut Böhme betont, in seiner vorkritischen Schrift Theorie des Himmels von 1755 vor. So hat er in seinen jungen Jahren offenbar (noch) einer chaotischen Dynamik der Materie den Rang zugebilligt, das Weltganze auszumachen und 35 Platon: Timaios, in: Ders.: Sämtliche Dialoge in sieben Bänden, Bd. 6, übers. und hrsg. von Otto Apelt, Hamburg: Meiner, 1998, 29 St. 36 Platon: Der Staat, S. 597. 37 Ebd., S. 598.

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dieses noch nicht in dem rein intelligiblen Milieu des subjektiven Urteils verbucht, das die Kantischen Folgeschriften prägt. Die Materie erscheint im Frühwerk vielmehr als „selbsttätig und unendlich fruchtbar“38. Sie lässt ganze Welten entstehen und vergehen (siehe auch Kapitel 2.3). Wo, wenn nicht hier, liegt die Wahrheit einer ‚Wahr-Nehmung’ und mit ihr nicht zuletzt die unmögliche Möglichkeit auch einer Schöpfung bzw. Entbergung derselben?39 Die Aufklärung steht mit ihrer Befreiungsbewegung damit auch für den Beginn der Gleichberechtigung des Materials und die Erhabenheit gerät zu einer Art Realismustheorie, die sich aus den Verspannungen in eine rein geistige Legitimation löst, die auf die Fundamente Zweck und Form gestellt war. Manfred Frank zeigt an F.W.J. Schellings „realistischer Grundintuition“40 auf, dass es in dem heterogenen Feld der verschiedenen Denker jener Zeit keine absolutidealistische Ausrichtung gab, sondern auch versucht wurde, das Sein im Sinne von Wirklichkeit zu fassen. Angeschlossen wird dabei an das Kantische Diktum des übersinnlichen Einheitsgrundes von Theorie und Praxis. In der Kritik der Urteilskraft hierzu: „Das gegebene Unendliche aber dennoch ohne Widerspruch auch nur denken zu können, dazu wird ein Vermögen, das selbst übersinnlich ist, im menschlichen Gemüte erfordert. Denn nur durch dieses und dessen Idee eines Noumenons, welches selbst keine Anschauung verstattet, aber doch der Weltanschauung, als bloßer Erscheinung, zum Substrat untergelegt wird, wird das Unendliche der Sinnenwelt, in der reinen intellektuellen Größenschätzung, unter einem Begriffe ganz zusammengefasst, obzwar es in der mathematischen durch Zahlenbegriffe nie ganz gedacht werden kann.“41

Die Aufklärung in ihrer Frühzeit kann daher als Fusionsprojekt angesehen werden, in dem versucht wurde, eine „Kombination von ontologischem Monismus und erkenntnistheoretischem Realismus“42 zu formulieren.

38 Böhme, Hartmut u. Böhme, Gernot: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, S. 86. 39 Vgl. hierzu Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken, 6. erweiterte Aufl., Stuttgart: Reclam, 2003. Der Autor betont im Vorwort, dass das moderne Denken seit Kant die Ästhetik als „Verstehensmedium für Wirklichkeit“ ansieht, denn diese sei an die Wahrnehmung des Subjekts gebunden. 40 Frank, Manfred: Unendliche Annäherung, S. 662. 41 Kant, Immanuel: Von der Größenschätzung der Naturdinge, die zur Idee des Erhabenen erforderlich ist, in: Kritik der Urteilskraft, S. 173-180, hier S. 177. 42 Frank, Manfred: Unendliche Annäherung, S. 663.

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Aber nicht nur die Erkenntnis, sondern auch die Kunst wirkt direkt vermittels des Stoffes und hat keine vergeistigten Umwege mehr nötig. Sie entkommt ebenfalls dem tradierten Joch einer „zweckhaft, als Totalität [auftretenden, CJG] intelligiblen Weltordnung“43 in die sie noch in Timaios eingespannt wurde und kann nun in einer Sphäre der Eigenbewegung in der Wirklichkeit agieren. Obwohl die Erhabenheit zunächst im 18. Jahrhundert in Frankreich und England Beachtung fand,44 stützen sich die Differenzierungen des Begriffes zumeist auf Immanuel Kant (2.1.2) und seine Kritik der Urteilskraft. Er ist es, der die Erhabenheit mit der Natur verbindet und auch mit der menschlichen Freiheit. In weiteren Denkschritten durch die Jahrhunderte wird wiederum bis in das Ende des 20. Jahrhunderts der Begriff mit dem Ereignis in Kunst und Material verknüpft. Hier sind vor allem Theodor W. Adorno und Jean F. Lyotard (siehe 2.1.3 und 2.1.4) zu nennen. Christine Pries weist im Vorwort des von ihr herausgegebenen Buchs Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn besonders auf die Renaissance des Begriffs hin, die auf Lyotard zurückgeht. In einer kurzen Chronologie macht sie deutlich, dass die Bedeutung dieses Begriffs zahlreiche Wandlungen durchlief von mathematisch, dynamisch über kontemplativ, pathetisch, aber auch enthusiastisch, gesinnungshaft, prächtig, würdevoll, komisch, witzig, lächerlich, bis hin zu schauerlich, schrecklich, paradoxal oder substanzhaft. Grundsätzlich vermag sich die Erhabenheit allerdings aufzuspalten in eine sensualistische und rhetorische Deutung. Von Anbeginn wurde der Begriff in Verbindung mit dem Unsichtbaren, Unnennbaren und Undarstellbaren gebracht. Damit beschreibt er das ‚Darüber-hinaus’ der Dinge oder Verhältnisse: „Wenn das Erhabene selbst immer schon etwas Unnennbares zu bezeichnen sucht und mehr oder weniger daran scheitert bzw. wenn dieses Unnennbare sich nur in einem Gefühl äußert, dann erscheint es kaum aussichtsreich, dies in einer Theorie des Erhabenen auf den Begriff bringen zu wollen. Die Theorie des Erhabenen müsste gewissermaßen selbst erhaben sein.“45

43 Vgl. hierzu den Artikel „Zweck/Ziel“, S. 1488 (siehe Fußnote 34 in diesem Kapitel). 44 Vgl. hierzu den Artikel „Erhaben, das Erhabene“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2: D-F, hrsg. Joachim Ritter, Basel/Stuttgart: Schwabe, 1972, S. 625635, hier S. 626. 45 Pries, Christine (Hg.): Einleitung, in: Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim: VCH, Acta Humaniora, 1989, S. 1-33, hier S. 6.

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Diese paradoxe Konstitution ist bis heute erhalten geblieben, freilich auch die dem Erhabenen entgegengebrachten Bewertungsmuster, die zwischen Bewunderung und Verachtung pendeln. In den Folgeabschnitten gilt es vor allem, die Verbindungen der Erhabenheit mit der Natur, der Substanz bzw. dem Material und dem Ereignis zu untersuchen und sie an die Kunst anzuschließen, deren Bestandteil die Architektur ist. Hartmut Böhme hat hierzu im Aufsatz „Das Steinerne. Anmerkungen zur Theorie des Erhabenen aus dem Blick des Menschenfremdesten“ wichtige Anregungen gegeben. Er ergänzt darin den Charakter einer narzisstischen Ermächtigung über die Natur, den Kant dem Gefühl der Erhabenheit zugeordnet hatte (siehe auch 2.1.2). Vielmehr erscheinen im Phänomen des Steinernen auch das Andere, Unaussprechliche und Sichentziehende für den Menschen, das sich in Felsen, Schluchten, Vulkanen, Hochgebirgen, Steinmeeren (auch) bedrohlich manifestieren kann. Besonders gefährlich scheint der Stein in all seinen geologischen Formen und Formierungen auch deshalb zu sein, weil er die Erde, Flüsse, alle Vegetation und auch den Menschen trägt. Die Steine gelten als das Skelett des Planeten, das auf keinen Fall ins Wanken geraten darf. Vor diesem Hintergrund scheint das verheerende Erdbeben von Lissabon aus dem Jahre 1755 auf die damaligen Zeitgenossen (Kant selbst hatte 1756 drei Abhandlungen darüber geschrieben) wie ein Trauma gewirkt zu haben, hatte sich doch gezeigt, dass es im Stein unkontrollierbare Kräfte gibt, die dessen Stabilität und Dauerhaftigkeit infrage stellen. Umso größer musste der Kantische Impuls ausfallen, diese Erfahrung im Subjektinneren quasi aufzulösen. Dem entgegen arbeitet Hartmut Böhme mit Friedrich von Hardenberg (Novalis) einen alternativen Erhabenheitsbegriff heraus, der auf die Fusion zwischen Objekt und Subjekt, Mensch und Natur hinausläuft. In diesem Modell ist nicht mehr die Rede von der Ermächtigung des einen über den anderen Pol: „Der Fels zum Du, der Mensch zum Fels – beide aber werden verwandelt: die Natur nimmt Züge des Selbstbewusstseins an, das Selbstbewusstsein Züge der unbelebten Materie.“46 Ein gleichberechtigter Austausch zeigt die Verabschiedung vom Begriff einer geistigen Form, die die tote Materie lediglich zweckgemäß benutzt.47 Ganz im Gegenteil wird ihr eine aktive 46 Böhme, Hartmut: Das Steinerne. Anmerkungen zur Theorie des Erhabenen aus dem Blick des Menschenfremdesten; in: Pries, Christine (Hg.): Das Erhabene, S. 119-143, hier S. 137. 47 Vgl. hierzu Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, in: Ders.: Werkausgabe, text- und seitenidentisch mit der Gesamtausgabe von 1959, Bd. 5, § 18, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1985, S. 258-288. Auch mit Bloch kann man zeigen, wie ein gleichberechtigtes Verhältnis von Objekt, Subjekt und Kunst erhaben gedacht wird, denn in seiner Theo-

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Rolle in dem Wechselspiel mit dem Geist (den es auch bei Novalis noch gibt) zugemessen. Die Natur hat eine eigene Geschichte und an dieser haben Mensch wie Geist Teil. Für die künstlerische Arbeit bedeutet das (um mit Heidegger zu sprechen), dass das Material selbst über den Hervorbringenden in die Wirkung und in seine Entbergung kommt: „Mit Novalis muss man sogar sagen, dass der Künstler die Idee des Menschenkörpers dem Stein nur aufprägen kann, weil er dem Steinernen verwandt ist.“48 Hier erscheint der große Unterschied in der Deutung der Erhabenheit, denn die Selbstauflösung im Angesicht des Anderen der Natur geschieht anstelle der Selbstermächtigung über diese: „Ich bin nicht, als was ich mir erscheine. Und so schlägt diese Erfahrung in ihr Gegenteil um: ich erscheine mehr als das, was ich nicht bin – als Stein.“49 Diese Tendenz findet sich im heterogenen Feld der Frühromantik auch am Beispiel F.W.J. Schellings, der das Kantische Erbe anders und dennoch ähnlich wie Novalis gewichtet. Bezogen auf die (Bau-)Kunst hatte der Königsberger in der Kritik der Urteilskraft lapidar den auf Gebrauch beschränkten Charakter der Architektur festgestellt: „Bei der letzteren [Baukunst, CJG] ist ein gewisser Gebrauch des künstlichen Gegenstandes die Hauptsache, worauf, als Bedingung, die ästhetischen Ideen eingeschränkt werden.“50 Im Gegensatz zu dieser rigiden Koppelung an das Prinzip von Ursache und Wirkung bzw. der Verspannung der Baukunst in das Joch des menschengemachten Zwecks geht Schelling in der Philosophie der Kunst auf gegensätzliche Weise mit der Architektur um. Er sieht sie als freie und eigenständige Kunst. Als solche erscheint sie nur in Verbindung mit dem Absoluten. Es ist dieses einigende, alle Differenzen bergende wie entberrie wird die Möglichkeit (als Real-Möglichkeit) im materialhaften Zustand eines ‚Noch-Nicht’ gesehen (siehe auch 2.3.4). Die Natur zeigt sich uns nämlich verhüllt als „nur andeutungsweise realisiertes Mögliches“ (S. 275) – und das vor allem in ihren erhabenen Symbolen bzw. Zuständen: „Das Symbolische teilt sich einzig vom Objektinhalt her seinem Ausdruck mit, differenziert die einzelnen Symbole vom objektiv realen Material her, dessen verschiedenen situierten Verhülltheits-Inhalt, SachidentitätsInhalt sie als dies Verhüllte und Sachidentische jeweils abbildet […]. Hierher gehören Symbole wie der Turm, der Frühling […] überhaupt alle Symbole der Erhabenheit.“ (276 f.). Mithilfe der Blochschen Theoreme lässt sich also eine direkte Verbindung von unmöglicher Möglichkeit, Erhabenheit, Material, Kunst und Architektur festmachen. 48 Böhme, Hartmut: Das Steinerne, S. 138 f. 49 Ebd., S. 140. 50 Kant, Immanuel: Von der Einteilung der schönen Künste, in: Ders.: Kritik der Urteilskraft, S. 258-264, hier S. 261.

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gende Milieu, das die Natur, Objekte und Subjekte zusammenfasst: „Als freie und schöne Kunst kann Architektur nur erscheinen, inwiefern sie Ausdruck […] des Absoluten wird.“51 Dieser Ausdruck findet sich gemeinhin in der organischen Gestalt, die auch die „real angeschaute Vernunft“52 ist. Baukunst ist zwar nicht organisch, hat aber ein vermitteltes Verhältnis zum Absoluten. Diese Vermittlungsleistung ist keine subjektzentrierte, sondern stets über das Prinzip der Identität gedacht. Auf diese Überlegungen folgt, dass Architektur in ihrer künstlerischen Gestalt und Materialität identisch mit dem Absoluten ist und damit von sich selbst unabhängig wird. Zwecke und Ziele fallen also im Objekt in Eins und es gibt keine Trennung zwischen allen Bestandteilen: „[…] solang Architektur dem bloßen Bedürfniß fröhnt und nur nützlich ist, ist sie auch nur dieses und kann nicht zugleich schön seyn. Dieß wird sie nur, wenn sie davon unabhängig wird, und weil sie dieß doch nicht absolut seyn kann, indem sie durch ihre letzte Beziehung immer wieder an das Bedürfniß grenzt, so wird sie schön nur, indem sie zugleich von sich selbst unabhängig, gleichsam die Potenz und die freie Nachahmung von sich selbst wird.“53

Wie stellt sich Schelling nun aber zur Erhabenheit? Ebenfalls in der Philosophie der Kunst zeigt er sie in der Einbildung der Unendlichkeit in die Endlichkeit. Umgekehrt erscheint etwas als schön, wenn die Endlichkeit in die Unendlichkeit projiziert wird: „Im Erhabenen, sagten wir, werde das sinnlich Unendliche durch das wahre Unendliche bezwungen. Im Schönen darf das Endliche sich wieder zeigen, indem es im Schönen nicht anders als selbst schon eingebildet dem Unendlichen erscheint. Dort (im Erhabenen) zeigt sich das Endliche noch gleichsam in der Empörung gegen das Unendliche, obgleich es in diesem Verhältniß selbst zum Symbol von ihm wird. Hier (im Schönen) ist es ihm ursprünglich versöhnt.“54

Die Wirklichkeit des Materials oder der Form wird aufgrund der Identität mit dem Absoluten auch durch eine Art Unbestimmtheit (mit-)bestimmt. Die Möglichkeit ist diesbezüglich genauso (mit-)identisch wie die Unmöglichkeit und 51 Schelling, F.W.J.: Reale Seite der Kunstwelt oder die bildende Kunst, in: Ders.: Philosophie der Kunst, SW, Bd. 5, S. 488-630, hier S. 577. 52 Ebd. 53 Ebd., S. 578. 54 Schelling, F.W.J.: Construktion des Besonderen oder der Form der Kunst, in: Philosophie der Kunst, S. 458-477, hier S. 468.

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wirkt als einer der vieler Schatten im Zustand eines Darüber-hinaus. Wenn etwas als Form bestimmbar wird, ist es endlich aber gleichzeitig unendlich. Die Differenzen von Formlosigkeit und Geformtheit fallen im Kunstgegenstand in Eins: „Die absolute Formlosigkeit ist eben die höchste, die absolute Form, wo sich das Unendliche in ein Endliches faßt, ohne von seinen Schranken berührt zu werden.“55 Dieses Weder-Noch, oder Noch-Nicht, oder Sowohl-Als-Auch mag paradox erscheinen. Es beschreibt jedoch sehr anschaulich das Absolute, in dessen Zuständen alle Möglichkeiten, Wirklichkeiten und unmögliche Möglichkeiten zugleich an- und abwesend sind. Das Chaos taugt für diese Grundanschauung des Erhabenen. Im Angesicht des Schellingschen Absoluten verblasst auch dessen negatives Image, denn eine Formlosigkeit weißt am reinsten auf die absolute Form hin: „[…] absolute Form, weil in jede Form alle und in alle jede gebildet ist, Formlosigkeit, weil eben in dieser Einheit aller Formen keine als besondere unterschieden wird.“56 Was mag die Vorbehalte befördern, sich auf das Chaos einzulassen? Ist es nicht das Fehlen der Überschaubarkeit und mit ihr zusammen das Versagen der Kausalbeziehungen und Zielvorstellungen? Im Vorgriff auf die Analyse der Gebrüder Böhme (siehe Kapitel 2.1.2) über die ‚narzisstische Verpanzerung‘ des Selbstbewusstseins würde das Subjekt im Angesicht des Chaos versagen und mit ihm auch dessen Autonomie verkümmern, denn eine auf Reduktion gebaute Freiheit ist nur deren müdester Anschein im Angesicht des Absoluten.57 Freiheit 55 Ebd., S. 464 f. 56 Ebd., S. 465. 57 Vgl. hierzu: Scobel, Gert: Chaos, Selbstorganisation und das Erhabene, in: Christine Pries (Hg.): Das Erhabene, S. 277-295: Der Autor betont die Abwehrreaktion der klassischen Wissenschaft gegen das Irreguläre und macht klar, dass eine Theorie der Unregelmäßigkeit und des Ungleichgewichts sich mit den Übergängen zwischen verschiedenen Zuständen beschäftigt und zugleich Selbstübergänge schafft. Das Denken versucht, dem ihm selbst vorausliegenden Ereignis zu entrinnen und fällt in eine Immunisierung gegenüber der Wirklichkeit: „Wie das Erhabene rührt auch das Chaos an das nicht zu reduzierende, nicht darstellbare, aber gegenwärtige Rätsel des Daseins, an die abgründigen Anfänge des Werdens (und damit des Vergehens).“ (S. 283-284) Scobel führt weiter aus, dass einige Vertreter der Frühromantik – hier vor allem Novalis, F. Schlegel und Schelling – sich dem Thema des Chaos zuwandten und schlägt von dort die Brücke in die Postmoderne, die er als Fortsetzung der Aufklärung sieht: „Postmoderne Philosophie ist keine nach-moderne Philosophie, sondern ein Versuch, über einen lange verborgenen Widerstreit im Projekt der Aufklärung selbst aufzuklären.“ (S. 285) Die postmoderne Philosophie will damit Übergänge einleiten und die isolierten Artefakte des Wissenschaftsbetriebs und auch deren technische Produkte

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hingegen wird in der Kunst und damit auch in einer als Kunst begriffenen Architektur sichtbar. Einer Architektur, die sich nach Schelling durch ihre eigene Überwindung freimachen kann und als eine Art Anti-Architektur wirkt: „[…] wird sie [die Architektur, CJG] schön nur, indem sie zugleich von sich selbst unabhängig, gleichsam die Potenz und die freie Nachahmung von sich selbst wird.“58 Diese Anti-Architektur wird frei, wenn sie sich ihrer Zwecke verwehrt, denn diese sind nichts weiter als Bedingungen oder Beschränkungen. Schellings Anti-Architektur dient als Brücke in die Absolutheit und damit wahre Freiheit: „[…] erst in dieser Unabhängigkeit jeder einzelnen Erscheinung, die dem nur auf Bedingungen gehenden Verstand ein Ende macht, kann er die Welt als das wahre Sinnbild der Vernunft, in der alles unbedingt, und des Absoluten, in dem alles frei und ungezwungen ist, erkennen.“59

Eine Anti-Architektur beinhaltet die Kunst, die Freiheit, die unmögliche Möglichkeit und die Erhabenheit. Sie fluktuiert beständig zwischen diesen Eckpfeilern. Nur mit diesem radikalen Ansatz kann Baukunst unmögliche Möglichkeit werden bzw. bleiben. Im Zeitalter der Aufklärung und Romanik spürten die Ästhetiker Wirkungen nach, die eine gebaute Struktur umgeben und die diese in einem nicht-euklidischen Sinne verändern konnten. Diese Wirkungen sind es, die den Raum bestimmen und damit gewissermaßen erzeugen. Das Bauwerk wird erlebt durch und mit einem Gefüge, das unsichtbar und doch höchstwirksam zu sein scheint und in dem Menschen mit ihren Umwelten verbunden wird.60 Das mit der eigenen unaufhebbaren Differenz konfrontieren. Instabilitäten, nichtlineares Handeln und Interaktionen sind die Verkehrsform ihre Übergänge. Im Ergebnis lassen sie sowohl Determiniertes wie auch das Nicht-Determinierte zu und befinden sich in der Nähe dessen, was Schelling in der Philosophie der Kunst als das Absolute bezeichnet hat. Auch in der Kantischen Kritik der Urteilskraft wird betont, dass das Erhabene in der Relation besteht, die Sinnlichkeit mit Vorstellung verbindet. 58 Schelling, F.W.J.: Reale Seite der Kunstwelt oder die bildende Kunst, S. 578. 59 Ders.: Construktion des Besonderen oder der Form der Kunst, S. 466. 60 Vgl. hierzu Sennett, Richard: Civitas: „Das erhabene Bauwerk hingegen fasste man als Gegenstand eines eigenständigen Erlebnisses auf. Seine Form als solche hatte eine »elektrisierende« Wirkung, erzeugte Schrecken und plötzliche Aufmerksamkeit. Es führte in diesem Sinne ein eigenständiges Leben.“ (S. 154) Freilich sieht er auch Grund zur Kritik, denn aus dem erhabenen Denken erwuchs die Forderung, dass ein Gebäude entsprechende Wirkung auf Dauer behalten müsse bzw. man dieselbe permanent herauslesen können muss. Dieser Anspruch führe in eine anti-soziale Kunst und einen Kult des Objekts.

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erhabene Leben der Architektur in jenen Jahren zeigt sich also in einer doppelten Bedeutung. Zunächst nämlich in Anlehnung an die Natur als einheitsfördernde Brücke hinüber in die Unendlichkeit (z.B. mittels zeitigender Ruinenmotive) und gleichzeitig in der Darstellung der Autonomie eines einzelnen Objekts, das sinngemäß für das mündiggewordene Subjekt steht. Für diese zweite und Kantische Perspektive ist wichtig, dass der Mensch der Natur distanziert und isoliert gegenübertritt. Er muss sich von ihr entfernen, ihr Chaos beherrschen. Die Natur bietet in solcher Sicht keinen erstrebenswerten Fluchtpunkt mehr, sondern gerät zu einem vorvernünftigen Zustand, vor dem es sich zu schützen gilt. Zwar nicht im dezidierten Fokus auf die Romantik, aber dennoch glasklar auf die oben beschriebene Ambivalenz der Befreiungsbewegungen der Architektur gerichtet, trifft hier Richard Sennetts Überlegung zu: „Nur wenn der Künstler einen kalten Raum schafft, kann er in reiner, ruhender Form einen Gegensatz zur Verworfenheit der Welt herstellen. Kalter Rückzug zeugt von der Willenskraft des Künstlers, von seiner Weigerung, sich zum Opfer der Natur oder zum Diener mächtiger Interessen der Gesellschaft zu machen.“61

Architektur hatte sich zunächst vom Joch der Nachahmung im Platonischen Sinne (in jener konnte sie nur zum degenerierten Nachahmer ewiger Wahrheiten werden) zu lösen und im Folgenden den Zumutungen der zweckgesättigten wie kollektivistischen Erfordernisse für Kirche, Staatswesen oder Einzelbauherren zu entziehen. Tragisch ist diese Emanzipation der Architektur deshalb, weil damit auch der stringente Weg in die Dysbalance verbunden ist. Ihre gewählte Alternative – sprich die Isolierung ihrer Gestaltungen – führt zur Selbststerilisierung der Baukunst: einerseits bereits im Entwurf und andererseits umso deutlicher im realisierten Bau.62 Durch eine falsch verstandene Naturskepsis schneidet sie sich gleichzeitig vom Kunstgeschehen ab, denn sie verliert die Welt und degeneriert vom Kunst-Werk zum bindungslosen, eben kalten Artefakt. Wie im ersten Kapitel anhand von Boullée und Goethe beschrieben, lässt sich im Zeitalter der Aufklärung auch ein veränderter Umgang mit der Natur und zugehörig eine neue Sichtweise auf die ‚Nachahmung ohne Werkmeister‘ erkennen. Tradierte Bewertungsmaßstäbe gehen verloren und die Betrachtung der Archi61 Ebd., S. 170 f. 62 Richard Sennett bringt hier als Beispiel das „Farnsworth House“ von Ludwig Mies van der Rohe. Mit voll verglasten Fassaden und auf Stelzen stehend, kapselt es sich von der umgebenden Natur ab und gerät auch im Inneren zu einer Art distanzierten Vitrine, die sich den Nutzungen der Bewohner verweigert.

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tektur erzeugt eine gewisse Art von Spannung, Rätselhaftigkeit, Geheimnis, Unbehagen und vielleicht auch eine Form von Erschrecken. Genau diese Attribute sind es aber, die gemeinhin der Erhabenheit zugeschrieben werden. EtienneLouis Boullée galt als ein Mann, der diese Empfindungen in Architektur umsetzte und sich dabei mit schierer Größe, Mächtigkeit sowie Licht- bzw. Schattenwirkungen befasste. Zur Bedeutung der sogenannten „Architektur der Schatten“ schrieb er: „[…] und schließlich formt man durch Verwendung lichtabsorbierenden Materials das dunkle Bild einer Architektur der Schatten, deren Umrisse durch noch schwärzere Schatten hervorgehoben werden. Diese aus Schatten geformte Architektur ist eine Entdeckung in der Kunst, die von mir gemacht wurde.“63

Auch Antony Vilder widmet in seinem Buch unHEIMlich. Über das Unbehagen in der modernen Architektur der Dunkelheit einen Abschnitt. Er bezieht sich dabei ebenfalls auf Boullée und die Zeit der Aufklärung. Zunächst stellt er heraus, dass die erhabene Faszination des Schattens bzw. der Dunkelheit im Widerspruch steht zu dem damals angestrebten Ideal der Klarheit, Transparenz und Beherrschbarkeit des Lebens durch die Rationalität (betrachtet man die englische Bezeichnung der Epoche ‚The Age of Enlightment’, wird die Frontstellung von Licht und Dunkelheit noch deutlicher). Boullée wird als der Architekt angesehen, der Edmund Burkes Abhandlung (siehe Folgeabschnitt) über die Erhabenheit in seinen Entwürfen und Schriften umsetzt. In Bezug auf die Schattenarchitektur streicht Vilder als besondere Leistung heraus, dass Boullée seine traditionell anthropomorphe Haltung, die auf eine Architektur im menschlichen Maßstab zielt, quasi umpolt und das Ende des Menschen zum Grund der baulichen Erscheinung macht.64 Der Schatten nimmt das Verschwinden des Körpers vor63 Boullée, Etienne-Louis: Architektur, S. 70. 64 Vgl. hierzu: Köppler, Jörn: Sinn und Krise moderner Architektur. Zeitgenössisches Bauen zwischen Schönheitserfahrung und Rationalitätsglauben, Bielefeld: transcript, 2010. Der Autor betont ebenfalls die Schattenarchitektur von Boullée und sieht sie als eine Symbolisierung, die das subjektiv-gestalthafte eines Bauwerks aufzulösen vermag. Diese negative Verkörperung des Erhabenen wird jedoch ergänzt durch eine positive Variation. Am Beispiel des Newton-Kenotaphs wird geschildert, wie Boullée versucht, die Erkenntnisfähigkeit des Subjekts, also seine Autonomie und Distanz zur Natur, zu thematisieren. Dieses Motiv spielt sich vor allem im Innenraum ab, den der Besucher über einen niedrigen und engen Zugangstunnel erreicht: „Der bei diesem Auftauchen sichtbar werdende, aus der Wölbung der Sphäre herunterleuchtende Sternenhimmel, als ein in diese Sphäre gebohrtes Nachbild der Natur, löst nun den Ge-

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weg und zeigt seinen Tod. Die Entwürfe zu einer Tempelfassade werden auf diese Weise zu einem „Monument des Todes, das ein doppeldeutiges Moment irgendwo zwischen Leben und Tod oder eher einen Schatten der lebendigen Toten darstellt.“65 Und wiederum zeigt sich in der Übertragung der Erhabenheit auf die Architektur im Thema des Schattens das Motiv einer Anti-Architektur, die zu sich selbst gelangt, indem sie sich überwindet und so zu einer Kunst wird, die auf das Unbedingte im Schellingschen Sinne (s.o.) weist. Der Schatten gehört als immaterielle Ebene zum Material. Ohne dieses gibt es ihn nicht. In der Welt ist er, wie das ihn bedingende Objekt, in ständiger Bewegung und damit in der Zeit bzw. Zeitlichkeit. Der Schatten egalisiert, denn wenn ein zweiter über einen ersten gelegt wird, verschmelzen beide im Dunkel ohne Hierarchie. Er ist eine eindimensionale Form ohne Inhalt, besteht nur aus der Kontur und leiht sich scheinbar eine weitere Dimensionalität, indem er sich auf Oberflächen legt, die andere sind als die, von denen er stammt. Um zu existieren, braucht er also mehrere Objekte. Obwohl er selber eindimensional ist, lässt sich ohne Schatten keine Plastizität ausmachen. Die dreidimensionale Welt braucht ihren eindimensionalen Gegenpart und zwar in genau richtiger Intensität, denn ein Zuviel führt genauso zum Verlust der Plastizität und Räumlichkeit wie ein Zuwenig. Die Boulléesche Schattenarchitektur wirkt als Wegmarke zu einem Unbedingten und dessen Wahrnehmungen werden begleitet von den Gefühlen der Unsicherheit bzw. Unheimlichkeit:

danken der architektonischen In-Werksetzung der Natur […] so einfach wie poetisch ein.“ (S. 79) 65 Vilder, Antony: unHEIMlich. Über das Unbehagen in der modernen Architektur, Hamburg: Lukas & Sternberg, 2001 [engl. 1992], S. 217. Mit Bezug auf Siegmund Freuds ‚Todestrieb‘ und Michel Foucaults Text Überwachen und Strafen wirft Vilder ein Schlaglicht auf Boullées Schattenarchitektur. Foucault ist mit seiner Verbindung von Machtausübung mittels visueller Kontrolle und Transparenz (etwa im Gefängnis oder im Krankenhaus) immer noch gebunden an die Dialektik von hell und dunkel, d.h. Macht kann nur ausgeübt werden, wenn es hell ist, wenn geblickt werden kann: „die räumliche Dimension erscheint hier als ein universaler Fluss, der politische und architektonische bzw. monumentale Momente in sich vereint.“ (S. 219) Bei Boullée hingegen steht das Räumliche dem Monumentalen entgegen, das durch die negative Körperprojektion absorbiert wird: „Hier lösen sich die körperliche Stofflichkeit des traditionellen Monuments und die fühlbare räumliche Identität der regelnden Institution in einen Spiegel der Projektion eines verschwindenden Objekts auf. Raum wirkt damit wie ein Instrument zur Monumentenauflösung.“ (S. 220)

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„Wir haben beobachtet, dass während des Winters das Licht traurig und düster wirkte, dass die Gegenstände ihren Glanz und ihre Farben verloren hatten, dass die Formen hart und eckig geworden waren und dass die kahle Erde wie ein großes Grab erschien. Aus diesen Beobachtungen folgt, dass man zur Schaffung trauriger und düsterer Bilder, wie ich es in meinen Grabmäler versuchte, durch eine vollkommen kahle Mauer das Skelett der Architektur zeigen muss.“66

Wie oben erwähnt, thematisiert Boullée noch eine zweite Variation auf die architektonische Erhabenheit. Er richtet im Text Architektur. Abhandlung über die Kunst im Abschnitt „Typus III (Basiliken)“ sein Augenmerk auf Größe und Übermächtigkeit und liegt hier wiederum eng an seinem Zeitgenossen Edmund Burke.67 Zunächst wird festgestellt, dass Tempel die Aufgabe haben, Größe, Unerreichbarkeit und Würde darzustellen. Sie sind Symbole Gottes und müssen „das Eindrucksvollste zum größten Bild unter allen existierenden Dingen vermitteln.“68 Ein entsprechendes Bauwerk, das so umfassend wie ein Universum erscheint, vermisste Boullée zu seiner Zeit allerdings, zumal dafür nicht nur die räumliche Ausdehnung entscheidend ist, sondern auch die Wirkung, die es imaginär ins Unendliche expandieren lässt: „Das Bild des Großen hat eine solche Macht über unsere Sinne, dass sogar die Vorstellung, es sei schrecklich, in uns noch ein Gefühl von Bewunderung hervorruft […]. Groß erscheinen, in welcher Weise auch immer, heißt auf Überdurchschnittliches hinweisen.“69 Die Erfahrung von Unendlichkeit ist mit der von Größe verbunden. So kann ein einzelner Mensch auf hoher See oder in einem Ballon in der Luft (die Gebrüder Montgolfier stiegen 1784 erstmals im französischen Versailles in die Lüfte) außer Reichweite kommen und die üblichen, erdgebundenen Referenzen verlieren. Über die Größe erst erhält der Mensch den Maßstab und wird davor geschützt, in der Unendlichkeit quasi zu versinken. Als praktisches Beispiel nennt Boullée hier Säulenreihen oder Kolonnaden. Sie könnten durch einen perspektivischen Sog den Eindruck von Lebendigkeit und fassbarer Unfassbarkeit erzeugen, da bereits die bloße Ahnung bzw. Erwartung der Fortsetzung eines Motivs den bestehenden, realen Baukörper sprengen kann. Interessant ist an dieser Stelle, wie 66 Boullée, Etienne-Louis: Architektur. Abhandlung über die Kunst, S. 69 f. 67 Ebd., S. 21 ff. Wyss betont, dass Boullée mit seinem Werk auf der Höhe der damaligen ästhetischen Diskussionen war und gibt als Referenzschriften die Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen von Edmund Burke und die Kritik der Urteilskraft von Immanuel Kant an, wenngleich er keine direkte Lektüren Boullées nachweist. 68 Ebd., S. 72. 69 Ebd., S. 75.

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Boullée eine Kritik an der Ausrichtung der Architektur an technischen Zwecken übt. Er legt nämlich nahe, dass die Baumeister der Vergangenheit das Motiv der Kolonnaden (die schlank dimensioniert, aber dafür zahlreich sind) nicht verwenden konnten, weil diese nicht in der Lage gewesen wären, die Lasten der Gewölbe zu tragen. Demzufolge kann erst die Entkoppelung von Konstruktion und ästhetischen Erfordernissen (hier nach überwältigender Größe) die Lösung bringen. Besondere Aufmerksamkeit erhalten in den Boulléeschen Versuchen über eine erhabene Architektur außerdem noch die Lichtführung im Gebäude sowie die damit in Zusammenhang stehenden Kuppeln. Alle Motive sieht er jedoch als Integrationswerk von Mensch und Welt, Kunst und Natur: „dank dieser Gaben der Natur kann ich die Kunst zu Erhabenheit führen“.70 In der Folge werden Engführungen einer Ästhetik der Erhabenheit unternommen. In der Zusammenschau der Ansätze Burkes, Kants, Schillers, Adornos und Lyotards sollen die Bedeutung und die Qualität bzw. Wirkmächtigkeit der Erhabenheit deutlich gemacht und deren Bezüge zum Ereignis aufgedeckt werden. Vor allem die Verbindungen zur unmöglichen Möglichkeit, zur Wirklichkeit und zum Unbestimmten sollen dabei die anfangs genannte Befreiungsbewegung der Kunst und auch die der Architektur bis in die jüngere Vergangenheit verdeutlichen. In einem abschließenden Unterabschnitt wird die Wirkung der Erhabenheit im 20. Jahrhundert untersucht und vor allem mit Peter Eisenman auf die Architektur übertragen. 2.1.1.

Zur Ungleichheit von Schönheit und Proportion bei E. Burke

Der Vorwurf des ‚bloßen Sensualismus‘ wurde Edmund Burke oft gemacht.71 Er speist sich aus dem gedanklichen Erbe Platons, das im Dialog Timaios anschaulich wird:

70 Ebd., S. 84. 71 Vgl. hierzu die Einleitung zu Edmund Burkes Ästhetik. In: Burke, Edmund: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unsere Ideen vom Erhabenen und Schönen, hrsg. und neu eingeleitet von Werner Strube, Hamburg: Meiner, 1989: „So ist Burkes Ästhetik nicht nur ein klassischer Text der empiristisch-sensualistischen Ästhetik, sondern auch ein klassischer Fall eines von Seiten der spekulativen deutschen Metaphysik rüde gerügten Stückes angelsächsischer Philosophie.“ (S. 26)

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„Das Eine ist durch vernünftiges Denken vermittelst des Verstandes erfassbar, denn es bleibt immerdar sich selbst gleich, das andere ist nur der (schwankenden) Meinung eben in dieser unvollkommenen Form erfassbar vermittelst der Sinneswahrnehmung ohne Beteiligung des Verstandes, denn es ist in beständigem Werden und Vergehen begriffen ohne je zum Sein zu gelangen.“72

Edmund Burke hat seine Schlüsse direkt aus der unmittelbaren Anschauung des Wirklichen gewonnen. Seine Leistungen bestehen darin, das klassische Erbe hinter sich zu lassen und, noch vor Kant, die Unterscheidung von schön und erhaben klar zu konturieren. Auch zeigt sich in den Texten eine gesteigerte Wertschätzung des Einzelnen, dessen Wahrnehmung im Mittelpunkt steht. In seiner Philosophischen Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen stellt Burke die Verknüpfung von Schönheit mit Zweck, Maß und Proportionen infrage. Er deutet zudem das Prinzip der Nachahmung als eines, das auf die Natur als Unbestimmtheit zielt und sprengt damit die definitorische Hermetik eines kanonisch-harmonischen Kunstwerks. Gezielt werden räumliche, umweltliche, akustische und psychische Situationen untersucht und das eigene Empfinden dabei als Maß genommen. In der Folge spielen die Verbindungen des Erhabenen mit der Unbestimmtheit des Wirklichen eine tragende Rolle, weisen diese doch den Weg in die jeweiligen unmöglichen Möglichkeiten des Erhabenen. „Der wahre Maßstab der Künste ist in jedermanns Gewalt.“73 Mit diesem Satz erklärt sich Burkes Haltung, wonach Kunst in der Verwandtschaft und Nähe zur Wirklichkeit liegt. Ihre Rezeption wird dem Subjekt als ein direktes Erleben ungefiltert zugestanden. So kommt der Leidenschaft eine große Rolle zu, die auch in die Erhabenheit weist: „In diesem Falle ist das Gemüt so ausschließlich von einem Objekt erfüllt, dass es weder irgend einem anderen Zutritt gewähren noch auch in folgerichtiger Weise über jenes, das ihn beschäftigt, räsonieren kann.“74 Der Schrecken, verstanden auch als Staunen, spielt bei den Betrachtungen eine große Rolle und wird als das beherrschende Prinzip des Erhabenen definiert. An verschiedenen umweltlichen Einflüssen (Licht, Klang, Klima etc.) kommt wiederholt das Motiv zur Entfaltung, das Erstaunen oder auch Schrecken auslöst, nämlich die Unbestimmtheit. Z.B. rauben Finsternis bzw. Dunkelheit die Fähigkeit zur klaren, visuellen Identifikation und markieren damit eine Art angstbesetzten Kontrollverlust. Die Dunkelheit grenzt unmittelbar an den menschlichen Körper an, umschließt ihn förmlich und schafft damit eine Enge, 72 Platon: Timaios, 28 St. 73 Burke, Edmund: Philosophische Untersuchung, S. 90. 74 Ebd., S. 91.

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die den Charakter des äußeren Weltverlustes trägt. Dem Menschen wird dadurch die Perspektive erschwert oder sogar geraubt und er verliert die Kontrolle über seine Umgebung. Mit dem Blick in die Weite ist auch ein Zeitpolster verbunden, das ein Reagieren auf das Begegnende ermöglicht. Dieses Polster schmilzt ebenfalls in der Dunkelheit zusammen oder entfällt sogar. Man ist dort direkt mit der Wirkung verbunden und aktiviert andere Sinne, um die gestörte Perspektive zu kompensieren. An die Stelle der äußeren Welt tritt in solchen Situationen die innere. Diese stellt sich als Fantasie und Einbildungskraft dar und regt die Lebendigkeit an. Burke schließt hier seine These an, wonach Klarheit den Dingen bzw. Situationen eine gewisse Unlebendigkeit aufzwingt: „Es war unsere Unwissenheit über die Dinge, die alle unsere Bewunderung verursacht und unsre Leidenschaften vor allem erregt. Wissen und Vertrautheit bewirken, dass die auffallendsten Dinge uns nur wenig affizieren.“75 Daher sind klare Ideen auch immer nur kleine, weil überschaubare und die Unendlichkeit bzw. Unbestimmtheit steht stellvertretend für die große Idee. Diese großen Ideen entfaltet Burke am Beispiel der Religion. Sie brauchen zum Übertritt in die Wirklichkeit den Anschluss an das menschliche Empfinden und die Einbildungskraft. Das zeigt sich im Kirchenbau, der die Erhabenheit als Unendlichkeit und Geheimnis darstellt und hierzu u.a. durch die Größe der Gebäude entsprechende Wirkung erzielt oder auch mit dynamischen Ornamenten permanente Bewegungen simuliert: „…um aber von der göttlichen Macht berührt zu werden, brauchen wir nur die Augen zu öffnen.“76 An Architekturbeispielen werden noch weitere, erhabene Momente konkretisiert. Neben der Größe von Kubaturen, dem Spiel von Finsternis und Helligkeit, der Verwendung von Farben, (plötzlichen) Klängen oder auch tiefen Abgründen kann sich über eine rhythmische Wiederholung von Baugliedern ebenfalls die Ahnung der Unendlichkeit einstellen. Hier wird das Beispiel der Rotunde angeführt, in der weder Anfang noch Ende zu identifizieren sind. Auch die Kolonnade lebt von einer gleichmäßigen Sukzession, die unendlich fortgesetzt werden könnte. Die Unabgeschlossenheit, etwa in Entwurfsstudien, Skizzen oder auch im Rohbau eines Gebäudes, wird von Burke ebenfalls gewürdigt: „Die Einbildungskraft wird nämlich im ersten Fall [der Jugend, des Anfangs, CJG] durch das Versprechen eines noch Hinzukommenden angeregt und bleibt nicht beim gegenwärtigen Objekt der Sinne stehen.“77 Auch wenn sie nicht direkt erwähnt wurde, passt sich in diesen Gedanken die Ruine ein. Der durch sie verkörperte Verfall markiert ebenfalls eine Form von Unvollendetheit bzw. Unerreichbarkeit 75 Ebd., S. 96. 76 Ebd., S. 104. 77 Ebd., S. 114.

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von Vollendung. Nicht das, was hinzukommt wird in diesem Fall relevant, sondern dass, was fehlt. Zusammen mit dem Fehlenden kann sich das Gebäude quasi verzeitlichen und damit in die Lebendigkeit und imaginäre Bewegung geraten. Ein Staunen im Sinne der Erhabenheit entsteht vornehmlich angesichts der Rohheit des Materials. Auf dieses Motiv legt Burke großen Wert, wenn er auf die unermessliche Kraft anspielt, die wie eine unsichtbare Atmosphäre um die Steine des britischen „Stonehenge“ liegt. Er geht in seiner Reflektion noch einen Schritt weiter und verwirft die Idee von Kunst als Planmäßigkeit im Angesicht dieser Steine. Planmäßigkeit ist allerdings über Jahrtausende das Leitmotiv der Architektur gewesen – freilich eines, das sich in der Gewissheit wusste, das kanonisch Richtige zu tun. Hierzu sei noch einmal der antike Baumeister Vitruv in Erinnerung gerufen, der bereits im ersten Kapitel ausführlich behandelt wurde. Seine Auffassung von Schönheit stand stets in Verbindung mit den Themen Proportion und Harmonie. Sie lieh sich ihren Vorbildcharakter aus dem Maß des Menschen78 und den daraus abgeleiteten Verhältnissen des Tempelbaus der griechischen Antike: „Wenn daher die Natur den Körper des Menschen so gebildet hat, dass die Glieder seiner ganzen Gestalt in bestimmten Verhältnissen entsprechen, so scheinen die Alten mit Grund es so festgesetzt zu haben, dass sie auch bei der Ausführung von Bauwerken ein genaues Maßverhältnis der einzelnen Glieder zu der ganzen äußeren Gestalt beobachten.“79

Durch die Entkoppelung von Schönheit und Proportion wird also nichts Geringeres eröffnet als der Weg in eine von solcher tradierten ‚Richtigkeit‘ befreiten Architektur.80 In Burkes Deutung geraten damit tragende Säulen des abendländi78 Vgl. hierzu: Vitruv: De architectura lbri decem: Hier sei zur Verdeutlichung noch einmal an die Vitruvsche Urheberschaft des oftmals Leonardo Da Vinci zugeschriebenen Bildes eines ‚wohlgebildeten Menschen‘ erinnert, der das Maß eines Quadrats und Kreises gleichzeitig ist: „Denn wenn ein Mensch mit ausgespannten Händen und Füßen auf den Rücken gelegt wird und man den Zirkelmittelpunkt in seinen Nabel einsetzt, so werden, wenn man die Kreislinie beschreibt, von den beiden Händen und Füßen Finger und Zehen von der Linie berührt. Ebenso, wie die Figur eines Kreises an dem Körper dargestellt wird, so wird auch die eines Quadrats an ihm gefunden.“ (S. 92) 79 Ebd., S. 92. 80 Vgl. hierzu: Wittkofer, Rudolf: Grundlagen der Architektur im Zeitalter des Humanismus, München: dtv, 1983 [engl. 1949]. Der Autor verbindet die Kritik an den harmonischen Proportionen mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert, als allumfassende Ordnungen und Harmonien sich aufzulösen beginnen.

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schen Schönheitsbegriffs ins Wanken. Hinsichtlich des Anthropozentrismus’ wird die Auffassung bestritten, wonach der Mensch das Maß aller Dinge sei: „Es erscheint mir aber völlig klar, dass die menschliche Gestalt dem Architekten niemals irgendeine seiner Ideen liefert.“81 Weiterhin kritisiert Burke die Mathematik und bestreitet damit ihre tradierte Rolle als Wahrheitsmedium. Sie steht nun für die Hermetik einer sterilen und logischen Welt, in der sie nur einen eng fokussierten Bereich des menschlichen Lebens beschreiben kann. Das nämlich, was aus dem mathematischen Verstand geboren wurde, wird nicht aus der Natur herausgelesen, sondern in sie hineingelegt, um die künstlichen Produkte menschlicher Hervorbringungen in ihrer Nähe verorten und damit in einer umfassenden Weise legitimieren zu können: „Proportion betrifft fast ausschließlich die Angemessenheit, wie dies jede Idee von etwas Geordnetem zu tun scheint, und muss deshalb eher für eine Schöpfung des Verstandes als für eine primäre Ursache angesehen werden, die auf Sinne und Einbildungskraft wirkt.“82

Allerdings festigten sich in jener Zeit auch Fraktionen von Architekten und Autoren in Europa, die nicht von dem alten Denken lassen wollten. Ihr erster Zeuge blieb vor allem Palladio, der musikalische Harmonien in Architektur umgesetzt hatte. Auch in Frankreich und Italien begannen behutsame Absetzbewegungen vom proportionalen Erbe. Am Beispiel von Tommaso Temanza und dessen Standardwerk Vita di Andrea Palladio von 1762 zeigt Wittkofer die ambivalente Haltung: „Damit ist gesagt, dass architektonische Proportionen nicht absolut sein können, relativ sein müssen. Der Schwerpunkt von dem objektiven Wert des Bauwerks zu dem subjektiven Wert im Auge des betrachtenden Individuums ist verschoben. […] trotzdem er [Temanza, CJG] in das Proportions-Problem revolutionäre Faktoren einführt, kommt er doch von überlieferten Begriffen nicht los.“ (S. 118) Die radikalste Zerstörung der kanonischen Zahlenverhältnisse geschah allerdings in England. David Hume, Zeitgenosse Edmund Burkes, steht hierbei mit an erster Stelle, indem er bereits 1739 in A Treatise of Human Nature subjektive Empfindungsvermögen priorisiert und die Relevanz objektiver Logik eingrenzt. Burke allerdings formulierte am schärfsten und klarsten die Abrechnung mit dem traditionellen Erbe: „Unter der Herrschaft einer neuen Weltanschauung wurde der ganze Bau der klassischen Ästhetik systematisch zerstört, und dieser Vorgang änderte entscheidend die Art des Sehens. Proportionen wurden zur Sache des individuellen Empfindens, und in dieser Hinsicht gewann der Architekt volle Freiheit von den Fesseln mathematischer Zahlenverhältnisse.“ (S. 123) 81 Burke, Edmund: Philosophische Untersuchung, S. 137. 82 Ebd., S. 128.

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Gegen eine ganze Bautradition steht also der Satz: „Aber Schönheit ist sicher keine Idee, die mit Messung zusammengehörte; und ebenso wenig hat sie mit Rechnung und Geometrie zu tun.“83 Mit dem Abstreifen der alten Ordnung in den Zeiten der Aufklärung ist auch die Bestimmtheit kultureller Artefakte verloren gegangen und zwar im doppelten Sinne sowohl symbolisch als auch proportional. Gleichzeitig jedoch gerät der Mensch in den Mittelpunkt der Welt. Nur ist es dieses Mal jeder Einzelne mit seiner jeweiligen Perspektive: „Der wahre Maßstab der Künste ist in jedermanns Gewalt.“84 2.1.2.

Zur zaghaften Emanzipation der Erhabenheit bei I. Kant und F. Schiller

Das Erhabene wird bei Immanuel Kant in seinem Text „Analytik des Erhabenen“ als Bestandteil der Kritik der Urteilskraft mit dem Schönen verknüpft, aber mit anderen Attributen versehen. Nur zögerlich scheint es eine autonome bzw. gleichberechtigte Stellung neben der dominanten Schwesterkategorie zu bekommen. Beide Zuschreibungen jedoch zeigen sich über die Erkenntnis im Subjekt: „Das Schöne der Natur betrifft die Form des Gegenstandes, die in der Begrenzung besteht; das Erhabene ist dagegen auch an einem formlosen Gegenstande zu finden, sofern Unbegrenztheit an ihm, oder durch dessen Veranlassung, vorgestellt und doch Totalität derselben hinzu gedacht wird.“85

In gewisser Weise bleibt also die Schönheit auf die Dinge bezogen, während die Erhabenheit diese über sich hinaus wachsen lässt. Kant wird später allerdings behaupten, dass die Schönheit auf den Zweck der Natur hinaus führt, während die Erhabenheit sich nur aus dem subjektiven Inneren schöpft: „Zum Schönen der Natur müssen wir einen Grund außer uns suchen, zum Erhabenen aber bloß in uns und der Denkungsart, die in die Vorstellung der ersteren Erhabenheit hineinbringt.“86 Folgerichtig bringt er auch das Qualitative ins Spiel und stellt es in den Gegensatz zum Quantitativen. Letzteres wirkt reflexiv und wird gespeist über den Schrecken (im Sinne der Hemmung), der nach seinem Abklingen einen

83 Ebd., S. 129. 84 Ebd., S. 90. 85 Kant, Immanuel: Analytik des Erhabenen, in: Kritik der Urteilskraft, S. 165-277, hier S. 165. 86 Ebd., S. 167.

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starken, kurzen Überfluss des Lebensreizes provoziert und gleichermaßen anziehend wie abstoßend wirkt. Diese „negative Lust [ist, CJG] der Form nach […] zweckwidrig für unsere Urteilskraft, unangemessen unserm Darstellungsvermögen, und gleichsam gewalttätig für die Einbildungskraft.“87 Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass Kant die Erhabenheit mit einem Ausbruch aus dem NaturZweck gleichsetzt und auch, dass er seine weitere Analyse in den beiden Feldern ‚mathematisch-erhaben‘ (im Sinne von quantitativ) und dynamisch-erhaben (im Sinne von Schrecken) durchführt. Wenn die Vorstellungskraft nicht ausreicht, um das Gefühl mit dem Begriff zu vereinen, tritt das Erhabene in Kraft. Damit wird klar, dass es für Kant keinen Erkenntnisgewinn hat. Weder an gebauten, noch an Naturdingen, die einen Zweck in sich tragen, kann sich das Erhabene zeigen, sondern nur an der rohen Natur, die auch die Vorstellung der Unendlichkeit möglich macht: „Das Unendliche aber ist schlechthin (nicht bloß komparativ) groß. Mit diesem verglichen ist alles andere (von derselben Art Größen) klein. Aber, was das Vornehmste ist, es als ein Ganzes auch nur denken zu können, zeigt ein Vermögen des Gemüts an, welches allen Maßstab der Sinne übertrifft.“88

Um das Undenkbare empfinden zu können, ist also die Erhabenheit grundlegend.89 Sie markiert damit ein Milieu, das im Menschen selbst gebunden bleibt: „Man sieht hieraus auch, dass die wahre Erhabenheit nur im Gemüte des Urteilenden, nicht in dem Naturobjekte, dessen Beurteilung diese Stimmung desselben veranlasst, müsse gesucht werden.“90 Sie steht damit im Gegensatz zu Sammlung, Kontemplation und Ruhe, die die Schönheit charakterisieren und dekodiert das Bewegte in der Natur, das sich auch als machtvoll bzw. ‚dynamischerhaben‘ darstellt: „Kühne überhangende gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlose Ozean, in Empö87 Ebd., S. 166. 88 Ebd., S. 177. 89 Vgl. hierzu den Artikel „Erhaben, das Erhabene“. Darin wird darauf hingewiesen, dass „das Übersinnliche, das sich nach Kant unter den geistig-wissenschaftlichen Bedingungen seiner Zeit der theoretischen, sowohl metaphysischen als auch naturwissenschaftlichen Erkenntnis entzieht, in der Idee der Erhabenheit in bewusst eingesetzter Unbestimmtheit präsent gehalten werden kann.“ (S. 628) 90 Kant, Immanuel: Analytik des Erhabenen, S. 179.

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rung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u.d.gl. machen unser Vermögen zu widerstehen in Vergleichung mit ihrer Macht, zur unbedeutenden Kleinigkeit.“91

In diesen Worten wird auch Faszination deutlich, dennoch fährt Kant weiter damit fort, die Erhabenheit konstruktivistisch aufzufassen und ausschließlich im Innenleben des Subjekts abzuhandeln. Er geht sogar soweit, eine Art Triumph über die Natur mit ihr zu verbinden: „Also ist die Erhabenheit in keinem Dinge der Natur, sondern nur in unserm Gemüte enthalten, sofern wir der Natur in uns, und dadurch auch der Natur (sofern sie auf uns einfließt) außer uns, überlegen zu sein uns bewusst werden können. Alles, was dieses Gefühl in uns erregt, wozu die Macht der Natur gehört, welche unsere Kräfte auffordert, heißt alsdenn (obzwar uneigentlich) erhaben […].“92

An diese konstruktivistische Reduktion der Erhabenheit knüpfen kritisch auch Hartmut und Gernot Böhme in ihrem Buch Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants an. Sie verbinden die Theoriebildung jener Zeit mit dem Motiv des Aufbruchs in die unwirtlichen Zonen der Erde und auch mit den neuen Blicken ins Weltall. Die Menschen stehen dem Unendlichen und Unbekannten gegenüber und schöpfen ihr Selbstbewusstsein daraus, nicht darin unterzugehen: „Es sind die Räume der Angst, in denen der Mensch nicht zu Hause und nicht Herr ist und wo gleichwohl – und das ist die Geste der neuen Erhabenheit – er die Zeichen seiner Selbstbehauptung und Herrschaft setzt.“93 Die beiden Autoren betrachten Kants Gedanken zur Erhabenheit als „narzißtisch verpanzerte Autarkie“94 und deuten sie als einen Versuch, in einem „Akt kontraphobischer Selbstbehauptung“95 die Machtlosigkeit gegenüber der Natur in innerer Teilhabe am Übersinnlichen zu kompensieren. In dieser Selbstermächtigung werden die Dynamiken der Erhabenheit entschärft und mit ihr auch die unmöglichen Möglichkeiten, die in den Gegenständen der Natur selbst liegen. Die Erscheinungen werden nicht mehr angenommen, vielmehr geschieht ein permanentes Filtern derselben in einer kontrollierbaren Sphäre der Rationalität: „Erhabenheit belohnt das solipsistisch abgesperrte Subjekt der Erkenntnis und Moral mit der Selbstattributierung einer Unendlichkeit, die es

91 Ebd., S. 185 f. 92 Ebd., S. 189. 93 Böhme, Hartmut u. Böhme, Gernot: Das Andere der Vernunft, S. 216. 94 Ebd., S. 220. 95 Ebd., S. 222.

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qualitativ aus der Kontingenz der Dinge und der Hinfälligkeit des Leibes hebt.“96 Aber genau diese Überführung des Begegnenden in die Begrenztheiten eines kontrollierbaren Milieus öffnet den Weg in die Dysbalance von Kunst und auch von Architektur, die sich ihrer unmöglichen Möglichkeiten selbst berauben. Was uns die Erhabenheit lehren kann, ist die Wichtigkeit des Noch-Nicht oder die Unbestimmtheit des Umgebenden. Auf diesen Punkt weist Dieter Mersch in seinem Buch Ereignis und Aura hin: „Es [das Erhabene, CJG] rührt somit ins Andere, dem weder ein Blick noch eine Vorstellung verstattet ist.“97 Mersch betont, dass die Erhabenheit auf das Unerreichbare hindeutet und die ‚Blöße einer Präsenz‘ aufzuzeigen vermag. Damit ist auch der Anfang allen Denkens, das Verwundern, verbunden. Bedeutsam ist, dass sich in der weiteren Entwicklung der Ästhetik das Denken über die Erhabenheit von der Natur auf die Kunst übertrug. Ein wichtiger Zeuge in diesem Zusammenhang ist Friedrich Nietzsche. Er lässt sie nämlich fortan am Quell des unerschöpflichen Anderen teilhaben und ihre Gestalten daran bilden. In diesen Übergang eingebunden ist auch die Abstandnahme vom Herrschaftsanspruch, den die Gebrüder Böhme herausgearbeitet hatten. Die Kunst macht „die Illusionen von Identität und Selbstbewusstsein“98 deutlich. Eine Multiperspektivität im Erhabenen überführt in das, was im Kunstwerk am Werk ist, was es zu einem solchen werden lässt. (Metaphysisch definierte) Möglichkeit und Wirklichkeit fallen in Eins und entziehen sich der Verspannung in Nachahmungskonstrukte: „Nirgends wird also Göttliches zur Darstellung gebracht, vielmehr kommt dieses selbst zur Erscheinung.“99 Mersch entfaltet an diesem Punkt erneut seine Linie einer Ästhetik, die zwischen den Polen Kallistik und Rhetorik oszilliert. Diese Pole tragen im Laufe der Entwicklung auch andere Namen wie beispielsweise Ethos – Pathos, Apollon – Dionysos, Harmonie – Ereignis, Klassik – Romantik. Seine Interpretation der Erhabenheit zielt darauf, dass diese eine Erfahrung markiert, die die Begegnung mit dem Ungeheuren und Auratischen der Präsenz möglich macht. Dass sich überhaupt Etwas ereignen kann, erscheint im Gefühl der Erhabenheit. Hier wird die These der Gebrüder Böhme hinsichtlich einer ‚narzisstischen Verpanzerung’ (s.o.) noch einmal aufgegriffen und am Leitfaden von Jean-Francois Lyotard ins Positive gewendet. Mersch zufolge steht den Kontrollversuchen des Subjekts und seiner Sprechfähigkeit nämlich das Andere entgegen, von dem her Etwas an-kommt und aus dem der wahr-nehmende Mensch überhaupt erst schöpfen kann:

96 Ebd., S. 224. 97 Mersch, Dieter: Ereignis und Aura, S. 133. 98 Ebd., S. 136. 99 Ebd., S. 137.

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„Wir haben es also nicht mit einem Mangel zu tun, einem grundlegenden Scheitern, das die Sprache oder das künstlerische Werk ereilt, sondern mit einem nicht zu tilgenden Überschuss, einer fortwährenden Unruhe, die die Texte und Theorien unablässig vereiteln und verwirren.“100

Auf diese Weise gerät auch der Zufall in der Kunst in die Deutlichkeit. Das Werk erscheint, indem es dem Wahrnehmenden ‚zu-fällt‘. Weder Sinnkonstrukte oder Nachahmungsprozeduren sind hierzu vonnöten. Kunst ist an den Menschen gebunden, weist aber gleichzeitig über ihn hinaus und unterliegt keinem seiner Kalküle. Sie wird förmlich empfangen. Die Erhabenheit markiert damit den Ausgang aus einem zweckgesättigten Hervorbringen von Artefakten.101 100 Ebd., S. 140. 101 Hier entfalten sich freilich auch die Positionen derjenigen, die diese Bedeutung für überzogen halten und die Erhabenheit nur im Status eines Appendix der Schönheit sehen oder in Form eines überbewerteten Enthusiasmus. Vgl. hierzu den Artikel „Erhaben, das Erhabene“, S. 625 ff: In der Philosophie wird in der Folge Kants wiederholt Kritik an einer autonomen Stellung des Erhabenen als ästhetische Kategorie geübt und die erhabene Empfindung vor allem quantitativ gedeutet und z.B. die These vertreten, dass das Erhabene nicht vom Schönen zu trennen sei. Vgl. hierzu auch: Figal, Günter: Erscheinungsdinge, Tübingen: Mohr Siebeck, 2010. Der Autor wird hier stellvertretend für die o.g. Position genannt. Am Denken Gadamers, Adornos und Lyotards markiert er den Verlust der Identität des Werks und den mit diesem einhergehenden Wegfall formalistischer Bestimmungen der Kunst. Diese muss sich in der Moderne selbst genügen, verweigert ihre tradierten Bewertungskategorien, will mitreißen bzw. überwältigen und kommt daher in die Nähe der Erhabenheit. Aus diesen Sachverhalten zieht Figal jedoch andere Schlüsse und sieht in der Trennung von der Schönheit ein Missverständnis. Der Schönheitsbegriff umfasse nämlich ebenfalls das Disparate, Böse, Schlechte, Gescheiterte: „[…] »schön« ist die Kunst nicht, indem sie ein »versöhntes« Leben vorspiegelt; schön ist sie in ihren Werken, die sich keinem Thema verweigern müssen.“ (S. 47) Bezogen auf die Ungegenständlichkeit abstrakter Kunst wird betont, dass diese die hermeneutische Reflektion fördert und damit die „Möglichkeit einer Erfahrungswende“ (S. 48) birgt. Der Autor sieht also keine ‚Bedrohung‘ des Schönen durch das Erhabene, sondern billigt Letzterem bestenfalls enthusiastisches Potenzial zu oder will es (wie Kant) nur auf die Natur bezogen wissen und nicht auf die Kunst. Vielmehr strebt er die Synthetisierung der Unterschiede an und will den Begriff der Schönheit weiter fassen: „Die Entgegensetzung von moderner und traditioneller Kunst […] wird unwirksam. Gemeinsamkeiten, Verbindungslinien, die unter dem Vorzeichen forcierter Modernität unerkennbar blieben, treten hervor.“ (S. 49)

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Friedrich Schiller arbeitete ebenfalls die Besonderheit des Erhabenen heraus – freilich in der ihm eigenen Körperskepsis und Fokussierung auf das Geistige bzw. Ideelle.102 Er schildert seine Vorstellung des Begriffs in deutlicher Nähe zu Kant: „Erhaben nennen wir ein Objekt, bei dessen Vorstellung unsere sinnliche Natur ihre Schranken, unsere vernünftige Natur aber ihre Überlegenheit, ihre Freiheit von Schranken fühlt; gegen das wir physisch den kürzeren ziehen, über welches wir uns aber moralisch, d.i. durch Ideen erheben. Nur als Sinnenwesen sind wir abhängig, als Vernunftwesen sind wir frei.“103

Schiller denkt die Freiheit rein intelligibel und verwendet die Erhabenheit dabei als Kontrastfolie. Frei ist der Mensch in seinen Augen nur im Reich der (metaphysischen) Möglichkeiten. Die Wirklichkeit wird als nachgeordnet angesehen, wenngleich die Möglichkeit nicht völlig unabhängig von ihr sein kann. Der Formtrieb (im Sinne von Rationalität und Vernunft) steht im Gegensatz zum Sinnentrieb (Natürlichkeit und Gefühl) und findet seine Bedeutung darin, dass Menschen sich mehr denken können, als sie erkennen und auch, dass sie durch ihren Willen der Begierde zu widersprechen in der Lage sind. Schiller verdeutlicht das am Selbsterhaltungstrieb, der die Menschen an ihre Naturgebundenheit fesselt. Aus diesem wiederum entwickelt sich die Furcht gegen die Bedrohung der eigenen Existenz durch andere Gegenstände der Natur. Hier scheint das Motiv der Angst auf und brückt in die Erhabenheit, hier praktische Erhabenheit genannt. Im Gegensatz dazu steht das theoretische Erhabene, das keine existenzbedrohende Eigenschaft hat: „Theoretischerhaben ist ein Gegenstand, insofern er die Vorstellung der Unendlichkeit mit sich führet, deren Darstellung sich die Einbildungskraft nicht gewachsen fühlt.“104 In beiden Variationen widerspricht

102 Vgl. hierzu: Schiller, Friedrich: Vom Erhabenen, in: Ders.: Über das Schöne und die Kunst. Schriften zur Ästhetik, textidentisch mit: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke in fünf Bänden, auf Grund der Originaldrucke herausgegeben von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. V, 5. durchges. Aufl., München: Carl Hanser, 1975, München: dtv klassik, 1984, S. 93-115, hier S. 105: „[…] bloß darin muss unsere Freiheit bestehen, dass wir unsern physischen Zustand, der durch die Natur bestimmt werden kann, gar nicht zu unserem Selbst rechnen, sondern als etwas Auswärtiges und Fremdes betrachten, was auf unsere moralische Person keinen Einfluss hat.“ 103 Ebd., S. 93. 104 Ebd., S. 96.

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das Erhabene also dem Form- wie Sinnentrieb. Dennoch gefällt es auch – allerdings nur aus der Distanz angeschaut: „Ein Schauer ergreift uns, ein Gefühl der Bangigkeit regt sich, unsre Sinnlichkeit wird empört. Und ohne diesen Anfang des wirklichen Leidens, ohne diesen ernstlichen Angriff auf unsere Existenz würden wir bloß mit dem Gegenstande spielen; und es muss Ernst sein, wenigstens in der Empfindung, wenn die Vernunft zur Idee ihrer Freiheit ihre Zuflucht nehmen soll.“105

In der weiteren Auseinandersetzung mit der Furcht schneidet Schiller ein wichtiges Thema für die Architektur an. Wenn diese nämlich der Erhabenheit widerstehen soll, so muss sie primär Sicherheit darstellen. Sie wirkt dann beruhigend und hat als Ziel die Furchtlosigkeit. Unsicher, gefährlich oder unheimlich hingegen zeigt die Architektur ihre erhabene Potenzialität und steuert die unmögliche Möglichkeit an, freilich auch die äußerste, nämlich die Bedrohung bzw. das Ende der eigenen Existenz. Eine solche Architektur wäre im Schillerschen Sinne un-vernünftig, jedoch sinnlich und spielerisch (siehe hierzu auch Kapitel 3). In der Folge wird noch das Kontemplativerhabene vom Pathetischerhabenen geschieden, wobei hier nur Ersteres betrachtet werden wird. In der zugehörigen Vorüberlegung differenziert Schiller drei Zustände, die im Subjekt zusammenkommen müssen, damit eine Sache oder ein Sachverhalt erhaben wirken können: 1. eine objektiv physische Macht, 2. eine subjektiv physische Ohnmacht und 3. eine subjektiv moralische Übermacht. Das Kontemplativerhabene spielt sich primär in der Fantasie ab und damit fallen zwei von drei Faktoren weg: die physische Ohnmacht und moralische Übermacht: „Aber die Vorstellung der Gefahr [Vulkane, Lawinen, Stürme etc., CJG] hat hier doch einen realen Grund, und es bedarf bloß der einfachen Operation: die Existenz dieser Dinge mit unserer physischen Existenz in eine Vorstellung zu verknüpfen, so ist das Furchtbare da. Die Phantasie braucht aus ihrem eigenen Mittel nichts hineinzulegen, sondern sie hält sich nur an das, was gegeben ist.“106

Das Kontemplativerhabene gleicht also einem Sturm im Wasserglas oder einer Erinnerungskonserve, die nach ihrem Öffnen Assoziationen freisetzt und je nach Belieben auch wieder verschlossen und ins Gedankenarchiv zurückgestellt werden kann. Ihr auslösendes Vermögen jedoch, die Phantasie, verhält sich nicht so handlich. Sie ist es, die auch objektiv machtlosen Erscheinungen oder Sachver105 Ebd., S. 101. 106 Ebd., S. 108.

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halten in den Rang des Erhabenen zu verhelfen vermag. Schiller spielt hier auf das Unbestimmte oder Außerordentliche an. Sind dies Attribute, die das Subjekt mit einem Begegnenden verbindet, verfällt es in eine von Kindesbeinen an gelernte Abwehrreaktion: „Man findet den Menschen früher bewaffnet als bekleidet, und sein erster Griff ist an das Schwert, wenn er einem Fremdling begegnet.“107 Ein „Reich der Möglichkeiten“108 entsteht mit der Unbestimmtheit bzw. wird durch die Phantasie erschlossen. Diese attackiert förmlich den Selbsterhaltungstrieb und das scheint dazu zu führen, im Unbekannten primär Schreckliches zu vermuten.109 Die Phantasie ist aber auch eine enge Verwandte des Spiels. Diesem kommt bei Schiller eine große Bedeutung zu. Als eine Art Selbsterläuterung der Kantischen Transzendentalphilosophie legt er die Gedanken dazu in „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“ nieder und führt einen doppelten Befreiungsschlag aus, nämlich zunächst den von der Natur, die den Menschen in seine sinnlichen Triebe (Sinntrieb) verspannt und zusätzlich auch von den rationalen Verstrickungen der Vernunft, die ihn zur Einnahme von Formen (Formtrieb) zwingen (12. Brief). Für Schiller ist der Mensch in einer aktiven Gestaltung des Wechselverhältnisses zwischen den beiden Trieben frei: „Dass er dieser Idee wirklich gemäß, folglich, in voller Bedeutung des Worts, Mensch ist, kann er nie in Erfahrung bringen, solange er nur einen dieser beiden Triebe ausschließend oder nur einen nach dem anderen befriedigt; denn solange er nur empfindet, bleibt ihm seine Person oder seine absolute Existenz, und, solange er nur denkt, bleibt ihm seine Existenz in der Zeit oder sein Zustand Geheimnis.“110

Wenn der Mensch sich seiner Gefühle und auch seines Verstandes gleichzeitig versichert, also seinen Sinnen- mit dem Formtrieb quasi kurzschließt, zeigt sich im Oszillieren zwischen Veränderung und Beharrung ein dritter Trieb, nämlich der zum Spiel (14. Brief). In diesem lässt sich in einer hervorbringenden Handlung „Veränderung mit Identität vereinbaren“111. Im Kunstgeschehen wirkt die107 Ebd., S. 109. 108 Ebd., S. 110. 109 Über die Brücken, die die Phantasie zu bauen weiß, wusste nicht nur Schiller zu gehen. Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud exemplifizierten dieses romantische Erbe unter den Schlagworten des Unbewussten und des Traumes. 110 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Ders.: Über das Schöne und die Kunst, S. 139-309, hier S. 177. 111 Ebd., S. 178.

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ses Spiel. Es ist das Symbol für die bereits beschriebene Freiheit und markiert damit auch die Kunst als unmögliche Möglichkeit – freilich eine, die eher einem Schlachtfeld gleicht, auf dem die „furchtbare“ Natur gegen das „heilige Reich des Geistes“ ankämpft (27. Brief). „Das Neue und Überraschende, das Bunte, Abenteuerliche und Bizarre, das Heftige und Wilde […] [mit, CJG] grotesken Gestalten, raschen Übergängen, üppigen Formen, grellen Kontrasten, schreienden Lichtern, pathetischem Gesang“112 der Sinne bringt sich nämlich in Stellung gegen den gesetzgebenden Geist, der diese in eine unveränderliche ewige Einheit zu unterwerfen versucht: „Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten, fröhlichen Reiche des Spiels und es Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet.“113

Schiller überwindet mit der Formulierung „die Fesseln aller Verhältnisse“ sowohl die Natur als auch die Rationalität, also die beiden transzendentalen Pole. Gelingt es ihm auf diese Weise, in einen vorintentionalen Zustand zu gelangen? Schafft er tatsächlich den Schritt „ins Reich der Möglichkeiten“114 oder bleiben nicht vielmehr alle Ergebnisse des Spiels und damit auch die Artefakte einer Kunstproduktion an den Formtrieb gekoppelt, aus dessen Gewalt der Mensch sich im Spiel kurzzeitig befreien wollte? Ist es also schließlich der Formtrieb, der die Tyrannei des Zwecks über die Kunst (vor allem die Baukunst) erbarmungslos ausübt? Hier kann die Befragung des Spiels bei Theodor W. Adorno hilfreich sein, die er mit Bezug auf Schiller in der Ästhetischen Theorie macht. Zunächst scheidet er das Spiel von den Spielformen. Diese stehen „im Dienst restaurativer oder archaischer gesellschaftlicher Tendenzen“115, in denen das Spiel in den Jahrhunderten kultureller Überformung und unter den Prinzipien der Nachahmung in einer Alibifunktion erstarrt: „Das Wiederholungsmoment im Spiel ist das Nachbild unfreier Arbeit, so wie die außerkünstlerisch dominierende Gestalt des Spiels, der Sport, an praktische Verrichtungen ge112 Ebd., S. 225. 113 Ebd., S. 227. 114 Schiller, Friedrich: Vom Erhabenen, S. 110. 115 Adorno, Theodor W.: Paralipomena, in: Ders.: Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd.7, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003, S. 389491, hier S. 469.

118 | B AUKUNST ALS UNMÖGLICHE M ÖGLICHKEIT mahnt und die Funktion erfüllt, Menschen auf die Anforderungen der Praxis, vor allem durch reaktive Umfunktionierung physischer Unlust in sekundäre Lust, unablässig zu gewöhnen, ohne dass sie die Kontrebande von Praxis bemerkten.“116

Durch Spielformen geschieht Einübung und Konditionierung. Damit geraten Spiel wie auch Kunst zum Gegenteil dessen, was Schiller sich vorstellte, nämlich „Veränderung mit Identität [zu, CJG] vereinbaren.“117 Adorno nimmt Schiller also durchaus ernst und mahnt den dritten Trieb zwischen Form und Sinn an. Er will hinaus auf die Matrix des Schöpferischen, die tatsächlich keinen Zweck kennt: „[…] wo Kunst ganz und gar spielt, ist vom Ausdruck nichts übrig. Insgeheim ist Spiel in Komplizität mit dem Schicksal, Repräsentant des mythisch Lastenden […].“118 Hier verbindet es sich auch mit dem Erhabenen. 2.1.3.

Gestaltung heißt Nichtgestalt. Erhabenheit bei T.W. Adorno

Auch über die Reflexion des Spiels hinaus ist Theodor W. Adorno mit seinem Text Ästhetische Theorie ein guter Zeuge, die Rolle der Erhabenheit zu konkretisieren. Er deutet hierzu auch die Schönheitskonzeption Kantischer Prägung radikaler aus. Dieser hatte in der „Analytik des Schönen“ (s.o.) das ästhetische Erkennen der Formen von begrenzten Gegenständen primär auf den Begriff Schönheit reduziert, aber gleichzeitig mit dem interesselosen Wohlgefallen verbunden: „Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen, oder Missfallen, ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.“119 Adorno wiederum sieht darin freilich auch den Abgesang auf das formal und kanonisch Schöne, denn durch dessen Entsubjektivierung im Beurteilungsmodus einer „Lust ohne Lust“120, „wird Wohlgefallen zu einem so Unbestimmten, dass es zu keiner Bestimmung des Schönen mehr taugt […]. Kunstwerke implizieren an sich

116 Ebd., S. 470. 117 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 178. 118 Adorno, Theodor W.: Paralipomena, S. 470. 119 Kant, Immanuel: Analytik des Schönen, in: Ders.: Kritik der Urteilskraft, S. 115164, hier S. 124. 120 Adorno, Theodor W.: Die Kunsttheorie von Kant und Freud, in: Ders.: Ästhetische Theorie, S. 22-26, hier S. 25.

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selbst ein Verhältnis zwischen dem Interesse und der Absage daran.“121 Auch die Erhabenheit übersteigt das Interesse und markiert damit gleichzeitig den Übergang in die Kunst. Erhaben ist nämlich nicht nur der leichte, intelligibeldistanzierte Schauer über dem Rücken, sondern die höchst dramatische, leibliche Gewahrwerdung des Selbst. In der Natur sind Kräfte am Werk, die die Menschen nicht beherrschen können122 und wenn nun auch die Kunst mit dem Erhabenen verbunden wird, so wirkt sie in gleicher Intensität und überschreitet deutlich jede Begrenztheit, die Kant zuvor in Verbindung gebracht hatte mit dem ‚Wohlgefallen ohne alles Interesse‘. Die Erhabenheit lässt sich nicht einhegen in einem harmoniegesättigten Konstrukt. Sie ist nicht kontemplativ, sondern vielmehr stürmisch, exzentrisch und exzessiv. Sie dient als Kontrastfolie für das Maß, denn sie weist selbst auf das Maßlose. Hier sei als Zeuge noch einmal der frühe Nietzsche aufgerufen, der die Maßlosigkeit der Kunst ebenfalls schon mit der der Natur verband: „Vor allem galt es jene Ekelgedanken über das Entsetzliche und das Absurde des Daseins in Vorstellungen umzuwandeln, mit denen sich leben lässt: diese sind das Erhabene als die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das Lächerliche als die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden. Diese beiden mit einander verflochtenen Elemente werden zu einem Kunstwerk vereint, das den Rausch nachahmt, das mit dem Rausche spielt.“123

121 Ebd., S. 22 ff. Vgl. hierzu: Böhme, Hartmut u. Böhme, Gernot: Das Andere der Vernunft, S. 360: „Nichts vermeidet Kant so sorgfältig wie die Berührung des freien Willens mit einem Objekt […]. Der angegebene Grund dafür ist, dass jedes Objekt als Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens wie dieses selbst empirisch ist: die Frage der Moral aber verhält gegen Empirie sich exklusiv. Sie wird entschieden mit dem Rücken zum Gegenstand im Blick allein auf die Reinheit des Wollens. Dass dieses unvermeidlich auf Objekte zielt, wird dadurch verleugnet, dass es nicht um sein was, sondern allein um seine Form gehe.“ 122 Kant, Immanuel: Analytik des Erhabenen, S. 186: „Aber ihr Anblick [der Macht der Natur, CJG] wird nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden; und wir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen, und ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns entdecken lassen, welches uns Mut macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können.“ 123 Nietzsche, Friedrich: Die dionysische Weltanschauung, in: Ders.: Nachgelassene Schriften 1870-1873, KSA, Bd. 1, S. 551-579, hier S. 567.

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Die tradierte Formalisierung der Schönheit in Maß und Zahl hingegen steht diesem Kunstverständnis diametral gegenüber. Sie entspringt dem Willen, auf einen moralischen Endzweck (Tugend oder Bestheit) zuzugehen, der den Menschen beispielsweise über die Prinzipien der Mathematik offen steht. Adorno zufolge ergibt sich aus diesem Vorgehen auch die bequeme Möglichkeit, das Begegnende zu beherrschen: „Die Ästhetik des Wohlgefälligen, einmal der kruden Stofflichkeit ledig, koinzidiert mit mathematischen Verhältnissen im künstlerischen Objekt, deren berühmtestes, in der bildenden Kunst, der goldene Schnitt ist und das seinesgleichen hat in den einfachen Obertonverhältnissen der musikalischen Konsonanz.“124

Die Kunst musste sich derlei Platonischer Prägungen erwehren und ihre Gründe nicht mehr in den ewigen Ideen finden, sondern in der unbestimmten Lebendigkeit des Daseins selbst: „Das Moment am Kunstwerk, durch das es über die Wirklichkeit hinausgeht, ist in der Tat vom Stil nicht abzulösen; doch es besteht nicht in der geleisteten Harmonie, der fragwürdigen Einheit von Form und Inhalt, Innen und Außen, Individuum und Gesellschaft, sondern in jenen Zügen, in denen die Diskrepanz erscheint, im notwendigen Scheitern der leidenschaftlichen Anstrengung zur Identität.“125

Die Auseinandersetzung mit Dynamik und Unbestimmtheit gelang manchen Theoretikern wie auch Künstlern gut und anderen gar nicht. Zu groß war Vielen die Versuchung, sich zurück ins tradierte Maß zu flüchten – ist ein Leben und Wirken darin doch bedeutend einfacher, wenngleich eine Absage an das Lebendige der Wirklichkeit: „Die Affinität aller Schönheit zu ihm [dem Tod, CJG] hat ihren Ort in der Idee der reinen Form, die die Kunst der Mannigfaltigkeit des Lebendigen auferlegt, das in ihr erlischt.“126 Adorno bemüht hier freilich einen Begriff der Kunst, der durch Nachahmung bereits in eine Form der Rationalität übergeht. Schönheit ist also die durch Rationalität gebändigte und mit den Wei124 Adorno, Theodor W.: Zu den Kategorien des Hässlichen, des Schönen und der Technik, in: Ästhetische Theorie, S. 74-97, hier S. 77 f. 125 Adorno, Theodor W.: Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug, in: Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Aufl. 51.-55. Tausend, Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verl., 1998, S. 128177, hier S. 139. 126 Adorno, Theodor W.: Zu den Kategorien des Hässlichen, des Schönen und der Technik, S. 84.

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hen der Nachahmung versehene Restmenge dessen, was ein Kunstgeschehen als Stellvertretung für das Prinzip des Lebendigen schlechthin ahnen lassen könnte: „Versöhnung als Gewalttat, ästhetischer Formalismus und unversöhntes Leben bilden eine Trias.“127 Mit der Emanzipation des Subjekts in der Romantik geht die Neubewertung tradierter Regeln, Werte und Normen einher. Die abgründige Natur als maßloses Anderes, bisher nur geahnt und durch Rationalität gebändigt, will sich ihre Bahn brechen: „Erhebt in den neuen Kunstwerken Grausamkeit unverstellt ihr Haupt, so bekennt sie das Wahre ein, dass vor der Übermacht der Realität Kunst a priori die Transformation des Furchtbaren in die Form nicht mehr sich zutrauen darf.“128 Die Unbegrenztheit im Menschen erhält nun Stimme und Sprache. Adorno sieht eine der großen Leistungen von Immanuel Kant darin, in der Erhabenheit genau dieses sprechfähig gemacht zu haben – und zwar nicht mehr nur auf die Natur bezogen: „Zur Invasion des Erhabenen in die Kunst trug einst der Naturbegriff der Aufklärung bei […]. Die Entfesselung des Elementarischen war eins mit der Emanzipation des Subjekts und damit dem Selbstbewusstsein des Geistes.“129 Erhabenheit gerät damit in die Rolle, einen befreiten Zugang in die Wirklichkeit als Unbestimmtheit und damit Wirklichkeit als unmögliche Möglichkeit zu gewährleisten. Die Natur als „Gegenbild bloßen Daseins“ bewegt nun den Menschen, denn, „mit der Vollendung seiner Souveränität lässt er den Bann von deren Zweck unter sich“.130 Die Erhabenheit ist nicht bestimmbar, sie sprengt das Maß. Diese Entfesselung verdeutlicht ebenfalls den befreiten Status des Subjekts: „Das Gefühl des Erhabenen gilt nicht dem Erscheinenden unmittelbar; die hohen Berge sprechen als Bilder eines vom Fesselnden, Einengenden befreiten Raums und von der möglichen Teilhabe daran, nicht indem sie erdrücken.“131 Es scheint so, dass die Romantiker mit der Erhabenheit den Sprung in ein sich selbst genügendes Seiendes gewagt haben. Eine erhabene Kunst kann – 127 Ebd., S. 78 f. 128 Ebd., S. 81. 129 Adorno, Theodor W.: Das Erhabene in Natur und Kunst, in: Ästhetische Theorie, S. 290-293, hier S. 292. 130 Ebd., S. 293. 131 Adorno, Theodor W.: Erhabenes und Spiel, in: Ders.: Ästhetische Theorie, S. 293296, hier S. 296. Vgl. hierzu: Welsch, Wolfgang: Adornos Ästhetik: eine implizite Ästhetik des Erhabenen; in: Ders.: Ästhetisches Denken, S. 114-157: Der Autor betont, dass der Mensch sich durch die Entfesselung als Naturwesen begreift und durch ein Gefühl der Teilhabe an einem machtvollen Phänomen vom Trieb der Naturbeherrschung erlöst wird. Erhabenheit wird so zur Matrix der Schönheit: „Es durchdringt dessen Bestimmungen bis ins Innerste.“ (S. 122)

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im Gegensatz zu ihrem dem tradiert-konventionellen Maß und Gesetz verpflichteten Vorläufer – Widersprüche in sich aufnehmen. Ja, sie lebt geradezu davon: „Die Aszendenz des Erhabenen ist eins mit der Nötigung der Kunst, die tragenden Widersprüche nicht zu überspielen, sondern sie in sich auszukämpfen; Versöhnung ist ihnen nicht das Resultat des Konflikts; einzig noch, dass er Sprache findet.“132 Wolfgang Welsch macht in seinem Buch Ästhetisches Denken denn auch darauf aufmerksam, dass sich die Erhabenheit bei Adorno nicht selbst verkörpern kann. Darin unterscheidet sie sich deutlich von ihrem Pendant im klassischen Begriffspaar. Die Schönheit nämlich hatte doch stets dem Material ein Äußeres aufgeprägt, hatte es durch die Form zum ‚Höheren‘ geführt. Mit der Erhabenheit hingegen wird bei Adorno ein Strukturprinzip beschrieben und kein formaler Kanon mehr: „Modern herrscht das Erhabene als Implizites, als Matrix der Kunst.“133 Wo vormals Konditionierung die Bestimmtheit in ihrem Stillstand prägte, ist nun auch das Unbestimmte wirksam. Das ganze Spektrum der Lebendigkeit steht zur Verkörperung bereit. Die Verwandlungsmomente bedürfen keiner geistigen Fundierung mehr, sondern kommen direkt aus der Wirklichkeit. Wirklichkeit und unmögliche Möglichkeit sind nun ineinander verschränkt: „Was irgend am Artefakt die Einheit seines Sinnes heißen mag, ist nicht statisch sondern prozessual, Austrag der Antagonismen, die ein jegliches Werk notwendig in sich hat.“134 Die unmögliche Möglichkeit als Noch-Nicht, Vielleicht oder Sowohl-als-auch wird über dieses unaufhörliche Werden wahrnehmbar. Sie tritt hervor in ihre Präsenz, indem sie als Anderes und Nächstes in der Beständigkeit mitschwingt. Die unmögliche Möglichkeit ist damit nicht nur ein leerer Begriff, sondern erfährt über ihren temporalen Modus gleichzeitig Verkörperung als Anderes der Bestimmtheit. Das Material überwindet hierdurch seinen Stillstand, seine Statik. Es steht und es steht doch nicht, bleibt im Bestand unbeständig, bleibt in der Bestimmung unbestimmt und in der Wirklichkeit unmöglich: „Die Kategorie der Gestaltung, peinlich als verselbständigte, appelliert ans Gefüge. Aber das Kunstwerk rangiert desto höher, ist desto mehr gestaltet, je weniger darin verfügt ist. Gestaltung heißt Nichtgestalt.“135 Mit dieser Ausdeutung der Erhabenheit stellt sich Adorno quer zur Geschichte der Ästhetik. So hatten z.B. Schelling, Schiller und Hegel die Schönheit im traditionellen Sinne präferiert und auch 132 Ebd., S. 294. 133 Welsch, Wolfgang: Adornos Ästhetik, S. 123. 134 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Erfahrung prozessual, in: Ästhetische Theorie, S. 262-265, hier S. 262. 135 Adorno, Theodor W.: Paralipomena, in: S. 430.

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schon bei Kant rangiert die Erhabenheit lediglich als deren konstruktivistische Kontrastfolie: „Das Subjekt wird an jeglichem Schönen, wie Kant allein am Erhabenen es konstatierte, seiner Nichtigkeit sich bewusst und gelangt über sie hinaus zu dem, was anders ist. Die Kantische Lehre krankt allein daran, dass sie den Widerpart solcher Nichtigkeit zum positiv Unendlichen erklärte und wiederum ins intelligible Subjekt verlegte.“136

Deutlich bleibt also die Schönheit in Verbindung mit einer Konditionierung der Kunst, die sich, Adorno zufolge, in der Konditionierung des Menschen spiegelt: „Die Geschichte des emphatischen Aufstiegs der Ästhetik unter der Flagge des Schönen erweist sich somit am Ende als eine Verlust-, weil Integrations- und Domestizierungsgeschichte der Kunst.“137 In der Erhabenheit hingegen ist die unmögliche Möglichkeit gleichsam hoch konzentriert und befreit vom Ballast einer in welcher Weise auch immer vorgezeichneten ‚Richtigkeit‘. Sie deutet vielmehr direkt in die Wirklichkeit, hat Bezüge auf ein ‚Höheres‘ nicht mehr nötig und begnügt sich mit dem Lebendigen selbst, durch das sie in Natur und Kunst zur Erscheinung kommen kann. Das Erhabene überführt zu den Dingen und gibt damit dem Gedanken Nietzsches recht: „Wir müssen wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden und nicht so verächtlich wie bisher über sie hinweg nach Wolken und Nachtunholden hinblicken.“138 Adorno sieht die Kunst auch quasi verleiblicht bzw. dimensionalisiert: „Die Gefühle, welche von den Kunstwerken erregt werden, sind real und insofern au136 Ebd., S. 396. Auch Wolfgang Welsch macht diesen Umstand deutlich, indem er betont, dass bei Kant der Begriff der Schönheit systemrelevant war und als Verbindungsglied von Einbildungskraft und Verstand die Natur harmonisch mit der Freiheit zu versöhnen hatte. Vgl. hierzu auch: Böhme, Hartmut: Kants Theorie des Erhabenen, in: Böhme, Hartmut u. Böhme, Gernot: Das Andere der Vernunft, S. 215224, hier S. 215 ff. Der Autor betont ebenfalls, dass Kant Schönheit genauso wie Erhabenheit in das konstruktivistische Subjekt verlegt und damit unter Kontrolle bringt: „Nur als Körper-Erscheinung in einer empirischen Welt empfindet sich das Subjekt als winzig und vergänglich im Verhältnis zum Universum und ist in seinem Narzissmus gekränkt: im Gefühl »meiner Wichtigkeit vernichtet«. Während das intelligible Ich – »das unsichtbare Selbst« jenseits von Raum und Zeit – »wahre Unendlichkeit« hat.“ (S. 218) 137 Welsch, Wolfgang: Adornos Ästhetik, S. 142. 138 Nietzsche, Friedrich: Der Wanderer und sein Schatten, in: Ders.: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, Zweiter Band, KSA, Bd. 2, S. 535-705, hier S. 551.

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ßerästhetisch.“139 Kunst wirkt demnach „transästhetisch“ und weist auf ein Präsenzgeschehen, indem etwas auf den Betrachter zukommt und nicht etwa von diesem ausgeht: „Das ist aber jenes objektive Bedeuten, an das keine subjektive Intention heranreicht.“140 Ein Gefüge, das als eine Art Transitmilieu wirkt, verbindet das Subjekt mit dem Kunstobjekt und konstituiert damit dessen spezielles Geschehen.141 Die maßhafte Gestalt des Werkes gibt in dieser Deutung nicht die Richtgröße vor, sondern „das seiner Dinghaftigkeit, der Aufnahme des Tatbestands sich Entziehende und […] ein Enteilendes, Flüchtiges.“142 Eine Unbestimmtheit konstituiert damit die Kunst und nicht etwa deren Gegenteile, wie z.B. Kanon oder Proportion. Ein weiteres Mal dient die Erhabenheit als Matrix. Damit wird das Verhältnis (und mit diesem zusammen die klassizistischidealistische Priorisierung) von schön und erhaben entsprechend umgewichtet. 2.1.4.

Über die Quantität im Reinzustand. Zur Erhabenheit bei J.F. Lyotard

Jean-Francois Lyotard sammelte seine über fünf Jahre gehaltenen Vorlesungen zum Thema der Erhabenheit in dem Buch Die Analytik des Erhabenen (Kant Lektionen §§ 23-29) und sieht deren besondere Rolle in der Qualität des „Bruchs innerhalb der Untersuchung der ästhetischen Urteilskraft“143. Obwohl er den Kantischen Konstruktivismus nicht überwinden will, markiert sich in Lyotards Denken sehr anschaulich das Unverfügbare oder der dunkle Grund, in den die

139 Adorno, Theodor W.: Paralipomena, S. 400. 140 Ebd., S. 409. 141 Das ‚konstituierende Zwischen‘ als Drittes neben Subjekt und Objekt bzw. dessen ‚Fusionsgeschehen‘ wird im 3. Kapitel ausführlicher behandelt werden. 142 Adorno, Theodor W.: Paralipomena, S. 408. 143 Lyotard, Jean-Francois: Die Analytik des Erhabenen (Kant Lektionen §§ 23-29), München: Fink, 1994 [frz. 1991], S. 64. Siehe auch Kap. 2.1. Vgl. hierzu Pries, Christine: Das Undarstellbare – wider das Vergessen, in: Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, S. 319-349: Die Autorin weist nicht nur im Vorwort des Buches auf die Renaissance des Begriffs der Erhabenheit hin, die auf Lyotard zurückgeht, sondern führt auch ein Interview mit ihm. In diesem stellt er klar, dass ihn der Bruch innerhalb der Systementwürfe der Ästhetik in der Mitte des 18. Jahrhunderts interessiert hatte: „Das Erhabene ist eine Art Loch, eine Bresche im Gegebenen selbst.“ (S. 321) Vernunft und Einbildungskraft sind ergänzt durch einen Abgrund und dessen Bewältigung soll durch die Schönheit und das Erhabene versucht werden.

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Menschen geworfen sind. Er liest diesbezüglich ein Freiheitsmotiv, das in Verbindung mit dem Erhabenen steht, zunächst einmal weniger kritisch als die Gebrüder Böhme. Vielmehr weist für ihn die Befähigung zum erhabenen Erkennen auf eine direkte Affinität von Natur und Reflexion hin, wenngleich diese von zweckgesättigten Bindungen zwischen beiden Polen entkoppelt ist und sich darauf stützt, das Denken zum Selbstzweck zu machen: „Das Denken scheint im erhabenen Gefühl ungeduldig zu werden, es verliert die Hoffnung und das Interesse, die Zwecke der Freiheit mit den Mitteln der Natur zu erreichen.“144 Die Erhabenheit schlägt also die Brücke in die Befähigung, überhaupt denken zu können. Dieser vor-intentionale (Lyotard schreibt quasi-intentionale) Zustand weist auf das ‚Dass‘ hin und weniger auf das ‚Was‘ und eröffnet den Zugang in die Arché (siehe auch Kapitel. 3). Eine „Quantität im Reinzustand“145 markiert damit ein Milieu, aus dem Formung überhaupt bzw. zuerst entstehen kann. Das Subjekt hat qua Reflektion Teil an etwas, das sich ihm jedoch entzieht. Ein paradoxer Zustand ist in der Erhabenheit am Werk, der in eine zweckwidrige, nichtteleologische, negative Ästhetik überführt, die gleichberechtigt (und nicht nur als Appendix) die Erscheinungen mitbestimmt: „Das Erhabene spricht dagegen der Einbildungskraft das Formvermögen ab – und der Natur das Vermögen, das Denken durch die Formen unmittelbar zu affizieren.“146 Aus diesen Gründen nennt Lyotard die Erhabenheit auch gewalttätig. In ihr verflüchtigt sich das tradierte Verhältnis von schön und gut und zugehörig gibt es auch keine dominierende Sortierung des Begegnenden (im Sinne des Form-Stoff-Dualismus) mehr. Stattdessen konfrontiert das erhabene Denken direkt mit dem Unbedingten oder Absoluten. Es führt sich damit an seine eigene Grenze, denn Denken braucht Differenz bzw. Unterscheidung. Das Scheiden und Trennen jedoch ist unmöglich in einem Milieu, das unbedingt ist: „Wenn also das Denken das Absolute berührt, berührt die Relation die Nicht-Relation, weil das Absolute das Relationslose ist.“147 Das Denken muss also über sich und die bloße Logik hinaus, um erhabenen werden zu können, es muss denken und doch gleichzeitig mehr als das sein. Nach Lyotard gelingt dieses über die Präsenz. Sie markiert ein Faktum, in dem eine Differenz erscheint und das erkennende Subjekt förmlich in die Erkenntnis reißt. An dieser Stelle kommt das Spiel zum Tragen. Es wird initiiert, wenn das Begegnende in die Präsenz gerät und (üblicherweise) zwischen der Einbildungskraft und dem Verstand ausgetragen. Die Form und der Begriff sind die Ergebnisse, auf die das Spiel zuläuft und der Einsatz wird durch den Stoff 144 Ebd., S. 65. 145 Ebd., S. 66. 146 Ebd., S. 67. 147 Ebd., S. 69 f.

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(gedacht als Mannigfaltigkeit ohne Ordnung) als Begegnendes im Modus der ästhetischen Idee markiert. Das Spiel der Einbildungskraft auf dem Feld der Vernunft ist demnach deutlich ausgeweitet. Es findet ein Konstitutionsprozess im geistigen Milieu statt, weshalb es beständig um die Darstellung von Ideen geht: „Die Vernunftidee ist die begriffliche Vorstellung eines undarstellbaren Gegenstandes; die ästhetische Idee die Darstellung eines »Gegenstandes«, die sich der begrifflichen Vorstellung eines Gegenstandes entzieht.“148 Die Einbildungskraft führt ein selbstbestimmtes und autonomes Leben im Verstand bzw. in der Vernunft. In ihrem Vollzug erscheinen die begrifflichen Festlegungen wie Inseln, die von einem bewegten Ozean umspült werden. Die Einbildungskraft „kann Gegebenheiten darstellen, das heißt in Formen synthetisieren, die über das hinausgehen, was der Verstand erkennen, das heißt in den Begriffen synthetisieren kann“149. Hier erklärt sich auch das Paradox einer ‚Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘, denn die Zweckmäßigkeit, die das Spiel zwischen Einbildungskraft und Vernunft antreibt, macht auch die Kategorien von Raum und Zeit zuerst einmal möglich und damit die Grundlagen für einen vernünftiges, begrifflichbegrenzend-differenzierendes Denken, das so etwas wie einen Zweck überhaupt erst erkennen kann. Deshalb ist eine solche Zweckmäßigkeit eben ohne Zweck. Im Zuge der Aufklärung bekommen die Themen Diffusität und Unklarheit neue Bewertungen und die Ästhetik tritt gleichberechtigt neben die Logik. Lyotard entfaltet am Beispiel Kants diesbezüglich die Verwirrung und kommt zur Ansicht, dass das produktive Spiel der Einbildungskraft den begriffsgesteuerten Verstand auch überfordern kann. Nun liegt hierin aber gerade nicht die Erhabenheit begründet, denn diese resultiert aus der Form- und Begriffslosigkeit und ist vielmehr verbunden mit der Gewahrung der Präsenz, die umfassender und gewalttätiger ist als die erkennende Spieltätigkeit des Subjekts. Diese lässt sich nicht bestimmen, da keine Differenz zu einer allumfassenden Differenz, der Matrix als dem Absoluten, gebildet werden kann: „Die Einbildungskraft kann keine Form »schöpfen«, die ihm [der All-Macht, CJG] angemessen ist, weil alle Form Umgrenzung ist […] und die All-Macht als Absolutes begriffen wird, das alle Begrenzung ausschließt.“150 Die Erhabenheit zeigt dem Subjekt dessen Beschränktheiten auf. Es muss Lyotard zufolge Grenzen ziehen, um Unterschiede zu erhalten, die entweder formal oder begrifflich bestimmt werden können. Die formorientierte Einbildungskraft weist nur scheinbar einen Weg aus der rationalen Gewalt der logischen Bestimmung. Sie kann bestenfalls in die Vielfalt flüchten und die Differenzen in Form von extremer Komplexität bis zum begrifflichen 148 Ebd., S. 79. 149 Ebd., S. 81. 150 Ebd., S. 90.

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Kollaps treiben. Lyotard skizziert hierzu zwei Ästhetiken: „[…] eine figurale Ästhetik des »Vielzuviel«, die den Begriff überfordert, und eine abstrakte oder minimale Ästhetik des »Beinahe-Nichts«, die die Form überfordert.“151 Stets wird das menschliche Reflektieren aber dabei begrenzend operieren müssen und nie an die Matrix, die nackte Präsenz, sein ‚Dass‘ gelangen. Diesen Weg hält nur die Erhabenheit offen. Die Verkoppelung der Reflexion mit der Präsenz überführt in die Materialhaftigkeit. Diese ist unabhängig von der Form, die die Einbildungskraft noch bemüht – ein weiteres Argument dafür, sie nicht mit der Erhabenheit zu verwechseln. Für Kant beginnt hier auch die Fokussierung der Quantität als Urteilsgröße. Sie löst die Qualität (bei den Formen) ab und verortet den Prozess direkt in der Materie. Die erhabene Quantität, so betont Lyotard mit Kant, ist allerdings nicht im herkömmlichen Sinne messbar. Dennoch wird etwas gefühlt und entsprechend geurteilt: „Die Erhabenheit ist nicht Prädikat des Dings, sondern der Geistesstimmung, der Stimmung des Denkens, das sich empfindet oder reflektiert, wenn es sich das Ding vorstellt.“152 Lyotard betont hier den Widerstreit, der die Erhabenheit begleitet und verdeutlicht noch einmal, dass das reflektierende Subjekt sich im Dilemma befindet, das Unbestimmte oder Absolute bestimmen zu wollen. Dieses Wollen ist wirksam auch ohne greifbare Ursache: „Die intelligible Ursache kann erste Ursache genannt werden, aber ihre Autorität beruht nicht auf der Sukzession.“153 Das Prinzip der Kausalität wird hier in ein neues Licht gestellt. Es ist etwas wirksam, das nicht darstellbar, überzeitlich und bedingungslos, jedoch präsent ist. Mit Hilfe von Kant, freilich ohne dass dieser es selbst so genannt hätte, wird am Leitfaden dieser ‚bedingungslosen Kausalität‘ das ‚Ereignis‘ eingeführt. Bezogen auf Kunst und Literatur markiert die Erhabenheit durch den Widerstreit von Idee (aus dem Feld der Vernunft) und Form (aus dem Feld des Verstandes) den Abschied von der Darstellung des bloß Schönen. Dieser Prozess ist Lyotard zufolge kein friedlicher, sondern vielmehr mit Unlust verbunden. Die Erhabenheit ist für ihn das unglückliche Produkt der bereits beschriebenen Begegnung, in der der eine Faktor nur auf Kosten des anderen Wirkung haben kann: „Die Einbildungskraft muss vergewaltigt werden, weil die Freude, das Gesetz zu sehen, oder beinahe zu sehen, nur durch ihren Schmerz, vermittelst ihrer Vergewaltigung erlangt wird [...]. Und diese »Lust« ist nur »vermittelst einer Unlust möglich«.“154 Die vergeblichen Versuche, das Absolute bestimmbar zu machen, verdrängen also den bestimmbaren Charakter der schö151 Ebd. 152 Ebd., S. 97. 153 Ebd., S. 153. 154 Ebd., S. 202.

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nen Formen. Das Kunstgeschehen schlägt sich auf die Seite dessen, was präsent aber dennoch nicht in der Erscheinung ist. Es wechselt in den Zustand des NochNicht und hält das Subjekt im Fusionsprozess des Ereignisses, anstatt ihm vorzugaukeln, dass es eine ‚schöne’ Wahrheit finden könnte. In einem Gespräch mit Christine Pries konkretisiert Lyotard diesbezüglich die Verbindung von Erhabenheit, Natur und Kunst, die er schon bei Kant angelegt sieht. Eine sich in Wandel und permanenter Unordnung befindende Natur ist für menschliche Kunsthervorbringungen unerreichbar. Auf diesen nämlich lasten Zwecke bei der Herstellung, Begriffe bei der Deutung und die Tendenz zur Nachahmung: „Schon das Schöne ist [durch diese Kluft zwischen Kunst und Natur, CJG] relativ suspekt, das Erhabene scheint aber offensichtlich noch suspekter zu sein.“155 Künstler machen dieses Scheitern der Synthese allerdings auch zum Thema. Indem sie es wiederholen, wollen sie die Unerreichbarkeit und Ohnmacht nachempfinden, die im Angesicht des Unverfügbaren erscheint. Bezogen auf die postmoderne Architektur erläutert Lyotard, dass es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts darum ging, „ein Heim (habitat) für einen Menschen zu konstruieren, der dabei ist, sich in jeder Hinsicht zu emanzipieren.“156 Die Architekten sind jedoch durch die Bauindustrie enteignet worden und fristen nun ein Dasein als Angestellte von Bauunternehmen. Niemand kümmert sich daher um die so wichtige „Bestimmung der Behausung (demeure) unter den Bedingungen der Emanzipation.“157 Das identifiziert Lyotard als großen Mangel und fordert: „Ebenso wie es in der Bauindustrie keine Architektur mehr gibt, gibt es wegen der Kulturindustrie keine Philosophie mehr. Wir kommen auch erst nach der Philosophie, aber das hindert uns nicht daran, weiterhin nachzudenken. Die Architekten mögen doch bitte nachdenken.“158 Einer, der diesen Aufruf mit entsprechenden Überlegungen zur Erhabenheit ernst genommen hat, scheint Peter Eisenman gewesen zu sein. 2.1.5.

Architektur und Erhabenheit im 20 Jh. am Beispiel von P. Eisenman

Das 20. Jahrhundert ist in Bezug auf Kunst und Architektur geprägt vom Begriff der Moderne. Heinrich Klotz identifiziert in seinem Buch Kunst im 20. Jahrhun-

155 Vgl. hierzu Pries, Christine: Das Undarstellbare – wider das Vergessen, in: Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, S. 319-349, hier S. 321. 156 Ebd., S. 325. 157 Ebd. 158 Ebd., S. 326.

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dert. Moderne, Postmoderne, Zweite Moderne neben der Avantgarde folgende Hauptströmungen: den Internationalen Stil, die Diktatoren-Klassizismen, die Nachkriegsmoderne, den Bauwirtschaftsfunktionalismus, die Postmoderne und schließlich die Zweite Moderne. In der Postmoderne gewinnen die Künstler verlorengegangene Perspektiven auf ihre Hervorbringungen zurück. Sie tun das teilweise im freien Rückgriff auf (Bau-)Formen der Vergangenheit, aber auch im Geiste des Widerstreits zwischen Funktion und Fiktion bzw. Rationalität und Intuition, der bereits in den ästhetischen Diskursen seit der Aufklärung selbst verborgen liegt. Klotz nennt diesen Prozess eine Resemantisierung im Sinne einer Wiederfindung der (Bau-)Sprache und verbindet mit ihm die größte Leistung der Postmoderne. Seine Hauptthese ist dabei die Verwindung des eigentlichen Erbes der Avantgarde. Diese verfolgte seinerzeit das Ziel „Illusionen und Fiktionen zu überwinden und in Leben zu überführen“159 und versuchte dies vor allem mit den Mitteln der Abstraktion zu erreichen. In der Architektur hat sich dieses besonders deutlich gezeigt, so konnte in einer Art formaler Bereinigung das Bauwerk beherrschbar werden und bleiben. Der Funktionalismus bzw. Rationalismus gab maßgeblich das dafür nötige Instrumentarium, denn er beseitigte die Relevanz der Ästhetik (hier vor allem der Erhabenheit) und setzte an deren Stelle den Nutzen und den Zweck: „Seitdem in der Architektur der Moderne das Schöne zur Funktion des Zweckmäßigen gemacht wurde, war mit dem ersten Schritt für jede Form eine durchsichtig rationale Erklärbarkeit gewonnen; im zweiten Schritt überschwemmte der von aller Rationalität übriggebliebene Zweckrationalismus die Bauform.“160

Es fällt leicht, Heinrich Klotz zu folgen, wenn er die Abstraktion als Vollstreckungsbewegung der Rationalität kritisiert. Irritierend ist jedoch seine Gleichsetzung von Leben und Abstraktion, denn das Leben – als Lebendigkeit aufgefasst – ist damit nicht identisch. Kritik verdient es ebenso, die Fiktion als Illusion und Idealität zu betrachten, denn hier müssten zwangsläufig die Postmoderne bzw. der Dekonstruktivismus als (im Heideggerschen Sinne) metaphysische Herangehensweisen erscheinen und nicht als ereignisorientierte Alternativen dazu. Wenn hingegen die Fiktion für das Wandelbare, Unbestimmte und das Noch-Nicht des Kunstwerks steht, dann ist sie materiell, real und wirklich – eben lebendig und damit weit entfernt von der Stasis der Rationalität. Diese nämlich ist die eigentliche Erblinie der Abstraktion. Der Rückschluss von einer ideellen Ästhetik auf die Fiktion blendet aus, dass es die Ästhetiker waren, die die Philosophie wieder 159 Klotz, Heinrich: Kunst im 20. Jahrhundert, S. 9. 160 Ebd., S. 112.

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um die Realität und den Körper bereicherten.161 Ästhetische Fiktionen haben mit dem Gespür und dieses mit dem Leib zu tun. Beides ist materiell und ergänzt das ideelle Denken um den Faktor der Wirklichkeit. Die Abstraktion ist also nicht an die Stelle der Fiktion getreten, sondern sie ist diese selbst. Die Reduktion des Lebens auf einen rationalistischen Akt ist das fiktionale Phantasma und der Ausweg daraus kann nur über die Wirklichkeit gelingen – Peter Eisenman erkennt diesen Punkt und würdigt ihn am Begriff des Simulakrums, wie später noch zu sehen sein wird. An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, wie wichtig die ästhetische Kategorie des Erhabenen ist, denn sie befreit auch die Fiktion. Wie oben gezeigt wurde, fokussierte sie das Nichtsprechbare und Unbestimmte, das Noch-Nicht als unmögliche Möglichkeit im Hinblick auf Kunst und Architektur. Damit ist sie am Puls des Lebens, der heftig und materiell schlägt und keine Verortung im Reich der Ideen nötig hat. Auch Wolfgang Welsch beschäftigt sich mit der Postmoderne und richtet dabei einen Fokus auf die Architektur. Sehr viel schärfer gelingt ihm eine Ausdeutung der Phänomene, indem er die ästhetische Kategorie des Erhabenen ernst nimmt. Anhand der Positionen Adornos und Lyotards wird dargelegt, dass in einer erhabenen Ästhetik Subjekt, Objekt und deren Fusionsmilieu zu einer naturhaften wie mannigfaltig-bewegten Einheit verschmelzen: „In der Kunst wirkte dies sich als Verabschiedung des herrschaftlichen Gestus gegenüber dem Material, positiv ausgedrückt: als konsequente Hinwendung zu dessen Eigentendenzen aus. Kunst dieser Art setzt alles daran, dem Heterogenen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.“162

Welsch skizziert in der Folge, dass die Ästhetik des Erhabenen eine wirklichkeitsbezogene Disziplin ist. Sie wird zu einer Aisthetik, die das Prinzip der Wahrnehmung an die Stelle der Reduktion (sprich Abstraktion) treten lässt und damit Heterogenität zuerst beachten kann. Herrscht das Prinzip der Wahrnehmung vor, muss die Aisthetik auch eine Anästhetik einschließen, denn das Nicht161 Vgl. hierzu Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Schriften 1869-1874, in: KSA, Bd. 7, S. 98. Der Autor umschreibt trefflich die rein ideelle und wirklichkeitslose Fiktion als Wahnvorstellung: „Wie offenbart sich der Instinkt in der Form des bewußten Geistes? In Wahnvorstellungen […]. Die Schönheit ist die Form, in der ein Ding unter einer Wahnvorstellung erscheint z.B. die Geliebte etc. Die Kunst ist die Form, in der die Welt unter der Wahnvorstellung ihrer Nothwendigkeit erscheint. Sie ist eine verführerische Darstellung des Willens, die sich zwischen die Erkenntniß schiebt. Das „Ideal“ eine solche Wahnvorstellung.“ 162 Welsch, Wolfgang: Adornos Ästhetik, S. 208.

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Wahrnehmbare konstituiert deren Muster mit. Eine erhabene Ästhetik hat den Mut, die Heterogenität (sprich das Leben) tatsächlich zuzulassen und streift die tradierten Sehnsüchte nach idealistischen Totalisierungen ab: „Ihr kritisches Auge richtet sich gegen den Bombast des Ganzen, ihr Fürsorgliches gilt der Diversität des Widerstreitenden. Sie ist ein Anwalt der Eigenständigkeit aller Wirklichkeitssphären – sowohl der ästhetischen Sphäre wie auch anderer gegenüber. Sie mahnt, Differenzen zu beachten und den Unversöhnlichkeiten sich zu stellen.“163

Diese neue und erhabene Ästhetik zeigt sich auch in der Architektur, die Welsch unter anderem in seinem Buch Unsere postmoderne Moderne behandelt. Wie zuvor Heinrich Klotz konstatiert er, dass die Architektur der Moderne in eine Uniformierung umgeschlagen ist, die wiederum in der Postmoderne durch eine betonte Pluralisierung überwunden werden sollte. In dem folgenden Satz scheint er auch nahe am Motiv der Resemantisierung zu liegen: „Mehr-Sprachigkeit, nicht Applikations-Unwesen und Zitate-Salat sind für ihren Begriff verbindlich. Wenn die Postmoderne Tradition aufnimmt, dann im Modus der Verwandlung und modernen Artikulation.“164 Wichtig ist die Betonung, dass die Postmoderne Potenzen wieder ins Spiel bringt, die direkt aus der Lebenswelt kommen. Hier sieht Welsch eine strukturelle Verwandtschaft mit dem Zeitalter der Aufklärung.165 Auch den von Klotz gebrauchten Begriff der Fiktion präzisiert er, indem er sie auf die Wirklichkeit verpflichtet, in der ein „narratives Potenzial vorliegt und Fiktionen entstehen, dass die Gestaltung betont imaginativ ist und dass sie dies nicht beliebig, sondern Kontext- und funktionsbezogen ist.“166 Dem Thema einer Ganzheit kann die Architektur sich nicht entziehen, denn sie ist diejenige Kunstform, die sich am stärksten benutzen lassen muss. Ganzheit wird hier allerdings verstanden als Einheit (etwa von Baukörpern oder Räumen), die die Vielheit (Heteronomie der modernen Gesellschaft und Nutzungen) gleichzeitig verkörpert. Ziel wäre die Aufrechterhaltung der Offenheit in einer Geschlossenheit: „Die gebotene Mittellage besteht darin, dass Viele so auf einander zu beziehen, dass Austauschprozesse und Dialoge in Gang kommen, so aber, dass dieser dialogische Charakter nicht in einer definitiven Ganzheitssetzung erstickt wird.“167 163 Ebd., S. 212. 164 Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne, Berlin: Akademie Verlag, 1997, S.105. 165 Ebd., S. 110. 166 Ebd., S. 113. 167 Ebd., S. 126.

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In der Folge werden an Peter Eisenman theoretische wie praktische Bemühungen eines Architekten aufgezeigt, eigene Positionen zur Moderne zu gewinnen. Dieser Impuls erstreckt sich auf grundsätzliche Wahrnehmungsprozesse, stellt die anthropozentrische Konstitution von Objekt und Subjekt infrage und will auch eine autonome Architektur angesichts der Verspannungen in Traditionen, Zwecke und Nutzen einfordern. Über harmonische Ganzheit will Eisenman, ähnlich wie Welsch hinaus: „Ich glaube, wir müssen Verständnis entwickeln für eine Kosmologie der Abwesenheiten wie der Gegenwärtigkeit, der Unterschiedlichkeiten wie der Gleichartigkeiten, und wir müssen Strukturen finden, die alle diese Vorstellungen berücksichtigen.“168 Gemeinhin in die Kategorie des Dekonstruktivismus eingeordnet, arbeitet er an einer Überwindung der Metaphysik und stellt sich damit ähnlich radikalen Fragen wie Martin Heidegger mit seinem Denken über das Ge-Stell (siehe Kapitel 1). Eisenman legt auch die Linien der Emanzipation der (Bau-)Kunst seit der Zeit der Aufklärung offen, die sich unter dem Leitbegriff des Erhabenen zeigen lassen.169 Die Denkbewegung wird zumindest teilweise von der Infragestellung des ‚Schönen‘ in der Architektur getragen. Einem Begriff, der seit Vitruvs Zeiten mit Zweck, Nutzung wie Konstruktion verbunden wird und die klassische Vorstellung von ‚richtigen‘ Bau168 Eisenman, Peter: Harmonie und Ganzheitlichkeit in der Architektur. Ein Streitgespräch zwischen Peter Eisenman und Christopher Alexander, in: Ders.: Aura und Exzess. Zur Überwindung der Metaphysik der Architektur, hrsg. von Ulrich Schwarz, Wien: Passagen, 1995, S. 227-241, hier S. 238. 169 Vgl. hierzu Ulrich Schwarz in der Einleitung zu Eisenmans Schrift Aura und Exzess. Zur Überwindung der Metaphysik der Architektur (hier S. 14): Schwarz gliedert die Denkbewegung von Peter Eisenmann in mehrere Stufen. Zunächst befasst sich der Architekt mit einem selbstreferenziellen Objekt, das den Künstler oder Entwerfer aus seiner Rolle als Strukturerzeuger herauslöst. Das dieses als Solches (als Essenz) allerdings erkannt werden kann, ist eine Folge des metaphysischen Denkens, das er doch überwinden wollte. Daher befasst sich Eisenman in der Folge mit einer textuellen Architektur. In ihr gibt es kein sinnerzeugendes Subjekt mehr und auch kein selbstreferenzielles Objekt, sondern nur noch den Erzeugungsprozess in der Textur selbst. Diese ist nicht mehr an übliche Raum-Zeit-Konditionen bzw. Abfolgen gebunden und löst auch mit dem A-Topos die Kategorie des Ortes ab: „Die Reformulierung der Architektur in einer Weise, dass es zu einer Manifestation des Ungewissen und der Unmöglichkeit der Besitzergreifung des Gegenstandes kommt, verändert die Stellung des Entwerfers. Die Entsubjektivierung des Entwurfsprozesses zielt im Ergebnis auf die Herstellung einer Architektur als Erfahrungsraum, der nicht mehr nach den stabilen Ordnungsmustern traditioneller Architekturrationalität gefügt ist.“ (S. 25)

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werken konditioniert, die durch ein Korsett aus Maß, Zahl und Proportion entstehen (siehe Kapitel 1). Eisenman identifiziert drei Fiktionen dieses Klassischen: Darstellung, Vernunft und Geschichte: „Jeder dieser Fiktionen lag eine besondere Absicht zu Grunde: die Darstellung sollte die Idee der Bedeutung verkörpern; die Vernunft sollte die Idee der Wahrheit kodifizieren; die Geschichte sollte die Idee des Zeitlosen inmitten des Wandels zurückgewinnen.“170 Seit dem 15. Jahrhundert prägt sukzessive nicht mehr die Zeitlosigkeit, sondern deren Progression, ihre Geschichtlichkeit die Architekturformen. Die (Bau-)Kunst bleibt jedoch weiterhin in Bedeutsamkeiten, sprich Repräsentation, verstrickt: „Die Botschaft der Vergangenheit wurde zur Beglaubigung der Bedeutung der Gegenwart verwendet.“171 Im 18. und 19. Jahrhundert trat die Geschichtlichkeit an die Stelle der alten Repräsentation: „Mit der dialektischen Zeit entstand auch die Idee des Zeitgeistes, dessen Ursache und Wirkung in der Gegenwärtigkeit wurzelten“172 und in der Moderne wiederum galt die Verkörperung der Funktion als adäquater Ausdruck von Architektur. Es wird nun ausgeführt, dass die mit dem Funktionalismus einhergehende Bereinigung der Bauformen dazu diente, wieder eine repräsentative wie totalitäre Ordnung aufzustellen: „Der Versuch der Moderne, Realität durch ein undekoriertes, funktionales Objekt darzustellen, war ebenso eine Fiktion wie das Simulakrum der Klassik in der Repräsentation der Renaissance.“173 Eisenman würdigt vor allem Immanuel Kant und seine Kritik der Urteilskraft. In ihr sieht er einen Bruch mit der tradierten Auffassung von ‚schöner‘ Architektur. Die Kategorie des Erhabenen tritt nämlich an eine gleichberechtigte Stelle: „Interessanterweise birgt auch das Erhabene in sich eine Qualität, die das konventionell Schöne unterdrückt. Es handelt sich um die Qualität des Ungewissen, Unaussprechlichen, Unnatürlichen, Nicht-Präsenten, Nicht-Physikalischen.“174 Diese Attribute weisen über die gestalteten Objekte oder Räume hinaus und beschreiben Eigenschaften, die sich nicht in Proportionen oder Nachahmungen zeigen. Im Grotesken erkennt Eisenman jedoch ein verbindendes Element zwischen dem Nicht-Präsenten, dem Material und der Architektur, denn es ist: „die Manifestation des Ungewissen im Gegenständlichen“175. Gleichwohl ist 170 Eisenman, Peter: Das Ende des Klassischen: Das Ende des Anfangs, das Ende des Ziels, in: Ders.: Aura und Exzess, S. 65-89, hier S. 65. 171 Ebd., S. 66. 172 Ebd., S. 74. 173 Ebd., S. 67. 174 Eisenman: Peter: En Terror Firma. Auf den Spuren des Grotextes (Grotesken), in: Ders.: Aura und Exzess, S. 137-145, hier S. 139. 175 Ebd., S. 140.

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es Bestandteil der ‚schönen‘ Anordnung (etwa in streng symmetrischen Gartenanlagen) und zeigt damit, dass die Schönheit durch die Erhabenheit mitbestimmt wird. Mit diesen Überlegungen widmet sich Eisenman dem Versuch, das Wissen, das zu einer beherrschenden Größe der Gegenwart wird, baulich zu überwinden. In der Folge überträgt er das Ungewusste bzw. Ungewisse direkt auf die Architektur und erhebt dabei den Anspruch „eine komplexere Form des Schönen, die das Hässliche beinhaltet, oder eine Rationalität, die das Irrationale enthält“176 zu finden. Damit das gelingen kann, muss zunächst die Rolle des Entwerfens neu definiert werden, denn die Intuition allein ist kein Garant für das Andere bzw. Verborgene in den Gestaltungen. Vielmehr ist diese klassisch konditioniert und wenn die Ungewissheit zum gleichberechtigten Entwurfsmaßstab werden soll, muss der Entwurf über sie hinausgehen. Eine nicht-klassische Architektur sollte sich vielmehr von Zielen und Zwecken befreien, denn diese beschreiben den geraden Weg in die eingeübten, kulturellen Vorurteile und Beschränktheiten. Auch die utopischen Potenziale im Entwurf müssen darauf hin geprüft werden, ob ihnen die Vorstellung eines wie immer gearteten besseren Endes innewohnt, da diese klassisch wäre und die Architektur wiederum zur Fiktion (wenn auch einer sehr facettenreichen) degradiert: „Mit dem Ende des Ziels hört der frühere Prozess der Komposition oder Transformation auf, eine kausale Strategie, ein Prozess der Addition zu oder der Subtraktion von einem Ursprungszustand zu sein. Stattdessen entwickelt sich ein Prozess der Modifikation – die Erfindung eines nicht-dialektischen, nicht-gerichteten, nicht-zielorientierten Prozesses.“177

Mit der Überwindung des Ziels kommt die Architektur in die Selbstbefreiung, wird zum bzw. bleibt ein Experiment mit offenem Ausgang oder ein „Ort der Erfindung“178. Eisenman geht mit diesen Vorschlägen über die Objekthaftigkeit hinaus, denn er sieht die Baukunst als Textur. Das Gebäude erhält in dieser nichtklassischen Konstellation seine unmögliche Möglichkeit „nicht-mimetisch“179 und der textuelle Charakter des Bauwerks ersetzt den bildlichen. In dieser Art des Schreibens bzw. der Schrift geschieht der Akt der Massenbildung und die Feststellung von Masse und Volumen selbst wird überwunden – das ‚Dass’ tritt an die Stelle des ‚Was’. Die Architektur prozessiert sich fortlaufend selbst in einem metaphorischen Zustand und kann über zugehörige Spuren gelesen werden, 176 Ebd., S. 141. 177 Eisenman, Peter: Das Ende des Klassischen, S. 84. 178 Ebd., S. 84. 179 Ebd.

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wobei diese Wegmarken einem Lesen-Können gleichen und nicht etwa den Objektcharakter simulieren oder bestätigen. Die Spuren weisen auf die Textur und diese erscheint im „Dazwischen“180. Sie lassen das Andere lesbar werden, das einem Gebauten innewohnt. Das Andere in der Architektur steht gleichzeitig für die „Spur des Abwesenden“181 und lässt ein „Gefüge von Äquivalenzen“182 zu. Die Hierarchie im Gebäude und eingeübte Vorurteile wie z.B. Harmonie, Proportion oder Zeitlosigkeit werden aufgehoben. An deren Stellen tritt das NochNicht. Die mit dieser Erfahrung einhergehende Ungewissheit überträgt das Erbe der Erhabenheit auf die gebaute Struktur, nämlich eine Auseinandersetzung mit der Entfremdung von der Natur (entweder als Selbstermächtigung über sie oder als Verschmelzungsbewegung in sie): „Und das Objekt erfordert nicht mehr die Erfahrung des Benutzers, um verstanden zu werden […]. Jetzt ist es die Distanz zwischen Objekt und Subjekt, die Unmöglichkeit der Besitzergreifung, die diese Angst hervorruft.“183 In dem Aufsatz „Architektur als eine zweite Sprache: die Texte des Dazwischen“ klärt Eisenman die genannten Begriffe noch weiter. So dient ein Text ihm dazu, das Verhältnis zwischen Formen und deren Bedeutungen in „ein differenzielles Netzwerk, ein Gewebe von Spuren, endlos auf etwas anderes als sich selbst verweisend“184 zu verschieben. Eine statisch-traditionelle Betrachtungsweise von Architektur, etwa im Sinne von Bedeutung, Repräsentation oder Identität, will stets Formen fixieren und mit Eindeutigkeiten beladen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde z.B. unter dem Schlagwort der fließenden Räume versucht, mittels offener Grundrisse und dem Einsatz von Glas den Menschen ein geweitetes Raumverständnis zu ermöglichen bzw. eine imaginäre Bewegtheit als Stellvertretung ihrer Zeitlichkeit zu offenbaren. Bezeichnend ist, dass nicht die Architektur selbst in die Veränderung gerät (sie bleibt ein fixiertes Objekt) oder versucht wird, die Zeit als solche darzustellen, sondern nur die subjektiven Konditionierungen über Raum und Zeit angesteuert werden. Eine Architektur als Text jedoch überschreitet nicht nur die Gestalt, sondern auch die eingeübte Reaktion darauf: „Allerdings findet sich Architektur als Text nicht in der ästhetischen oder funktionellen Präsenz des Objekts, sondern in einem Zustand des Dazwischen. Deshalb kann textuelle Zeit in die Architektur eingeführt werden, um eine Architektur zu erzeugen, welche nicht 180 Eisenman, Peter: En Terror Firma, S. 142. 181 Ebd., S. 141. 182 Ebd., S. 142. 183 Ebd., S. 143. 184 Eisenman, Peter: Architektur als eine zweite Sprache: die Texte des Dazwischen, in: Ders.: Aura und Exzess, S. 151-165, hier S. 152.

136 | B AUKUNST ALS UNMÖGLICHE M ÖGLICHKEIT nur die Erinnerung an die lineare Zeit erschüttert, sondern auch alle Bezüge von Präsenz, Ursprung, Ort, Maßstab usw.“185

Am Beispiel eines Renaissancebaus erklärt Eisenman, wie ein architektonisches Dazwischen aussehen kann. Die Kirche San Andrea in Mantua wurde nämlich von Alberti durch die Synthese einer griechischen Tempelfront mit einem römischen Triumphbogen gestaltet. Er überlagerte damit zwei Kodierungen – die kultische, jenseitige mit der anthropozentrischen, weltlichen und barg darin wiederum eine christliche Kirche, die weder mit dem einen, noch mit dem anderen unmittelbar zu tun hat. Hier beginnt das Dazwischen und mit ihm das Aufscheinen der verschiedenen Texturen. Das Gebäude will sich nicht mehr einpassen in einen ‚richtigen‘ Gebrauch bzw. in die Erwartung, denn es vereinigt in sich autonome Sprachen, die viel eher ein Oszillieren zwischen verschiedenen Gebräuchen darstellen. Der Kreislauf der Eindeutigkeit der Repräsentation eines Objekts, d.h. der Einheit von Darstellung und Darzustellendem ist unterbrochen: „Der dislozierende Text greift jene Begriffe an, welche der Darstellung von Präsenz zugrunde liegen. Er kritisiert, dass Ursprung, Schönheit, Funktion, Wahrheit als natürlich (in der Bedeutung von authentisch) gelten und nicht nur als bloße Übereinkunft. Er verleugnet weder Funktion noch Schönheit, er bestreitet aber ihre Autorität und verschiebt dadurch ihre Wahrnehmung.“186

Architektur als Text bedeutet also, andere Texturen lesen zu können. Repräsentation bekommt das gestaltete Objekt in einer fortwährenden Neu- oder Umlesung. Es steuert keine geronnenen Wahrhaftigkeiten oder gar ewige Wahrheiten mehr an, steht nicht mehr am Anfang einer Teleologie des ‚Umzu’, sondern der Prozess ist das Wahre selbst. Wenn ein Bauwerk in diesem Anspruch wirkt, kann der Leser nicht mehr mit den traditionellen Schablonen wie Funktion, Nutzung oder Bedeutung operieren. Er muss sich mit der gebauten Struktur laufend befassen und sich diese fortwährend wieder aneignen. Die Identität zwischen Form und Inhalt oder Darstellung und Darzustellendem wird abgelöst. An ihre Stelle treten Übergänge, Überlagerungen, Verschiebungen, Durchdringungen, Einschlüsse und Unklarheiten: „Solch ein Text des Dazwischen ist nicht ortsspezifisch, zeitspezifisch, maßstabsspezifisch. Er symbolisiert nicht Nutzung, Schutz oder konstruktive Struktur. Seine Ästhetik und seine Geschichte sind andere. Seine dislozierende Wirkung findet zwischen dem 185 Ebd., S. 157. 186 Ebd., S. 158.

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Konventionellen und dem Natürlichen statt. Und deshalb ist es das System als Ganzes, das hier verletzt wird.“187

Die Programmatik Peter Eisenmans ist eine der Ermöglichung. Obwohl er selbst den Begriff Möglichkeit selten benutzt, was freilich an der metaphysischen Erblast (im Sinne von essentia vs. existentia) des Begriffes liegen kann, zeigen seine Überlegungen, wie die unmögliche Möglichkeit in der Architektur gefunden und durch diese verkörpert werden kann.

2.2. Z WISCHENSTÜCK : M ÖGLICHKEIT , K RAFT M ATERIAL BEI ARISTOTELES

UND

Im kommenden Abschnitt wird es darum gehen, die unmögliche Möglichkeit direkt mit dem Material zusammenzudenken. Der zeitliche Bogen spannt sich dabei vom 16. bis ins 20. Jahrhundert. Auffällig ist, dass die meisten relevanten Denker dieses Themas sich auf den Aristotelischen Form-Stoff-Dualismus beziehen, weshalb dessen diesbezügliche Terminologien in der Folge kurz umrissen werden. In der Metaphysik befasst sich Aristoteles unter anderem mit dem Wesen der Körper, das er über vier Hauptbedeutungen bestimmt: Sosein, Allgemeines, Gattung und Zugrundeliegendes.188 Letzterem kommt eine Sonderrolle zu, denn es wird durch nichts anderes als durch sich selbst bestimmt, während die drei anderen Bedeutungen mit ihm verknüpft bleiben. Das Zugrundeliegende wird auch mit Materie und Natur zusammengedacht: „Alles aber, was wird, sei es durch Natur, sei es durch Kunst, hat einen Stoff; denn ein jedes Werdende hat die Möglichkeit sowohl zu sein als auch nicht zu sein, und das ist in einem jeden der Stoff.“189 Der Stoff ist jedoch nie ohne Form. Aristoteles bemüht hier das Bild des Samens, der eine Gestalt durch die Form quasi in sich gespeichert hat (wenn z.B. daraus eine Blume entsteht). Vom natürlichen Werden wird das Hervorbringen geschieden: „Alle Hervorbringungen aber gehen entweder von der Kunst oder dem Vermögen oder vom Denken aus.“190 Das Formprinzip bleibt auch hier umfassend, so erfindet der Hervorbringende die Form nicht etwa, son-

187 Ebd., S. 164. 188 Hier sei vorangestellt, dass die Untersuchung sich auf eine bestimmte AristotelesÜbersetzung bezieht. Siehe auch Fußnote 2 im ersten Kapitel. 189 Ebd., 7, 1032 a–1032 b. 190 Ebd.

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dern bringt dieselbe in einem anderen Material lediglich hervor. Mit ihr wird das Wesen der Dinge beschrieben: „Es ist also offenbar, dass die Form, oder wie man sonst die Gestaltung am sinnlich Wahrnehmbaren nennen soll, nicht wird, und dass es keine Entstehung derselben gibt, und das ebenso wenig das Sosein entsteht; denn dies, die Form, ist vielmehr dasjenige, was in einem anderen wird, durch Kunst oder durch Natur oder durch das Vermögen des Hervorbringens.“191

Die Form im Naturbeschaffenen steht in der Verbindung mit deren Sein. Sie drückt einen inneren und unhintergehbaren Zweck aus - diesem entsprechend, findet in der Wirklichkeit eine Bewegung statt. Die Bewegung ist also stets an Dinge gebunden. Sie legt die Möglichkeit frei zu einer erleidenden oder ausübenden Wirkung des Materials/Stoffes in der Wirklichkeit. Das naturbeschaffene Ding ist von sich aus bewegt. Darin unterscheidet es sich vom Artefakt, das vom Menschen hervorgebracht und damit bewegt wurde. Letzteres folgt ebenso einem Zweck, allerdings nicht einem, der sich über ein inneres Wesen von allein ergibt, sondern einem, der über den Gebrauch des Hervorzubringenden definiert wird. Die Möglichkeit kann also auf zweierlei Weise in die Wirklichkeit geraten: natürlich oder vom Menschen hervorgebracht. Immer liegt sie im Material. Aristoteles setzt sich hier deutlich von der Welt der Ideen eines Platon ab: „Daher ist denn offenbar, dass es nicht nötig ist, eine Art Form als Urbild aufzustellen […], sondern es genügt, dass das Erzeugende hervorbringe und Ursache der Form an der Materie sei.“192 Hans-Georg Gadamer diagnostizierte den zugehörigen ‚Irrtum Platos’ wie folgt: „Aber in Wahrheit ist das Eidos [Form der natürlichen Dinge, CJG] nicht vor dem konkret Seienden da – es sei denn in einem anderen konkreten Seienden, dem Bewegenden oder Erzeugenden, also niemals für sich. Die „Hypostasierung“ des Eidos, d.h. die Behauptung, es habe Fürsichsein, abgelöst von den Dingen, ist ein Irrtum Platos.“193

Da alles in Bewegung ist und die Form die Materie braucht, um zur Erscheinung zu kommen, ist auch die Form selbst der Bewegung unterworfen. Das Sein ist auf das Dasein angewiesen. Ohne das Dasein gäbe es kein Sein, bzw. keine 191 Ebd., 8, 1033 b–1034 a. 192 Ebd., 8, 1034 a–1034 b. 193 Aristoteles: Metaphysik XII, Nachwort, Übersetzung und Kommentar von HansGeorg Gadamer, 5. Aufl., Frankfurt/M.: Klostermann, 2004, S. 53.

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Form. Wesen, Sein und Form bestimmen nichtstofflich dennoch das Stoffliche und werden im Modus der Veränderung bzw. des Verändertseins, der sogenannten Werktätigkeit und im Denken deutlich. Etwas Werdendes ist darauf angewiesen, aus etwas anderem zu werden: „Dass also ein Teil notwendig vorhanden sein muss, ist erkennbar; denn der Stoff ist ein Teil, er ist in dem Werdenden vorhanden und er wird.“194 Im hervorbringenden Menschen erfüllt sich das Wesen der Dinge intelligibel oder materialhaft. Er hat Teil an beiden ‚Zuständen‘ und organisiert das Begegnende dementsprechend in Begriffen oder geht sinnlich mit ihm um: „Die Materie ist zum Teil eine wahrnehmbare, zum Teil eine denkbare.“195 Im Denkbaren eröffnet sich über die Wissenschaft die Möglichkeit zur Wesensdefinition mittels Begriffen. Betrachtet man nun das konkret Seiende und versucht dafür Begriffe zu finden, dürfen diese nicht an den Stoff gebunden bleiben. Sie vergehen nämlich nicht, so wie es das konkret Seiende tut. Hier scheidet Aristoteles die sinnliche Erkenntnis von der intelligiblen, denn Sinnlichkeit ist genauso vergänglich, wie es die in Bewegung geratenen, konkreten Dinge sind. Hier wiederum scheint die Nähe zu Platon wieder größer zu sein. In Bezug auf das Gegensatzpaar von Möglichkeit und Wirklichkeit liegt Erstere enger am Wesen: „Offenbar ist von dem, was für Wesen gilt, das meiste nur Vermögen [hier ist Möglichkeit gemeint und nicht Kraft, CJG].“196 Die Form führt nun die Materie zur Gestalt. Sie ist in ihrer Ermöglichung aber gleichzeitig an sie gebunden. Damit wird die Materie auch zur Möglichkeit der Form, die natürlich oder durch Hervorbringung in die Wirklichkeit geraten kann: „Wenn daher bei der Definition eines Hauses einige angeben, es sei Stein, Ziegel, Holz, so meinen sie das Haus dem Vermögen nach; denn jene Dinge sind der Stoff desselben; und wenn andere es als bedeckenden Schutz für Körper und Sachen bezeichnen oder noch andere Bestimmungen der Art hinzufügen, so meinen Sie die Wirklichkeit.“197

Es spiegelt sich also in der Definition von Form und Materie auch die Frage, wie Denkbares und Konkretes bzw. Unsinnliches und Sinnliches als Mögliches und Wirkliches zueinander in Beziehung stehen. Deutlich wird, wie sie als Prinzipien das Daseiende konstituieren. Den Anlass zu dieser Konstituierung in der Kunst liefert freilich das Hervorbringen: „Alle Künste daher und die hervorbringenden

194 Aristoteles: Metaphysik, VII, 7, 1032 b–1033 a. 195 Ebd., 11, 1037 a–1037 b. 196 Ebd., 16, 1040 b–1041 a. 197 Ebd., VIII, 2, 1043 a–1043 b.

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Wissenschaften sind Vermögen; denn sie sind Prinzipien der Veränderung in einem anderen, oder insofern es ein anderes ist.“198 Weiter oben wurde erwähnt, dass Aristoteles die Möglichkeit stark an die Wirklichkeit bindet. Damit gewichtet er die Platonische Priorisierung dieses Verhältnisses um. Hier wird noch einmal deutlich, dass das Wesen des Daseienden als Form und Potenzialität gedeutet wird, jedoch ohne seine Gestalt bzw. Materialität wirklichkeitslos bleibt: „Dass sie [die Wirklichkeit, CJG] nun dem Begriff nach früher ist, ist offenbar. Denn das in vollem Sinne Vermögende heißt vermögend darum, weil es in eine wirkliche Tätigkeit treten kann.“199 Wirklichkeit wird außerdem nur durch eine andere Wirklichkeit hervorgebracht, weil diese schon eine Form hat und damit in ihrer Wechselbeziehung mit der Materie komplett ist. „Wie sich nämlich das Bauende verhält zum Baukünstler, so verhält sich auch das Wachende zum Schlafenden […]. In diesem Gegensatz soll durch das erste Glied die Wirklichkeit, durch das andere das Mögliche bezeichnet werden.“200 Dermaßen anschaulich leitet Aristoteles seine Überlegungen ein, um unmittelbar daran die Wirklichkeit weiter zu differenzieren. Er will dabei auf das Ziel hinaus, denn dieses gehört zu dem, was er ‚wirkliche Tätigkeit‘ nennt und in den Gegensatz einer bloßen Bewegung bringt. Diese Überlegungen werden noch einmal für die Definition der Hervorbringung bedeutsam. Das Ziel ergänzt also das Prinzip von Form und Materie. So geht Aristoteles davon aus, dass Bewegung, Werden und Wirklichkeit stets verkoppelt sind. Möglichkeit hat das Daseiende also nicht nur durch eine vorlaufende Wirklichkeit, sondern sie ist auch noch zusätzlich dem Ziel ihrer Verwirklichung unterworfen: „Ferner ist der Stoff [die Materie, CJG] dem Vermögen nach, weil er zur Form gelangen kann; sobald er aber in Wirklichkeit ist, dann ist er in der Form.“201 Wirklichkeit und Werk wiederum liegen eng beieinander, sofern das Werk der Zweck ist. So wie die Möglichkeit sich zur Wirklichkeit als deren Ziel bewegt, bewegt sich die Wirklichkeit über ihr Werk-Sein zu ihrem Zweck: „Denn das Werk ist Zweck, die Wirklichkeit aber ist das Werk.“202 Wirklich wird die Materie also durch die Tätigkeit der Form – möglich im Sinne reiner Potenzialität ist sie auch ohne sie. Damit wird gleichzeitig angenommen, dass die Materie quasi darauf angelegt ist, bestimmt zu werden, dass es also das Ziel einer Tätigkeit (Kraft) ist, sie in eine von ihrem jetzigen Status veränderte Wirklichkeit, eine weitere Wirklichkeit, zu 198 Ebd., IX, 2, 1046 b–1047 a. 199 Ebd., 8, 1049 b–1050 a. 200 Ebd., 6, 1048 a–1048 b. 201 Ebd., 8, 1050 a–1050 b. 202 Ebd.

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überführen. Davon wird die basaler gefasste Möglichkeit unterschieden, überhaupt zu existieren oder anders gesagt, zu sein oder nicht zu sein: „[…] so nenne ich die Wirklichkeit des Möglichen, insofern es möglich ist, Bewegung.“203 Auch hierfür bedarf es der Kraft. Die Kraft (Vermögen) stößt also Wandlungen an, überführt Möglichkeiten in Wirklichkeiten und beschreibt die Tätigkeit in diesen Prozessen: „Vermögen heißt einmal das Prinzip der Bewegung oder Veränderung von einem anderen her oder insofern es ein anderes ist.“204 Verbunden ist die Kraft mit dem Material über dessen Erleiden-können, das als Fähigkeit gedeutet wird, sie aufzunehmen und damit eine Bewegung zu vollziehen. Aber auch der Stillstand resultiert aus der Kraft, ohne die er nicht hätte eintreten können. Die Kraft beschreibt also Tätigsein wie Erleiden gleichermaßen und in ihr wirkt ein Strebungsvermögen: „Das vernunftmäßig Vermögende wird also jedesmal, falls es danach strebt, das tun, dessen Vermögen es hat, und so, wie es das Vermögen hat.“205 Der Wille bzw. die Kraft (Vermögen) des Tätigen bringt etwas hervor. Dieses Hervorbringen steht im Gegensatz zu dem, das von sich aus bereits bewegt ist. Der Tätige kann entsprechend tun, wenn das, worauf seine zweckorientierte Handlung gerichtet ist, ihn nicht daran hindert: „In ähnlicher Weise ist auch etwas ein Haus der Möglichkeit nach, wenn in dem, was in ihm ist, und in dem Stoff kein Hindernis liegt, dass ein Haus werde, und nichts ist, was erst noch hinzukommen oder abgehen oder sich verändern muss.“206 Nehmen wir an, dass der Zweck des Hauses die Behausung für Menschen (und nicht für Fische) ist, dann wäre also eines dieser Hindernisse, auf dem Grund eines Sees bauen zu wollen. Unabhängig davon gibt es allerdings auch für ein solches Projekt die Kraft, die einen Hausbau wirklich werden lassen könnte. Hier scheint auch das Motiv der Zweckmäßigkeit auf, denn es wäre sowohl möglich als auch wirklich, ein Haus auf dem Grund des Sees zu bauen – dennoch würde man es nicht tun. Mit dem Begriff der Kraft (auf der Seite der dynamis)207 bei Aristoteles beschäftigt sich auch Martin Heidegger intensiv. In seinen Vorlesungen zu Aristoteles 203 Ebd., XI, 9, 1065 b–1066 a. 204 Ebd., V, 12, 1019 a–1019 b. 205 Ebd., IX, 5, 1048 a–1048 b. 206 Ebd., 7, 1049 a–1049 b. 207 Die Untersuchung des Begriffs der Kraft bezieht sich – wie bereits beschrieben – auf eine bestimmte Aristoteles-Übersetzung (siehe Fußnote 2 im ersten Kapitel). Zu den verschiedenen Interpretationen nur so viel: das Begriffspaar dynamis und energeia wird gemeinhin mit Möglichkeit und Wirklichkeit übersetzt. Allerdings kann Energeia auch ausgesagt werden als Bewegung, Tätigkeit, Wesen oder Form. Der

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Metaphysik 1-3 betont er zunächst, dass die Kraft stets hinter den Wirkungen steht, an denen sie sich zeigt. Über diese Verbindung erklärt sich auch die Bedeutung des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung, sprich das Prinzip der Kausalität. Etwas wird wahrnehmbar durch ein anderes, ist Ursache einer Wirkung und gibt damit Anstoß der Veränderung bzw. Bewegung. Allerdings ist die Kraft nicht auf ein vorgeprägtes Ergebnis gerichtet – sie erzeugt nur den Anlass dazu: „Die Kraft hat den Charakter des Ursacheseins; Ur-sache: eine ursprüngliche, entspringenlassende Sache, eine solche, von der aus etwas ist, nämlich als so und so Bewegtes und dieses wieder dergestalt, dass dieses Bewegte in seiner Bewegung eine andere Sache ist als die Ur-sache.“208

Bewegung und Kraft finden in der Wirklichkeit statt, jedoch nicht ohne die Möglichkeit hierzu. Da aber die Bewegung definiert ist als die ‚Wirklichkeit der Möglichkeit‘, schließt sich der Aristotelische Kreis. In der weiteren Analyse der Metaphysik beschäftigt sich Heidegger auch mit der Frage, ob das Haben der Möglichkeit zur Wirklichkeit oder vielmehr der Vollzug der Wirklichkeit selbst entscheidend ist, um die Kraft zu verstehen. Er betont, dass die Wirklichkeit der Möglichkeit zur Kraft nicht in ihrer Verwirklichung liegt. Er geht damit auf das Aristotelische Beispiel des Baukünstlers ein und fragt, ob er ein solcher nur sein kann, wenn er baut. Was ist aber mit der Zeit, in der er nicht baut? Schließlich verliert er nicht die Kraft zum Bauen; sie ruht nur und wird lediglich nicht vollzogen. Dieses Nicht ist vielmehr ein Noch-Nicht: „Eine Ausführung und Ausübung kann nur sein, indem das Vermögen anhebt in der Weise des Sichüberführens. Das nichtvollzogene Vermögen ist daher wirklich derart, dass zu seiner Wirklichkeit positiv das Noch-Nicht-Anheben gehört, das, was uns bereits näher

Begriff der Dynamis wird ebenfalls als Kraft, Potenz, Vermögen oder Möglichkeit gedeutet. Vgl. hierzu den Artikel „Akt/Potenz“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1: „Im Anschluß an diese Beispiele betont Aristoteles eigens, daß Energeia in einem mehrfachen Sinne ausgesagt werde: als Kinesis (Bewegung) bzw. Tätigkeit und auch als Ousia (Wesen, Form). Das weist auf eine ebenfalls vielfache Bedeutung von δύναµις (Potenz, Vermögen, Möglichkeit) zurück.“ (S. 135) 208 Heidegger, Martin: Aristoteles, Metaphysik XI, 1-3. Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft: in: Ders.: GA, Bd. 33, hrsg. von Heinrich Hüni, 3. durchges. Aufl., Frankfurt/M.: Klostermann, 2006, S. 80.

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kam als das Ansichhalten. Die Überführung wird dem Vermögen nicht erst als etwas Neues dazu geschoben, sondern ist als Aufbehaltenes in diesem Ansichhalten.“209

Das von Heidegger betonte Noch-Nicht, das Ansichhalten auf der Seite der Kraft wiederholt sich jedoch nicht in der Möglichkeit. Am Beispiel der Baukunst kann dieser Unterschied deutlich werden, denn sie kann sich nur im Vollzug ihrer Kraft, also als Wirklichkeit ihrer Möglichkeit ereignen. Steht der Bau, dann findet auch keine Baukunst mehr statt. Die Kraft beschreibt die Möglichkeit zum Umschlag des ursprünglichen Materials in ein anderes: „Der Ausgang für den Umschlag ist in einem anderen als der Umschlag, d.h. in einem Seienden, das nicht dasselbe ist wie das, was umschlägt.“210 Die Kraft ist also stets auf den Wandel und die Bewegung gerichtet und gleichzeitig etwas anderes als das Bewegte selbst, sie wohnt allen Dingen inne bzw. hilft ihnen, in die Veränderung zu kommen. Dennoch bleibt die Frage, woher die Kraft kommt und was sie eigentlich ist. Sie scheint das Unsichtbare zu sein, ohne dass das Sichtbare nicht in seine jeweilige Erscheinung treten könnte. Die Kraft ist daher auf das Engste verbunden mit der Wirkung: „Wirkungen für sich sind ebenso wenig vorfindlich wie Kräfte für sich; Kräfte sind nicht weniger verständlich als Wirkungen, bzw. diese gleich rätselhaft wie jene.“211 Ein sehr eingängiges Beispiel ist hierfür die Schwerkraft. Wird ein Ding in einer gewissen Höhe nicht gehalten, so fällt es zu Boden. In der Architektur gibt es neben entsprechend konstruktiv-statischen Reaktionen auf Wirkungen noch andere Spielarten. Gemeinhin ist dann die Rede von Atmosphären, Stimmungen oder der Aura. Auch in diesen Fällen expandiert ein Material quasi immateriell und strahlt auf den Betrachter aus. Ebenso überlagern sich verschiedene Materialien in ihren Wirkungsfeldern. Jedes vom Architekten im Gefüge balancierte Ding scheint also seine eigene Wirkung zu haben, seine Wirklichkeit der Möglichkeit (des Materials). Die Wirkung, sprich die Kraft, ist also ein unsichtbares, temporales Drittes, das notwendig Möglichkeit und Wirklichkeit ergänzt, wobei die Möglichkeit ebenso unsichtbar ist. Will der Architekt im Sinne der Aristotelischen Baukunst wirken, so richtet er im Allgemeinen das Material auf einen Zweck hin aus, während er es bearbeitet. Der Zweck ist die Gebrauchsfähigkeit und in diesem Sinne wird der Stoff in einer bestimmten Weise gefügt. Es gibt jedoch seit der Zeit der europäischen Aufklärung noch eine andere Art von Hervorbringung, nämlich die der zweckfreien, künstlerischen Auseinandersetzung mit der Wirkung bzw. Kraft (siehe Kapitel 1). Diese Spielart verfolgt kein 209 Ebd., S. 192. 210 Ebd., S. 68. 211 Ebd., S. 78.

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Ziel, steuert keinen unmittelbaren Gebrauch an, sondern modelliert freier an den Wirkungsgefügen und will Erscheinungen zur Verwirklichung verhelfen, ohne diese vorher auszurichten. Emanzipieren sich die Künstler von Kanon und Gebrauch gleichermaßen, begeben sie sich auch auf die Suche nach der unmöglichen Möglichkeit. An die Stelle des Zweckes tritt dann der produktive Zufall, der ja auch in der Nikomachischen Ethik von Aristoteles schon diagnostiziert wurde (siehe Kapitel 1.2).

2.3. U NMÖGLICHE M ÖGLICHKEIT

IM

M ATERIAL

Im ersten Abschnitt wurde die unmögliche Möglichkeit mit der Erhabenheit verbunden und an den Schnittstellen zur Erkenntnistheorie betrachtet. Nun wird versucht, sie noch weiter abgelöst vom (etwa konstruktivistischen) Subjekt zu fokussieren.212 Die unmögliche Möglichkeit findet über die Wahrnehmung vielmehr auch direkt im Material statt. Man spricht dann gemeinhin von Wirkung und sieht darin deren temporal konditionierte Verflechtung mit der Wirklichkeit, denn sie dehnt sich förmlich als Sukzession im Raum aus. Architekten, die materialorientiert arbeiten bzw. hervorbringen, modellieren also auch an wandelnden Wirkungsgefügen, die sich fortlaufend überkreuzen und durchdringen.213 Hervorbringungen dieser Art sind nicht notwendig an Ziel- und Zweckvorstellungen

212 An dieser Stelle kann freilich nicht der Streit zwischen Geistphilosophen und materialistischen Deterministen behandelt werden. 213 Hier ist das atmosphärische Gefüge, also die leibliche Dimension der Wirkung gemeint, denn Gernot Böhme weist in seinem Buch Atmosphäre zu Recht darauf hin, dass das Material heutzutage in Oberfläche und inneres Design zerfällt. Vgl. hierzu: Böhme, Gernot: Der Glanz des Materials, in: Ders.: Atmosphäre, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995, S. 49-66, hier S. 49 ff. Der Autor betont, dass die Oberflächen der Materialien zumeist der Warenästhetik unterworfen werden (z.B. Farbgebung oder Strukturierung) und auch besondere Anforderungen (z.B. Kratzfestigkeit) erfüllen müssen, die wiederum durch ein spezielles Materialdesign geleistet werden. Daher zerfällt das Material in zwei Betrachtungsweisen: „Der Glanz des Materials, das Auseinandertreten von Oberflächendesign und innerem Design, die Entstofflichung der Ästhetik und die Anästhetisierung des Materials sind Ausdruck der ästhetischen Ökonomie als einer fortgeschrittenen Phase des Kapitalismus. Es geht um die Inszenierung der Waren und um die Selbstinszenierung der Menschen. Es geht um die Inszenierung von Politik, die Selbstinszenierung von Firmen. Die Inszenierung ganzer Städte, ja des großen kapitalistischen Festes als solchem.“ (S. 65)

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gebunden. Vielmehr passieren sie dem (Bau-)Künstler auch im ‚Empfangsmodus‘. Bernhard Heiliger fand hierzu den knappen Satz: „Man sucht ein Ding und findet doch etwas ganz anderes. Deshalb kann auch niemand voraussagen wie das Resultat aussehen wird.“214 Der Angang an eine materialorientierte Hervorbringung von Architektur kann sich auch auf das Akzidentelle im Aristotelischen Sinne berufen (siehe Kapitel 1.2). So formulierte dieser in der Metaphysik ein Finden anstelle eines zweckhaft und mit planender Vernunft durchgeführten Herstellens: „Akzidens nennt man dasjenige, was sich zwar an etwas findet und mit Wahrheit von ihm ausgesagt werden kann, aber weder notwendig noch in den meisten Fällen sich findet, z.B. wenn jemand beim Graben eines Loches für eine Pflanze einen Schatz fand.“215 Hier sei auch an Peter Zumthor erinnert, der davon spricht, dass dem Material ein Wesen innewohnt, „das bar jeglicher kulturell vermittelten Bedeutung ist“216. Auch bestreitet er, dass ein Sinn im Stofflichen durch kompositorische Regeln, Fühlbarkeit, Geruch oder akustischen Ausdruck bestimmt wird. Vielmehr kommt es ihm darauf an, der jeweiligen architektonischen, umweltlichen Situation das entsprechende Material zuzumessen. Er geht in seiner Arbeit nicht mit einer vorgefassten Zielvorstellung an die Formung des Stoffs, sondern setzt sich quasi dessen Wirken aus. Ein Architekt mit dieser Entwurfshaltung gleicht demjenigen, der ein Aristotelisches Loch (s.o.) für eine Pflanze gräbt und einen Schatz dabei findet. Das Akzidentelle in der Hervorbringung wird über das Material markiert und brückt ohne idealistische Weihen gleichzeitig in den schöpferischen Zufall. Es zeigt Potenziale, bzw. lässt diese erst einmal zu und weist damit den Weg in eine Baukunst als unmögliche Möglichkeit. In diesem Zusammenhang beschreibt sich Peter Zumthor folgerichtig als Art Kompositeur: „Ich nehme eine bestimmte Menge von Eichenholz und eine andere Menge von Tuffstein […]. Dann legen wir die Dinge konkret hin, zuerst im Geiste bald aber wirklich. Und schauen, wie sie miteinander reagieren […]. Materialien klingen zusammen und kommen zum Strahlen, und in dieser Materialkomposition entsteht etwas Einmaliges. Materialien sind unendlich […]. Es gibt eine kritische Nähe der Materialien zueinander, die ist abhängig vom Material selber und vom Gewicht, das es hat. Und Sie können Materialien in einem Bauwerk zusammenbringen. Da gibt es einen Punkt, wo sie zu weit weg sind, dann 214 Heiliger, Bernhard: handschriftliche Notiz, in: Marc Wellmann (Hg.): Bernhard Heiliger 1915-1995. Monographie und Werkverzeichnis, Ausstellungskatalog Bernhard Heiliger 1915-1995: Kosmos eines Bildhauers, Köln: Wienand, 2005, S. 12. 215 Aristoteles: Metaphysik, V, 30, 1025 a–1025 b. 216 Zumthor, Peter: Architektur denken, 2. erw. Aufl., Basel/Boston/Berlin: Birkhäuser, 2006, S. 10.

146 | B AUKUNST ALS UNMÖGLICHE M ÖGLICHKEIT schwingen sie nicht miteinander, und da gibt es einen Punkt, wo sie zu eng sind, und dann sind sie tot.“217

Auch Eduardo Chillida schilderte das ‚Dialogpotenzial‘ des Materials: „Das Erste ist immer die Idee, die einem im Kopfe steckt. Es ist wie die Erinnerung an etwas, das ich bislang noch nicht realisiert hatte. Manchmal aber vergesse ich sofort die Zeichnung, weil mich die Idee in die Dreidimensionalität geführt hat.“218 Es scheint, als hätte Chillida sich hier auf Schelling berufen,219der in der Abhandlung Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur von einem lebendigen Mittelglied ausgegangen war, das die Kunst mit der Natur zusammenfügt: „Welches thätig wirksame Band bindet nun aber beide zusammen […]. Liegt dieses nicht im Vermögen der Kunst, wie der Natur, so vermag sie überhaupt nichts zu schaffen.“220 Fehlt dieses Mittelglied, so Schelling, bleibt die Kunst in sich selbst verhaftet, wird quasi ihrer Wirkung beraubt und zeigt dieses in einer Art negativen Potenzialität auch als Mangel an: „Schon längst ist eingesehen worden, daß in der Kunst nicht alles mit dem Bewußtseyn ausgerichtet wird, daß mit der bewußten Thätigkeit eine bewußtlose Kraft sich verbinden muß, und daß die vollkommne Einigkeit und gegenseitige Durchdringung dieser beiden das Höchste der Kunst erzeugt. Werke, denen dieß Siegel bewußtloser Wissenschaft fehlt, werden durch den fühlbaren Mangel an selbständigem von dem Hervorbringenden unabhängigem Leben erkannt, da im Gegentheil, wo diese wirkt, die Kunst ihrem Werk mit der

217 Zumthor, Peter: Atmosphären. Architektonische Umgebungen – die Dinge um mich herum, Basel/Boston/Berlin: Birkhäuser, 2006, S. 25 ff. 218 Chillida, Eduardo: Im Gespräch, in: Martina Schleppinghoff/Kurt Danch (Hg.): Chillida im geistlichen Raum, Ausstellungskatalog im Rahmen „Kunst-Station Sankt Peter“, Köln: Wienand, 1993, S. 9-23, hier S. 9. 219 Im intellektuellen Kosmos der (Früh-) Romantik kannte sich Chillida sehr gut aus. So bezog er sich in Interviews wie auch in Form von Skulpturen, Hommagen oder Malerbüchern u.a. auf Goethe, Hölderlin, Novalis, und auch auf J.S. Bach. Ebenfalls erwähnte er Lektüren von Jakob Böhme, Meister Eckhard oder Heinrich Seuse. Siehe hierzu: Chillida, Eduardo: Im Gespräch, S. 9 ff.; und: Eduardo Chillida in Deutschland, in: Eduardo Chillida, Ausstellungskatalog des Picasso-Museums Münster, hrsg. von Markus Müller, München: Hirmer, 2011, S 129-185, hier S. 129 ff. 220 Schelling, F.W.J: Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur, in: Ders.: Aufsätze und Rezensionen zur Kunst, SW, Bd. 7, S. 291-325, hier S. 295.

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höchsten Klarheit des Verstandes zugleich jene unergründliche Realität ertheilt, durch die es einem Naturwerk ähnlich erscheint.“221

Bei Chillida nun gibt es ein Verständnis des Materials bzw. einen Sinn für die ‚bewusstlose Kraft’ im Werk, die mit Schellings Gedanken entschlüsselbar sind. So können Volumen nur in der Beziehung existieren, die ein unsichtbares Element möglich macht: „Aufgabe der Substanz einer Plastik ist es, seine Gegenwart fühlbar zu machen.“222 Der Bildhauer fokussiert in seinen Werken also nicht nur eine fertige Form, sondern sieht deren Wirkung aus der Präsenz der Plastik selbst entstehen. Hier werden Möglichkeit und Stoff als Einheit gedacht und mehr noch, denn sie greifen als eine solche auch in den Raum aus, beugen ihn gleichsam. Das Material überschreitet damit seine physisch bestimmbaren Grenzen. In seinem Text „Die Kunst und der Raum“, der von 1967-69 gemeinsam mit Eduardo Chillida entstanden ist, präzisiert Martin Heidegger diesen Vorgang folgendermaßen: „Die plastischen Gebilde sind Körper. Ihre Masse, aus verschiedenen Stoffen bestehend, ist vielfältig gestaltet. Das Gestalten geschieht im Abgrenzen als Ein- und Ausgrenzen.“223 Freilich bleibt hier die Frage offen, ob der Ausgriff der Möglichkeit im Material den Raum tatsächlich beugt. Deshalb will Heidegger dessen euklidische Bestimmungen überwinden: „Das Räumen erbringt das Freie, Offene für ein Siedeln und Wohnen des Menschen.“224 Der Raum ist also nicht vor Allem da, sondern er entsteht. Im Entstehen wiederum gibt er etwas frei und gesteht den Dingen deren Möglichkeiten zu, durch die sie als Orte wirken, das heißt, dass der Ort, also die Dinge und somit auch das Material den Raum beugen oder, wie Heidegger sagt, einräumen: „Die Plastik wäre die Verkörperung von Orten, die, eine Gegend öffnend und sie verwahrend, ein Freies um sich versammelt halten, das ein Verweilen gewährt den jeweiligen Dingen und ein Wohnen dem Menschen inmitten der Dinge.“225 In dieser Sichtweise wendet sich auch die Bedeutung des Zwischenraums, der während des Ein- und Ausgrenzens entsprechend gebeugt wird. Er ist durch den Ausgriff der Dinge bzw. Materialien quasi als Leere präsent, aber entzieht sich gleichzeitig der herkömmlichen Bedeutung von leer. Vielmehr gehört diese Art von nicht221 Ebd., S. 300 f. 222 Chillida, Eduardo: Der Raum, in: Martina Schleppinghoff/Kurt Danch (Hg.): Chillida im geistlichen Raum, S. 23-24, hier S. 23. 223 Heidegger, Martin: Die Kunst und der Raum, in: Ders.: Aus der Erfahrung des Denkens, GA, Bd. 13, hrsg. von Herrmann Heidegger, 2. durchges. Aufl., Frankfurt/M.: Klostermann, 2002, S. 203-211, hier S. 204. 224 Ebd., S. 206. 225 Ebd., S. 208.

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euklidischer Leere zu den Dingen und beschreibt ein Noch-Nicht oder eine Fülle, die unmögliche Möglichkeiten birgt und freigibt: „Die Leere ist nicht nichts. Sie ist auch kein Mangel. In der plastischen Verkörperung spielt die Leere in der Weise des suchend-entwerfenden Stiftens von Orten“226 (siehe auch Kapitel 3). Was aber ist Architektur anderes, als diese raumbeugende Wirksamkeit der Substanz? Was ist diese anderes, als eine Plastik? Hierauf lässt sich wiederum mit Schelling antworten, dass es zwischen beiden Kunstarten keinen Unterschied gibt. In der Philosophie der Kunst geht er deutlicher auf die Verbindung von Bildhauerei und Baukunst unter dem Begriff der Plastik ein: „Die Plastik dagegen stellt Substanz und Accidens, Ursache und Wirkung, Möglichkeit und Wirklichkeit als Eines dar. Sie drückt also die Formen der Relation aus (Quantität und Qualität als eins) […]. Daß die Architektur überhaupt eine Art der Plastik sey, erhellt von selbst, da sie ihre Gegenstände durch körperliche Dinge darstellt.“227 Bei dem Erleben von plastischen, architektonischen oder stadträumlichen Situationen sind die Menschen also inmitten von Wirkungsgefügen der Dinge. Frank Lloyd Wright wies diesbezüglich darauf hin, dass Gebäude nur stimmig sein können im organischen Zusammenhang mit deren Raumfolgen und Ausstattungen. Jeder Bau muss darüber hinaus im Einklang mit seiner spezifischen Umgebung stehen: „Das moderne Gebäude jedoch ist im Gegensatz zu jener früheren unvernünftigen Anhäufung von Teilen ein organisches Wesen. Bestimmt haben wir hier das höhere Ideal der Einheitlichkeit als innigere Verwirklichung des Ausdrucks des eigenen Lebens in der eigenen Umgebung. Eine einzige große Sache statt einer widersprüchlichen Kollektion so vieler kleiner Dinge.“228

Julius Posener erkennt acht Grundsätze als Prinzipien des Wrightschen Hauses, das die „Zerstörung der Kiste“229 befördert: den freien Plan (geräumige Zimmer), menschlichen Maßstab (eher gedrungene Deckenhöhe), weite Dachüberstände, die Auflösung der Außen- und Innenwände, einen Rhythmus der Struktur (Gliederung durch Einzel- und Gruppenstützen), Achsialität, Gruppierung (alternie226 Ebd., S. 209. 227 Schelling, F.W.J: Reale Seite der Kunstwelt oder die bildende Kunst, S. 571 f. 228 Lloyd Wright, Frank: Organische Architektur, in: Conrads, Ulrich (Hg.): Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, S. 22-23, hier S. 22. 229 Posener, Julius: Frank Lloyd Wright I, in: Ders.: Vorlesungen zur Geschichte der neuen Architektur (I) – Die moderne Architektur (1924 – 1933); in: Arch+ Zeitschrift für Architektur und Städtebau, Heft 48 (1985), S. 32-38, hier S. 34.

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rende Kubaturen und im Inneren Zusammenlegung von Bereichen), Materialehrlichkeit und Einheitlichkeit (der Raum als durchkomponiertes Kunstwerk aus Form, Material, Farbe, Möbel und Ornamenten). Weiterhin erläutert er den Begriff des Organischen und sieht darin eine anti-vitruvianische Programmatik, die an der Emanzipation überkommener Anforderungen und Vorstellungen an Maß und Proportion mitarbeitet: „Organisch ist eine Architektur, welche diese Beziehung [zwischen Form und Funktion, CJG] anerkennt und in die Mitte der Arbeit stellt. Unorganisch ist die Architektur, die sich auf Vitruv und Vignola beruft, eine Architektur als Exercitium der Form.“230 Posener betont den von Wright proklamierten „Kult der Natur“231, der auch seinen Begriff des Organischen prägt. Er sieht in dieser Haltung eine Adaption der geistigen Gemengelage in den USA des 19. Jahrhunderts: „Das Haus beschützend, aber offen, mit allen Gliedern in der Landschaft lebend, ist seine Schöpfung. Gewiss, sie konnte nur in Amerika entstehen. Aber sie hat allgemeine Gültigkeit.232 Das Prinzip der Materialehrlichkeit („nature of materials“) schließt sich an diese Haltung an. Es folgt dem Anspruch, das Material seinem Wesen gemäß einzusetzen, wobei nicht weiter erläutert wird, was mit Wesen gemeint ist und strebt die Verwendung von Baustoffen der jeweiligen Umgebung auch im Inneren des Gebäudes an. Das befördert die Assoziation vom ‚gewachsenen Haus‘. Frank Lloyd Wright baut also substanziell, das heißt, es kommen z.B. Backsteinpfeiler, Naturstein-Mauerflächen oder archaische Holzpfosten bzw. Stützen zum Einsatz, die im Heideggerschen wie Chillidaschen Sinne zur Beugung des Raums beitragen – freilich steht er damit im Gegensatz zur europäischen Avantgarde jener Zeit, die sich primär mit der Substanzlosigkeit befasst. Am Beispiel des Hauses „Fallingwater“ (1935-37) zeigt sich deutlich, wie eine so verstandene organische, materialehrliche Architektur aussehen kann, wobei dieser Einfamilienhausbau zunächst als untypisch aus der oben beschriebenen Wrightschen Programmatik der acht Prinzipien herausragt, weil beispielsweise die weit auskragenden, geneigten Dächer fehlen und großflächig weiß verputzte Betonflächen dominieren. Dennoch gibt es auch in diesem Projekt kaum eine Trennung zwischen Architektur und Natur. Es ist, als folge „Fallingwater“ der Schellingschen Definition eines Kunstwerks, das sich dadurch charakterisiert, dass „jene unergründliche Realität [wirke, CJG] […], durch die es einem Naturwerk ähnlich erscheint“233. Auch Günter Figal beschreibt das Projekt in seinem Buch Erscheinungsdinge. Für ihn gibt „Fallingwater“ nicht nur 230 Ebd., S. 35. 231 Ebd., S. 37. 232 Ebd., S. 32. 233 Schelling, F.W.J: Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur, S. 300 f.

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den Blick frei auf die äußere Natur, sondern es ist diese selbst. Das zeigt sich durch die Materialien wie Walnussholz oder verschiedene Felssteine, aber auch durch die Klangsignatur. Das Rauschen des Windes und das Plätschern des Wassers durchziehen das Haus, erwecken es zum Leben und lassen es sich als dieses selbst darstellen. Dort, wo eindeutig anorganische Formen verwandt werden (etwa bei rechtwinklig geschnittenen Terrassen), stehen diese nicht im Widerspruch zur Umgebung, sondern betonen sie noch: „Und schließlich zeigt das Haus die Natur, indem es in diese hineingestellt ist. Es fügt sich ihr ein und lässt sie hervorkommen, indem es sich von ihr in der Einfügung abhebt.“234 Hier taucht auch das Motiv des eingrenzenden Ausgrenzens auf, das Heidegger und Chillida im bereits erwähnten Text „Die Kunst und der Raum“ aufgegriffen hatten, denn das Ding (in diesem Falle ein Haus) räumt den Raum ein und schafft damit einen Ort. Figal schreibt zu diesem Phänomen: „Doch erst durch Begrenzung und Einschließung ist das Natürliche als solches da; erst durch sie ist die Natur von der Vollzugsweise der Begrenzung und Einschließung verschieden.“235 Aber nicht ‚nur‘ in der Wahrnehmung des fertigen Werkes, sondern auch während seiner Gestaltung wirkt das Geformte bzw. weiter zu Formende beständig und fließend zugleich auf den Hervorbringenden zurück. Eduardo Chillida zufolge entsteht eine Art Dialog zwischen Künstler und Material: „Wenn ich ein Werk beginne, erkenne ich kaum, wohin ich mich begebe. Ich sehe lediglich eine ungefähre Raumgestalt, bei der sich nach und nach ein paar Kraftlinien abzeichnen. Zu Beginn ist die Form wie ein unbestimmtes Aroma, das sich durchsetzt, je mehr es Gestalt annimmt.“236

Das Werk wird also nicht bestimmt durch etwas, das mit Zielen und Zwecken und einem kalkulierten Vorgehen verbunden ist bzw. auf diese Weise regelrecht erzwungen wird, sondern lässt sich von etwas Ungreifbarem leiten, das auch auf den Hervorbringenden zukommt – freilich nur dann, wenn dieser es zulässt und dafür offen ist. Wie aber sollen (Rechen-)Maschinen diese Aromen wahrnehmen? Ist die Maschine als Werkzeug und Mittel in der Hand des Künstlers (etwa ein Hammer, Meißel oder auch ein elektrischer Winkelschleifer), stellt sich diese Frage nicht, aber wenn die Apparatur beginnt zu dominieren und ihren Bediener im Handeln zu strukturieren oder gar zu verdrängen, hat es zwangsläufig auch Auswirkungen auf die Hervorbringung von unmöglichen Möglichkeiten, die im Material, das heißt, in der Plastik bzw. Architektur liegen. Der Apparat bringt 234 Figal, Günther: Erscheinungsdinge, S. 194. 235 Ebd., S. 195. 236 Eduardo Chillida, Ausstellungskatalog des Picasso-Museums Münster, S. 14.

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zwar in perfekter, effizienter und unvergleichlich schneller Art und Weise Artefakte hervor,237 das jedoch, was er hervorbringt, folgt lediglich Plänen (etwa bei einer CNC-Fräse). Die Maschine hat kein Verständnis von Welt, denn sie ist nicht gewachsen, sondern konstruiert, eben künstlich.238 Zur Verdeutlichung lohnt hier ein kurzer Blick auf Hans Jonas. Er beschäftigt sich mit dem Organischen und beleuchtet es aus einer philosophisch-biologischen Sicht. Für ihn gibt es keinen Dualismus zwischen körperlich und geistig mehr. Er bleibt also nicht stehen bei der Aristotelischen Definition von Form und Stoff, sondern überwindet beide Kategorien durch die Einführung eines verbindenden Milieus. Sein Interesse richtet sich auf das Mittlere als „Mittelbarkeit im Verhältnis des Organismus zur Umwelt“239. Er sieht dieses Prinzip bei Pflanzen wie bei Tieren in den drei Aspekten Bewegung, Wahrnehmung und Emotion. Sie sind Wegmarken eines Strebens und Handelns und auch die menschliche Welt wird durch sie konstituiert. Am Leitfaden dieser Trias dekonstruiert er förmlich die Rolle der Maschine der Moderne bzw. zeigt auf, wo deren Möglichkeiten enden. In Das Prinzip Leben beschäftigt Jonas sich ebenfalls mit der Kybernetik und verdeutlicht zunächst, dass der Wortstamm so viel wie Lotse bedeutet. Die modernen Maschinen übernehmen ihre Steuerung selbst und unterscheiden sich damit von ihren Vorläufern, den „riesenhaften Sklaven“240 des 19. Jahrhunderts. Ihnen wer237 Vgl. hierzu: Sennett, Richard: Maschinen, in: Ders.: Handwerk, 2. Aufl., Berlin: BvT, 2010 [engl. 2008], S. 113-162. Der Autor verdeutlicht, wie in der Zeit der Aufklärung das Wissen und die Fähigkeiten des einzelnen Handwerkers überführt wurden in standardisierbare und reproduzierbare Prozeduren und Mechanismen. Die Werkstatt wandelte sich langsam zur Fabrik: „Mit zunehmender Reife der Maschinenkultur erschien der Handwerker im 19. Jahrhundert immer weniger als Vermittler und immer mehr als Feind der Maschine. Angesichts der rigorosen Perfektion der Maschinen wurde der Handwerker zu einem Emblem menschlicher Individualität.“ (S. 117) 238 Als Beispiel kann eine gepresste Spanholzplatte dienen, die mit einem Eichenfurnier beklebt und maschinell zu einem Tisch verarbeitet ist – im Vergleich zu einem entsprechenden Vollholz, das durch einen Tischler mit der Hand die Gestalt erfährt, kann sie sich nicht behaupten. Vgl. hierzu: Böhme, Gernot: Inszenierte Materialität, in: Architektur und Atmosphäre, München: Fink, 2006, S. 152-162. Der Autor nennt die Spanplatte als Beispiel für ein „Paradigma für ein Auseinanderfallen von Materie und Materialitäts-Wert, von Werkstoffqualität und Inszenierungswert.“ (S. 157) 239 Jonas, Hans: Kybernetik und Zweck. Eine Kritik, in: Das Prinzip Leben, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1994, S. 195-233, hier S. 305. 240 Ebd., S. 199.

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den durchaus menschliche Attribute zugeschrieben – so sollen sie wahrnehmen, sich anpassen, zielstrebig sein, sich erinnern, lernen und Entscheidungen treffen. Die Kybernetiker versuchten auf diese Weise, ein einheitliches Erklärungsmodell für materielle wie geistige Phänomene zu etablieren. Sie haben bei ihrer Adaption natürlicher Zusammenhänge aber einen entscheidenden Aspekt übersehen: „Lebende Dinge sind Geschöpfe des Bedürfnisses und handeln aufgrund von Bedürfnissen. Das Bedürfnis gründet einerseits in der Notwendigkeit ständiger Selbsterneuerung des Organismus mittels des Stoffwechsels, andererseits im elementaren Drang des Organismus, auf solch prekäre Weise sein Dasein fortzusetzen.“241

Die Maschinen wiederum berufen sich zum Funktionieren primär auf die Adaption menschlicher Wahrnehmung, etwa durch Sensoren und zielgerichtete Bewegung. Sie kennen weder das Gefühl, das Prekäre, noch den Drang und auch fehlt ihnen der Überlebenswille: „Für den Instinkt der Selbsterhaltung gibt es keine Analogie in der Maschine, nur für die Antithese der Selbsterhaltung, die schließliche Entropie des Todes.“242 Hieran wird auch deutlich, warum die Hervorbringungen der (Rechen-)Maschinen auf eigentümliche Weise weltlos sind. Wie weiter oben beschrieben, bleiben auch die Apparaturen, die über ihren Werkzeugcharakter hinauswachsen, tote Stücke. Keine menschliche Hand führt mehr die Linie, sondern ein festgelegter Ablauf. Ihre Verbindungen zur Umgebung (etwa mit Sensoren) sind genauso steril, weil in technischer Übersetzung und damit ‚Verkürzung von Welt’ hervorgebracht.243 Das zeigt sich auch an den Hochglanzbildern (Renderings), die aus rechnerbasierten 3D-Modellen stammen und Architekturentwürfe visualisieren. Wie soll auch etwas, das weder atmet, noch fühlt – also in gewisser Weise tot ist – Lebendiges hervorbringen können?244 241 Ebd., S. 218 f. 242 Ebd., S. 219. 243 Vgl. hierzu Sennett, Richard: Maschinen: Der Autor empfiehlt hier, dass der Mensch nicht mit der Maschine konkurrieren sollte. Er begreift die Technologie und deren Erzeugnisse vielmehr als Vorschlag, den man nicht annehmen muss: „Gegen den Anspruch auf Perfektion können wir unseren Anspruch auf Individualität setzen, der unserer Arbeit ihre Besonderheit und ihren Charakter verleiht.“ (S. 145) 244 Vgl. zum Gedanken eines Fehlens des Gefühls beim gestaltenden Menschen: Itten, Johannes: Elemente der Bildenden Kunst. Studienausgabe des Tagebuchs, Vorw. u. Kommentar von Peter Schmitt, Ravensburg: Mainer, 1980. An dieser Stelle schon einmal ein kurzer Vorgriff zu Johannes Itten (2.3.5). Von 1919-1923 war er verant-

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Hier wirft auch Gernot Böhme einen kritischen Blick auf die Fassaden und Oberflächen gegenwärtiger Architektur, denn heutzutage hat man es (der Standardisierung der Baumaterialien geschuldet) nicht mehr mit dem Herausarbeiten der besonderen Potenziale eines Materials zu tun, sondern mit visueller wie virtueller Planung. In ihr wird (meist aus Hochglanzkatalogen) nur die äußere Bekleidung des Baukörpers ausgesucht und nicht selten ist diese bloßen Vermarktungs- und auch Renditeinteressen geschuldet. Böhme unterscheidet deshalb Material von Materialität und verortet diese Differenz in der Möglichkeit, das traditionelle Gespann von Stütze (bzw. Wand) und Last nicht mehr nach außen abbilden zu müssen. Vielmehr kann alternativ eine Fassade vor die eigentliche Tragstruktur gehangen werden. Sie unterliegt dann keinen statischen Prämissen mehr und auch keinem konstruktiven Zweck. Böhme macht die genannte Differenz denn auch an der Trias „Bearbeitungs-, Beanspruchungs-, und ökonomischrechtliche Qualitäten“245 fest, denn ein Werkstoff wird heutzutage primär an seiner Verarbeitbarkeit gemessen und nicht mehr an seinem Charakter oder Wesen. Eine solche „Geburt der Materialwissenschaft als Ingenieurstechnik“246 beschert uns Heutigen zwar funktionale Tausendsassa, aber allzu oft auch sterile Oberflächen – eben charakterlose Erscheinungen. In der Diskrepanz von Material und Materialität wiederholt sich also auch diejenige von Bauwerk und Fassade. Das wortlich für den Vorkurs am Weimarer „bauhaus“. Er betont, dass die Gestaltung durch die Sinne, das Erkennen und Fühlen geprägt ist: „Fehlt eines dieser drei Elemente, so wird die Gestaltung einseitig werden. Ist die Schwäche in der Sinnesfunktion, so wirkt das Resultat leicht phantastisch-unsinnig! Ist die Schwäche im Erkennen, dann herrscht Unklarheit, Unordnung in der Arbeit. Und ist die Schwäche im Fühlen, dann wirkt das Resultat kalt, unlebendig.“ (S. 102) Wie groß muss sich erst die Schwäche im Fühlen auf die Hervorbringungen auswirken, wenn diese von bzw. aus einem Apparat kommen, der das Fühlen gar nicht ‚kennt‘ und dessen hergestellte Dinge aber trotzdem zu den Menschen gelangen? Allerdings schreibt Itten im Text „Kunstgewerbe oder Arbeit“ von 1925 (in: Johannes Itten. Werke und Schriften, hrsg. von Willy Rotzler, Zürich: Orel Füssli, 1972, S. 227-228 [im Folgenden JIWS]), dass die maschinell hervorgebrachten Dinge dann ihre Unlebendigkeit überwinden, wenn sie mit Liebe hergestellt sind: „Die Kunst dem Handwerker bringen zu wollen, ist ebenso lächerlich, wie die Industrie verhandwerklichen zu wollen. Der Handwerker ist sofort Künstler, wenn er so arbeitet, wie er es von ganzem Herzen und mit all seiner Liebe tun kann. Und die Produkte der Industrie werden sofort die Kälte und Leblosigkeit verlieren, wenn alle, die an dem Produkt mit Hilfe der Maschinen arbeiten, mit Liebe arbeiten.“ (S. 227) 245 Böhme, Gernot: Architektur und Atmosphäre, S. 156. 246 Ebd.

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natürliche Material hingegen zeigt sich den Menschen in einer unendlichen Vielfalt, denn es ist eingewoben in die Welt – es hat (zusammen bzw. in Interaktion mit Luft, Geruch, Schall, Hitze, Kälte, Trockenheit, Nässe, Farbe, Störungen, Textur, Rauheit, Glätte, Gewicht etc.) Welt und es erzeugt sie gleichzeitig. Böhme sieht darin sogar eine Art magischen Vorgang: „Magie ist rätselhaft, sie ist unverständlich, weil Ursache und Wirkung nicht von gleicher Art sind, und sie ist gefährlich und heimtückisch, weil sie auch gegen unseren Willen wirkt. All das trifft zu auf die Wirkung von Materialien.“247 Böhme unterscheidet in der Folge drei Möglichkeiten für die Veränderung des Materials. Zunächst eine bearbeitende Beziehung im Sinne von (auch handgreiflicher) Formung und Veränderung eines Werkstoffes, dann eine wahrnehmende, die sich auch mit der Materialität im genannten Sinne zufrieden geben kann und zum Dritten eine mediale. Das Mediale ist mit dem Spüren verbunden. Hier reicht es nicht, einem bloß visuellen Reiz zu folgen und auch nicht, das Material zu betasten. Vielmehr ist mit dem Spüren eine Art Verschmelzen gemeint: „Das Spüren von Materie ist in diesem Sinne ein Sich-Spüren. In diesem leiblichen SichSpüren ist das Fundament auch der späteren Materialwahrnehmung zu sehen. In gewissem Sinne geht es niemals verloren, denn wir bleiben Körper mit Körpern und leben in Medien.“248

Es werden hier also drei Varianten mit zwei Tendenzen entfaltet. Im Formen und medialen Spüren setzt sich der Mensch in gewisser Weise aktiv mit dem Material auseinander, während er im Akt der Wahrnehmung passiv zu bleiben scheint – eben im Modus des Nehmens. Betrachtet man aber die aktiven Modi, taucht für die Hervorbringer die Aristotelisch motivierte Frage auf, ob man einem Gestaltungsansatz verpflichtet ist, der den Stoff (von außen) formt oder ob man sich als derjenige sieht, der das Material (von innen) her freilegt – ist man also sein Bearbeiter oder aber Schöpfer? Fragen dieser Art sind nicht mehr ganz neu, denn mit dem Einzug der Maschinen in die Architektur begann eine Art Abwehrkampf der (Bau-)Künstler gegen Typisierung und Normierung. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass in England, als einem der ersten industrialisierten Länder, das Spannungsfeld von Kunst, Material und Maschine früh entstand.249 John Ruskin war ein erklärter 247 Ebd., S. 160. 248 Ebd., S. 162. 249 Vgl. hierzu: Posener, Julius: Anfänge des Funktionalismus. Von Arts and Crafts zum Deutschen Werkbund, Berlin: Ullstein, 1964. Der Autor betont, dass seit den

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Gegner dieses Maschinenzeitalters. In seinem Buch Die sieben Leuchter der Baukunst von 1849 konstatiert er eine „Versündigung an der Erde“ und ganz in diesem Stile wird in der Folge die harte Arbeit mit dem aufrichtigen Dienst an Gott verbunden und auch die Überzeugung vertreten, dass Schönheit etwas mit Form (im Sinne des Form-Stoff-Dualismus) zu tun hat. Den hohen moralischen Maßstab, „Lasst uns ganz auf die Lüge verzichten: nicht denken, die Unwahrheit sei harmlos, die andere geringfügig, die dritte unbeabsichtigt. Legt sie aber entschlossen beiseite.“,250 überträgt Ruskin auch auf die Baukunst, deren Handwerker er „durch einen ritterlichen Geist [der Wahrheit, CJG] angespornt sehen möchte“251. Die hohe Moral soll helfen, architektonischen Betrug zu vermeiden, der sich in drei Facetten zeigt: Vorspiegelung falscher Konstruktionen; Bemalen von Oberflächen, um andere Materialien vorzugaukeln; oder aber Verwendung maschinell hergestellter Ornamente aus Stuck oder Gusseisen: „Im allgemeinen kann man behaupten: Architektur wird edel in dem Maße sein, wie alle falschen Auskunftsmittel vermieden werden.“252 Dieses Motiv durchzieht auch die zwei Jahre später erschienene Schrift Die Steine von Venedig, in der Ruskin die Tugenden der Architektur beschreibt und ein diesbezügliches „rechtmäßiges Gesetz“253 sucht, das in aller Welt und für alle Zeit angewendet werden kann. Seine Bedenken gegen die Maschinen bringt er zum Ausdruck, indem er handwerkliche Rohheit und Ungenauigkeit nicht als Störung begreift: „Menschen wurden nicht geschaffen, um mit der Genauigkeit von Werkzeugen zu arbeiten, und in allen ihren Ausführungen korrekt und vollkommen zu sein. Wenn man nun dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts verschiedene Denker (er behandelt Lethaby, Jackson, Vorsey, Ashbee, Scott, Ruskin) versuchten, sich des Problems der Kunst im Angesicht der Industrialisierung bewusst zu werden. Die Gotik diente dabei als Gegenmodell zur künstlichen und komponierten Architektur der Renaissance. Sie ließ der Natur, der Phantasie und dem Handwerk Raum. Zusammen mit einer rationalistischen Haltung entwickelt sich aus dieser Gemengelage der Funktionalismus. In ihm gerät die Vitruvsche Trias „Festigkeit, Gebrauch, Augenfreude“ zur Formel „Festigkeit und Gebrauch gleich Augenfreude“. Hieraus wächst die „Art and Crafts“ Bewegung, die in Deutschland mit dem Wort Kunstgewerbe übersetzt wurde. „Arts and Crafts“ war allerdings nicht nur ein Stil, sondern auch eine Ethik, die den Menschen das ‚wahre‘ Leben ermöglichen sollte. 250 Ruskin, John: Die sieben Leuchter der Baukunst, S. 58 f. 251 Ebd., S. 61. 252 Ebd., S. 65. 253 Ruskin, John: Die Steine von Venedig, Bd.1, in: Ders.: Werke, Bd. 8, übers. von Hedwig Jahn, Leipzig: Eugen Diederichs, 1903, S. 47.

156 | B AUKUNST ALS UNMÖGLICHE M ÖGLICHKEIT diese Genauigkeit von ihnen verlangt, und ihre Finger Entfernungen abmessen sollen wie Zahnräder, und ihre Arme Kurven schlagen wie Zirkel, dann muss man sie unmenschlich machen.“254

Ein Bau, an dem alle Teile völlig gleich sind, kann also nur entstehen, wenn die Arbeiter zuvor zu Sklaven gemacht wurden. In der Folge attestiert Ruskin der modernen, arbeitsteiligen Welt eine innewohnende Entfremdung, die den Arbeitern ihre Freiheit nimmt und redet einem Handwerks-Egalitarismus das Wort: „[…] und ein Mann sollte von dem anderen nur unterschieden sein durch Erfahrung und Geschicklichkeit, und durch das Ansehen und den Reichtum, den beides er naturgemäß und berechtigter Weise erlangen muss“255. Am Beispiel der Gotik führt er aus, dass deren ‚edle Unvollkommenheit‘ durch die Freiheit der Arbeiter hervorbracht wurde. Auch daraus leitet er ein allgemein gültiges Gesetz ab, wonach gebaute Unvollkommenheit ein Zeichen von Lebendigkeit ist: „Nichts, was lebt, ist streng vollkommen, oder kann es überhaupt sein; ein Teil desselben vergeht, während ein anderer entsteht […]. Und bei allen lebenden Dingen findet man gewisse Unregelmäßigkeiten und Mängel, die nicht nur Zeichen von Leben sind, sondern auch Quellen von Schönheit.“256

Ruskin sieht die Wahrheit großer Kunst darin, dass sie „n i c h t immer dasselbe wieder und wieder ausspricht“257. Die Architektur sagt also verschiedene Dinge aus, ist in permanentem Wandel und nicht gebunden an ein ewiges harmonisches System: „Wir müssen daher ein für allemal begreifen, dass Abwechslung oder Veränderung bei Bauwerken ebenso notwendig für Geist und Herz des Menschen sind wie bei Büchern; und dass Einförmigkeit, so nützlich sie manchmal sein mag, kein Vorzug ist.“258 Die Gotik hatte den Mut zur Expressivität, zur Aufsprengung des tradierten, antiken Proportionskäfigs und glich einem antivitruvianischen Befreiungsschlag. Sie experimentierte mit neuen Formen und erneuerte sich permanent, was Ruskin an Bogenformen, dem Spiel von Licht und Schatten, oder Maßwerken verdeutlicht:

254 Ruskin, John: Die Steine von Venedig, Bd. 2, in: Ders.: Werke, Bd. 9, übers. von Hedwig Jahn, Jena: Eugen Diederichs, 1904, S. 186. 255 Ebd., S. 195. 256 Ebd., S. 197. 257 Ebd., S. 200. 258 Ebd., S. 201.

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„Das Lebensprinzip ist nicht die Liebe zur Wissenschaft, sondern die Liebe zur Veränderung. Gerade in der seltsamen Unruhe des gotischen Geistes liegt seine Größe; in jener Ruhelosigkeit des träumenden Geistes, der hin und her schweift zwischen den Nischen und fieberisch um die Spitzbogen flackert und in labyrinthischen Verschlingungen und Schatten an Wand und Dach aufkräuselt und entschwindet, und sich nie genug tut, und auch nie genug tun kann.“259

An dieser Stelle wird klar, dass eine dermaßen naturhafte Kunsterfahrung sich aus der eigentümlichen Statik und Starre der ‚ewigen Ideen’ lösen konnte bzw. musste, die den Betrachter möglichst bewegungslos brauchte, wie z.B. die Zentralperspektive es zeigt. In der Hinwendung zum Leben, zur Wirklichkeit jedoch, steht die Kunsterfahrung in Verbindung mit dem permanenten Wandel, der auch die Kunstproduktion bestimmt. Die Maschinen und eine serielle Produktionsweise konnten dieses Lebensprinzip nicht darstellen. Sie waren und blieben im 19. und auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Steine des Anstoßes, so hatte u.a. Frank Lloyd Wright 1904 die Ambivalenz zwischen Standardisierung und Kreativität folgendermaßen umrissen: „Standardisierung gehört zur Logik des Planens, sie ist eine Grundlage der Architektur. Alles in der Natur drängt zur Kristallisation, zur mathematischen Form; hat es sie erreicht, wird es konform, wie man leicht sehen kann. Es gibt natürlich eine fließende, elastische Periode des Werdens, in der Natur wie beim Planen, wenn noch alle Möglichkeiten offen sind.“260

In Europa wurden dementsprechend auch vor dem Ersten Weltkrieg hitzige Debatten um die Zukunft der Architektur als (Bau-)Kunst geführt. Berühmt geworden ist die Tagung des Deutschen Werkbunds in Köln im Juli 1914.261 Dort tra259 Ebd., S. 208. 260 Lloyd Wright, Frank: Zitiert nach: Posener, Julius: Frank Lloyd Wright II, in: Ders.: Vorlesungen zur Geschichte der neuen Architektur, S. 38-44, hier S. 43. 261 Die 1907 gegründete Organisation verband Architekten, Künstler und Industrielle. Ihr Leitthema war u.a. die Erneuerung der Architektur bzw. ihre Verbindung mit der Massenproduktion In der Folge wird das Thema vor allem anhand des Deutschen Werkbunds und des Weimarer Bauhauses beleuchtet. Das Ringen um den angemessenen Ausdruck im Angesicht der Maschinen und der Technik fand auch in anderen Ländern statt, z.B. in der niederländischen De Stijl-Gruppe, bei den Vertretern des russischen Konstruktivismus oder des italienischen Futurismus. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, einen europäischen Gesamtblick zu machen.

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ten die Gegensätze deutlich zu Tage und fanden mit Hermann Muthesius und Henry van de Velde auch profilierte Vertreter. Letzterer förderte das Weimarer Bauhaus und kämpfte um die Stellung des autonomen (Bau-)Künstlers. Muthesius hingegen war ein Gegner des Kunsthandwerks und Jugendstils und vertrat ein an der Sachlichkeit und Funktionalität orientiertes Bauen. Er wollte in seinem Vortrag ausführen, dass der Typenbildung (im Geiste der Maschine) nicht zu entgehen sei: „Die Architektur und mit ihr das ganze Werkbundschaffensgebiet drängt nach Typisierung und kann nur durch sie diejenige allgemeine Bedeutung wiedererlangen, die ihr in Zeiten harmonischer Kultur eigen war. Nur mit der Typisierung, die als das Ergebnis einer heilsamen Konzentration aufzufassen ist, kann wieder ein allgemein geltender, sicherer Geschmack Eingang finden.“262

Seine „Leitsätze“ ließ er einen Tag vor der Veranstaltung verteilen, was wiederum van de Velde die Zeit gab, ihm direkt mit seinen „Gegen-Leitsätzen“ zu antworten. In diesem Text verkündet er im Sinne der Wrightschen „fließenden, elastischen Periode des Werdens“ Folgendes: „Der Künstler ist seiner innersten Existenz nach glühender Individualist, freier spontaner Schöpfer; aus freien Stücken wird er niemals einer Disziplin sich unterordnen, die ihm einen Typ, einen Kanon aufzwingt. Instinktiv misstraut er, was seine Handlungen sterilisieren könnte und jedem, der eine Regel predigt, die ihn verhindern könnte, seine Gedanken bis zu ihrem eigenen freien Ende durchzudenken.“263

Nach diesem fulminanten Auftakt verdeutlicht Van de Velde, dass der Künstler sich sehr wohl dem Zeitgeist beugen muss, dass dieser jedoch (1914) noch weit davon entfernt ist, als neuer Stil, geschweige denn als Typ feststellbar zu sein. In der Folge äußert er die Befürchtung, dass die schöpferische Suche nach baulichen und gestalterischen Antworten auf die Herausforderungen der Moderne im Keim erstickt werden könnte. Mit Blick auf die staatstragende Argumentation von Muthesius für die deutsche Industrie wird er im letzten Teil seiner „Gegen262 Posener, Julius: Anfänge des Funktionalismus, S. 205. Der Autor betont, dass der Begriff der Typisierung mehrere Bedeutungsschichten hatte, die auch dessen Befürwortern damals selber noch nicht klar waren, nämlich Typisierung durch bewusste Arbeit an Gegenständen oder als Ausdruck und Erbschaft der Arbeit von Generationen. 263 Van de Velde, Henry: Gegen-Leitsätze, in: Posener, Julius: Anfänge des Funktionalismus, S. 206-208, hier S. 206.

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Leitsätze“ pragmatisch: „Qualität wird nicht aus dem Geist des Exports geschaffen.“264 In der Reaktion auf beide Vorträge entfaltete sich eine lebhafte Debatte, die jedoch an dieser Stelle nicht dargestellt wird. Vielmehr galt es zu zeigen, wie die Künstler angesichts des Maschinen- und Industriezeitalters ihre seit der Aufklärung stetig gewachsene Autonomie verteidigten und sich dagegen wehrten, im Bann eines neuen, technoiden Heilsversprechens (dem der Harmonie durch die Standardisierung) erneut zu bloßen Nachahmern der ‚richtigen‘ Ideen degradiert zu werden265 (siehe auch Kapitel 2.3.5). Hinter dem Disput zwischen Typisierung und schöpferischem Individuum verbirgt sich freilich ein tiefergehendes Problem. Eines, mit dem sich das Abendland seit der Antike abmühte. Die Rede ist von der Bewertung des Unterschieds zwischen den Dingen, die die Natur erschafft und denen, die der Mensch hervorbringt (siehe auch Kapitel 1). Hier taucht also erneut die Beziehung des Natürlichen zum Künstlichen auf bzw. wird fortgesetzt und auf Maschinen sowie Materialien übertragen, wie man sehr anschaulich an der Aversion gegen das Eisen 264 Ebd., S. 207. 265 Vgl. hierzu: Bruyn, Gerd de /Reuter, Rolf: Das Wissen der Architektur, Bielefeld: transcript, 2011. Die Autoren verdeutlichen zunächst, dass die Architektur der Vormoderne „enzyklopädischen Charakter“ hatte, d.h. gebautes Sinnbild war für Harmonie, Schönheit, Einheitlichkeit des gesamten Kosmos und zeigen weiter, dass seit der Zeit der Aufklärung diese Bedeutung abhanden gekommen war. Im Wirken der Avantgardebewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch wird ein Versuch gesehen, an den enzyklopädischen Charakter wieder anzuknüpfen und sich gleichzeitig gegen die Moderne zu stellen. Diese Restitution verhinderte notwendige Differenzierungen der Gesellschaft und gab stattdessen den Weg frei in utopischurbane Heilsbotschaften und systematisierte, kollektivistische Planungen. Diese These wird vor allem an den Neo-Idealstadtprojekten und der Renaissance des menschlichen Maßstabs im „Modulor“-Proportionssystem Le Corbusiers festgemacht: „Die Avantgarden, die wir für die Speerspitze der gesellschaftlichen und künstlerischen Entwicklung halten, haben stets gegen die Moderne opponiert, indem sie die faktisch sich vollziehenden Modernisierungsprozess für rückschrittlich erklärten, um an ihre Stelle die Idee eines Neuen zu rücken, das noch viel neuer sein sollte als all die wissenschaftlichen, technischen und sozialen Innovationen, welche die Moderne zu verantworten hat.“ (S. 26 f.). Vgl. hierzu auch Fußnoten 84 bis 88 im ersten Kapitel. Vgl. hierzu auch Sedlmayr, Hans: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, 11. Aufl., Salzburg/Wien: Otto Müller, 1998. Der Autor übt eine ähnliche Kritik (Neoplatonismus der Moderne) unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

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ablesen kann, die John Ruskin pflegte. In Die sieben Leuchter der Baukunst sah er den neuen Baustoff als unehrlich, weil künstlich, an und bestritt, dass er für eine wahrhaftige Architektur taugt: „Aber sobald Eisen auch nur im geringsten Grad die Rolle des Steins einzunehmen beginnt […], so hört in demselben Maße, wie derartige Anwendung des Metalles stattfindet, das Gebäude auf, Architektur zu sein.“266 Damit stellte er sich gegen ein ganzes Zeitalter, denn zu seinen Lebzeiten 1851 gab es ein epochales Bauereignis, den Chrystal Palace, der komplett aus Stahl und Glas errichtet wurde. Peter Sloterdijk macht auf die Bedeutung des Kristallpalastes aufmerksam, der seinerzeit als technologisches Weltwunder galt – nicht zuletzt wegen seiner seriellen, typisierenden Fertigungsweise. Seine Künstlichkeit zeigt sich nicht nur in den verwendeten Materialien, sondern auch in der Möglichkeit zur Klimatisierung, das heißt zur Kontrolle der menschlichen Lebensbedingungen. Auch das Nutzungsprogramm folgte den in aller Schärfe vorgetragenen Themen Luxus und Konsumismus. Das geschlossene, künstliche Gehege galt damals als Heilsversprechen für eine glückliche Menschheit und stand gleichzeitig für die „umfassende Absorption der Außenwelt in einem vollständig durchgerechneten Innenraum“267. Die Geschichte des Eisens reicht aber noch weiter zurück. Sloterdijk verweist hier auf die mittelalterliche Bewusstwerdung der Konkurrenzbeziehung, die der Mensch zur hervorbringenden Natur pflegt, um sich selbst „in den Herd der Entstehungen, ins generative Zentrum von Formbildungen zu versetzen“268. Vor allem am Beispiel des Schmiedens verdeutlicht er, dass diese Arbeit im Mittelalter etwas Ungeheures hatte. In Feuer und Glut verschmolzen nämlich der Mensch und sein Wissen im Material: „Öfen galten als Gebärmutter und die Metalle als Embryonen, die in einem künstlichen Inneren einer magisch beschleunigten Reifung unterzogen wurden.“269 Das Wechselspiel zwischen hervorbringender und hervorgebrachter Natur (natura naturans vs. natura naturata) ist auch ein Thema der Philosophen des 16. und 17. Jahrhunderts. Der Beginn der Aufklärung in der Zeit zwischen Descartes und Kant hatte die abendländischen Menschen mit neuen und teilweise beängstigenden Erkenntnissen konfrontiert.270 So steht ihr Planet nicht mehr im Mittel266 Ruskin, John: Die sieben Leuchter der Baukunst, S. 76. 267 Sloterdijk, Peter: Der Kristallpalast, in: Ders.: Im Weltinnenraum des Kapitals, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2006, S. 265-277, hier S. 276. 268 Sloterdijk, Peter: Aletheia oder Die Lunte der Wahrheit. Zum Konzept einer Entbergungsgeschichte, in: Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001, S. 275-302, hier S. 296. 269 Ebd., S. 297. 270 Vgl. hierzu: Sennett, Richard: Handwerk, S. 259 ff. Der Autor weist darauf hin, dass im 16. und 17. Jahrhundert neue Instrumente den Menschen den Blick in die

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punkt des Weltalls, sondern gerät zu einem winzigen Glühpunkt im unendlichen Sternengewirr und auch die durch die Jahrtausende hinweg sicher geglaubte Priorisierung des Menschengeschlechts durch Gott gerät ins Wanken, mindestens jedoch in eine Neubewertung. Blaise Pascal hat dieses neue Weltbild in seinen Pensées anschaulich festgehalten: „Denn, was ist zum Schluss der Mensch in der Natur? Ein Nichts vor dem Unendlichen, ein All gegenüber dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und All. Unendlich entfernt von dem Begreifen der äußersten Grenzen, sind ihm das Ende aller Dinge und ihre Gründe undurchdringlich verborgen, unlösbares Geheimnis; er ist gleich unfähig, das Nichts zu fassen, aus dem er gehoben, wie das Unendliche, das ihn verschlingt.“271

Das Zeitalter des Manierismus und Barock ist aber auch eines des Aufbruchs, es hat gleichzeitig zutiefst melancholische wie enthusiastische Züge und erinnert in Teilen an einen Tanz auf dem Vulkan. Das mag die eigentümliche Spannung in den damaligen Menschen erklären, die Mathematik, Physik, Mechanik und Kunst aus der Lust am Lebendigen schöpften und dabei gleichzeitig der Überzeugung verpflichtet waren, einen permanenten Dienst an Gott zu absolvieren. Bei so viel Überschwang ist die Hybris nicht fern: „Denken. Die ganze Würde des Menschen liegt im Denken. Was aber ist dieses Denken, wie töricht ist es!“272, schreibt Pascal hierzu. Seine Kritik richtet sich gegen ein Weltbild, in dem der Mensch begann, sich nicht mehr bloß in der Nähe zu Gott zu sehen, sondern bald schon an seiner Stelle. Diese neue Position ließ sich schließlich durch die Evidenzen der hergestellten Apparate und beherrschbaren Technologien beweisen. Weitere Versuche, diese heraufdämmernde Umwertung aller Werte zu bewältigen, waren bereits in der vorhergehenden Renaissance zu finden, als das selbstbestimmte, heroische Subjekt den Fokus weg von der kontemplativen Geistwelt auf die gestaltbare Erde gerichtet hatte. Und dennoch blieb es in der Ferne des Weltalls und auch die Tiefen des Materials ermöglichten. Ferngläser und Mikroskope sind sicherlich mit daran beteiligt, dem Material ein neues Verständnis des Lebendigen entgegenzubringen: „Das Mikroskop erschien anfangs eher als ein Wunderwerk denn als Bedrohung. Im Neuen Organon bewunderte Francis Bacon die Präzisierung der durch das Mikroskop enthüllten natürlichen Strukturen. Die Mikroskope, so schreibt er, »vermitteln uns verborgene, sonst unsichtbare Teilchen der Körper und ihre innere Gestaltung und Bewegung«.“ (S. 262) 271 Pascal, Blaise: Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), übertr. und hrsg. von Ewald Wasmuth, 10. Aufl., Wiesbaden: Fourier, 2001, S. 43. 272 Ebd., S. 171.

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Vorstellung einer Gesamtheit verfangen, die sich in der Malerei und Architekturzeichnung nicht zuletzt über eine geometrisch exakte Zentralperspektive verdeutlichen ließ. Der gestaltende Mensch vertraute darauf, dass das Vermögen zur Konstruktion einer anthropozentrischen Idealwelt ein sicheres Zeichen und Bestätigung für den rechten Weg sei. In seinem Buch Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum beschreibt Alexandre Koyré sehr anschaulich, dass es der Verlust dieser Übersichtlichkeit war, der die Intellektuellen und Künstler in jener Zeit umtriebt und sieht in der Zerstörung des Kosmos und Geometrisierung des Raums zwei wesentliche Veränderungen: „[…] in dessen Folge [des Verlustes, CJG] der Mensch – wie bisweilen gesagt wird – seinen Ort in der Welt, oder vielleicht genauer: eben diese Welt, in der er lebte und über die er nachdachte, verlor und nicht nur seine fundamentalen Begriffe und Attribute, sondern sogar das gesamte Gefüge seines Denkens ändern und neu gestalten musste.“273

Ein hierarchisch geordnetes und wertegesättigtes System wurde ersetzt durch ein unfertiges (infinites) Denken. Harmonie, Vollkommenheit, Bedeutung oder Zweck fallen in der Folge dieser Entwicklung einer „Scheidung der Welt der Werte von der Welt der Fakten“274 zum Opfer. Die Ambivalenz in diesem Prozess liegt darin, dass das Subjekt mithilfe seines Denkens versuchte, das Umgebende unter veränderten Vorzeichen rational zu ordnen, was wiederum zu einer Verdrängung und Geringschätzung der nicht verortbaren Sachverhalte führte. Koryé macht das an der Weltsicht Descartes klar, die „eine vollkommen einheitliche mathematische Welt [sei, CJG], eine Realität gewordene Welt der Geometrie, von der uns unsere Ideen bestimmte und unzweifelhafte Kenntnis geben.“275 2.3.1. Materie als All-Eines bei G. Bruno und B. de Spinoza Auch an den Denkbewegungen von Spinoza lassen sich exemplarisch die Umwälzungen in der Frühzeit der Aufklärung umreißen und in diesem Zusammenhang eine neue Bewertung des Stoffbegriffs kennzeichnen – war dieser im vorangegangenen Mittelalter doch primär als Empfänger einer ihm äußeren intelligiblen Form relevant. Nun trat sukzessive der ‚Geist‘ direkt in die Materie ein. Das wiederum ist bedeutsam für die unmögliche Möglichkeit, denn diese er-

273 Koryé, Alexandre: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, 2. Aufl., Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2008 [engl. 1957], S. 12. 274 Ebd. 275 Ebd., S. 97.

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scheint in der Wirkung bzw. Wirklichung, sprich Wirklichkeit, welche wiederum an Präsenz und damit an die Existenz gebunden ist. Obwohl die Philosophen jener Zeit nie Gott infrage stellten, war solches Denken nicht ungefährlich, was auch dazu geführt hatte, dass Spinoza seine Werke anonym veröffentlichte. Einer seiner pantheistischen Vorläufer, Giordano Bruno, verlor für seine Überlegungen sogar das Leben auf dem Scheiterhaufen. Im dritten Dialog seines Buches Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen von 1584 hatte er Spinozas Begriff einer „natura naturans“ vorgegriffen,276 in der Gott mit der Natur bzw. der Materie identisch ist. Das war für die damalige Zeit eine radikale Ansicht. Bruno beginnt in Aristotelischer Tradition, die Form von der Materie zu unterscheiden und das Vermögen der Dinge aufzugliedern in wirkend und (er)leidend. Eine Weltseele (verstanden als Universal-Form) gibt allerdings die Möglichkeit zu den verschiedenen Einzelformen der Materie wie auch der Vernunft: „Die universelle Vernunft ist das innerste, wirklichste und eigenste Vermögen und der Theil der Weltseele, der ihre Macht bildet […], wir nennen sie [die Weltseele, CJG] den inneren Künstler, weil sie die Materie formt und von innen heraus gestaltet […]. Es gibt drei Arten der Vernunft: die göttliche Vernunft, welche alles i s t; die besprochene Vernunft der Welt, welche alles m a c h t; die Vernunft der einzelnen Dinge, welche alles w i r d. Denn zwischen den Extremen muss es dieses Mittlere geben, welches aller Dinge in der Natur wahre bewirkende Ursache und nicht bloß äusserliche, sondern auch innerliche Ursache ist.“277

Form wird durch die Materie begrenzt. Das Regulativ dieser Wechselwirkung ist die allumfassende Universalform der Weltseele, die unbestimmt bleibt und dennoch für Bestimmung sorgt: „Denn das, was sich bald unter einer natürlichen Form und Existenz, bald unter einer anderen den Blicken entzieht, zeigt sich nicht auf körperliche Weise wie Holz und Stein.“278 Bemerkenswert ist die Priorisierung der Materie, da Bruno ihr und nicht mehr den Formen ewige Dauer zuspricht: 276 Vgl. hierzu: Eusterschulte, Anne: Giordano Bruno zur Einführung, Hamburg: Junius, 1997, S. 135 ff. Die Autorin betont, dass die Verbindungen Brunos zum metaphysischen System Spinozas oder zur Monadologie von Leibniz nahe liegen, allerdings nicht durch konkrete Vermerke, Briefe oder gar Exzerpte bewiesen werden können. Deutliche Bezüge gibt es dagegen in der Zeit der Romantik zu Jacobi, Goethe und vor allem Schelling. 277 Bruno, Giordano: Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen, 7. verbesserte Aufl., hrsg. von Paul Richard Blum, Hamburg: Meiner, 1993, S. 30 f. 278 Ebd., S. 56.

164 | B AUKUNST ALS UNMÖGLICHE M ÖGLICHKEIT „Wir sehen alle Formen in der Natur aus der Materie schwinden und wieder in die Materie eingehen; daher erscheint in Wirklichkeit nichts beständig, nichts fest oder ewig und werth der Geltung eines Princips, als die Materie. Ueberdies haben die Formen kein Sein ohne die Materie, an welcher sie entstehen und vergehen, aus deren Schoosse sie entspringen und in deren Schooss sie zurückgenommen werden.“279

Die Materie ist nicht geschieden vom göttlichen Prinzip, birgt alle Möglichkeiten in sich und Akt wie Potenz fallen bei Bruno in ihr in Eins: „[…] das Vorrecht als Actus und Entelechie zu gelten, [müsse, CJG] der Materie angehören“280. Er begründet seine These damit, dass das Empfangende, Gemachte oder Geschaffene stets vorhanden sein muss, um das aktive Vermögen der Veränderung, also des Machens und Schaffens zur Wirkung zu bringen und bezieht diese Überlegung auch auf die höchste Form von Möglichkeit, nämlich die Möglichkeit zur Möglichkeit der Wirklichkeit: „Denn die absolute Möglichkeit, vermöge deren das, was wirklich ist, sein kann, ist nicht früher als die Wirklichkeit und nicht im geringsten später als sie, und das Seinkönnen ist deshalb zusammen mit dem wirklichen Sein und geht ihm nicht voran.“281 Bruno unterscheidet in der Folge die unendliche, oder höchste Möglichkeit von der einfachen, diese nämlich ist die Verkehrsform des Daseins. Die ‚einfache‘ Möglichkeit kann niemals alles sein, was sie sein könnte, sondern hat ein begrenztes Potenzial: „Der Stein ist nicht alles das was er sein kann; denn er ist kein Kalk, kein Gefäss, kein Staub, kein Kraut.“282 Einfache Möglichkeit ist in den (explizierten) Dingen. Sie beschränkt diese auf eine Wirklichkeit und ein spezifisches Dasein. Zur Beschreibung dieser gehemmten Möglichkeit benutzt Bruno eine sehr anschauliche Metapher: „Jedes Vermögen also und jede Wirklichkeit, welche im obersten Princip gleichsam zusammengewickelt, ein Vereinigtes und Einiges ist, ist in den anderen Dingen aufgewickelt, zerstreut und vervielfacht.“283 Für die nähere Beschreibung der absoluten Möglichkeit, die gleichzeitig die absolute Wirklichkeit ist, nähert sich Bruno über Paradoxien. Das absolute Prinzip spiegelt sich in der Erhabenheit und Größe, wobei diese sich nicht durch ihr Gegenteil, die Kleinheit, fassen lässt. Wenn absolute Größe nämlich alles umfasst bzw. darstellt, dann auch gleichzeitig das Allerkleinste:

279 Ebd., S. 60. 280 Ebd., S. 61. 281 Ebd., S. 67. 282 Ebd. 283 Ebd.

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„Sie ist nicht das Grösste, weil sie das Kleinste ist; sie ist nicht das Kleinste, weil sie ebensowohl das Grösste ist; sie ist über jede Gleichheit hinaus, wenn sie alles ist, was sie sein kann […] diese absoluteste Wirklichkeit, welche identisch ist mit dem absolutesten Vermögen, kann von dem Verstande nur auf dem Wege der Negationen begriffen werden.“284

Spinoza konkretisiert Brunos Denken über die Materie. In seinem Buch Die Ethik mit geometrischer Methode begründet, das 1677 anonym aus seinem Nachlass veröffentlicht285 wurde, stellt er ebenfalls nicht mehr die Frage, ob Gott mit der Materie und der Natur konkret vereint ist, sondern expliziert ihre Verbundenheit: „Alles, was ist, ist Gott, und nichts kann ohne Gott seyn oder begriffen werden.“286 Gott ist hier nicht mehr im rein geistigen Bereich verortet, sondern im Dasein, sprich in der Materie, selbst: „Gott oder die aus unendlichen Attributen bestehende Substanz, von denen ein jedes ewige und unendliche Wesenheit ausdrückt, ist nothwendig da.“287 Substanz, Attribut und Modus stehen bei Spinoza in engem Zusammenhang. Die Substanz wird ausschließlich aus sich heraus begriffen bzw. begründet und birgt Attribute, die der Verstand als ihr Wesen erkennen kann: „Der wirklich endliche oder wirklich unendliche Verstand muss die Attribute und die Affectionen Gottes umfassen und nichts Anderes.“288 Im Modus wiederum lösen sich die Affektionen aus, die sinnlich aufgenommen werden: „Unter Modus verstehe ich die Affectionen der Substanz, oder das, was in einem Andern ist, wodurch man es auch begreift.“289 Die Materie kann also erkannt oder auch erfahren werden. Gott wirkt hier als natura naturans (hervorbringende, schaffende Natur) und ist dabei zugleich natura naturata (hervorgebrachte, geschaffene Natur): „[…] dass wir unter schaffender Natur das verstehen, was in sich ist und aus sich begriffen wird, oder solche Attribute der Substanz, welche ewiges und unendliches Wesen ausdrücken, d.h. […] Gott insofern er als freie Ursache betrachtet wird. Unter geschaffener Natur 284 Ebd., S. 68 ff. 285 Spinozas Lehre gab durch die Zeiten Anlass zur Kontroverse. Nicht selten wurde Spinozismus mit Atheismus gleichgesetzt. Vgl. hierzu den Artikel „Spinozismus“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9: Se-Sp, hrsg. von: Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Basel: Schwabe, 1995, .S. 1399-1401, hier 1399 ff. 286 Spinoza, Benedictus de: Ethica, I, Prop. 15, in: Blumenstock, Konrad (Hg.): Baruch de Spinoza: Opera, Bd. 2, Ethik, 2. Aufl., unveränderter Nachdruck der Sonderausgabe von 2008, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011. 287 Ebd., Prop. 11. 288 Ebd., Prop. 30. 289 Ebd., Def. 5.

166 | B AUKUNST ALS UNMÖGLICHE M ÖGLICHKEIT aber verstehe ich Alles, was aus der Nothwendigkeit der Natur Gottes oder eines jeden göttlichen Attributs erfolgt; d.h. alle Modi der Attribute Gottes, insofern sie als Dinge betrachtet werden, welche in Gott sind und ohne Gott weder seyn noch begriffen werden können.“290

Ernst Bloch identifiziert in Spinozas System eine „religiöse Glut“291 bei der Verwandlung Gottes in das ausgedehnte Diesseits. In einer ganz eigenen Mischung fügte er Mystik mit Rationalität und Gott ließ sich von nun an sowohl mit dem Mittel des Verstandes als auch den Werkzeugen der Logik/Mathematik erkennen sowie auch rekonstruieren.292 Generell würdigt Bloch Bruno und auch Spinoza dafür, dass sie einen „transzendenzfreien“293, organischen Naturgedanken der Antike wieder freilegten. Spinoza allerdings attestiert er auch einen Mangel an Bewegungs- und Kraftbegriffen, die im 16. Jh., dem Zeitalter der Mechanik und Physik, virulent waren: „[…] indem er aus der Mathesis nur die Ars demonstrandi des Euklid entnahm, musste die neue Gesetzesfreude der alten, antiken Gattungs- oder Statikfreude ähnlich werden.“294 Und tatsächlich lesen sich zugehörige Lehrsätze Spinozas entsprechend: „Jedes Ding strebt, so viel an ihm liegt, in seinem Seyn zu beharren“295; oder „Das Bestreben, wonach jedes Ding in seinem Seyn zu beharren strebt, ist nichts als die wirkliche Wesenheit des Dinges selbst.“296 Auch Schelling beschäftigte sich wiederholt mit Spinoza und schätze ihn dafür, Geist und Materie in Eins gedacht zu haben: „Sein System war der erste kühne Entwurf einer schöpferischen Einbildungskraft, der in der Idee des Unendlichen, rein als solchen, unmittelbar das Endliche begriff und dieses nur in jenem erkannte.“297 Spinozas Gleichsetzung der beiden Urkräfte Ausdehnung und Denken allerdings führt seiner Meinung nach zu einer fatalen (bzw. fatalistischen) Unbeweglichkeit: „Darum beharrt auch seine Substanz in ewiger

290 Ebd., I, Prop. 29, Anmerkung. 291 Bloch, Ernst: Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, text- und seitenidentisch mit Ernst Bloch Gesamtausgabe, Bd. 7, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1985, S. 175. 292 Dass diese Veränderungen des Denkens durchaus ambivalent sind, wurde im Kapitel 1. und an Heideggers „Ge-Stell“ gezeigt. 293 Bloch, Ernst: Das Materialismusproblem, S. 179. 294 Ebd., S. 50. 295 Spinoza, Benedictus de: Ethica, III, Prop. 6. 296 Ebd., Prop. 7. 297 Schelling, F.W.J: Über die Probleme, welche eine Philosophie der Natur zu lösen hat, in: Ders.: Ideen zu einer Philosophie der Natur, SW, Bd. 2, S. 12-51, hier S. 20.

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Gleichheit und geschlossenem Seyn, ohne Entwickelung oder Erhebung.“298 In seinen „Münchener Vorlesungen von 1832/1833“ fokussiert Schelling ebenfalls diesen eigentümlichen Stillstand und sieht darin die Folge, Gott ausschließlich als ausgedehnte Substanz begreifen zu wollen: „Im Spinozismus ist durchaus nicht das Menschlich-Göttliche.“299 In diesem Satz spielt Schelling auf seine Naturphilosophie an. Rund 25 Jahre früher hatte er sie formuliert und darin u.a. eine Verbindung zwischen Objekt und Subjekt sowie auch Gott und den Dingen skizziert. Er nannte diese Verbindung ein Drittes, ein Band - und genau dieses vermisst er bei Spinoza: „Im System des Spinoza, wo kein lebendiges Band angenommen ist, musste ebendarum bloss die ausgedehnte Substanz vorkommen [...]. Damit gesteht er ihre Abstrahierung von der blossen Erfahrung“300 Schellings Naturphilosophie will jedoch auf etwas anderes hinaus. Nicht nur die Bewegung, anstelle des Spinozistischen Stillstands, ist herbei zentral, sondern auch die Identität von Unendlichkeit und Endlichkeit. Sie zeigt sich als Band, das in Eins fällt mit Natur und auch Materie. Eine pantheistische Tradition wird hier ergänzt zu einem System, das Möglichkeit und Wirklichkeit verkoppelt und Wirkungen wie zugehörige Erfahrungen, die der Mensch mit seinem Leib direkt macht, nicht mehr ausschließt. 2.3.2. Zum Band in der Materie bei F.W.J. Schelling Das Prinzip von Attraktion und Repulsion von Kräften stand im 18. und 19. Jahrhundert bei verschiedenen Denkern im Mittelpunkt der Natur- und damit Materiebetrachtung.301 Bei den Identitätsphilosophen der Frühromantik wurde dieser empirisch-positivistische Zwei- zu einem ontologischen Dreiklang, denn man war bemüht, das Material oder Objekt mit dem Subjekt zusammenzudenken, wie Manfred Frank beschreibt:

298 Schelling, F.W.J: Die Vergangenheit, in: Ders.: Weltalter, Nachlaß, 1. Buch, SW, Bd. 13, S. 10-107, hier S. 45 f. 299 Schelling, F.W.J: Vorlesungen zur Grundlegung der positiven Philosophie (Münchener Vorlesungen WS 1832-1833/SS 1833), hrsg. und komm. von Horst Fuhrmans, Turin: Bottega d'Erasmo,1972, S. 139-149, hier S. 143. 300 Ebd., S. 143 f. 301 Attraktion und Repulsion (Anziehung und Abstoßung). Vgl. hierzu Böhme, Hartmut: Denken am Leitfaden des Leibes. Naturphilosophie und Narzißmus beim jungen Schelling, in: Ders.: Das Andere der Vernunft, S. 136-161, hier S. 136 ff.

168 | B AUKUNST ALS UNMÖGLICHE M ÖGLICHKEIT „Der Ausdruck »Sein« steht vielmehr für die Erfahrung, dass eine bewusstseinsunabhängige Wirklichkeit vorausgesetzt werden muss, will man gewisse Verhältnisse unseres Bewusstseins, besonders das elementare Faktum des Selbstbewusstseins, verständlich machen.“302

Auch in Schellings Schrift Von der Weltseele findet sich zunächst der naturwissenschaftlich untermauerte Verweis auf eine grundlegende Polarität, die alles Daseiende bestimmt. Eine freilich, die im Text sukzessiv durch ein Drittes, das Band, ergänzt wird: „In der Natur strebt alles continuirlich vorwärts; daß dieß so ist, davon müssen wir den Grund in einem Princip suchen, das, eine unerschöpfliche Quelle positiver Kraft, die Bewegung immer von neuem anfacht und ununterbrochen unterhält. Dieses positive Princip ist die erste Kraft der Natur. Aber eine unsichtbare Gewalt führt alle Erscheinungen in der Welt in den ewigen Kreislauf zurück. Daß dieß so ist, davon müssen wir den letzten Grund in einer negativen Kraft suchen, die, indem sie die Wirkungen des positiven Princips continuirlich beschränkt, die allgemeine Bewegung in ihre Quelle zurückleitet. Dieses negative Princip ist die zweite Kraft der Natur.“303

Für Schelling muss sich die positive Kraft in konkrete Grenzen fügen, um – quasi im Gegenstand geronnen – wahrnehmbar zu werden. Hier erst tritt sie in die Erscheinung, wenngleich diese in einem anderen ‚Zustand‘ passiert, nämlich eingebunden in einen Stoff, der ruht. Doch dieses Ruhen ist nur scheinbar, „denn diese Materie, da sie schwermachend ist, ohne doch selbst schwer zu seyn“304, bleibt bewegt und gibt erst die Ahnung einer Dynamik und Potenzialität, anstatt sie bloß zu Grabe zu tragen: „Alle Mannichfaltigkeit in der Welt entsteht erst durch die verschiedenen Schranken, innerhalb welcher das Positive wirkt. Die Faktoren der allgemeinen Bewegung auf Erden sind das Positive, was von außen uns zuströmt, und das Negative, was unserer Erde angehört. Wo eine Naturkraft Widerstand findet, bildet sie sich eine eigenthümliche Sphäre, das Produkt ihrer eignen Intensität und des Widerstands, den sie findet.“305

302 Frank, Manfred: Unendliche Annäherung, S. 665. 303 Schelling, F.W.J.: Ueber die erste Kraft der Natur, in: Ders.: Von der Weltseele, SW, Bd. 2, S. 381-397, hier S. 381. 304 Ebd., S. 384. 305 Ebd., S. 395.

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Beide Kräfte werden also erst dann wahrnehmbar, wenn sie in der Interaktion oder in Konflikt miteinander stehen, der auch Wirkung genannt werden könnte. Fehlt dieser Streit, der sich im Gegenstand, im Stoff oder im Ding manifestiert, werden ihre Unterscheidungen unmöglich.306 Die Kräfte bedingen einander und nur hierin kann die Welt in Bewegung geraten. Angesichts dieser Vorstellung verwundert es nicht, dass Schelling in der Elektrizität und im Magnetismus den unsichtbaren Streit zwischen Dynamik und Stillstand in der Materie erkennt. Er geht denn auch von einer „allgemeinen dynamischen Gemeinschaft in der Welt“307 aus, die permanente Bewegung hervorbringt, Alles und Jedes durchstimmt und nur durch Hemmungen (etwa durch die Materie) in die Erscheinung gerät, „[...] wo das Gleichgewicht gestört ist, und gleichsam besondere Sphären sich bilden, innerhalb welcher sie [die Ursachen der Kräfte, CJG] wirksam seyn können“308. Dennoch bleibt die Schwierigkeit, ein Prinzip zu fassen, das die anorganische wie organische Natur gleichermaßen bestimmt, eine permanente Bewegung ist und sich jedem beschreibenden Zugriff entzieht, „weil es überall gegenwärtig ist, nirgends ist, und weil es Alles ist, nichts Bestimmtes oder Besonderes seyn kann“309. Entscheidend zum Verständnis dieses Prinzips ist, dass der Antagonismus zweier Kräfte nicht etwa die Ausnahme, sondern die Regeln in der Natur beschreibt – es trägt also die Züge der permanenten Störung und des

306 Schellings Rede von der positiven Kraft und ihrem negativen Widerpart, die in einer Art Konflikt den Stoff prägen, erinnert stark an Heideggers Terminologien im Aufsatz „Der Ursprung des Kunstwerkes“. Siehe hierzu den nächsten Abschnitt (2.3.3). Sebastian Schwenzfeuer erwähnt diese Parallele ebenfalls in seinem Text „Vom Ende der Kunst. Eine kurze Betrachtung zu Heideggers Kunstwerkaufsatz von dem Hintergrund des Deutschen Idealismus“ (in: David Espinet/Tobias Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt/M.: Klostermann, 2011, S. 160-173): „In seiner Schrift Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit macht Schelling selber im Gedanken eines Urstreits (die er Grund von Existenz und Existierendes nennt) eine Verborgenheit vorstellig, die nie in etwas anderem aufgehen kann“ (S. 169). Dieser Entzugscharakter wird nun von Heidegger mit der Erde verbunden. Schwenzfeuer erinnert ebenfalls an die zeitliche Nähe der Schellingvorlesungen Heideggers mit der Erstellung des Kunstwerkaufsatzes. 307 Schelling, F.W.J.: Bestimmung des Begriffs der Polarität, in: Ders.: Von der Weltseele, S. 476-490, hier S. 481. 308 Ebd. 309 Schelling, F.W.J.: Vorrede zur ersten Auflage, in: Ders.: Von der Weltseele, S. 347351, hier S. 347.

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Ungleichgewichts in die Materie hinein, die eigentlich zu Gleichgewicht und Stillstand strebt: „Der unmittelbare Zweck der Natur bei dem jetzt beschriebenen Processe ist nur der Proceß selbst, ist nur die beständige Störung und Wiederherstellung des Gleichgewichts der negativen Principien im Körper […]. Gleichwohl überläßt die Natur die organische Materie nicht ganz den todten Kräften der Anziehung, sondern in diesem Streben und Widerstreben der trägen, nach Gleichgewicht verlangenden Materie, und der belebenden, das Gleichgewicht hassenden Natur, wird die todte Masse gezwungen, wenigstens in bestimmter Form und Gestalt anzuschießen.“310

Schelling hebelt an dieser Stelle den Zweckbegriff im Sinne einer Grundlage für wohlproportionierte Schönheit in der Natur aus. Seiner Ansicht nach wird die Gestalt der Materie vielmehr als eine Art erstarrte Kapitulation der Progressionskräfte der positiven Kraft gebildet, wobei diese freilich der Funktion eines Organismus bzw. Teiles der Natur entspricht:311 „[…] woraus denn der Satz sich ergibt, daß die Eigenschaften der thierischen Materie im Ganzen sowohl als in einzelnen Organen nicht von ihrer ursprünglichen Form, sondern daß umgekehrt die Form der thierischen Materie im Ganzen sowohl als in einzelnen Organen von ihren ursprünglichen Eigenschaften abhängig sey, ein Satz, womit der Schlüssel zur Erklärung der merkwürdigsten Phänomene im organischen Naturreich gefunden ist, und welcher erst eigentlich die Organisation von der Maschine unterscheidet, in welcher die Funktion (die Eigenschaft) jedes einzelnen Theils von seiner Figur abhängig ist, da umgekehrt in der Organisation die Figur jedes Theiles von seiner Eigenschaft abhängt.“312

Wie aber lässt sich erklären, dass die permanente Progression die Materie in eine bestimmte Gestalt zu bringen vermag und auch, dass diese Gestalten einer Art von Zweckmäßigkeit gehorchen (z.B. die Organe in einem menschlichen Körper, die miteinander interagieren)? Wie lässt sich also die Freiheit der positiven Kraft mit Unfreiheit der gerichteten und sich wiederholenden Formfindung (etwa bei Bäumen, die stets als Bäume wiederkehren) vereinbaren, denn letztlich müs-

310 Schelling., F.W.J.: Von den negativen Bedingungen des Lebensprocesses, in: Ders.: Von der Weltseele, S. 507-546, hier S. 514. 311 Aufschlussreich ist auch, dass Schelling mit diesen Gedanken sehr nah an den Diskussionen der organischen Architekten zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist, die ebenfalls ihre Formen über die Funktionen begründen (siehe hierzu Kapitel 1 u. 2.3). 312 Schelling, F.W.J.: Von den negativen Bedingungen des Lebensprocesses, S. 521.

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sen diese beiden Pole stets aufs Neue angefacht werden. Schelling führt hier den Bildungstrieb ein: „Im Begriffe des Bildungstriebs liegt, daß die Bildung nicht blind, d.h. durch Kräfte, die der Materie als solcher eigen sind, allein geschehe, sondern daß zu dem Nothwendigen, was in diesen Kräften liegt, das Zufällige eines fremden Einflusses hinzu komme, der, indem er die bildenden Kräfte der Materie modificirt sie zugleich zwingt, eine bestimmte Gestalt zu produciren.“313

Es wird also mit dem Zufälligen ein Impuls bemüht, der die Kräfte richtet und sozusagen wachruft. Diese Art Ursache des Lebens freilich kann selbst nicht im Lebensprozess erkannt werden, sondern erscheint nur in dessen spezifischen Ausprägungen: „Eben deßwegen ist jenes Princip, obgleich aller Formen empfänglich, doch ursprünglich selbst formlos […]. Da dieses Princip, als Ursache des Lebens, jedem Auge sich entzieht, und so in sein eigen Werk sich verhüllt, so kann es nur in den einzelnen Erscheinungen, in welchen es hervortritt, erkannt werden.“314

Dieses Prinzip der Lebendigkeit hält also den Konflikt der Kräfte zwischen Progression und Stillstand am Laufen, gibt ihm die Richtung vor und war nicht etwa vor der Natur da, sondern hat sie sich quasi angelagert.315 Es wird von Schelling 313 Schelling, F.W.J.: Von der positiven Ursache des Lebens, in: Ders.: Von der Weltseele, S. 546-569, hier S. 565 f. 314 Ebd., S. 567 f. 315 Vgl. hierzu: Heidegger, Martin: Schelling. Vom Wesen der menschlichen Freiheit, in: Ders.: GA, Bd. 42, hrsg. von Ingrid Schüßler, Frankfurt/M.: Klostermann, 1988. Der Autor betont, dass die Dinge durch sich hindurch auf ihr ursprüngliches Sein als ein gewolltes und wollendes Werden hindeuten: „Die Dingheit der Dinge bestimmt sich so wenig aus einem gleichgültigen Vorhandensein stofflicher Körper, dass die Materie selbst geistig begriffen wird; was »wir« als Materie spüren und sehen, ist ein in die ausgedehnte Schwere der Trägheit geronnener Geist.“ (S. 215) Vgl. hierzu auch: Schelling, F.W.J.: System der theoretischen Philosophie nach Grundsätzen des transscendentalen Idealismus, in: Ders.: System des transscendentalen Idealismus, SW, Bd. 3, S. 388-531, hier S. 453: „In der That ist die Materie nichts anderes als der Geist im Gleichgewicht seiner Thätigkeiten angeschaut. Es braucht nicht weitläufig gezeigt zu werden, wie durch diese Aufhebung alles Dualismus oder alles reellen Gegensatzes zwischen Geist und Materie, [...] einer Menge verwirrender Untersuchungen über das Verhältniß beider ein Ziel gesetzt wird.“

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als gemeinschaftliche Seele der Natur – eben Weltseele – gedacht. Sie ist auch das Band, „wodurch die Idee mit der Wirklichkeit vermittelt ist“316 und durchzieht als ein Drittes alles Daseiende. Die Weltseele ist der notwendige wie verborgene Partner im Bunde der positiven und negativen Kraft der Materie, die sich damit vom Dualismus zwischen Stoff und Form emanzipiert und fortan als „in sich identische Triplicität“317 gesehen wird: „Wir nennen diese Nothwendigkeit, so lange bis wir etwa einen andern Ausdruck derselben finden, das absolute Band, oder die Copula. Und in der That ist klar, daß dieses Band, in dem Unendlichen selbst, erst das wahrhaft und reell Unendliche ist.“318 Die Dreiheit zwischen Band, Natur und Materie ist eine Drei-Einigkeit, das heißt die Binnenverhältnisse sind als Identität gedacht. Kein Faktor kann ohne den anderen, wobei das Band die Kraftquelle des Gefüges ist bzw. auch die Impulse zur permanenten Progression und Störung des Binnenverhältnisses gibt. Auch das Wollen zeigt sich hier im bereits genannten Begriff des Bildungstriebes.319 Die Weltseele ist die triebhafte Bejahung ihrer selbst und durchstimmt in einer absoluten Identität alles Daseiende: „Das Band ist in der Vielheit der Dinge die Einheit, und insofern die Negation der Vielheit für sich betrachtet.“320 Hier klärt sich auch noch einmal die oben aufgeworfene Frage, wie die Freiheit der positiven Kraft sich in die Unfreiheit einer bestimmten Gestalt in der Materie ergeben kann. Sie kann es nur, indem das Dritte als Identitätsprinzip in die Wirkung gerät bzw. Existenz gibt. In Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur von 1807 wird diese Überlegung folgendermaßen expliziert: 316 Schelling, F.W.J.: Ueber das Verhältniß des Realen und Idealen in der Natur, in: Ders.: Von der Weltseele, S. 357-378, hier S. 359. 317 Ebd. 318 Ebd., S. 360 f. 319 Vgl. hierzu: Heidegger, Martin: Schelling. Vom Wesen der menschlichen Freiheit: Der Autor betont, dass das Sein bei Schelling als Werden und Wollen gedacht wird. Damit meint er nicht nur die äußere Veränderung der Dinge, sondern ein immerzu Über-sich-hinweg-Entwerfen als Grund des Daseins der Dinge. Heidegger führt hier den Begriff der Sehnsucht ein und hält ihn für angemessen, um einen grundloses Streben zu verdeutlichen: „In der Sehnsucht liegt so eine doppelte und zwar gegenwendige Bewegtheit: das Streben von sich weg in die Ausbreitung und doch gerade zu sich zurück […]. Sofern das allgemeine Wesen des Willens im Begehren liegt, ist die Sehnsucht ein Wille, darin das Strebende im Unbestimmten sich selbst will, d.h. sich in sich selbst finden und in der ausgebreiteten Breite seiner selbst sich darstellen will.“ (S. 217) 320 Schelling, F.W.J.: Ueber das Verhältniß des Realen und Idealen in der Natur, S. 363.

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„Die Bestimmtheit der Form ist in der Natur nie eine Verneinung, sondern stets eine Bejahung. Gemeinhin denkst du freilich die Gestalt eines Körpers als eine Einschränkung, welche er leidet; sähest du aber die schaffende Kraft an, so würde sie dir einleuchten als ein Maß, das diese sich selbst auferlegt, und in dem sie als eine wahrhaft sinnige Kraft erscheint.“321

Deutlich taucht hier ein pantheistisches Motiv322 auf, das in diesem Abschnitt zuvor schon bei Bruno und Spinoza mitschwang. Die Natur wird von Schelling nicht als Produkt einer Schöpfung gesehen, die ihr etwa vorausgeht, sondern sie ist – wie der Mensch – diese Schöpfung selbst. Indem sie sich in ihrer Endlichkeit zeigt, spricht sie zugleich von ihrer Unendlichkeit, denn das in ihr wohnende Band durchzieht jeden Stoff unsichtbar „als ein tiefverschlossenes Feuer“323. In jedem Metall, jedem Stein und jedem Holz liegt daher eine unermessliche Macht zur Selbstbejahung und Möglichkeit, die ins Dasein drängt und deren Fülle freilich nur von jenen erkannt wird, die die Leere schätzen gelernt haben: „Denn in dem Maß, als wir selbst in uns verstummen, redet sie [die Natur, CJG] zu uns.“324

321 Schelling, F.W.J.: Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur, S. 303. 322 Vgl. hierzu: Heidegger, Martin: Schelling. Vom Wesen der menschlichen Freiheit: Der Autor betont, dass Schellings Pantheismus ontologisch betrachtet werden muss. So steckt im herkömmlichen Aussagesatz Bedeutendes in dem Wörtchen „ist“. Dieses „Ist“ nämlich beschreibt die „Art der Fügung des Seynsgefüges überhaupt“ (S. 130). Im „Ist“ zeigt sich das Band (auch Copula oder das Dritte) und dessen Wirkung als Identität. Eine höhere Form der Identität freilich, die nicht etwa ein Ding, Sachverhalt (z.B. der Ball ist rot) dem anderen gleichstellt, sondern vielmehr beide Dinge, Sachverhalte (Ball und rot) auf einen gemeinsamen Grund zurückführt, der selbst unbestimmt ist: „Der rechte Begriff der Identität meint die ursprüngliche Zusammengehörigkeit von Verschiedenem in dem Einen, welches Eine dabei zugleich der Grund der Möglichkeit des Verschiedenen ist.“ (S. 136) Vgl. hierzu Schelling, F.W.J.: System der praktischen Philosophie nach Grundsätzen des transscendentalen Idealismus: „Es entsteht also durch das Wollen unmittelbar ein Gegensatz, indem ich durch dasselbe einerseits der Freiheit, also auch der Unendlichkeit bewußt, andererseits durch den Zwang vorzustellen beständig in die Endlichkeit zurückgezogen werde. Es muß also mit diesem Widerspruch eine Thätigkeit entstehen, die zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit in der Mitte schwebt.“ (S. 532) 323 Schelling, F.W.J.: Ueber das Verhältniß des Realen und Idealen in der Natur, S. 378. 324 Ebd., S. 378.

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Aber nicht nur in der Natur zeigt sich das Paradox eines in die Bewusstheit bzw. in die Existenz kommenden Unvergleichbar-Vergleichbaren, das werdend wie notwendig nichtobjektiv bestimmt bleibt, sondern vor allem auch in der Kunst: „Das Kunstwerk nur reflektirt mir, was sonst durch nichts reflektirt wird, jenes absolut Identische, was selbst im Ich schon sich getrennt hat; was also der Philosoph schon im ersten Akt des Bewußtseyns sich trennen läßt, wird, sonst für jede Anschauung unzugänglich, durch das Wunder der Kunst aus ihren Produkten zurückgestrahlt.“325

Das Identitätsprinzip wird bei Schelling ästhetisch anschaubar und es kann gelingen, das Unendliche in dem Endlichen als Ausstrahlung oder Wirkung desselben wahrzunehmen. Das Bewusste ist damit unauflöslich verschwistert mit dem Bewusstlosen. Alles Handeln und Produzieren geschieht auf dem gemeinsamen Nenner seines Möglichseins, sprich der Existenz des Ermöglichenden und des Ermöglichten. Das Sein schließt die ursprüngliche Kluft zwischen Subjekt und Objekt: „Die Natur ist dem Künstler nicht mehr, als sie dem Philosophen ist, nämlich nur die unter beständigen Einschränkungen erscheinende idealische Welt, oder nur der unvollkommene Widerschein einer Welt, die nicht außer ihm, sondern in ihm existirt.“326 In „Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur“ präzisiert Schelling ebenfalls ein Identitätsprinzip, das in der Kunst deutlich wird: „Was ist aber die Vollkommenheit jedes Dings? Nichts anders denn das schaffende Leben in ihm, seine Kraft dazuseyn.“327 Die Kunst manifestiert also das werdende Band zwischen Denken und Handeln wie Objekt und Subjekt. Freilich gibt es Artefakte, die dieses Band nicht darzustellen vermögen. Schelling nennt sie tote Dinge und kritisierte die inhaltsleere und seelenlose Nachahmung überkommener, kanonischer Prinzipien. Keine äußere Form und sei sie noch so perfekt simuliert, kann nämlich das Identitätsprinzip des Seins zur Erscheinung bringen: „Durch bloße Steigerung des Bedingten wird es [das Unbedingte, CJG] nicht gefunden.“328 Die Ablehnung der Nachahmung geht bei Schelling jedoch nicht in eine grundsätzliche Kritik am Platonischen Denken über. Vielmehr ist er der Ansicht, dass jedem Ding ein ewiger Begriff vorsteht, „der in dem unendlichen Verstande entworfen ist“329. Er hat damit eine Art von 325 Schelling, F.W.J.: Deduktion eines allgemeinen Organs der Philosophie, oder Hauptsätze der Philosophie der Kunst nach Grundsätzen des transscendentalen Idealismus, in: Ders.: System des transscendentalen Idealismus, S. 612-629, hier S. 625. 326 Ebd., S. 628. 327 Schelling, F.W.J.: Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur, S. 294. 328 Ebd., S. 296. 329 Ebd., S. 300.

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künstlerischem Wissen, die sogenannte „bewußtlose Wissenschaft“330, im Blick, deren Prozesse intuitiv geschehen und nicht akademisch vermittelt werden können. Das Kunstwerk kann damit „jene unergründliche Realität ertheilen, durch die es einem Naturwerk ähnlich erscheint“331 und der Künstler hat Teil an einem Naturgeist, der den Dingen innewohnt und deren Gestalten durchstimmt – diesen Geist bezeichnet Schelling auch als Wesen, schaffende Idea oder Seele: „Wie sollte aber irgend etwas außer dem Wahren wirklich seyn können […]? Welche höhere Absicht könnte demnach auch die Kunst haben, als das in der Natur in der That Seyende darzustellen?“332 In Platonischer Lesart wird nun eine vollendete Schönheit bemüht, die es nur im „Augenblick des vollen Daseyns“333 geben kann. Dieser Augenblick ist gleichzeitig die Ewigkeit, hebt das Kunstwerk aus der Zeitlichkeit, dem Werden und Vergehen heraus und lässt es „in seinem reinen Seyn, in der Ewigkeit seines Lebens erscheinen“334. Dieser Augenblick der Wahrheit und des Seins geschieht in der Anschauung einer Gestalt, die das Kunstwerk einnimmt. Es versteht sich von selbst, dass eine solche wahrhaft authentische Gestalt weder fixierbar noch reproduzierbar oder gar vorausberechenbar ist. Vielmehr bestimmt die Fülle des Seins die jeweilige Form, die damit jedes Mal anders erscheinen muss. In gewisser Weise negiert also die Gestalt des Kunstwerks das Prinzip der Gestalt selbst, denn ihr Wirken geht stets über sie hinaus. Indem Bedingtheit und Unbedingtheit sich verschränken, führt die Bedingtheit sich notwendig an ihr Ende: „Nur durch die Vollendung der Form kann die Form vernichtet werden, und dieses ist allerdings im Charakteristischen das letzte Ziel der Kunst [...]. Es ist wahr, daß die höchste Schönheit charakterlos ist; aber sie ist es, wie wir auch sagen, daß das Weltall keine bestimmte Abmessung, weder Länge, noch Breite, noch Tiefe habe, weil es alle in gleicher Unendlichkeit enthält, oder daß die Kunst der schöpferischen Natur formlos sey, weil sie selbst keiner Form unterworfen ist.“335 330 Ebd., S. 300 f. 331 Ebd. 332 Ebd., S. 302. 333 Ebd., S. 303. 334 Ebd. 335 Ebd., S. 305 f. In diesem Versuch einer denkerischen ‚Vermessung‘ nicht nur des Binnenverhältnisses zwischen Subjekt und Objekt, sondern gleichzeitig des konstituierenden Innersten von Kunst, Natur und Materie selbst, streift Schelling auch das Thema der Erhabenheit. Die Teilhabe an einem solchen gewaltigen Moment einer Gewahrwerdung des Existierenkönnens gelingt auch im Anschluss an den Aristotelischen Begriff der Kraft oder der Physis: „Nur mächtige Bewegungen des Gefühls,

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In seiner Schrift Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge von 1802 stellt Schelling mit Blick auf die Materie ganz im Sinne seines Identitätsprinzips heraus, dass das Entscheidende für die Bestimmung des Grundstoffs alles Daseienden die Erkundung dessen ist, worin organische und anorganische Materie in Eins fallen. Diese Art materielle Matrix ist ungeschieden und wird als reine Potenzialität angesehen: „Die Materie ist an sich ohne alle Mannichfaltigkeit. Sie enthält alle Dinge, aber eben deßwegen ohne alle Unterscheidbarkeit, ungetrennt, gleichsam als eine unendliche in sich verschlossene Möglichkeit.“336 Der ‚Grundstoff’ alles Daseienden ist also verstanden als Kontinuum im Zustand einer totalen, raumzeitlichen, indifferenten Differenz. In diese hinein bzw. aus ihr heraus kommen die Unterschiede nur über Formen. Diese bilden entsprechende gestalthafte Differenzen (Dinge), die dann zeitlich sind und damit dem Verfall anheimgegeben. Ganz im Gegensatz dazu ist die erste Form als die Form aller Formen, das Absolute oder die Weltseele (Band) identisch mit der totalen indifferenten Differenz der Materie. Schelling spricht in der Folge von der Armut der Materie: „Jene Form aber der Formen, absolut betrachtet, ist nicht der Materie entgegengesetzt, sondern eins mit ihr, in der Beziehung aber auf das Einzelne setzt sie, weil dieses nie ganz ist, was es seyn kann, nothwendig und immer einen Gegensatz, welcher der des Unendlichen und Endlichen ist, und dieser selbst ist der der Seele und des Leibes.“337

Er stellt auch hier sein Denken auf das Identitätsprinzip ab, in dem Materie und Form Eins sind, denn alle Dinge sind Eins durch die Materie und unterschieden durch die Form. Jede Form ist jedoch zurückgebunden in die Form aller Formen, ihr Wesen bzw. das Absolute: „Durch die Form aller Formen also kann das Absolute alles seyn, durch das Wesen ist es alles.“338 Die Dinge sind demnach in ihrem jeweiligen Existieren zwar das, was sie sein können, jedoch nicht das, was sie darüber hinaus auch noch sein könnten. In den endlichen, zeitlichen Dingen nur tiefe Erschütterung der Phantasie durch den Eindruck allbelebender, allwaltender Naturkräfte konnten der Kunst die unbezwingliche Kraft einprägen, mit der sie von dem starren verschlossenen Ernst der Bildungen früher Zeiten bis zu den Werken überfließender sinnlicher Anmuth stets der Wahrheit getreu blieb, und die höchste Realität geistig erzeugte, welche Sterblichen zu schauen vergönnt ist.“ (S. 306) 336 Schelling, F.W.J.: Bruno – Ein Gespräch, in: Ders.: Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge, SW, Bd. 4, S. 217-329, hier S. 311. 337 Ebd., S. 312 f. 338 Ebd., S. 312.

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zeigt sich deshalb die (Einzel-)Form und ist dabei zurückgebunden an die Form der Formen (das Absolute), die sich als Wesen in ihren noch nicht erreichten Möglichkeiten verborgen hält. Diesbezüglich gilt in der Identitätsphilosophie Schellings die Architektur primär als Kunst und ihre u.a. vom Primat der Nützlichkeit verursachte Dysbalance (siehe Kapitel 1) kann dadurch überwunden werden - der dienliche Gebrauch ist nämlich nicht das Maß der Baukunst, sondern nur eine untergeordnete Bedingung: „Schöne Kunst ist in sich absolut, also ohne äußeren Zweck, nicht Sache des Bedürfnisses […]. Die Architektur z.B., sofern sie bloß das Bedürfniß und die Nützlichkeit bezweckte, wäre nicht schöne Kunst […]. So ist in Ansehung der Architektur eben die Zweckmäßigkeit die Form der Erscheinung, nicht aber das Wesen.“339

Freilich ist hier auch ein zweiter Fallstrick verborgen, der sich in der Verbindung der Architektur mit dem Begriff des ‚Schönen’ zeigt. Allerdings entbindet Schelling die Schönheit vom Prinzip der Nachahmung überkommener (Bau-)Formen und koppelt sie an die Verkörperung des lebendigen Prinzips der Natur. Auf diese Weise bleibt ‚auch schön’, was endlich, was bewegt und was disproportional ist. „Wie sollte aber irgend etwas außer dem Wahren wirklich seyn können, und was ist Schönheit, wenn sie nicht das volle mangellose Seyn ist? Welche höhere Absicht könnte demnach auch die Kunst haben, als das in der Natur in der That Seyende darzustellen?“340

Schellings Begriff von Schönheit schöpft also direkt aus der Wirklichkeit. Er entfaltet damit eine Weite, von der auch die Architektur profitieren kann. Sie wird zwar über das Band an den Geist gebunden (und zahlt hier den Platonischen Tribut), ist aber gleichzeitig identisch mit der Materie, dem Leben und all seinen Formen. Solche Architektur ist verortet in der Vielfalt des Begegnenden und hat keine Rückbindung an mathematische Modelle bzw. reduktionistische Vorstellungen von Natur (Harmonie und Proportion) mehr nötig. Schön und wahr ist vielmehr das, was in die Präsenz gerät. Dass die Dinge existieren, setzt ein Maß für das Kunstgeschehen und nicht, was sie bedeuten sollen. Schelling formulierte hier auch Grundzüge einer nicht prognostizierbaren ‚Wirklichkeitsmöglichkeit’ – eben einer unmöglichen Möglichkeit.

339 Schelling, F.W.J.: Reale Seite der Kunstwelt oder die bildende Kunst, S. 574 f. 340 Schelling, F.W.J.: Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur, S. 302.

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2.3.3. Über die Erde, den Streit und den Riss bei M. Heidegger Aus der Zeit von 1935 bis 1936 stammt Martin Heideggers Aufsatz „Der Ursprung des Kunstwerkes“. Das Werk und der Künstler sind in ihm im Verhältnis der Kunst verwoben. In dieser konstituierenden Beziehung fallen die Abgrenzungen schwer bzw. bedingt eines das andere. Wird nun die Frage nach dem Ursprung des Kunstwerkes gestellt, so versucht man jenes zu fassen, das nicht zu fassen ist: „Die Kunst west im Kunst-Werk. Aber was und wie ist ein Werk der Kunst?“341 Die Kunst ist stets verbunden mit dem Material.342 Sie braucht es und fordert damit die Wirklichkeit ein – wenngleich auf besondere Weise, denn der Kunst-Gegenstand unterscheidet sich von den anderen, den normalen Dingen, sodass die Wirklichkeit mehrfach kodiert sein muss. Denn wie sonst sollte die Unterscheidung spürbar sein zwischen normalen und unnormalen, eben künstlerischen Dingen? Heidegger fragt sich hier auch, ob das Künstlerische das Unnormale ist, bleibt aber nicht bei diesen Gegensätzen stehen, sondern weist dem künstlerisch behandelten bzw. wirkenden Material das Potenzial des „Anderen“ zu, das seinen Status zum Künstlerischen erhebt und damit aufwertet: „[…] weil das Kunstwerk über das Dinghafte hinaus noch etwas anderes ist. Dieses Andere, was daran ist, macht das Künstlerische aus.“343 Angesichts des „Anderen“ stellt sich aber die Frage, wer oder was neben der Sprache die wahrgenommenen Zuordnungen von Eigenschaften zu einem Material ermöglichen kann: „[…] ist der Bau des einfachen Aussagesatzes (die Verknüpfung von Subjekt und Prädikat) das Spiegelbild zum Bau des Dinges (zur Vereinigung der Substanz mit den Akzidenzien)? Oder ist gar der so vorgestellte Bau des Dinges entworfen nach dem Gerüst des Satzes?“344

Um aus dieser Verengung herauszukommen, führt Heidegger das Gefühl und die Stimmung ins Feld. Es ist eben nicht mehr nur das Sprechen, das das Verborgene der Kunst sichtbar machen kann, sondern eine leibliche Dimensionalität, in der

341 Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Ders.: Holzwege, S. 1-75, hier S. 2. 342 In der bildenden Kunst sind diese Verbindungen deutlich, aber auch in der darstellenden Gattung braucht die Kunst Material – so z.B. Musik, Instrumente und den Schall sowie der Tanz die Körper. Nur beim Licht könnte man sich fragen, ob es substanzlos ist, wenngleich es zur Wahrnehmung wieder des Materials bedarf. 343 Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 4. 344 Ebd., S. 8.

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eine Teilhabe oder Vereinigung mit den Dingen und dem Material geschehen bzw. erfahren werden kann: „Alles, was sich an Auffassung und Aussage über das Ding zwischen das Ding und uns stellen möchte, muss zuvor beseitigt werden. Erst dann überlassen wir uns dem unverstellten Anwesen des Dinges. Aber dieses unvermittelte Begegnenlassen der Dinge brauchen wir weder erst zu fordern noch gar einzurichten. Es geschieht längst. In dem, was der Gesicht-, Gehör- und Tastsinn beibringen, in den Empfindungen des Farbigen, Tönenden, Rauen, Harten rücken uns die Dinge, ganz wörtlich genommen, auf den Leib.“345

Aber auch mit dem zweiten, leiblichen Zugang zum Ding ist Heidegger nicht zufrieden, da es das Begegnende zu stark an den Wahrnehmenden bindet – war es doch sein Ziel, das Ding in dessen Insichruhen zu umreißen. Die alte Unterscheidung bzw. der Zusammenklang von Stoff und Form kommt ihm nun zur Hilfe: „Das Ständige eines Dinges, die Konsistenz, besteht darin, dass ein Stoff mit einer Form zusammensteht. Das Ding ist ein geformter Stoff. Diese Auslegung des Dinges beruft sich auf den unmittelbaren Anblick, mit dem uns das Ding durch sein Aussehen […] angeht.“346

Das Gefüge von Stoff und Form ist sowohl für das Kunstwerk-Ding, als auch das Gebrauchs-Ding (z.B. Schuhe) gültig – für Letzteres nennt Heidegger den Begriff des „Zeugs“, den er bereits in Sein und Zeit eingeführt hatte.347 Wichtig zu dessen Verständnis sind die verschiedenen Wirkungsweisen von Dingen, so ist das naturwüchsige Material (z.B. der Fels) eigenständig und gleichzeitig 345 Ebd., S. 10. 346 Ebd., S. 11. 347 Vgl. hierzu: Heidegger, Martin: Sein und Zeit, § 15. Das Zeug ist Seiendes, das im Besorgen der Welt begegnet. Es gehört immer in eine Zeugganzheit, in der es zum Gebrauch dient – hier z.B. der Bleistift auf dem Schreibtisch im Büro bei der Arbeitsstelle etc. Das Zeug gehört also zu anderem Zeug – z.B. der Bleistiftspitzer dem Bleistift und umgekehrt: „In solchem gebrauchenden Umgang unterstellt sich das Besorgen dem für das jeweilige Zeug konstitutiven Um-zu; je weniger das Hammerding nur begafft wird, je zugreifender es gebraucht wird, um so ursprünglicher wird das Verhältnis zu ihm, um so unverhüllter begegnet es als das, was es ist, als Zeug.“ (S. 69) Wichtig ist, dass das Zeug ausschließlich dem Nutzen unterworfen wird bzw. in diesem seinen Dienst erfüllt. Seine Dinghaftigkeit verschwindet quasi in seinem Gebrauch.

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selbstgenügsam, das heißt, nicht dem Nutzen unterworfen. Das Zeug ist zwar in diesem Sinne eigenständig, aber nicht selbstgenügsam. Es steht den Menschen in anderer Weise gegenüber. Das Kunstwerk hingegen ist zwar hergestellt wie das Zeug, aber dennoch eigenständig und selbstgenügsam wie das naturwüchsige Material. Es vereinigt damit alle Wirkungsgrade des Dinges in sich. Das FormStoff-Gefüge tritt also als weitere Deutungsweise neben dem sprachlichen und leiblichen Zugang auf. Es genügt Heidegger allerdings auch noch nicht zur Erklärung des Kunstwerks, da es die unmittelbare Erfahrung des Seienden verstellt: „Wir sollen uns dem Seienden zukehren, an ihm selbst auf dessen Sein denken, aber es dadurch zugleich in seinem Wesen auf sich beruhen lassen.“348 Die angeführten Auslegungen weisen demnach einen Geburtsfehler auf, nämlich den eines ästhetischen Vorgriffs auf die Dinge. Ob nun im Joch des Zweckes (der Dienlichkeit) oder verspannt ins Korsett des Reichs der Ideen, immer steht die Trias von Ding, Zeug und Werk „unter der Herrschaft der überlieferten Auslegung alles Seienden“349. Aus diesem Dilemma kann aber das Sein des Seienden führen. Dieses Sein ist die Wahrheit des Seienden, die sich in dessen Geschehen, in dessen Eröffnung zeigt. So gesehen ist der Künstler derjenige, der durch sein Schaffen das Werk in sich (und damit aus sich selbst) entlässt: „Wir sagten, im Werk sei das Geschehnis der Wahrheit am Werke.“350 Herausragen kann das Werk in die Offenheit der Welt, die als Möglichkeit zur Möglichkeit von Welt begriffen wird. Das Pendant zur Welt ist die Erde. Aus ihr heraus können die Möglichkeiten entborgen werden. Sie selbst ist dunkel, behütend – eben bergend. Am Beispiel eines Tempels wird die konstituierende Beziehung von Erde, Welt und Werk verdeutlicht. Dieses Bauwerk steht einfach da und es bildet nichts ab, wie z.B. ein Bild. In seinem Inneren ist etwas verborgen, das jedoch außen wahrnehmbar ist und über seine Grenzen hinaus wirkt: „Die waltende Weite dieser offenen Bezüge ist die Welt […]. Dies Aufruhen des Werkes holt aus dem Fels das Dunkle seines ungefügten und doch zu nichts gedrängten Tragens heraus.“351 Es verschränken sich also im Werk zwei Motive: das Offene, in das entborgen wird und das Verborgene, aus dem geborgen wird. Die Natur als Himmel, Licht und Material kommt in ihrer ganzen Bewegtheit erst durch den stehenden und ruhenden Bau zum Bewusstsein. Hier führt Heidegger den Begriff der Physis ein und verbindet ihn mit dem Wohnen des Menschen und der Erde: „Die Erde ist das, wohin das Aufgehen alles Aufgehende und zwar als ein sol-

348 Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 16. 349 Ebd., S. 24. 350 Ebd., S. 27. 351 Ebd., S. 28.

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ches zurückbirgt. Im Aufgehen west die Erde als das Bergende.“352 Das Bergen ist also als eine Art passive Aktivität zu verstehen bzw. als ein Entzugsgeschehen und ohne den Tempel bzw. das Werk gäbe es weder Welt noch Erde. In den Vorlesungen Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt-EndlichkeitEinsamkeit wird der Begriff Physis am Leitfaden Heraklits noch weiter präzisiert und als „sich selbst bildendes Walten des Seienden im Ganzen“353 gedacht. Damit ist auch die Natur umfasst, allerdings weder im wissenschaftlichen noch gegenständlichen Sinne. Vielmehr beschreibt die Physis ein Walten, das weit größer ist als der Mensch selbst, ihn vollständig durchdringt, sein Dasein ausmacht und damit ebenso das Daseiende des Seins sowie das Kunstwerk (siehe Kapitel 1.3). Insofern der Mensch ist, bringt er das Waltende zum Ausspruch, das heißt, in seinem Dasein selbst geschieht es bereits. Heidegger führt für dieses Geschehnis den Begriff des Logos ein und verortet ihn zusammen mit Physis in einem Wahrheitsgeschehen, das als ein entbergendes Verbergen beschrieben wird. Die altgriechische Definition der Wahrheit als Entbergung unterscheidet sich von der herkömmlichen Ausdeutung als Schönheit, Ganzheit und Richtigkeit, die sich nach Sokrates verbreitete.354 Das ist bedeutsam, denn die Präsenz wird benannt bzw. anerkannt und eine Missachtung des Materials (im Sinne der unvollkommenen Nachahmung ewiger Ideen) spielt noch keine Rolle. Im Entbergungsgeschehen schwingt das Verborgene, das Noch-Nicht, das Fehlende und damit auch etwas Negatives – eben Sichentziehendes mit. In dessen Vollzug tritt die Wahrheit quasi gewaltsam aus ihrer Verbergung heraus in eine Art vorübergehende Teil-Entdecktheit:

352 Ebd. 353 Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt-Endlichkeit-Einsamkeit, in: Ders.: GA, Bd. 29/30, 3. Aufl., hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M.: Klostermann, 2004, S. 38 f. 354 Vgl. hierzu: Heidegger, Martin: Beiträge zur Philosophie (vom Ereignis), in: Ders.: GA, Bd. 65, 3. Aufl., hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M.: Klostermann, 2003. Wahrheit ist die Lichtung des Seins inmitten des Seienden und wird als Offenheit gedacht. Die Lichtung wiederum wird durch den Entwurf gegründet. Wahrheit steht also mit der entwerfenden wie ekstatischen Verfasstheit des Menschen in direkter Verbindung und erschöpft sich keineswegs in den Bestimmungen von richtig oder falsch. Vielmehr ist die Möglichkeit zur Möglichkeit von richtig oder falsch im Visier der Beschreibung: „Zum anderen aber ist »Richtigkeit« eine »Art« der Wahrheit, die hinter dem ursprünglichen Wesen als dessen Folge zurückbleibt und deshalb schon nicht auslangt, um die ursprüngliche Wahrheit zu fassen.“ (S. 327)

182 | B AUKUNST ALS UNMÖGLICHE M ÖGLICHKEIT „In der Wahrheit wird das Seiende der Verborgenheit entrissen. Die Wahrheit wird von den Griechen als ein Raub verstanden, der der Verborgenheit entrissen werden muss in einer Auseinandersetzung, in der gerade die physis danach strebt, sich zu verbergen. Wahrheit ist innerste Auseinandersetzung des Menschenwesens mit dem Ganzen des Seienden selbst.“355

Der Logos existiert Heidegger zufolge nicht außerhalb der Physis, sondern entsteht vielmehr aus ihr. Allerdings gerät das Sprechen-Wollen des Logos in den Zwang zur Scheidung der zusammengehörigen Mannigfaltigkeit der Physis. Es muss sich stellen, sich herstellen: „Das Früheste, Erst-Anwesende, die Anwesung ist die Physis selbst, jedoch alsbald verdeckt in eins mit der Entbergung durch die Idee.“356 Im Ursprung des Kunstwerks steht die Erde für die Physis. In ihrem Walten stemmt sie sich gegen das unausweichliche Gesprochenwerden und damit gegen die Welt, also den Logos. Bezogen auf den Tempelbau verdeutlicht Heidegger die Ambivalenz des Kunstwerks. Dieses ist in der Lage, die Wahrheit im Sinne eines Raubes aus der Unverborgenheit erlebbar werden zu lassen. In Zusammenhang damit steht ein wirkender wie weltbildender Entzug als Verweis auf unverwirklichte ‚Möglichkeiten’ der Natur, also das Waltende des Waltens. „Welt weltet“357, das heißt, der Bau hält das Offene der Welt offen – diese war nicht etwa vor dem Werk da, sondern wird aus der Physis entborgen. Damit räumt der Bau bzw. das Werk auch die Räumlichkeit ein. Hier unterscheidet es sich deutlich vom „Zeug“, das zwar auch hervorgebracht ist, jedoch durch seinen Nutzen regelrecht verschwindet (z.B. eine Bushaltestelle) und dessen Materialität kaum in die Wahrnehmung kommt (z.B. die Umkleidung einer Telefonzelle): „Ein Zeug »ist« strenggenommen nie. Zum Sein von Zeug gehört je immer ein Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein kann, das es ist. Zeug ist wesenhaft »etwas, um zu... «. Die verschiedenen Weisen des »Um-zu« wie Dienlichkeit, Beiträglichkeit, Verwendbarkeit, Handlichkeit konstituieren eine Zeugganzheit. In der Struktur »Um-zu« liegt eine Verweisung von etwas auf etwas.“358

Hierzu wiederum ganz im Gegensatz macht ein Werk das Material erst deutlich, zieht es förmlich in die Präsenz und gibt ihm die Welt:

355 Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik, S. 43 f. 356 Heidegger, Martin: Beiträge zur Philosophie (vom Ereignis), S. 222. 357 Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 30. 358 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, § 15, S. 68.

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„[…] der Fels kommt zum Tragen und Ruhen und wird so erst Fels; die Metalle kommen zum Blitzen und Schimmern, die Farben zum Leuchten […]. Alles dieses kommt hervor, indem das Werk sich zurückstellt in das Massige und Schwere des Steins, in das Feste und Biegsame des Holzes, in die Härte und den Glanz des Erzes, in das Leuchten und Dunkeln der Farbe.“359

Das Material kommt aus dem Verborgenen der Erde hervor. Sie umschreibt also das Wirken einer ruhenden und sich entziehenden Potenzialität, sprich einer unmöglichen Möglichkeit. Eine jedoch, die in das Offene kommen muss, um sich als solche zu zeigen: „Das Werk rückt und hält die Erde selbst in das Offene einer Welt. Das Werk lässt die Erde eine Erde sein.“360 Wichtig ist, dass das Werk gleichzeitig auf die Erde verwiesen bleibt – es ist, genauso wie die Welt, nicht etwa vorher da, sondern stellt das sich entziehende und gleichzeitig konstituierende Verhältnis zum Offenen der Welt und dem Verborgenen der Erde auf. Dieses Verhältnis ist ein dynamisches und das zeigt sich auch im Wort der Wirkung. Das Werk wirkt und hat dadurch seine Wirklichkeit. Diese ist zwar spürbar, aber kaum zu messen. Wirkung könnte auch als der Prozess beschrieben werden, der bei der Aufstellung der Welt und dem Entbergen aus der Erde entsteht. Heidegger geht der Wirkung nach, wenn er versucht, eine Ruhe zu definieren, die gleichzeitig Bewegung ist und findet dafür den Begriff des Streits: „Welt und Erde sind wesenhaft voneinander verschiedenen und doch niemals getrennt […]. Das Gegeneinander von Welt und Erde ist ein Streit.“361 Der Streit wird verstanden als eine Art der Besinnung auf die eigene Ursprünglichkeit und nicht als unfruchtbare Destruktion. Der Zug zur Selbstbesinnung, zur jeweiligen Innigkeit von Welt und Erde treibt das Werk in den Streit und lässt ihn nicht enden. Diese Konstellation macht es möglich, das Werk mit dem Begriff einer Ruhe zu verbinden, die gleichzeitig hochbewegt ist. Das Insichberuhen ist geprägt vom permanenten Wandel: „Die Bestreitung des Streites ist die ständig sich übertreibende Sammlung der Bewegtheit des Werkes. In der Innigkeit des Streites hat daher die Ruhe des in sich ruhenden Werkes ihr Wesen. Erst aus dieser Ruhe des Werkes vermögen wir zu ersehen, was im Werk am Werk ist.“362

359 Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 32. 360 Ebd. 361 Ebd., S. 35. 362 Ebd., S. 36.

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Heidegger verabschiedet sich an dieser Stelle auch vom Platonischen Motiv der Nachahmung. Die Kunst zeigt sich durch die Wirkung und Wirklichkeit des Werks, das durch den Streit zwischen Offenheit und Verborgenheit bestimmt wird. Das Werk braucht keine Rückbindung – etwa an kanonische Prinzipien – mehr, sondern beruht in der Dynamik seiner Präsenz. Die Frage nach dem ‚Was’ und ‚Wie’ des Kunstwerk-Dinges ist dadurch ersetzt durch sein ‚Dass’. Nicht mehr und nicht weniger. Dieses Dass hilft den Betrachtern auch über die Begrenzungen ihres Vorstellens hinaus und definiert die Wahrheit nicht mehr als Richtigkeit, sondern als Unverborgenheit. In diesem Zusammenhang wird auch der Begriff der Lichtung eingeführt. Sie ist die „offene Stelle inmitten des Seienden“363 und steht für Öffnung und Verbergung. In dem Streit bzw. der Gegenwendigkeit dieser beiden Prinzipien liegt das Wesen der Wahrheit begründet. Die Lichtung ermöglicht den konstituierenden „Urstreit“364 der Wahrheit und in sie hinein steht das Seiende. Erde und Welt sind also nicht die Entsprechungen für Verbergung und Öffnung, sondern passieren in der Lichtung. Die Welt beschreibt dann ein Entscheiden-können, ein Stellen-können, ein Denken-können und die Erde das mit jeder Entscheidung verbundene Unentschiedene, Ungestellte und Ungedachte. Diese Pole sind streitend miteinander verwoben: „Welt und Erde sind je in sich ihrem Wesen nach streitig und streitbar. Nur als diese treten sie in den Streit der Lichtung und Verbergung.“365 Hier bemüht Heidegger den Begriff des Risses. Des Risses, den er allerdings nicht als Kluft sieht, sondern als Symbol einer antagonistischen Verfasstheit zwischen Welt und Erde. Er durchzieht das Werk und trennt es dennoch nicht: „Dieser Riss reißt die Gegenwendigen in die Herkunft ihrer Einheit aus dem eigenen Grunde zusammen. Er ist Grundriss. Er ist Auf-riss, der die Grundzüge des Aufgehens der Lichtung des Seienden zeichnet.“366 Der Riss ist damit die Frucht des Streites und beschreibt nicht weniger als die Gestalt eines Werks, die sich als Linie auf dem Papier genauso zeigt wie als geformte Plastik oder als Baukörper im Raum. Er stellt den Übergang von Verborgenheit zu Entborgenheit dar und umschließt das Werk, das erst in dieser Umschlossenheit in die Wirkung und Wirklichkeit einer Offenheit herausragen kann. Dieses Ragen ist nichts Fertiges und Abgeschlossenes, es geschieht, bleibt wirkend und voller Spannung, denn das Gegenwendige eines Zugleich von Maßsetzung und Maßlosigkeit sowie die Fügung in eine Gestalt367 363 Ebd., S. 41. 364 Ebd., S. 42. 365 Ebd. 366 Ebd., S. 51. 367 Vgl. hierzu: Heidegger, Martin: Die »Gestalt« und die physis, in: Ders.: Besinnung, GA, Bd. 66, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M.: Kloster-

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bei gleichzeitigem Andrängen alles Noch-Nicht-Gefügten, hält das Werk in einer wirkenden Besonderung: „Der Riss muss sich in die ziehende Schwere des Steins, in die stumme Härte des Holzes, in die dunkle Glut der Farben zurückstellen […]. Der in den Riss gebrachte und so in die Erde zurückgestellte und damit festgestellte Streit ist die Gestalt. Geschaffensein des Werkes heißt: Festgestelltsein der Wahrheit in die Gestalt. Sie ist das Gefüge, als welches der Riss sich fügt.“368

Heidegger stellt in der Folge heraus, dass der Stoß zum ‚Dass’ eines Werkes ein entscheidendes Kriterium für sein Geschaffensein ist und auch, dass hier der Unterschied von Werk und Zeug liegt bzw. es verschiedene Weisen von Hervorbringung gibt. Dem (Bau-)Künstler selbst bleibt also nur eine untergeordnete Rolle, die ihn eher zum ‚ge-schickten‘ Medium der Kunst macht. Der eingangs erwähnte Unterschied zwischen Kunstwerk-Ding und Gebrauchs-Ding (Zeug) wird hier ebenfalls noch einmal unterstrichen, denn Letzteres verschwindet in seinem Gewohnten während das Werk zeigt, was in ihm am Werk ist und damit eine ‚Distanz‘ zum Menschen kenntlich macht, die es kaum dienlich sein lässt. Vielmehr zeigt es ihm etwas anderes und lässt ihn ein in die Unverborgenheit des Seins, die auch sein Dasein kennzeichnet: „Die Bewahrung des Werkes vereinzelt die Menschen nicht auf ihre Erlebnisse, sondern rückt sie ein in die Zugehörigkeit zu der im Werk geschehen Wahrheit […]. Vollends ist das Wissen [in diesem existenziellen Sinne und im Gegensatz zum konstruktivistischen Vorstellen, CJG] in der Weise des Bewahrens fern von jener nur geschmäcklerischen Kennerschaft des Formalen am Werk, seiner Qualitäten und Reize an sich. Wissen als Gesehen-haben ist ein Entschiedensein; ist Innestehen in den Streit, den das Werk in den Riss gefügt hat.“369

Heideggers Kunstwerkaufsatz zeigt sehr anschaulich, in welchen Spielarten unmögliche Möglichkeiten in Bezug auf die Werke der (Bau-)Kunst bestimmend werden können. So verlässt er die ausgetretenen Denkpfade der Aristotelischen Form-Stoff-Dialektik schnell und reklamiert die Dramatik des Seinsgeschehens für die Differenzierung hervorgebrachter Materialien. Hier gelingt auch eine mann, 1997, S. 369-370: Heidegger stellt auch hier klar, dass Gestalt wie physis nicht auf optische Phänomene deuten, sondern „ein Aufstehen in die reine Anwesung“ (S. 369) beschreiben. 368 Ders.; Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 51. 369 Ebd., S. 56.

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Übertragung auf die Architektur bzw. eine Kritik an den Bauwerken, die im Geiste des Ge-Stells errichtet wurden. So kennt man z.B. bei den gebrauchsgesteuerten Erzeugnissen des Bauwirtschaftsfunktionalismus der 1970er allenfalls Setzungsrisse in der Fassade, aber keine, die einen Urstreit zeigen. Hier fand kein Ringen des Gegenwendigen statt, das zu einem Riss führt, der zwischen Welt und Erde klafft, um schließlich in einer Gestalt gebändigt zu werden. Versucht man allerdings die Architektur von dort zu denken, wo die o.g. Gebrauchsbauwerke nie hinkommen können, wird deutlich, wie elementar und wandelbar Baukunst werden kann, wenn sie das Ereignis zum Thema hat. 2.3.4. Die Real-Möglichkeit als Substrat bei E. Bloch Ernst Bloch hatte zwischen 1938 und 1947 Das Prinzip Hoffnung geschrieben, das dem marxistischen Weltbild geschuldet ist. So ist deutlich die Tendenz zu einem ins Säkulare gewendeten teleologischen Ansatz spürbar, in dem der auf die Füße gestellte Hegelsche Weltgeist als „Geschichtsprozess“370 dahingehend auftritt, dass „die Naturalisierung des Menschen [und, CJG] die Humanisierung der Natur“371 gelingen können. Lohnend ist die Lektüre Blochs, weil er den Versuch unternahm, das Objekt-Subjekt-Verhältnis durch ein Drittes zu ergänzen, um damit einen bloßen Konstruktivismus zu überwinden. Bezogen auf die Definition von Möglichkeit und Wirklichkeit eröffnet dieses Dritte die Chance, in ein Milieu des Schöpferischen vorzudringen, in dem Sachverhalte, Strukturen und Materialitäten gefunden und hervorgebracht werden. Bloch fordert, das Werdende als im Vorhandenen angelegt zu begreifen und das Neue als ein Überschreiten des Wirklichen zu denken: „Das Noch-Nicht Bewusste, Noch-Nicht-Gewordene, obwohl es den Sinn aller Menschen und den Horizont alles Seins erfüllt, ist nicht einmal als Wort, geschweige als Begriff durchgedrungen.“372 Bloch kritisiert damit auch das Prinzip der Wissensbildung, das Gegenwart, Zukunft und Möglichkeit nur aus Vergangenheiten, also bereits „abgeschlossenen Forminhalten“373, bilden kann. Solche Tendenz zur Statik der Sachverhalte degradiert das Betrachtbare zum Gewesenen. In diesem retrospektiven Modus bleibt auch die Daseinsbestimmtheit und Handlungsfähigkeit des Menschen stets abgeschlossen und in der Wiederholung gebannt. Dem entgegen steht die Hoffnung, denn sie beschreibt ein wirkliches Milieu, in dem das Neue und mit ihm die Möglichkeit

370 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, S. 285. 371 Ebd. 372 Ebd., S. 4. 373 Ebd.

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als tatsächlich Nicht-Gewusstes wächst. Sie verlässt den Modus der Retrospektive und betrachtet das Vorhandene jenseits der Schablonen: „Zukunft der echten, prozesshaft offenen Art ist also jeder bloßen Betrachtung verschlossen und fremd.“374 Für dieses andere Denken muss Voraussetzung sein, dass es sich von den Traditionen der reinen Ideen, des Zwecks, der Form und der Seele löst, die allesamt teleologisch aus der Vergangenheit in die Gegenwart weisen und ihre entsprechende Lesart fordern: „Wahre Handlung in der Gegenwart selber geschieht aber einzig in der Totalität dieses rückwärts wie vorwärts unabgeschlossenen Prozesses.“375 Die Hoffnung entsteht nicht in der Erinnerung an Vergangenes, das wiederholt werden soll, sondern markiert ein noch unentdecktes Terrain. Das Anschauen als Wiedererinnern der Ideen wird endgültig ersetzt. Nichts ist mehr rekonstruierbar im Sinne einer Platonischen Nachahmung. Die Wirklichkeit selbst ist voller Potenzial, das es zu entdecken gilt. Bloch kennt sehr wohl die psychoanalytisch geprägten Begriffe des Un- und Vorbewussten, bleibt jedoch nicht bei ihnen stehen, denn auch sie haben die Tendenz der (mehr oder weniger) verdrängten bzw. vergessenen Erinnerung. Er will auf etwas NochNicht-Gewusstes hinaus und wird bei Siegmund Freuds ‚drittem Unbewussten‘ fündig: „Dies Unbewusste blieb unnotiert, obwohl es den eigentlichen Raum der Bereitschaft zum Neuen und der Produktion des Neuen darstellt.“376 Bloch verschiebt damit die Freudianisch definierte Subjektivität in eine Zukunft, die unbelastet, dämmernd und erwartend ist. In gewisser Weise wächst der Einzelne über seine Vorstellungen hinaus und hat vielmehr an etwas Teil, zu dessen Gegenwärtigung er das Vermögen hat und das ihn auch zur schöpferischen Hervorbringung befähigt: „Das Subjekt wittert hier keinen Kellergeruch, sondern Morgenluft.“377 Dieses ahnende und unbelastet vorwärts schreitende Milieu des Noch-Nicht wird in der Folge in die drei Zustände Inkubation, Inspiration und Explikation gegliedert. In der Inkubation hat der Einzelne zunächst Anteil an einem verworrenen und nebulösen Zustand der Fülle, dem er tastend, grübelnd und forschend ausgesetzt ist. Dieses Treibhaus des Neuen wird klarer, wenn Erhellung und Durchblick in Form von Einfällen erste Grenzpfähle setzen. Diese Inspirationen gelten als Geschenke und sind mit Glücksgefühlen verbunden. Allerdings geht das schöpferische Hervorbringen über den Einzelnen hinaus, denn im Moment seiner Inspiration verkörpert sich eine Zeit, die sich auch verkörpern will und sich hierzu das Subjekt als Medium nimmt: „Item, der Durchbruch, der oft plötz374 Ebd., S. 6. 375 Ebd., S. 7. 376 Ebd., § 15, S. 131. 377 Ebd., S. 132.

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liche gewaltige Lichtschlag im genialen Individuum gewinnt sowohl das Material, an dem er sich entzündet, wie das Material, das er beleuchtet, einzig aus dem zum Gedanken drängenden Novum des Zeitinhalts selbst.“378 Das Kunstwerk stellt den dritten und letzten Teil der Trias des Noch-Nicht-Gewordenen, die Explikation, dar. Es braucht Objekt, Subjekt und das Geheimnis, beinhaltet das Noch-Nicht als Gestalt und verkörpert damit etwas, das noch keinen Körper hat: „Jedes große Kunstwerk bleibt daher, außer seinem manifesten Wesen, noch auf die Latenz der anderen Seite aufgetragen, das ist, auf die Inhalte einer Zukunft, die zu seiner Zeit noch nicht erschienen war, wo nicht auf die Inhalte eines noch unbekannten Endzustands.“379

Das Werk ist rätselhaft. Es kann gar nicht anders, denn es operiert wie oben beschrieben nicht im ‚Keller der Erinnerungen‘ sondern auf dem ‚Dach der Morgenluft‘. Es steht an der Front des Neuen und damit im Gegensatz zur „gewohnten Gewordenheit“380. Die Explikation im Kunstwerk birgt große Schwierigkeiten für Produzenten wie Rezipienten, denn der Widerstand gegen die Bewusstwerdung des Noch-Nicht-Bewussten liegt im Material bzw. im Objekt selbst und spiegelt sich lediglich im Subjekt: „[…] der Widerstand, den es [das Weltgeheimnis, CJG] seiner Eröffnung entgegengesetzt, ist nicht der eines verschlossenen Kasten […], sondern […] der einer in sich selbst noch im Prozess befindlichen, noch nicht manifesten Fülle.“381 Bloch schöpft hier auch die Möglichkeit aus der Wirklichkeit, wenngleich sie als Noch-Nicht-Gewusstes im Subjekt erst durch einen weiteren Faktor (das Geheimnis der Welt) in ihre Ermöglichung geraten kann. Hierzu unterscheidet er das Real-Mögliche von einem LeerMöglichen (auch Objektiv-Mögliches genannt): „Die Vorherrschaft des Sichvorweg-Seins im Modus des bloßen Wünschens bringt ein Unverständnis der faktischen Möglichkeit mit sich.“382 Das Subjekt kann das utopische Potenzial des Noch-Nicht-Gewussten nur erreichen, wenn es das Real-Mögliche physisch vorwegnimmt. Es agiert dann in der Verbindung mit der Wirklichkeit und nicht in einem von ihr abgehobenen Bereich der bindungslosen Phantasterei: „Der Berührungspunkt zwischen Traum und Leben, ohne den der Traum nur abstrakte Utopie, das Leben aber nur Trivialität abgibt, ist gegeben in der auf die Füße ge-

378 Ebd., S. 140. 379 Ebd., S. 142. 380 Ebd., S. 143. 381 Ebd., S. 149. 382 Ebd., S. 165.

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stellten utopischen Kapazität, die mit dem Real-Möglichen verbunden ist.“383 Der Mensch als denkendes Wesen interagiert beständig mit seiner materialhaften Umwelt. Er befindet sich nicht nur im konstruktiven Modus der Welterschaffung sondern im interaktiven einer Wechselwirkung. Die Wirklichkeit ereignet sich prozessual, gleichzeitig vorwärts und rückwärts zwischen dem Intelligiblen und Körperlichen. Sie ist nicht klar, sondern diffus und von Träumen durchzogenen: „Das menschliche Dasein hat trotzdem mehr gärendes Sein, mehr Dämmerndes an seinem oberen Rand und Saum. Hier ist gleichsam etwas hohl geblieben, ja ein neuer Hohlraum erst entstanden.“384 Sachverhalte sind ist nicht vollständig und befriedigend erklärbar über eine bestimmbare Anhäufung unveränderlicher Tatsachen, sondern werden in ihrem Potenzial nur durch den permanenten Wandel derselben begriffen. Das Real-Mögliche des Noch-Nicht-Gewussten kann nur im Modus der Unabgeschlossenheit gedacht bzw. erfahren werden: „[…] die konkrete Phantasie und das Bildwerk ihrer vermittelten Antizipationen sind im Prozess des Wirklichen selber gärend und bilden sich im konkreten Traum nach vorwärts ab; antizipatorische Elemente sind ein Bestandteil der Wirklichkeit selbst. Also ist der Wille zur Utopie mit objekthafter Tendenz durchaus verbindbar, ja in ihr bestätigt und zu Hause.“385

In § 18 von Das Prinzip Hoffnung untersucht Bloch die „Schichten der Kategorie Möglichkeit“ noch genauer und betont zunächst, dass es nicht selbstverständlich ist, praktisch alle Sachverhalte und Dinge verändern zu können. Er sucht nach dem Prinzip, das diese Möglichkeiten für den Menschen ermöglicht und setzt dabei voraus, dass es kein beliebiges ist: „Auch das Kannsein ist gesetzlich.“386 Von solchen Ansätzen ist die unmögliche Möglichkeit sicher weit entfernt, denn sie zeichnet sich gerade durch eine Unvorhersehbarkeit und damit auch Ungesetzlichkeit aus. Trotzdem ist es hilfreich, an Bloch den Versuch nachzuvollziehen, das Mögliche kalkulierbar machen zu wollen. Seine Suchbewegung stützt sich zunächst auf die klassische Modallogik.387 An ihrer traditio383 Ebd. 384 Ebd., § 17, S. 225. 385 Ebd., S. 227. 386 Ebd., § 18, S. 258. 387 Es ist nicht Ziel dieses Abschnitts, in die weiten Verzweigungen der Modallogik einzudringen – nur zum Grundverständnis hierzu der Verweis auf den Artikel „Modallogik“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6: Mo-O, hrsg. von: Joachim Ritter/Karlfried Gründer, Basel: Schwabe, 1984, S. 16-41, hier S. 16 ff. Die Modallogik beschreibt den Zusammenhang von wahren oder falschen Aussage-

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nellen Lesart kritisiert er eingangs, dass der Begriff der Möglichkeit ausschließlich über die Erkenntnistheorie und kaum anhand der Objektbestimmung zur Entfaltung kam. Der Außerweltcharakter des traditionellen Modalitätsbegriffs ist ein Problem, denn die abstrakte Logik verdrängt das Material: „Das Mögliche wird dann zur bloßen »anthropomorphen Introjektion« gemacht, als ob nicht sämtliche Organismen mit ihrem Reflex- und Reaktionsapparat auf eine objektiv-reale Welt der Möglichkeit eingestellt wären […]“388 Bloch erkennt einen Kampf der logischen Statik gegen das Offen-Mögliche, favorisiert dann aber nach der Analyse der Kantschen und Hegelschen Ansätze Marx’ Definition der Möglichkeit: „Veränderung der veränderbaren Welt ist die Theorie-Praxis des realisierbar RealMöglichen der Front der Welt, des Weltprozesses. Und an diesem Ende ist das Real-Mögliche […] das Realproblem der Welt selber: als das noch Unidentische von Erscheinung und wirklichem Wesen, schließlich von Existenz und Essenz in ihr.“389

Unterschieden wird in der Folge die Möglichkeit in formale, sachlich-objektive, sachhaft-objektgemäße und objektiv-reale Formen. Sehr schnell grenzt Bloch das bloß Denkmögliche ab und unterscheidet dabei un- von widersinnig: „Wie es Fülle im Denken aus Ungenauigkeit geben kann, schlechte Fülle also, so gibt es im Denkmöglichen auch schlechte Offenheit. Und diese neben der guten, die vor allem im formalen Kannsein des Sich-Widersprechenden sich eröffnet.“390 Wenn das Denken in das Erkennen mündet, wird die Uferlosigkeit des DenkMöglichen begrenzt und es eröffnet sich zugleich das Spektrum des RealMöglichen. Dieses trägt zunächst den Charakter des sachlich-objektiven, denn es wirkt begründend. Das heißt jedoch nicht, dass die Möglichkeit der Sache selbst erschöpfend erfasst wäre, sondern nur, dass sie in einem bestimmten Begründungszusammenhang steht: „Mögliches ist partiell Bedingtes, und nur als dieses

oder Behauptungsketten. In ihrer klassischen Form gibt es drei Ausprägungen, nämlich die des Notwendigen (oder Apodiktischen), des Wirklichen (oder Assertorischen) und des Möglichen. Die modallogischen Zusammenhänge sind zumeist auf die Wahrheit ausgerichtet, d.h., sie haben alethischen Charakter. Es gibt aber auch noch weitere Kategorien, so z.B. die epistemische (Wissen), temporale (Zeit), boulomanische (Wunsch) oder deontische (Pflicht), evaluative (Wert) oder kausale (Ursache). 388 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung S. 279. 389 Ebd., S. 284. 390 Ebd., S. 259.

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ist es möglich.“391 Die Hypothese wird als Beispiel für das sachlich-objektive genannt, das die allererste Eingrenzung der Offenheit des Erkennens durch die Möglichkeit markiert. Im nächsten Schritt gerät die Hypothese in die Sache selbst und deren eigene Bedingungsgründe. Mit dem sachhaft-objektiven entsteht ein Mögliches „als gegenständlich-strukturelles So-Verhalten“,392 das heißt, dass es von der Erkenntnis (sachlich) in den Gegenstand (sachhaft) selbst gebracht wird. Noch stärker bezieht sich die ursprünglich uferlose Möglichkeit nun auf das Objekt und gerät damit zum Resultat, dessen Form eine Realdefinition ist: „Das sachhaft Mögliche ist das sachhaft-partiell Bedingte gemäß dem strukturellen Genus, Typus, Gesellschaftszusammenhang, Gesetzeszusammenhang der Sache. Partiell Bedingtes erscheint hier mithin als eine strikt im Gegenstand fundierte und so erst der hypothetischen oder problematischen Erkenntnis mitgeteilte Offenheit mehr oder minder strukturell-determinierter Art.“393

In der Folge betont Bloch die Wechselwirkungen innerer wie äußerer Bedingungen eines Gegenstandes: „Anders-Seinkönnen zerfällt in Anders-Tunkönnen [Potenz, CJG] und Anders-Werdenkönnen [Potenzialität, CJG].“394 Beide Pole der Möglichkeit im Gegenstand stehen aber auch in Abhängigkeit zueinander, so kann sich dessen innere Potenz nur gemäß der äußeren Potenzialität entfalten, d.h., etwas Neues nur zur Erscheinung kommen, wenn die Zeit oder Situation dafür reif ist: „[…] wenn die Möglichkeit als Vermögen das Anders-Tunkönnen, das nicht Aufhebende, wohl aber Umdeterminierende in allem Determinierungen ist, so ist die Möglichkeit als objektive Potenzialität das Anders-Werdenkönnen, das nicht Aufhebbare, wohl aber Lenkbare, Umdeterminierbare in allen Determinierungen.“395

Bloch verbindet seine deutliche Priorisierung äußerer Potenzialität, die zuerst die Potenz im Innern zur Entfaltung bringt, mit der Ausklammerung des Zufalls. Er ersetzt dabei den sukzessiven Prozess (mithilfe von Hegel) durch einen dialektischen, der die Kontingenz weitgehend ausblendet. Als die letzte Schicht der Möglichkeit wird deren objektiv-reale Form identifiziert. Sie gerät nun in den 391 Ebd., S. 260. 392 Ebd., S. 265. 393 Ebd., S. 266 f. 394 Ebd., S. 267. 395 Ebd., S. 268.

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wirklichen Rang der „zukunfttragenden Bestimmtheit“396 eines Objekts: „[…] die Materie ist die reale Möglichkeit zu den Gestalten, die in ihrem Schoß latent sind und durch den Prozess aus ihr entbunden werden […]. Real Mögliches wird von hier ab begreifbar als Substrat.“397 Die materielle Bewegung bringt also in ihrem Prozess die Wirklichkeit hervor und ihre Möglichkeit geschieht im Charakter einer konstituierenden Offenheit bzw. Entfaltung: „Derart ist das bisher Wirkliche sowohl vom ständigen Plus-ultra essenzieller Möglichkeit durchzogen wie an seinem vorderen Rand von ihr umleuchtet. Diese Umleuchtung, ein vor-scheinendes Horizontlicht […] gibt sich psychisch als Wunschbild nach vorwärts, moralisch als menschliches Ideal, ästhetisch als naturhaftes Symbol.“398

Besonders im Symbol zeigt sich das In-Eins-Fallen von Existenz und Essenz, also Möglichkeit und Wirklichkeit im Material. Das naturhafte Symbol hat nämlich nur andeutungsweise ein realisiertes Mögliches in sich, verhüllt das übrige Potenzial und wirkt daher besonders stark: „Denn der echte symbolische Inhalt selber ist noch im Abstand von seiner vollen Erscheinung, er ist darum auch objektiv-real eine Chiffer.“399 Bloch betont für diese Real-Möglichkeit in Materie und Natur alle Symbole der Erhabenheit, die als autonome, ästhetische Kategorie seit der Aufklärung der Schönheit zugeordnet ist. Weiter oben (Kapitel 2) wurde die Erhabenheit in der Architektur auch an der Furcht, dem Schrecken und der Gefahr festgemacht. Was ist aber der Schrecken anderes, als ein Hinweis auf die Potenzialität, die sich den Ordnungsprozeduren und Beherrschungssystematiken des geregelten Lebensvollzugs entzieht und dennoch anwesend ist. Die Gefahr markiert die Ungewissheit von Wandlungsprozessen und wirkt im Sinne einer Spur, die den Menschen auf die noch-nicht-verwirklichten Möglichkeiten des Materials hinweist. Die Architektur wird in ihrer Stofflichkeit zur RealMöglichkeit. Sie weist damit zugleich das Subjekt aus sich heraus. So jedenfalls kann Bloch gelesen werden: „Das Eigentliche ist im Menschen wie in der Welt ausstehend, wartend, steht in der Furcht, vereitelt zu werden, steht in der Hoffnung, zu gelingen.“400 Weiter oben wurde bereits das spannungsreiche Verhältnis zwischen dem Subjekt als Potenzial und dem Objekt als Potenzialität beschrieben. So stellt sich 396 Ebd., S. 271. 397 Ebd. 398 Ebd., S. 275. 399 Ebd., S. 276. 400 Ebd., S. 285.

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diese Wechselwirkung in der anfangs gegebenen Blochschen Lesart als „die Naturalisierung des Menschen [und, CJG] die Humanisierung der Natur“ dar.401 Diese Haltung dient auch zeitgenössischen Autoren wie Kai Vöckler als Schablone. Er beruft sich im Hinblick auf das Werk von Robert Smithson u.a. auf die spannungsgeladene Vermischung der Gegensätze in Natur und Zivilisation. Vöckler fragt nach einer Architektur, die sich der eigenen Abwesenheit öffnet. Eigene Abwesenheit bedeutet hier die Differenz oder Kluft, die sich zwischen einer gebauten Beschränkung und dem Unbeschränkten oder Unbestimmten der Natur selbst auftut. Das errichtete Artefakt besteht zwar aus Material, leugnet dieses bzw. dessen Potenzial jedoch häufig, indem es gemeinhin Abgeschlossenheit und Solidität repräsentieren muss. Der unkalkulierbare Rest, der alle Dinge umgibt bzw. ihnen innewohnt, zeigt sich oft als Schrecken. Dieser signalisiert aber nichts anderes, als deren „Entformung“ und fordert gleichzeitig, die Fokussierung auf das hermetisch Objekthafte zu ergänzen – durch ein Verhältnis, das durch dieses erst geschaffen wird. Das Prozessuale als Vollzug der Ermöglichung stünde in einer solchen Ästhetik im Mittelpunkt und nicht mehr das fertige, unveränderliche und stillgestellte Ding. Aber nicht nur an diesem Punkt zeigt sich eine strukturelle Verwandtschaft von Vöckler (in der Ausdeutung Smithsons) mit Bloch, denn auch das Motiv der Naturform taucht in der Argumentation auf, das im Pittoresken wie Grotesken als Überschreitungsprinzip gekennzeichnet ist und im Modus aktiver Schöpfung wirkt, der das Bestehende erweitert, variabel macht und letztendlich dessen Potenzial offenlegt. Die Selbstüberschreitungen der Architektur finden dabei z.B. temporal über den zur Schau gestellten Verfall, etwa bei Ruinen, statt. Im sukzessiven Zerstören eines Bauwerks eröffnen sich in ihm selbst permanent neue Möglichkeiten, indem das Material sich wandelt. Ganz ähnlich zu Blochs Bild einer Schichtung der Potenziale im Objekt zeigt die Architektur an ihrem „vorderen Rand“402 permanent ein neues Gesicht und erzeugt aus sich heraus ein laufend verändertes Wirkungsgefüge. Baukunst wird zur unmöglichen Möglichkeit in ihrem Verschwinden: „Die Architektur wird buchstäblich zum Ort des Übergangs.“403 Hier zeigt sich auch die kulturelle Prozedur der „Humanisierung der Natur“ (Bloch, s.o.) in ihrer ganzen Ambivalenz, denn sie verdeutlicht durch ihre Hervorbringungen die eigene Auflösung und markiert nicht etwa Stabilität, Dauer und Beständigkeit, sondern das Scheitern derselben. Der Verfall eines Bauwerks gleicht der Häutung einer Schlange. Allerdings mit dem Unterschied, dass das Tier den Verlust der Haut 401 Ebd. 402 Ebd., S. 275. 403 Vöckler, Kai: Die Architektur der Abwesenheit. Über die Kunst, eine Ruine zu bauen, Berlin: parthas, 2009, S. 58.

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als Teil seiner Existenz natürlich durchlebt, während die Architektur in diesem Prozess zuerst in die Existenz kommt und dabei quasi naturalisiert wird. Die Wirklichkeit unterwirft das Bauwerk dem Prozess. Nur hier kann es sich häuten, permanent neue Möglichkeiten zeigen und auch die Möglichkeit zur Möglichkeit überhaupt verdeutlichen. Präsenz erreicht das Bauwerk mithin durch seine sukzessive Zerstörung und nicht über die künstliche Ausschaltung aller Veränderungen: „Erst wenn die Architektur konsequent der Zeit ausgesetzt wird, wird sie zum Inkommensurablen und Unverfügbaren und findet zu sich selbst.“404 Kai Vöckler arbeitet nun, wiederum im Sinne der ‚Humanisierung der Natur’, an Smithsons Werk das Verhältnis des Subjekts zur Landschaft heraus. Überdeutlich lässt sich in dieser Relation zeigen, welche Leerstellen, welches Ungetane nach dem Abschluss der menschlichen Arbeit zurückbleiben. Die Brachen der Montanindustrien z.B. zeigen nicht ausschließlich Zerstörung, sondern machen auch „die Erfahrung einer schieren Materialität, die nur noch faktische Unmittelbarkeit ist“405 möglich. Die Natur gerät in die Prozesse, die der Mensch vorantreibt und damit in eine zweite Wandlung, die ihre eigene, innere ergänzt, teilweise beschleunigt oder auch gegen sie anarbeitet. In diesem Sinne wird die „Quantität im Reinzustand“, wie Lyotard die Natur in der Erhabenheit nannte, sichtbar. Die nackte Präsenz, ihr ‚Dass’, steht im Vordergrund und hat keine proportionale, harmonische oder idealistisch kontemplative Vermittlung mehr nötig. Ausgehend von diesem Beispiel stellt sich die Frage, ob ein Platonistisch motivierter Eingriff in die Natur (etwa in Form eines klassizistischen Tempels in einem englischen Landschaftsgarten) für diese nicht viel störender ist, als der eines hausgroßen Schaufelbaggers, der den Boden nach Kohle durchgräbt. Will der Tempel doch ein apollinisches Bild des Traumes herstellen bzw. konservieren und wirkt dabei letztendlich als bloße Kulisse, die den Blick auf die dionysische Natur kaschiert. In die Präsenz gerät die Natur hinter einer solchen Maskerade jedenfalls nur über kontemplative Umwege. Vöckler sieht anhand von Smithson in der industriellen Umformung der Natur primär das Prozessuale und Wandelbare und scheint hier ganz in der Nähe des Real-Möglichen im Blochschen Sinne (s.o.) zu sein, das dieser bereits innewohnt: „Erst das Präsentmachen einer ungreifbaren instabilen Materialität, die nicht mehr unter der Suprematie der Form steht und sich auch nicht in einem Akt subjektiver Aneignung domestizieren lässt, erzeugt ein Gefühl der Deplatzierung, einen diskontinuierlichen Da-

404 Ebd., S. 59. 405 Ebd., S. 84.

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seinszustand, der den Spalt zwischen Selbst und Natur offenhält und zugleich ineinander fallen lässt.“406

Hier zeigt sich deutlich das Fusionspotenzial, das Natur, (Bau-)Kunst, Mensch und Material vereint. In diesem Zugang wird die Möglichkeit tat-sächlich. Sie wird zur Tat wie zur Sache und wächst direkt aus der Wirklichkeit. Ihre Vollzugsform ist der Prozess bzw. die Bewegung oder Zeitlichkeit. Was ist dieser Ansatz aber anderes, als die Aktivierung der Erhabenheit als relevante Kategorie, die den Weg in das Ereignis und damit in die unmögliche Möglichkeit öffnet? 2.3.5.

Dialoge mit dem Material bei J. Itten und L. Moholy-Nagy

Im Gründungsmanifest des Weimarer Bauhauses wurde 1919 ein künstlerischer Integrationsansatz umrissen, der auch angehenden Architekten eine Fundierung geben wollte. Der Mitautor und Direktor Walter Gropius rief schon im ersten Abschnitt dazu auf, die Architektur zur Leitdisziplin zu machen, um die bildenden Künste (Malerei, Bildhauerei und Produktgestaltung) wieder zu vereinen.407 In einem weiteren Text aus dem Gründungsjahr wiederholt er diese Forderung: „Maler und Bildhauer, durchbrecht also die Schranken zur Architektur und werdet Mitbauende, Mitringende um das letzte Ziel der Kunst: die schöpferische Konzeption der Zukunftskathedrale, die wieder alles in e i n e r Gestalt sein wird, Architektur und Plastik und Malerei.“408 Die angestrebte Einheit muss also eine bauende sein. Kunst, so Gropius im Gründungsmanifest, ist nicht erlernbar und „der junge Mensch, der Liebe zur bildnerischen Tätigkeit in sich ver-

406 Ebd., S. 86. 407 Vgl. hierzu Hahn, Peter: Kampf der Geister. Itten und Gropius am frühen Bauhaus, in: Dolores Denaro (Hg.): Johannes Itten. Wege zur Kunst; Ostfildern: Hatje Cantz, 2002, S. 256-273. Der Autor betont, dass Gropius mit Otto Bartning, Bruno Taut und Adolf Behne in regem Austausch stand und das Bauhaus-Manifest nicht nur ihm selbst zugeschrieben werden sollte. Ferner stellt er heraus, dass Gropius die Manifeste bzw. Texte der russischen Konstruktivisten und die auch der holländischen De Stijl-Gruppe kannte und ebenso, dass das Programm des ‚Bauhaus’ an den damaligen realpolitischen Umständen angelehnt war (materielle Not nach dem Ersten Weltkrieg, Räterepublik in Thüringen, Gründung der Weimarer Republik und Reformbestrebungen im Kunsthandwerk) bzw. diesen Rechnung trug. 408 Gropius, Walter: Der neue Baugedanke, in: Ulrich Conrads: Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, S. 43-47, hier S. 43.

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spürt“409, muss ein Handwerk erlernen und in einer Werkstatt aufgehen. Zwischen Künstlern und Handwerkern410 gibt es keinen Unterschied und es werden in ihrem Tun transzendente Momente beschworen: „Gnade des Himmels lässt in seltenen Lichtmomenten, die jenseits seines Wollens stehen, unbewusst Kunst aus dem Werk seiner Hand erblühen […]“411 Angesichts eines Schemas von 1922412 wird der Werkstattcharakter (Bauplatz, Versuchsplatz, Entwurf, Bauund Ingenieurwissen) als das Zentrum der Ausbildung besonders deutlich: „die Schule ist die Dienerin der Werkstatt.“413 Dieser Ansatz ist auch der Versuch, die aufstrebende Riege der kühl rechnenden Ingenieure in die Architektur zurückzubinden. Alle Aktivitäten des frühen Bauhauses begreifen sich als eng an die handwerkliche Praxis als Kunst gebunden – sie sind deren besonderem ‚Geschehen‘ verpflichtet, das der Garant für Kreativität ist. Bezeichnend in diesem Zusammenhang erscheint die Formulierung im Programm des „Staatlichen Bauhauses in Weimar“ von 1919: „Vermeidung alles Starren: Bevorzugung des Schöpferischen: Freiheit der Individualität – aber strengstes Studium.“414 Walter Gropius war in jener Zeit also mit Emphase der erste Direktor einer neuen Avantgarde.415 Ein Text aus dem Gründungsjahr legt hiervon Zeugnis ab: „Was ist Baukunst? Doch der kristallene Ausdruck des edelsten Gedanken der Menschen, ihrer Inbrunst, ihrer Menschlichkeit, ihres Glaubens, ihrer Religion! Das war einmal! Aber wer von den Lebenden unserer zweck-verfluchten Zeit begreift noch ihr allumfassendes, 409 Gropius, Walter: Manifest und Programm des Bauhauses, in: Droste, Magdalena: bauhaus 1919-1933, Köln: taschen, 1990, S. 18. 410 Vgl. Pehnt, Wolfgang: Das frühe Bauhaus, in: Die Architektur des Expressionismus, Ostfildern: Hatje Cantz, 1998, S. 159-172. Der Autor deutet die Rolle des Handwerks am frühen Bauhaus allerdings auch als Folge eines Erfordernisses der damaligen Zeit: „Unmittelbar nach 1918 war die Forderung nach praxisnaher – und das hieß beim damaligen Stand der Dinge: handwerklicher – Ausbildung allgemein. Die Umwandlung der Kunstschulen in Werkstätten war ein beherrschender Gedanke aller Reformvorschläge.“ (S. 162). Und tatsächlich gab es zeitlich in etwa parallel zum Bauhaus auch in Karlsruhe, Frankfurt, Düsseldorf und Berlin integrative Formen der Kunst- und Handwerksausbildung. 411 Gropius, Walter: Manifest und Programm des Bauhauses, S. 18. 412 Droste, Magdalena: bauhaus 1919-1933, S. 35. 413 Gropius, Walter: Manifest und Programm des Bauhauses, S. 19. 414 Zitiert nach Droste, Magdalena: bauhaus 1919-1933, S. 19. Auch Wolfgang Pehnt billigt in „Das frühe Bauhaus“ der Weimarer Institution eine Ausnahmestellung zu und markiert sie von 1919-1923 als eine Hochburg des Expressionismus. 415 Vgl. hierzu Pehnt, Wolfgang: Das frühe Bauhaus, S. 159.

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beseeligendes Wesen? […] Diese grauen, hohlen, geistlosen Attrappen, in denen wir leben und arbeiten, werden vor der Nachwelt beschämendes Zeugnis für den geistigen Höllensturz unseres Geschlechtes ablegen, das die e i n z i g e große Kunst vergaß: B a u e n.“416

Hatte Gropius sich kurz nach dem Ersten Weltkrieg noch deutlich zum Handwerk als „Werkgemeinschaft aller Schaffenden, gleich welcher sozialen Herkunft“417 bekannt, rückte er allerdings später davon ab und äußerte seine Zweifel darüber, wie es möglich sein könnte, die Steigerung der Produktivität und eine gleichbleibend hohe Qualität der Erzeugnisse mit den Unregelmäßigkeiten der Handarbeit zu vereinen. Letztlich sah er die industrielle Produktionsweise spätestens seit 1923 als unausweichlich an. Diese Wandlung lässt sich an der Gegenüberstellung zweier Textauszüge zeigen. Zwischen der Forderung „[…] b a u t i n d e r P h a n t a s i e, unbekümmert um technische Schwierigkeiten. Gnade der Phantasie ist wichtiger als alle Technik, die sich immer dem Gestaltungswillen der Menschen fügt.“418 von 1919 und der Aussage von 1926: „Das Ziel, typische Modelle zu schaffen, die alle wirtschaftlichen, technischen und formalen Anforderungen erfüllen, verlangt eine Auslese bester, umfassend gebildeter Köpfe, die in gründlicher Werkpraxis wie in exaktem Wissen der formalen und mechanischen Gestaltungselemente und ihrer Aufbaugesetze geschult sind.“419

scheinen Welten zu liegen. Spätestens 1928, nach Gropius Ablösung als Direktor des Bauhauses durch Hannes Meyer, zeigen sich dann auch entsprechend deutliche Trennungen zwischen „Wissenschaft, Hirn, Intellekt“ und „Kunst, Herz, Intuition“ und zugehörig eine stärkere Theoretisierung in den Lehrplänen. Das Rationale beginnt, langsam aber stetig seine Dominanz zu entfalten.420

416 Gropius, Walter: Der neue Baugedanke, S. 43. 417 Pehnt, Wolfgang: Das frühe Bauhaus, S. 171. 418 Gropius, Walter: Der neue Baugedanke, S. 44. 419 Gropius, Walter: Grundsätze der Bauhausproduktion, in: Conrads, Ulrich (Hg.): Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, S. 90-92, hier S. 91. 420 Vgl. hierzu: Droste, Magdalena: Neuorganisation des Bauhauses, in: bauhaus 19191933, S. 168 f. Die Autorin zeigt Meyers grafisches Schema zur Organisation des Bauhauses von 1930. Der Werkstattunterricht in Dessau wird stärker an den Bereichen Wissenschaft und Kunst ausgerichtet und das Studium verlängert. Die Verwissenschaftlichung der gestalterischen Arbeit hat Hannes Meyer auch durch die Berufungen entsprechender Dozenten sichergestellt. Vergleiche hierzu auch: Banham,

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Das frühe Bauhaus jedoch, dieser Ort der Phantasie und des Experiments, diese Institution, die der „zweck-verfluchten Zeit“ die „Vermeidung alles Starren [und, CJG] Bevorzugung des Schöpferischen“ entgegenhielt, stellte das Handwerk und die Werkstatt in ihr Zentrum. Architektur wurde vom (Bau-)Künstler mit entsprechendem Material und den eigenen Händen hervorgebracht. Dieser Ansatz findet sich vor allem auch im Wirken von Johannes Itten. Er nahm als Verantwortlicher des sogenannten Vorkurses eine besondere und prägende Rolle für die erste Phase des Bauhauses ein. Sein Weggang im Jahr 1923 steht auch für die oben beschriebene Wandlung der Institution. Er selbst schrieb hierzu: „Eine Analysestunde gab Walter Gropius 1923 Anlass zu der Bemerkung, dass er meinen Unterricht der Regierung gegenüber nicht mehr verantworten könne. Ohne weitere Auseinandersetzung entschloss ich mich spontan, das Bauhaus zu verlassen.“421 Itten und Gropius standen in jener Zeit für zwei verschiedene Richtungen. Sie waren von engen Partnern über die Jahre zu Antipoden geworden422 und es scheint, dass sich die Werkbund-Debatte über die Typisierung von 1914 (siehe 2.3) wiederholt – dieses Mal mit den Kontrahenten Gropius (Industrie) und Itten (schöpferisches Individuum). Schon in seinen eigenen Studienjahren zwischen 1913 und 1916 unterrichtete Itten und definierte seine Maxime „Die Achtung vor dem Menschen ist Anfang und Ende aller Erziehung.“423 Vielleicht hat ihn diese Haltung auch dazu gebracht, sich dem Mystizismus bzw. spirituellen Traditionen zuzuwenden? Bei seiner Suche nach dem Gleichgewicht zwischen Seele und Körper fand er die persische Mazdaznan-Lebensform, die er als ErReyner: Die Revolution der Architektur: „Als Gropius sich im Bauhaus-Manifest von 1919 über das Kunsthandwerk äußerte, führte er effektiv ein Selbstgespräch.“ (S. 283) 421 Itten, Johannes: Gestaltungs- und Formenlehre. Mein Vorkurs am Bauhaus und später, Ravensburg: Maier, 1963, S. 12. 422 Itten polarisierte vor allem mit seiner spirituellen Haltung zum Schöpferischen. Vgl. hierzu: Pehnt, Wolfgang: Das frühe Bauhaus: „Itten wollte nicht nur die objektiven Gesetzmäßigkeiten der gestalterischen Mitteln erforschen. Er wollte die kreativen Kräfte im Individuum freisetzen und andererseits zu einem geradezu mystischen Erleben der Dinge anleiten. Selbstausdruck und innerste Erfahrung der Materie, Ergriffenheit und Intuition waren für ihn wie für die Mystiker der Spätgotik und des Barock keine Widersprüche.“ (S. 164). Vgl. hierzu auch: Hahn, Peter: Kampf der Geister, S. 256 ff.: Der Autor betont, dass die Frühphase des Bauhauses nicht etwa eine fehlgeleitete Spielerei auf dem Weg zur rationalen Klarheit der weißen Moderne war; vielmehr ist das späte Bauhaus ohne das frühe nicht denkbar und baut darauf auf. 423 Itten, Johannes: Gestaltungs- und Formenlehre, S. 5.

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nährungs-, Wiedergeburts-, Atem- und Sexuallehre ansah.424 Sicherlich war dieser Umstand auch ein Stein des Anstoßes, denn Ittens Wirken und Ausdruck standen der Weichenstellung im Bauhaus im Wege, die Gropius in Richtung Industriedesign und zugehörig Rationalisierung bzw. Verwissenschaftlichung der Ausbildung unternehmen wollte.425 In seiner Lehre ging Itten davon aus, dass Gestalten nicht konstruiert, sondern gefunden werden. Intuition und Gefühl spielen hierbei große Rollen und die Schüler sollten bei der Kultivierung dieser Kräfte gefördert werden. In einem frühen Text definiert er die Kunst näher und macht dabei klar, dass sie stets etwas Lebendiges ist und ihre entsprechende Bewegung eines Ausdruckes bedarf. Er sieht die Materialisierung oder Verwirklichung dieses Ausdruckswunsches in den Dingen und lediglich als durch den Menschen vermittelt. Das Kunstwerk wird dem Hervorbringenden quasi abverlangt: „Immer ein kurzes Bewegen, das unendlich dauernd, Unsterblichkeit will. Dem Bewegenden, Erregenden Gestalt geben, heißt ein Werk schaffen, und wenn das Werk aus sich selbst lebendig ist, so ist es ein Kunstwerk.“426 Itten stellt weiter heraus, dass es die „lebendigmachende Kraft“427 ist, die in Form eines Organismus als Kunst in die Wirkung geraten will und dass sie als unsichtbarer Anteil in dem hervorgebrachten Kunstwerk verbleibt. Ohne das Wort Möglichkeit zu verwenden, beschreibt er also ein Potenzial, das in die Verwirklichung drängt und sein Drängen als Spur oder Wirkung über die Grenzen des Materials hinaus spürbar werden lässt. Das Kunstwerk wird demgemäß nicht nur ‚er-lebt‘, sondern mit seiner eigener Lebendigkeit ‚durch-lebt‘: „Ein Kunstwerk erleben heißt dieses wiedererleben, heißt sein Wesentliches, sein Lebendiges, das in seiner Form ruht, zu persönlichem Leben erwecken. Das Kunstwerk wird in mir wiedergeboren.“428 Den Anlass einer solchen inneren Bewegtheit kann der Mensch nicht ergründen, wohl aber die Fähigkeit zu dessen Wahrnehmung kultivieren. In diesem Sinne bemühte sich Itten also, die schöpferischen Kräfte der Schüler zu entfalten. Hierzu konnten sie mit verschiedenen Materialien wie z.B. Holz, Stein, Textil, Glas oder Metall experimentieren bzw. Formen finden und auch ein breites Spektrum 424 Itten, Johannes: Mazdaznan, in: JIWS, S. 228-229, hier S. 229: „Aus diesen wenigen Andeutungen mag ersichtlich sein, dass Mazdaznan keine Sekte oder Gesellschaft oder irgendwie äußerliche Organisation ist, sondern dass Mazdaznan ein Lehr- und Erziehungssystem darstellt, dessen Ziel die Gesunderhaltung und die höhere Entwicklung des Menschen ist.“ 425 Vgl. hierzu: Hahn, Peter: Kampf der Geister, 256 ff. 426 Itten, Johannes: Über Komposition, in: JIWS, S. 212-220, hier S. 212. 427 Itten, Johannes: Elemente der Bildenden Kunst, S. 102. 428 Itten, Johannes: Analysen alter Meister, in: JIWS, S. 220-224, hier S. 220.

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an Bearbeitungsmethoden kennenlernen. Eine rationale Akademisierung wurde bewusst vermieden und stattdessen das Interesse angeregt, aus sich und der eigenen Arbeit heraus zu wachsen: „Das Vollstopfen der Lernenden mit fremdem Wissen und der Mangel an Zeit zur Selbstbesinnung verhindert individuelles Wachstum […]. So kam ich zu der Einsicht, dass unserem nach außen gerichteten wissenschaftlichen Forschen und Technisieren ein nach innen orientiertes Denken und die Seelenkräfte das Gegengewicht halten müssen.“429

Aber nicht nur ein ‚Denken nach innen’ gab es, denn der Körper wurde intensiv in die Gestaltungsprozesse einbezogen - so z.B. vor dem Unterricht Arme, Hände, Schultern und Wirbelsäule gelockert bzw. gekräftigt. Auch innere Organe und Atmung sollten dabei helfen, das bloße Erlernen des Gestaltens durch ein Erleben zu ersetzen. Der Körper spielte also eine große Rolle bei dem, was „schöpferischer Automatismus“ meint. Das Kind dient hier als Vorbild, da es aus einer „unbewußten Ganzheit“430 heraus schafft. In der Pubertät verliert es diese unbewusste Fähigkeit und es gilt, sie beim erwachsenen Menschen wieder freizulegen. „Völlige Beherrschung der äußeren Form, des Körpers, gehorsame, sensible Hände und tiefe Versunkenheit in das innere, seelisch-geistige Zentrum“431 helfen bei dieser Arbeit. Der schöpferische Automatismus gleicht einer Seelentätigkeit, die freilich nach außen gerichtet ist und Besitz ergreift vom ganzen Körper, der dann wiederum beginnt, „lebendig zu strahlen“432. Itten versuchte zu vermitteln, dass die Arbeit mit dem Material in einem Dreiklang aus den Sinnen, dem Erkennen und dem Fühlen geschieht – als Beispiel dafür ließe sich anführen, dass es einen gewaltigen Unterschied macht, ob ein Student z.B. den Werkstoff Stahl kennenlernt, indem er dessen Dimensionierung für die Statik eines Gebäudes berechnet oder ob er in der Hitze einer Schmiedewerkstatt am Amboss steht, um ihn mit dem Hammer zu formen. In einem solchermaßen handgreiflich-dialogischen Umgang mit dem Material kann dessen „lebendigmachende Kraft“433 erst voll zur Wirkung gelangen. Ein anschauliches Beispiel liefert Itten, wenn er schildert, dass das Wesen einer Zitrone nicht erfasst wird, indem man ihre Umrisslinie zeichnet, sondern indem man in sie hineinbeißt. Im Vorkurs war es folgerichtig obligatorisch, Materialien nicht nur zu beschreiben,

429 Itten, Johannes: Gestaltungs- und Formenlehre, S. 8 f. 430 Itten, Johannes: Schöpferischer Automatismus, in: JIWS, S. 266. 431 Ebd. 432 Ebd. 433 Itten, Johannes: Elemente der Bildenden Kunst. S. 102.

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sondern zu erleben und das Erlebte auch wieder darzustellen. Das gelang sehr gut über Texturmontagen, die mit geschlossenen Augen ertastet werden mussten: „Die ganze Umwelt wurde neu entdeckt, rohe Hölzer und Hobelspäne, Stahlwolle, Drähte, Schnüre, poliertes Holz und Schafwolle, Federn, Glas und Stanniolpapier, Gitter und Geflechte aller Art, Leder, Pelze und glänzende Konservenbüchsen. Manuelle Fälligkeiten wurden entdeckt und neue Texturen wurden gefunden.“434

Diese Prozeduren entfalteten sich bis an den Punkt, an dem die Schüler das Material komplett verinnerlicht hatten und in der Lage waren, es auswendig zu zeichnen. Der Zeichner wiedererlebte den Stoff, nahm dazu dessen expressive Bewegungsform auf und übertrug sie auf den eigenen Körper: „Die intensive Wiedergabe eines Stoffes, dessen charakteristische Gestalt in lebendiger Intensität wie das Vorbild selbst, ist erst ein Beweis des wirklich durchdringenden Erlebens.“435 Wie weiter oben erwähnt, ist der schöpferische Mensch das Medium eines Drängens, das aus dem Stoff in die Verwirklichung strebt und Ittens Ansatz ist es, eben diesen Prozess zuzulassen. Die „Totalität einer Gestalt“436 wird hierzu vom Künstler über seine Sinne empfangen und über den Körper mittels „ununterbrochener Konzentration“437 objektiviert bzw. materialisiert. Auf diese Weise lernten auch angehende Architekten, z.B. Stadträume als Kontraste, HellDunkel-Beziehungen oder Texturengeflechte zu interpretieren. Die Fotografie half wiederum dabei „Häuser, Brücken, Straßen, Teerfässer, Maschinenteile […] [in einer Art, CJG] Kombinationsspiel“438 als urbanes Relief wiederzugeben bzw. die Stadt neu wahrzunehmen, um entsprechend auf sie reagieren zu können. Laszlo Moholy-Nagy stößt erst zum Bauhaus nach dessen expressionistischer Frühphase. Er wird von Gropius eingesetzt, um die neue Programmatik der ‚Verwissenschaftlichung der gestalterischen Arbeit’ (vgl. Fußnote 420 in diesem Kapitel) durchzusetzen, nahm jedoch das Erbe seines Vorgängers Itten respektvoll an.439 In seinem Buch Vom Material zur Architektur wird schon im Geleit434 Itten, Johannes: Gestaltungs- und Formenlehre, S. 34. 435 Itten, Johannes: Pädagogische Fragmente einer Formlehre, in: JIWS, S. 32-34, hier S. 32. 436 Ebd. 437 Ebd. 438 Itten, Johannes: Gestaltungs- und Formenlehre, S. 35. 439 Itten schreibt hierzu: „Das Studium der Materien wurde nach meinem Weggang durch Prof. Moholy-Nagy und meinen Schüler Prof. Albers fortgeführt und in gewissem Sinne erweitert. Aber die programmatischen Tendenzen des Bauhauses ver-

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wort deutlich, dass ein Kunstwerk erlebt werden will. Und zwar von jedem einzelnen Subjekt, das in der modernen Gesellschaft „in dauerndem kampf mit seinen instinkten [liegt und, CJG] von äußerlichem wissen vergewaltigt“440 wird. Deutlich taucht hier wieder das Entfremdungsmotiv bei der Arbeit auf, das sich schon bei Itten aber auch Ruskin (siehe 2.3) fand: „im heutigen lebenstempo bietet sich selten gelegenheit, zum eigentlichen wesenskern der dinge und des eigenen ich vorzudringen.“441 Letztlich will Moholy-Nagy jedoch nicht gegen die Maschinen angehen, sondern deren Werkzeugcharakter hervorheben. Technik kann in seinen Augen helfen, ein Vermögen, das jeder Mensch in sich hat, zu verkörpern bzw. zum Sprechen zu bringen. Das erste Jahr im Bauhaus diente auch unter der Leitung von Moholy-Nagy vor allem der „entwicklung und reifung von sinn, gefühl und gedanken“442 der Schüler, die durch ihr schulisch-lexikalisches Wissen „selbstblind“ geworden sind. Allerdings ist bei ihm der Versuch deutlich, die Methoden und Prozeduren stärker zu systematisieren, zu verbegrifflichen und auf Wiederholbarkeit anzulegen. Die Bedeutung des Materialerlebens kommt zum Vorschein, wenn z.B. über Tastübungen (ebenfalls mit verbundenen Augen) eine Dimension von Wirklichkeit erschlossen werden soll, die vormals oft ungeahnt war. Das Gestalten hat jedoch primär mit der Ausdrucksfähigkeit von Erlebnissen zu tun und auch damit, dass diese zugelassen werden. In sogenannten Tasttafeln stellten die Schüler Materialien zusammen, die sie zuvor über den Druck-, Temperatur- und Vibrationssinn erlebt hatten. Langsam lernten sie, die Erlebnisse mit Ausdrücken zu verbinden und führten sukzessive eine Art taktilen Dialog mit dem Material, dessen Gefüge in die vier Begriffe Struktur, Textur, Fraktur und Häufung eingeteilt wurde. Während die Struktur metallisch, kristallin, papieren, faserig etc. ist und die innere Aufbauart beschreibt, schildert die Textur die organisch entstandene (natürliche) Abschlussfläche des Materials nach außen, die sich wiederum nach hinderten das organische Entwickeln der breit angelegten Unterrichtsweise.“ – Itten, Johannes: Pädagogische Fragmente einer Formlehre, S. 232). Vgl. hierzu auch: Hahn, Peter: Kampf der Geister, S. 256 ff. Der Autor betont, dass mit Moholy-Nagy und Wassily Kandinsky zwei Konstruktivisten in das Bauhaus aufgenommen wurden. Er sieht darin auch den Wandel von der expressionistischen Früh- zur technoidrationalistischen Spätphase in Personalien dokumentiert. 440 Moholy-Nagy, Laszlo: Vom Material zur Architektur, Faksimile-Nachdruck der 1929 erschienenen Erstausgabe mit einem Aufsatz von Otto Stelzer und einem Beitrag des Herausgebers, hrsg. von Hans M. Wingler, Mainz/Berlin: Florian Kupferberg, 1968, S. 10. 441 Ebd., S. 11. 442 Ebd., S. 18.

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ihrer (künstlichen) Bearbeitung durch den Gestalter als Fraktur (etwa durch Kerben, Verschliff oder Schnitte) darstellt. Diese Unterscheidung wurde sowohl für die Mikro-, als auch Makroebene getroffen – das heißt, sie gilt für geologische Schichten in Gebirgszügen ebenso, wie für die Zeichnung eines Katzenfells, eine Werkstückoberfläche oder auch kristalline Strukturen, die unter dem Mikroskop sichtbar werden. Die fotografische Abbildung von Textur und Fraktur sollte den Schülern dabei helfen „für den heutigen gehetzten menschen einen anreiz (zu schaffen), um langsam dem objekt selber wieder nahezukommen“443. Mit der Fraktur verwandt ist die Häufung, die die Addition gleicher oder ähnlicher Materialien beschreibt (etwa Bienenwaben, Wasserströmungen bzw. -tropfen oder auch Menschenansammlungen mit Regenschirmen). Durch gezielte Übungen wurden die Schüler angehalten, Struktur, Textur und Fraktur im (Kunst-)Werk organisch zu vereinen. Sie sollten lernen, mit dem Material zu arbeiten und nicht dagegen. Solches Streben wurde als funktionalistisch definiert: „die „kunst“ der akademien ist tot. aber es lebt die kunst des lebendigen, deren formen ohne analogien, aus den actuellen (wenn auch nicht immer mit worten formulierbaren) bedürfnissen des menschen entstehen.“444 Der taktile Dialog mit dem Material ist zunächst geprägt von der Erfahrung seines Volumens bzw. seiner Masse. Hierüber werden die Beziehungen zu Formungen wie rund oder eckig, stumpf oder spitz, klein oder groß, gewölbt oder vertieft erst möglich. Jedes dermaßen gestaltete Volumen wird mitgeprägt über die entstehenden Hohlräume bzw. Leervolumen, die der Masse erst ihre Wirkung geben: „der perforierte Block: mit den beherrschten beziehungen aller grade des positiven und negativen volumens: intensives eindringen in das material und herausholen polarer kontraste. die völlig perforierte plastik: eine bis an die grenzen des materials reichende steigerung in der durchdringung von leere und fülle.“445

Moholy-Nagy sieht in der kinetischen Plastik die nächste Stufe der Skulptur. In ihr wirkt dann die vierte Dimension, womit die Zeit als virtuelle oder konkrete Bewegung von Teilen der Volumen bzw. zugehöriger Hohlräume gemeint ist. Hier spielt auch die Fügung von verschiedenen Einzelformen und -materialien eine Rolle, die durch ihr Wirkungsgeflecht zu einer Einheit gebracht werden. In der kinetischen Plastik kann das Prinzip der Höhlung eines Körpers durch die Addition von Einzelkörpern ersetzt werden. Hiermit im Zusammenhang steht 443 Ebd., S. 39. 444 Ebd., S. 73. 445 Ebd., S. 113.

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auch eine Unterscheidung von Plastik und Architektur, denn letztere besteht, so Moholy-Nagy, nicht mehr aus einem Block, wie intensiv er auch gehöhlt und perforiert sein mag. Als Beispiel einer Struktur, die im Übergang zwischen Plastik und Architektur begriffen ist, wird der Eifelturm in Paris genannt. MoholyNagy erkennt an ihm einen stark perforierten und gleichzeitig aus Einzelteilen zusammengesetzten Körper, an dem sich auch die Unterscheidung von Volumen- und Massenbeziehung zeigt: „plastik = material und massenbeziehung [wechselt, CJG] zur aufgelockerten, im höchsten maße vergeistigten form: plastik = volumenbeziehungen“446. Die Bestimmung der Kontur eines Volumens kann durch die Dimension der Zeit (in Form von Licht) auch als komplett virtuell dargestellt werden. Sie verdeutlicht damit die Bedeutung der Bewegung für die Wahrnehmung „von der tasterfassung zur visuellen, beziehungsmäßigen erfassung. plastik = der weg zur sublimierung des materials, von masse zu bewegung“447. In der kinetischen Plastik geht es den Künstlern also um die Aktivierung des Raumes und die Darstellung der Bewegung. Die Dynamik ersetzt die Statik, die Lebendigkeit und der Wandel ersetzen die Kontemplation und Harmonie. Diese Prämissen gelten nicht nur für die Plastik, sondern auch den sie betrachtenden Menschen. Er wird zum Teil der Bewegung und der Kunst: „die vitale konstruktivität ist die erscheinungsform des lebens und das prinzip aller menschlichen und kosmischen entfaltungen. in die kunst umgesetzt bedeutet sie heute die aktivmachung des raumes mittels dynamisch-konstruktiver kraftsysteme, d.h. die ineinander-konstituierung der in dem fysischen raume sich real gegeneinander spannenden kräfte und ihrer hinein-konstituierung in den gleichfalls als kraft (spannung) wirkenden raum.“448

Bei der Übertragung der Wirkungen des Materials auf die Architektur definiert Moholy-Nagy zunächst den Begriff des Raumes. Er sieht in ihm die Realität durch Sinneserfahrungen, die durch den Gesichtssinn, Lageänderungen und akustische Erscheinungen angeregt werden. Über die ökonomischen, technischen und hygienischen Anforderungen bzw. reinen Zweckerfüllungen geht die Architektur zu selten hinaus:

446 Ebd., S. 155. 447 Ebd., S. 167. Diese Form der simulierten Wirkungsgefüge ist heutzutage Standard, etwa bei Lasershows. Aus diesen Gründen soll sie in der Folge keine Rolle mehr spielen, denn das Interesse gilt hier dem konkreten Material bzw. den Möglichkeiten, die in der Substanz ruhen und in ihre Wirkung drängen. 448 Ebd., S. 163.

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„nicht ein zurückweichen vor dem raum soll die wohnung sein, sondern ein leben im raum, in offenem zusammenhang mit ihm. das bedeutet, dass eine wohnung nicht nur durch preisfragen und bautempo, nicht allein durch mehr oder weniger äußerlich gesehene relationen von verwendungszweck, material, konstruktion und wirtschaftlichkeit bestimmt werden kann.“449

Die eingangs erwähnte Forderung an die Kunst, nämlich dass diese erlebt werden soll, wird nun auch auf den Raum übertragen. Wenn Kunst Ausdruck der Natur und ihrer Lebendigkeit ist, ist es die Architektur auch. Sie wird als ständig wandelnde, organische Figuration aufgefasst: „die neue architektur auf ihrem höchstnivo wird berufen sein, den bisherigen gegensatz zwischen organisch und künstlich, zwischen offen und geschlossenen, zwischen land und stadt aufzuheben.“450 Moholy-Nagy beschreibt den Raum und auch seine bildenden Elemente nicht stilistisch oder bauhistorisch, sondern von ihrem Erleben her. Er kritisiert, dass Architektur oft genug nur als Aneinanderreihung verschiedener Funktionszellen (Schlaf-, Wohn-, Kinderzimmer etc.) behandelt wird anstatt sich danach zu fragen, was sie bedeuten soll. Die unterschiedlichen Wirkungen der Raumgestalten stehen im Vordergrund und stellen sich etwa dar als „unbeschreibbares gleichgewicht gebundener spannungen [oder, CJG] das fluktuieren einander durchdringender raumenergien.“451 Die Beziehung verschiedener Elemente zueinander ist die Aufgabe der Architektur. Ein Relationsgefüge ist dabei nicht etwa statisch und fest, vielmehr werden die Dinge in Wirksamkeitsfeldern regelrecht miteinander verspannt. Moholy-Nagy verarbeitet indirekt die Relativitätstheorie, wenn er betont, dass Stoff gleich Kraft ist und Beziehung gleich Masse: „früher schuf man aus sichtbaren, messbaren, wohlproportionierten baumassen geschlossene körper, die man raumgestaltung nannte; heutige raumerlebnisse beruhen auf dem einund ausströmen räumlicher beziehungen in gleichzeitiger durchdringung von innen und außen, oben und unten, auf der oft unsichtbaren auswirkung von kräfteverhältnissen, die in den materialien gegeben sind.“452

Wie weiter oben beschrieben wurde, unterscheidet Moholy-Nagy Plastik von Architektur. Erstere definierte er als aus einem Block gefertigt und ordnet ihr die Bearbeitungstechniken Subtraktion, Aushöhlung und Perforation zu. Architektur hingegen ist dem Prinzip der Addition geschuldet und besteht aus zusammenge449 Ebd., S. 197. 450 Ebd., S. 198. 451 Ebd., S. 200. 452 Ebd., S. 203.

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setzten Körpern. Beiden raumbildenden Elementen ist jedoch die Interaktion zwischen den entstehenden Leervolumen und bestehenden Teilen bzw. Formen zu eigen. Die verwendeten Materialien stehen zugehörig in einem ästhetischen Wirkungszusammenhang und haben dadurch auch Einfluss auf die Raumbildung. Betrachtet man nun die Entstehungsprozesse von jüngerer Architektur und vergleicht sie mit Moholy-Nagys Überlegungen, so scheint der materialgerechte Ansatz zugunsten der freien Formbarkeit (sog. Morphing) im virtuellen Milieu weitgehend aufgegeben zu sein bzw. findet nur unzureichend und visuell Niederschlag im nachgeordneten Belegen von Oberflächen mit Texturen (sog. Mapping). Zwar hat das zu planende Werk nun quasi den Status der Plastik, denn es kann auch subtraktiv und aus einem Stück geformt werden, es bleibt dabei aber in der weltlosen Virtualität einer Rechenmaschine gefangen.453 Traditionell hat das (physische) Modell stets eine wichtige Rolle in der Architekturplanung gespielt, diente es doch dazu, sich einen Überblick über das zu bauende Werk zu verschaffen, den man in den allermeisten Fällen nach dessen Realisierung nicht mehr hatte. Es konnte auch einen Dialog mit dem Material darstellen, sofern dieses beim Bau zur Anwendung kam und damit eine atmosphärische, leibliche Raumerfahrung möglich machen. Auch Gernot Böhme hat im Buch Architektur und Atmosphäre auf die Nähe von Architektur und Skulptur hingewiesen, stellt aber gleichzeitig die Frage, ob der Architekt dabei Material oder vielmehr Raum modelliert.454 Ebenso deutet er auf das besondere Verhältnis zur Kunst, denn ein Bauwerk ist ja meist dem Zweck unterworfen und stellt doch gleichzeitig (um in Kantscher Terminologie zu sprechen) eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck dar. In der Folge würdigt Böhme kritisch die Verkürzung der Architektur auf das Visuelle und betont, dass Bauwerke, Räume und zugehörig Material mit dem ganzen 453 An dieser Stelle können und sollen nicht die Diskurse über rechnergestützte Entwurfsmethoden und Architekturmodellbau erschöpfend dargestellt werden – das Folgende nur zum Grundverständnis. Sog. CAVE-Technologien sollen künftig helfen, über räumliche Projektionen zu einem dreidimensionalen Erleben virtueller Modelle zu kommen. Mithilfe von speziellen Brillen kann dann ein visuelles Begehen von Gebäuden geschehen. Sog. Rapid Prototyping wiederum zielt darauf ab, im Rechner generierte Formen (additiv oder subtraktiv) direkt mittels 3-D-Druckern oder auf andere Weise herstellen zu lassen. Auch auf Frank O. Gehry sei hier kurz verwiesen. Er kreiert seine Gebäude, die sich bekanntlich durch freie Formen auszeichnen, zwar im Rechner, lässt allerdings regelmäßig im Entwurfsprozess physische Modelle herstellen und trifft daran seine Planungsentscheidungen. Er scheint damit den Vorteil einer Architektur, die sich als Plastik formen lässt mit einem materialgerechteren Vorgehen vereinen zu wollen. 454 Vgl. Böhme, Gernot: Architektur und Atmosphäre, S. 106 ff.

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Leib erfahren werden. Er schildert weiter, dass der Raum ebenfalls ohne Dinge bzw. Strukturen oder physische Begrenzungen erlebbar ist, denn er vermag auch als leibliche Anwesenheit zu wirken: „Es ist der Raum leiblichen Spürens, – eines Spürens, das in die unbestimmte Weite auslangt, – der durch solche Artikulation Gestalt gewinnt.“455 Dermaßen vom Material abgehoben, kann der Baukünstler auch durch Gestaltung der immateriellen Aspekte wie z.B. Klang oder Licht Raum beeinflussen – Themen, denen sich Moholy-Nagy angesichts der kinetischen Plastik gewidmet hatte, wie weiter oben gezeigt wurde. Wesentlich bleibt jedoch, dass der Raum etwas mit Einräumung, Umschlossenheit und Offenheit zu tun hat. Peter Sloterdijk z.B. verortet den Menschen in zwei Formen des Welthabens, nämlich im Umschlossensein als biologisches Lebewesen in Ökosystemen und in der Herausforderung begriffen, die Unbestimmtheit eines Hineingehaltensein ins Offene (Welt) zu meistern: „Das Sphärische ist der Mittelwert zwischen der dichten animalischen Umringung und der lichten Apokalypse des Seins; es erlaubt seinen Bewohnern, sich zugleich in der Nähedimension und im Ungeheuren der Weltoffenheit und Weltäußerlichkeit zu lokalisieren.“456

Um die Offenheit wird es u.a. auch im folgenden Kapitel gehen, markiert sie doch einen konstituierenden Zusammenhang, in dem auch Architektur zuerst geschehen kann.

455 Ebd., S. 113. 456 Sloterdijk, Peter: Domestikation des Seins. Die Verdeutlichung der Lichtung, in: Ders.: Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001, S. 142-235, hier S. 173.

3. Balancen. Vom Wiederfinden der Arché

3. Balancen Vom Wiederfinden der Arché Der Fachmann ist umso stärker, je unbestimmter das Substrat wird, auf dem er sich bewegt. Keine Bindung, kein Vorurteil mehr; die Potenz steigt aus der Basis in den Exponenten. Wer ethisch und ethnisch am wenigsten Gepäck mitbringt, ist Matador der schnellen Wendung und der chamäleonischen Verwandlungen.1 ERNST JÜNGER/EUMESWIL

Vor allem das erste Kapitel handelte davon, dass ‚Archi-tektur‘ (Arché-Techné) aus einem Spannungsfeld lebt, das sich in ihrem eigenen Namen zeigt. Die Dysbalance, das heißt, die Dominanz der Techné verstanden als (rationalistische) Sachkundigkeit und (serielle) Verfertigung lässt nur ihre systemkonformen Seinsweisen gelten und verhindert das Aufkommen alternativer Anfänge. Die Arché verkümmert, denn waltend, prozessual, werdend, kennt sie kein Kalkül, keine Vorstellung und keine Zwecke. Sie bleibt vielmehr verbunden mit dem Unplanbaren und Ungreifbaren. Anfang lässt sich daher auch als Entzugsgeschehen lesen und steht im Zusammenhang mit dem Verborgenen, aus dem etwas ziellos hervorkommen kann. In der Balance sein hieße für die Architektur z.B., sich auf das Geschehen der Arché einzulassen und den Menschen und mit ihm sein Bauen als Walten und als Grundkraft zu ermöglichen (Hans Georg Gadamer übersetzt den Begriff der Arché bei Aristoteles als Grundkraft (siehe 1.1) und als solche ist sie auch der Mensch). Stattdessen plante und realisierte man durch die Jahrhunderte hindurch Gegenstände in einer Art kulturellem Tunnel1

Jünger, Ernst: Eumeswil, in: Ders.: Sämtliche Werke, Dritte Abteilung, Erzählende Schriften III, Bd. 17, Stuttgart: Klett-Cotta, 1980, S. 35.

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blick. Das freilich hatte nichts mehr mit dem Walten des Seins im ursprünglichen Sinne, also der Arché, zu tun. Es zeigt sich im Heideggerschen Sinne auch nichts ‚anderes’ mehr, vielmehr wird das mit Hilfe der Technologie (Medien, Entwurfsprogramme) Vorgestellte nur noch von Technologie (re-)produziert. Auf diese Weise gerät der Mensch mit seinem Bauen in den Kreislauf einer degenerierten, sterilen Umwelt, deren (auch architektonische) Artefakte nur noch im beschränkten Modus selbsterfüllender Prophezeiungen und ihren technischen Verkörperungen ‚be-stehen‘. Das Wiederfinden der Balance u.a. am Leitfaden Heideggers wäre also damit verbunden, die Arché auf dem Felde der Architektur anzusteuern (siehe auch Kapitel 2.3.3).

3.1. C HORA, G EGNET UND G EVIERT : Z UM G EFÜGE DER ARCHÉ Mit den Begriffen Chora und Gegnet kann näher erörtert werden, was ein Gefüge der Arché meint. Beschreibt es doch kein klares, feststellbares und reproduzierbares System (logischer) Sicherheiten, auf dem auch die Architektur seit jeher glaubt, stehen zu müssen. Vielmehr wird ein ‚Vor-denken‘ in den Zustand vor der filternden Sicht angesteuert – und damit auch ein Zugang zur Welt, der durch die Jahrhunderte nach und nach vergessen wurde. Heidegger trennt aus diesen Gründen auch die Wissenschaft vom Denken, denn sie ist in den o.g. eingeübten Systemen gefangen und damit verfinstert: „Wir müssen das Denken lernen, weil die Fähigkeit zum Denken, ja sogar die Begabung für das Denken, noch nicht verbürgen, dass wir das Denken vermögen. Denn dies verlangt, dass wir zuvor das mögen, was sich dem Denken zuspricht.“2 Der Anfang gibt erst das konstituierende Milieu, in dem leibliche, empfindungsmäßige sowie intelligible Weltbildungen passieren können. Es geht hierbei um nichts Geringeres als eine Art Matrix, das heißt eine Grundlage, die selbst neutral bleibt und dennoch für alles Daseiende der Vor-Ursprung ist. Matrix hat hier allerdings nichts zu tun mit mathematischen Operationen, sondern vielmehr mit ‚Mater‘ im Sinne von Mutter.3 Sie findet in der abendländischen Philosophie bei Platon im Dialog Ti-

2

Heidegger, Martin: Was heißt denken?, in: Ders.: GA, Bd. 8, Text der durchges. Einzelausg. mit Randbemerkungen des Autors aus seinem Handexemplar, hrsg. von Paola-Ludovika Coriando, Frankfurt/M.: Klostermann, 2002, S. 19.

3

Vgl. hierzu den Artikel „Matrix“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5: L–Mn, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Basel: Schwabe, 1980,S. 939941, hier S. 939: „Matrix (griech. µήτρα Gebärmutter, lat. Mutter, Erzeugerin, Ge-

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maios Beachtung. Dieser Text ist in den vorangegangenen Kapiteln oft zur Kontrastfolie geworden, werden in ihm doch Architektur, Mathematik, Harmonie wie Proportion zu einer Totalität verschränkt und zum allein gültigen Maß einer Einheit des Guten, Wahren und Schönen nicht nur verklärt, sondern auch den folgenden Architektengenerationen auferlegt. Es gibt aber im Timaios noch zwei weitere Betrachtungsebenen neben dem Intelligiblen (der Logik, Mathematik, Ordnung als Maß), nämlich das Sinnliche und eine dunkle Gattung, deren Wesen sich als „Empfängerin und gleichsam Amme alles Werdens“4 äußert. Hier taucht also die Matrix (Chora genannt) auf. Allerdings will Platon diese in der Materie/Natur gebunden wissen an mathematisierbare Abbilder5 oder Abdrücke der ewigen Ideen: „Dass Gott sie [die Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde, CJG], die vorher ganz anders gearteten, zu möglichster Schönheit und Vollkommenheit zusammenfügte, das muss uns wie immer als unumstößlicher Grundsatz gelten.“6 Das Werdende, die Natur (Kind) bekommt die Prägung zu ihren Formen über die Ideen (Vater), wird ausgetragen in der Mutter und behütet in der Amme (Matrix). Jacques Derrida weist darauf hin, darauf hin, dass die Chora keinem Oppositionspaar, also Vater/Mutter angehören kann, obwohl sie von Platon selbst Mutter genannt wird. Vielmehr ist sie autonom und ein drittes, eigenständiges Geschlecht: „Chora verzeichnet einen abseits gelegenen Platz, den Zwischenraum, der eine dissymmetrische Beziehung wahrt zu allem, was „in ihr“, ihr zur Seite oder ihr entgegen ein Paar mit ihr zu bilden scheint.“7 Damit ist das konstituierende Gefüge einer dermaßen gearteten Matrix nicht mehr selbst Ursprung, sondern vor-ursprünglich. Auch ist das gestaltlose Gebilde damit angewiesen auf das Andere seines Selbst, um es selbst sein zu können, soweit der Begriff ‚selbst‘ hier noch angebracht ist. Erscheinung und Präsenz werden entbärmutter). Das Wort wurde entsprechend seiner indogermanischen Wurzel ‚ma’ (schaffen, bilden) zunächst zur Bezeichnung desjenigen Teils an einem Baum verwandt, an dem dieser Schößlinge treibt. 4

Platon: Timaios, 49 St.

5

Vgl. hierzu den Artikel „Materie“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, S. 871-924, hier S. 873: „Wie die werdenden Dinge unter Mitwirkung des Vielheitsprinzips im einzelnen entstehen könnten, macht Platon in seiner Elementenlehre deutlich. Alle Körper sind aus Elementen aufgebaut, die selbst noch körperlich, aber nicht mehr in Körper teilbar sind und spezifische mathematische Strukturen aufweisen: Feuerteilchen (Tetraeder), Wasserteilchen (Oktaeder), Luftteilchen (Ikosaeder) und Erdteilchen (Würfel).“

6

Platon: Timaios, 53 St.

7

Derrida, Jacques: Chora, hrsg. von Peter Engelmann, Wien: Edition Passagen, 2005 [frz. 1987], S. 67.

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lassen aus einem Grund, der ohne Grund ist und mannigfaltigste Gestalten finden sich nur, weil ihr materialisierendes Milieu keine Gestalt hat. Platon (allerdings weiter im Bild der Mutter) schreibt hierzu: „Daher dürfen wir die Mutter und Empfängerin dessen, was sichtbar und in allen Beziehungen wahrnehmbar geworden ist, weder Erde noch Luft noch Feuer noch Wasser nennen, auch dürfen wir auf sie weder die Bezeichnungen dessen anwenden, was aus diesen (sogenannten Elementen) geworden noch dessen, woraus sie selbst geworden; vielmehr werden wir nicht fehlgehen, wenn wir sie als ein unsichtbares und gestaltloses, allempfängliches Gebilde bezeichnen, das in einer ganz absonderlichen Weise an dem nur Denkbaren teilnimmt und nur sehr schwer begreifbar ist.“8

Derrida schließt hier an und betont, dass das Denken der Chora die Philosophie in einen „unreinen, bedrohten, bastardhaft unsauberen und hybriden“9 Diskurs befördert. Dieser Diskurs erfordert ein Sprechen, das sich der totalitären Hermetik und der darin intendierten Sicherheit der Logik entzieht. Diese ist nämlich nur eine der Formen und beileibe nicht diejenige, die die ‚Form-ung‘ selbst erklären könnte. Platon spricht hier von einem anderen, noch zu suchenden Anfang: „Will man also seinen Ursprung dem wirklichen Vorgang gemäß darstellen, so darf man auch den Einfluss der planlos umherschweifenden Ursache in ihrer natürlichen Wirkungskraft nicht übergehen. Wir müssen uns also wieder rückwärts dem Anfang zuwenden.“10 Die Chora ist allerdings nicht nur der Vor-Ursprung bzw. das Milieu des Intelligiblen, sondern auch das des Sinnlichen bzw. Materialhaften und der Natur. In dieser Rolle ist sie notwendigerweise auch Bewegung, sprich planlos umherschweifende Ursache. Liest man Timaios11 zusammen mit dem Dialog Gesetze, findet sich bei Platon tatsächlich ein direkter Hinweis darauf, dass die Kinder (Natur) von der Amme (Chora) in der Bewegung gehalten werden:

8

Platon: Timaios, 51 St.

9

Derrida, Jacques: Chora, S. 69.

10 Platon: Timaios, 48 St. 11 Vgl. hierzu: Lee, Kyung Jik: Der Begriff des Raumes im „Timaios“ im Zusammenhang mit der Naturphilosophie und der Metaphysik Platons, Diss., Univ. Konstanz, 1999. Der Autor weist darauf hin, dass die Chora die chaotische Ur-Bewegung der Materie verkörpert, während der Demiurg (Vater) als (intelligibler) Baumeister der Welt auftritt. Die Chora ist in Bewegung und mit ihr auch das Kind (das Werdende, die Natur). Sie spendet alles im Überfluss, während der Vater das ordnende Regulativ in diesen Prozessen ist.

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„Wäre es möglich, so müssten sie [die jungen Geschöpfe, CJG] sich immer wie auf einer Seefahrt befinden; da dies aber nicht möglich ist, so muss man bei diesen jungen Ankömmlingen ein Verfahren einschlagen, das dem wenigstens möglichst nahe kommt […]. Wenn nämlich die Mütter [auch Amme, allerdings nicht in dieser Übersetzung; CJG] ihre Kinder […] in den Schlaf bringen wollen, so bewirken sie dies bei ihnen nicht durch Ruhe, sondern im Gegenteil durch Bewegung, indem sie sie ununterbrochen auf den Armen schaukeln und dabei nicht still sind, sondern ein Liedchen singen und so die Kinder gerade sowie durch Flötenspiel einlullen.“12

Die Materie ist also in einer ständigen Bewegung und hierin findet sich auch das Bild des Chaos bestätigt, von dem bei Platon als „etwas Fließendem und Sprühendem […] (und CJG) einer formlosen, unbestimmten Masse, die noch ungeordnet ist“13 geredet wird. Diesem sinn-, wie maßlosen Quellen gebietet erst die ordnungsetzende Rationalität des Vaters Einhalt. Nicht nur das natürlich Bewegte, sondern auch das vom Menschen Hergestellte unterliegt diesem Spannungsfeld. Die Bezüge zur Architektur liegen auf der Hand, denn der Architekt, der im Entwurfsprozess teilhat am quellenden, fließenden und sprühendem Anspruch durch die Materie, wird durch seine antrainierten Rationalitätsmuster dazu gezwungen, diese in reproduzierbare Formate zu bändigen, die im Nachgang gebaut werden können. Hierüber speist sich auch die Schwere, Unbeweglichkeit und Solidität der Baukunst. Der Vater als Maßsetzender (hier in der Figur der Techné) steht für das Ausbremsen und zum Erliegen bringen der Bewegung und damit auch für die Themen Ruhe und Kontemplation. Das zeigt sich ebenfalls in der Bedeutung der Statik für den Bauprozess. Der Wandel hingegen, das Unvorhergesehene und Planlose, der Zuspruch außerhalb der steuerbaren und planhaften Vor-Stellungen, wird markiert durch die Arché. An dieser Stelle zeigt sich noch einmal sehr deutlich die Ambivalenz einer aufgespaltenen Profession und es lässt sich ermessen, warum Architektur oft genug als schwerfällige und damit beschränkte künstlerische Hervorbringung auftritt. Hier lohnt auch ein Blick in das Buch Eupalinos oder Der Architekt von Paul Valéry aus dem Jahre 1923. Der Autor folgt stringent der Platonischen Zuschreibung des maß- und ordnungsetzenden Demiurgen, dessen Nachfolger der Architekt ist. Das folgende Fragment eines Dialoges zwischen den toten, körperlosen Geistwesen Sokrates und Phaidros kann das verdeutlichen:

12 Platon: Gesetze, in: Ders.: Sämtliche Dialoge in sieben Bänden; Bd. 7; übers. und hrsg. von Otto Apelt, Hamburg: Meiner, 1998, 790 St. 13 Vgl. hierzu den Artikel „Chaos“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, S. 980 ff.

216 | B AUKUNST ALS UNMÖGLICHE M ÖGLICHKEIT „Sokrates: [...] Andererseits aber muss der, der baut oder schafft, da er es mit dem Rest der Welt zu tun hat und mit der Bewegung in der Natur, die immerfort bemüht sind aufzulösen, zu verderben und umzustürzen, was der hervorbringt – ich sage, er muss ein drittes Prinzip anerkennen und muss versuchen, dieses seinen Werken mitzuteilen als einen Ausdruck des Widerstands, den sie ihrem vergänglichen Geschick entgegensetzen sollen. Er sucht also den Bestand oder die Dauer. Phaidros: Das wären allerdings die großen Kennzeichen eines vollkommenen Werks. Sokrates: Nur die Architektur erfordert sie und bringt sie zu ihrer höchsten Entfaltung. Phaidros: Ich sehe in ihr auch die vollkommenste aller Künste.“14

Sehr anschaulich beschreibt Valéry auch das Bezwingen des ursprünglichen Chaos durch den Demiurgen und unterstellt ihm, die Natur in eine ernste Ordnung gebracht zu haben. Eine freilich, die der Mensch vorfindet und durch eine nächste, selbstgesetzte weiterführt. Die Strenge der Ordnung, das Erteilen von Befehlen und das planvolle und zweckmäßige Vorgehen werden hierbei als gottähnlich charakterisiert: „Die Natur ist [vom Demiurgen, Vater, CJG] gestaltet, die Elemente sind getrennt; aber irgendetwas mutet ihm [dem Baumeister, CJG] zu, dieses Werk für unvollendet zu halten, als ob es wieder vorgenommen werden sollte und in Bewegung gesetzt, um ausgerechnet dem Menschen zu genügen. Er nimmt den Punkt, wo der Gott stehen geblieben war zum Ausgangspunkt seines Handelns.“15

Doch zurück zur Chora. Derrida fokussiert sie auch in Bezug auf den Raum, indem er noch einmal verdeutlicht, dass sie sich selbst nie zeigt bzw. verräumlicht, sondern vielmehr von etwas, das nicht sie selbst ist, förmlich eingenommen wird. Die Chora ist nicht identisch mit einem leeren, geometrischen Raum, vielmehr gibt sie (auch) diesen erst. Damit sind die Begriffe Ort und Platz tangiert, die selbstverständlich ebenso vom Anfang, der Arché, gedacht werden und damit unsauber wie hybrid bleiben. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Bändigungen der (Bau-)Kunst in die Vorstellungen von Proportion und Harmonie ist es also notwendig, die Ströme der Architektur wieder offen zu legen und sie sich aus den materialhaften, körperlichen „planlos umherschweifenden Ursachen“ (in der) Chora/Matrix speisen zu lassen (siehe Abschnitt 3.2). Die Chora als drittes Geschlecht scheint auch Parallelen zum Aristotelischen Begriff der materia prima aufzuweisen, denn das Konstituens der körperlichen Struktur des 14 Valéry, Paul: Eupalinos oder Der Architekt, 1. Aufl. der revidierten Ausgabe 1991, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1991 [frz. 1923], S. 99. 15 Ebd., S. 116.

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Daseienden wird bei Aristoteles nicht als leer verstanden, sondern als potenziell. In seiner Schrift Metaphysik wird das folgendermaßen deutlich: „[…] die Länge und Breite und Tiefe sind gewisse Quantitäten, aber nicht Wesen, da nicht das Quantum, sondern vielmehr dasjenige Wesen ist, an dem als erstem das Quantum sich findet […]. Es gibt nämlich etwas, […] dessen Sein verschieden ist von jeder Bestimmung […]. Daher denn das Letzte an sich weder einen bestimmtes Was, noch ein Quantum noch sonst irgendetwas ist.“16

Allerdings ist die Nähe von Chora und materia prima nicht unumstritten und Aristoteles selbst widerspricht in Physik dieser Verbindung und legt dar, dass Platon im Dialog Timaios zwar Stoff (das Teilhabefähige) und Raum zusammengedacht habe, aber falsch liegt: „[…] so kann »Ort« weder der Stoff noch die Form sein, sondern nur ein davon Verschiedenes. Diese sind nämlich ein Stück dessen, das darin ist, sowohl der Stoff wie auch die Gestalt.“17 Er hat zudem über den Raum systematisch nachgedacht und sieht diesen nicht als eine allumfassende Totalität, sondern jeweilig entstehend aus dem Ort.18 In Physik weist er darauf hin, dass das Denken über den Ort schwierig ist, denn er „erscheint als ein nicht mit sich Selbiges.“19 Hier wird darauf angespielt, dass der Ort stets von anderen Erscheinungen oder Dingen eingenommen wird und dann zu verschwinden scheint, obwohl er doch offensichtlich da bleibt. Weiterhin könnten ohne ihn keine Bewegungen wahrgenommen werden, denn diese passieren immer mit einem Ortswechsel. Im Gegensatz zum Einzelkörper ist in der Natur der Ort mit Kräften verbunden, die eine eindeutige Lage vorgeben (Erde, Schwere ist unten und der Himmel, Leichtigkeit oben) und auch die Leere funktioniert nur mit dem Ort, denn aus ihm ist das Fehlende herausgenommen und fällt so als fehlend auf: „Ohne welches doch von allem übrigen nichts ist, es aber (kann) ohne das andere (sein), das muss doch notwendig einen allererstes sein. Der Ort geht ja nicht unter, die in ihm (befindlichen Gegenstände) vergehen.“20 Der Ort schmiegt sich förmlich an die Formen und bewegt sich zusammen mit diesen und beschreibt daher immer auch eine Grenze: „Die unmittelbare, unbe16 Aristoteles: Metaphysik, VII, 3, 1029 a. 17 Aristoteles: Physik, IV, 2, 210 b. 18 Heidegger wird u.a. in Der Ursprung des Kunstwerkes und Die Kunst und der Raum dort anknüpfen – siehe auch Kapitel 2.3. und 2.3.4. Vgl. hierzu auch: Pantoulias, Michail: Heideggers Ontologie des Kunstwerks und die antike Philosophie, in: David Espinet/Tobias Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks, S. 139-160. 19 Aristoteles: Physik, IV, 1, 208 a. 20 Ebd., IV, 1, 208 b – 209 a.

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wegliche Grenze des Umfassenden – das ist Ort.“21 Ein Körper hat also nur dann seinen Ort, wenn er von diesem quasi als Negativform umfasst ist. Deutlich wird hier, dass Aristoteles den Raum vom Ort her denkt, der in Verbindung mit dem jeweiligen Körper jeweils entsteht und nicht als unbestimmte aber materiellintelligible Matrix im Sinne der Platonischen Chora. In Martin Heideggers Denken über ein konstituierendes Gefüge bzw. die Möglichkeit hierzu, wird der Raum eingeräumt, das heißt, es gibt ihn nicht zuerst, sondern er entsteht mit dem Ort, der wiederum durch das Ding gebildet wird. Das Geschehen der Entbergung als Walten des Seins (Physis) hält einen Riss offen, der den Streit zwischen Himmel und Erde, das heißt zwischen Ver- und Entbergung beschreibt (siehe hierzu auch Kapitel 2.3. und 2.3.4). Mit den Begriffen Gegend, Gegnet, Zeit-Spiel-Raum und Geviert versucht er, ein Ereignis zu umreißen, durch das der Mensch in das Sein seines Daseins geschickt wird. Der Raum spielt in seinen Überlegungen stets eine Rolle und damit indirekt auch die Architektur, denn durch sie wird ein Gefüge verräumlicht, in dem der Mensch sich bewegt – und zwar als leibliches Wesen, das inmitten der körperlichen Welt existiert. Zur Erläuterung dieses Gedankens taugt eine Stelle aus Nietzsches Schrift Morgenröthe: „Im Gefängniss. Mein Auge, wie stark oder schwach es nun ist, sieht nur ein Stück weit, und in diesem Stück webe und lebe ich, diese Horizont-Linie ist mein nächstes grosses und kleines Verhängniss, dem ich nicht entlaufen kann. Um jedes Wesen legt sich derart ein concentrischer Kreis, der einen Mittelpunct hat und der ihm eigenthümlich ist. Ähnlich schliesst uns das Ohr in einen kleinen Raum ein, ähnlich das Getast. Nach diesen Horizonten, in welche, wie in Gefängnissmauern, Jeden von uns unsere Sinne einschliessen, messen wir nun die Welt, wir nennen Dieses nah und Jenes fern, Dieses gross und Jenes klein, Dieses hart und Jenes weich: diess Messen nennen wir Empfinden, – es sind Alles, Alles Irrthümer an sich!“22

Zunächst fällt auf, dass Nietzsche es nicht mehr nötig hat, die Befähigung zur Wahrnehmung in einem vergeistigten Milieu zu suchen. Vielmehr bezieht er sie direkt auf den Menschen und dessen Körper. Schwingt hier schon die Umkehrung des Platonismus in Nietzsches Spätwerk mit, so erscheint gleichzeitig ein hermetischer, klaustrophobischer Zug in den Worten, denn das, was sich zeigt, endet strikt am physiologischen Vermögen eines jeden Einzelnen. In dieser Art biologischem Konstruktivismus scheint die Welt nur im Inneren des Subjekts 21 Ebd., IV, 1, 212 a. 22 Nietzsche, Friedrich: Morgenröthe, S. 110.

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stattzufinden. Hier kommt die dritte Botschaft Nietzsches zum Ausdruck: Der Mensch kann zwar nur einen sehr begrenzten Teil der umgebenden Welt erkennen, aber das zeigt auch, dass es unendlich viel mehr gibt. Heidegger setzt nicht diesen physiologischen Fokus, wenn er sich Gedanken über den Horizont macht. Dennoch verdeutlicht sich im Kontrast zu Nietzsche gut, wohin sein Denken eines Gefüges zielt. Im Frühwerk, Sein und Zeit von 1927, wurde das Dasein existenzialontologisch ausbuchstabiert, allerdings ohne sich in die Physiologie zu verlieren. Vielmehr arbeitet Heidegger ein konstituierendes Milieu oder Gefüge heraus, in dem der Mensch seinen Nietzscheschen „Gefängnismauern“ entkommen kann: „Das Dasein hat selbst ein eigenes »Im-Raum-sein«, das aber seinerseits nur möglich ist auf dem Grunde des In-der-Welt-seins überhaupt. Das In-Sein kann daher ontologisch auch nicht durch eine ontische Charakteristik verdeutlicht werden, dass man etwa sagt: Das In-Sein in einer Welt ist eine geistige Eigenschaft, und die »Räumlichkeit« des Menschen ist eine Beschaffenheit seiner Leiblichkeit, die immer zugleich durch Körperlichkeit »fundiert« wird.“23

Der Mensch ist mit seinem Leib ein Bestandteil der daseienden, begegnenden Welt, aber nicht deren Konstrukteur. Heidegger arbeitet in der Folge, die Umkehrung des Platonismus aus der Nietzscheschen Ästhetik heraus, in deren Verlauf das Dionysische über die Physiologie mobilisiert wird.24 Vom Ballast der Zwecke, Ziele und Notwendigkeiten befreit, kann die umgebende Welt sinnlich reflektiert werden: „Wenn das Gesollte das Übersinnliche ist, so kann das zunächst sollensfrei aufgefasste Seiende selbst – das, was ist – nur das Sinnliche sein.“25 Es geschieht hier aber nicht nur die Wiederbelebung der alten Unterscheidung zwischen dionysisch und apollinisch. Vielmehr wird der Rausch, so Heideggers Deutung, das Merkmal beider Zustände. Dabei betont er die Bedeutung des Leibes wie des Gefühls für das In-der-Welt-sein: „[…] im Sichfühlen ist der Leib im Vorhinein einbehalten in unser Selbst, und zwar so, dass er in seiner Zuständlichkeit uns selbst durchströmt […]. Wir »haben« nicht einen 23 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, § 12, S. 56. 24 Bemerkenswert ist, dass Heidegger zehn Jahre nach Sein und Zeit dem Rausch eine positive Rolle in der Deutung des Daseins zuweist. Vergleiche hierzu: Mirkovic, Nikola: Schönheit, Rausch und Schein. Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsches Ästhetik, in: David Espinet/Tobias Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks, S. 200-209. 25 Heidegger, Martin: Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, in: Ders.: GA, Bd. 43, hrsg. von Bernd Heimbüchel, Frankfurt/M.: Klostermann, 1985, S. 197.

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Leib, sondern wir »sind« leiblich.“26 In diesem exzentrischen Gefüge wird der Mensch gewissermaßen im Heraushalten aus sich selbst zum Selbst. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, dass ein Wille dieses Gefühl lenken könnte. Auch hierin findet sich ein Argument gegen den Konstruktivismus. Die Weltbildung geschieht nicht von innen nach außen, sondern in einem permanent wechselwirkenden Geflecht/Gefüge und in beide Richtungen: „Stimmung ist nie ein bloßes Gestimmtsein in einem Inneren für sich, sondern es ist zuerst ein so und so sich Be-stimmen- und Stimmenlassen in der Stimmung.“27 Das Geflecht oder Gefüge ist also in einem Milieu positioniert. Hier setzt Heideggers Denken über den Horizont bzw. die Gegend an. Der Begriff Gegend tauchte bereits in Sein und Zeit (§ 22 bis 24 und 70) auf, einem Buch, das über eine streng phänomenale Analyse Zugang zum Dasein sucht – allerdings schon im Bewusstsein, dass diese noch auf weitere Bestimmung wartet: „Das Verständnis des In-der-Welt-seins als Wesensstruktur des Daseins ermöglicht erst die Einsicht in die existenziale Räumlichkeit des Daseins. Sie bewahrt vor einem Nichtsehen bzw. vorgängigen Wegstreichen dieser Struktur, welches Wegstreichen nicht ontologisch, wohl aber »metaphysisch« motiviert ist in der naiven Meinung, der Mensch sei zunächst ein geistiges Ding, das dann nachträglich »in« einen Raum versetzt wird.“28

Mit der „Zuhandenheit“ formuliert Heidegger einen leiblichen Zugang, der sich über die Nähe des umgebenden Seienden, nämlich das Zeug, darstellt. Dieses wird benutzt, gebraucht und dient Zwecken. Über den Begriff des Besorgens erschließt sich das „nächstzuhandene Seiende“. Die Sorge markiert auch ein verborgenes Seinsverständnis: „Das Dasein aber ist »in« der Welt im Sinne des besorgend-vertrauten Umgangs mit dem innerweltlich begegnenden Seienden.“29 (§18) Das Begegnende erscheint als „Zeugding“, das zuhanden oder unzuhanden ist. Das Zeug hat seinen jeweiligen Platz und ist im Raum positionierbar. Es ist nicht isoliert, sondern in einem Zeugganzen integriert, über das die Welt besorgt wird: „Dieses im besorgenden Umgang umsichtig vorweg im Blick gehaltene Wohin des möglichen zeughaften Hingehörens nennen wir die Gegend.“30 (§22) Die Gegend beschreibt das Umfeld des jeweiligen Platzes. Sie muss aber vor 26 Heidegger, Martin: Nietzsche I, in: Ders.: GA, Bd. 6.1, hrsg. von Brigitte Schillbach, Frankfurt/M.: Klostermann, 1996, S. 99. 27 Ebd., S. 100. 28 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, § 12, S. 56. 29 Ebd., S. 104 f. 30 Ebd., S. 103.

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dem Platz vorhanden sein, damit er orientiert werden kann. Das Zuhandene definiert die zweckmäßige Räumlichkeit der Gegend durch den alltäglichen Umgang mit der Welt. Am Beispiel der Himmelsrichtungen und des Laufes der Sonne verdeutlicht Heidegger, wie die Gegend den Platz aufscheinen lässt und ihn an das Zuhandene bindet (auch das einzelnstehende Haus z.B. folgt üblicherweise in der Aufteilung seiner Räume dem Sonnenlauf, so durch Anlegen einer Terrasse auf der West- oder der Platzierung der Küche auf der Nordseite). Der Raum wird nur als aktives Verhältnis von Entfernung, Ausrichtung und Nähe in der „Zeugganzheit“ entdeckbar. Wenn Heidegger sagt, „Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe.“31, so spricht er damit das konstituierende Gefüge als raumgebunden an. Die Gegend gibt das Zuhandene frei, sie eröffnet eine Dimensionalität, die vor jeder euklidisch motivierten Dimension liegt. Sie stiftet also erst das Räumliche wie das Zeitliche. Hier führt Heidegger auch den Begriff des Einräumens ein: „Das Dasein kann als umsichtiges Besorgen der Welt nur deshalb um-, weg- und »einräumen«, weil zu seinem In-der-Welt-sein das Einräumen –als Existenzial verstanden – gehört.“32 Wiederum verdeutlicht er damit den Unterschied zwischen einem berechenbaren und erlebbaren Raum. Welt hat der Mensch nur über die Räumlichkeit, die sich als Gegend in Verbindung mit der Zeugganzheit darstellt. In einem euklidisch messbaren Raum hingegen verliert er die Welt. Sie schrumpft zusammen in einer Abstraktion. So sind z.B. das Messen einer Distanz (z.B. Wegstrecke) und das Erfahren derselben im alltäglichen Lebensvollzug unterschiedlich. Das wird deutlich am Beispiel eines Fußgängers, der den Gehweg unter seinen Sohlen sehr nah hat, diesen jedoch – wenn überhaupt – als das Entfernteste wahrnimmt, weil seine Sinne in die Weite orientiert sind: „Sehen und Hören sind Fernsinne nicht aufgrund ihrer Tragweite, sondern weil das Dasein als entfernendes in ihnen sich vorwiegend aufhält.“33 Mitte des 20. Jahrhunderts findet in Heideggers Denken eine Akzentverschiebung statt, die eine eher ‚handgreifliche’ Verkoppelung mit dem Raum in Sein und Zeit durch eine schickende Gegend im Sinne eines „Öffnenden des Offenen“ ergänzt. In zeitlicher Nähe ist ebenfalls der „Brief über den Humanismus“ entstanden. Hierin konkretisiert er, dass das In-der-Welt-sein ‚als dem Sein gehörend‘ dargestellt werden muss. Indem Welt ist, brückt sie in das Sein. Dieses Brücken definiert Heidegger als Annehmen, Lieben oder Mögen einer Wesensherkunft und markiert damit die andere Richtung, in der er fortan denken will. Sie hat etwas mit Annehmen und weniger mit Vorstellen zu tun: „Soll aber der Mensch noch einmal in die Nähe des Seins finden, dann muss er zuvor ler31 Ebd., S. 105. 32 Ebd., S. 111. 33 Ebd., S. 107.

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nen, im Namenlosen zu existieren […]. Nur so wird dem Wort die Kostbarkeit seines Wesens, dem Menschen aber die Behausung für das Wohnen in der Wahrheit des Seins wiedergeschenkt.“34 Hier wird die sogenannte „Kehre“ deutlich, mit der Heidegger die Schwerpunktverlagerung seines Denkens von der subjektivistisch geprägten Fundamentalontologie des Frühwerks in Sein und Zeit zur ‚Onto-Topologie‘35 beschreibt, in der der Mensch vom Sein angesprochen wird: „Die Kehre ist nicht eine Änderung des Standpunktes von Sein und Zeit, sondern in ihr gelangt das versuchte Denken erst in die Ortschaft der Dimensionen, aus der Sein und Zeit erfahren ist, und zwar erfahren in der Grunderfahrung der Seinsvergessenheit.“36 Verbunden mit der Kehre ist auch das weitere Vermeiden bzw. gründlichere Hinterfragen eines konstruktivistisch geprägten Zugangs zur Welt und damit auch zum Raum. Dieser war in der abendländischen (Bau-)Geschichte über Jahrhunderte an Perspektive gebunden und damit auch an die Vorstellung dessen, was Horizont meint. Über diesen nun will das ‚gekehrte’ Denken hinauskommen. In seinen Feldweg-Gesprächen von 1944/45 erläutert Heidegger denn auch am Begriff des Horizonts die ‚Sphäre‘ eines perspektivischen Übersteigens, eines Hinausgehens des Menschen oder das ‚Zielmilieu‘ der ek-statischen Grundverfassung dessen Daseins. Diese Überlegungen sind in den Kontext einer Kardinalfrage eingebettet, nämlich der nach der Eigenständigkeit der umgebenden Welt. In großer Klarheit ist dieses Problem in den Freiburger Vorlesungen vom Sommersemester 1931 über Aristoteles, Metaphysik 1-3. Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft beschrieben. Dort heißt es: „Die Wirklichkeit des Vorhandenen als eines Eigenständigen ist für die Einsicht nur dann gerettet, wenn gezeigt werden kann, dass die Wirklichkeit des Wahrnehmbaren als eines solchen nicht im

34 Heidegger, Martin: Brief über den Humanismus, S. 319. 35 Vgl. hierzu: Heidegger, Martin: Seminar in Le Thor, in: Ders.: Seminare, GA, Bd. 15, 2. durchgesehene Aufl., hrsg. von Curd Ochwadt, Frankfurt/M.: Klostermann, 2005, S. 326-372: Die Wahrheit des Seins unterscheidet sich von der bloßen Richtigkeit und bekommt einen Ort: „Wahrheit als Örtlichkeit des Seins. Das setzt allerdings schon ein Verständnis des Ortseins des Ortes voraus. Daher der Ausdruck Topologie des Seyns.“ (S. 335) 36 Heidegger Martin: Brief über den Humanismus, S. 328. Vgl. hierzu auch: Ders.: Vom Wesen der Wahrheit: „Jede Art von Anthropologie und alle Subjektivität des Menschen als Subjekt ist nicht nur, wie schon in »Sein und Zeit«, verlassen und die Wahrheit des Seins als Grund und einer gewandelten geschichtlichen Grundstellung aufgesucht, sondern der Gang des Vortrags schickt sich an, aus diesem anderen Grund (dem Da-sein) her zu denken.“ (S. 202)

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Vollzug der Wahrnehmung liegt.“37 Folgerichtig wird nun auch eine Kritik am Vorstellen formuliert, die die Wahrnehmung zu einem konstruktivistischen Akt macht. Darüber hinaus will Heidegger auf das Ermöglichende in der Konstellation Mensch und Welt hinaus und bemüht hierzu die Transzendentalphilosophie nach Kant: „Dieses Hinausgehen zum „ganz anderen“ verlangte aber einen Darinnensein in einem „Medium“, innerhalb dessen dieses „ganz andere“, das das erkennende Wesen selbst nicht ist und dessen es auch nicht mächtig ist, begegnen kann.“38 Bereits in Sein und Zeit übt er im Zuge der Destruktionen der ontologischen Überlieferungen Anerkennung wie Kritik39 an Kant und seinem Versuch, ein Drittes zu beschreiben, das zwischen Sinnlichem und Intelligiblem liegt. Gemeint ist hier der sogenannte „Schematismus“, der die Zeit40 als umfassende Vermittlungsinstanz begreift. Kant hatte es so formuliert: „Nun ist klar, dass es ein Drittes geben müsse, was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muss, und diese Anwendung der Ersteren auf die Letztere möglich macht. Diese vermittelnde Vorstellung muss rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein. Eine solche ist das transzendentale Schema.“41

Getragen wird das Schema durch die universale Temporalität, die auch das Leitthema des Heideggerschen Denkens ist. Bezogen auf den Horizont steht für ihn jedoch das Perspektivische im Vordergrund. Das Gegenstandhafte und die Beziehungen, die ein Subjekt dazu aufbauen kann, sind abhängig von seiner Aussicht. In dieser verbindet sich das Wahrnehmen mit dem Vorstellen: „Dieses zustellende Vorstellen bildet allem Vorstellen den Horizont zu und als Zubehör 37 Heidegger, Martin: Aristoteles, Metaphysik 1-3, S. 201. 38 Heidegger, Martin: Kant und das Problem der Metaphysik, in: Ders.: GA, Bd. 3, 2. Aufl., hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M.: Klostermann, 2010, S. 115. 39 Zunächst wird Kant als der einzige und erste dargestellt, der versucht, die Phänomene der Temporalität mit dem Sein zusammen zu denken. In der Folge jedoch wird ihm attestiert, im vulgären Zeitbegriff verfangen zu bleiben und auch, sich nicht von der Philosophie René Descartes’ abgesetzt zu haben: Vergleiche hierzu: Heidegger, Martin: Sein und Zeit, S. 23 ff. 40 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, S. 193: „Die Schemate sind daher nichts als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln, und diese gehen, nach der Ordnung der Kategorien, auf die Zeitreihe, die Zeitinhalte, die Zeitordnung, endlich den Zeitinbegriff in Ansehung aller möglichen Gegenstände.“ 41 Ebd., S. 187 f.

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ein.“42 Transzendentalität und Horizontalität werden hier also zunächst an Kant entfaltet und von Heidegger um das bereits in Sein und Zeit (§ 6) identifizierte Fehlende einer „thematischen Ontologie des Daseins, kantisch gesprochen, einer vorgängigen ontologischen Analytik der Subjektivität des Subjekts“43 sukzessive ergänzt. Die Rede ist hier vom „Gebild der schöpferischen Einbildungskraft“44, das durch den Horizont beschrieben wird und damit die Transzendentalität in gewisser (und nicht-euklidischer) Weise ‚dimensionalisiert‘. In Die Grundbegriffe der Metaphysik von 1929/30 äußert sich Heidegger ebenfalls zu diesem Aspekt: „Seiendes – ständig verhalten wir uns dazu; Sein – ständig sprechen wir es aus. Aber Sein des Seienden? Es fehlt das einigende Band, oder besser, der Ursprung dieses Unterschiedes, bei dem gemäß seiner Einzigartigkeit und Ursprünglichkeit das Unterscheiden früher ist als die Unterschiedenen und der diese erst gerade entspringen lässt.“45

Auch in Beiträge zur Philosophie kommt die Bedeutung des Vollzugs im horizontalen Übersteigen zum Ausdruck. Dieses passiert im Entwurf, der „das Einzige und Letzte und deshalb Seltenste [ist, CJG], was in sich west als gegründete Wahrheit des Seyns“46. Dem Entwurf kommt damit die Rolle zu, die Möglichkeit des Wahren (als Walten des Seins) zu vollbringen. Weit mehr als eine Perspektive, ein bloßes Vorstellen oder Machen, erzwingt die Möglichkeit als Physis förmlich die Präsenz: „dass zuvor [die andere Perspektive, CJG] und alles entscheidend ein Durchriss das sprengt, das dann erst ins Offene als ein »Seiendes« sich kündet.“47 Diese Alternative zum zustellenden Vorstellen ist das das Nicht-Wollen. Es erschließt sich über die Gelassenheit. In den Feldweg-Gesprächen verdeutlicht Heidegger noch einmal, das man ein Jenseits des Vorstellens nicht wollen kann: „Die Wesensbestimmung des Menschen ist ein Geschehnis, das die Denker nicht machen, sondern nur aussagen.“48 Es bleibt einem nichts anderes, als darauf zu 42 Heidegger, Martin: Agchibasíe. Ein Gespräch selbstdritt auf einem Feldweg zwischen einem Forscher, einem Gelehrten und einem Weisen, in: Ders.: Feldweg-Gespräche, GA, Bd. 77, 2. durchges. Aufl., hrsg. von Ingrid Schüßler, Frankfurt/M.: Klostermann, 2007, S. 1-161, hier S. 98. 43 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, S. 24. 44 Heidegger, Martin: Agchibasíe, S. 101. 45 Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik, S. 526. 46 Heidegger, Martin: Beiträge zur Philosophie (vom Ereignis), S. 447. 47 Ebd. 48 Heidegger, Martin: Agchibasíe, S. 89.

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warten und Ruhe wie Gelassenheit zu wahren. In dieser Haltung kann das Zulassen eines Angesprochen-Werdens, an die Stelle des Vorstellens kommen: „Was hat die Gelassenheit mit dem Denken zu tun? Nichts, wenn wir das Denken nach dem bisherigen Begriff als ein Vorstellen fassen. Aber vielleicht ist das Wesen des Denkens, das wir erst suchen, in die Gelassenheit eingelassen.“49 Wie bereits beschrieben, begreift Heidegger den Horizont als eine Art ‚Dimensionalisierung‘ der Kantischen Transzendentalität. Der Horizont lässt die Weltbildung zu und erscheint als Projektionsfeld zwischen Objekt und Subjekt. Er umgibt den Menschen, ist dabei aber nicht als Kreis vorzustellen, sondern lässt den Blick frei in ein umgebendes Offenes. In dieses Offene hinein und aus ihm heraus geschieht ein Transfer, der zur Weltankunft führt. Der Horizont bildet eine Grenze, aber nicht etwa die des Offenen, sondern eine, die in dasselbe überführt. Er ist eine Schwelle, ein Übergang und nicht ein Ende. Das Ziel des Horizonts wird beschrieben in der übersteigenden, herausgerückten, eben geworfenen Weise des menschlichen Daseins: „Das Horizonthafte ist somit nur die uns zugekehrte Seite eines uns umgebenden Offenen, das erfüllt ist mit Aussicht ins Aussehen dessen, was unserem Vorstellen als Gegenstand erscheint.“50 Eine landschaftlich, raumbildende Metapher – die Gegend – ergänzt nun den Begriff des Horizonts. Das Offene selbst wird dabei als Gegend gedacht. Diese birgt und entbirgt, dient als Unterkunft: „Die Gegend versammelt, gleich als ob sich nichts ereignet, Jegliches zu Jeglichem und alles zu einander in das Verweilen beim Beruhen in sich selbst. Gegnen ist das versammelte Zurückbergen zum weiten Beruhen in der Weile.“51 Die Gegend liegt also nicht einfach vor dem Betrachter. Sie nimmt verschiedenes Seiendes auf, gibt es her und verbindet es auf eine ganz besondere Weise. Die Gegend schwingt sonor und ruhig und wirkt als Art ermöglichendes Gefüge einer Gesamtwirkung. Alles stimmt, ist stimmig. Eine Art Vertrautheit steigt im Betrachter auf und lässt ihn zu einem Bestandteil des Gefüges werden. Die Ruhe und das Warten tragen das Geschehen, sie sind dabei auf eine besondere Art und Weise bewegt, erscheinen als „Herd und das Walten aller Bewegung“52. Eine Bewegung, die wenig mit Wildheit, sondern eher mit sanfter Spannung zu tun hat. Die Gegend selbst ist als diese sanfte Spannung. Durch ihr wirkendes Wesen wird sie daher im Text fortan mit „Gegnet“ bezeichnet, denn sie vergegnet förmlich den wartenden Menschen. Sie sammelt ihn und die Dinge in die Einheit und ähnelt darin einer Landschaft, die 49 Heidegger, Martin: Zur Erörterung der Gelassenheit. Aus einem Feldweggespräch über das Denken, in: Ders.: Aus der Erfahrung des Denkens, S. 37-75, hier S. 42. 50 Heidegger, Martin: Agchibasíe, S. 112. 51 Ebd., S. 114. 52 Ebd., S. 115.

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selbst form- wie grundlos erscheint und doch alles andere ruhend in sich birgt. Sie ist aber noch mehr, denn auch die Offenheit kommt aus ihr. Sie ist das „Öffnende des Offenen“53 und erscheint als (nicht euklidischer) Raum oder Gefüge, in dem das Sein des Daseienden seine Wirkung nehmen bzw. geben kann. Noch einmal wird die Einheit bzw. Nähe der Begriffe Horizont, Transzendenz, Gegend bzw. Gegnet verdeutlicht. Der Mensch ist über den transzendentalen Horizont und das Vorstellen eingelassen in die Gegend/Gegnet. Allerdings nur in ihre ihm zugekehrte Seite. Die ganze Weite des Offenen begegnet über das Warten, die Gelassenheit: „Die Weite trägt uns dem Gegenstandlosen zu und bewahrt uns gleichwohl davor, dass wir darin zerfließen. Sie entbindet unser Wesen ins Offene und sammelt es zugleich ins Einfache, als sei ihr Verweilen reine Ankunft, der wir Einlass sind.“54 In der Gegnet wiederum öffnet sich ein Gefüge, in dem ein vor-räumliches, stiftendes Zureichen geschieht. Bereits im Ereignisdenken, das seinen Ausgang in den 1930er Jahren nimmt, aber vor allem in Zeit und Sein von 1962 klärt Heidegger den Spielraum eines zureichenden Gefüges weiter. Er versucht das, indem er das Sein als Anwesen oder Präsenz denkt und zwar ohne das Seiende dabei zu tangieren. Anwesenheit verbindet er mit der Gegenwart, die in einem Geflecht mit der Vergangenheit und Zukunft ist und stößt dabei schnell zum Problem vor, das Sein und die Zeit begrifflich zu fassen: „Sein aber ist kein Ding, ist nicht in der Zeit. Gleichwohl bleibt Sein als Anwesen, als Gegenwart durch Zeit, durch Zeithaftes bestimmt.“55 Weder Sein noch Zeit sind also als Daseiendes, sondern es gibt sie. Das ist ein wesentlicher Unterschied und dieser deutet schon auf ein Gefüge – nämlich eines, das gibt, das sie ‚er-gibt‘ und verweist damit auf einen Gedanken, der seinen Anfang in der oben beschriebenen Kehre nimmt. Heideggers Kritik an der Metaphysik wird ebenfalls an dieser Stelle deutlich. Das Sein ist aus seiner Sicht eigenständig zu denken und nicht als Begründung für das Seiende: „Das Sein eigens denken verlangt, das Sein als den Grund des Seienden fahren zu lassen zugunsten des im Entbergen verborgen spielenden Gebens, d.h. des Es gibt. Sein gehört als die Gabe und dieses Es gibt in das Ge-

53 Ebd., S. 117. 54 Heidegger, Martin: Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager in Russland zwischen einem Jüngeren und einem Älteren, in: Ders.: Feldweg-Gespräche, S. 203-246, hier S. 205. 55 Heidegger, Martin: Zeit und Sein, in: Ders.: Zur Sache des Denkens, GA, Bd. 14, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M.: Klostermann, 2007, S. 331, hier S. 7.

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ben.“56 Der aktive Charakter des Gebens ist aber verbunden mit etwas Passiven bzw. Sichentziehenden in diesem Prozess. Es ist nämlich nur die Gabe anwesend und nicht das Gebende selbst. Daher führt Heidegger noch das Schicken ein und knüpft es künftig an das Sein als Geschick: „Jeweils einbehalten in der sich entziehenden Schickung wird das Sein mit seiner epochalen Wandlungsfülle dem Denken entborgen.“57 Nicht nur das Sein, sondern auch die Zeit muss aus ihrem Eigenen gedacht werden. Das Empfinden der Zeit bleibt, wie oben gesagt, an die Gegenwart geknüpft. Damit entsteht auch die Verbindung zum Menschen, denn dieser wird angesprochen, ist der Empfänger der Gabe aus dem ‚Es gibt‘ in der Anwesenheit. Allerdings ist mit der Gegenwart die Besonderheit verbunden, dass sie angereichert ist mit dem Gewesenen genauso wie mit dem Zukünftigen. Heidegger betont nun, dass das Abwesen das Anwesen mitbestimmt und einen Hinweis auf das Reichende, Gebende im ‚Es gibt‘ darstellt: „Nicht jedes Anwesen ist notwendig Gegenwart, eine seltsame Sache.“58 Das Gefüge, in dem der Mensch mit der Welt verbunden ist, wird also nicht nur über Präsenz und Zeitlichkeit bestimmt, sondern auch durch Entzug. Diese Charakteristika werden dabei in einem Spielraum der wechselseitigen Durchdringung und Überlagerung von räumlicher wie zeitlicher An- und Abwesenheit zugereicht, wie Heidegger es ausdrückt: „Zeit-Raum nennt jetzt das Offene, das im Einander-sich-reichen von Ankunft, Gewesenheit und Gegenwart sich lichtet. Erst dieses Offene und nur es räumt dem uns gewöhnlich bekannten Raum seine mögliche Ausbreitung ein. Das lichtende Einander-sich-reichen von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart ist selber vor-räumlich; nur deshalb kann es Raum einräumen, d.h. geben.“59

Aus diesem vordimensionalen Milieu also wird das erbracht, was Offenheit heißt. Heidegger betont, dass mit Dimension hier nicht etwa die landläufige physikalische Dreidimensionalität gemeint ist, vielmehr kommt das lichtende Reichen als „eigentliche Zeit“60 in den Rang einer vierten Dimension. Sie hält die anderen drei Dimensionen gleichzeitig in Nähe und Entfernung zueinander, sodass Zukunft oder auch Gewesenheit offenbleiben, indem ihnen jeweils die Gegenwart vorenthalten wird: „Die nähernde Nähe hat den Charakter der Verwei56 Ebd., S. 10. 57 Ebd., S. 13. 58 Ebd., S. 18. 59 Ebd., S. 19. 60 Ebd., S. 20.

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gerung und des Vorenthalts. Sie hält im Voraus die Weisen des Reichens von Gewesenheit, Ankunft und Gegenwart zu einander in ihre Einheit.“61 Hier wird auch deutlich, dass etwas die Zeit gibt und nicht etwa, das sie bereits da ist. Der zureichende, vierdimensionale Zeit-Spiel-Raum gerät damit in den Rang eines Gefüges, das den Raum und auch jede Form von Ortsbestimmung zuerst ermöglicht bzw. gibt. Zur Klärung des dunkel gebliebenen ‚Es gibt‘ kommt Heidegger nun zu einem zentralen Begriff, dem Ereignis. Damit ist nicht eine wie immer annehmbare, göttliche Macht gemeint, sondern vielmehr die „Erwesung des Seins“62. Auch der Mensch gehört in das ereignende Ereignis, das dem Sein des Seienden erst die Möglichkeit zum Anwesen gibt. Das Ereignis ist mit dem ‚Ent-eignis‘ verbunden, das heißt, dass im Zusammenhang mit einer jeweils aktiven Seinsweise der Entzug aller anderen möglichen Seinsweisen geschieht. Hier entfaltet sich auch die Kritik an der Metaphysik, denn diese gibt vor, dass nur eine Seinsweise möglich sei, woraus wiederum der hermetische Charakter des „Ge-Stells“ entsteht (siehe hierzu auch Kapitel 1.3).63 Auch in seinem Buch Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) expliziert Heidegger sein Denken über das Ereignis und damit verbunden die Notwendigkeit, einen anderen Anfang im Denken zu versuchen, das stets zugleich Bauen und Wohnen ist. Das Handeln des Menschen in diesen höchsten Freiheitsgraden eines anderen Anfangs kann die Abkehr aus vorbestimmten Abläufen, Prinzipien der Kausalität und auch denen des Zwecks schaffen. Diese Aspekte haben Heidegger zufolge eine Technik hervorgebracht, die heutzutage allumfassend ist und das Denken vorprägt. Zusammen mit der Technik geriet auch die Architektur in diese Zwänge (siehe Kapitel 1). Wie stellt sich nun der andere Anfang dar? Schlicht als Versuch, direkt am Ereignis teilzuhaben: „Nicht mehr handelt es sich darum, »über« etwas zu handeln und ein Gegenständliches darzustellen, sondern dem Er-eignis übereignet zu werden […]. 61 Ebd. 62 Heidegger, Martin: Beiträge zur Philosophie (vom Ereignis), S. 372. 63 Vgl. hierzu: Seubold, Günter: Stichwort: Ereignis. Was immer schon geschehen ist, bevor wir etwas tun, in: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger Handbuch. Leben-WerkWirkung, Stuttgart/Weimar: Metzler, 2003, S. 302-306. Der Autor weist darauf hin, dass das Ereignis sukzessive eine zentrale Vokabel in Heideggers Denken wird und in enger Verbindung mit der sog. Kehre steht. Das Ereignis hat selbst keine Eigenschaften wie ein Ding oder eine Substanz. Es brückt allerdings in das Verständnis des Seins und beschreibt auch die Möglichkeit von dessen Wandel. Es ermöglicht also ein Denken über das Sein, ohne sich dabei immerzu auf das Seiende zu beziehen. Seubold ist der Meinung, dass die häufig zur Explikation herangezogenen „Beiträge zur Philosophie“ (GA Bd. 65) für die Klärung des Ereignisses nicht entscheidend seien.

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Vom Ereignis er-eignet ein denkerisch-sagendes Zugehören zum Seyn und in das Wort »des« Seyns.“64 Die Teilhabe passiert nun im Modus des Entwurfes, der im bereits erwähnten zureichenden Zeit-Spiel-Raum geschieht und sich in den Stufen „Der Anklang, Das Zuspiel, Der Sprung, Die Gründung, Die Zukünftigen und Der letzte Gott“ zeigt. Heidegger hatte bereits in Sein und Zeit von 1927 sein Denken über den Entwurf begonnen und dessen Verbindung zum Verstehen deutlich gemacht. Dieses ist auf das Sein bezogen: „Das im Verstehen als Existenzial Gekonnte ist kein Was, sondern das Sein als Existieren.“65 Das Verstehen ist allerdings immer gestimmt, d.h. von der Stimmung abhängig. Diese wird aber nicht subjektzentriert, also etwa wankelmütig oder launisch gedeutet, sondern fundamental und konstituierend: „Die Stimmung ist die Versprühung der Erzitterung des Seyns als Ereignis im Da-sein.“66 An den drei Begriffen Verstehen, Befindlichkeit und Entwurf wird noch einmal verdeutlicht, dass der Mensch bereits in der Welt ist und stets an sie verwiesen bleibt: „Welt ist »da«; deren Da-sein ist das In-sein.“67 Das Sein des Daseins wiederum ist beschrieben als: „geworfene Möglichkeit […]. Diesen in seinem Woher und Wohin verhüllten, aber an ihm selbst um so unverhüllter erschlossenen Seinscharakter des Daseins, dieses »Dass es ist« nennen wir die Geworfenheit dieses Seienden in sein Da, so zwar, dass es als In-der-Welt-sein das Da ist.“68 Der Entwurf ist das Prinzip eines Gefüges, in dem Mensch und Dasein in Bedeutsamkeiten, dem „Worumwillen“, verkoppelt sind. Das Verstehen leistet diesbezüglich die Erschließung. Es folgt darin der existenzialen Struktur des Entwurfes, mit dem freilich nicht eine Art konstruktivistische Leistung des einzelnen Subjekts gemeint ist, sondern die Teilhabe oder der Zugang als Urstruktur der Weltbildung: „Der Entwurfscharakter des Verstehens konstituiert das In-der-Welt-sein hinsichtlich der Erschlossenheit seines Da als Da eines Seinkönnens.“69 Der Entwurf tritt auf über die Ermöglichung dieser Unterscheidung und markiert damit auch die Differenz von Sein und Seiendem: „Der Entwurf ist der Einbruch in dieses >Zwischen< des Unterschieds. Er ermöglicht erst die Unterschiedenen in ihrer Unterscheidbarkeit.“70 Sehr anschaulich wird hier der Wandel, den ein Seiendes durchläuft, um in das Dasein, das durch Entwurf und Verstehen erschlossen ist, zu gelangen. Es bricht förmlich heraus in seine Existenz, wird hervorgebracht 64 Heidegger, Martin: Beiträge zur Philosophie (vom Ereignis), S. 3. 65 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, § 31, S. 143. 66 Heidegger, Martin: Beiträge zur Philosophie (vom Ereignis), S. 21. 67 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, § 31, S. 143. 68 Ebd., § 29, S. 135. 69 Ebd., § 31, S. 145. 70 Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik, S. 529.

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durch den Entwurf. Heidegger bindet das Seiende also an die Ermöglichung und markiert damit auch das konstituierende Zwischen, in dem der Mensch sich latent befindet. Er wird in diesem Zwischen an die Wirklichkeit gebunden, kann jedoch nie vollständig bei ihr verweilen: „Der Mensch ist jenes Nicht-bleibenkönnen und doch nicht von der Stelle Können […]. So geworfen im Wurf ist der Mensch ein Übergang, Übergang als Grundwesen des Geschehens.“71 Der Entwurf als Ereignis ist also nicht das Ergebnis eines Grübelns oder des Anspruchs, etwas möglichst genau zu konstruieren. Vielmehr liegt er vor dem, was Planung oder Genauigkeit bedeuten und wird durch eine geahnte und erstaunte Grundstimmung provoziert bzw. ermöglicht. Wichtig zum Verständnis ist es, das Paradox einer abwesenden Anwesenheit mitzudenken, um die es im Kern geht. Das, was sich zeigt, entbirgt sich als ein Wahrheitsgeschehen, an dem der Mensch nur mittelbar teilhat. Das Ereignis ist nicht etwa von ihm vorbestimmt; es gibt vielmehr erst den Rahmen (auch) zu einer solchen Benennung. Das Ereignis selbst kann auch nicht geplant werden, sondern bestenfalls ‚provoziert’. Will der Mensch daran teilhaben, muss er sich von allen Erwartungshaltungen, seien diese metaphysisch, religiös oder politisch, verabschieden. Er muss sich herausrücken, muss sich verrücken aus seinen Feststellungen, Schablonen und Bestimmbarkeiten, deren automatischen Vollzug er über die Jahrhunderte verinnerlicht hat. Heidegger stellt sich in der Folge die Frage, wie diese Verrückung gelingen kann. Seine Antwort ist verblüffend, denn er reklamiert die Not als Ausweg. Das ist bemerkenswert, da diese zumeist mit Qual, Entbehrung oder Härte gleichgesetzt und entsprechend gemieden wird. Heideggers Deutung der Not hebt sich allerdings von dererlei Zuschreibungen ab: „Wenn wir von der Not als dem sprechen, das sich als jenes Notwendige höchster Gestalt ernötigt, dann meinen wir nicht Elend und Mangel. Aber dennoch denken wir an ein Nicht, ein Nichthaftes.“72 Mit dem Nichtungscharakter der Not wird das Sichentziehende angesprochen, aus dem sich das Seinsgeschehen ergibt, aber gleichzeitig weist sie auch auf eine gewisse Dramatik eines Unterscheidenkönnens von seiend und nichtseiend hin. Der Mensch wird förmlich genötigt, das Seiende vor sich in den Stand gesetzt zu sehen und auch, es bedenken und nennen zu können: „Der Mensch entspringt selbst erst aus dieser Not, die wesentlicher ist als er selbst, der nur und erst von ihr be-stimmt wird.“73 In einer Nötigung in diesem Sinne liegt also eine große Freiheit, die in die Wahrheit des Seins als Präsenzgeschehen 71 Ebd., S. 531. 72 Heidegger, Martin: Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte »Probleme« der »Logik«, in: Ders.: GA, Bd. 45, 2. Aufl., hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M.: Klostermann, 1992, S. 151. 73 Ebd., S. 153.

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weist. Der Mensch ist von ihr gestimmt und bestimmt, wobei Heidegger noch einmal erläutert, dass die Stimmung nicht etwa psychologisierend aus dem Inneren kommt: „Die Stimmung ist dieses Ver-setzende, das dergestalt versetzt, dass es den Zeit-Raum der Versetzung selbst mitgründet.“74 Die Not markiert damit den Übergang in das Ereignis und mit ihm in den zureichenden Zeit-Spiel-Raum und steht für das Offene und Mannigfaltige, für das Noch-Nicht, das unbekannt und unerwartet ist. Sie ist auch eine wichtige Begleiterin auf dem Weg aus dem Ge-Stell, das eben durch Notlosigkeit gekennzeichnet ist und eine große Ferne zum Ereignis markiert. Im Ausbuchstabieren einer einzigen Seinsweise, nämlich der metaphysisch motivierten Technologie des GeStells, hat der moderne Mensch sich tatsächlich gezähmt, beruhigt, bequemt und von aller Gefahr, aller Unbestimmtheit, aller Verwirrung und Not abgeschottet. Im Zuge dieser Distanz, dieser Denaturierung, hat er sich zugleich von sich selbst entfremdet und ‚produktive’ Unbestimmtheit verloren. Unfreiwillig wurde die Notlosigkeit über kulturelle Konditionierungen erkauft und als Preis die Seinsvergessenheit gezahlt. Die oben erwähnte ‚Ver-rückung’ kann jedoch zu einem Ausgang aus der Notlosigkeit werden: „Die Erweckung dieser Not ist die erste Verrückung des Menschen in jenes Zwischen, wo gleichmäßig die Wirrnis bedrängt und der Gott auf der Flucht bleibt. Dieses »Zwischen« aber ist keine »Transzendenz« mit Bezug auf den Menschen, sondern ist im Gegenteil jenes Offene, dem der Mensch als Gründer und Wahrer zugehört, indem das Da-sein ereignet ist vom Seyn selbst, das als nichts anderes west denn als Ereignis.“75

Ein unentfremdetes Dasein, das sich der Not bewusst ist, passiert also in einem Gefüge, das Mensch, Sein, Dasein und das ‚Es gibt‘ miteinander verbindet. Der Weg dorthin ergibt sich im Versuchen anderer Anfänge. Sein Beschreiten zielt auf das größte Geschehen, nämlich die Eröffnung einer Seinsweise, die aus der Verborgenheit in das Dasein gerät: „Denn der Anfang ist das Verborgene, der noch nicht missbrauchte und betriebene Ursprung, der sich ihm entziehend am weitesten vorausgreift und so die höchste Herrschaft in sich verwahrt. Diese unvernutzende Macht der Verschlossenheit der reichsten Möglichkeiten des Mutes (des gestimmt-wissenden Willens zum Ereignis) ist einzige Rettung und Erpüfung.“76

74 Ebd., S. 154. 75 Heidegger, Martin: Beiträge zur Philosophie (vom Ereignis), S. 26. 76 Ebd., S. 57 f.

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Die Erläuterung der Not taugt also auch zur Skizzierung eines Gefüges der Arché, denn der andere Anfang im ‚Zwischen’ ist die Erwesung des Seins, das sich im Ereignis zeigt. In seinem Text „Bauen Wohnen Denken“ von 1951 behandelt Heidegger das Geviert und tangiert dabei direkt die Architektur. In der Herleitung streift er zunächst das Bauen und betont mit einer etymologischen Analyse, dass dieses ein Wohnen ist. Wo der Mensch auf der Erde ist, da wohnt er. Das Wohnen ist seine Lebensform und vollzieht sich wesensgemäß entweder als Pflegen zum Wachstum oder Errichten von Bauten. Wichtig ist die Betonung dieses ineinander verschränkten konstitutiven Verhältnisses von Mensch, Bauen, Denken und Wohnen, aus dem auch vier onto-topologische Bezüge entstehen, nämlich – Sterbliche auf der Erde unter dem freien Himmel und vor dem Göttlichen: „Aus der ursprünglichen Einheit gehören die Vier: Erde und Himmel die Göttlichen und Sterblichen in eins.“77 Mit Erde wird die Natur markiert und mit ihr das fruchtbare Land, die Gebirge, Gewässer und Lebewesen. Der Himmel steht bei Heidegger nicht nur für die Sonne, sondern auch für das Firmament, das Licht, den Tag, die Nacht und das Klima. Mit dem Göttlichen wird auf das Ereignis und auf das Sichentziehen bzw. die Verborgenheit des ‚Es gibt‘ im Grundgeschehen der Entbergung als Wahrheit angespielt. Mit dem Sterblichen ist die Zeitlichkeit und Vergänglichkeit des Menschen gemeint – der Tod erscheint hier als sein letztes Vermögen. Stets betont Heidegger, dass das eine nicht ohne das andere genannt werden kann. Alle vier Eckpfeiler stehen in Verbindung zueinander und bilden eine Einheit: „Diese ihre Einfalt nennen wir das Geviert.“78 Es wäre also zu kurz gegriffen, sich als Mensch etwa nur für die Erde verantwortlich zu fühlen. Stets muss das ganze Geviert geschont werden, denn das Schonen ist die wesensgemäße Daseinsform des Menschen: „Im Retten der Erde, im Empfangen des Himmels, im Erwarten der Göttlichen, im Geleiten der Sterblichen ereignet sich das Wohnen als das vierfältige Schonen des Gevierts. Schonen heißt: das Geviert in seinem Wesen hüten.“79 Der Mensch ist mit seinem Aufenthalt zwischen den Dingen stets im Geviert, sei es im Hüten des Gewachsenen oder Hervorbringen des Künstlichen. Das Letztere passiert nun vornehmlich in der Architektur. Am Beispiel der Brücke exemplifiziert Heidegger noch einmal, dass das Ding den Ort freilässt und dieser erst den Raum einräumt. So kann ein Fluss in der Landschaft zwar als solcher erkannt werden, bekommt aber erst durch eine Brücke einen Ort, an dem Himmel, Erde, sterblich und göttlich vereint sind. Mit Himmel 77 Heidegger, Martin: Bauen Wohnen Denken, in: Vorträge und Aufsätze, S. 145-165, hier S. 151. 78 Ebd., S. 152. 79 Ebd., S. 153.

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und Erde sind in diesem Zusammenhang das Klima und die umgebenden Materialien gemeint, der sterbliche Mensch benutzt die Brücke und das Göttliche wird symbolhaft über die Brückenmetapher zur letzten Möglichkeit des Menschen, seinen Tod, beschrieben – aber auch über das Offene des Ereignisses von Welt überhaupt. Mit den Definitionen von Raum und Ort sprengt Heidegger den euklidischen Raumbegriff auf. Er betont zum Beispiel, dass nicht die greifbare Nähe nötig ist, um bei einem Ding zu sein. Vielmehr ist im wesensgerechten Andenken ein Ort auch über große Ferne bewohnbar: „Die Sterblichen sind, das sagt: wohnend durchstehen sie Räume aufgrund ihres Aufenthaltes bei Dingen und Orten […]. Ich bin niemals nur hier als dieser abgekapselte Leib, sondern ich bin dort, d.h. den Raum schon durchstehend, und nur so kann ich ihn durchgehen.“80

Wenn Heidegger das Bauen in das Wohnen stellt, so stellte er es zugleich in das Ereignis: „Das Wesen des Bauens ist das Wohnenlassen. Der Wesensvollzug des Bauens ist das Errichten von Orten durch das Fügen ihrer Räume.“81 Die heutige Architektur bewegt sich gerade nicht im Geviert, denn sie folgt dem Ge-Stell und damit einer beschränkten Seinsweise, die nur eine Form von Ereignis zulässt und das Wohnen damit kanalisiert. Das Durchstehen des Raumes wird darin ersetzt vom mathematischen Messen und die Dinge brauchen weder Erde noch Himmel und weisen auch nicht auf die Verborgenheit eines Göttlichen. Die Dinge des Ge-stells lassen das Geviert verkümmern. Ursprünglich (und nichtmetaphysisch) gedacht, ist das Geviert aber nach Heidegger der Grundzug des Seins, dem gemäß die Sterblichen sind. Auch in diesem Zusammenhang zeigt sich wieder das Motiv der Notlosigkeit der Zeit des Ge-Stells. Das Geviert beschreibt damit auch das wesenhafte Geworfensein des Menschen in die Welt und sein Stehen zwischen den Dingen. Es ist die onto-topologische Verräumlichung seines konstitutiven Gefüges, das gleichzeitig das Gefüge des Anfangs oder der Arché beschreibt und dessen Ansteuerung die primäre Aufgabe einer wesensgemäßen Architektur sein sollte. Im Text „Hebel – der Hausfreund“ von 1957 konkretisiert Heidegger diesbezüglich die Bedeutung des Wohnens für den Menschen und betont, dass Bauen nur dann wahrhaft geschieht, wenn es auf ein Wohnenlassen gestimmt bleibt. Dieses Lassen versteht er im Sinne von Geschehen-lassen und denkt es prozessual. Ein Haus sollte daher stets weiter wachsen und kann nur bedingt geplant werden, weil es doch „jeweils ursprünglichere

80 Ebd., S. 159. 81 Ebd., S. 162.

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Möglichkeiten für das Wohnen weckt und gewährt.“82 Das Wohnen ist also die Weise, in der die Menschen zwischen Erde und Himmel sind. Ihr Sein gleicht dabei einer Wanderung von der Geburt bis in den Tod: „Nennen wir dieses vielfältige Zwischen die Welt, dann ist die Welt das Haus, das die Sterblichen bewohnen. Die einzelnen Häuser dagegen, die Dörfer, die Städte sind jeweils Bauwerke, die in sich und um sich jenes vielfältige Zwischen versammeln.“83 Bedeutsam ist, dass Heidegger die Architektur von einem Zwischen her denkt, das einer Wanderung gleicht. Wohnen hat in diesem Zusammenhang nicht nur mit einem behaglichen Sich-Einnisten zu tun, sondern vielmehr mit permanenter Bewegung, denn es muss ursprüngliche Möglichkeiten des Weltbaus wecken: „Nur insofern der Mensch als Sterblicher das Haus der Welt bewohnt, steht er in der Bestimmung, den Himmlischen ihr Haus zu bauen und die Wohnstatt für sich selbst.“84 Diese Bemerkung über das Himmlische muss zusammengedacht werden mit dem Göttlichen im Geviert. Es steht in Heideggers Text damit für das Ereignis, das heißt für die Entbergung als Wahrheitsgeschehen und gleichzeitig für das Sichentziehende, Verborgene, Zureichende im Zeit-Spiel-Raum. Architektur wird hier über das Motiv der Zeit virulent und ebenfalls über eine Art ‚kosmologische Ökologie’ (Himmel), die zusammen mit der Umwelt (Erde) den Sterblichen zugeeignet ist: „In solchem Sagen [das zu-Sagendes im Ungesagten lässt, CJG] findet und behält der Hausfreund eine Zuwendung zum Wohnen der Sterblichen, dadurch er im Haus der Welt einkehrt und dennoch so ihr Gast ist, als sei er es nicht.“85 Mit der Wohnstadt für den Menschen stiftet der Architekt einen Ort, an dem das Ereignis seinen Lauf nehmen kann. Dieser Ort hat freilich wenig mit Starrheit, Festgelegtheit und Systematik zu tun, sondern vielmehr mit der Ausrichtung auf ein Noch-Nicht, mit dem Öffnen einer Welt, deren Wandlungen nicht abzusehen sind. In seinen Freiburger Vorlesungen. Grundfragen der Philosophie von 1937/38 schreibt Heidegger hierzu: „Dieser »Raum« (Zeit-Raum) – wenn wir hier so sprechen dürfen – ist jenes Zwischen, in dem noch nicht bestimmt ist, was seiend ist und was unseiend, und wo doch auch schon nicht mehr die völlige Verwirrung der Ungeschiedenheit des Seienden und Unseienden alles in alles fort- und umherreißt.“86 82 Heidegger, Martin: Hebel – der Hausfreund, in: Ders.: Aus der Erfahrung des Denkens, S. 133-151, hier S. 138. 83 Ebd., S. 139. 84 Ebd. 85 Ebd., S. 142 f. 86 Heidegger, Martin: Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte »Probleme« der »Logik«, S. 152.

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Architektur als Gefüge der Arché wird am Leitfaden Heideggers zur Ermöglicherin der Unbestimmtheit. Sie zeigt sich im Halbdunkel, wirft nur eine äußerst zarte Kontur, ist ephemer, flüchtig und hält die Bewohner im vielfältigen Zwischen der Ankunft einer Welt.

3.2. Ü BER DAS E REIGNIS : ARCHITEKTUR UND Z EIT (- LICHKEIT ) Die im vorangegangenen Abschnitt beleuchteten Heideggerschen Theoreme des Zwischen, der Not, des zureichenden Zeit-Spiel-Raums und des Gevierts beziehen sich primär auf die Arché innerhalb der Architektur. Es gilt nun, näher an die Schnittstelle zur Techné zu gelangen. Die Zeit spielt dabei eine wichtige Rolle, garantiert sie doch stets Wandel wie Bewegung und verbindet das Bestehende mit dem Noch-Nicht seines selbst. Hier markiert sich auch dessen unmögliche Möglichkeit. Um auf den Wandelcharakter der Zeit hinzuweisen und diese nicht etwa als unbewegtes, entrücktes Reich (die Ewigkeit) zu sehen, wird in der Folge der Begriff Zeit(-lichkeit) verwendet. Heidegger liefert hier eine wegweisende Definition, denn er liest die Gegenwart des Daseins über die Zukunft, die sich aus dessen unausweichlichem Ende erschließt. Hier sei noch einmal auf die ‚Kehre’ verwiesen (siehe auch S. 221 f.). Die folgende Daseinsdefinition ist noch existentialontologisch geprägt, während das spätere Theorem „zureichender Zeit-Spiel-Raum“ onto-topologisch entfaltet ist und ein Gefüge beschreibt, aus dem eine daseinsgeprägte Zeitlichkeitserfahrung zuerst möglich wird: „Zusammenfassend ist zu sagen: Zeit ist Dasein. Dasein ist meine Jeweiligkeit, und sie kann die Jeweiligkeit im Zukünftigen sein im Vorlaufen zum gewissen aber unbestimmten Vorbei. Das Dasein ist immer in einer Weise seines möglichen Zeitlichseins. Das Dasein ist die Zeit, die Zeit ist zeitlich. Das Dasein ist nicht die Zeit, sondern die Zeitlichkeit. [...] Das Dasein ist sein Vorbei, ist seine Möglichkeit im Vorlaufen zu diesem Vorbei.“87

In Bezug auf Bewegung und Zeit(-lichkeit) finden sich die ältesten Basen der Architektur nur vermeintlich erschüttert. So scheinen Stand, Sicherheit und Dauerhaftigkeit einer Unterkunft schon seit der Urhütte aus Weidenruten unablässige Prämissen zu sein, die den vormodernen Nomaden u.a. Regeneration, Schutz vor

87 Heidegger, Martin: Der Begriff der Zeit (Vortrag 1924), in: Ders.: Der Begriff der Zeit, GA, Bd. 64, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M.: Klostermann, 2004, S. 105-127, hier 123 f.

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Gefahren und die gesicherte Aufzucht des Nachwuchses ermöglichten. Architektur steht in dieser technikevolutionären Lesart in der Erwartung, zeitbasierte Zustände wie Bewegung, Wandel, Überraschung und damit auch einem Heideggerschen ‚Dasein als sein Vorbei’ zu trotzen. Dieses Sicherheits- und Bergungsmotiv ist aber ambivalent und lässt sich in seiner Mehrdeutigkeit bereits in der Genesis nachlesen. So forderte Gott seinerzeit Noach auf, eine Arche zu bauen und gab dezidierte Anweisungen zu deren Raumprogramm: „Bau dir ein Schiff, eine Arche. Mach sie aus festem Holz und dichte sie innen und außen mit Pech ab. Im Inneren soll sie viele Räume haben. Sie muss 150 Meter lang sein, 25 Meter breit und 15 Meter hoch. Mach oben ein Dach darüber, zieh zwei Zwischendecken ein, sodass es dreistöckig wird und bring an der Seite eine Tür an.“88

Bekanntlich stand die ultimative Katastrophe, nämlich die Auslöschung der gesamten Menschheit auf dem Plan. Sie stellt also auch die größte anzunehmende Gefahr dar, eine Gefahr, die die Architektur (in diesem Fall Hausbootarchitektur) meistern sollte. Die Nähe der Begriffe Arche und Arché ist bedeutsam, denn der Anfang im Sinne des Ereignisses oder der Heideggerschen Not ist in beiden geborgen, jedoch auf verschiedene Weise. Noachs Arche selbst ist eine stabile, schwimmende Architektur. Sie kann in der Gefahr bestehen und erfüllt die Forderungen nach Sicherheit. Allerdings treibt sie dabei in Gänze im Ungewissen, also dem Noch-Nicht. Die unmögliche Möglichkeit ist demnach nicht in ihr selbst angelegt, wohl aber bestimmt sie Noach und sein Hausboot vollkommen, da er laufend mit dem Wandel, der Bewegung und dem Unbestimmbaren in reinster Form konfrontiert ist. Die Arche gleicht damit dem Verhältnis, das ein Mensch zur Ungeheuerlichkeit der Welt hat; sie hat hier deutliche Schnittstellen mit der Ästhetik der Erhabenheit (siehe 2.1). ‚Arche-tektur’ stellt sich zumeist autonom, kapselartig und ruhend dar. Das befähigt sie, die äußere Unruhe zu meistern. Auch U-Boote, Weltraumstationen oder Automobile wiederholen dieses Archeprinzip, denn sie sollen das Leben bergen, das in Bewegung und damit in Gefahr ist. Erdgebundene Architektur wiederum steht auf festem Grund und partizipiert an dessen (zumeist) vorherrschender Beständigkeit. Auch sie kann aber den Charakter einer Arche annehmen und primär dazu dienen, äußere Umstände abzuwehren, wie z.B. römische Kastelle, mittelalterliche Burgen, Luftschutzbunker oder auch Polarstationen zeigen. Das Bergungsmotiv der Arche geht in diesen Fällen ebenfalls von einer wie immer gearteten gefahrvollen Umwelt aus, der der Mensch gegenübersteht. Die Architektur hat das Überleben zu sichern und muss dem Unbeständigen und damit auch der unmöglichen Mög88 Bibel. Die gute Nachricht: I Mose, Genesis 6.7, S. 9.

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lichkeit wiederstehen. Eine ‚Arche-Tektur’ wird damit zwar über die Gefahr, den Abgrund und das Unbestimmbare mitgeprägt, aber in einer negativen und verneinenden Weise. Eine positive Haltung zur Zeit(-lichkeit) hingegen führt dazu, nicht mehr im Entgegenstehen zu verweilen, sondern das Bauwerk dem Wandel und der unmöglichen Möglichkeit zu öffnen. Solche Architektur befreit sich selbst vom Stehen, Halten und Überdauern und ist damit als ver-rückt (im Heideggerschen Sinne) zu betrachten. Sie widersteht nicht mehr dem Außen, sondern lässt die Gefahr in sich ein. Die Bewohner solcher Architektur begreifen Überraschung, Zufall, Zwecklosigkeit und Unsicherheit nicht als Mängel und lassen das Sowohl-als-auch zu. Fertig wäre ein solches Bauwerk nie. Es bleibt im Wachstum, reagiert auf seine Nutzer und auch die Umwelt, ist eher Organismus als Artefakt. Es verabschiedet sich vom vorgestellten Ergebnis, vom Ziel und von der richtigen und stabilen Lösung. Es bekennt sich zum Unfertigen, Wankelmütigen und Zaudernden. Es ist gefährlich und birgt Abgründe. Es meidet die Gerade und favorisiert das Labyrinth. Es begreift, dass das Licht nur mit dem Schatten in die wahrhafte Wirkung kommt. In diesem Zusammenhang tangiert Joseph Vogl in seinem Buch Über das Zaudern unter den Stichworten Labyrinthe und Schwellen „Knotenpunkte der Diversität“89 und skizziert damit ein Bild, das die endlose Fortsetzung eines Werkes beschreibt, in dem jede Setzung das zugleich anders Mögliche aufruft. Man wäre dann nicht bei der Gestalt, sondern an deren Schwelle. Vogl gibt auch einen Hinweis auf Jorge Luis Borges und dessen Text Der Garten der Pfade, die sich verzweigen. Hierin spielt die Zeit die Hauptrolle. Sie bestimmt den Raum und die menschlichen Handlungen: „In allen Fiktionen entscheidet sich ein Mensch angesichts verschiedener Möglichkeiten für eine und eliminiert die anderen; im Werk des schier unentwirrbaren Tś ui Pên entscheidet er sich – gleichzeitig – für alle. Er erschafft so verschiedene Zukünfte, verschiedene Zeiten, die ebenfalls auswuchern und sich verzweigen.“90 89 Vgl. hierzu: Vogl, Joseph: Über das Zaudern; Zürich/Berlin: Diaphanes, 2008, S. 77: „Produktionsästhetisch hat man es dabei mit der Entwerkung des Werks, unterscheidungstheoretisch mit einem Wiedereintritt der Form in die Form zu tun; bewegungslogisch aber bedeutet das einen Zauber-Parcours, in dem sich die Form des Labyrinths im Labyrinth der Form wiederholt.“ Der Autor macht in der Folge klar, dass die Welt nur noch eine hypothetische Existenz hat, wenn das Welthafte in seiner Unzusammengehörigkeit dennoch zusammen gedacht wird. 90 Borges, Jorge Luis: Der Garten der Pfade, die sich verzweigen, in: Ders.: Fiktionen, Gesammelte Werke, Bd. 5, hrsg. von Gisbert Haefs u. Fritz Arnold, München: Carl Hanser, 2000 [span.1974], S. 161-173, hier S. 170.

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Es geht Borges also darum das, was ein Werk zu einem Werk macht, auszulassen bzw. in einer Weise zu umschreiben, die es noch nicht oder nicht mehr oder niemals nennt. Bezogen auf die Architektur würde das bedeuten, deren begrenzende Elemente und gesamte Struktur, aber auch Benutzbarkeit, Zweckdienlichkeit, Funktion etc. nicht mehr zu suchen oder zu fordern. Ein solcher Bau würde wahrhaft gefunden und bräuchte nicht mehr einer Vorstellung oder Planung zu genügen. Er würde sich immer wieder neu und vor jedem Menschen anders zeigen, wäre befreit von allen Voraussetzungen. Gewinnt die Zeit(-lichkeit) die Kontrolle über den Raum kann er beginnen, zu fluktuieren. Seine Begrenzungen spielen keine Rolle mehr, sondern sind nur noch Übergänge, die von einer Konfiguration in die nächste weisen. Die Zeit(-lichkeit) hat die jeweilige Realität im Schlepptau, denn der Mensch bleibt an seine Leiblichkeit gebunden. Mit jedem Schritt ändern sich Struktur, Materialität, Klang und Klima. Die Zeit(-lichkeit) verflüchtigt dabei nicht etwa den Raum und die Architektur ins Nirgendwo, sondern schiebt den Bau unaufhörlich von einer Realität in die nächste. Die Bewegung ist für Borges nicht linear auf die Zukunft gerichtet, vielmehr verschränken sich Vergangenheit und Zukunft in jedem durchlaufenden Augenblick: „Wieder empfand ich jenes Gewimmel, von dem ich gesprochen habe. Es war mir, als sei der feuchte Garten ums Haus bevölkert von einer Unzahl unsichtbarer Personen. Diese Personen waren Albert und ich, geheim, geschäftig und vielgestaltig in anderen Zeitdimensionen. Ich hob die Augen, und der flordünne Alb löste sich auf.“91

91 Ebd., S. 172 f. Hier liegen auch Analogien zu Heideggers ‚Zeit-Spiel-Raum’ und ‚Zwischen’ nahe, stellen diese sich doch nur in der Wirrnis, der Not oder dem Sowohl-als-auch eines protomateriellen Waltens des Seins (Physis) im Begegnenden ein. Vgl. hierzu auch: Lommel, Michael: Im Wartesaal der Möglichkeiten. Lebensvarianten in der Postmoderne, Köln: Herbert von Halem, 2011. Der Autor betont, dass das Labyrinth in den Erzählungen von Borges weder dem antiken Fadenlabyrinth noch dem barocken Irrgarten gleicht, sondern einem Netz. In dessen Maschen verfangen sich Zeit und Paradoxien und bilden dabei eine Raumordnung bzw. ein topologisches Modell: „Er [Borges, CJG] macht die Weggabelungen zur Zeitgabelung, zur ChronoTopografie, wie bei einem Baumdiagramm, das sich ständig weiter verästelt.“ (S. 54) Der Autor schließt sich Umberto Eco an und attestiert Borges damit, in den 1940er Jahren die lineare Intertextualität durch die multiple Hypertextualität vorweggenommen und damit auf die Welt des Internets vorausgewiesen zu haben.

B ALANCEN . V OM W IEDERFINDEN

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Joseph Vogl zeigt an Kafkas Der Proceß und Das Schloss, dass ein labyrinthischer Raum92 sich eher als Atopos, denn als Topologie darstellt. Wenn in jedem Augenblick und jedem Schritt das Nicht-Mehr und das Noch-Nicht virulent werden, gerät der Raum zu einer Ansammlung von Schwellenzuständen. Man wird von einem Übergang zum nächsten geleitet. So bleibt das jeweilige Ziel des Gangs stets in der Ferne. Der Raum entgleitet der Bedienung und Kontrolle und erscheint in einer gleitenden, fließenden, unbestimmten Zusammenstückelung. Diesem Unort (Atopos) fehlen die üblichen Formatierungen. Er eröffnet nicht nur ein Ziel, sondern multiple Welten. Er gibt zwar noch Orientierung, allerdings auf eine sehr viel komplexere Art und Weise. Der Atopos wäre zu verstehen als Gefüge, das vor dem bedienbaren Raum liegt: „Koordinaten, Orientierungen und Metrik sind hier gestört und führen einen Raum im Stand seiner Unfertigkeit vor, einen embryonalen Raum, der aus dem >Zwischen