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German Pages 240 Year 2015
Michael Müller Kultur der Stadt
Michael Müller (Prof. Dr. phil.) lehrt Kunst- und Kulturwissenschaft an der Universität Bremen. Er leitet das »Bremer Institut für Architektur, Kunst und städtische Kultur: Architop« und ist Gründungsmitglied des b.zb, des Bremer Zentrums für Baukultur. Seine Forschungsschwerpunkte sind Stadt- und Architekturgeschichte, Architektur- und Avantgardetheorie, Mediatisierung und Musealisierung urbaner Räume, kulturelle Transformationsprozesse, Visuelle Kultur und Raum.
Michael Müller
Kultur der Stadt Essays für eine Politik der Architektur
Das Buch ist ein Ergebnis des Forschungsschwerpunkts »Bild, Raum, Vermittlung« der Universität Bremen, die dankenswerterweise die Drucklegung des Forschungsvorhabens finanziell unterstützt hat.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Città ideale (Ausschnitt), Luciano da Laurana (gest. 1479) zugeschrieben, Galleria Nazionale delle Marche, Urbino Lektorat & Satz: Michael Müller und Viktor Kittlausz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1507-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
I N H AL T
Vorwort von Arie Graafland Einleitung
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STADT UND KULTUR Stadt als Ort kultureller Produktion
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Straße und Integration
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Drei Stadtmodelle
55
BILD UND STADT „Die gesuchte Befriedigung am bloßen Sehen“
69
Bild und Raum
81
ÄSTHETISIERUNG, MUSEUM, SUBJEKT Ästhetisierung, Kultur und Ökonomie
93
Museum und Stadt
111
Museum und Selbstinszenierung
125
MODERNE, AVANTGARDE UND ARCHITEKTUR Avantgarde, Subjekt und Massenkultur
143
Der Traum ewiger Ordnung
155
Kritik von Links
165
Walter Benjamin: Architektur für das schlechte Neue
179
Methodischer Perspektivwechsel und ökonomisches Kulturmodell – ein Ausblick
219
Literatur
227
Nachweise
233
Personenregister
235
VORWORT
Moderne Kultur ist städtische Kultur. Diese Feststellung setzt Michael Müller an den Anfang seines Buchs „Kultur der Stadt“. Die Stadt ist Ort kultureller Produktion und Kultur ist aktives Moment im Prozess gesellschaftlicher Modernisierungen. Diese Überzeugung liegt den Essays und den in ihnen verhandelten Sach- und Problemständen einer Politik der Architektur zugrunde. Die Stadt ist alles andere als ein homogenes Ganzes. Politisches, Soziales, Ökonomisches und Kulturelles bilden ein sich ständig veränderndes Feld von Kräften. Inkongruenz, Konflikt und Gegensatz sind dem Funktionieren der Stadt immanent und ablesbar in ihrer Geschichte. Wo die us-amerikanische Stadtkritik der Gegenwart sich im „New Urbanism“, „Everyday Urbanism“ und „Post-Urbanism“ verliert, bleibt Michael Müller in seinem Denken einer kritischen Tradition verbunden, die nicht erst mit der „Frankfurter Schule“ ihren Anfang nahm. Viele der heutigen Kulturtheorien haben ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten, in denen sich in den 1960er und 1970er Jahren Gesellschaftskritik zunehmend auch in die Bereiche der Bildkultur, der Mode, des Films, der Bildvermarktung und der Medienkritik ausdehnte. Traditionelle Kultureliten haben unterdessen an Einfluss verloren, mit weitgehenden Konsequenzen für die Bedeutung der Theorie. Nichts ist mehr selbstverständlich, und auch Kritik wird als solche in Frage gestellt. Müllers Haltung hierzu ist wohltuend nuanciert, wenn er in einer analytischen Behandlung von Robert Somol und Sarah Whiting, den amerikanischen Protagonisten der so genannten „Projective Practice“, und Peter Eisenman, ihrer intellektuellen Vaterfigur, seine eigene kritische Biografie in Bezug zur „Frankfurter Schule“ interpretiert und situiert. Wie diese ist er nicht an einer verengt ästhetischen, dem Autonomiestatus der Kunst verpflicheten Kritik interessiert. Vielmehr geht es darum, das Zusammenspiel der ökonomischen, sozialen, kulturellen und ästhetischen Bezüge, die die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit bestim7
KULTUR DER STADT
men, zu begreifen. Es sind gerade diese Bezüge, die der Programmatik der „Projective Practice“ in der Architektur fehlen und die im Gegensatz dazu konstituierend für die Arbeit Michael Müllers sind. Die Städte, wie Walter Benjamin sie noch als Orte und Räume konkreter Erfahrung beschrieben hat, haben ihren Charakter definitiv verändert. Internationalisierungs- und Globalisierungstendenzen verstärken inzwischen auch die Unübersichtlichkeit der Bilder, die wir selbst noch als Phantasmagorien benötigen, um Heterogenität und Komplexität der Lebenswirklichkeit besser bewältigen zu können. Am Beispiel der „post-modernen“ Stadt, einem der drei hier vorgestellten Stadtmodelle, beschreibt Müller eindringlich die Folgen von Deregulierung und Flexibilisierung. Unter dem Einfluss der internationalen Finanzmärkte entsteht eine neue Wirtschaftselite, die sich nicht mehr an ihre Stadt bindet. Das Resultat dieser Entwicklung ist eine zunehmende Entkopplung von städtischer Entwicklung und politischer Entscheidungsfindung, ein Prozess, bei dem selbstverständlich Privatinteressen dominieren. In dem Maße, wie das Industrieproletariat des ersten, des industriellen Modells als Vorreiter gesellschaftlicher Veränderung verschwindet, muss diese Abwesenheit oder Leere über eine Stabilisierung ethischer Identitäten kompensiert werden. Diese können sich aber nicht mehr über ihren Massencharakter definieren. Auffällig genug beschränkt sich in der postmodernen Stadt die Kunst- und Kulturproduktion der heutigen Moderne zu einem großen Teil auf ihren eigenen Gegenpol: die Musealisierung. Auch das ist ein zentrales Thema dieses Buchs. Als Kunst- und Kulturwissenschaftler überschreitet Michael Müller die Schranken der Disziplinen und führt eine Verbindung zwischen ihnen und der kritischen Behandlung gesellschaftlicher Entwicklungen herbei. Im Nachdenken über die Kultur der Stadt bringt er dies facettenreich zum Ausdruck. Schon die frühen Studien zur palladianischen Villa (1970) und zu Adolf Loos (1977) fanden in der Einbindung zentraler gedanklicher Motive marxistischer und psychoanalytischer Theorie ihren Ort außerhalb der traditionellen Begrenzungen der Kunstwissenschaft. Der langjährigen Zusammenarbeit mit dem Kommunikationsund Sozialwissenschaftler Franz Dröge an der Universität Bremen verdanken wir mit „Die Macht der Schönheit“ und „Die ausgestellte Stadt“ theoretisch fundierte Kulturanalysen, die souverän disziplinäre Einschränkungen ignorieren und gerade deshalb zu überraschend neuen Einsichten gelangen. Ein wiederkehrendes Motiv in der Arbeit Michael Müllers ist seine Liebe zur Kultur der italienischen Stadt. Aus ihr spricht der Enthusias8
VORWORT
mus, mit dem er seine Studenten zu Ambrogio Lorenzettis Fresko im Palazzo Pubblico in Siena mitnimmt, das uns Kenntnis über die gute Verwaltung der Stadt (Il Buon Governo) und ihrer Wahrnehmung vermittelt. Über die kritische Haltung Petrarcas zum italienischen Stadtleben konstruiert Michael Müller eine didaktische Genealogie zu Le Corbusiers Kommentaren über die Pariser Stadtstruktur. Im Gegensatz zu ihnen schafft Lorenzetti eine Form kulturellen Kapitals, indem er die Ästhetisierung des Städtischen in den Dienst einer konzentrierten Aufmerksamkeit stellt. Ähnliches scheint mir für Michael Müllers eigene Didaktik in Siena zu gelten, wenn er von „unserer und ihrer Freude am Sehen“ spricht. Folgerichtig führt bei ihm die frühe Aufmerksamkeit Lorenzettis zu einer analytischen Betrachtung darüber, wie wir heute die Stadt in all ihrer Diversität erfahren. Es sind die gedanklichen Grenzgänge, in denen für mich der besondere Wert der umfangreichen und kritischen Arbeit von Michael Müller liegt. Ich wünsche mir, dass auch der Leser dieses Buches das erfahren wird. Arie Graafland Amsterdam/TU Delft, Juni 2010
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EINLEITUNG
Die in diesem Buch veröffentlichten Aufsätze teilen die Beobachtung, dass Massenkultur die bestimmende Tendenz moderner Kulturentwicklung ist. Ganz im Unterschied zur traditionellen, zur bürgerlichaffirmativen Kultur, die von auch sozial-strukturell definierten Eliten für dieselben Eliten veranstaltet wurde, handelt es sich um eine Kultur, die relativ klassenunabhängig auf die Gesamtheit der Menschen eines Landes, heute in der Ära der Internationalisierung der Medien und des Weltmarkts, auf die Gesamtheit der Menschen der kapitalistischen Industriestaaten orientiert ist. Der Träger dieser Kultur ist nicht mehr, wie früher, eine Klasse, sondern das Gesamtsystem der kapitalistischen Warenproduktion. Dies hat weitreichende Folgen für die Produktion, Distribution und Konsumtion der Kultur. Dazu zählen insbesondere die Diskurse des Urbanen und der Architektur, die beide nicht nur Resultate der Kulturproduktion im Sinne von Notwendigkeit und Repräsentation sind, sondern ganz entscheidend das konstituieren, was wir als Kultur bezeichnen. Im ersten Abschnitt interessieren der Anteil des Städtischen an der Hervorbringung von Kultur und die soziale und kulturelle Raumbildung durch Architektur. Ich werde auf die Bedeutung der Straße eingehen und versuchen, eine auch historisch abgeleitete Analogie zwischen Stadt-, Raum- und Kulturmodellen zu begründen. Die Notwendigkeit der Vermittlung städtischer Differenzwahrnehmungen durch das Bild – allgemeiner: durch Ästhetisierung – unterstreicht der zweite Abschnitt, in dem ich die Begründung an ein historisch ins 14. Jahrhundert zurückreichendes Beispiel anbinde. Im dritten Abschnitt stehen Prozesse der Ästhetisierung und Musealisierung, wie sie unsere Kultur seit gut dreißig Jahren einnehmen, im Mittelpunkt der Überlegungen. Dabei interessiert das neuartige Verhältnis, das ästhetische und ökonomische Prozesse zueinander eingehen. Ich spreche hier erneut von der Dominanz eines ökonomischen Kulturmo11
KULTUR DER STADT
dells, begründe es und thematisiere seine Bedeutung für die Veränderungen im kulturellen Sektor, wobei einmal mehr der urbane Raum und seine Architekturen berücksichtigt werden. An dieser Stelle kommt das Museum ins Spiel, aktuell als eine neue, besser: wiederbelebte urbane Größe und historisch als geradezu genuiner Ort der bürgerlichen Subjektbildung. Von einem Architekturbeispiel ausgehend erörtere ich abschließend das Verhältnis von Ökonomie, Ästhetisierung und Individualisierung. Im vierten Abschnitt befasse ich mich mit der Phase der historisch erstmals und von ästhetischer Seite begründeten Grenzüberschreitung des bürgerlichen Kunst- und Kulturverständnisses zugunsten massenkultureller Phänomene durch die Avantgarden der 1920er Jahre. Was sich spätestens seit den 1970er Jahren unterm Primat eines ökonomischen Kulturmodells durchsetzt, erscheint den Avantgarden noch unterm Primat eines politischen Kulturmodells möglich mit einer entsprechenden Adressierung an ein politisch begriffenes Subjekt. Das avantgardistische Vorhaben sah programmatisch die Politisierung der Kunst und eine Kulturalisierung des Alltagslebens vor. Auf Kritik, wie sie von weitgehend marxistisch orientierten Intellektuellen, wie Ernst Bloch, Bertolt Brecht oder Theodor W. Adorno, an diesem Projekt – hier ist es das Bauhaus – geäußert wurde, gehe ich dabei ebenso ein wie ausführlicher auf die außerordentlich interessante und konstruktive Sicht Walter Benjamins auf die Architektur der Avantgarde. Verständlicher werden jetzt die Ambivalenzen der Kultur dieser Architektur und das darin stattfindende Wohnen als eine Kultur der Erfahrungsarmut. Wie konnte und sollte (und kann) sich der Mensch in Räumen einer (auch von Spuren vereinnahmter Geschichte gereinigten) Leere einrichten, in denen weder eine vom Reichtum der Bourgoisie erzählende Ästhetik noch eine warenförmig inszenierte Massenkultur ihren Platz fände? Verordnete Askese und fremdbestimmter Verzicht? Oder doch nur die ernüchternde Einsicht in die Grenzen des Möglichen als das Notwendige, auch, um den Kopf frei zu machen für die Vergegenwärtigung des Vergangenen im Sinne einer richtungsweisenden Auseinandersetzung mit ihr? Die Beschäftigung mit der Position Walter Benjamins ist in dieser Textsammlung die am weitesten zurückreichende. Sie stand für mich Mitte der 1970er Jahre ganz unterm Zeichen sowohl einer seit den 1960er Jahren anschwellenden Funktionalismuskritik als auch einer recht frühen Kritik an der Postmoderne in Architektur und Design. Eine Position zwischen den Stühlen, gewiss! Mittlerweile hat sich in der Architektur international ein auf nicht selten hohem gestalterischem Niveau operierender Opportunismus als Gleichgültigkeit gegenüber den 12
EINLEITUNG
Politiken und sozialen Verhältnissen etabliert. Und in der Gebrauchsgüterproduktion haben sich lebensstilprägende Gefühlswerte derart verselbständigt, dass eine Alternative zu denken, mitunter bereits Formen eines bedrohlichen Verzichtsutopismus angenommen hat. Dem eine Haltung entgegenzustellen, wie sie aus einer Auseinandersetzung mit Walter Benjamin zu gewinnen wäre, erscheint mir von nicht nachlassender, auch politischer Aktualität.1 Wobei sich die Strategie der Erfahrungsarmut heute richtet auf und gegen die ästhetisierende massenkulturelle Universalpräsenz einer enorme Ressourcen verschlingenden, nicht enden wollenden Kette an Zeichen, Symbolen, Bildern und Informationen, mit denen uns Erfahrung jedoch kaum mehr verbindet. Abschließend komme ich noch einmal auf das ökonomische Kulturmodell zu sprechen und skizziere die Rolle von Stadt und Architektur aus methodischer Perspektive.
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Dafür mag auch sprechen, dass in einer Sammlung von Grundlagentexten zur Gestaltung heute die beiden Designexperten Klaus Thomas Edelmann und Gerrit Terstiege Walter Benjamins Essay „Erfahrung und Armut“ aufgenommen haben. Siehe Edelmann, Klaus Thomas/Terstiege, Gerrit (Hg.): Gestaltung denken. Grundlagentexte zu Design und Architektur, Basel: 2010 (= Board of International Research in Design, BIRD). 13
S T AD T
AL S
ORT
KULTURELLER
PRODUKTION
Moderne Kultur ist städtische Kultur. Seit Kultur selbstreflexiv, sie sich selbst zum Gegenstand wird und man sie als Entwicklungsprojekt menschlicher Zivilisierung begreift, wird sie an die Formen städtischen Zusammenlebens rückgebunden. Aufgrund der Ansammlung des Verschiedenen ist die Stadt im Laufe der Geschichte zu einem unvergleichlich reichen und heterogenen Raum der Hervorbringung von Kultur und ihrer Vermittlung geworden. Auf ihren Ausstellungscharakter anspielend hat der große amerikanische Stadtkenner Lewis Mumford1 die Stadt weitsichtig als „Lagerhaus“ und „Ort des Bewahrens und Sammelns“ bezeichnet. Als Aufbewahrungsort ist sie in der Tat ein einzigartiges Speichermedium, aber auch ein Medium, das in der Vielfalt des Aufbewahrten die Überlegenheit der städtischen Lebenspraxis zum Ausdruck bringt. Denn die Stadt hält „nicht nur eine größere Schar von Menschen und Institutionen zusammen als irgendeine andere Art von Gemeinwesen, sondern sie bewahrt und überliefert einen größeren Teil von deren Leben, als irgendein einzelner Mensch aus dem Gedächtnis mündlich weitergeben“2 kann. Das hier aufscheinende Bild von der Stadt als einem Museum hat Lewis Mumford wohl als einer der ersten wahrgenommen. Ihm ist das Museum nicht nur „eine notwendige Folge des übermäßigen Wachstums der Großstadt“ sondern die „typischste Einrichtung der Metropole“ überhaupt, ebenso bezeichnend für deren Lebensideal, wie es das Gymnasium für die griechische Stadt oder das Krankenhaus für die mittelalterliche Stadt war3, wie umgekehrt die Großstadt „selber auf wesentliche Weise als Museum“4 dient. Denn dank „ihrer inneren Weite und 1 2 3 4
Mumford, Lewis: Die Stadt. Geschichte und Ausblick, Bd. 1., München: 1979, S. 114f. Ebd., S. 115f. Ebd., S. 656. Ebd., S. 657. 15
STADT UND KULTUR
ihrer langen Geschichte verfügt die historisch gewachsene Stadt über eine größere und reichere Sammlung von kulturellen Beispielen, als sich anderswo finden lässt“5. Folgt man diesem Gedanken, so wäre die Stadt gewiss auch der vornehmste und zugleich lehrreichste Raum jedweder Kulturvermittlung. Sie verkörperte die an Kontingenz nicht zu überbietende Matrix, an der sich jedwede Vermittlungspraxis messen lassen muss. Dabei dürfte es schwer fallen, die Grenze zwischen Kulturvermittlung und Kulturproduktion im Feld des Städtischen exakt bestimmen zu wollen. Gibt es diese Grenze überhaupt? Und ist nicht jede Hervorbringung von Kultur zugleich ein Akt der Vermittlung?6 Wie auch immer die Antwort ausfallen mag: eine kunst- und kulturvermittelnde Praxis verfehlte ihr Ziel, wenn sie nicht die beiden zentralen Konstitutions- und Transformationsgrößen kultureller Produktion und Rezeption reflektierte: die Stadt und die in ihr lebenden Menschen, unterschiedliche Handlungsrationalitäten verkörpernd, weil ungleich ausgestattet mit kulturellem Hintergrund und Kapital. Die Räume der Stadt sind kulturell-symbolisch gezeichnet von sozialer Ungleichheit, ethnischer und geschlechtsspezifischer Differenz und eingenommen von Strategien der Ausgrenzung und solchen der Vermittlung. Und in diesem Netz der räumlichen Ausdifferenzierung ist in den europäischen Städten ein Großteil der kunst- und kulturvermittelnden Institutionen selber gefangen.
Bürgerliche Urbanität? Stadtkultur ist eine konkrete Form des Lebens aller Stadtbewohner. Die gegenwärtig am stärksten favorisierte Orientierung für dieses Leben liefert die bürgerliche Urbanität, neuerdings flankiert vom Wunsch nach einer neuen Bürgerlichkeit.7 Gebunden ist diese bürgerliche Urbanität an eine bestimmte, nämlich demokratische Organisation des Politischen, an die des Ökonomischen im Warenaustausch und an die Organisation des täglichen Lebens in den Polen von Privatheit und Öffentlichkeit. Nun ist bekanntlich aber all das im Zuge der Industrialisierung zunehmend aus der Stadt ausgewandert, das vorindustrielle Gleichgewichtsmodell von Urbanität dabei zerbrochen und Stadtkultur – so die häufige Klage – hat 5 6 7
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Ebd. Siehe näher Müller, Michael/Dröge, Franz: Die ausgestellte Stadt. Zur Differenz von Ort und Raum, Basel/Berlin/Boston: 2005. Siehe z. B. den Artikel von Jens Jessen in DIE ZEIT, Nr. 11, 9. März 2006, S. 5.
STADT ALS ORT KULTURELLER PRODUKTION
sich verflüchtigt. Alle seither stattgefundenen Transformationen und Neuorganisationen von Lebensweisen in der Stadt sind danach in dieser Variante Realisationsweisen eines spiralförmig nach unten weisenden Defizitprogramms. Dieser Ansatz ist problematisch, weil er nur Fortgang oder Untergang, nicht aber den Übergang in andere, eventuell ungleichgewichtige Zustände zu kennen scheint. Auch berücksichtigt er nicht hinreichend, dass das Spezifische dieser so sehr geschätzten urbanen Lebensform anfangs auf einen verschwindend kleinen Teil der Stadtbewohner, auf das Bürgertum des doch weitgehend noch vorindustriellen frühen Kapitalismus beschränkt bleibt.8 Das war in der Tat die soziale Trägerschaft der sich entwickelnden und institutionalisierenden bürgerlichen Hochkultur des späten 18. und 19. Jahrhunderts. Aber das war nicht die spezifisch städtische Lebensform aller Stadtbewohner, so wenig wir das heute von der Globalkultur sagen können. Wenn sie verschwindet oder „hohl“ wird, verschwindet beileibe nicht die Kultur als spezifische, aber heutzutage spezifisch ausdifferenzierte Lebensweise aus der Stadt. Kultur- und stadthistorisch müssen wir uns fragen, welche Lebensweisen unter welchen Bedingungen strukturellen Wandels der Städte wie transformiert worden sind, um die heutigen Formen städtischer Kultur nicht nur systematisch sondern auch historisch verstehen zu können. Nur so wird man der Verlustperspektive auf Stadtkultur entgehen können, aber auch der Illusion, der intellektuelle Blick auf Stadt sei repräsentativ. Zu denken wäre dabei an eine Vorstellung von Urbanität, wie sie der Berliner Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme, aus seiner Ostberliner Wohnung blickend, wie folgt beschreibt: „Ringsum wird gebaut, restauriert, geplant, von und für die Regierung, von und für das Kapital, und mitten darin, tatsächlich, im Sanierungsgebiet sogar für Menschen. Postmodernes Raffinement, Schinkelsche Klassizität, wilhelminische Herrschaftsrepräsentation, Alexanderplatz-Wüste und Scheunenviertel, Botschaften und Straßenstrich“ – und so weiter. Das, was hier, so Böhme, zusammenstoße, seien Urbanität und Stadtkultur, wie sie in jedem Soziologendiskurs und auf jedem Architektentag beschwo8
Es ist gewiss nicht verfehlt daran zu erinnern, dass Kant im Staatsrechtsteil seiner Rechtsphilosophie explizit ca. 7/8 seiner Zeitgenossen aus der Öffentlichkeit ausschloss, nämlich alle Frauen und andere unselbständige Rechtssubjekte’, die mithin nichts anderes als eine rein private Existenz kannten. Wenn wir Kant zeitlich zutreffend kurz vor der Zeitenwende der beginnenden Urbanisierung verorten, dann wird man sagen müssen, dass damals jedenfalls die Urbanität ein Privileg der Lebensgestaltung nur für eine kleine Schicht des Stadtbürgertums war, die man in Betrachtung der Gesamtbürgerschaft eher als Subkultur bezeichnen könnte, wenn es sich nicht realiter um eine Hegemonialkultur gehandelt hätte. 17
STADT UND KULTUR
ren werden. Indessen sei es „auch Ausdruck einer privilegierten Perspektive, von Luxus und Blindheit nicht nur den Problemen des Viertels gegenüber, sondern der städtischen Entwicklung überhaupt“. Bürgerliche Urbanität, so das bittere Fazit: „ein epochal überholtes, kulturelles Stereotyp“9.
Kompensation und Modernisierung In der modernen Gesellschaft ist die Stadt der Ort, in dem die Kultur dieser Gesellschaft produziert wird. Zugleich ist sie der Austragungsort fortdauernder Modernisierungsprozesse, die zur Daueraufgabe moderner Gesellschaften geworden ist, um – nach ihrem von Politikern und Wirtschaftsunternehmen entworfenen Selbstbild – in einer globalisierten ökonomischen Konkurrenz überlebensfähig zu bleiben. Der Komplex Ökonomie-Technologie-Politik wird deshalb auch von den einschlägigen Wissenschaften als der Block der Modernisierungskräfte betrachtet. Oft genug war in der Vergangenheit davon die Rede, dass sein Wirken von der Kultur vor Ort kompensatorisch abgefedert werden soll im Sinne einer trostreichen Bewältigung der Ansprüche, die durch Modernisierung an die Menschen gestellt werden. Soweit so schlecht. Denn empirisch ist diese Position nicht zu halten. Es sei denn, wir begriffen Kultur als einen erratischer Block (was sie nicht ist), der von gesellschaftlichen Veränderungen relativ unberührt bliebe und deshalb geeignet wäre, Modernitätsanforderungen mit tradierten kulturellen Werten und vor allen Dingen: mit ihren subjektiv einholbaren Sinngehalten zu vermitteln. Kultur ist allein schon aufgrund ihres Produktionsortes und ihrer grundsätzlichen technischen Vermitteltheit vielmehr voll eingespannt in die Modernisierungsprozesse. Und das ist sie in immer stärkerem Maße, weil die Neuen Technologien als Motoren industrieller Erneuerung aufgrund ihres universellen Charakters ebenfalls in hohem Maße Kultur erzeugen und hier ebenso wie die Ästhetisierung der Warenproduktion und -distribution innovative Faktoren der Modernisierung selbst sind. Kultur also ist ein aktives Moment im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess. Sie kann ihn antreiben und reflektieren, aber nicht kompensieren. Kultur kann die Menschen für die dadurch stattfindenden Umwälzungen ihrer Lebensverhältnisse sensibilisieren und disponieren, sie kann sie jedoch nicht für die dabei anfallenden psychischen, sozialen oder materiellen Kosten wirklich trösten. Städtische Kultur war vermut9
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Böhme, Hartmut: Mediale Projektionen, in: Stadtutopien. Kunst und Kirche, 2/2005, S. 92-98, hier S. 92.
STADT ALS ORT KULTURELLER PRODUKTION
lich noch nie Trost, selbst nicht am Beginn moderner Stadtentwicklung in den Renaissancestädten Norditaliens. Spätestens aber seit der industriestädtischen Entwicklung ist sie Anspannung aller Kräfte, vor allem des Nervenkostüms des Städters, wie es schon der bedeutende Kultursoziologe Georg Simmel10 wusste.
Fremder Die Stadt ist seit dem (europäischen) Altertum ein Ort verdichteten bis hoch verdichteten Zusammenlebens von Menschen. Eines der klassischen Merkmale städtischen Lebens ist daher die gewaltfreie Begegnung mit dem Fremden, der zwanglose Verkehr unter bekannten und unbekannten Menschen. Für Anthony Giddens ist die Bedingung der Möglichkeit eines solchen zwanglosen Verkehrs eine generalisierte Haltung des modernen Menschen, die er Vertrauen (trust) nennt. Ihm ist zweifellos zuzustimmen, dass diese Haltung des Vertrauens ein Charakteristikum der Moderne ist. Deren Strukturen müssten zusammenbrechen, gäbe es nicht unser Vertrauen in das Funktionieren solcher abstrakten Systeme und Institutionen wie Verkehrs-, Versorgungs-, Sicherheits- und Rechtssysteme. Älter aber ist der zwanglose Verkehr fremder Menschen miteinander auf den Straßen der Stadt, das Fehlen des verstohlenen Blicks, des misstrauischen Sich-Umdrehens. Jener ist an die Existenz der Stadt selbst gebunden, die ohne ihn nicht lebensfähig wäre. Bereits antike Reiseschriftsteller und Historiker heben dieses Merkmal städtischen Lebens hervor. Pausanias vermerkt akribisch, an welchem Ort Misstrauen angebracht ist, weil man dort als Fremder belogen oder gar betrogen wird. Alles andere wäre auch erstaunlich angesichts der damals bereits drangvollen Enge der übervölkerten Großstädte. Eine solche Bevölkerungsdichte kennen wir heute, nachdem die Climax in den proletarischen Vierteln der Industriestädte der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts hinter uns liegt (und wir inzwischen vom Schrumpfen der Städte sprechen), nur noch in einigen Zentren von globalen Städten und in den Megalopolen der Dritten Welt. Kurz: der zwanglose Verkehr unter Fremden ist ein zentrales Charakteristikum städtischen Lebens. Das schließt Gewalttaten, Mord und Totschlag nicht aus. Doch angesichts der unzähligen Interaktionen, die in einer selbst mittelgroßen Stadt täglich zwischen einander völlig Unbekannten stattfinden, ist ihre Zahl verblüffend gering, was immer die Sensationsme10 Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben, in: Ders.: Brücke und Tür, Stuttgart: 1957, S. 227-242. 19
STADT UND KULTUR
dien heutzutage daraus machen. Letzten Endes zeigen die Gewalttaten und die Reaktionen darauf ex negativo, wie tief in Bewusstsein und Lebenspraxis der Städter dieses Merkmal verankert ist. Die Frage ist nun, inwiefern diese Merkmale oder Bestimmungen städtischen Lebens kulturproduktiv sind, wie sie also den dominanten gesellschaftlichen Kulturzustand produzieren?
S u b j e k t i ve u n d o b j e k t i ve K u l t u r Georg Simmel hat in dem 1902 verfassten Essay über die „Großstädte und das Geistesleben“11 das Finish urbaner Kultur als das balancierte Verhältnis von subjektiver und objektiver Kultur bestimmt, allerdings mit dem klaren Primat der subjektiven Seite. Denn das Wesen der Kultur sieht er in einer voll entfalteten Subjektivität des Individuums, die sich indessen nur an bedeutungsvollen Objekten ausbilden könne. Damit ist die Dekadenzgeschichte im Überhandnehmen der objektiven Kultur in der durchinstitutionalisierten und -organisierten Industriegesellschaft mit ihrem ständig wachsenden Output an Objekten allerdings in der Logik der Begriffsbildung vorgezeichnet. Es gibt kein Entrinnen vor der anschwellenden Flut der Objektivität, ist die industrielle Maschinerie mit ihrem Ratrace der Akkumulation in der kapitalistischen Konkurrenz erst mal angeworfen. Kultur aber ist Simmel Individualkultur, die sich in intentionsfreier Subjekt-Objekt-Durchdringung ausbildet. Die Großstadt, die Industriestadt der Jahrhundertwende, so faszinierend ihre neurasthenischen Kreaturen in der Ausbildung der vielfältigsten individuellen Fähigkeiten auch ausfallen mögen, ist dann letztlich der Schauplatz der objektiven Überwucherung des Subjekts und damit der historischen Niederlage der subjektiven Kultur. Die Frage kann aber doch nicht sein, oder jedenfalls nicht in erster Linie, wie sich subjektive und objektive Kultur zueinander verhalten und wo z. B. so etwas wie eine antikulturelle Wucherungsgrenze der letzteren zu ziehen wäre. Denn es kann ja nicht um ein reines Aneignungsverhältnis gehen! Verhielte es sich aber doch so, dann wäre die Konsumkultur der Gegenwart zweifellos keine Abschwungphase menschlicher Kulturentwicklung, als die sie viele Kritiker gerade wegen der von ihnen behaupteten verödenden Umgestaltung moderner Städte zu bloßen Konsumkrippen sehen wollen. Sie wäre im Gegenteil eher die Epiphanie ihrer vorläufigen Vollendung. Die Formel könnte dann lauten: Individualisierung plus einer hoch differenzierten Objektwelt gleich kultureller Höhepunkt. Es ist zugleich die Antinomie der modernen Massenkultur. 11 Ebd. 20
STADT ALS ORT KULTURELLER PRODUKTION
Wir sollten stattdessen fragen, wie die subjektive Seite so konstituiert wird, dass sie objektiv vermittlungsfähig wird. Die dafür in Betracht zu ziehenden Konstituenten sind a) die Autonomie der Individuen und Gruppen, b) die sozialen Formgebung des zwanglosen Verkehrs und c) der rationale Vergesellschaftungsmodus, den die Reproduktion städtischen Lebens bildet. D. h. die Ausbildung einer kultivierten Subjektivität ist die spezifische Leistung städtischer, distanzierter Vergesellschaftung. Ihr Charakteristikum besteht in der Zurücknahme oder Pazifierung aggressiver Handlungsdispositionen im Umgang miteinander. Dadurch wird städtisches Leben nicht zum Hort der Harmonie, aber Konflikte können in friedlichen, nicht verrechtlichten Formen bis hin zu rechtlichen Regelungen ausgetragen werden. Aus diesem Grund haben die Verhaltensstrategien städtischen Verkehrs wegen der Sicherung und Aufrechterhaltung dieses Verkehrs auch grundlegend defensiven Charakter. Die städtische Anonymität fordert die Toleranz dem Fremden gegenüber. Die gleichgültige Miene des anonymen Städters bei seinen zahllosen, ebenfalls anonymen Begegnungen ist deshalb der physische Ausdruck des toleranten Gewährenlassens und nicht, wie von Großstadtkritikern gern behauptet, bloße Maske. Und wieder hat Simmel in subtiler Beobachtung die Richtung beschrieben, in der aus sozialer Formgebung defensive Individualcharakteristika entstehen, die schließlich positive Setzungen für Handlungen und Handlungsumwelten hervorbringen. Er stellt die Reihe Reserviertheit, Gleichgültigkeit, Indifferenz als Dämpfungsmechanismen anonymer Interaktionen auf, die die individuelle Freiheit städtischen Lebens begründen. Dabei spiegele sich diese Freiheit – im Gegensatz zur kleinstädtischen Enge porentiefer sozialer Kontrolle – keineswegs in des Städters „Gefühlsleben als Wohlbefinden“12, sondern könne aufgrund ihrer negativen Konstitution durchaus als Last und Einsamkeit empfunden werden. Städtische Freiheit enthält mithin auch ein Moment von Entfremdung, das auf die Kultur übertragen wird. Wir können also aus der Zusammenfassung einer Gruppe von Merkmalen der Stadt als erste zentrale Kulturfunktion die diskursive und re-flexive Erzeugung von Verhaltensstandards für den städtischen Verkehr der Menschen untereinander festhalten. Ihre Geltung ermöglicht nicht nur das gesellschaftliche Leben in der Stadt sondern damit auch das Leben der Stadt selbst. Insofern ist gerade diese Funktion in ihrer Bedeutung nicht leicht zu überschätzen. Von ihrer Auflösung durch eine Politik kultureller Identitätsbildung und damit der zwangsläufig einsetzenden Ethnisierung von Handlungsstandards und städtischen Verkehrs12 Ebd., S. 237. 21
STADT UND KULTUR
formen geht möglicherweise eine größere Gefährdung für die Städte in der näheren Zukunft aus als von allen strukturellen Veränderungen durch Wirtschaft und Politik, die im einzelnen schon hinreichend gravierend sein können.
Kultur und Konflikt In dieser Funktion stellt Kultur, wie sie aus den spezifischen Bedingungen städtischen Lebens hervorgeht, einen symbolischen Rahmen für eine konfliktfreie oder mindestens Konflikte reduzierende gesellschaftliche Integration dar. Sie hat aber auch eine andere Seite. Sie reicht von der symbolischen Grundlage konfliktreicher Integration, und das heißt eben auch: von der Reproduktion von Klassenstrukturen (eingeschlossen Klassenkämpfe, die bereits den Anschein von Desintegration erwecken) bis hin zu differenzierenden Distinktionen. Es handelt sich um kulturelle Strategien der Klassifikation, die historisch die dominanten Ungleichheitssysteme deuten und sie in der Moderne auch gleichzeitig überlagern und kulturell auflösen, was nicht bedeutet, dass sie sie beseitigen. Ein treibender Mechanismus hierfür ist die massenkulturelle Transformation der bürgerlichen Kultur gewesen, die die bis dahin existierenden klassengesellschaftlichen Sonderkulturen, die bürgerliche und die proletarische als entgegen gesetzte Erfahrungs- und Deutungsschemata einer gesellschaftlichen Klassenpolarität, in je unterschiedlicher Weise als vormoderne illegitimisiert hat. Städtische Kultur stattet aber noch eine andere Dimension von Ungleichheit mit symbolischer Ausdruckskraft aus, und zwar die der räumlichen Polarisierung, die sich traditionellerweise im Stadt-LandGegensatz ausdrückt. Mit der industriestädtischen Entwicklung, die verschiedene Ebenen sozialräumlicher Segregation mit sich bringt, ist diese Polarität in die Stadt selbst hinein genommen worden als Gegensatz von Zentrum und Peripherie. Traditionell ist dies der Gegensatz zwischen „kultivierten“ Städtern und „unkultivierten“ Bauern. Der im dauernden interaktiven Austausch sozial gewandte und psychisch und intellektuell flexible, rede- und ausdrucksstarke Städter wird gerne als Antipode des in seiner einsamen Produktions- und Lebensweise sozial gehemmten und unbeholfenen, unflexiblen und normativ rigide disponierten Landbewohners gesehen. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass dieser in romantisierenden Schüben der Großstadtkritik stets als Verkörperung des einfachen, guten Lebens in natürlicher Ausgewogenheit konterfeit wird. Es stehen sich hier Simmels „Cosmopolitismus“ und Karl Marx’ abfällige Rede von der „lokalen Bornierung“ gegenüber. Und 22
STADT ALS ORT KULTURELLER PRODUKTION
beide repräsentieren Kulturtypen, die freilich so ungleich konstituiert sind, dass es nicht einmal zu Hegemonialkämpfen zwischen ihnen kommen kann. Das wiederholt sich in anderer Form mit der Industriestadt. Im Zentrum waltet die bürgerliche Kultur, an der Peripherie, im Dreck der Industrie und ihrer elenden Wohnumfelder haust die proletarische „Kultur“, die als Unkultur diskriminiert wird. Diese Diskriminierung ist im Gegensatz zum traditionellen Stadt-Land-Muster eine Hegemonialbeziehung, gleichsam die kulturelle Dimension sozialer Herrschaft des Bürgertums. Mit der Massenkultur wird sie in einen neuen Typus der Reproduktion städtischer Kultur aufgelöst. Dies vollzieht sich mit der Entzerrung der sozialräumlichen Segregationen in der fordistischen Stadt mit ihren charakteristischen Mittelklasse-Schlafstädten und den sozial durchmischten Trabantenstadtsiedlungen, so jedenfalls in Deutschland. Die damit einhergehende, sich bis heute beschleunigende soziale Differenzierung erfordert ein neues System distinktiver kultureller Symbolisierungen, das nunmehr auch die Massenkultur zu transformieren beginnt.
Ar b e i t s t e i l u n g Die Stadt ist kein homogenes Gebilde, weder politisch, noch sozial, wirtschaftlich oder kulturell. Die Grundlage dieser Inhomogenität, keineswegs in jeder Hinsicht ihre Ursache, ist die Arbeitsteilung, die ihrerseits verdichtete Menschenansammlungen voraussetzt, wie sie nur in der Stadt zu finden sind. Ein offenkundig zirkulärer Zusammenhang. Die Entwicklung der Stadt ist deshalb eine soziale und eine kulturelle Form der Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die Menschen und Kapitalien konzentriert und räumlich verteilt. Solange sie ein niedriges Niveau besitzt und nur im Markt, nicht aber in der Organisation des unmittelbaren Produktionsprozesses stattfindet und z. B. im Zunftwesen eingefroren ist, bleibt die städtische Entwicklung nahezu stationär. Jedenfalls verläuft sie so gebremst, dass in den frühneuzeitlichen Städten die Illusion des harmonischen und vor allem geschlossenen städtischen Raumbildes durchaus einen realen Schein besessen hat. Sobald jedoch die industrielle Arbeitsteilung, beschleunigt überdies durch den mit ihr gemeinsam auftretenden Kapitalismus, Fuß gefasst hat und immer weitere Bereiche wirtschaftlicher Betätigung in ihren Drang zur Zergliederung und Rekombination einbezieht, müssen die Städte als die Zentren dieses unabgeschlossenen Vorgangs geradezu explodieren.
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Inhomogenität im Stadtdiskurs heißt aber nicht oder dürfte jedenfalls nicht heißen: Zusammenhangslosigkeit unvergleichbarer Teile. Im Gegenteil: Gerade weil die Arbeitsteilung ihre Grundlage ist, sind Städte hochkomplexe und ebenso komplex vermittelte soziale Einheiten heterogener Einzelgebilde, die meistens zugleich räumliche und soziale Sektoren der Stadt bilden und in die die städtische Einheit sinnlich wahrnehmbar gegliedert ist. Überdies sind die heterogenen Teile in sich durchaus vergleichbar und zwar durch das Geld als allgemeines Medium der Vermittlung und universalisierte Maßeinheit in der Moderne. Allerdings verdankt sich die städtische Einheit, die mit dem Begriff der Arbeitsteilung ja zunächst nur als naturwüchsiger ökonomischer Prozess beschrieben ist, nicht diesem allein. Vielmehr wird er vielfältig überlagert und in seiner historischen Gestalt mitbestimmt von Traditionen, von der Politik und vom kulturellen Reproduktionsprozess der Stadt. Es handelt sich vor allem um die marktfunktionale Etablierung des zwanglosen Umgangs, die spezifische Haltungen des Kaufens und Verkaufens ausbildet. Diese fallen regional sehr unterschiedlich aus. Sie besitzen eine bestimmt Ortstypik, die ihre Wurzeln im Fundus der örtlichen Kultur hat. Dazu zählen a) die Vermittlung von Bedürfnissen und Angeboten, die von vornherein durch das Produktionsniveau der Bedürfnisse, also kulturell bestimmt ist; b) städtische und die Stadt übergreifende Formen der Mobilität und die ortsgebundenen Mechanismen der Raumbeherrschung; c) die Rolle, die das Neue, das Moderne in unterschiedlichen städtischen Umwelten spielt. Dabei ist der umfassendste Konstitutionsgesichtspunkt sicher der Modus der rationalen Vergesellschaftung durch das Geld, das zugleich – im Handel, in der Einkommensverteilung oder in Kapitalballungen – als Medium der Vermittlung der sektoriellen Einheit der Stadt fungiert. Schließlich weist jede Stadt ein spezifisches, unverwechselbares System von Ungleichzeitigkeiten und eines differenzierten Zeitigens auf, das alle Konstituenten umfasst. Dieses System existiert einerseits in architektonischen Formen, in denen die Stadt ihre historische Schichtung aufführt, das Ineinandergreifen, die Verzahnungen und Überlappungen vergangener Zeiten, die als expressive Symbolik Formen des Erinnerns darstellen und Anschlüsse und determinierende Übergänge für Entwicklungsentscheidungen von großer Massigkeit bilden. Selbstverständlich liegen in diesem zeitlich durchmischten Ensemble auch Vorgaben für Mobilität und verkehrstechnische Raumbeherrschung, die nur um den Preis von Zerstörungen aufgelöst werden können. Und andererseits existiert es in den sozialen Formen der Zeitregimes, die durch die Struktur des Arbeitsplatzes, der Öffnungszeiten und der Schultypen, der sozialen 24
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Dienste oder durch die öffentlichen Verkehrsbetriebe in jeder Stadt gesondert errichtet werden.
Kulturproduktion Das Land produziert Lebensmittel, die Stadt Artefakte. Von daher ist historisch die Stadt in ihre Region eingebunden, schon um überleben zu können. Das gilt für die meisten Städte auch heute noch, zum Teil sind sie geradezu Spiegel ihres Umlandes, wobei Umland allerdings zunehmend seine landwirtschaftliche Bedeutung verliert. Tatsache ist aber auch, dass je stärker Städte in das System der globalen Ökonomie integriert werden, desto unabhängiger werden sie von regionalen Bindungen. Hiervon nicht ausgenommen sind im engeren Sinne kulturelle Artefakte, die damit die physischen Grenzen der Stadt sprengen. Es sind im herkömmlichen Verständnis Kunstwerke aller Künste, Medienprodukte oder hervorragende Bauwerke und ähnliches. Die Massenkultur hat das Arsenal deutlich erweitert. Und ihre Ausdifferenzierung in einer allgemeinen Ästhetisierung in den Industrienationen entgrenzt den Korpus kultureller Artefakte ins Uferlose. Solche Objekte werden von den Kunstproduzenten ja zunächst in künstlerischem Eigensinn produziert. Das gilt auch heute, im Zeitalter der Massenkultur, noch ziemlich unverändert. Eine Untersuchung (Vollerhebung) zu Bremer Kulturproduzenten im Jahre 199613 erhellt die Tatsache, indem 70 Prozent. aller Befragten die Kunstautonomie gegenüber der Massenkultur verteidigte und 74 Prozent „Kultur als ästhetische Erziehung der Menschen“ durch Kunst im Sinne der idealistischen Ästhetik gedeutet haben. Nun wissen wir, dass das beste Kunstwerk in seinem Eigensinn kein kulturelles Objekt ist sondern, wenn es in seiner autonomen Sphäre verbleibt, ein Produkt von Spezialisten für Spezialisten. Damit ein Kunstwerk Kulturbedeutung erlangt, muss es, außer dass es in seinem spezialistischen Eigensinn betrachtet wird, in die öffentliche Vermittlung aller Objekte eintreten, damit es Gegenstand subjektiver Abarbeitung werden kann, die Alltagsrelevanz für die Individuen gewinnt. Die Stadt als sozialer Raum ist sui generis ein solcher öffentlicher Vermittlungszusammenhang, der autonome Spezialistenprodukte – seien es Kunstwerke aller Gattungen, esoterische Spekulationen über Gott und die Welt, wissenschaftliche Erkenntnisse oder technische Tüfteleien – in diskursiver und/oder lebenspraktischer Weise alltagsrelevant macht. 13 Dröge, Franz/Müller, Michael/Wilkens, Andreas: Mehr Qualität! Die Gegenwartskultur aus der Sicht von Kulturproduzenten, Bonn: 1997, S. 44. 25
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Die Stadt ist – erstens – die Bühne, der Ort intellektueller Kultur und der Kulturproduktion. Die Bühne tut sich auf vor einem seit alters unterhaltungs- und zerstreuungsgierigen Publikum14, das – wenn auch in pekuniärer Abstufung – fähig und bereit ist, dafür zu bezahlen. Die Stadt zieht folglich die Anbieter dieser Waren an, die Künstler, die Intellektuellen, die Journalisten und all die Berufe der „Warenästhetik“. Seit dem neunzehnten Jahrhundert, seit der Entwicklung der modernen Industriestadt und seit der gleichzeitigen Industrialisierung der Kulturwarenproduktion vervielfältigt sich die Zahl der geistes- und sozialwissenschaftlichen Intelligenz in den Städten in stetig wachsenden Proportionen und überflügelt die naturwissenschaftlich-technische Intelligenz um ein Vielfaches15. Entsprechend steigt das Angebot, es diversifiziert sich, konkurriert, bildet heterogene Ismen und Moden aus, die auch in die Universitäten und höheren Bildungsanstalten zurück stauen, von denen sie oft genug ihren Ausgang genommen haben. Die Kulturwarenproduktion konzentriert sich ähnlich wie die kommerzielle Produktion – die sie im übrigen seit dem frühen 19. Jahrhundert selbst immer mehr wird – in bestimmten Städten, in anderen nicht. Zum Teil folgt die Konzentration älteren urbanen Kulturtraditionen, zum Teil – vor allem die neueren medialen Varianten von Fernsehen, Werbung, Design oder Mode – der Konzentration kommerzieller Gewerbe oder den neuen Industrien des Finanzwesens und der spezialisierten Serviceunternehmen. Das geschieht einmal, weil diese solche kulturellen Produktionskapazitäten in großem Umfang für ihre eigenen Dienste in Anspruch nehmen. Und es geschieht, weil auch ihre Mitarbeiter als hoch qualifizierte Arbeitskräfte zur kulturellen Fundierung ihres Status’ als private Konsumenten solcher Artefakte auftreten und zwar in allen Bereichen, von der Kunst bis zum Design, von der Mode bis zur Szenekneipe. In Zentren von Kapital und wirtschaftlicher Macht herrscht also nicht nur ein gesteigertes kulturelles Nachfragepotenzial sondern dies fungiert zugleich auch zur eigenen individuellen Identitätsmarkierung als Motor zur Differenzierung der kulturellen Angebotspalette. Dass dem – zweitens – seitens der Stadt mit einem standardisierten Kulturangebot in Form immer pompöserer Kulturinstitute herkömmlicher Provenienz (die sie zumeist gerade noch errichten, aber kaum noch angemessen unterhalten können) nicht beizukommen ist angesichts der sich gegenseitig aufschaukelnden Angebots-Nachfrage-Differenzierung, 14 Kracauer, Siegfried: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland., in: Ders.: Schriften I., Frankfurt/M.: 1978. 15 Featherstone, Mike: Auf dem Weg zu einer Soziologie der postmodernen Kultur, in: Haferkamp, Hans (Hg.): Sozialstruktur und Kultur, Frankfurt/M.: 1990, S. 209-248. 26
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liegt auf der Hand. Denn die historischen Transformationen affirmativer Kultur in die Massenkultur haben auch den kontemplativen Eskapismus des sich darin affirmierenden kulturellen Lebens als Kunstgenuss – Voraussetzung bürgerlicher Kultur – zerschlagen. Seitdem muss Kultur allgemein sein. Das heißt nicht, dass sie nicht fragmentiert sein kann. Aber jeder muss in dieser oder jener Form daran teilnehmen können, nicht nur das privilegierte Bürgertum. Und Kultur will gelebt und nicht mehr nur rezipiert werden. Oder: auch die Rezeption muss als Erlebnis arrangiert sein. Individualisierung ist im modernen Kulturkonsum mithin in der Angebotsvielfalt der Artefakte möglich, Individuierung nicht mehr. Die Frage ist allerdings, ob die Gesellschaft, oder vielmehr: ob man das in der Gesellschaft noch braucht. Man kann auch sagen, dass Kultur wieder auf ihren ursprünglichen Begriff gekommen ist, indem selbst die Künste aus der Isolation ihrer selbstgenügsamen Abkapselung von der Gesellschaft gelöst werden, wenn sie Resonanz haben wollen. Andererseits ist die kulturinstitutionelle Aufrüstung der Städte, einschließlich der Aufstellung von Freiplastiken und der Verpflichtung international renommierter Architekten für die Aufführung prestigeträchtiger Bauwerke, eine nahe liegende Konkurrenzstrategie der Städte zur Aufpolierung ihrer Attraktivität. Denn die Stadt ist nicht nur der Ort, in dem kulturelle Objekte produziert und angeeignet werden, sondern sie ist zugleich auch die Organisationsform dieses Geschehens – und zwar wiederum in sozialer und in baulich-räumlicher Hinsicht. Was liegt da näher, als diese Form auch planvoll nach außen auszuspielen?
Musealisierung Charakteristisch für die Moderne ist nun nicht nur die permanente Kreation des Neuen sondern auch ihre damit logisch und historisch gesetzte Gegenbewegung: die Musealisierung. Was heute neu ist, gehört morgen schon ins Museum. Viele Künstler nehmen die Bewegung ihrer Produkte mittlerweile vorweg, indem sie von vornherein nur noch für das Museum produzieren. Jedenfalls wenn sie berühmt genug sind. Und die klassischen Unterhaltungsanstalten der bürgerlichen Kultur – Theater, Oper, Konzertsaal – sind von ihren Aufführungsplänen her direkt als Museum konzipiert, indem eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Avantgarde kaum noch vorkommt. Vor allem im Musikbereich wird immer mehr direkt für die Bild- und Tonkonserve, also nach ihrem Rezeptionszyklus: fürs Archiv, produziert, während das Traditionsreper-
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toire durch avantgardistische Inszenierungen das Neue im Alten repräsentieren soll, das morgen schon wieder überboten werden muss. Die Stadt ist zugleich Ort und Organisator dieser Musealisierung. Sie unterliegt ihr als gebaute Umwelt selbst, was in geglückten Fällen ihre touristische Attraktion zu steigern vermag. Sie hat aber darüber hinaus die politische Aufgabe, den gegenläufigen aber parallelen Prozess von Neuschöpfung und Musealisierung zu steuern. Und zwar erwächst diese Aufgabe nicht als ein abstraktes Rechtsgut, als das sie in der deutschen Kulturrechtstradition erscheint, sondern aus ihrem Eigeninteresse an der Selbstreproduktion als funktionierendes Gemeinwesen. Aus demselben Grund ist die Stadt auch an der Sicherung der drei anderen dargelegten kulturellen Funktionen interessiert, einschließlich der – in der Stadtgeschichte oft – bis zur gewaltsamen Segregation reichenden Distinktionsfunktion. Halten wir fest, dass die Stadt aus sozialen und ökonomischen Gründen der Reproduktionsfähigkeit der Produzenten und Konsumenten Bühne und Galerie für alle zentralen kulturellen Artefakte moderner Gesellschaften abgibt. Das Land, das Dorf, die Kleinstadt, sie sind meist nur Resteverwerter von Massenprodukten. Nicht zuletzt deshalb sind zeitgenössische Praktiken kulturell gestützter, sozialer Differenzierung auf dem Lande nur sehr schwer möglich. Hier schlagen die klassischen Mechanismen sozialer Stratifikation – Besitz, Beruf, Familie – noch viel stärker durch als in den Städten, in denen eben kulturelle Klassifikationsschemata die klassengesellschaftlichen zwar nicht wirklich außer Kraft setzen aber vielfach überschneiden und so soziale Heterogenität produzieren. Dafür aber muss das Angebot in gebührender Vielfalt zuhanden sein.
Zusammenfassung Es hat sich gezeigt, dass die Merkmale städtischen Lebens (mindestens) vier allgemeine kulturelle Funktionen ausbilden, deren empirische Spezifik die traditionsbildende Entwicklung der Städte als kulturellen Lebenszusammenhang vieler, räumlich aggregierter Menschen in höchst unterschiedlicher Weise prägt. Sie unterscheiden Wuppertal von Oberhausen, Bremen von Dresden ebenso markant, wie die in ihnen ansässigen Industrien und Gewerbe. Diese Funktionen sind: a) die Gewährleistung und Sicherung des urbanisierten Lebens, also des verdichteten Zusammenlebens von Menschen, durch die Institutionalisierung von Verkehrsformen, die die Städter als Handlungsmustern verinnerlichen; b) der Aufbau und die Reproduktion distinktiver Modelle als symbolische 28
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Expression und „institutionelle Außenstütze“ (Arnold Gehlen) der städtischen Sozialstruktur; auch diese Funktion vollzieht sich in der Ebene individuellen Handelns; c) die symbolische Vermittlung der Sektoren städtischen Lebens, vor allem der ökonomischen Sektoren der Kapitalzirkulation und der Politik; d) die Produktion und Aneignung kultureller Artefakte und deren öffentliche Organisation in institutioneller und außerinstitutioneller Hinsicht. Die Funktionen werden, wie gesagt, historisch und in verschiedenen Städten sehr unterschiedlich erfüllt und ebenfalls untereinander in sehr unterschiedlicher Gewichtung. Das alles im Zusammenhang macht städtische Kulturtraditionen aus, die heutzutage auf mindestens vier Globalisierungstendenzen treffen: ökonomische, politische, touristische und kulturindustrielle und dabei spezifische Verknüpfungen herstellen. Nun ist nicht zu leugnen, dass städtische Kulturen so autonom auch wieder nicht sind. In der Moderne gibt es aufgrund der industriellen Herstellbarkeit und technischen Reproduzierbarkeit überörtliche Strutrierungsmechanismen auch der einzelstädtischen Kulturzusammenhänge. Solange Internationalisierung der Kultur freilich lediglich Welthandel mit Kulturwaren bedeutet, also von der Nachkriegszeit bis in die frühen neunziger Jahre – Medienprodukte, Schallplattenhits, Mode wie z. B. Jeans, Kaugummi, Autodesign – läuft die Strukturierung über Adaptionen, die über den Markt vermittelt sind. Sie folgen zum Teil subkulturellen und zum Teil Gruppenpräferenzen (Intellektuelle hören Free Jazz und französische Chansons, Arbeiterjugendliche Rock and Roll), zum Teil folgen sie politischen Mustern, wie z. B. die viel geschmähte „Amerikanisierung“ der alten BRD, die im Wesentlichen nichts anderes war, als die kulturelle Form ihrer längst überständigen Demokratisierung. Gerade in diesem Prozess, der historisch die Hochphase der Massenkultur darstellt, werden resistente lokale Abwehrmechanismen deutlich. Die Globalisierung der Kulturproduktion bringt eine neue Stufe kultureller Gesamtstrukturierung, die durch segmentierte Märkte und flexible Produktionsstrukturen gekennzeichnet ist und die fordistische Massenkulturproduktion nicht ablöst aber doch deutlich modifiziert. Deren auch ästhetische Leistungsfähigkeit ist sicherlich am eindrucksvollsten in der Fliessbandproduktion des Studiosystems Hollywoods bis zu seinem Zusammenbruch in den 1970er Jahren in Erscheinung getreten. Alles das kann auf eine wachsende Dominanz der Strukturen nicht nur in ökonomischer sondern auch in kultureller Hinsicht hindeuten. Dem würde nicht widersprechen, dass sie so flexibilisiert sind, dass sie über eine enorm hohe (auch lokale) Anpassungsfähigkeit verfügen. Und in der Tat dürfen die Strukturierungsprozesse im Rahmen des herrschenden ökonomischen Kulturmodells nicht unberücksichtigt bleiben. 29
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Es wäre aber falsch, mindestens methodisch verkürzt, hierauf ausschließlich den Blick zu richten. Denn auch alle Globalisierungsmechanismen, vor allem finanzwirtschaftliche und neue Produktionsdienste benötigen geografische Basen. Nach allen Erfahrungen sind sie städtisch lokalisiert. Den Städten verleihen sie sogar nach einer Phase der Stagnation, sogar der Schrumpfung der europäischen Großstädte von den 1960er bis 1980er Jahren, eine neue Bedeutung, die allerdings zugleich auch zu Hierarchisierungen, Polarisierungen und im einzelnen Bedeutungsverlusten, also zu ungleichen Entwicklungen der Städte führen werden. Diese Lokalisierung zentraler und dezentraler Funktionen von Globalisierungsmechanismen bevorzugen bestimmte lokale Traditionen aufgrund ihrer Anpassungsbedingungen, und andere lehnen sie ab. Sie verbinden sich mit diesen Traditionen, sich wechselseitig durchdringend und unterschiedlich stark modifizierend. Es ist deshalb zwingend für eine Analyse der kulturellen Entwicklung und ihrer Rückwirkung auf das städtische Leben der näheren Zukunft, beide Seiten, die Städte und die überregionalen oder globalen Strukturierungen ins Auge zu fassen.
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Sieht man einmal davon ab, dass wir sie tagtäglich benutzen und sie uns schon deshalb nicht ganz gleichgültig sein können, sind es doch nur bestimmte Straßen, die unsere besondere, auch künstlerisch und wissenschaftlich motivierte Aufmerksamkeit finden. Die meisten sind öde und langweilig, wobei sie bestenfalls den Rahmen für melancholische Stimmungen abgeben. Aber es gibt sie, diese Straßen(t)räume, denen es gelingt, ihre Funktionalität als Weg- und Verbindungsstrecke zu transzendieren und dabei etwas zu erzeugen und preiszugeben, von dem wir überzeugt sind, dort das Geheimnis der Vorzüge der ja oft auch als Zumutung erfahrenen (groß-)städtischen Lebensweise zu entdecken. Eine Straße erscheint uns dann gelungen, wenn sich in ihr über einen längeren historischen Zeitraum unterschiedliche Funktionen, Interessen, Ethnien und Kulturen durchdringen, überlagern, ablösen, aufeinander folgen. Aus kultureller Sicht adelt ein derart zweifach, weil sowohl faktisch als auch in unserem Bewusstsein1 konstituierter Straßenraum die Trivialität des Alltäglichen, wovon kaum einer besser zu berichten wusste als Walter Benjamin. Die Straße ist so gesehen dem Hegemonieanspruch der Hochkultur gegenüber auch immer eine Provokation (gewesen), solange sie sich den Vereinnahmungen postfordistischer Ästhetisierungsmaßnahmen entzieht und die Provokation sich nicht zum Anything goes marginalisiert. 1
Robert Musil spricht sowohl die Fähigkeit als auch die Notwendigkeit zur Imagination an, wenn er schreibt: „Straße – Straße? Sie denken nach und beobachten ihre Umgebung. Nach einiger Zeit finden Sie: ‚Aha Straße, etwas Gerades, Taghelles, dient, um sich darauf fortzubewegen‘. Und Sie empfinden plötzlich ein kolossales Überlegenheitsgefühl, wie ein Hellsehender unter Blinden. Sie sagen sich: „Ich weiß ganz bestimmt, dass eine Straße nichts Gerades, Taghelles ist, sondern dass sie vergleichsweise etwas Vielverzweigtes, Geheimnis- und Rätselvolles ist, mit Fallgruben und unterirdischen Gängen, versteckten Kerkern und vergrabenen Kirchen.“ Musil, Robert: Tagebücher, Adolf Friese (Hg.), Reinbek: 1976, S. 8f. 31
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In einer 1998 abgeschlossenen Untersuchung und Ausstellung zur zweifelsfrei urbansten Straße Bremens, dem Ostertorsteinweg/Vor dem Steintor, schrieben wir demgemäß, es sei unmöglich, Gesellschaft hier durch Gestaltung in einem Ausdruck zu repräsentieren.2
Abb. 1: Vor dem Steintor, Bremen Die Straße nahmen wir wahr als einen Raum fortlaufender Ereignisse mit einer nicht kontinuierlichen Erzähllinie, die sich in Sequenzen entfaltet und sich damit von den stärker tradierten Erzählformen – Roland Barthes nennt es ihren von der Geschichte weitergegebenen semantischen Gehalt3 – der in ihrem Rücken liegenden Wohnstraßen unterscheidet. Der Konflikt zwischen den funktionellen Erfordernissen des modernen Lebens und der Bedeutung wird hier lange nicht so erfahren und gelebt wie in einem der Wachstumsdynamik folgenden Stadtraum. In ihm treffen die moderne Zeit des raschen Wechsels der objekthaften Eindrücke und die Anwesenheit mir nicht bekannter Menschen auf die in Stein sedimentierten Geschichten der Straße, ihre in Teilen konstant gebliebenen Bedeutungen und einen nicht selten vormodernen, zumindest nicht zeitgemäßen Bewegungsablauf mit seinen räumlichen Öffnungen und Schließungen. Die Straße verdichtet sich in dieser Eigenschaft zu einem 2
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Müller, Michael/Dröge, Franz (Hg.): Die Straße. Urbanes Leben im „Viertel“. Ausstellungsbuch der gleichnamigen Ausstellung im Focke-Museum, Bremen: 1998, S. 28. Ausstellung und Buch waren das Ergebnis eines Lehr- und Forschungsprojekts von Lehrenden und Studierenden der Kultur- und Kunstwissenschaft und der Kunstpädagogik der Universität Bremen. Dabei spielten kulturwissenschaftliche Annäherungen ebenso eine Rolle wie filmische und künstlerische Sichtweisen. Barthes, Roland: Semiologie und Stadtplanung, in: Ders.: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt/M.: 1988, S. 202.
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die Stadt repräsentierenden mikroskopisch synthetisierenden Raumbild. Wobei allerdings immer erst noch zu klären wäre, von welchem Gesamtraumbild der Stadt wir dabei ausgehen.
Dazwischen In einer anderen Untersuchung4 haben wir die Straße im Vergleich zum Ort und dem Gesamt der Stadt und dem über sie hinaus weisenden Raum ein Dazwischen genannt, eine zwischen den Orten gelegene Strecke. Der Straßenraum ist eine Konstruktion in Bewegung. In diese Bewegung, die den Raum des Dazwischen subjektiv nicht konstant zu halten vermag, sondern ständig verändert, ist die Vermittlung von Orten aber auch von Differenzen eingeschrieben. Bewegung ist hier doppelt zu verstehen: Der Raum bewegt sich in einer Veränderung, die dadurch bewirkt wird, dass die physische Bewegung der Menschen im Raum diesen erst konstituiert. In räumlicher Betrachtung haben wir es im Fall der Straße mit einer bestimmten Erscheinungsweise von Differenzen zu tun: es sind die produktiven Differenzen im Dazwischen. Ohne sie existentiell anzutasten, ist die Vermittlung dieser Differenzen die große kulturelle Leistung der Stadt. Sie produziert den distanzierten, eben städtischen Sozialcharakter der Moderne. Diese kulturelle Leistung der Differenzvermittlung kann man auch Urbanität nennen, deren Gelingen allerdings angesichts der wachsenden Kluft zwischen sozialer und gebauter Stadt in der Gegenwart aber immer prekärer wird. Demgegenüber haben wir es im Darüberhinaus mit Differenzen zu tun, die kognitiv zwar präsent sein können, doch sind sie lebenspraktisch nur zu bearbeiten, sprich, zu vermitteln, soweit sie ins Dazwischen eindringen oder hereingeholt werden.
I d e n t i t ä t u n d Au s s t e l l e n Die Musealisierung eines Teils des Straßenraums und das Eindringen ästhetisierender Praktiken interessierten uns ebenso wie die Wahrnehmung der Straße als eine, wie wir es nannten, „Galerie der Waren“5. Wobei wir in der Darstellung im Ausstellungsraum des Focke-Museums keinen Unterschied machten zwischen musealisierten Gegenständen und all4 5
Müller, Michael/Dröge, Franz: Die ausgestellte Stadt. Zur Differenz von Ort und Raum, Basel/ Boston/Berlin: 2005. Siehe den Beitrag von Ralf Rummel und den Abschnitt „Kultur am Wall“ in: Müller/Dröge: Die Straße, S. 132ff. und S. 140ff. 33
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tagspraktischen Haushaltswaren. Diese „Galerie“ kennzeichnete in Ausschnitten bzw. Auswahl, was den Straßen- und insgesamt den Stadtraum charakterisiert: Dass er sich uns als eine An-Sammlung unterschiedlicher semantischer Gehalte und Bedeutungen präsentiert. Folgten wir hier der Beobachtung Italo Calvinos, dann stellen die Läden ohnehin den „offensten, kommunikativsten Diskurs dar […], den eine Stadt zum Ausdruck bringt: Wir alle lesen eine Stadt, eine Straße, ein Stück Bürgersteig, indem wir der Reihe der Läden folgen“6. Methodisch kam es an dieser Stelle darauf an, nicht nur herauszufinden, welche (Un-)Ordnungsmuster diesem durch An- und Versammlung erzeugten historischen Straßenraum zugrunde liegen; mindestens so wichtig war uns, die im wahrnehmenden Bewusstsein entstehenden Raumbilder bei den Benutzern der Straße aufzuspüren.7 Dabei waren die in die 1950er Jahre zurückreichenden Untersuchungen Kevin Lynch’s den Studierenden für die Entwicklung eigener Fragen sehr hilfreich. Es sind solche Beobachtungen, die wesentlich zur Studie „Die ausgestellte Stadt“8 geführt haben. Wir verallgemeinern darin diesen Sachverhalt, in dem wir jetzt – vom Subjekt ausgehend – von einer der Objektwelt gegenüber eingenommenen Haltung sprechen, aus der heraus die europäische Stadt der Neuzeit gedacht, geplant, wahrgenommen und widersprüchlich gelebt wird. Bei all dem handelt es sich um einen schon etwas länger anhaltenden Vorgang, als es das seit einigen Jahrzehnten dominante ökonomische Kulturmodell vermuten lässt. Folgt man den Forschungen von C.B. Macpherson (1969), Susan Stewart (1984), Colin Campbell (1987), Grant McCracken (1988) oder James Clifford (1996), so haben das Sammeln und das Ausstellen den Prozess westlicher Identitätsbildung bis zum heutigen Tage ganz entscheidend geprägt.9 Bemerkenswert daran ist, dass durch das Sammeln eine auf den Menschen bezogene, durch ihn organisierte, in sich sinnvolle Welt entsteht, deren Gegenstände, die gesammelten Objekte, eine strukturierte Umwelt mit einer eigenen Zeitlichkeit erzeugen. Daher die Frage, nicht ob, sondern inwieweit die durch das Sammeln verinnerlichten Ordnungsparameter Planungspro6 7 8 9
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Calvino, Italo: Der Eremit in Paris, München: 1997. Müller/Dröge: Die Straße; darin der Beitrag von Karin Gestering und Ralf Rummel, S. 146ff. Müller/Dröge: Die ausgestellte Stadt. Campbell, Colin: The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism, Blackwell, Cambridge: 1987; Clifford, James: Ausgestellte Kulturen, in: Lettre International, 1996, Nr.29, S. 28-31; McCracken, Grant: Culture and Consumption, Indiana University Press: 1988; Macpherson, C.B.: The political theory of possessive individualism, Oxford: 1969; Stewart, Susan: On Longing, Baltimore: 1984.
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zesse, die Gestalt der Bauten, unsere Wahrnehmungen und Handlungen im urbanen Feld prägen? Und wie schlägt sich das in der Strukturierung des Straßenraums nieder? Zweifellos lässt sich hier die nach Stand und ökonomischer Macht justierte Versammlung der Bauten als Abbild gelungener, weil überschaubarer Sozialverhältnisse sehr gut verwirklichen. Ein Indiz für die Berechtigung solcher Vermutung ist die Tatsache, dass die Geschichte der Stadt seit Beginn der Moderne von dem Bemühen gekennzeichnet ist, angesichts drohender Unordnung und drohenden Chaos Ordnung und Kohärenz durchzusetzen, eine Strategie zur Durchsetzung dessen, was Foucault10 auf der Subjektseite das „Disziplinarindividuum“ nennt. Ihm korrespondiert ein Akkumulationstrieb, durch den bereits seit der Renaissance die Zentren des europäischen Wachstums sich durch den Drang auszeichneten, „die materiellen Ausdrucksformen fremder Kulturen zu sammeln, aufzubewahren, zu registrieren und zu analysieren“11. Colin Campbell (1987, 193) verstärkt diese Beobachtung und verfolgt für die Zeit der Romantik einen konstitutiven Zusammenhang zwischen der Bestimmung des Subjekts (Self) und den neu entstehenden Mustern der Konsumtion. Im Gegensatz zu Aufklärung und Idealismus fasse die Romantik das Subjekt als Individuum auf. Aus seiner transzendentalen Bestimmung werde eine empirische. Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung würden jetzt wichtiger gegenüber den früheren Formen der Selbsterhaltung und Selbstbestimmung. Einmaligkeit und Autonomie des Subjekts gingen einher mit dem Insistieren auf Verwirklichung durch Erfahrung und Kreativität. Beides treibe die ConsumerRevolution an. Die Individuen, so Campbell weiter, seien bereit zu akzeptieren, dass das Ich durch Konsumtion hergestellt wird und diese das Ich ausdrücke. So sind die Waren mit kultureller Bedeutung besetzt, die von den Konsumenten zu kulturellen Zwecken benutzt werden, um kulturelle Grundsätze auszudrücken und Ideale zu kultivieren und um Lebensstile und Vorstellungen von sich selbst zu bilden. Das System, das die Waren produziert und gestaltet, wird dabei im Laufe der Zeit selber zu einem kulturellen Unternehmen. Für die Kultur aber gilt, dass sie in westlichen Kulturräumen durchweg von der Konsumtion abhängig ist. Ohne Verbrauchsgüter würde unsere Gesellschaft die Schlüsselinstrumente (Reproduktion, Repräsentation, Manipulation) ihrer Kultur verlieren. Ohne Gebrauchsgüter wären Selbstverwirklichung und kollektive Bestimmungen unmöglich.
10 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, Frankfurt/M.: 1976, S. 397. 11 Katalog der Ausstellung „Wunderkammer des Abendlandes. Museum und Sammlung im Spiegel der Zeit“, Bonn: 1994/95, S. 17. 35
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E rw e i t e r t e r R a u m Dieser nicht zu übersehende Sachverhalt leitet zu einer Forschungsperspektive über, den Raum der Straße als eine besondere kulturelle Form (Kulturmodell) einer räumlichen Situierung und Verschränkung (Raummodell) von Anwesenheit und Abwesenheit als Vermittlung der außerhalb von ihr generierten marktförmigen Globalisierung samt ihren kulturellen Folgeerscheinungen zu untersuchen. Verantwortlich für die Erweiterung des physikalischen Raums sind dabei vor allem auch ökonomisch grundierte technologische Modernisierungen, die zwangsläufig zu neuartigen Raumbildern führen.12 Auch wird der Tatsache Rechnung getragen, dass wir es historisch erheblich früher mit dem Phänomen des erweiterten Raums zu tun haben. Die neuen Raumerweiterungen geben Anlass, auch die älteren Formen neu zu lesen und dabei insbesondere die lange vernachlässigten Wechselbeziehungen zwischen räumlichen Anordnungen und ihren Verbildlichungen zu analysieren. Mit der Überlagerung des physikalischen Raums durch dynamische und kontextbezogene Daten wandeln sich die Formen des Wissens ebenso wie ästhetische Formen, die auf eigene Weise Bedeutung in der Orientierung und Selbstreflexion der Gesellschaft entfalten. Für die Untersuchung der neuerlichen Raumerweiterungen lassen sich deshalb allgemeine Überlegungen zu Ästhetisierungsprozessen fruchtbar machen, die intermediale Phänomene berücksichtigen. Erweiterung bedeutet aus dieser kultur- und kunstwissenschaftlichen Perspektive weniger ein technologisches sondern eher ein konzeptionelles Problem13, wodurch die wechselseitige Wandlungsdynamik von Räumen und Technologien in den Fokus gerät.
Subjekt und Integration Träger des Bewusstseins, das sich all dem ausgesetzt und auf räumliche Orientierungen angewiesen ist, bleibt das historisch in die Romantik zurückreichende moderne Individuum, das sich in seinem Verhältnis zur marktförmigen Welt am Konsum von Waren ausrichtet. In beiden Fäl12 Dazu zählen insbesondere Veränderungen des Raums, der zunehmend von elektronischen Datenströmen und visuellen Informationen durchzogen wird. Zu den entsprechenden Technologien zählen u.a. PDA/HandyKombinationen und E-Mail, Videoüberwachung, Cellspace-Technologien und eine den Objektbereich von Architektur und Stadt ganz besonders einnehmende Bildschirm-Technologie, die den Raum in eine Ansammlung von Bildschirmoberflächen mit dynamischen Bildern verwandeln kann. 13 Manovich, Lev: Black Box - White Cube, Berlin: 2005, S. 118. 36
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len, dem der Globalisierung und dem des Individuums, müssen wir davon ausgehen, dass sowohl von Produzentenseite durch die – auch technologisch beschleunigte, weil äußerst flexible semantische – Inanspruchnahme der Straße als auch durch die von den Individuen an sie herangetragenen Ansprüche dieser Stadtraum mittlerweile Teil einer universellen Massenkultur mit einer entsprechend transformierten öffentlichen Funktion ist. Gegen eine aus kulturkonservativer Sicht einseitige Verurteilung dieser maßgeblich vom Konsum vereinnahmten Entwicklung hat Dominik Schrage14 nüchtern und bar jeder zynischen Affirmation die Ambivalenzen dieses Prozesses herausgearbeitet. Er entwirft dabei das Bild einer Massenkultur als Konsumkultur mit – an Raymond Williams15 orientiert – gesellschaftlich integrierender Funktion.16 Die Gründe dafür lägen in der Tatsache begründet, dass warenförmige Kulturgüter gesellschaftsweit und kontextunabhängig zirkulieren. Auch sind sie – gegenüber früheren präskriptiven ästhetischen Normen – auf Wertpluralität eingestellt, was zu einer besonderen Form von massenkultureller Öffentlichkeit führt, in der Differenzierungskriterien nur (bzw. erst) aus den jeweils aktuellen Gebrauchsweisen der Kulturgüter hervorgehen.17 Deshalb, so Schrage, kann es der Massenkultur als dominante Form der Vergesellschaftung auch nicht um die Integration in eine geschlossene Sozialordnung gehen.18 Dazu ist der Vorgang der Kommerzialisierung neuer Kultur-Waren selber viel zu sehr darauf angewiesen, beständig kommuniziert zu werden.19 Wobei es zunächst einmal gleichgültig ist, ob affirmativ im Sinne der Konsumgüterindustrie oder widerständig im Sinne des Sprechens über „wahre“ und „falsche“ Bedürfnisse. Dieses und anderes Sprechen ereignet sich in einem stadtöffentlichen Raum, in dem die Konsumkultur noch nicht – wie in den Fußgängerzonen und Malls – im Sinne Gramscis Theorie der kulturellen Hegemonie den Raum dominiert und die gesellschaftlichen Wirklichkeitsbilder und Erfahrungen bestimmt. Demgegenüber kann die Straße ein Raum der Widersprüche und der Ambivalenz sein, in dem die Strategien des „Ruling Blocs“, Hegemonie durchzusetzen (etwa in der Festlegung
14 Schrage, Dominik: Integration durch Attraktion, in: Mittelweg 36, 6, 2003, S. 57-86. 15 Williams, Raymond: Was heißt „gemeinsame Kultur“ (1967), in: Ders.: Innovationen. Über den Prozesscharakter von Literatur und Kultur, Frankfurt/M.: 1977, S. 74-81. 16 Schrage, Integration durch Attraktion, S. 61. 17 Ebd., S. 66. 18 Ebd., S. 69. 19 Ebd., S. 67. 37
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der Semantik der Bilder und Symbole), beständig durch Eingriffe der unterschiedlichsten Interessengruppen unterlaufen werden. Wie es überhaupt in der Entwicklung der Stadt und des Städtischen keinen Raum gibt, der besser geeignet wäre als die Straße, die sich ablösenden und auch überlagernden Phasen kultureller Transformation bzw. kultureller Modernisierung dem Bewusstsein in analogen Raumbildern öffentlich zugänglich zu machen. Damit wird die Straße zu einem Propädeutikum im Sinne eines Raums des sich immer wieder neu Einübens in die Praxis und gegenseitige Akzeptanz differenter Verhaltensweisen, die trotz ihrer zutiefst städtischen Grundierung die geografischen Grenzen der Stadt längst überschritten haben. Oder aber, wie etwa im Falle Londons, aus postkolonialer Sicht in die Machtzentren der ehemals kolonialer Länder neu eingedrungen sind. Die nun aber hier, in den Straßen und den von ihnen strukturierten Quartieren der Städte und nur hier, wie in einer nicht enden wollenden Erzählung, bei der man nie weiß, wo anfangen und wo aufhören, in ihrer Vielfalt und ihrer Gegensätzlichkeit beständig kommuniziert werden müssen. Und das ereignet sich tagtäglich und vor Aller Augen! Dabei beweist sich einmal mehr, dass die Straße einerseits schon immer auch ein Ort tendenziell fragmentierter, unvollständiger und kontingenter Erfahrungen sein konnte. Ein Repräsentationsraum für ein autonomes und zentriertes Subjekt ist sie als Ver- und Ansammlungsraum des Verschiedenen sicherlich nie gewesen. Andererseits traut man aber heute gerade ihr zu, etwas von der unter postfordistischen Bedingungen verlorenen Bindung an den Ort, an Traditionen und Geschichten zurückzunehmen, ohne allerdings erneut die Illusion eines zentrierten Selbst heraufbeschwören zu müssen. Was schließlich das historische Raumbild betrifft, das eine übersichtlich aufgebaute Sammlung nach Bedeutungen, Hierarchien und ästhetischen Kriterien der Proportionen symbolisch zum Ausdruck bringt, so käme es für den soeben beschriebenen Straßentypus nicht in Frage. James Clifford20 spricht im Falle der Sammlungen, die einer normativen Vereinbarung folgen, von einer Kanalisierung im Sinne allgemeiner kultureller Regeln. Man legt „gute“ Sammlungen an, indem man auswählt, ordnet und in Hierarchien einteilt. Einem dem ökonomischen Kulturmodell folgenden, Kontext übergreifenden Raumtyp sind solche normativen oder rituell gebundenen Kulturvorstellungen gleichgültig wenn nicht eben fremd. Das kann sich allerdings in dem Augenblick ändern, wo das historische Raumbild als Wunschprojektion in Ausschnitten oder als ge-
20 Clifford, Ausgestellte Kulturen, S. 28. 38
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schlossenes Ensemble selber zur Kultur-Ware (Stichwort: Stadtmarketing) wird.
Kulturmodelle Um die sich ablösenden und immer wieder auch neu überlagernden Raumbilder besser verstehen zu können, erscheint es sinnvoll, sie in den Kontext weiter gefasster Strukturierungsmerkmale urbaner Prozesse der europäischen Stadt zu rücken. Darin sind explizit symbolische und ästhetische Strukturierungen eingebunden, ausgestattet mit eigener konstituierender Kraft. So entsteht in historischer Perspektive ein Verlaufsmodell, an dem entlang Genese, Wirkung und Transformation städtischer Raummodelle und Raumbilder in ihrem Verhältnis zum jeweils aktuellen Kulturmodell untersucht werden können. Nach meinem Verständnis – zugleich Ausgangsthese der nachfolgenden Überlegungen – sind Städte sowohl Resultate als auch Orte (Medien) der Modernisierung. Trotzdem weist die Stadt, solange sie Stadt bleibt, relativ konstante Merkmale auf, die zum Bedingungszusammenhang kultureller Produktion zählen und die zugleich zentral, kulturelle Funktionen festlegen. Ihren Beginn setze ich mit dem Beginn der Neuzeit, d. h. der Frührenaissance in Norditalien an. Denn hier lokalisiert sich erstmals in der Nachantike eine kulturelle und ökonomische Modernisierung in der Stadt. Es ist dies die erste einer ganzen Reihe von Modernisierungsschüben, in denen bis heute die Moderne entsteht. Und alle haben ihren zentrifugalen Kern in der Stadt. Diese kulturelle Modernisierung besteht in der modellhaften Konzeption einer universalisierten, säkularen Kultur als Kultivierungsmodell des Menschen, der durch kulturelle Besonderung zum Individuum wird (soziales Kulturmodell). Gemeint ist damit aber der städtische Mensch, der dieses Modell für sich und seinesgleichen entwirft.21 21 Damit ist auch klar, dass ein solches Modell nur in Norditalien entstehen konnte, weil dieses Gebiet die einzige nachantike Stadtgeografie besaß, die bereits antiken Ursprungs war. Das Naturverhältnis in diesem Kulturmodell ist deshalb von Anfang an ambivalent: Es ist zugleich parasitär (hinsichtlich der landwirtschaftlichen Ressourcenausbeutung für die Stadt) und sentimental-escapistisch (das Landgut als Hort der Natürlichkeit und Ruhe, in das man sich vom Imponiergehabe des kulturell gestifteten Individuierungsdrucks mit seinen Händeln und Konkurrenzen zurückziehen kann). Es ist deshalb sentimental, weil es eine Rückprojektion auf das altrömische Gutsherrenideal ist, das jedoch mit der protokapitalistischen Agronomie im römischen Imperium ebenso wenig zu tun hatte, wie zur eigenen Zeit. 39
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Im kulturellen und politischen Modernisierungsschub der Aufklärung wird die im sozialen Kulturmodell angelegte Besonderung deutlich zurückgenommen, als die faktisch antiegalitäre Individualismus-Konzeption der Renaissance deutlich wird. Indem das Individuum als Besonderung des „Allgemein-Menschlichen“ konzipiert wird, erhält das Kultivierungsmodell prima facie eine generalisierungsfähige Grundlage.22 Die ökonomische Modernisierung liegt, ausgehend von Florenz und Venedig, in der Einführung einer geldwirtschaftlichen Grundlegung der Handelswirtschaft. Diese unterfüttert oder stützt das Kulturmodell mit seiner Zentralstellung des Individuums. Denn der Kern des Geldes besteht aus Kredit und Schuld und bevor die staatlich gesichert werden, sind Geldgeschäfte Risikogeschäfte.23 Bekanntlich entstehen in den Renaissance-Städten riesige Vermögen und totale Pleiten, an denen eben Individuen als in ihnen ausgebildete hängen. So stehen am Beginn der Moderne eine kulturelle und eine ökonomische Modernisierung, in deren Zentrum die Grundlagen der viel späteren kapitalistischen Akkumu-
Ich glaube, diese spezifische Ambivalenz durchzieht die ganze StadtLand-Problematik bis zum 19.Jahrhundert und bestimmt auch wesentlich den gegenwärtigen Naturdiskurs. Dieses Naturverständnis wirft im Umkehrschluss auch eine gewisse Ambivalenz auf die Stadt als Ort der Modernisierung: in beiden o.a. Komponenten wird sie nicht ausschließlich als Gewinn betrachtet, sondern auch als Druck, dem man sich bei Vermögen wenigstens zeitweilig zu entziehen trachtet. 22 In einer früheren Untersuchung habe ich mit Franz Dröge diesen Jahrhunderte langen Bewegungsbogen eines kulturellen Entwurfs der ebenso lange heraufdämmernden Moderne modelltheoretisch analysiert (Dröge, Franz/Müller, Michael: Die Macht der Schönheit, Hamburg: 1995). Darin haben wir das bisher angesprochene Modell, sozusagen den ursprünglichen Entwurf, in dem die kulturelle Reproduktion als fortlaufend optimierter Selbstorganisationsprozess der Gesellschaft modelliert (freilich niemals praktiziert) ist, als soziales Kulturmodell bezeichnet. Mit seiner Zentrierung des Individuums und seinem Universalismus weist es ausgesprochen moderne Züge auf. Und doch scheitert es aus den angegebenen Gründen in dem historischen Augenblick, in dem sich die kapitalistische Industriemoderne vollständig durchgesetzt hat. Es scheitert, wie wir zeigen konnten, an seinen eigenen Widersprüchen, in deren Folge das kultivierte Individuum gerade aus den gesellschaftlichen Handlungszusammenhängen herausgenommen wurde, für die es kultiviert werden sollte. Dieses Scheitern ist jedoch nicht das Ende des Kulturprojekts. Das bleibt integraler Bestandteil des Selbstverständnisses der Moderne. Es muss nur neu gedeutet werden. Noch die schnödeste Werbung preist ihre Produkte unter Slogans kultureller und sozialer Teilhabe. 23 Siehe Simmel, Georg: Philosophie des Geldes, Band 6 der Gesamtausgabe, Frankfurt/M.: 1989. 40
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lation und die Ausbildung und kulturelle Formung des entsprechenden (unternehmerischen) Menschentypus zu sehen sind. Sowohl die kulturelle als auch ökonomische Modernisierung lokalisieren sich zwangsläufig in der Stadt. Zwangsläufig, weil hier a) die intellektuellen Produzenten des Kulturmodells ihre Bühne haben und Gefolgschaft bei denen finden können, deren Interessen sie damit treffen, somit ein Relevanz erzeugender Diskurs entstehen kann; und b) das Geld, später das Kapital konzentriert ist; auf dem Land dagegen existiert nur Vermögen, dessen Rente im Entwicklungsverlauf relativ zum steigenden Handelsprofit bzw. später zum Kapitalertrag sinkt; c) ein Markt und Arbeitskräfte vorhanden sind; d) die Größe der Agglomeration die Möglichkeiten weitergehender sozialer Differenzierung über die Hierarchisierung hinaus enthält; e) eine nicht feudalem Partikularismus (und seinen Unfreiheiten) verhaftete zentrale Verwaltung vorhanden ist (demokratisch oder autoritär konstituiert), die z.T. die ideologischen Interessen von (a) mit vertritt.24
Raummodelle Angesichts solcher Lokalisierung können wir dieses Kulturmodell ohne ein entsprechendes Raummodell nicht denken, und zwar in erster Linie als ein soziales Ordnungsmodell, oft dargestellt in Hierarchiefigurationen in der Malerei, das als ideale Ordnung für den „neuen“, sich selbst bestimmenden Menschen auch eine ideale architektonische Verfasstheit erfordert. Doch ist dieses Raumbild, im Gegensatz zu gegenwärtigen Raumbildern, noch statisch: der städtische Raum ist nicht nur strukturiert, d. h. geordnet, er ist auch größenmäßig umgrenzt: Zur idealen Stadt gehört auch eine ihren Funktionen entsprechende ideale Größe. Die Tatsache, dass die in der Stadt verorteten, neuen Modernisierungsparameter dynamische Wachstumsgrößen sind, die aus der Stadt ein expansives Gebilde machen werden, ist in dieser Geburtsstunde nicht abzusehen. Die Dynamik wird vielmehr, dem Kulturmodell folgend, als Bildungspotenz in die Individuen hineinverlegt und dadurch zivilisiert. Unser modernes Stadtverständnis, vor allem das so schwer fassbare Ideal urbanen Lebens, mit seiner kernstädtischen Zentriertheit geht recht unvermittelt auf dieses Modell neuzeitlicher Stadt zurück. Das städtische Raumbild der Renaissance mit seinen Plätzen und Straßen voller redender Menschen, deren politische, wirtschaftliche und soziale Interessen dort „verortet“ waren, prägt nach wie vor das historische Gedächtnis der 24 Alle fünf Faktoren sind in besonderem Maße kulturelle Determinanten. 41
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modernen, urbanisierten Gesellschaften mindestens Alteuropas. So bleibt das historische Raummodell der Entstehungsphase neuzeitlicher Stadtentwicklung das Prüfkriterium gelungener Urbanität. Und das, obgleich die sinnliche Evidenz urbanen Lebens seit gut zweihundert Jahren eine völlig andere Entwicklung genommen hat. Denn seit dem 18. Jahrhundert füllen sich die Städte mit der buchstäblich bodenlos gewordenen/gemachten Landbevölkerung und lösen dort eine Wohnungskrise nahezu in Permanenz aus. Die Kernstädte, die im historischen Raumbild noch die „Ganze Stadt“ sind, schrumpfen auf wenige Prozente des gesamten städtischen Areals. Gleichwohl zentralisieren sich immer mehr Interessen in der Stadt, die dabei aber immer vermittelter auftreten, sich camouflierend immer unsichtbarer werden und für die öffentliche Rede der Städter auf Plätzen und Straßen praktisch ausfallen und nur noch in ihren materiellen Resultaten, aber nicht mehr in ihrem Wirken wahrnehmbar und thematisierbar sind. Nun könnte man das – zumal in Deutschland – leicht als eine rückwärtsgewandte Romantisierung städtischen Lebens betrachten angesichts eines nachmodernen Zerfalls städtischer Strukturen, ihrer „Unregierbarkeit“, wie es heißt, was ja nichts anderes sagen will, als dass die das Stadtbild bestimmenden Interessen nicht mehr strukturbildend dem politischen Gestaltungswillen eines lokalen Regiments folgend gebündelt werden können. Diese soziale Ordnungsvorstellung als ein Zentralelement des Raummodells kam sicher zum letzten Mal im 19. Jahrhundert politisch durchsetzungsfähig zum Zuge. So bei der Restrukturierung von Paris durch Haussmann oder bei der Verkehrs- und Quartiersplanung in Berlin durch Hebebrand. Schon die Speer’schen Wiederaufbauplanungen, zu besichtigen etwa in Hannover, sind auf Verkehr und Baurationalisierung konzentrierte, funktionale Vereinseitigungen eines fordistischen Stadtraumbildes. Und großräumige Trabantenstadtplanungen stellen Raumordnungen dar, die ohne Bezug auf ein soziales Gesamtmodell der Stadt konzipiert werden und nur mit Mühe noch in ein städtisches Raumbild zu integrieren sind. Ein solches ist planerisch offenkundig nicht mehr zu wagen, wofür es gute Gründe gibt. Aber, indem das betont wird, werden seine Idealität und unverminderte Gültigkeit als Norm bestätigt. Das historische Gedächtnis der Gesellschaft hinsichtlich der zentralen Orte ihrer Reproduktion, in denen die kulturelle Qualität ihres Lebens und Zusammenlebens immer erneut hergestellt und weiterentwickelt wird (werden muss) – ohne deshalb unbedingt fortzuschreiten! –, ist nicht mit Autoschnellstraßen, Parkhäusern oder postmodernen Fassadenklebereien, mit städtebaulichem Graffiti, zu beruhigen oder gar still zu stellen.
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Raumbilder Das soziale Kulturmodell lebt, wenn auch vorwiegend in seiner nachklassischen, bildungsbürgerlich ausgedünnten Spätform, lebenspraktisch weiter und bestimmt noch immer in Teilen der Gesellschaft soziale Distinktionsweisen, selbst wenn längst ein anderes Kulturmodell die Leitfunktion in den modernen kapitalistischen Industriegesellschaften übernommen hat. Und es verbreitet noch immer den Glanz seines Kernbildes, des autonomen Individuums, und zwar nicht in seiner aufklärerischen Version sondern in der Fassung des renaissancehaften Besonderen, Einmaligen, eben des Subjekts seines Schicksals und seiner Welt. Und das so sehr, dass in der Phase seiner scheinbaren Besiegelung, in unserer Gegenwart, die Konsumgüterindustrie es problemlos aus den alten ideologischen Beständen restaurativ modellieren und mit seinen Waren zum Besonderen ausstaffieren kann. Die formale Anschlussfähigkeit dieser traditionellen Figur ermöglicht und sichert erst ihre massenkulturelle Transformation; und die macht sie wiederum zur Grundlage eines neuen, des ökonomischen Kulturmodells. In ihm wird diese Grundlage allerdings zum reinen Formbegriff, der modischen Gestaltungen unterworfen werden kann. Einen ähnlich formal tradierten Charakter hat das historische Raumbild, das dem alten Kulturmodell angehört. Auch es ist anschlussfähig und erfüllt dabei wie jenes eine Doppelfunktion. Einerseits ist es eine Figur des Leidens, des Leidens an einer verloren gegangenen, vorgeblichen Fülle, der Erfülltheit guten städtischen Lebens. In diesem Sinne bleibt es Anknüpfungspunkt einer (konservativen) Stadtkritik. Andererseits ist es gerade mit seiner in dieser Erinnerungsfunktion restituierten Lebendigkeit Gegenstand der Transformation in neue, inszenierte Stadtbilder. In diesen beiden Traditionslinien konstituiert sich der seit Ende des 19. Jahrhunderts normativ hoch aufgeladene Begriff Urbanität. Denn im Italienischen, woher dieses Phänomen ja historisch stammt, und das für viele Menschen noch immer das Idealbild (kern-)städtischer Kultur und eben von Urbanität bietet, bedeutet Urbanità einfach Höflichkeit, bezeichnet also jene förmliche Distanziertheit, die den Verkehr unter Fremden in einer dicht besiedelten Stadt erträglich oder sogar zum Gegenstand des sozialen Genusses macht. Lokale Lebensform und Verkehrsform werden hier also semantisch so identifiziert, dass der normative Gehalt des Begriffs nicht aufkommen kann, außer vielleicht im Sinne der notwendigen Kongruenz beider Formen, die indessen historisch variabel sein kann und insoweit nicht festgelegt ist. Über Standards lässt sich also nichts aussagen. Etwas Ähnliches kann sich in Deutschland na43
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türlich nicht vollziehen, da die Urbanisierung ein spätes Projekt der Industrialisierung ist. Verkehrsformen haben sich also nicht als ein städtischer Vergesellschaftungsmodus ausbilden können, sondern – und hier meist noch aus Frankreich übernommen – im, um bei Elias’ Begriff zu bleiben, im Zuge des Zivilisationsprozesses als Etikette, ausgehend vom Hofe. Höflichkeit als Verkehrsform und städtische Lebensform liegen hier also nicht in einem semantischen Feld, was die Möglichkeit eröffnet, letztere als Urbanität normativ aufzublasen und diesen normativen Gehalt ständig neu zu deuten. Das Entscheidende an diesem Vorgang ist schließlich, dass das historische Raumbild im Zuge der Herausbildung der kapitalistischen Gesellschaft mit ihrer Verstädterung, in der sich diese Gesellschaft vergegenständlicht und reproduziert, in den Weltgegenden als Ideal übernommen wird, in denen die neue Gesellschaftsform sich ausbreitet und in denen die neuzeitliche Stadtkultur (als geschichtlich ältere Formation) nicht entstanden ist, von einigen zentralen Orten abgesehen, wie Paris oder London. Aber nicht erst die Resultate der industriellen Urbanisierung ruhten auf manifesten, interessenbestimmten Grundlagen. Bereits das historische Raumbild mit seiner weit ausgreifenden Erzählung von der geordneten und guten Stadt ist keine ideale Schöpfung, sondern reflektiert materielle, vor allem politische und wirtschaftliche Veränderungen der Städte Norditaliens am Ausgang des Mittelalters. Das so universalistisch angelegte Kulturmodell wird ja während einer Phase ausgebildet, in der sich ursprünglich meist militärische oder, wie in Florenz, wirtschaftliche Eliten mit der Übernahme des Stadtregiments refeudalisieren und in zwischenstädtischen Kriegen ein Territorium zur laufenden Ausbeutung um ihre Städte arrondieren. Gerade das Florenz der Mediceer zeigt paradigmatisch, wie sich in diesem Prozess die politischen Eliten mit den humanistischen Intellektuellen als den Modellbauern und mit den Künstlern als ihren Propagandisten vernetzen und als Trägerkollektiv mit unterschiedlichen Funktionen Stadt- und Kulturbild nach ihrer Lebenspraxis entwerfen. Oder was ist die Platonische Akademie, was sind Botticelli oder Vasari anderes? In den Städten der Visconti, der Este und der Sforza verhält es sich nicht anders, wobei eine Nebenlinie der letzteren immerhin mit Sabbioneta versucht hat, das Raumbild Stein werden zu lassen, ein Unternehmen, das im Interesse des Nachlebens des Bildes erfreulicherweise nicht zu Ende geführt werden konnte.
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Die Industriestadt des 19. Jahrhunderts Tatsächlich bildet sich im 19. Jahrhundert ein neues Stadtbild aus, das mit einem völlig neuen Stadttyp entsteht, der Industriestadt. Diese entfaltet sich nur in einzelnen Fällen durch Ankopplung an bestehende große oder größere Städte, entsteht aber im allgemeinen auf dem Lande, weil der vorherrschende Industrietyp der der extrahierenden Industrie ist (Erzbergbau, Kohleförderung, Stahlgewinnung), also dem primären Sektor angehört und deshalb dort angesiedelt werden muss, wo es etwas zu extrahieren gibt. So entstehen die Industriegebiete als Großagglomerationen, in Deutschland das Ruhrgebiet, das (schon ältere) sächsische und das schlesische Industriegebiet, die Reviere in Nordfrankreich und Lothringen/Saarland, die im Prinzip eine geschlossene Region bilden, in Mittelengland und Wales (hier schon hundert Jahre früher), innerhalb derer die städtischen Kerne ihrerseits wieder Großagglomerationen sind. Nur Hafenstädte wie Hamburg oder Bremen und Städte mit Zentralfunktionen wie London, Paris oder Berlin ziehen aus diesem Grunde umfängliche verarbeitende und Versorgungsindustrien für die rapide wachsende Bevölkerungsmasse an. Der Aufbau einer Verkehrsinfrastruktur (Eisenbahn, Dampfschifffahrt) zur Vermittlung der Güter- und Menschenströme wird zum primären Motor der Industrialisierung wegen ihres enormen Verbrauchs an Sachgütern und menschlicher Arbeitskraft (selbstverständlich neben der ebenfalls boomenden weil die Armeen mit neuen, industriellen Waffen ausrüstenden Rüstungsindustrie, die ihrerseits den Infrastrukturausbau forciert). Der nächste Industrialisierungsschub kommt mit dem Auto und seiner zugehörigen Verkehrsinfrastruktur; und der dritte, gegenwärtige Industrialisierungsschub wird getragen von den Neuen Technologien, die durch ihre Verkopplung von Informations- und Fernmeldetechnik im Kern von vornherein primär eine Verkehrsinfrastruktur darstellen, die jetzt umgekehrt wie beim Auto eine noch nicht absehbare Palette von Folgeprodukten nach sich zieht. Industrialisierungsgeschichte ist also bis heute die Geschichte der sich ablösenden Verkehrssysteme mit zwangsläufig und weitgehend verhängnisvollen Auswirkungen auf die der Straße zugewiesenen Funktionen. Spätestens mir der Charta von Athen verliert die Straße ihre Multifunktion als gleichzeitig Bewegungs- und ortsabhängiger Erfahrungsraum. Die Trennung der Bewegungsabläufe ist ganz einem rationalistischen Denken geschuldet, in dem für unnötige Reibung kein Platz ist. Dabei lebt das ins 18. Jahrhundert zurückreichende medizinische Modell der ungehinderten Blutzirkulation in solcher Rede vom Zentrum als Herz, dem Bypässe gelegt werden müssen, argumentativ fort. Ein Beispiel dafür sind die in die 1920er Jahre zu45
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rückreichenden Planungen der „Mozarttrasse“25 zugunsten der Entlastung der Innenstadt. Ihre Verwirklichung, die zur Zerstörung des Ostertorsteinwegs/Vor dem Steintor und des gesamten Quartiers, des sogenannten „Viertels“, geführt hätte, konnte im Dezember 1973 in letzter Minute noch verhindert werden. Alle drei Phasen der Transformation des Verkehrssystems bringen auch eine Veränderung der Stadtstrukturen und der jetzt immer stärker ausgenüchterten Raumbilder mit sich. Deren substanzieller Kern bleibt freilich, trotz aller Beschwörungen eines postindustriellen Zeitalters, die Industriestadt, die sich jedoch nunmehr in einem ständigen Transformationsprozess befindet. Die zugehörigen Raumbilder transformieren sich ebenfalls, aber in ihnen bleiben stets Elemente des historischen Raummodells gärend enthalten und sei es zuletzt – wie in Berlin – nur noch als Legitimationsfassade. Vor dem Hintergrund des statischen und geschlossenen historischen Raummodells, das, wie gesagt, noch immer als Wunschbild aus unserer Erinnerung aufsteigt und weitgehend das Dispositiv vom städtischen Leben prägt, gewinnen die neuen Raumbilder dieses Jahrhunderts, die Transformationen der Industriestadt darstellen, eine verhältnismäßig klare Kontur. Mit ihnen auch die kulturellen Prozesse, die darin ablaufen und die man ebenfalls in einem Kulturmodell zusammenfassen kann. Diese Kontur wird überwiegend als Verlust begriffen und oft in Metaphern des Endes, des Todes, des Unterganges beschrieben.
Elite und historisches Raumbild Determinierende Größen aller städtischen Raumbilder als soziale und stadträumliche Ordnungsmodelle sind ihre Konstrukteure und ihre Träger, getrennte, aber stark vernetzte Personenkreise. Das historische Bild wird getragen von den neuen städtischen Eliten, die ihre Stellung den Machtquellen verdanken, mit denen sie ihren Reichtum gewinnen: Krieg, Raub, Handel und Geldgeschäfte. Die Stärke und Besonderheit dieser Figuren liegt schon allein darin begründet, dass sie sich selbstbewusst über das ganze mittelalterliche System von Normen und Sanktionen hinwegsetzen mussten, mit denen gerade diese einträglichen Tätigkeiten überzogen waren. Dabei blieb das Bewusstsein der Sündhaftigkeit durchweg virulent. Vor den Folgen dieser Sünden in der Ewigkeit schützte man sich meist durch großzügige Schenkungen an die Kirche
25 Siehe den Beitrag von Katja Gazey in: Müller/Dröge: Die Straße, S. 97106. 46
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gegen Lebensende, die damit an der Entwicklung ebenfalls profitabel partizipierte und in Figuren wie Julius II oder Alexander VI ihrerseits durch die Lieferung von Prototypen des neuen Subjektgenres den Trend verstärkte. Andererseits ist das Sündenbewusstsein typenkonstitutiv: die dauernde Grenzüberschreitung formt zu jener Zeit erst den Stoff, aus dem sich Persönlichkeiten formen lassen. Und betrachtet man später die bekannten Figuren der kapitalistischen Gründerzeit, z. B. die amerikanischen Eisenbahnkönige, die Rockefellers, Fricks oder Vanderbilts, so haben für sie die bürgerlichen Gesetze oder die Menschenrechte in etwa dieselbe Funktion wie der religiöse Regelkanon für die RenaissanceMenschen: sie gelten für die anderen, können aber für den eigenen Vorteil brutal verletzt werden. Verbündet waren diese Eliten in unterschiedlichen Koalitionen mit der Kirche, durch die das räumliche Ordnungsbild mit der augustinischen Zwei-Staaten-Theorie als Abbild der Civitas Dei im gerechten und geordneten Regiment identifiziert werden konnte. Die eigentlichen Konstrukteure des Bildes sind die humanistischen Intellektuellen, die Künstler und die meist beiden Gruppen angehörenden Fortifikationsingenieure, die Sicherheitsspezialisten in den kriegerischen Raubaneignungen, die durchweg als Belagerungskriege geführt wurden. Die Allianz dieser Gruppierungen war eine Gemengelage höchst unterschiedlicher Motive, die aber in dem gemeinsamen Interesse an einem starken säkularen Gemeinwesen resultierte, das seine Herauslösung aus dem mittelalterlichen Ordo (unter Beibehaltung vieler seiner Strukturen, z. B. das Zunftwesen, das sogar durch noch stärkere Hierarchisierungen weiter gestärkt wurde) eben kulturell und mit einem neuen Menschenbild kompensierte.
Elite und Raumbild der Industriestadt Die Verhältnisse verschieben sich im 19. Jahrhundert grundlegend. Die explosionsartige Verstädterung, die nicht mehr hintergehbare Einsicht in die städtische Wachstumsdynamik machen ideale und stabile Stadtbilder fortan obsolet. Ihre Konstruktion geht jetzt in die Hände von Planungsbürokratien über, die in den schnell wachsenden Städten aufgebaut und einem doppelten Regelkanon unterworfen werden: einer staatlichen und einer kommunalen Baugesetzgebung. Diese Regelwerke standardisieren Ansprüche und Planungsinstrumente auf nationaler Ebene und ermöglichen zugleich lokale/regionale Traditionsbildungen. Die Planung erfolgt weiterhin zentrifugal von innen nach außen, aber die Perspektive ist nicht mehr eine Raumverteilung, die eine natürliche hierarchische Sozi47
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alordnung reflektiert, sondern Aufrechterhaltung, Ausbau und Verstärkung der zentralen Funktionen der Stadt im Innern und eine möglichst schematisierte Integration des Bevölkerungs- und Gewerbewachstums (Stadtentwicklungspläne, Bebauungspläne) von innen nach außen. Orientierungslinien hierfür sind städtische Verkehrsinfrastrukturen (Bahnen, Straßen), die an das im Aufbau befindliche überregionale Verkehrssystem (Eisenbahnen, Schifffahrtslinien) angekoppelt werden, wodurch sich die Städte eines Gebiets wie die in ihnen beheimateten Gewerbe vernetzen. Träger der städtischen Entwicklung und mithin der neuen Raumbilder ist zunächst nur sehr begrenzt der Staat. Es sind vor allem lokale Interessen, die hier maßgeblich werden, lokale Gewerbeinteressen, Grundbesitzer, traditionelle und neue Honoratioren, Bildungs- und Kultureliten, stadtbürgerliche Interessen an einer geordneten Stadt mit gutem eigenen Wohnumfeld, entsprechend auch an Segregation und Gettoisierung der neuen zuwandernden Unterschichten und proletarischen Klassen. Das wiederum führt zur Polarisierung und Lokalisierung unterschiedlicher kultureller Felder (Theorie der zwei Kulturen und der kulturellen Hegemonie). Diese Interessen bilden je nach Gewicht in Tradition und faktischer Durchsetzungsmacht in den verschiedenen Städten unterschiedliche Koalitionen und Regimenter, die vor der Folie eines einheitlichen industriestädtischen Raumbildes zu z.T. erheblichen lokalen Sonderausprägungen führen.
Fordistische und postfordistische Stadt In der Phase fordistischer Industriestädte ändert sich an dieser Konstellation der determinierenden Größen im Grundsatz wenig bis nichts. Trotzdem ändert sich das Gesicht der Städte gewaltig. Vor dem Hintergrund nicht nur des historischen Raumbildes sondern inzwischen auch des klassisch-industriestädtischen beginnt das, was kulturkritisch oft als Zerfall oder Funktionsverlust der Stadt beschrieben wird, womit aber im Prinzip lediglich die Innenstadt gemeint ist. Der Grund liegt primär, wenn auch nicht ausschließlich, darin, dass sich die Planungsparameter unter dem Eindruck des neuen fordistischen Produktionssystems mit seiner Leittechnik, dem Verkehrssystem Automobil, grundlegend verändern und nicht mehr vollständig in der Hand der lokalen Träger konzentriert sind. Denn immer mehr überörtliche Interessen, vor allem staatliche am Verkehrswegebau und am Wohnungsbau schlagen immer stärker als unkontrollierbares Anforderungsprofil in die lokale Planungshoheit durch. Sie erzwingen rationelle, standardisierte Lösungen, die besonders
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mit der Bildung von Suburbs die Charakteristika der fordistischen Stadt ausmachen. Die Konstellation ändert sich abermals fundamental in der zeitgenössischen, postfordistischen Modernisierungsphase, deren Raumbild in der Literatur26 als „postmoderne Stadt“ bezeichnet wird. Oder vielmehr kumulieren hier Wirkungen und konstituieren eine neue Interessenkonstellation von Entwicklungsträgern, deren Ursachen z.T. in die fordistische Ära zurückreichen, jedoch während ihrer fundamentalen Krise in den siebziger Jahren in Gang gesetzt wurden. Zunächst tritt der Staat durch eine generelle im ganzen Westen ablaufende Deregulierungspolitik, die die Autonomie der Unternehmen stärkt, stark zurück. Die lokalen Interessen gehen vollends in die Knie, durch radikale Schrumpfung des früher stark das örtliche Gepräge bestimmenden alten Mittelstandes, durch finanzielle Anforderungen (Sozialpolitik, Infrastrukturerneuerung, Restrukturierung, erhöhte Elendsmigration), die fiskalpolitisch in eigener Hoheit nicht aufzufangen sind. Die gewerblichen Interessen delokalisieren, ihre Vertreter sind mobile, ortsunabhängige Manager, die kaum noch lokale Interessen besitzen.27 Das heißt aber nicht nur, dass sie als Rückgrat aus den traditionellen Trägerschaften rausbrechen, sondern auch, dass sie jetzt am ehesten als Anspruchsteller an örtliche Gegebenheiten, z. B. an die Verfügbarkeit und Qualität kultureller und Ausbildungsinstitutionen für ihre Kinder auftreten, die sie nicht mehr selbst – auch finanziell – mitgestalten wollen, sondern die in einer Angebotspalette der in diesen Punkten konkurrierenden Städte optimal aufgemischt sein müssen. Im Verursachungsfeld dieser Entwicklungen steckt wieder eine neue Verkehrsinfrastruktur, die Informationstechnologie, die das neue postfordistische Produktionsregime nach sich zieht, und die Delokalisierung der Managementfunktionen begünstigt. Das bedeutet natürlich nicht, dass sie nicht mehr irgendwo verortet sind und auch weiterhin sein müssen; es bedeutet nur, dass sie nicht mehr an traditionelle Verortungen und an enge Raumbeziehungen zu ihren Produktionsorten gebunden sind, sondern erstere problemlos verlegen und letztere weiträumig, tendenziell global verändern können. Für die Städte bedeutet das eine verstärkte Flexibilisierung und Mobilisierung aller Prozesse, die den Ge26 Siehe u.a. Harvey, David: The Condition of Postmodernity: An Enquiry into the Origins of Cultural Change, Oxford/Cambridge: 1989; Zukin, Sharon: Landscapes of Power: From Detroit to Disney World, Univ. of California Press: 1991; Davis, Mike: City of Quarz, Berlin/Göttingen: 1994; Noller, Peter/Ronneburger, Klaus: Die neue Dienstleistungsstadt, Frankfurt/New York: 1995. 27 Sassen, Saskia: The Global City, New York/London/Tokyo. Princeton Univ. Press: 1991. 49
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danken städtischer Gesamtplanung langsam aber zunehmend außer Kraft setzen und damit auch die Vorstellung strukturierungsfähiger Raumbilder. Die Konsequenz ist für viele Städte dann auch eine Deregulierung der Stadtplanung, d. h. ihre Überstellung in einen kommerziellen Interessenzusammenhang, der von privaten Trägern, aber auch von den traditionellen kommunalen Ämtern realisiert werden kann. Welche Erosionen gerade letzteres nach sich ziehen kann, liegt auf der Hand. Hierfür müssen in jedem Fall die staatlichen und kommunalen, standardisierten Planungsvorgaben abgebaut werden, was unter dem Stichwort „Beseitigung unnötiger Bauhemmnisse“ politisch traktiert und durchgesetzt wird. Die Folge davon kann sein und ist immer häufiger, dass ganze Stadtbezirke zunehmend aus der Planungsverantwortung der Städte herausgelöst und privatem Gestaltungsinteresse übergeben bzw. verkauft werden. Das Weichbild der Stadt löst sich so in öffentliche und private Zonen auf: Träger und Raumbildkonstrukteure fallen in den privaten Zonen zusammen, werden identisch und sind öffentlich nicht mehr kontrollierbar: Um die mächtigen, raumwirksamen Wirtschaftsinteressen versammelt sich eine Entourage von Großarchitekten, die Raumgestaltung als Objekt, bestenfalls noch als Ensemblegestaltung betreiben und dies zumeist noch in postmodernen Ideologien verankern, die sie selbst kreieren. Bekanntestes Beispiele hierfür in Deutschland ist Berlin in seinem Ausbau zur Hauptstadt des Landes und mit seinen riesigen Sanierungsflächen, die durch die Auflösung der DDR und die Planierungspolitik der westlichen Nachfolger entstanden sind. Aber nahezu alle Städte gehen mit größeren oder kleineren Teilen ihres Areals zu dieser Praxis der Planungsauslagerung und -kommerzialisierung über, wenn sich nur Interessenten für ihren Besitz finden, um die nunmehr die Städte mit ihren räumlichen „Filetstücken“ konkurrieren.
Zusammenfassung Wenn das nun die hauptsächlichen Determinanten und Parameter moderner und nachmoderner städtischer Raumbilder sind, wie könnte man sie dann in wenigen Worten charakterisieren, was ist sozusagen das Grundelement ihres Aufbaus? Das historische Stadtraumbild ist das einer um ein starkes Zentrum herum strukturierten sozialen und baulichen Wohlgeordnetheit, die ihre Grenze massiv definiert und sich darin abschließt. Die klassische Industriestadt, in ihrer spezifischen, verkehrsbedingten Kultur von Georg
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Simmel28 beschrieben, bietet das Bild einer nervösen, weiträumig zentrifugal und zentripedal um ihr Zentrum oszillierenden, jedoch grundsätzlich expansiven Bewegtheit, in der die Grenzen ständig nach außen verschoben werden. Die fordistische Stadt ist durch ihre vorwiegend zentrifugale Mobilität von einem schemenhaft werdenden Zentrum weg charakterisiert, wobei sich die Grenzen nicht mehr einfach verschieben sondern im Umland auflösen. Der Bewegungsmodus der postfordistischen oder postmodernen Stadt – einen stabilen Zustand kennt die Industriestadt nicht mehr – ist fließend. Grenze ist keine Raumkategorie mehr für sie, weil in ihrem Areal selbst Zentrum und Peripherien sich fließend ablösen – zeitlich und räumlich – und auch ihre Lage verändern können. Das klassische urbanistische und stadtsoziologische Kontinuitätsdenken, das an den massiven Charakter der gebauten Umwelt gebunden war, verliert an Evidenz und Plausibilität. Der neue Bewegungsmodus wird dadurch ventiliert, dass die traditionelle industriestädtische Planungshoheit durch die oben angesprochenen Prozesse in eine Entscheidungs- und Ereignisabhängigkeit überführt worden ist. Die Stadtentwicklung wird immer abhängiger von Standortentscheidungen der delokalisierten, überregionalen, zunehmend globalisierten Wirtschaftsinteressen und von Ereignissen, die dadurch produziert werden, dass Armut und Reichtum nicht nur in den Städten enorm wachsen, sondern zugleich auch nicht mehr traditionell großräumig segregiert (Westend - Eastend) und sonderkulturell organisiert sind. Sie verzahnen sich vielmehr in den einzelnen innerstädtischen Bereichen und werden durch die weltweite Elendsmigration, eine direkte Folge der Internationalisierung der Kapitalkreisläufe, nicht mehr nur in den USA sondern auch in Europa zunehmend ethnisiert. Das ist eine potenzielle Konfliktkonstellation, deren verschiedenförmige Aktualisierungsmöglichkeiten nach den vorliegenden US-Erfahrungen Städte entweder als Folge der durch sie hervorgerufenen Ereignisse oder prohibitiv (um sie zu verhindern) einem ständigen Restrukturierungsdruck unterwerfen werden. Bei diesem postfordistischen Determinationsszenario mit seinen Folgen für die postmoderne Stadt bleibt allerdings eines unberücksichtigt, was einer genaueren Analyse unterzogen werden muss: In wieweit lokale und regionale kulturelle Traditionen ihm entgegenwirken, es modifizieren oder auch in Einzelfällen beschleunigen. Wie weit solche Dinge den Charakter der angesprochenen Ereignisse beeinflussen, wie weit 28 Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben, in: Simmel, Georg: Brücke und Tür, Essays, Stuttgart: 1957, S. 227-242. 51
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sie aber auch in die ebenfalls angesprochenen Entscheidungen als adaptive Parameter eingehen. Denn trotz der scheinbar unaufhaltsam zum Primat in der Gesellschaft anschwellenden Bedeutung der Ökonomie, der, um sie zu gewinnen, buchstäblich alles, auch Grund und Boden der Städte, untergeordnet werden, müssen die entscheidenden Größen städtischer Entwicklungen politisch und kulturell gestaltungsfähig bleiben. Doch wie stets ist dies auch eine Frage nach handlungsfähigen Trägern einer solchen Gestaltung. Klammert man die aus der Analyse aus, unterwirft man sich dem Bild von der Naturwüchsigkeit und damit Unabwendbarkeit dominanter Prozesse, dann akzeptiert man die große Erzählung von den Sachzwängen wirtschaftlichen Überlebens, die angeblich alle großen Erzählungen der Vergangenheit, die von menschlichem Glück und fortschreitender Humanisierung der Welt handelten, gegenstandslos gemacht und funktionalistisch zertrümmert hat. Unsere Auseinandersetzung mit der urbansten Straße Bremens liegt jetzt mehr als zehn Jahre zurück. Ihre Lebendigkeit hat sich in der Zwischenzeit eher noch verstärkt, allerdings zu Ungunsten der neuralgischen Orte, vor allem dort, wo man Drogen dealte und nahm. Sie sind pazifiziert, entweder verdrängt durch verstärkte Überwachungsmaßnahmen oder solche der architektonischen Verhübschung. Es gibt inzwischen mehr Szenekneipen, die unvermeidlichen Coffeshops, Haircut-and-goStudios der schnellen und auch noch nachts arbeitenden Art und – nicht
Abb. 2: Ostertorsteinweg, Bremen.
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STRASSE UND INTEGRATION
zu übersehen – die wachsende Zahl kreativer Modedesignerinnenläden. Auch ist die Straße in ihrem der Innenstadt zugewandten Teil nach wie vor distinktiver Ästhetisierung ausgesetzt. Und doch und gerade deshalb ist der Ostertorsteinweg/Vor dem Steintor immer noch der in der Versammlung des Verschiedenen auffälligste, toleranteste und diskursiv offenste städtische Raum Bremens. Wobei die Frage nach den handlungsfähigen Trägern einer gegen die Imperative des ökonomischen Kulturmodells gerichteten Gestaltung der Stadt sich hier sicherlich ein Stück weit beantworten lässt. Allein der Zugang zu den historischen Erzählungen der Stadt kann sich in solch einem Stadtraum ganz anders abspielen, ohne dass dabei sofort Sentimentalität und Verdrängung des Gegenwärtigen ins Spiel kommen müssen. Wo der eingangs erwähnte Konflikt zwischen Funktion und Bedeutung zutage tritt, muss das nicht immer vom modernen Leben und seinen gegen die historische Semantik gerichteten Imperativen ausgehen. Die gemeinhin gebräuchliche Haltung, bestenfalls collagierend etwas Neues in ein Verhältnis zu etwas Altem zu setzen, kann sich hier in der Straße auch umkehren, wenn durch Akzentuierungen historischer Kontexte etwa in Gestalt bearbeiteter und sichtbar gemachter Biografien Einfluss genommen wird auf die in der Gegenwart gelebten Biografien der Menschen, die durch ihre Praktiken beständig Bedeutungen prozessieren.
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D R E I S T AD T M O D E L L E
Die europäischen Stadt der Moderne hat drei dominierende Stadtmodelle hervorgebracht: Am Anfang steht das die Industriestadt des 19. Jahrhunderts charakterisierende Expansionsmodell. Ihm folgt das Mobilitätsmodell der fordistischen Stadt mit den Szenarien der Verkehrsgerechten Stadt, der Trabantenstadt und der Suburbanisierung. Hier verschmelzen Mobilität und Konsum zu einer Einheit. Dem erneuten Wachsen der Städte seit den 1980er Jahren in globalen Dimensionen korrespondiert eine fließende Stadtstruktur.
Das Expansionsmodell Das klassische Raummodell der frühen Neuzeit war das einer sozialen Wohlgeordnetheit, die ihren äußeren Ausdruck in einer harmonischen räumlichen Ordnung findet. Raum und städtische Gesellschaft sind kongruent. Hierin manifestiert sich eine neue, verweltlichte Interpretation der tradierten Ordo-Vorstellung. Es ist nicht so, dass diese Stadt kein eigenes ökonomisches Fundament gehabt, gewissermaßen nur und ausschließlich parasitär vom Lande gelebt hätte. Das hatte ihre mittelalterliche Vorgängerin in der handwerklichen Produktion bereits, und die hält sich durch. Die Stadt erfasste eine ökonomische (geldwirtschaftliche) Modernisierung, die sie neu ordnete und das Raumbild mit verschiedenen Erzählsträngen strukturierte. Nur: diese Ökonomie wurde in der Gesamtheit ihrer Komponenten für stabil, für eine ideale Gleichgewichtsökonomie gehalten, in der jeder seinen gerechten Anteil bekommt, was durchaus eine Theorie und Praxis sozialer Ungleichheit einschließt und die außerdem in einer korporativen Ordnung zwangsweise gesichert war. Die moderne Großstadt verdankt sich der Industrie, seit dem neunzehnten Jahrhundert ist sie auf dem Kontinent und früher in England die
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STADT UND KULTUR
Industriestadt. Sie kann nicht mehr das Selbstbild aufrechterhalten, sie sei die ideale Verräumlichung eines korporativen Ordnungszusammenhanges. Sie will es vor allem auch gar nicht, denn gerade die starren Fesseln des Korporatismus aufzulösen, jedermann aus überkommenen Bindungen freizusetzen, dies ist ein vitaler Imperativ des Industrialismus und seiner Stadt. Die industrielle Grundlage der Stadt ist ein dynamischer Produktionsprozess, der auch sie sozial und räumlich dynamisiert. Diese Dynamik ist expansiv. Allerdings ist das keine grundsätzliche Eigenschaft der industriellen Produktionsweise sondern liegt historisch darin begründet, dass sie sich mit dem Kapitalismus verbindet. Und wie Marx, aber auch die moderne Wachstumstheorie zeigen, kann Kapital nur existieren, wenn es sich auf stets erweiterter Stufenleiter reproduziert, also wächst. Die Dynamik dieser Expansion, die ja Raum „verbraucht“, dabei aber auch Raum schafft und gestaltet, insofern sich Betriebe ansiedeln und ausdehnen, die industrielle Arbeitsteilung neue Industrien schafft und vor allem dadurch, dass immer mehr Arbeitskräfte angesiedelt werden müssen, teilt sich mithin zwangsläufig der Stadt mit, die die Expansionsbewegung der kapitalistischen Industrie mitmacht. Die soziale Strukturierung der Industrialisierung verläuft durch die kapitalistische Eigentumsordnung, in die er eingepuppt ist, bekanntlich klassenbildend und zugleich mit einer relativ starken Abschichtung vor allem am bürgerlichen Ende der polaren Klassenstruktur. In dieser Schichtung finden sich in besonderem Maße die „gebildeten Stände“, die eigentlichen Träger der bürgerlich-nationalistischen Hegemonialkultur. Mit ihrer Individualitätskonzeption illegitimiert sie die an der Erfahrung einer kollektiven Unterworfenheit und daraus resultierender Solidarität orientierte soziale Beziehungskultur des Proletariats und grenzt sie aus. Nachdem der kapitalistische Industrialismus die dominante Reproduktionsweise der städtischen Gesellschaft geworden ist, ist die Klassenteilung ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Von einzelnen Industriestandorten auf dem Lande abgesehen formiert sie sich in der Stadt und bestimmt die städtische Sozialtopografie. Entsprechend ist die räumliche Verteilung der Klassenkulturen segregiert. Dieser Typus von Verräumlichung, der ein hohes revoltisches Potenzial in den segregierten proletarischen Lebenswelten mit ihrem Elendskontext birgt, lässt in der subjektiven Wahrnehmung vor allem des Kleinbürgertums die Stadt als einen riskanten Lebensort erscheinen, was die konservative Stadtkritik aus diesen Schichten heraus begründet. Andererseits ist die so zerrissene und sozial gespaltene Stadt mit ihren widersprüchlichen und hektischen Bewegungsmomenten für viele bürgerliche Intellektuelle eine zwar riskante, aber vitale und zukunftsweisende Lebensform, eine sehr ambivalente Haltung. Sie bringt gewissermaßen 56
DREI STADTMODELLE
als Gegenposition zur Stadtkritik im Lager der bürgerlichen Kultur selbst eine zwar sozialkritische, aber nicht die Stadt selbst verdammende Großstadtliteratur und -kunst hervor, aus der sich nach der Jahrhundertwende eine in Teilen geradezu stadteuphorische Avantgardekunst herausbilden sollte. Tatsächlich wird in dieser Frühphase avantgardistischer Kunst, besonders in der expressionistischen Stadtdichtung oder der italienischen futuristischen Malerei aus der Negation der bestehenden städtischen Verhältnisse das als positive Zukunftsmusik intoniert, was schon immer wesentlicher Kern der Selbstdeutung im expansiven Raumbild der Stadt gewesen ist. Hierfür sind einige Sätze zu den Mechanismen der industriestädtischen Expansion angebracht. Sie erfolgt keineswegs so chaotisch wie die frühe Industrieansiedlung. Es ist im Gegenteil die Zeit der bedeutenden Stadtplaner: Traditionelle Stadtviertel werden gelichtet und nach rationellen Gesichtspunkten neu geordnet. Hier gibt es vor allem zwei Planungsvorgaben: Ausdünnung – keineswegs völlige Vertreibung – der städtischen Kernbereiche von der Wohnbevölkerung zur repräsentativen Neuansiedlung bzw. Ausdehnung zentralisierter politischer, ökonomischer und sozialer Funktionen (wachsende Stadtverwaltungen und politische Institutionen; Firmenverwaltungen; Handelszentralisierung: Entstehung innerstädtischer Kaufhäuser; Niederlassungen von Versicherungen, Banken und Sparkassen; Rechtsanwalts- und Arztpraxen). Zum anderen: eine planvolle und strukturierte Expansion der Agglomerationen von Industrieansiedlungen und gegen den Kernbereich hin gettoisiertem Arbeiterwohnen. Und hierfür gibt es angesichts der enormen sozialräumlichen Verdichtungen unhintergehbare strukturelle Anforderungen: Das sind die mit der modernen Industriestadt entstehenden Versorgungsinfrastrukturen: primär Kanalisation und Wasser, sekundär Gas und schließlich Strom. Und natürlich die Verkehrsinfrastrukturen aus Straßen, Bahnen. Stadtplanung wird Raumstrukturierung, in deren Zentrum die rationelle Trassenführung aller Infrastrukturen steht. Es ist klar, dass diese Form der Stadtentwicklung die aus vormoderner Zeit überlieferten informellen, auf sozialen Nahbeziehungen beruhenden Vergesellschaftungsformen austrocknet. So weist Camillo Sitte1 daraufhin, dass der Brunnen seine hochgradig kommunikative Funktion verloren hat und nur noch ästhetische Wirkung besitzt seitdem das Wasser unterirdisch durch Leitungen in die Häuser gelangt.
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Sitte, Camillo: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. (1889). Reprint der 4. Auflage von 1909, Braunschweig/Wiesbaden: 1983. 57
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Damit wird Stadtleben in doppelter Hinsicht ein Zivilisationsprozess, der eine fundamentale Modernisierung im Sinne einer grundlegenden Transformation menschlichen Handelns der (agrarwirtschaftlichen) Vormoderne gegenüber in Gang setzt. Zum einen geht die zivilisatorische Modernisierung der Lebensverhältnisse von der strengen Temporalisierung der Fabrikdisziplin aus. Sie transformiert vor allem das Zeiterleben von einer zyklischen, in natürliche und intergenerative Lebensrhythmen eingebundenen Zeit in eine lineare, chronometrische, erlebnisfreie Zeit. Zum anderen geht die zivilisatorische Modernisierung von der privaten Teilhabe an öffentlichen Versorgungseinrichtungen aus. Das bindet die individuelle, subjektive Lebensführung an überindividuelle, bürokratisierte Mächte. Zerschlägt das Eine traditionelle Lebensrhythmen, so das Andere traditionelle Verkehrsbeziehungen. Diese zivilisatorische Leistung der früh-modernen Industriestadt setzt sich in großen Teilen der Stadt durchaus negativ, nämlich in den übervölkerten Elendsquartieren der segregierten Unterklassen durch. Trotzdem bleibt das expansive Raumbild in seiner dominanten Artikulation positiv. Denn es ist in die seit der Aufklärung aufblühende, mit der Industrialisierung mächtig anschwellende Fortschrittserzählung eingelassen. Diese wiederum ist aufs engste mit dem seit der bürgerlichen Gesellschaft sich fortspinnenden Gleicheitsdiskurs verbunden. Von daher konfiguriert im expansiven Raumbild der industriestädtischen Entwicklung eine utopische Erzählung, die die bestehende soziale Ungleichheit – denn es handelt sich ja auch um die Utopie des liberalen Gesellschaftsmodells – und ihre z. T. sicherlich grauenhafte städtische Inkorporierung in einer segregierten städtischen Geografie für ein historisches Durchgangsstadium hält. Es unterliegt keinem Zweifel, dass dieses Bild auch in den Zukunftshorizont des Proletariats eingegangen ist, sonst wäre der „revolutionäre Attentismus“ der Sozialdemokratie von seiner eigenen Basis hinweggefegt worden. Das ist die Erzählung, die die künstlerischen Avantgarden kulturrevolutionär aufnehmen und mit neuem Leben erfüllen wollen, nachdem sich historisch erwiesen hatte, dass die bürgerliche Interessenkombination den gesellschaftlichen Zustand der Städte weder materiell nach kulturell nach ihrem eigenen ideologischem Selbstbild verändern konnte, noch wollte. Bereits in dieser Entstehungsphase der modernen Großstadt wird aber auch deutlich, dass die Stadt nicht nur das Gefäß ist, das die Industrie aufnimmt, sondern dass sie zugleich die primäre Verwertungsbasis der kapitalistischen Industrie ist. Diese produziert sie nicht nur in ihrer räumlichen Struktur entsprechend ihrer eigenen Akkumulationsbedingungen, sondern in der Produktion der Stadt (Straßen, Gebäude, Infrastrukturen, Einrichtungen) reproduziert sie sich zugleich selber. Mit an58
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deren Worten, Urbanisierung und Industrialisierung sind zwei zirkulär verknüpfte Prozesse. Durch diese zirkuläre Verknüpfung reflektiert sich die expansive Kapitalakkumulation, wie oben gesagt, in der städtischen Expansion. Umgekehrt schlägt sich demnach eine Krise der kapitalistischen Ökonomie ebenso unmittelbar in einer Stagnation oder gar Krise der Stadt und ihren Vergesellschaftungsformen nieder. Das zeigt sich in den zwanziger und vor allem dreißiger und erneut in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts.
Das Mobilitätsmodell Das Industrialisierungsprojekt ist in allen industriekapitalistischen Ländern zunächst ein nationalstaatlicher Vorgang, der selbstverständlich überall mit einem zu unterschiedlichen Graden machtpolitisch und protektionistisch abgesicherten Welthandel verbunden ist. Die staatliche Regulierung dieses Vorganges ist sehr unterschiedlich ausgeprägt: in England und den Vereinigten Staaten schwächer, stärker im damaligen Deutschen Reich durch einen enormen staatlichen Konsum schwerindustrieller Produkte (staatlicher Infrastrukturausbau, Flottenbauprogramm). Dieses frühkapitalistische Akkumulationsmodell mit seiner Mischung aus extensiver und intensiver Arbeitsausbeutung und seiner immanenten Grenze, weite Teile der Gesellschaft weder produktiv noch konsumtiv der kapitalistischen Verwertung unterziehen zu können, kommt spätestens in den 1920er Jahren in eine schwere Krise, für die der bekannte Schwarze Freitag nur Symbol, nicht Ursache ist. Diese liegt im Akkumulationsregime selbst, das in seinem schwerindustriellen Wachstumsmodell über Kapitalgüter – für die es kriegswirtschaftlich bedingt vor dem und im Ersten Weltkrieg in allen beteiligten Staaten eine hohe Nachfrage gab – normalwirtschaftlich von einer permanenten Krise der Überproduktion bedroht war. Im Gebrauchsgütermarkt jedoch von einer Unterkonsumtionskrise, weil die Gesellschaft nicht weit genug dem kapitalistischen Verwertungsprozess unterworfen war und geldwerte Bedarfe durch Lohneinkommen mithin nicht stark genug ausgeprägt waren. Das Zusammentreffen beider Negativbedingungen macht die große Krise aus, die durch eine zyklische Austerity-Politik praktisch aller westlichen Regierungen verstärkt wird. Der soziale Austragungsort der Krise sind die Städte, in denen nicht nur die unbeschäftigten Arbeiter völlig verarmen, sondern auch Teile der Mittelschichten deklassiert werden, so dass die segmentierte Stadtstruktur zusammenbricht, sogar partiell ihre inneren Grenzen durch Elendswanderung verliert und auch in ihren zentralen Funktionen geschwächt wird. 59
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Der New Deal in den USA bringt ein neues Akkumulationsregime, das auf der mechanisierten Produktion von standardisierten Produkten für den Massenkonsum beruht, das als produktive Potenz in den Autofabriken von Ford in Detroit entwickelt worden ist. Dieses Modell kommt nach dem Zweiten Weltkrieg in der ganzen westlichen Welt zum Zuge. Der Fordismus, wiewohl mit dem Namen John Henry Fords verbunden, ist mehr als Fließbandproduktion und analytische Arbeitsplatzbewertung. Es ist vor allem ein neuer Akkumulationstyp der kapitalistischen Industrie, der standardisierte Massenproduktion, eine zugehörige Konsumplanung im Massenzuschnitt und eine staatliche und kommunale Infrastrukturpolitik zur abgestimmten Konkordanz bringt. Es handelt sich wie in der ersten Phase der Industrialisierung um ein wirtschaftliches Modell in nationalstaatlichem Zuschnitt, was nicht dagegen spricht, dass solche Ökonomien stark außenwirtschaftlich orientiert sind, wie etwa die amerikanische bis zum Zusammenbruch der Pax Americana oder bekanntermaßen die japanische und die deutsche Volkswirtschaft. Im fordistisch-keynesianischen Akkumulationsregime hat der Staat über seine durch die Infrastruktur induzierte Nachfrageregulierung eine starke Stellung in der Globalsteuerung des nationalen Wirtschaftsprozesses. Seine für die Stadtentwicklung wichtigsten Instrumente sind dabei der Verkehrswegebau und die Wohnungsbauförderung. Der Verkehrswegebau konzentriert sich auf nationale Fernstraßensysteme (z. B. Autobahnbau, Interstate-Highways) und den reibungslosen städtischen Verkehrsdurchfluss. Um den privaten Konsum anzukurbeln, werden öffentliche Verkehrssysteme – Träger der ersten Industrialisierung – planvoll vernachlässigt. Die Wohnungsbauförderung erfolgt durch staatliche Direktmaßnahmen – vor allem in Programmen des Sozialen Wohnungsbaus im Gefolge des städtischen Wiederaufbaus nach den Kriegszerstörungen –, im Zusammenhang mit Stadterneuerungsmaßnahmen oder durch steuerliche Begünstigung privaten Eigenheimbaus. Das hat im Wesentlichen drei urbanistische Szenarien zur Folge. Das erste ist die verkehrsgerechte Stadt. Deren Erscheinung resultiert in der heute weitgehend „erfolgreich“ abgeschlossenen Einschnürung, meistens zusätzlich noch der Durchfurchung der kernstädtischen Bezirke durch breite, schneisenartige Schnellverkehrsstraßen, die den ungehinderten Fußgängerverkehr selbst aus den näher gelegenen Wohnquartieren weitgehend abbinden. Diese innerstädtischen Schnellverkehrsadern sind an ein System von Ausfallstraßen angekoppelt, die die Stadt über das Fernstraßennetz mit allen anderen Städten des Landes verbinden. Ein zweites Szenario bilden die – im Idealfall bis in die späten 1970er Jahre, sozial durchmischten, d. h. desegregierten – Trabantenstädte als ausgelagerte und konzentrierte urbane Wachstumspuffer, die 60
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natürlich beträchtlich das motorisierte Verkehrsaufkommen (zum entfernt liegenden Arbeitsplatz, in die Innenstadt, zum Versorgungseinkauf) erhöhen. Das dritte Szenario schließlich bildet die Suburbanisierung, die in Deutschland die Form mittelständischer Stadtrandbesiedlung bzw. den Eigenheimbau in den selbstständigen Umlandgemeinden annimmt. All diese Entwicklungen der Industriestadt in der fordistischen Periode sind kein Naturprozess industrieller Evolution. Und sie wären noch um weitere Elemente der städtischen Geografie zu ergänzen, die die drei genannten Szenarien komplettieren und verzahnen: z. B. Konzentration des Einzelhandels in Großkaufhäusern in den Innenstädten; verstärkte Niederlassung von Dienstleistungsunternehmen aller Art; Exodus der innerstädtischen Wohnbevölkerung und der ortsansässigen Geschäfte, die durch Niederlassungen von landesweit, inzwischen international operierenden Kettenläden übernommen werden; die Entstehung von Großeinkaufsmärkten auf dem Lande mit günstiger Verkehrsanbindung und riesigen, Landschaft fressenden Parkflächen. Diese Entwicklungen verdanken sich vielmehr dem planvollen Ineinandergreifen aller Kräfte: des keynesianischen Staates, städtischer Wirtschafts- und Entwicklungsinteressen, dem sich zunehmend konzentrierenden Einzelhandel, der Konsumgüterindustrie (vor allem der von langlebigen Konsumgütern: Automobil-, Medien-, Möbel-, Küchen- und Haushaltsgeräteindustrie), der Gewerkschaften. Die letzteren deshalb, weil bis zur Krise dieses Wirtschaftsmodells in den 1970er Jahren das die vermutlich einzige Phase mit längerfristiger Vollbeschäftigung in der modernen Industriegeschichte außerhalb von Kriegszeiten gewesen ist. Die Gewerkschaften hatten dadurch im „institutionalisierten Klassenkampf“ eine Verhandlungsmacht wie nie zuvor oder danach, die sie nachhaltig für den Aufbau des Sozialstaats und erhebliche Einkommensverbesserungen einsetzten, so dass zwar noch nicht das bürgerliche Ideal der Gleichheit, wohl aber dessen milder Abglanz: soziale Gerechtigkeit materiell möglich erschien. Die Macht der Gewerkschaften resultierte vor allem aus einem hohen Organisationsgrad der Beschäftigten, der mit ihren Erfolgen stieg und aus der enormen Konzentration der fordistischen Industrien, deren Prototypen gigantische Fabriken sind, in denen zumeist nur wenige Modelle einer einzigen Warenkategorie hergestellt wurden. Wie schon gesagt, steht im Zentrum dieses Wirtschaftsmodells und Stadtentwicklungstyps das Automobil als Massenkonsumgut, d. h. die individuelle Beweglichkeit, die Mobilität des Menschen. Die macht ihn erst in umfassender Weise zum Konsumenten. Und der Konsumismus ist die Grundlage der fordistischen Ökonomie und ihrer staatlich-key61
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nesianischen Regulierung. Der Geograf und Stadtforscher David Harvey2 bezeichnet deshalb die fordistische Stadt funktional auch als „consumption artifact“, als welche sie die vorausgegangene Phase der Industriestadt als Produktionszentrum ablöst. Die konsumintensivste Innovation der fordistischen Stadt ist die mittelständische Suburbanisierung. Nicht nur in ihr, aber besonders in ihr manifestiert sich das, was Harvey den „genius of fordism“ nennt, der mit seinem Konsummodell die urbane Raumgestaltung für seine Reproduktion gleich mitproduziert. Denn diese Suburbanisierung macht nicht nur eine Vollmotorisierung des Einzelhaushalts erforderlich sondern provoziert den ganzen folgenden Ausstattungskonsum von Gartengeräten und Rasenmähern über Haushaltsmaschinen, gehobenes Serienmeublement bis zum Partykeller, der in der nachbarschaftlichen Konkurrenz der monotonen Reihen-Einfamilienhäuser oder auch der ebenso monotonen, frei stehenden Typenhäuser und L-Bungalows ständig erneuert und ergänzt werden muss. Hinzu kommt der mobilitätsbedingte Konsum von Landschaften und Räumen; der Massentourismus zu den italienischen und jugoslawischen Adriastränden, zur Costa Brava oder den griechischen Inseln erlebt seine erste Blühte. Nicht nur die Auto-, auch die Bus- und zivile Luftfahrtindustrie boomen. Gegen den Massenkonsum und die in ihm konstituierte Standardisierung der modernen Lebensweise rebellierte die intellektuelle Kulturkritik, in deren Zentrum der heute fast vergessene Vorwurf des „Konsumterrors“ stand. Rein stadtgeografisch produziert die Entwicklung ein bemerkenswertes Phänomen: Seit Beginn der Industrialisierung bis in die 1960er Jahre hinein waren die Städte immer gewachsen. Daraus resultierte ja das industriestädtische Raumbild der Expansion. Jetzt stagnieren sie, und in den richtig großen Städten ist das Bevölkerungswachstum durchweg negativ. Dahinter verbergen sich sozialstrukturelle und kulturelle Veränderungen, die mit den genannten urbanistischen Szenarien Hand in Hand gehen: Stagnation der produktiven Arbeit durch mechanisierte Rationalisierung und ihre Intensivierung, was zu zunehmenden, konsum-nutzbaren Freizeitbudgets führt; Zunahme der Angestelltentätigkeiten, gerade auch im mittleren und höheren Sektor, verbunden mit dem Wachstum akademischer Berufe; insgesamt ein anschwellender Mittelstandsbauch in der Einkommensstatistik. Diese Veränderungen, verbunden mit der Auflösung der traditionellen arbeiterkulturellen Lebenszusammenhänge und der individuellen Mobilität führen zu einer hohen Dispersion städtischer Wohnbevölkerungen im Raum, von denen 2
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Harvey, David: The Condition of Postmodernity: An Equiry into the Origins of Cultural Change, Oxford/Cambridge: 1989.
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die Suburbanisierung natürlich die hervorstechendste ist. Entleerung der Innenstädte und Wachstum der Verkehrsfläche an der Gesamtfläche der Stadt tun ein Übriges. So legen die städtischen Wachstumskoalitionen mit ihrem fordistischen, konsumorientierten Umbau der Großstädte zugleich auch den Grundstein für die bald aufziehenden städtischen Finanzprobleme (und für ihren eigenen Zerfall), indem die Steuerzahler im flachen Land verschwinden, aber alle städtischen Infrastrukturen, vom Bildungswesen für ihre Kinder bis zur Verkehrswegenutzung weiter frequentieren.
Consumer culture Kulturell ist diese städtische Formation also in erster Linie durch das bestimmt, was sie konstituiert, durch den Konsum. Es handelt sich um eine Consumer culture. Diese hat in jener Phase eine wenig differenzierte Massenstruktur, die durch ein entsprechendes standardisiertes Massenangebot aus allen Sektoren der fordistischen Industrie bedient wird, von den Lebensmitteln bis zum Auto. Es gibt eine Unzahl von Schienen, über welche die massenkulturelle Standardisierung des Konsums läuft. Aber es sind darin auch einige zentrale Trajektorien auszumachen. Da ist zunächst einmal das Auto, dessen Mobilität für alles weitere die Rahmenbedingungen schafft. Sodann die Werbung, die Konsumbereiche öffnet und stabilisiert und sie mit Leitbildern absteckt. Weiterhin der Film, vor allem der Hollywoodfilm, der die fordistische Kulturwarenproduktion nach dem Fließbandvorbild der Automobilindustrie par excellence darstellte, der narrative Kontexte für einen standardisierten Lebensstil bereitstellte und diesen mit den Konsumleitbildern verband (Prototyp: die Hollywood-Komödie der 1950er und 60er Jahre). Und schließlich Popmusik/Schlager, seit den Endfünfzigern das Fernsehen und der Massentourismus. In manchen dieser Trajektorien entwickelt sich zwar auch laufend Dissidenz, vor allem im Film (film noir) und in der Popmusik, weil die Medien entweder von nonkonformistischer Intelligenz (z. B. eben in Randbereichen des Film) oder von jugendlichen Subkulturen (z. B. Rock and Roll) angeeignet werden. Aber diese ideologische und ästhetische Dissidenz bleibt entweder randständig oder wird in den Mainstream der Massenkulturwaren aufgesogen. Dieser homogene Typ von Massenkultur – von der Angebots- und Konsumseite her homogen, über die Aneignung ist damit noch wenig ausgesagt, denn wir müssen analytisch zwischen Konsum und Aneignung unterscheiden – ist im wesentlichen ein Phänomen der neu entste-
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henden Mittelschichten. Seine Exzesse feiert er deshalb auch in den Stadtrandsiedlungen. Und obwohl er in alle Richtungen des sozialstrukturellen Feldes weit ausfranst, ergreift er mitnichten die ganze Gesellschaft. Seine Klimax erlebt er nicht durch die Krise des Fordismus allein. Die neuen Mittelschichten schrumpfen zwar wieder etwas, aber nicht in dem Maße, dass sie nicht weiterhin Träger einer homogenen Massenkultur bleiben könnten. Und zu Teilen bleiben sie es auch tatsächlich, denn dieser Kulturtypus verschwindet ja nicht restlos vom Erdboden, er ist nur nicht mehr dominant. Aber in der Krise kann das Manko des massenkulturellen Typus offen zutage treten: Er lässt zu wenig Raum für persönliche Expressivität, für individuelle Entfaltung im Umgang mit den standardisierten Dingen. Und gerade die Individualität und ihre Entfaltung stehen nach wie vor und offensichtlich unhintergehbar im Zentrum abendländischer Kulturideologie. Die mit den Waren und überdies im Medienverbund mit seiner abgestimmten Gebrauchsikonografie produzierte Blendung, dass sie sich in der Warenfülle und im Besitz des jeweils Neuesten gewinnen lasse, verliert irgendwann ihre Überzeugungskraft. Jedenfalls setzt schließlich im Angebot und im Konsum eine zunehmende Differenzierung ein. Sie ist bereits Folge des sich wandelnden Akkumulationsregimes, das eine neue Urbanisierung und neue kulturelle Muster produziert. Dieser Sachverhalt erlaubt allerdings auch einen Blick zurück. Von hieraus sind durchaus Zweifel darüber angebracht, dass der Massenkonsum mit seiner kulturellen Aneignung identisch war. Andere Mechanismen, wie eine entlastende Verbequemlichung des Lebens, Konformitätszwänge in Nachbarschaften, Büros oder Jugendgruppen und die automobile Bewegungsfreiheit als Freiheitserleben aus räumlichen und sozialen Bornierungen haben den Konsum vermutlich mindestens ebenso stark bestimmt, wie ein neuer, fordistischer kultureller Habitus.
Raumbild Damit sind wir beim Raumbild dieses urbanen Typs. Im Zentrum steht zweifellos die verkehrsmäßige Erschlossenheit, der Mobilitätsduktus innerhalb der Stadt, zu ihren Rändern hin und über das ganze Land in die Ferne. Mit dem subjektiven Mobilitätsbewusstsein hat die Stadt ihre physische Grenze überschritten und ins Grenzenlose ausgedehnt. Für den mobilen Städter ist überall Stadt, durch die Massendimension, in der er sich bewegt, fährt er auch nur in Städte, sogar in seinem Urlaub, der seinem Selbstverständnis nach in die Natur geht: gibt es sie noch nicht, werden sie rasch gebaut, sei es an der Ostseeküste oder am Teutonen64
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grill: außer einem Badestrand gibt es nur Beton und Asphalt, ganz wie zu Hause, wie Alexander Mitscherlich in der „Unwirtlichkeit unserer Städte“, der exemplarischen Stadtkritik jener Jahre, beklagt. Utopische Stadtentwürfe der 1950er und 1960er Jahre zeigen zumeist modulare Auflösungen in groben Koordinaten eines nur mobil denkbaren Raumbildes, die um einen allmählich verschwindenden Nullpunkt, der vormaligen Innenstadt, entworfen sind. Bereits auf dem Höhepunkt der ersten Industrialisierungsphase, in die segregierten Städte hinein, werden von den Avantgarden mobile Raumbilder kreiert. Die futuristischen Städte Sant’Elias zeigen monströse Wolkenkratzer, durch die auf verschiedenen Ebenen Schnellverkehrsstraßen hindurchgehen, in die Bahnhöfe und Flughäfen eingebaut sind. Und einer der Architekten des Neuen Frankfurt, Ferdinand Kramer, vertrat die Ansicht, Häuser müssten so gebaut sein, dass man sie bei Änderung der Wohnbedürfnisse einfach abreißen und neu bauen könne. Mobilität ist also etwas, was nicht nur Menschen in der Stadt und zwischen Städten entfalten können. Sie hat die Stadt selbst erfasst. Und tatsächlich haben sich die Städte in dem halben Jahrhundert in der westlichen Welt so verändert, wie vermutlich nie zuvor. Diese umfassende, aber noch räumlich adressierte Mobilitätsvorstellung ist wie in der vorhergehenden Phase in ein Sozialbild eingelassen. Dies ist nicht mehr das abstrakte, dafür aber allumfassende Fortschrittsmodell, sondern eine moderierte, konkretisierte Variante eines krisenfreien Wachstumskapitalismus, einer sich ständig verbessernden Wohlstandsgesellschaft. Vermutlich hat das neue Bewusstsein, dass Krisen möglich sind, dass der Wohlstand nicht beliebig weiter wachsen kann, wenn er nicht seine eigenen Naturgrundlagen zerstören soll – und womöglich auch das schweißtreibende Stehen im Stau, der jede Vorstellung von Mobilität zur Farce macht –, mehr zur Transformation des Raumbildes, vor allem aber mehr zur Transformation der Massenkultur beigetragen, als die Krise des fordistischen Akkumulationsmodells in den siebziger Jahren selbst.
Das Flussmodell Seit den achtziger Jahren wachsen die Großstädte wieder, jedoch nicht alle. Einige schrumpfen weiter und gelten vorläufig als die Verlierer im weltweiten Restrukturierungsprozess der fordistischen Ökonomie. Diese erfolgt jetzt nicht mehr in nationalstaatlichen sondern in globalen Dimensionen, was die ökonomische Regelungskompetenz der Nationalstaaten für den gesamtwirtschaftlichen Reproduktionsprozess stark ein65
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geschränkt, ihn auf anderen Gebieten aber eher noch verstärkt hat. In diesem Restrukturierungsprozess ist offensichtlich die Bedeutung der Städte wieder im Wachsen begriffen, weil neue Verortungen der Akteure in der globalen Ökonomie stattfinden. Dies führt dazu, dass durch die vernetzten Prozesse dieser Ökonomie die Städte weltweit aufeinander bezogen werden und eine abgestufte Hierarchie ihrer ökonomischen, politischen und sozialen Bedeutung im globalen, nationalen und regionalen Zusammenhang bilden; oder ganz aus ihm herausfallen. Globale Ökonomie heißt nicht einfach Ausweitung des Welthandels. Es heißt vor allem Globalisierung des Kapitals und Globalisierung der Arbeitsmärkte. Daraus folgt: das mobile Raumbild wird von einem doppelten Bewegungsimpuls aufgeweicht: einerseits wird der innerstädtische Raum, das Ensemble peripherisierter Zentren um die „Zitadelle“ je nach wechselnden sozioökonomischen Bedingungen, je nach Ereigniskonstellationen (eigentumsrechtliche Entscheidungen mit Folgen für sublokale Bodenrenten; Riots) in eine fließende Bewegung von Kontraktion und Extraktion, von Verlagerung und Rückbettung von Einwohnerbewegungen versetzt. Andererseits werden die ökonomischen Zentren der Städte immer mehr zu Knotenpunkten in einem Netz, in dem Daten fließen: unternehmerische Entscheidungen, Geldnamen, Transfers jeder Art, Informationen, massenmediale Unterhaltungen, Waren. Castells hat den Begriff „Stadt der Ströme“ geprägt, Lash und Urry sprechen vom Flow of Signs and Space in der postfordistischen Ökonomie.3 Ein wirkliches Raumbild hat sich noch nicht ausgebildet, das sich auf ein Kulturoder ein Sozialmodell bezöge. Man kann es aufgrund der in der Gesamtkonfiguration in der Tat noch immer fließenden Komponenten vielleicht wirklich am besten als Strom- oder Flussmodell bezeichnen. Aber dabei handelt es sich auf jeden Fall um eine deskriptive Konstruktion und nicht um eine Figur, in der kollektive Selbstdeutungen zusammenflössen. Die Frage ist auch nicht abzuweisen, ob die gegenwärtige, fließende Stadtstruktur ein dauerhaftes oder nur ein transitorisches Gebilde ist. Das hängt im Wesentlichen von der Stabilität der vertikal desorganisierten Struktur einer postfordistischen Ökonomie wie der gegenwärtigen mit ihrer globalen finanzwirtschaftlichen Dominanz ab. Und wohl auch nicht unwesentlich davon, wie sie die sozialen Probleme, die sie mit der Globalisierung der Arbeitsmärkte und ihren städtisch massierten Disproportionalitäten und sozialen Widersprüchen selbst produziert hat, bewältigt. Vieles spricht dafür, dass die postfordistische Gesellschaft 3
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Castells, Manuel: The Informational City, London: 1989 und Lash, Scott/ Urry, John: The Economic of Signs and Space, London: 1994.
DREI STADTMODELLE
kein geschlossenes Gesellschaftsbild ausprägt, und dass sie für die Zentren ihrer ökonomischen und globalkulturellen Reproduktion, die Global Cities, kein Raumbild kreiert; es sei denn das einer flexiblen und hoch gefährdeten Massierung von Reichtum und Armut. Und was an Raumbild bliebe dann für die untergeordneten Großstädte übrig? Es ist nicht fest stehend, aber nicht unrealistisch, die postfordistische (oder postmoderne) städtische Konstellation auf allen Ebenen des hierarchischen Städtesystems als eine Übergangsformation anzusehen, was eine prognosehaltige Kulturanalyse allerdings nicht eben erleichtert. Die fordistische Stadt ist in der postfordistischen nicht einfach verschwunden. Sie existiert mit ihren inzwischen ständig verstopften Autobahnen und Suburbs weiter. Gerade an sie werden verkehrsmindernd viele Auswuchtungen der postfordistischen Stadt angelagert: High-TechZentren, Dienstleistungsunternehmen der Professional-Art und ähnliches, das sich kaum noch ausdünnt zu den neuen Edge-Cities hin. Wie seit Beginn der industriestädtischen Entwicklung liegen die Ausdehnungskorridore an den Verkehrsinfrastrukturen, heute an den Autobahnen der vorhergehenden Ära und an den neuen Datennetzen. Beides muss koinzidieren, soll vor Ort eine neue urbane Weiche gestellt werden. Auch das kulturelle Modell ist fließend. Soweit es in seiner sozialen Basis mit der dominanten Ökonomie verflochten ist, handelt es sich um eine hoch differenzierte, durch Luxuskonsum gekennzeichnete Massenkultur unter Einschluss selbst der meisten Sektoren der ehemaligen Hochkultur, die damit nicht etwa kulturell devalorisieren sondern in dem neuen Zusammenhang eher einfach neu kalibriert werden. Der kulturelle Individualisierungsdruck produziert hier ein stark segmentiertes Anspruchsniveau nach kulturellen Gütern, Einrichtungen und Bauwerken aus, das durch die neuen, flexiblen Industrieangebote befriedigt werden kann und das die Stadtverwaltungen und das lokale Immobilienkapital mobilisiert. Das wesentlich Neue an diesem Prozess ist die Verschmelzung von Ästhetik und Warenproduktion, nicht allein in der Ästhetik der Warenkörper sondern bereits in der Verschränkung der Produktionssphären von Ästhetik und kommerziellen Waren. Wir können das als Entdifferenzierung von kulturellem und ökonomischem System identifizieren und das darin konstituierte Kulturmodell als ökonomisches Kulturmodell bezeichnen. Es gibt aber noch eine andere kulturelle Bewegung in den Großstädten. Es ist die Globalisierung der Arbeitsmärkte, die in den Städten zu einer zunehmend multikulturellen Zusammensetzung der städtischen Bevölkerung führt, besonders ihres Armutssektors der Low Income Jobs, der Gelegenheitsarbeit, der unqualifizierten Dienstleistung. Auf ihr ruht 67
STADT UND KULTUR
die ökonomisierte und individualisierte Massenkultur des Luxuskonsums zu großen Teilen parasitär auf, z. B. in Hausdienstleistungen ohne soziale Sicherung, Müllbeseitigung, exotischer Nahrungszubereitung, Haus- und Fensterreinigung (der Bürogebäude) und ähnlichem, Dingen. Sie alle haben selbst keine institutionalisierte, sozial gesicherte Basis, tragen aber dazu bei, die Differenzierungsbedürfnisse der postfordistischen sozialen Kriegsgewinnler zu befriedigen. Ed Soja sieht hierin eine Restituierung frühkapitalistischer Klassenverhältnisse. Mindestens wird man sagen können, dass vielerorts die Radikalität der Armut vergleichbar ist. Allerdings sind die Differenzen nicht zu übersehen: Die Armut konstituiert sich zwar wie im 19. Jahrhundert im Zusammenhang von Kapital- und Arbeitskraftkreislauf. Aber es gibt kein einheitliches industrielles Prinzip der Proletarisierung mehr, das diese organisationsfähig machte und so eine reale, nicht nur revoltische Gegenmacht begründen könnte. Die Kompensation hierfür ist die Stabilisierung ethnischer Identitäten. So zehrt die dominante Kultur materiell und auch symbolisch zunehmend von ethnischen Minderheiten, die auch an einzelnen Orten numerische Mehrheiten sein können: die Begriffe Mehrheit oder Minderheit sind im Zusammenhang kultureller Hegemonie oder Modelldominanz keine Zahlbegriffe, sondern anhand der materiell und symbolische mobilisierbaren Machtpotenziale bestimmt.
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„DIE
BEFRIEDIGUNG SEHEN“
GESUCHTE
AM B L O S S E N
Stadt-Bilder Zunächst möchte ich von einer Erfahrung sprechen, die ich mit Studierenden während eines Besuchs der Städte Florenz und Siena machte. Es handelt sich dabei um die immer wiederkehrende Faszination der künstlerisch erzeugten Raum- und Stadtbilder, über die wir uns einen vertrauten Zugang (nicht nur) zur fremden Stadt sichern. Da es sich im Falle Sienas um ein mittelalterliches Stadtbild handelt, nehme ich eine Beobachtung Hans Blumenbergs auf, der im Zusammenhang mit Petrarcas gleichzeitiger Besteigung des Mont Ventoux (1334) von einer „gesuchten Befriedigung am bloßen Sehen“ spricht. Dem Zugang zu neuen Ausblicken auf die gegebene Welt korrespondiere eine gewisse „Kühnheit der Neugierde“, die in ihrem ästhetischen Überschuss jedoch nur spielerisch um die Sache „wesensverbundener Sorge“1 zu kreisen vermag. Mir scheint, dass bis zum heutigen Tage – in welch depravierter Form auch immer – in jedem Weg in die Stadt etwas von jener ästhetisch grundierten und sich so oft im Sehen erschöpfenden Neugier nachklingt, vor allem dann, wenn uns, bar jeder Notwendigkeit, als Tourist der Weg durch fremde Städte führt.
Ästhetisches Weltinteresse Ankunft Siena, steiler Aufstieg zur Stadt, durch engen Korridor den Zugang auf die Weite des Campo. Danach das Privileg genossen – es war Anfang Februar –, im Palazzo drei Stunden alleine zu sein mit Ambro-
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Blumenberg, Hans: Der Prozess der theoretischen Neugier, Frankfurt/M.: 1963, S. 145. 69
BILD UND STADT
gio Lorenzettis Fresken der Allegorie des Guten und des Schlechten Regiments (1337-39).
Abb. 1: Ambrogio Lorenzetti, Darstellung des Guten Regiments (Ausschnitt). Siena 1337-39. So hatten wir es tags zuvor schon in Florenz im Museo Firenze com`era mit dem 1470 entstandenen Kettenplan gemacht. Diese Sicht auf Florenz strahlt die Souveränität des die räumlich-landschaftliche Situation beherrschenden Blicks aus, verkörpert in der Figur des Künstlers, wie er sich am Bild arbeitend in dasselbe hineinsetzt. Die Stadt und die sie
Abb. 2: Vor dem Kettenplan. Museo Firenze com’era. Florenz
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„DIE GESUCHTE BEFRIEDIGUNG AM BLOSSEN SEHEN“
umgebende Hügellandschaft sind dem Auge gleichsam gegeben. Demgegenüber lädt Lorenzettis stadträumliche Konstruktion dazu ein, um jede Ecke und jedes Haus herumzulaufen, eine Raumaneignung in Bewegung.2 In beiden Fällen suchten wir nach unserer Ankunft erst den Blick auf diese historischen Stadtbilder, um uns auf etwas zu konzentrieren, was die urbane Situation verstellt: Übersicht und Einblick und die Ruhe des Sprechens und Nachdenkens über die Stadt. Wir waren uns natürlich darüber im Klaren, dass wir es jeweils mit idealen Lagen zu tun hatten, sowohl die der Bilder als unsere eigene, von denen die Ausgangslage der städtischen Lebenswirklichkeit weit entfernt ist. Doch hören wir dazu Petrarcas irritierend deprimierenden Stadteindrücke: „Ach, diese hässlichste, unruhigste Stadt der Welt, worin aller Auswurf und Schmutz der Erde angehäuft ist! Keine Worte kommen dem Abscheu gleich, den ich vor ihr empfinde. Diese übel riechenden Straßen voll kläffender Hunde und garstiger Schweine, dies Rädergerassel auf allen Straßenpflastern, Pferdegespanne, die den Durchgang versperren, widerliche Menschen aller Art, das hässliche Bild von Bettlern neben übermütigen Reichen, von jammervollem Elend neben toller Freude, überall Zank und Streit, Lug und Trug, dies Durcheinander von schreienden Stimmen, dies Gewühl des sich drängenden und stoßenden Pöbels! Solche Dinge reiben den Geist auf, der an ein besseres Leben gewöhnt ist, rauben ihm alle Ruhe und stören ihn im Studium der edlen Wissenschaften. Möge mich Gott mit heilem Nachen aus diesem Schiffbruch 3 retten!“
Dieses Zitat ist dem 1342 publizierten Dialog „De Contemptu Mundi“ – „Über die Weltverachtung“ – entnommen. Francesco Petrarca beschreibt darin seine Sinneseindrücke als eine nicht enden wollende Unerträglichkeit. Sein Selbst ist überfordert, er sieht es untergehen in einem von Lärm, Gestank und Missgunst ganz eingenommenen städtischen Raum. Man meint hier bereits Le Corbusiers Ekel vor dem Gemenge in den Straßen von Paris, ihren Berührungen und Vulgaritäten aus Petrarcas Abscheu herauszuhören. In einem späteren, 1354 beendeten Traktat „De Vita Solitaria“, preist Petrarca eine von ihm erlernte und als „Kunstmittel“ bezeichnete urbane Verhaltensweise, die auf verblüffende Weise denken lässt an Georg Simmels (1957) Rede von der Blasiertheit des
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Müller, Michael/Dröge, Franz: Die ausgestellte Stadt. Zur Differenz von Ort und Raum, Basel/Boston/Berlin: 2005. Petrarca, Francesco: Dichtung und Prosa. Heintze, Horst (Hg.), Berlin: 1968, S. 471/2. 71
BILD UND STADT
Großstädters, die ihn vor den Reizüberforderungen schützen soll. Dazu heißt es bei Petrarca: „Wenn mich aber die Notwendigkeit zwingt, in der Stadt zu sein, habe ich gelernt, mir inmitten des Volkes Einsamkeit, in den Stürmen einen Hafen zu schaffen mit einem Kunstmittel, das nicht allen bekannt ist: ich beherrsche 4 meine Sinne so, dass sie nicht wahrnehmen, was sie wahrnehmen“ .
In solch früher neuzeitlicher Haltung eines „unglücklichen Bewusstseins“ kommt zum Ausdruck, was Blumenberg als „Zurücknahme des ästhetischen Weltinteresses“ zugunsten einer bei Petrarca betont „innere(n) Konzentration auf das dem Menschen Notwendige“ bezeichnet5. Demgegenüber ist das Fresko viel zu komplex und ausholend in seiner Erzählung, um Lorenzetti eine vergleichbare Vorsicht zu unterstellen. Zumal er ja gerade das zur Anschauung bringt, was durch innere Konzentration bei Petrarca bewältigt werden soll: die „Fülle der Erscheinungsformen des mittelalterlichen Lebens“, der durch den künstlich geschaffenen ästhetischen Einheitsraum die Unübersichtlichkeit genommen wird. Nicht um Selbst-Erkennen, worum Petrarca sich so sehr bemüht, geht es Lorenzetti. Und wenn doch, dann als Mitglied einer städtischen Gemeinschaft und wissend, dass von deren fortdauernder und zu verbessernder Existenz auch die Möglichkeit zum Selbst-Erkennen abhängt. Lorenzetti erkundet die Stadt und die sie umgebende Natur, deren vormals „entrückten Fernen“ er in eine vertraute Nähe verwandelt. Seine „gesuchte Befriedigung am bloßen Sehen“ ist absichtsvoll und zielgerichtet. So fehlt ihr nicht, was Petrarca gleichwohl zum Problem wurde: die „zu rechtfertigende Stelle im System der Daseinsnotwendigkeiten des Menschen“, wie es Hans Blumenberg6 nennt. Auch dürfte Lorenzetti in seiner Neugierde nicht weniger kühn gewesen sein, wie Dantes Odysseus und der „auf dem Gipfel des Mont Ventoux die kaum aufgebrochene ästhetische Weltneugier zurücknehmende[n] Petrarca“7. Lorenzetti ist es umso mehr, als er seine ästhetische Weltneugier im großartig gemalten Panorama nicht nur erträgt sondern aus ihr kulturelles Kapital zu schöpfen vermag, das er mit seinen Zeitgenossen teilt. Die sich dabei einstellende Befriedigung am bloßen Sehen ist aufs Engste gebunden an
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Petrarca, ebd., S. 511. Blumenberg: Der Prozess der theoretischen Neugier, S. 147/8. Ebd., S. 145/6. Ebd.
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das Resultat: i.e. die Erzählung des Bildes von den Vorzügen des Guten Regiments. Petrarcas „Blasiertheit“ hat sich im Laufe der Jahrhunderte zu einer der auffälligsten urbanen Verhaltensweisen entwickelt. Dem humanistischen Freund des einfachen Landlebens diente sie jedoch zur Abwehr des Städtischen, während Lorenzetti das Bild als Kunstmittel zur dessen Bejahung einsetzt. Gewiss liegt die Stärke der bildhaft verdichteten Erzählung von den Vorteilen des guten und den Nachteilen des schlechten Stadtregiments auch darin, wahrnehmen zu können, und dabei doch nur über den distanzierten Blick aus den hohen Fenstern des Ratssaals in die Wirklichkeit außerhalb des Palazzo Pubblico eingebunden zu sein. Doch sollen die Sinne nicht beherrscht sondern beruhigt werden. Ästhetisierung dient hier der konzentrierten Aufmerksamkeit. So kann in der zerstreuten Wahrnehmung in den Straßen und auf den Plätzen der Stadt gerade diese Erfahrung zur Orientierung und zu einem Haltepunkt der Reaktionen und Urteilsbildungen werden. Wobei wir uns im Blick auf das Bild subjektiv einbilden können, eine sich über einen großen Zeitrahmen aufspannende Erfahrung mit den Einheimischen zu teilen: Es ist unsere und ihre Freude am Sehen, verkörpert in einem von der Schönheit der Stadt erzählenden Bildraum. Er erst verwandelt dem sehenden Auge das Heterogene in einen verständlichen, der Erfahrung der bildlichen Anordnung zugänglichen Zusammenhang.
W a h r n e h m u n g u n d N u t z u n g vo n O r t u n d R a u m Was nimmt man nun von den Bildern mit auf seinen Wegen durch die Stadt? Als historische Dokumente geben sie darüber Auskunft, wie die Stadt zu ihrer Zeit gesehen wurde und auch und vor allem, dass das Sehen der Stadt als und im Bild Befriedigung verschafft. Eine Stadt zu nutzen, erschöpft sich danach nicht in unmittelbar alltagspraktischen, der Zweckerfüllung unterworfenen Handlungen. Von Lorenzettis Außenperspektive richtet sich daher der Blick auf die allgemeine Frage, wie überhaupt die Stadt von ihren Bewohnern wahrgenommen und genutzt wird. In der Binnenperspektive der Bewohner erscheint die Stadt als äußerster Bezugshorizont aller möglichen sozialen Beziehungen, der ortsgebundenen, wie der inter- und supraurbanen. Als solcher ist die Stadt für uns ein abstrakter Raum der Gleichzeitigkeit alles Geschehens, damit überkomplex und bei allen Stereotypen über die eigene Stadt für die meisten Individuen im Prinzip undurchdringlich.
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BILD UND STADT
Ort und Raum Die lebensweltlichen Orte in diesem Raum sind – was die Bilder meist verschweigen, besser: zu bewältigen versuchen – ungleichzeitig: Im Raumerlebnis kann man von einem zum anderen Ort nur durch Bewegung und Zeitverbrauch gelangen. Die Ungleichzeitigkeit der Ortsperspektiven reduziert subjektiv die Komplexität des städtischen Raums durch ihre Aufgliederung in eine Präferenzordnung. Dadurch werden Orte in ein System von Erfahrungswissen internalisiert und durch Gewohnheit gesichert. Der abstrakte Raum ist also durch verschiedene Lebenswelten strukturiert, die nur selten auf den Bezugshorizont der ganzen Stadt treffen. Diese hat mithin für alle Bewohner eine unterschiedliche Grenze, der Raum eine unterschiedliche Ausdehnung, je nach der räumlichen Anordnung und Gliederung der lebensweltlichen Orte. Und dies bewirkt, dass die Stadtwahrnehmung zugleich auch immer eine Zeitstruktur der Überwindung des Raums oder des Erreichens des Ortes enthält. Raum ist aber nur bezogen auf die gesamte Komplexität innerhalb städtischen Bezugshorizonts abstrakt. Tatsächlich definiert die biografisch konstituierte Vermehrung von Orten mindesten zwei Raumqualitäten in der Stadt: ein Dazwischen und ein Darüberhinaus als Horizont. In den verschiedenen Bereichen des Dazwischen schattet sich die Lebensnähe und -stille der Örter ab, im Darüberhinaus schattet sich die Raumvorstellung selber ab bis zur Opazität. Im Raum drohen grundsätzlich Gefahren, aber je länger die Schatten werden, desto mehr wachsen sie. Das Dazwischen birgt die interessantesten Bereiche. Es ist nicht mehr so gut gesichert wie der Ort, aber er ist die Vermittlungsstrecke. Mit diesem Raum beschäftigt sich deshalb Michel de Certeau bevorzugt.8 Es ist für ihn nicht nur die Negation des Ortes sondern eine Konstruktion in Bewegung, in der Richtvektoren und Zeit verschwunden sind. In diese Bewegung, die den Raum des Dazwischen nicht subjektiv konstant hält sondern ständig verändert, ist die Vermittlung eingeschrieben. Bewegung ist hier nur doppelt zu verstehen: der Raum bewegt sich in einer Verbindung, die dadurch hervorgerufen wird, dass die physische Bewegung der Menschen im Raum diesen erst konstituiert. Jenseits der typischen Orte, im Darüberhinaus, nehmen die kontinuierlichen Leistungen zwangsläufig rapide ab: Das Darüberhinaus dehnt sich ins Große und Ganze der Stadt als Bezugshorizont. Die Orts- und
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De Certeau, Michel: Die Kunst des Handelns, Berlin: 1988, S. 210.
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die Raumqualitäten sind konfiguriert in Raumbildern9, die mindestens für Ortsangehörige meistens eine relativ hohe Überproduktion besitzen. In den Raumbildern ist das Erfahrungswissen kondensiert, das demnach keineswegs auf eigenem Erleben allein beruht, sondern mediale Bestandteile enthält und zunehmend virtualisiert ist. Auf Grund der Gestaltqualität der Bilder haben sie eine Einheit stiftende Orientierungskraft und steuern auch das emotionale Raumerleben. Raumbilder verleihen der Dingstruktur des Ortes die Qualität unverrückbarer Raumstellen. Ein gutes Beispiel hierfür sind oft Denkmäler in Altstädten und Stadtmitten, Rathaus- und Domplatz, alte Märkte, früher „verrufene“ Viertel, die es eben bleiben, auch wenn von ihnen nichts mehr da ist. Und es trifft für gentrifizierte Altbauquartiere zu, in denen das Bild der ehemaligen Lebendigkeit erhalten bleibt. Ein Ort ist keineswegs geografisch definiert, wenngleich er durch Namen und Adresse für jedes Individuum eine Mitte hat, die durch Raumkoordinaten definierbar ist, und diese Mitte ist für manchen Menschen auch schon der ganze Ort. Nachbarschaften, Arbeitsbeziehungen oder – weiträumiger – Freundschaften mit unterschiedlichen Treffpunkten oder organisatorische Zusammenhänge und Mitgliedschaften (z. B. im Vereinswesen mit seinen gesetzten Ritualen oder in Parteien mit ihren Versammlungslokalen) legen die Grenzen fest. Ihre Markierung kann auch durch hohe symbolische Aufladung von Raumstellen in der Stadt erfolgen, deren kollektive Verbindlichkeit oftmals durch kulturelle Traditionen gesichert und vererbt wird. Das gilt oft für Innenstädte um eine historisch bedeutsame Mitte, wie etwa das Rathaus oder einen Dom. Die tradierte Symbolik, d. h. die bewusstseinsmäßige Beziehung zwischen der Raumstelle und den Stadtbewohnern, kann hier ebenso eine Identifikation mit dem Ort herstellen und reproduzieren, wie ortsgebundene Formen der Kommunikation etwa im Wohnquartier oder am Arbeitsplatz. Das geografische Raumkontinuum, in dem ein Ort zwangsläufig liegt, ist für ortsgebundene Kommunikation bzw. deren Teilnehmer in erster Linie irrelevant, wenn nicht gar opak, eine Zone der Unsicherheit. Es wird innerhalb des städtischen Bezugshorizonts zumeist als Passageraum von Ort zu Ort und im engen Bereich der Örter als ein Dazwischen wahrgenommen und in Kategorien des Verkehrssystems – von der Fußläufigkeit über den öffentlich-privaten Nahverkehr bis zum Auto – bewusstseinsmäßig oder kommunikativ thematisiert. Häuser, Straßen, Gaststätten, andere Menschen, Ausstattungen von Wohnungen und Be9
Ipsen, Detlef: Raum-Bilder. Kultur und Ökonomie räumlicher Entwicklung, Pfaffenweiler: 1997. 75
BILD UND STADT
trieben oder Tische und Theken in Vereins- und Parteilokalen zählen zu den Objektlagen, die den Ort gegenständlich strukturieren und Referenzen für Kommunikation und Interaktion darstellen. Aus der Sichtweise interagierender oder organisierter Menschen wird der Ort deshalb nicht nur durch die Grenzen der Interaktion oder Organisation markiert, sonder seine Ausdehnung, d. h. sein tatsächlicher, für die sinnliche Wahrnehmung eingenommener Raum und seine Raumstruktur werden durch die lage- und standortbedingte Ordnungsstruktur der körperlichen Objekte mitbestimmt. Ort hat also immer eine Dingstruktur und deren lebenspraktische Aneignung und Deutung verleihen ihm Atmosphäre. Ort ist dann in einer so wahrgenommenen räumlichen Struktur der Ausschnitt einer Ansammlung von Objekten, die symbolisch und im Austausch der Menschen untereinander „belebt“ wird und so Bedeutung im Erfahrungswissen erlangt. Georg Simmel10 spricht in dem Zusammenhang von „Erfüllung“ des Raums. Eine den Raum konzentrierende „Belebung“ soll privatistisch heißen, sofern es sich nicht um Exklusion handelt; ihr räumlicher Grenzwert ist die eigene Wohnung. Eine raumgreifende „Belebung“ gilt uns als öffentlich, wobei das nicht mit der Öffentlichkeitsfiktion der Aufklärung oder des Artikel 5 des Grundgesetzes zur Fundierung einer simulierten politischen Anthropologie des mündigen Staatsbürgers gleichgesetzt ist. Gemessen daran ist der hier angesprochene öffentliche Charakter immer borniert, da er nur die subjektiven Raumdimensionen als einen Erfahrungsbereich spiegelt. Entscheidend daran ist in unserem Zusammenhang, dass die Weite des Orts sowohl die Dimensionierung des einen oder der unterschiedlichen Orte, über die das Individuum im städtischen Raum verfügt, als auch die Kohärenz dieser Orte, seine Stadtwahrnehmung und seine Lebenswelt mitbestimmt.
Wahrnehmung Wie nehmen Einwohner, ausgehend von ihren Wohnlagen als den kulturellen Orten ihrer Befindlichkeiten, ihre Stadt als sozialen, politischen, wirtschaftlichen und architektonisch gestalteten Raum wahr? Dieser Raum legt Lebensbedingungen und alltagsweltliches Erleben zugleich fest und ermöglicht sie und bestimmt so das soziale und kulturelle Leben der Bürger in sehr unterschiedlicher Weise. In der Wahrnehmung spielt die zeitliche Dynamik historischer urbaner Veränderungen – Abriss, 10 Simmel, Georg: Der Raum und die räumliche Ordnung der Gesellschaft, in: Ders.: Gesamtausgabe Bd. 11, Frankfurt/M.: 1992, S. 687-790. 76
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Neubau, das Verschwinden von Geschäften, Umzüge von Nachbarn, der Durchbruch von Verkehrsschneisen, Veränderung der Einzelhandelsstruktur in Stadt und Umland, Be- und Entgrünung – auf kleinräumlicher und gesamtstädtischer Ebene eine grundlegende Rolle. Gerade die Wahrnehmung raumzeitlicher Veränderungen und ihrer Bewertung ist eine kulturelle Ressource, die das Leben in einer Stadt und das Verhältnis zu ihr maßgeblich mitbestimmt. Sie sorgt für Motivation und Orientierung des eigenen sozialen und kulturellen Handelns. Denn zur Aufrechterhaltung der Konsistenz des Erfahrungswissens muss die Synthesis seiner Raumdimension bei Veränderungswahrnehmungen wieder neu justiert werden. Das Orts-Raum-Verhältnis ist gestaltungspsychologisch als Verhältnis von Gestalt und Hintergrund zu verstehen, das man situativ und biografisch als außerordentlich variabel begreifen kann. Die Variabilität hat freilich Grenzen, und Inkonsistenz des Erfahrungswissens ist eine nahe liegende reaktive Konfiguration. Ist eine Neujustierung, z. B. nach dem Muster der kognitiven Dissonanz, nicht möglich, dann geraten räumliche Präferenzordnungen durcheinander, und im Extremfall entsteht der Wunsch, den „Ort“ oder die Stadt zu verlassen. Die Reaktionsweisen sind selbstredend nicht nur Wahrnehmungsresultate: Da sich in urbanen Veränderungen auch und oft in erster Linie Macht- und Wirtschaftsinteressen des Bodenkapitals, der Verkehrslobby niederschlagen, die freilich auch wahrgenommen werden können, manifestieren sich darüber hinaus aber auch schicht- und lebensspezifische Attitüden darin. Vereinfachend kann man sagen, dass die Wahrnehmungen hiervon mitgesteuert werden. Weniger für die Orts- als vielmehr für die Stadtwahrnehmung spielt die Differenzwahrnehmung der eigenen Stadt zu anderen, in irgendeiner Hinsicht vergleichbaren Städten – Größe, Wirtschaftsstruktur oder soziales Profil: Arbeiterstadt, Verwaltungsstadt – eine nicht gerade geringe Rolle. Dadurch entsteht eine Außenperspektive auf die eigene Stadt, gewissermaßen die reflexive Verschränkung von Binnenperspektive und touristischem Blick.
Nutzung des Raumes Die Nutzung des Raumes reicht von den primären, alltäglichen Verrichtungen bis zu den verzweigten Aktivitäten im Raum, vom Einkaufen bis zum Spazierengehen, vom Kneipenbesuch bis zum Vereinsabend, vom Fernsehen bis zum Museumsbesuch, vom Arbeiten bis zur Volkshochschule. In der Nutzung verschränken sich soziale, kulturelle und räumli77
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che Orientierungen. Sie bilden Komplexe oder Cluster. Will man nicht nur die Ortsweite, sondern die gesamtstädtische Raumkultur des Erfahrungswissens erforschen dann interessiert die interaktive und kommunikative Vernetzung zwischen Wohnquartieren und anderen städtischen Raumzonen, um Präferenzzonen und Passagegebiete aufzuschlüsseln und zuzuordnen. Darin sind dann auch aktivitätsabhängige Verkehrsströme zu bestimmen. Die Vernetzungen folgen zielorientierten Aktivitäten und Bekanntschaftsbeziehungen. Zielorientierte Aktivitäten sind die Integratoren, deren Gesamtheit das Profil des kulturellen Lebens in der Stadt bildet. Wahrnehmung und Nutzung bedingen sich wechselseitig. Die Wahrnehmung des Orts, hier verstanden als die Wahrnehmung des Raums als eine durch Bauwerke, Verkehrsknoten, bekannte Kleinregionen gegliederte und je unterschiedlich subjektiv strukturierte Ordnung, wird von der Nutzung gesteuert. Solche in ihrer Gliederung typologisch erfassbaren Wahrnehmungsgestalten zu räumlich zerfließenden Hintergründen enthalten auch symbolische Markierungen, subjektiv aufgeladen mit hoher Bedeutung. Umgekehrt wird die freie, nicht durch Zeitzwänge und „objektive“ Wegvorhaben bestimmte Nutzung von der Wahrnehmung mit ihren selektiven Filtern gesteuert. Sie prägt Ortspräferenzen für Aufenthalt, Durchgang oder Ablehnung und besetzt diese Orientierungen unterschiedlich stark emotional. Mehr als tatsächliche Fallzahlen kriminalstatistisch relevanter Vorkommnisse beeinflusst sie Sicherheits- und Unsicherheitsgefühle in städtischen Bereichen und wird hier wiederum mangels zureichenden Erfahrungswissens medial imprägniert. Die Wahrnehmung ist neben stadtbildlichen Elementen auch von sozialen Ortsbildern und Vorstellungen abhängig. Dazu zählen etwa Heterogenität oder Homogenität von Nutzungen, sei es als Ort des Wohnens, als Verkehrsraum (Straße, Platz, Innenstadt, Innenstadtrandzonen) oder als Ort von Freizeit- und Kulturaktivitäten. Und dazu zählen Angemessenheit oder Unangemessenheit von sachlich geronnenen Herrschaftsoder Interessenstrukturen im Raum. D. h. auch raumbezogene Raumstrukturen wirken als Wahrnehmungs- und selbstverständlich auch als Nutzungsfilter.
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Daraus folgt Die Orts- und Raumwahrnehmung ist neben der Nutzung die zweite Grundlagendimension für Bewertungen des städtischen Raums in seiner Angemessenheit für die subjektiven Befindlichkeiten und Ziele in der Stadt. In der bewussten Verschränkung von Wahrnehmung und Nutzung kommt es schließlich zur subjektiven Konstruktion der Stadt. Es handelt sich um ein ganzheitliches Stadtbild, das in den Köpfen und den habituellen Handlungen der Menschen je unterschiedlich existiert. Daran schließen sich – vermittelt oft über wahrgenommene Defizite und Bewertungsstereotype – städtische Wunschbilder an. Diese sind meistens nicht auf das soziokulturelle Projekt Stadt gerichtet, sondern auf Ansprüche individueller Funktionserfüllung in der Stadt. Diese sind, wenn man sie nicht für sich sondern in Abhängigkeit von sozioökonomischen und demografischen Größen und kultureller Kapitalverfügung betrachtet, insofern von besonderer Relevanz, als sie spezifische Handlungsmuster auszubilden vermögen und dies auch tun. Je nach Ausstattung reichen die Folgen von ohnmächtigen Fraktionen bis zur Stadtflucht oder innerstädtischen Immigration, die ihrerseits wieder zu sozialräumlichen Umwälzungen wie Segregation oder Gentrifizierung führen. Solche Prozesse sind von Belang, weil die angesprochenen Veränderungen und ihre Folgen, auch als Umwälzungen, als Transformationen der städtischen Kultur insgesamt bzw. deren sozialer Basis interpretiert werden können. In ihrer gegensätzlichen Haltung dem Städtischen gegenüber sind Petrarca und Lorenzetti frühe Beispiele der darin gelagerten Problematik. Petrarca vertritt dabei die Seite derer, für die – bei ihm literarisch und philosophisch begründet – die Abneigung dem Städtischen gegenüber ein stadtfeindliches Wunschbild erzeugt. Im Gegensatz zu den in der alltäglichen Lebenspraxis zustande gekommenen Orts- und Stadtbildern ist es nicht ganzheitlich, sondern aufgrund der Konzentration einzelner Funktionen und individueller Interessen (saubere Umgebung, Grün/Natur, Ruhe und Abgeschiedenheit) fragmentarisch. Demgegenüber erzeugt Lorenzetti ein Wunschbild, das die Stadt als Beweis eines ganz bestimmten und gelungenen Stadtregiments bejaht. Dabei ist sein Stadtbild insofern ganzheitlich, weil er es als die Summe aller subjektiven Konstruktionen des Städtischen entwirft. Das Bild repräsentiert die andere, die kollektive Seite eines ganzheitlichen Stadtbildes. Diese Ganzheitlichkeit ist allerdings nur (noch) als Ästhetisierung aller Verhältnisse in einem (Wunsch)-Bild zu haben.
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BILD
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Oft genug ist von der Krise des traditionellen Formkonzepts und Planungsverständnisses von Architektur und Stadt die Rede. Es gebe keine einheitliche Realität und keinen homogenen Raum mehr, die diesem Konzept und Verständnis korrespondierten. Gleichwohl, oder besser: Gerade deshalb nehme die Produktion von Wunschbildern einer synthetisierenden Wahrnehmung rapide zu, Bilder, die in ihrer Eindeutigkeit der Komplexität der neuen Stadt gerecht werden sollen. Für bestimmte Bereiche der Stadt und ihre Architekturen hieße das, dass sie sich künftig mehr und mehr dem Diktat des Bildes beugen werden. Wie aber lebt es sich in Räumen, die den Bildern gehorchen? Wobei es doch entscheidend darauf ankommt, wer diese Bilder produziert. Denn bei Licht besehen ist an der Wirkungsmacht der Bilder in ihrem Einfluss auf unsere Sicht der Welt und wie wir uns in ihr einrichten, so viel nicht neu. Die Stadt und insbesondere die europäische Stadt als ein auf Zukünftiges ausgerichtetes Projekt zu denken und zu entwickeln, war immer angewiesen auf die Kraft der Fähigkeit, sich ein Bild zu machen, Bilder zu imaginieren. Ich möchte sogar noch einen Schritt weiter gehen und von der Unvermeidlichkeit, ja der Notwendigkeit der Bilder für den Stadtdiskurs sprechen. Denn Bilder leisten etwas Unverzichtbares: Eine Vermittlung, die die Stadt und ihre Bewohner benötigen, die geradezu konstitutiv für städtische Lebenspraxis und ein sie beständig antizipierendes Vorstellungsvermögen ist.
Differenz Die Stadt ist ein außerordentlich hoch verdichtetes Sozialgebilde, in dem ununterbrochen Differenzen prozessiert werden: Seien es soziale Differenzen, ökonomische, räumliche, kulturelle, geschlechtsspezifische oder
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BILD UND STADT
machtpolitische Differenzen. Gewiss ist die uns bekannte Geschichte der Stadt voller gewalttätiger Eruptionen, die immer wieder zu Umbauten der sie grundierenden Strukturen geführt haben. Dennoch zielt der angesprochene Prozess der Vermittlung der Differenzen doch immer und unausgesprochen auf die Erhaltung der Stadt, auf die Sicherung und Gewährleistung einer städtischen Lebensgemeinschaft, sei sie auch noch so zerrissen und different. Die bewusste Teilhabe an diesem Prozess begründet sowohl für den Stadtbürger als auch seine Beobachtung durch den Ortsfremden das, was Jacques Le Goff1 „die Liebe zur Stadt“ nennt. In meiner Argumentation ist Differenz eine räumliche und raumzeitliche Dimension. Ästhetisierung hat die Potenz, sie durch Vermittlung zu reduzieren. Ästhetisierung ist in dem hier vorgeschlagenen Sinne das mediale Rückgrat städtischer Kultur. Um diese zu veranschaulichen, werde ich ein frühes Beispiel solcher Differenzvermittlung vorstellen. Im Mittelpunkt stehen dabei als Medium ein großes und großartiges Bild und als Sachverhalt die zu vermittelnde Differenz von Ort und Raum als Perspektive einer einzigartigen Stadtutopie.
Vom Bild der Stadt Die Rede ist vom bereits erwähnten (siehe im Beitrag zuvor) Freskenzyklus der Allegorie des Buon Governo, des Guten Regiments, den Ambrogio Lorenzetti zwischen 1337 und 1339 im Auftrag der Sieneser Stadtregierung auf drei Wände im Rathaus der Stadt, dem Palazzo Pubblico, verteilt hat. Insbesondere die Erzählung von den Vorzügen eines guten Stadtregiments geriet ihm derart eindrucksvoll, dass sie bis in unsere Zeit hinein ihre Ausstrahlungskraft beibehalten konnte. Dabei scheint das im Fresko thematisierte politische Programm der Utopie einer gelungenen städtischen Lebensweise ungebrochen. (Siehe Abb.1 auf S. 85) Die europäische Stadt ist in der christlichen Glaubenswelt ein Ort, der immer auch über sich hinaus auf einen im Glauben der Menschen vorgestellten imaginären Raum verweist, dessen ‚Anwesenheit’ im subjektiven Erleben des realen Stadtraums wir heute kaum mehr ermessen können. Vieles spricht dafür, dass die Differenz zwischen realer und virtueller Raumerfahrung in einem durch Liminalität charakterisierten Stadtraum weitgehend aufgehoben war.
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Le Goff, Jacques: Die Liebe zur Stadt, Frankfurt/New York: 1998.
BILD UND RAUM
Die Stadt ist ein Konzept: Als real vorgestellter Raum erscheint die Stadt im Mittelalter meist als Kreis.2 Seine Form umschließt einen aus vielen Orten zusammengesetzten Ort und symbolisiert so einen kollektiven Raum.3 Der lebens(un)wirkliche Raum, der die Stadt umschließt, ist eine von Dämonen bewohnte und von Menschen weitgehend unberührte Natur. Es ist ein abgewehrter Raum, wobei der Gegensatz von Ort und Raum hier noch als ein Gegensatz von Innen und Außen, als Positiv und Negativ erfahren wird. Dem entspricht, dass alles Schlechte, wie etwa Hinrichtungen, noch lange vor den Toren der Städte stattfindet. Selbst als Ort der Reise erscheint die Stadt noch lange als ortsfixierte Größe, in der auf das Reisen in ortsabhängigen Hinweisen, wie Verlust oder Freude des Ankommens, Bezug genommen wird. Das gilt auch für solche Darstellungen der Stadt, die der Findung geografischer Referenzpunkte (z. B. für Pilger) dienen. Der Raum wird darin durch Orte markiert, die nicht in einem Raum liegen, sondern diesen überhaupt erst konstituieren. Deshalb sind Raumdefinition und Raumwahrnehmung noch eindeutig ortsabhängig. Die Orte selber werden von wichtigen Bauten des Glaubens verkörpert.4 Generell können wir sagen, dass in den bekannten Stadtdarstellungen, so auch in Lorenzettis Fresko vom Buon Governo, gemäß der kulturellen, religiösen, ökonomischen und sozialen Bedeutung der Stadt Kohärenz vorherrscht. Inkohärenz ist als Eigenschaft immer dem Bild von der schlechten Stadt (das Mal Governo, auch die heutige Metropole) vorbehalten. Inkohärenz zeigt den Verlust des Ortes, der Ortsbezogenheit an; der Blick zerfällt hier. Die Stadt aber dient der Verortung und führt zu der Gewissheit, dass an diesem Ort das Gemeinsame Gestalt annimmt.5 Das Wissen von der Bedeutung dieses Vorgangs führt in Italien seit Beginn des 14. Jahrhunderts, also vor dem Hintergrund einer sich verstetigenden Erfahrung in ökonomisch und politisch dominierenden Stadtre-
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Meist als Allegorie des himmlischen Jerusalems, dessen Stellvertreterin auf Erden Rom ist. Die Stadt ist im Grunde ein großer Haushalt. In den „Etymologiarium libri (9.4.3.)“ heißt es bei Isidore von Sevilla: „Ein Haus ist der Ort der Familie, wie die Stadt der einer Bevölkerung und die Erde der Wohnort der ganzen Menschheit.“ Und wo diese über die von ihnen markierten Orte hinausweisen, geschieht dies hinsichtlich des von ihnen gemeinsam symbolisierten, spirituellen, imaginären Raums. Und es ist die irdische, die vergängliche Welt, die die unsichtbare, himmlische und ewige Welt enthält. Jan Assmann nennt es das Wir und er spricht weiter davon, dass der Städter seine Individualität in der bewusst wahrgenommenen Differenz zum Draußen erfährt, so wie das Ich von außen nach innen wächst. 83
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publiken, zu einer verstärkten Wahrnehmung der Schauplätze, an denen stadtbürgerliche Identität verortet und gebildet wird. Nicht mehr nur der je einzelne Ort interessiert die Menschen, sondern das, was die Bauten, Plätze, Straßen, Begrenzungen und Umgebungen verbindet und durch was diese Verbindungen erzeugt, aber auch verhindert werden. Als Medium konzentrierter Vermittlung bzw. Veranschaulichung eignet sich die Malerei; und das tut sie noch einmal für uns, da sie – neben zahlreichen schriftlichen Quellen – Zeugnis ablegt von der damals neuen Aufmerksamkeit dem städtischen Raum gegenüber. Wir sind Zeugen der Emanzipation einer raumfüllenden Tätigkeit gegenüber einer Ortsfixiertheit. In deren auf die Virtualität eines jenseitigen Raums bis dato beschränktem Horizont können die Geld- und Handelsgeschäfte der städtischen Bourgeoisie als höchst konkrete raumgreifende Erfahrung nicht mehr vermittelt werden. Die in der Ort-RaumDifferenz gelagerte Komplexität wächst und führt zur Entwicklung bzw. Erprobung neuer medialer Vermittlungsformen. Als solche dient das Bild und insbesondere der von Lorenzetti geschaffene Freskenzyklus.
Stadt und Land Auf Lorenzettis Fresko formen Stadt und Land unverkennbar ein räumliches Ganzes: die Stadtrepublik Siena. Der Raum als das ‚Außen‘ steht dabei ganz und gar unter den Maßstab setzenden Handlungen, Symbolisierungen und Attributen der Stadt. Der Ort vereinnahmt den Raum. Das heißt aber auch: Der Ort dehnt sich im bis dato abgewehrten Raum aus und weist so über sich hinaus. Ansprüche und Verantwortung wachsen, die Strukturen werden komplexer, sie verschränken miteinander und gewohnte Differenzen verwischen. Dadurch verstärkt sich die Notwendigkeit, die Veränderungen, die durch die Verschiebung der Differenzen entstehen, neu zu vermitteln. Lorenzetti zeigt, dass erst die Stadt die Differenzwahrnehmung möglich macht. Das Außen ist nicht mehr die bloße Natur, Aufenthalt des Schlechten; sondern jetzt ein Raum, wie er sich analog in der Florentiner Domkuppel zu einem architektonischen Raum verdichtet, eine Projektion, die den Natur- und Landschaftsraum in der klaren Gestalt der Domkuppel anschaulich macht. Es ist die Anwesenheit des Außen – hier: des realen Außenraums – im Inneren der Stadt. Ort und Raum erscheinen gleichzeitig an einem Ort, die Stadt greift in den Raum hinaus und zieht ihn symbolisch zu sich hinein. Erst die Wahrnehmung der Natur als
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Raum macht aus ihr eine Landschaft. Es ist die Erfahrung des Orts, die zur Raum-Wahrnehmung befähigt.6
Abb. 1: Ambrogio Lorenzetti, Das gute Regiment (Ausschnitt). Siena 1337-39. Damit ist die Differenzwahrnehmung konstitutiv und führt gleich zu Beginn zu einer grandiosen Vermittlungsleistung: Lorenzettis Fresko als Eroberung des Bildraums in der Malerei. Die Vermittlung, so ließe sich auch sagen, gelingt bildnerisch nur über den innovativen Schritt der Analogie von erobertem Natur- und Bildraum. Oder anders ausgedrückt: Die Notwendigkeit der Differenzvermittlung führt zu einer neuen medialen Ausdrucksleistung. Das einheitliche Element ist in beiden Fällen der Raum, der als übergeordneter Faktor die verschiedensten Naturelemente zusammenfasst. Wo wir spätestens seit Georg Simmel7 von der anhaltenden EntOrtung des Stadtraums sprechen, handelt das Fresko von dessen VerOrtung, allerdings in einem Raum, der über den geografischen, durch Mauer und Stadttore markierten Ort der Stadt hinausgreift. Die VerOrtung des Stadtraums in der bildlichen Darstellung bleibt bei Lorenzetti erstmals nicht mehr auf die Stadt beschränkt. Damit versucht er, Ort und Raum, die zunehmend als unterschiedliche Erfahrungsräume koordiniert werden müssen, in einem künstlichen Bildraum neu aufeinander zu beziehen. Ja, wir könnten sagen, dass dieses Bild die bereits seit einigen
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Die Konstitution des Orts geht der des Raums voraus; beide gehören jedoch zusammen. Raumwahrnehmung hat also die Konstitution des Orts zur Voraussetzung. Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben, in: Ders.: Brücke und Tür, Essays, Frankfurt/Main: 1957, S. 227-242. 85
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Jahrzehnten für einen Teil der Gesellschaft8 zur lebenspraktischen Erfahrung herangewachsene Differenz zwischen Ort und Raum aufzulösen versucht. Dazu aber bedarf es offensichtlich ihrer Veröffentlichung im Bild, um als eine Differenz erkannt zu werden, die bei aller weit gespannter historischer Distanz zur Blütezeit frühbürgerlicher europäischer Stadtkultur heute zu den zentralen Problemlagen urbaner Existenz zählt.
Mauer Auf Lorenzettis Fresko ist die ganze Stadt das Symbol, denn hohe symbolische Einzelaufladungen sind nicht zu erkennen. So wirkt der Dom – an dessen den Ort sprengender, raumgreifender Erweiterung man in Konkurrenz zu Florenz bereits arbeitete – am oberen linken Bildrand wie gerade noch hinzugesetzt. Auch wird man den Ort des Freskos, den Palazzo Pubblico, vergeblich suchen. Auffallend anders verhält es sich mit der Stadtmauer als der bis dahin gebräuchlichsten Grenzziehung von Ort- und Raumerfahrung. Auf den ersten Blick spricht das nicht unbedingt für die Vermittlung der Differenz zwischen Ort und Raum, bzw. von Stadt und Land. Und doch tut die Mauer nichts anderes, weil sie als Grenze bei Lorenzetti in ihrer symbolischen Aufladung nicht mehr eindeutig sondern doppelt konnotiert ist. Einmal ist sie das, was sie als Mauer ist: eine wehrhafte, Zinnen bekrönte Anhäufung von schwerem Steinmaterial. Gleichzeitig erscheint sie aber auch in dem, was sie überwindet bzw. in den außerstädtischen Raum transzendiert, der juristisch, politisch, ökonomisch und sozial9 auf den Stadtraum als Ort der Vergesellschaftung somit bezogen bleibt. In ihrer Symbolik ist die Mauer höchst ambivalent. Sie zu begreifen, setzt beim Einzelnen ein gewisses Abstraktionsvermögen voraus, besser ein Vorstellungsvermögen, das auf Kenntnis zurückgreifen kann. So gesehen ist die Mauer in Lorenzettis Fresko Ausdruck einer intellektuellen Leistung: sich innerhalb ihrer Grenzmarkierung der durch sie symbolisierten Notwendigkeit der Grenzüberschreitung bewusst zu werden. Die Mauer hätte somit eine körperliche und eine kognitive Dimension. Sie trennt nicht nur, sie vermittelt auch und das nicht von ungefähr
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Vornehmlich des Popolo Grasso, jenes wirtschaftlich und politisch dominierenden Teils der Bürgerschaft, der in Zünften organisiert war und die Geschicke der Stadtrepubliken lenkte. Z.B. die Villen der Städter im Contado, dem der Herrschaft der Stadtstaaten unterworfenen Umland.
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mithilfe des Mediums ihrer so oft gerühmten Schönheit, für deren Begründung ihre fortifikatorische Funktion allein nicht ausreichte.
Abb. 2: Ambrogio Lorenzetti, Das gute Regiment (Ausschnitt). Siena 1337-39. Als ein mit Bedeutungen besetzter und zu besetzender Raum zwischen zwei Orten, hier dem der Stadt und dem des Landes, wird die Mauer zu einem Dazwischen. Als eine relativ stabile Raumkonstitution wird sie in der alltäglichen Lebenspraxis von der Körperlichkeit der Subjekte als Dazwischen zwischen Ort und Ferne erschlossen. Die Mauer erfüllt aber auch eine weitere Bedeutung, für die wir uns von der Körperzentriertheit der Orts- und Raumerfahrung lösen müssen. Als Dazwischen besitzt die Mauer ihre zweite Bedeutung in ihrer kognitiven Dimension. Sie ist damit das geradezu klassische Sinnbild einer modernen und ununterbrochenen Erfahrung von Grenzverwischung und Grenzauflösung in Wahrnehmung und Praktik des Grenzüberschreitens bzw. der Verwischung von Innen (Ort) und Außen (Raum). Da die Mauer in ihrer zweifachen Bedeutung nicht eindeutig ist – weder nur Objekt körperzentrierter Erfahrung im Verweis auf den geschlossenen Stadtraum noch nur Grenzauflösung im Verweis auf den urbanisierten Einheitsraum von Stadt und Land –, ist sie bereits hier zu solch differenzierter Vermittlung fähig. Die Mauer verkörpert nicht nur den Gegensatz, sondern auch das Verhältnis von Innen und Außen, das somit in das Innere der Stadt hinein genommen ist.
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Bildraum Ein Vorgang, wie der eben geschilderte, ist als Prozess ganz offensichtlich weder rein kognitiv noch im alltäglichen Erfahrungsablauf hinreichend präsent und nachzuvollziehen. Er muss vermittelt werden, wobei Vermittlung hier über die bis dahin traditionellen Grenzen des Bildhaften hinausgeht. Denn Lorenzetti formt den Bildraum neu. Um das zu erreichen, durchbricht er den ungleichmäßigen und kontraktiven mittelalterlichen „Raum der Orte“ und erschließt einen homogenen und extensiven „Raum des Raumes“. Die Ort-Raum-Differenz, als die von Innen und Außen, hat Lorezetti als eine für seine Zeitgenossen realitätsmächtige subjektive Erfahrung verarbeitet. Sie zu überwinden, dazu bedarf es nicht bloßer Gesetze, sondern einer externen Vermittlung in Gestalt des Bildes.10 Wir können allerdings auch nicht daran vorbeisehen, dass in der Bearbeitung von realen Differenzen in der Stadt durch die im Medium des Bildes ästhetisch geleistete Vermittlung zugleich eine neue Differenz entsteht: die zwischen der Realität des Lebens und seiner vorgestellten Idealität als utopisches Stadtbild.
Ästhetisierung als Vermittlung Das, was hier als Welt im Bild erscheint, stellt ein vom Ort aus gedachtes, erfahrungszugängliches Weltmodell dar. Das unterstreicht die Tatsache, dass das Buon Governo mit Città und Contado im Bild die Perspektive wiedergibt, die sich bietet, wenn man aus dem Nordfenster des Sitzungs- und Empfangsraums der Regierung blickt. Gleichwohl geht meine These dahin zu sagen, dass dieses Fresko ein Beleg für die Vermittlungsarbeit ist, die dieser historische, ortsübergreifende Schritt der frühbürgerlichen Stadtgesellschaft vor gut 670 Jahren erforderlich machte. Beide Dimensionen notwendiger Ort-Raum-Vermittlung sind bereits hier erfüllt bzw. klar erkennbar: Die alltagsweltliche, die dem Betrachter in reichlich lebendigem Erzählstoff dargeboten wird; und die politische, die hier tatsächlich auf die Vermittlung von lokaler Gesellschaft und überlokalem, nicht auf die Raumerfahrung der Stadt beschränktem politischem und ökonomischem System bezogen ist. Die Vermittlung dient
10 Überwindung aber meint hier noch die reflektierte Anwesenheit des Widersprüchlichen und keineswegs die Illusion eines widerspruchsfreien Lebens, das auf Vermittlung deshalb glaubt verzichten zu können, weil im ästhetisch grundierten Prozess des Vermittelns dessen ursächliche Erfordernis sich der Aufmerksamkeit des Betrachters entzieht. 88
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der Beherrschung aller Lagen, der nach außen gerichteten sowie der innerweltlichen Sicht.
Abb. 3: Ambrogio Lorenzetti, Das gute Regiment (Ausschnitt). Siena 1337-39. Möglich wird das, weil es gelingt, Ort und Raum bewusstseinsmäßig durch Raumanalogien mit dem Medium des Ästhetischen zusammenzuhalten, das damit virtuell eine identitätsstiftende Funktion übernimmt. In dieser Funktion besetzt das Ästhetische eine Leerstelle zwischen Ort und Raum, die es ausfüllt und beiden Dimensionen körperlicher und kognitiver Raumerfahrung eine weitere hinzufügt. Es steht demnach nicht nur im Dienste einer Vermittlung, ginge also ganz darin auf; stattdessen konstituiert die kulturelle Form des Bildraums ihrerseits eine Ort- und Raumerfahrung, die über ihre praktische Notwendigkeit hinausreicht und darin utopischen Charakter besitzt. Dabei kommt es in der konzentrierten Form der bildlichen Darstellung der Stadt Siena, ihres Contado und in der ästhetischen Vergegenwärtigung der Tyrannis unter der Hand zu einer Ästhetisierung aller Erscheinungen des praktischen Lebens: Architekturen, Kleidungen, Körperhaltungen, Tätigkeiten, distinktives Verhalten, ja auch Geländeformationen sind in einem ästhetischen Ausdruck zusammengeführt. Durch ihn, als Medium, macht sich der Betrachter ein Bild vom städtischen Leben. Als ästhetisierte erscheint Lebenspraxis im Bild als gelungene, womit sie in dieser kulturellen Ausdrucksvariante zwangsläufig Vorbildcharakter annimmt. Die Rückwirkung des Bildes 89
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auf das Verhalten der Stadtbürger bleibt demnach nicht beschränkt auf die Übersetzung komplizierter Gesetzestexte. Das Bild verändert den Blick auf Ort und Raum im Medium einer Ästhetisierung, die die Differenz zwischen Ort und Raum vermittelt. Zu solcher visionären Leistung ist zu jener Zeit wohl nur die Sprache der Kunst fähig. Ihr gelingt es, den Betrachtern vor Augen zu führen, was sie glaubten zu kennen und doch so nicht wissen konnten. Der Freskenzyklus erzählt nicht nur, sondern ist selber Schauplatz der verschiedensten Energien, die zu seinem Entstehen beigetragen und darin Eingang gefunden haben. Will man sich darauf verstehen, dass dieses Fresko nicht nur eine im Verhältnis 1:1 ins Bild übersetzte Enzyklopädie, ein pädagogisches und politisches oder philosophisch-religiöses Programm ist, dann wird man dem Bild jenen Eigensinn attestieren müssen, den es als eigenständiges Vermittlungs- und Erfahrungsmedium besitzt. Es also Kenntnisse, Vorstellungen, Wünsche und Ängste artikuliert, die in ihrer Aussagekraft und ihrer Wirkung partiell über das ihm zugrunde liegende Wissen hinausgehen. Utopie ist hier konkrete Utopie!11 Es ist die Kunst – als höchste Potenz kultureller Leistung, damit der Stadt gleichgestellt und wie sie Ausdruck einer kollektiven und kulturellen Identität –, die maßgeblichen Anteil an der Transformation von Ort und Raum hat. Der von ihr hervorgebrachte Blick wird zu einem den Raum konstituierenden Faktor.
Objektraum und Lebensraum Lorenzetti und seine Zeitgenossen hatten offenkundig eine Vorstellung davon, dass der Raum eine kulturelle Konfiguration sozialer Beziehungen und die räumliche Organisation der Gesellschaft integraler Bestandteil der Herstellung sozialer Verhältnisse ist. So ist die Stadt einmal ein Objekt-Raum, der für seine Bewohner weitgehend konstant zu sein scheint, sieht man einmal von den Bauarbeiten an einigen Stadthäusern ab. Stadt ist aber auch als Lebensraum dargestellt, und zwar als eine deutlich in Bewegung befindliche Konstruktion. Und auch die Landschaft ist kein leerer, sondern ein gefüllter, von Menschen und Tieren belebter Raum. Dessen Bewegungen verändern den Raum und erzeugen, 11 Auf einem der Bildtexte ist zu lesen, dass das Leben in jener Stadt „süß und ruhig“ sei. In solch wunderbarer Verwandlung unzulänglicher Lebenswirklichkeit in eine Idealität durch die Wirkungs- bzw. Überzeugungsmacht des ästhetisch Konstruierten ist ein Versprechen enthalten, dessen ambivalenter Kraft sich das moderne Bewusstsein bis zum heutigen Tage nicht mehr hat entziehen können. 90
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was wir als Vermittlungsstrecke zwischen den Orten, als das Dazwischen bezeichnen. Unser Blick wandert von einer Bewegung zur anderen, er schweift umher, so dass wir Stadt hier als etwas Festes und zugleich „Fluides“ erleben. Immer handelt es sich um Resultate einer kulturellen und sozialen Produktion, die die Stadt zum Bezugshorizont allen Geschehens machen. Und es bedarf erstmals der großen bildlichen Darstellung, um den Zusammenhang zwischen Objektraum und Lebensraum plausibel zu machen und die permanente Bewegung im Lebensraum als eine den Raum erzeugende Leistung zu begreifen. Raumerfahrung gewinnt somit, neben ihrer körperlichen Seite, durch die neuartige Rolle des Bildes eine kognitive Dimension. Durch die Inhalte der Erzählung ohnehin auf das historische Wissen bezogen, erfordern Herstellung und Wahrnehmung des Bildes ein von der Körpererfahrung partiell emanzipiertes Vorstellungsvermögen, wie es sich insbesondere in der erstmaligen ästhetischen Vergegenwärtigung der Natur als urbanisierten Landschaftsraum zeigt. Eine Epoche machende zivilisatorische und nicht minder intellektuelle Leistung.
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UND
ÖKONOMIE
Praxis ohne Kritik? Die wenige Jahre zurückliegende Debatte um eine projektive Architektur zugunsten einer Post-critical Position erweckt den Eindruck, im Zuge des vermeintlichen Paradigmenwechsels das aufklärerische Potenzial der Kritik billigend aufs Spiel zu setzen. Über die Motive mag man rätseln. Vielleicht verhält es sich einfach so, dass man – Opportunismus nicht ausgeschlossen – allzu vordergründig darauf spekuliert, im vor allem usamerikanischen Diskurs auf diesem Weg schroffer Ablehnung Aufmerksamkeit zu erheischen. Wie schon so oft im Feld der Architektur geschehen1, glaubt man, von einem Extrem in das andere verfallen zu müssen (zu erinnern an „Postmoderne vs. Moderne“), um nicht nur neue Paradigmen sondern auch ihre Protagonisten ins rechte Licht zu rücken. Ich will mich dabei jeder weiteren Spekulation enthalten, was in diesem Fall die Beweggründe dafür waren und mich nicht den Vermutungen etwa von Georg Baird2 anschließen, hier sei bei Robert Somol und Sarah Whiting (oder Michael Speaks’ Ablösung von Frederic Jameson) ödipaler Protest im Spiel, ein „Vernichten“ solcher „Väter“, wie Tafuri und insbesondere Eisenman, der das ja auch sein wollte (und ganz offensichtlich auch war). Oder Konkurrenten, wie den in Harvard lehrenden Kollegen Mi1
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Ich erinnere an die vor allem in Deutschland Anfang der 1980er Jahre inszenierte unsinnige Konfrontation der Moderne mit der Postmoderne, von der man später mit der Rede von der „zweiten Moderne“ glaubte, wieder etwas zurücknehmen zu müssen. Baird, Georg: Criticality and its Discontents, in: Harvard Design Magazine, Fall 2004/Winter 2005, S. 1-6. Martin, Reinhold: On Theory. Critical of What?, in: Harvard Design Magazine, No 22, Spring/ Summer 2005. Robert Somol/Sarah Whiting: Notes Around the Doppler Effect and Other Moods of Modernism, in: Perspecta 33: The Yale Architectural Journal, 2002, S. 73. 93
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chael Hays, im unmittelbaren akademischen Feld in die Schranken zu verweisen. Wobei ich durchaus Verständnis dafür habe, wenn junge Architektinnen und Architekten sich nicht länger von Altmarxisten oder im philosophischen Pas-de-Deux (Eisenman und Derrida) gescheiterten Großmeistern des globalen Architekturdiskurses (auch Tafuris resignierende Hinwendung zur venezianischen Architekturgeschichte) die Verhältnisse schwarz reden lassen wollen. Gleichwohl könnte man geneigt sein, aus der Distanz über derartige innerakademische Auseinandersetzungen schnell wieder zur Tagesordnung überzugehen.3 Wenn es da nicht diese irritierende Rede von der Tradition der Kritischen Theorie gäbe, mit deren Zurückweisung man offensichtlich meint, jedwede Form kritischer Position gleich mit kassieren zu können. Dazu wäre viel zu sagen, vor allem hinsichtlich der Frage, was an Kritischer Theorie im us-amerikanischen Architekturdiskurs eigentlich der Fall ist. Kritische Theorie im sowohl politischen als auch ästhetischen Sinn nur mit Negation, Verweigerung und behaupteter Autonomie gleichzusetzen (die Rezeption Tafuris und Eisenmans Architekturtheorie und -praxis), übersieht die auch praktisch-pragmatischen Interventionsabsichten dieser Gesellschafts- und Kulturtheorie und -kritik des Spätkapitalismus. Aber selbst dann, wenn ich mich aufgrund meiner biografisch gefärbten Nähe zur Frankfurter Schule irrte und Kritische Theorie gerade in ästhetischer Hinsicht einzig auf die Radikalität einer Kunstautonomie hinausliefe – was sie bei Adorno ja auch tut, wenngleich er, wie kaum ein anderer kritischer Intellektueller der 1950er und 1960er Jahre kommentierend und diskutierend im Radio präsent war: Das allein wäre noch kein Grund, nun jeder Kritik abzuschwören, um sich nach Maßgabe eines affirmativen Zynismus, wie Rem Koolhaas ihn so perfekt beherrscht, den Imperativen des Geschäfts auszuliefern. Sich auf Verhältnisse einzulassen, muss beileibe nicht in einem Widerspruch zur kritischen Haltung diesen Verhältnissen gegenüberstehen. Der eingegangene Kompromiss (und architektonische Praxis ist ohne ihn vielleicht zu denken aber nicht zu haben und deshalb ist er auszuhalten) muss doch nicht im Interesse der Rechtfertigung des eigenen Tuns zwangsläufig zur Legitimierung des Gesamten führen. Es kennzeichnet die kulturkritischen Strategien auch der Kritischen Theorie, die Transformationen der ökonomischen, sozialen und kulturellen Verfassung unserer Gesellschaft zum Gegenstand vielfältiger Unter3
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Zumal die Architekturpraxis der letzten sechzig Jahre in Deutschland für sich in Anspruch nehmen kann, dass sie sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nie hat beeindrucken lassen von jeglicher Architekturtheorie und Kritik, ganz zu schweigen von der Kritischen Theorie. Letztere hat in diesem Feld keine erwähnenswerte Rolle gespielt.
ÄSTHETISIERUNG, KULTUR UND ÖKONOMIE
suchungen zu machen. Man kann diese Transformationen im Sinne einer Kulturkritik als Zerfallsgeschichte schreiben, die sich methodisch rückkoppelt an ein im historischen Prozess verortetes Ideal gesellschaftlicher Zustände. Im Stadtdiskurs geschieht dies meist dann, wenn Urbanität als geglückte städtische Lebensweise beschworen wird, für die es gleich mehrere historische Bezugsgrößen gibt. Sie reichen vom Mittelalter über die Renaissancestadt bis an die Wende zum 20. Jahrhundert. Auch fällt auf, dass weder in der Favorisierung einer ästhetischen Autonomie der Architektur (als Kritik) noch in der ihr opponierenden post-kritischen, projektiven architektonischen Praxis die Erörterung des Trägers/der Träger des kulturellen Prozesses eine erkenntnistheoretisch relevante Rolle spielt.4 Demgegenüber wäre der kulturelle Transformationsprozess als Wandel von Kulturmodellen nachzuzeichnen, in denen es auf voneinander abweichende Weise um die Kultivierung des Subjekts geht.5
Ästhetisierung und Urbanität Ästhetisierungen, wie sie sich seit geraumer Zeit auch in der veränderten medialen Transformation der Architektur und der Räume der Stadt manifestieren, sind in ihrer universellen Ausformung die beherrschende Tendenz gegenwärtiger kultureller Entwicklungen. Wobei sich das Zusammenspiel von Ökonomie, Kultur und Ästhetik seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht nur enorm beschleunigt sondern auch qualitativ erheblich verändert hat. Vormalige Grenzziehungen werden nun aufgegeben mit dem Resultat einer Schwindel erregender Ausdehnung des Ästhetischen in nahezu alle Bereiche unserer Lebenspraxis. Es ist dieser so offenkundig sichtbare, formästhetisch tendenziell unabgeschlossene, diskursiv kommunizierbare Sachverhalt, der ganz wesentlich unseren Eindruck nährt, dass sich die Stadt dabei gegenüber früheren Formen urbanen Lebens in einem entscheidenden Punkt verändert hat: Sie ist uns nicht mehr, wie noch die fordistische Stadt, nur Objekt, das wir mit unseren Subjektivitäten beleben – oft genug auch gegen dessen Widerstand. Stattdessen verkörpert das Urbane mittlerweile selber ein solches Maß an Substanz, das es uns als das Resultat seiner eigenen 4
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Siehe dazu Kittlausz, Viktor. G.: Hybride Architekturen. Transfer von Konzepten und Verortungen des Subjektiven in der zeitgenössischen Architektur, (Logos Verlag) Berlin: 2005. Siehe zuvor im Beitrag „Straße und Integration“, S. 37ff. Auch dazu Dröge, Franz/Müller, Michael: Die Macht der Schönheit. Avantgarde und Faschismus oder Die Geburt der Massenkultur, Hamburg: 1995, S. 91-107. 95
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Schöpfung erscheinen lässt. Wir erleben die Stadt also nicht mehr nur als ein menschliches Produkt sondern als Schöpfung und Schöpfer in einem. Im Vergleich zu vormaligen Stadien ihrer Modernität ist es das Medium der Ästhetisierung, worin die Stadt heute die Sichtbarkeit der Modernität voll und ganz repräsentiert. Wobei sie in dem, was verborgen bleibt, unendliche Möglichkeiten der Hervorbringung des noch ganz Unbekannten bereit hält, von uns gleichermaßen besetzt mit Hoffnungen, Illusionen und leider auch mit einem erheblichen Maß an Ängsten.6
Ökonomisches Kulturmodell Wir befinden uns seit der Rekonstruktionsphase der kapitalistischen Industriegesellschaften in der Nachkriegszeit in einem allmählich immer stärker Kontur gewinnenden kulturellen Modellbildungsprozess, den ich als ökonomisches Kulturmodell bezeichne. In den USA setzt dieser Prozess sehr viel früher ein, weil hier die Definitionskämpfe gar nicht oder kaum stattgefunden haben und die Bedingungen hier immer schon so waren, wie sie etwa in Deutschland erst nach dem Kriege hergestellt wurden. Dieser besagt in erster Annäherung ganz grob, dass das kulturelle System sektoral ausdifferenziert wird; wobei die historischen Träger der Differenzierung oft – jedoch nicht ausschließlich – avantgardistische oder revoltische Gruppierungen sind, die man heutzutage unter dem Sammelnamen Subkulturen vermarktet. Und die Sektoren werden Schritt für Schritt von außen nach innen, d. h. von den Subkulturrändern bis ins Zentrum der traditionellen Hochkultur kommerzialisiert. Unter Kommerzialisierung verstehe ich hier das angebotsökonomische Finishing der Kulturwaren für einen zwar diversifizierten, aber potenziell unbegrenzten Konsumentenmarkt zahlungsfähiger Nachfrage. Womit dann doch eine Grenze gesetzt wäre, nämlich die der Zahlungsfähigkeit. Ökonomisches und kulturelles System durchdringen sich wechselseitig. Damit deckt sich dieser Prozess weitgehend und zunehmend mit dem, was heute Globalisierung heißt. Auch dieses Kulturmodell ist, wie das soziale Kulturmodell, wieder ein Selbststeuerungsmodell. Allerdings läuft hier die Selbststeuerung nicht über die Effekte einer autonomen kulturellen Sozialisation und ästhetischen Erziehung mit dem Erfolg der zunehmenden Vervollkommnung eines kulturellen Habitustyps. Realitätsmächtig ist das ökonomische Kulturmodell über den Markt. Damit verliert der kulturelle Prozess dem politischen Modell gegenüber zwar seinen Zwang und den gewalt6
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Vgl. Read, S.: The Urban Image: Becoming Visible, in: Hauptmann, Deborah (Hg.): The Body in Architecture, Rotterdam: 2006, S. 52.
ÄSTHETISIERUNG, KULTUR UND ÖKONOMIE
förmig durchgesetzten Charakter der Verschönerung eben dieser Gewalt. Er gewinnt aber keine Autonomie oder jedenfalls nur eine beschränkte, in der es sich allerdings komfortabel einrichten lässt. Denn Märkte sind – wenn wir das Problem der Ökonomisierungsfolgen für die Kultur einmal vorläufig beiseite lassen – nur in der liberalen Theorie autonome Vermittlungsinstanzen. In der Praxis oligopolisieren sie von der Angebotsseite her immer mehr, nicht zuletzt unter der strategischen Einwirkung konservativ-liberaler Regierungen in nahezu allen Ländern der westlichen Welt in den letzten Jahrzehnten. Und kaum irgendwo sind die Märkte angebotsseitig stärker vermachtet als in bedeutenden Sektoren der Kulturökonomie, wo die noch längst nicht abgeschlossenen Konzentrationsbewegungen der großen Medien- und Telekommunikationskonzerne, allesamt Global Players, alle Sparten der materiellen Kulturproduktion unter ihre Kuratel nehmen. Erinnern wir uns an Frederic Jamesons7 einflussreiche These aus den 1980er Jahren, dass der Postmodernismus die kulturelle Logik des Spätkapitalismus sei. Nicht nur begrifflich bezieht er sich dabei auf die Theorie des Spätkapitalismus von Ernest Mandel8. Wie dieser vertritt er die Auffassung, dass seit den frühen 1960er Jahren, also bereits seit der Hochblüte des fordistisch-keynesianistischen Akkumulationsregimes, die Kulturproduktion in die allgemeine Warenproduktion eingedrungen sei. Der Zwang zur äußeren Produktdifferenzierung – Jameson spricht von „immer neuen Schüben immer neuer Waren“9 – von im Prinzip standardisierten Massenerzeugnissen habe zu ästhetischen Experimenten und Innovationen geführt. Für denselben Vorgang hat in jenen Jahren Wolfgang Fritz Haug10 den Begriff „Warenästhetik“ geprägt. Diese Tendenz radikalisiert sich in den 1970er Jahren mit der Ausbildung der neuen flexiblen Produktionsweise, vor allem auf der Grundlage neu entwickelter informationeller Steuerungstechnologien, die Kleinserien-, sogar Prototypenherstellung im großindustriellen Produktionszuschnitt ermöglichen. Das wird eine wesentliche Komponente dessen, was wir Ästhetisierung des Alltagslebens nennen. Doch ist das selbstverständlich nicht alles. Würde sich die Ästhetisierung nur auf die Oberflächen der industriell erzeugten Waren erstrecken, bliebe sie auf ihrem Weg ins Alltagsleben der Menschen gewissermaßen auf halber Strecke stecken. Sie muss auch die Menschen selbst ergreifen, äußerlich 7
Jameson, Frederic: Postmoderne. Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, in: Huyssen, A./Scherpe, K.A. (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek: 1994, S. 45-102. 8 Mandel, Ernest: Der Spätkapitalismus, Frankfurt/M.: 1973. 9 Jameson, Postmoderne, S. 48. 10 Haug, W., F.: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt/M.: 1971. 97
ÄSTHETISIERUNG, MUSEUM, SUBJEKT
und innerlich, durch flexible Imagebildung und durch kontinuierliches physiognomisches und psychisches Refreshment. Aber auch das ist nicht alles. Wolfgang Welsch11 hat darauf hingewiesen, dass die zeitgenössische Ästhetisierung nicht einfach ein Oberflächenphänomen der Warenwelt oder des menschlichen Körperdesigns sei sondern in die Tiefenstrukturen der Materie und der Objekte selbst eindringe. Ästhetisierung ist demnach ein universelles und ein ganzheitliches Phänomen mit Oberflächen- und Tiefendimensionen. In dem Fall kann sie sich in der Tat nicht nur auf die Warendistribution und ihren Konsum beziehen, obgleich auch diese Bereiche schon zu umfangreichen kulturellen Transformationen führen. In einer zunehmend künstlichen Welt, d. h. in einer gemachten, hergestellten, produzierten Welt kann dann auch Kultur kein eigenständiger Bereich von Produktion, Vermittlung und Aneignung ästhetischer Objekte je für sich mehr sein. Sie ist dem gesamten Produktionszusammenhang dieser Welt eingegliedert. Sie produziert sie mit. Das allerdings muss bedeuten, dass der Produktionsbegriff den herkömmlichen, rein ökonomischen Sinn des Herstellens überschreitet. Das kann bedeuten, dass die Grenzen der Ökonomie in der zeitgenössischen Gesellschaft nicht mehr festlegbar sind. Auf jeden Fall bedeutet es, dass Produzieren heute mehr ist als das Herstellen unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Im ökonomischen Kulturmodell, das in den 1960er Jahren beginnend allmählich ältere, bis in die Renaissance zurückreichende Kulturmodelle als dominante ersetzt, ohne dass diese deshalb vollständig verschwänden, wird die Ökonomie Träger, gar Innovator und Produzent kultureller Entwicklungen. Gemeint ist damit nicht nur die viel beredte Kulturindustrie sondern die gesamte Ökonomie, von der heute dominierenden Finanzindustrie über die ausdifferenzierten Sektoren der Dienstleistungsindustrie bis zu den sehr heterogenen Segmenten der Warenproduktion. Es ist sogar eher so, dass im Zuge dieser Entwicklungen und kulturellen Verschiebungen die Kulturindustrie ihren ehemaligen autonomen Status als eigenes kulturelles und kulturökonomisches Segment verliert oder mindestens abschwächt und an verschiedenen Punkten in die Bereiche der allgemeinen Ökonomie hineinwächst. Auch das heißt nicht steigende ökonomische Funktionalisierung schlechthin, wenngleich das eine nicht zu vernachlässigende Komponente bildet. Der Produktionszusammenhang wird komplexer. Aufgrund des dabei institutionalisierten Experimentalzwanges dürften Ambivalenzen zuwachsen, die das ökonomische Produzieren unter Verwertungsimperativen zwar nach
11 Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken, Stuttgart: 1990. 98
ÄSTHETISIERUNG, KULTUR UND ÖKONOMIE
wie vor prägen, es aber zugleich auch im oben ausgeführten Sinne des Begriffs Produzieren übersteigen. Hierfür gibt es zunächst zwei direkt ins Auge springende Hinweise. Das sind zum einen die sich in der ersten Hälfte der 1990er Jahre überschlagenden Fusionen zwischen Programm-, informationstechnischen und Fernmeldeindustrien, politisch gewollt und ermöglicht durch die Deregulierungspolitik der Industriestaaten vor allem im zuletzt genannten Sektor. Die Folgen bestehen bekanntermaßen in einer enormen Konzentration der kulturellen Distributionsindustrien, die über ihre fusionierten Teile zugleich aber auch in ganz anderen Wirtschaftssektoren tätig sind, vor allem im infrastrukturellen Ausbau der Fernmeldetechnik und ihrer kommerziellen Nutzung. Zum anderen beobachten wir eine abnehmende Fertigungstiefe der Kulturwarenproduktion dieser Distributionsindustrien und zwar in allen ihren Sparten, vom Verlagswesen, über Film- und Fernsehindustrie bis zur Musikindustrie. Immer mehr wird ausgelagert in selbstständige, meist kleine bis mittelständische Produktions- und Dienstleistungsfirmen12, sodass die eigene Wertschöpfung der Großunternehmen oft nur in der Endmontage des Produkts bzw. in seiner mediatisierten Distribution liegt. Das heißt zusammengefasst: Die Kulturindustrie wiederholt in ihrem Konzentrationsprozess zugleich die für die Gesamtwirtschaft typischen Muster vertikaler Desintegration ihrer produktiven Strukturen. Wenn die Kulturindustrie aber über gesamtwirtschaftliche Verflechtungen, auch die allgemeinen Strukturmuster der spezifischen postfordistischen Disintegration in verschiedene Bereiche der allgemeinen Ökonomie hineinwächst, so heißt das keineswegs, dass ihre Bedeutung abnähme. Im Gegenteil, das gewaltig gesteigerte Wirtschaftspotenzial dieser Industrie, die überdies vollständig globalisiert ist, zeigt ihre steigende Bedeutung. Diese ist nur dabei, sich zu wandeln. Dadurch, dass die Kulturindustrie in alle Poren des Wirtschaftskörpers eindringt, ist ihre Bedeutung nicht mehr ausschließlich (wirtschaftlich oder kulturell) sektoral zu bestimmen, sondern sie wird zunehmend universalisiert.
Ent-Differenzierung Aber diese Entwicklung der Kulturindustrie ist nur ein Aspekt des ökonomischen Kulturmodells. Die Wirtschaft ist in ihm Sinn gebender und materiell-gegenständlicher Bezugshorizont und zugleich Träger und Mo12 Lash, Scott/Urry, John: Economies of Signs and Space, London: 1994, S. 111-144. 99
ÄSTHETISIERUNG, MUSEUM, SUBJEKT
tor der kulturellen Entwicklung. Das bedeutet die wechselseitige, ausschließlich interne Programmierung der miteinander verknüpften Elemente Ökonomie und Kultur und die Dynamisierung ihrer Prozesse. Die rekursive Ausgestaltung der Programmierungen und Prozesse sichert darüber hinaus ein hohes Maß an Lern- und Anpassungsfähigkeit an von außen gesetzte Bedingungen wie z. B. Veränderungen der Sozialstruktur, nicht selbst produzierte Moden, neue Technologien, Veränderungen von Raumstrukturen oder städtische Transformationen. Aber auch diese „externen“ Bedingungen sind solche, die zunehmend selbst erst von dem Komplex Ökonomie/Kultur produziert bzw. mitproduziert sind. Ihre Wahrnehmung und Umgehung oder Anpassung führen über das Lernen am Erfolg zu Neuprogrammierungen des Durchdringungsverhältnisses von Ökonomie und Kultur, deren Handlungssubjekte im weitesten Sinne Unternehmen sind.13 Zum anderen bedeutet das, dass sich diese beiden Kernsysteme moderner Gesellschaften wieder entdifferenzieren, dass sie nicht mehr füreinander Umwelten sind sondern zu „einer Welt“ zusammenwachsen. Das heißt, dass die Jahrhunderte lange Tendenz der zunehmenden Autonomisierung dieser (und natürlich auch anderer) Teilsysteme der Gesellschaft in der kurzen Zeitspanne von zwanzig bis dreißig Jahren in ihr Gegenteil gewendet ist: statt Differenzierung und Autonomisierung jetzt Entdifferenzierung und Durchdringung. Diesen Sachverhalt riecht man und schmeckt man irgendwie. Auf die eine oder andere Weise ist er jedermann bewusst. Im kritischen Feuilletonismus – gleichgültig ob „progressiver“ oder konservativer Spielart – wird er seit geraumer Zeit als Kommerzialisierung der Kultur plakatiert und nicht selten als kulturfern zurückgewiesen. Das aber verkennt die Bewegungsrichtung: Nicht die Ökonomie dringt in die Kultur ein sondern es ist umgekehrt: es ist die Ökonomie, die kulturell aufgeladen wird.
13 Mitte der 1980er Jahre ist erstmals vom Lead user die Rede als Strategie innovativen Managments, das Verhalten von Konsumenten an avanciertem Warengebrauch einzelner Konsumenten zu beobachten, um daraus Konsequenzen für weitere Produktentwicklung zu ziehen. Vgl. u.a. Hippel, E.v./Urban, G.I.: Lead user analyses for the development of new industrial products, in: Managment Science, 34, 5, 1988, S. 569-582; Hestatt, C./Lüthe, C./Lettl, C.: Wie fortschrittliche Kunden zu Innovationen stimulieren. How customers stimulate innovations, in: Harvard Business Manager, 24, 1, 2002, S 64-68. 100
ÄSTHETISIERUNG, KULTUR UND ÖKONOMIE
Kommerzialisierung Tatsächlich ist in der Vergangenheit in der Ausbildung der Massenkultur Kommerzialisierung ein Transformationsmechanismus der affirmativen Kultur gewesen. Im Bereich der Popular Culture geschieht dasselbe ebenfalls massenhaft. Die Produktionsapparate wollen gefüttert sein, der Umsatz muss stimmen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass sich Kultur heute genauso rechnen muss wie Früchteyoghurt. Aber sie darauf festzulegen, wäre noch nicht einmal die halbe Wahrheit. Trotzdem lässt sich die Sache noch weiter zuspitzen: Schließlich verschwindet die fordistische, die standardisierte Massenkultur der großen Apparate nicht einfach. Dafür befriedigt sie noch immer und auf unabsehbare Zeit zu viele Bedürfnisse, wie ja auch die Transformation der Kulturindustrie trotz allen Tempos sich nicht auf einen Streich vollzieht, möglicherweise überhaupt nie vollendet werden wird. Und selbst wenn das passiert sein sollte: die Produktions- und Distributionskapazitäten sind nicht geschrumpft sondern vervielfachen sich, dem Akkumulationsprinzip der Kapitalbildung entsprechend. Was der Expansion der Kapazitäten mit Sicherheit nachhinken wird, ist die entsprechende Entwicklung kreativer, menschlicher Potenzen zur Beschickung der Kapazitäten, so dass die Ausbeutung des Vorhandenen für die Kulturmärkte nicht ab- sondern zunehmen wird. Denn die Ausbildung solcher Potenzen ist unter Verwertungsgesichtspunkten erstens zu kostenintensiv und zweitens in der heute fast ausschließlich herrschenden Ökonomie der Zeitpräferenzen zu langfristig. Halten wir fest, dass die postfordistische Ökonomie ihre Kultur selber herstellt. Sie wird damit als ganze zur kulturellen Ökonomie. Hierfür lassen sich mindestens vier miteinander verflochtene und in der Wirkung kumulierende Prozesse ausmachen: Zum einen die bereits angesprochene Integration der verschiedenen Sektoren der traditionellen Kulturindustrie und ihre Einfügung in übergreifende Zusammenhänge. Zum zweiten ist die strukturelle Mediatisierung der Ökonomie selbst zu nennen. Der dritte Prozess ist der der bereits erwähnten generellen Ästhetisierung. Und viertens schließlich sind soziale Strukturveränderungen zu beobachten, die auf die wirtschaftliche Umstrukturierung zurückzuführen sind und in denen vor allem in dem hoch qualifizierten, gut verdienenden Segment der neuen Dienstleistungseliten die Nachfrage nach den kulturell aufgeladenen Gütern und Diensten in ihrem eigenen Angebot mitproduziert wird. Diese kulturkonsumtiven Ansprüche sind bereits in sich hoch different, wie dieses Beschäftigungssegment selbst in seinen Qualifikationsprofilen stark differiert; und das setzt sich in die Mittelschichten als Anspruchsdifferenzierung fort. 101
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Aber worum geht es sonst, wenn nicht um die Synchronisation dieser Ansprüche mit den Angeboten? Auch in der bürgerlichen Kultur ging es um nichts anderes, und wir wissen, wie wenig das funktioniert hat. Das heißt, die reine ökonomische Funktionalisierung der Kultur mag zwar in der postfordistischen Ökonomie intendiert sein, sie ist aber keineswegs das Finish ihres empirischen Funktionierens. Um auf das Eingangsstatement von Jameson zurückzukommen: Es ist glanzvoll formuliert, aber die kulturelle Logik des Spätkapitalismus hat ziemlich viele Risse in ihrer Fassade. Dass die standardisierte Kulturproduktion, vor allem ihre Distributionsmechanismen, noch immer wie ein riesiger Block in das Neue hineinragt, zeigt nur, dass es auch in einer ausdifferenzierten Nachfragestruktur nach wie vor homogene Großaggregate gibt, und dass die postfordistische Transformation der Ökonomie (und der Kulturindustrie) selber kein Zustand, keine wirtschafts- oder kulturgeschichtliche Epoche sondern ein offener Prozess ist, der immer auch eine sehr solide Absturzmöglichkeit impliziert. Genau diese Tatsache eröffnet aber zugleich zwei weitere empirische Fenster. Einesteils bleibt dieser eminente Block uns noch sehr lange erhalten. Er wird sich, auch architektonisch, sogar noch verfestigen und qualitativ weiter absinken; denn die zunehmende Verarmung in der Gesellschaft (nicht der Gesellschaft) zieht zwangsläufig Standardisierungen in Konsummustern und Freizeitverhalten auf immer stärker abgesenktem Niveau der Refinanzierbarkeit der zur Verfügung stehenden Reproduktionsmittel der Individuen und Familien nach sich. Und andernteils folgt daraus, dass Kultur aktuell in unterschiedlichen zeitlichen Schichtungen produziert wird und mithin als ungleichzeitiger funktioneller Komplex existiert. Ich meine damit nicht die historischen Sedimentierungen in Stadtbildern oder Museen, sondern die aktuellen Hervorbringungen. Ich denke dabei auch nicht direkt an Stilunterschiede, also das, was im postmodernen Historismus unmittelbar thematisiert wird. Oder die unendlich lange Nostalgiewelle, die auf sehr unterschiedlichen technischen Niveaus und vor allem in nahezu allen Industrien produziert wird. Mit historischer Schichtung in der aktuellen Kultur ist durchaus so etwas Ähnliches gemeint: Die Gleichzeitigkeit – und in dieser Gleichzeitigkeit die gegenseitige Relativierung – kultureller Produkte von historisch unterschiedlich verfassten und konstituierten kulturproduktiven Industrien. Also die Gleichzeitigkeit von massenkulturellem Block und von postfordistischer Segmentierung. Und dazu müssen wir immer noch die handwerkliche bis manufakturierte Produktion der traditionellen
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ÄSTHETISIERUNG, KULTUR UND ÖKONOMIE
Künste rechnen.14 Das bedeutet, dass nicht nur die vor allem über Mode ausdifferenzierte postfordistische Kultur ein allseits als solches gewürdigtes Differenzphänomen darstellt. Auch die Kultur des Blocks steht dazu auch in Differenz, was noch dadurch verstärkt wird, dass er durch die angesprochenen Prozesse seiner wirtschaftlichen Grundlagen und Strukturen selbst eine zunehmend heterogene Verfassung erhält. So viel zum ersten Aspekt von Kommerzialisierung der Kultur, als welche die Entdifferenzierung von ökonomischem und kulturellem System häufig traktiert wird. Es zeigt sich, dass es sich um einen Begriff handelt, der unter den Bedingungen der gegenwärtig ablaufenden kulturellen Transformationen in ihren viel umfassenderen Zusammenhängen einer deutlich differenzierteren Betrachtung unterzogen werden muss. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man auf die Qualitäten der transformierten Produkte selbst zu sprechen kommt.
Zeit-Raum-Kompression Kommen wir zu einem weiteren, die Ästhetisierung vorantreibenden Aspekt, den der „Zeit-Raum-Kompression“, den David Harvey15 ins Zentrum seiner Analyse der Gegenwartsgesellschaft und ihrer Kultur stellt. Dabei handelt es sich um einen grundlegenden Transformationsmechanismus moderner Gesellschaften, der oft in Tabellen oder Schaubildern dargestellt wird, in denen die Raum-Zeit-Relationen durch die Erfindung neuer Kommunikationstechnologien vom Segelschiff, über Eisenbahn, Flugzeug bis hin zu den gegenwärtigen Digitaltechnologien mit ihrem Echtzeittransfer von Informationen und Daten symbolisiert sind.16 Die Ursachen für eine qualitative Beschleunigung seit Anfang der 1970er Jahre liegen in dem Zusammenbruch des fordistischen Modells der Massenproduktion in einer Überakkumulationskrise mit einer lang anhaltenden Stagflationssymptomatik. Die Folge einer solchen Krise ist 14 Obwohl sie mittlerweile auch wahrhaft industrielle Ausmaße erreicht hat, bedenkt man, dass momentan allein in der gegenwärtigen Welt-Kunstfabrik New York pro Jahrzehnt von ca. 150.000 Künstlern mehr als 15 Millionen Kunstwerke hergestellt werden (Taylor, B.: Modernism, postmodernism, realism: a critical perspective for art, Winchester: 1987, S. 77, zitiert nach Harvey, David: The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change, Oxford/Cambridge: 1989, S. 290. 15 Harvey, David: Die Postmoderne und die Verdichtung von Raum und Zeit, in: Kuhlmann, A (Hg.): Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne, Frankfurt/M.: 1994, S. 48-78. 16 Ebd., S. 49f. Siehe auch Harvey: The Condition of Postmodernity, S. 241f. 103
ÄSTHETISIERUNG, MUSEUM, SUBJEKT
zwangsläufig eine massenhafte Kapitalvernichtung, die sich sinnlich wahrnehmbar in der weltweiten Deindustrialisierung zuvor (wirtschaftlich) blühender Industrieregionen, in der Verödung und Verarmung ihrer Städte niederschlägt. Raum-Zeit-Kompression besteht in einer zunehmenden Beschleunigung im Turnover des Kapitalkreislaufs. Das bedeutet nicht, dass die fordistische Industrie verschwindet. Wie wir es schon bei dem „Block“ der industriellen Massenkultur beobachten konnten, bleiben auch einige fordistische Industrien erhalten, z. B. ihre Prototypen, die chemische und die Automobilindustrie. Allerdings werden auch sie restrukturiert und übernehmen viele der Flexibilisierungsinstrumente. All diese Verschiebungen und Veränderungen, die eine Restrukturierung der Gesamtökonomie auf der Grundlage ihrer Flexibilisierung darstellen, sind von durchschlagender kultureller Wirksamkeit. Und zwar in mindestens drei Hinsichten. Zum einen stellt der primäre Anlass aller Veränderungen auch tatsächlich ihr Resultat dar: die Raum-ZeitVerdichtung. Ihre farbigsten Effekte erzielt sie dabei in der Distribution und Konsumtion der Waren und Dienste. Dieser Wirkungsteppich wird üblicherweise unterm Label Ästhetisierung geführt. Zum zweiten wird die Ästhetisierung aber in die Dienste und in die Produkte, in ihren Vollzug und ihre Materialität selber hinein genommen durch eine zunehmende symbolische Grundierung nicht nur der nicht-materiellen sondern gerade auch der materiellen Güter. Lash und Urry17 sprechen davon, dass ein paradigmatischer Wandel von einer materiellen zu einer kulturellen Basierung aller Hervorbringungen in der postfordistischen Ära stattfinde. Zum dritten zieht die Flexibilisierung der Ökonomie eine ziemlich grundlegende Umwälzung der Sozialstruktur nach sich. Und diese bestimmt alle kulturellen Praktiken, ihre Differenzierungen, Aneignungsweisen und Idiosynkrasien, Verhaltensstilisierungen oder Repräsentationsweisen, Verkehrsformen und distinktiven Symbolisierungen. All diese Maßnahmen des Turnover einer steigenden Massenproduktion von Waren und Diensten beruhen auf zwei grundlegenden Mechanismen, die in dem Begriff Ästhetisierung zusammenzufassen sind. Zum einen werden sie immer stärker symbolisch aufgeladen, ihr symbolisches Wertversprechen, das in immer neu zu schaffende Wertsysteme eingebunden ist, muss das reine Gebrauchswertversprechen übersteigen, weil symbolische Bedeutungssysteme durch den konzentrierten Einsatz der modernen medialen Techniken schneller zu verändern sind als der effektive Gebrauchswert eines Dings trotz programmierten Verfalls in 17 Lash/Urry, Economies of Signs and Space. 104
ÄSTHETISIERUNG, KULTUR UND ÖKONOMIE
sinkender Halbwertzeit dauern würde. Weggeworfen werden in der „Wegwerfgesellschaft“ deshalb nicht nur die ebenfalls zu Gebrauchskunstwerken ausgestalteten Verpackungen sondern durchaus gebrauchsfähige Gegenstände zusammen mit den symbolischen Systemen, Wertüberzeugungen und Lebensstilen, in denen sie eine kurze Zeit bedeutungsvoll waren. Wenn Baudrillard18 behauptet, dass die marxistische Warenanalyse deshalb obsolet sei, weil der Kapitalismus heutzutage primär mit der Produktion von Zeichen und Zeichensystemen beschäftigt sei und weniger mit der Herstellung von Warenwerten, so zielt sein Argument in die richtige Richtung. Tatsächlich ist neben Gebrauchsund Tauschwert ein wachsender Anteil an Zeichenwert in allen Waren und Diensten vergegenständlicht. Der andere Hauptmechanismus besteht in der Produktdifferenzierung. Um differenzierte Dienste- und Produktidentitäten auf pluralisierte oder heterogene Bedürfnisse von Konsumentengruppen beziehen zu können, – was erst einen differenzierten Konsum sicherstellt –, ist es notwendig, auch diese Differenzen symbolisch zu stabilisieren. Oft werden auf diese Weise Produktidentitäten überhaupt nur symbolisch simuliert. Auch dieser Mechanismus trägt also wesentlich zur symbolischen Aufladung als Gesamtbefund und damit zur Ästhetisierung der hergestellten und durch Dienste vermittelten Welt bei. Nun können diese Symbolisierungen nicht den Dingen als Etiketten aufgeklebt werden. Auch das geschieht in großem Maßstab, bewährt sich aber nicht am Markt. Das heißt doch wohl: Auch die in diesem beschleunigten, ja geradezu fluiden Reproduktionsprozess aufeinander abgestimmten Dinge, ihre Symbolik und Lebensstile besitzen eine solche Stabilität und Interpretationsfähigkeit – früher hätte man vielleicht Authentizität gesagt –, dass nach kurzer Probe Talmi gegenüber „echter“, d. h. für einen solchen Abstimmungsvorgang oder kulturellen Sozialraum typischer Symbolik identifiziert und ausgeschieden werden kann. Diese kulturell reinterpretierte „Authentizität“ in Kontexten sehr heterogener individueller Handlungsbezüge, sich verhältnismäßig rasch wandelnder Selbstdeutungen und fluider Identitäten zeigt, dass die symbolischen Aufladungen tiefer ansetzen. Sie müssen in die Tiefenstrukturen der Dinge, in ihre Materie eingedrungen sein. In der Tat sind sie die wirkliche Erscheinungsweise der Dinge selber, nicht nur ihr angehefteter Schein. Das geht nur, wenn sie mit und in den Dingen selbst produziert werden, wenn sie einen wirklichen und nicht nur zugeschriebenen Zeichenwert besitzen. Wenn m.a.W. der Zeichenprozess nicht nur zur 18 Baudrillard, Jean: L’échange symbolique et la mort, Paris: 1973; dts. Der symbolische Tausch und der Tod, Berlin: 1982. 105
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Grundlage des Konsums sondern auch der Produktion von Konsumgütern geworden ist. Und das ist in steigendem Maße der Fall. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es gewiss verfehlt wäre anzunehmen, das ökonomische Kulturmodell stellte einen geschlossenen, ausschließlich wirtschaftlich definierten Determinationszusammenhang dar, der den ideologischen Verblendungszusammenhang, den Horkheimer und Adorno19 als Resultat der fordistischen Massenkultur glaubten annehmen zu müssen, eventuell noch durch Differenzierung perfektioniert hätte. Es ist zweifellos so, dass die kulturelle Produktion seit der fordistischen Phase zunehmend Moment des ökonomischen Reproduktionsprozesses geworden ist. Auch hat sich diese Entwicklung in den letzten dreißig Jahren beschleunigt. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Flexibilisierung und Globalisierung der Wirtschaft deren Anpassungsfähigkeit an Marktbedingungen erheblich verbessert haben; und das vor allem auch dank ihrer Fähigkeit, diese durch forcierten Symbolverschleiß in praktisch allen Gütergruppen selbst nachhaltig mitzubestimmen. So dürfte das Ausmaß der Produktion „objektiver Kultur“ sicherlich größer und überwältigender sein als es Georg Simmel20 zu Anfang des vorigen Jahrhunderts befürchtet hat. Wohl handelt es sich um eine sich mehr und mehr verstärkende Tendenz, jedoch beileibe nicht um den von der älteren Kritischen Theorie befürchteten Endzustand. Das ökonomische Kulturmodell ist, wie noch jedes vergangene Kulturmodell, ein Work in Progress. Auch die Künste, also der Bereich der traditionellen Hochkultur, wachsen immer stärker in wirtschaftliche Verwertungszusammenhänge und vermischen sich mit einzelnen Bereichen der Massenkultur. Ihre avancierten Vertreter, Medien- und Computerkünstler, werden z.T. zu Pionieren industrieller Entwicklungen, was die Bedeutung der Symbolbildungsprozesse in der Produktion noch einmal unterstreicht. Und doch produziert gerade der „hochkulturelle“ Bereich immer wieder seine Differenz mit. Wird man insgesamt vielleicht von einer starken Tendenz der Entautonomisierung der Künste sprechen können, so bedeutet das aber auch, dass die Grenzen der Autonomie laufend verschoben werden und zwar nicht nur nach hinten. In einem heterogenen, unübersichtlichen und von vielen Interessen umkämpften Feld werden sie an sehr verschiedenen Stellen aufgebaut, abgerissen und wieder neu errichtet. Der Grund liegt einfach darin, dass sich die Bedingungen der Autonomie wie auch ihre Gefährdungspotenziale gegenüber der klassischen Zeit der Kunstautonomie vermehrt 19 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor, W.: Dialektik der Aufklärung, Amsterdam: 1955. 20 Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben, in: Ders.: Brücke und Tür, Stuttgart: 1957, S. 227-242. 106
ÄSTHETISIERUNG, KULTUR UND ÖKONOMIE
haben und zugleich in ihren Wirkungsmöglichkeiten uneindeutiger und interpretationsbedürftiger geworden sind.
Kritische Produktion des Raums und Subjektivität Bei all dem spielt das eine Rolle, was Georg Simmel21 als den Gegenpol all dessen, was bisher behandelt wurde, begreift: Die „subjektive Kultur“, die damit vermittelt werden muss, also die soziale Form der vielen individuellen Subjektivitäten.22 Es ist sicherlich so, dass die angesprochenen Angebotsvorgaben die Individualitäten mit formen, indem sie deren Lebenswelten durch Objektbesetzungen strukturieren. Aber diese Lebenswelten gehen nicht in der ökonomischen Reproduktion auf, mithin auch nicht die Individuen. Im Gegenteil. Die Praktiken des neuen Akkumulationsregimes führen bei einer gesamtwirtschaftlichen Absenkung der Lohnquote und vor allem der Masseneinkommen zu einer starken Polarisierungstendenz der Sozialstruktur aller westlichen Gesellschaften, die den Schein mittelständischer Nivellierung im Rahmen der fordistischen Massenkultur der 1960er Jahre aufgelöst hat. Die postfordistische, sich immer weiter ausdifferenzierende Massenkultur orientiert sich mit hochwertigen und Luxusgütern in erster Linie an den Teilen der Bevölkerung, die entweder ihre mittelständischen Einkommen halten konnten oder an die Neuen Reichen. Der wachsende Rest der Bevölkerung wird mit qualitativ und im Preisniveau abgesenkten Massenkonsumgütern (noch) versorgt. So ist durch eine stark skalierte Produktpalette und sehr verschiedene Symbolisierungsrepertoires eine Akkumulation in den verschiedenen Wirtschaftssektoren trotz durchschnittlich sinkender kaufkräftiger Nachfrage (noch) möglich. Bei diesem postfordistischen Determinationsszenario mit seinen Folgen für die postmoderne Stadt wird – neben der sozialen Form der Subjektivitäten – oft auch vernachlässigt, was einer genaueren Analyse unterzogen werden muss: In wieweit lokale und regionale kulturelle Traditionen ihm entgegenwirken, es modifizieren oder auch in Einzelfällen beschleunigen. Wie weit solche Dinge den Charakter der angesprochenen Ereignisse beeinflussen, wie weit sie aber auch in die ebenfalls angesprochenen Entscheidungen als adaptive Parameter eingehen.
21 Ebd., S. 240f. 22 Vgl. Müller, Michael/Dröge, Franz: Die ausgestellte Stadt. Zur Differenz von Ort und Raum, Basel/Boston/Berlin: 2005, S. 79ff. 107
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M.a.W. wäre davon auszugehen, dass die entscheidenden Größen städtischer Entwicklungen politisch und kulturell gestaltungsfähig bleiben – trotz der scheinbar unaufhaltsam zum Primat in der Gesellschaft anschwellenden Bedeutung der Ökonomie, der, um sie zu gewinnen, buchstäblich alles, auch Grund und Boden der Städte, untergeordnet werden muss. Doch wie stets ist dies auch eine Frage nach handlungsfähigen Trägern einer solchen Gestaltung. Klammert man die aus der Analyse aus, unterwirft man sich dem Bild von der Naturwüchsigkeit und damit Unabwendbarkeit dominanter Prozesse, dann akzeptiert man die große Erzählung von den Sachzwängen wirtschaftlichen Überlebens, die angeblich alle großen Erzählungen der Vergangenheit, die von menschlichem Glück und fortschreitender Humanisierung der Welt handelten, gegenstandslos gemacht und funktionalistisch zertrümmert hat.
Ortsbildung An anderer Stelle (siehe S. 81ff.) hatte ich bereits im Zusammenhang von subjektiver Raumproduktion und Ortsbildung darauf hingewiesen, dass für uns die Stadt nur der äußerste Bezugshorizont aller sozialen Beziehungen. ist. Die Stadt ist ein abstrakter Raum der Gleichzeitigkeit alles Geschehens. Sie ist damit überkomplex und bei allen Stereotypen über die eigene Stadt für die meisten ihrer Bewohner im Prinzip undurchdringlich. Die lebensweltlichen Orte in diesem abstrakten Raum gleichzeitigen Geschehens sind jedoch ungleichzeitig. Die Ungleichzeitigkeit von Ortsperspektiven reduziert subjektiv die Komplexität des städtischen Raums, indem dieser in eine von individuellen Präferenzen bestimmte Ordnung aufgegliedert wird. So werden Orte für die Gewohnheiten der Individuen gesichert und in ein „subkulturelles“ System von Erfahrungswissen eingebaut, wie es für einen Nahbereich typisch ist. Der abstrakte Raum ist demnach zweifach strukturiert: Sowohl durch verschiedene Lebenswelten als auch für jedes Individuum in verschiedenen Lebenswelten, die nur selten auf den Bezugshorizont der ganzen Stadt treffen. Somit hat die Stadt für alle Bewohner unterschiedliche Grenzen. Der Raum besitzt für sie eine unterschiedliche Ausdehnung, je nach der räumlichen Anordnung und Gliederung ihrer lebensweltlichen Orte. Und dies bewirkt, dass die Stadtwahrnehmung zugleich immer auch eine Zeitstruktur der Raumüberwindung und der Ortserreichung enthält. Ortsbildung setzt also bei jedem einzelnen interaktive Bezüge voraus. Das Dazwischen. ist zwar nicht mehr so gut gesichert wie der Ort selbst, ist aber die Vermittlungsstrecke zwischen diesem und anderen 108
ÄSTHETISIERUNG, KULTUR UND ÖKONOMIE
Orten. Fast alles, was passiert, passiert hier: am Ort. Er ist individuelle und soziale Reproduktionseinheit, aus deren Routine er für uns seine Sicherheit bezieht. Demgegenüber ist alles, was sich als Vermittlung im Dazwischen ereignet, soziale und kulturelle Produktion und damit in gewisser Hinsicht auch individuelle Formbildung. Das Dazwischen ist nicht einfach die Negation des Ortes. De Certeau spricht hier von einer Konstruktion in Bewegung, in der Richtungsvektoren und Zeit verbunden sind. In diese Bewegung, die den Raum des Dazwischen subjektiv nicht konstant zu halten vermag, sondern ständig verändert, ist die Vermittlung von Orten aber auch von Differenzen eingeschrieben.
Au s b l i c k Wenn die lokalen und regionalen Traditionen, in die die subjektive Konstitution von Raum eingeschrieben ist, eine Rolle spielen sollen, dann haben sie nur im Dazwischen eine Chance ihrer Entfaltung auch im Sinne einer bewusstseinsmäßigen Verarbeitung der darin gemachten sozialen und kulturellen Erfahrungen. Dass wir dazu den stadtöffentlichen Raum benötigen, daran dürfte im wahrsten Sinn des Wortes kein Weg vorbeiführen und sollte auch kein Weg zu weit sein. Projectivity in der Architektur sollte dies unbedingt berücksichtigen und sich damit auseinandersetzen. Wobei die Frage, wie sehr und auf welche Weise Kritik in architektonische Praxis eingeschrieben sein muss, offen ist. So läge die Stärke einer kritischen Architektur darin, sich – als die ästhetische Vergegenständlichung der Verortung – in das Dazwischen einzuschreiben, es zu reflektieren, ja sich selbst als Ortsgröße von der kulturellen Dynamik und Produktivität des Dazwischen in Schwingung versetzen zu lassen. Zumal das Gebaute ja nicht nur den Ort symbolisiert sondern immer auch den Raum auffüllt, der sich zwischen den Orten aufspannt. Kritisch wäre eine projektive Architektur, die sich als Produktion von Raum begreift, den die je subjektiven Erfahrungen mit produzieren. Dieser Raum ist kontingent, eingenommen von Differenzen, die nicht nur ununterbrochen prozessiert werden, sondern auch vermittelt werden müssen. Diese Spanne als Spannung unterschiedlicher, aber nicht voneinander zu trennender Wünsche nach ortsgebundener Geborgenheit und nach deren immer wieder unternommener Überschreitung architektonisch wach zu halten, dies wäre die ästhetische Vergegenwärtigung/Symbolisierung der Gleichzeitigkeit des Kritischen und des Projektiven. 109
ÄSTHETISIERUNG, MUSEUM, SUBJEKT
Auch ist die Position, die Architekturpraxis im immerwährenden Fluss der Ästhetisierung einnimmt, wohl unbestimmt, dabei aber keineswegs indifferent und deshalb riskant. Die letzten drei Jahrzehnte haben ja gerade gezeigt, mit welcher Wucht Architektur in diesem Feld zur Matrix werden kann. Dies führt mich abschließend noch einmal zurück zur Bestimmung von Subjekt und Gegenwartskultur. Der deutsche Kultursoziologe Andreas Reckwitz hat mehrfach dargelegt, wie sehr die Kultur der Moderne schon länger ein Hybridgebilde ist. Als spätmoderne Kultur erweise sie sich heute als hybride Kombination zweier semantischer Möglichkeiten: Einer verallgemeinerten Ästhetik, „die alles unter dem Aspekt der Kreativität und Expressivität betrachtet, und einer verallgemeinerten Ökonomie, die alles unter dem Aspekt der Optionalität und Wählbarkeit in den Blick nimmt“. Und ganz im Sinne der bisherigen Ausführungen spricht Reckwitz von einer tief greifenden kulturellen Transformation der westlichen Subjektform. Das Subjekt: ein „kulturelles Hybridgebilde“ und eine „ästhetisch-ökonomische Doublette“. Und deshalb sei die „Leitfigur dieser Subjektkultur auch nicht mehr die bürgerliche asketisch-aufgeklärte Persönlichkeit, auch nicht der außen orientierte, sachliche Angestellte, sondern der erfolgreiche Künstler, der Künstler-Unternehmer“23. Das Subjekt: eine hybride Montage. Und die moderne Gegenwartskultur: unfähig, das moderne Subjekt in seiner Suche nach Einheit zu befriedigen. Beide sind sie die kritischen Bezugsgrößen einer jeden und somit auch einer projektiven Architekturpraxis. Aber um das praktisch zu begreifen, benötigen wir im Architektur- und Stadtdiskurs die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Theorie und die Fähigkeit zur Kritik.
23 Reckwitz, Andreas: Wir sind immer schon hybrid gewesen, in: FR, Forum Humanwissenschaften, 24. April 2007, S. 27; ders.: Subjekt, Bielefeld: 2008. 110
MUSEUM
UND
S T AD T
M u s e u m z w i s c h e n G ew i n n u n d V e r l u s t Seit den 1970er Jahren sind Architekten auffällig bemüht, unter Zuhilfenahme städtischer Metaphern das Museum selber in eine urbane Raumgröße zu verwandeln.1 Im Zuge urbanistischer Restrukturierungsmaßnahmen mit dem Ziel der Ästhetisierung einzelner Stadträume haben dabei – im Einvernehmen mit den Kommunen – erstaunlich viele Museen (früh Holleins Abteiberg in Mönchengladbach, Ungers’ Architekturmuseum und Meiers Museum für Kunsthandwerk in Frankfurt/M., dann das Museum in Groningen oder das Regionalmuseum in Korbach, schließlich Richard Meiers „Stadtkrone“, die Getty-Museum-Foundation in Los Angeles) den Anspruch der Maßstäblichkeit städtischer Idealität einzulösen vermocht. Die Anordnung der Räume und die Wahl der formalen Anspielungen organisieren eine Erfahrung, wie sie die fordistisch zugerichteten Städte in dieser Dichte nicht mehr bieten konnten. Unter der Hand ist so der Bedeutungszuwachs des Museums auch zu dem der Stadt herangewachsen. Denn das Museum als Stadt imaginiert die Stadt als einen vormals identischen Ort mittels einer meist vorindustrielle, mittelalterliche oder antike Bilder beschwörenden Ikonografie. Damit holt es sich auf einer neuen Bedeutungsebene zurück, was es als Museum durch seine Affirmation an die Stadtmetapher verliert: Die Eindeutigkeit durch die räumliche Verwechselung von Innen und Außen als ein bewusstes Spiel und den Anspruch, auf den urbanen Raum verändernd einzuwirken. Dem kommt zweifellos entgegen, dass Museen schon seit längerem keine fest konturierten, mit der Exklusivität ästhetischer Erfahrung ausgestattete Orte sind. Diese keineswegs nur beklagte, ja immer häufiger 1
Vgl. Naredi-Rainer, Paul: Zur Ikonologie moderner Museumsarchitektur, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, Bd. XLIV, Wien/Köln/Weimar: 1991, S. 191-204 und S. 291-302. 111
ÄSTHETISIERUNG, MUSEUM, SUBJEKT
mit Nachdruck begrüßte, von Politikern geradezu penetrant geforderte Tatsache beherrscht seit nahezu drei Jahrzehnten alle Diskussion über neue Museumsarchitektur, die kommunalpolitische Inanspruchnahme des Museums zugunsten des Standortes einer Stadt, die Ausweitung der Verkaufsaktivitäten (Museumsartikel, Cafés, Restaurants, Buchläden, Einspeisung ins Internet) und die Bedeutung des Medienverbundes für gelungene Ausstellungsstrategien. Die auch auf den urbanen Raum ausstrahlende Trennschärfe zwischen Kommerz und Kultur hat das Museum ebenso verloren wie die Gewissheit einer zur Festlegung seiner Aufgaben unverzichtbaren, definierten Öffentlichkeit.2 Gefragt, für wen man Museums- und Ausstellungsarbeit leistet, zieht man sich auf den nichtssagenden Verallgemeinerungsterminus des Besuchers zurück, der in den Marketingkonzepten der die Museen beratenden Agenturen auch gerne als Kunde geführt wird, der Dienstleistungen erwartet. Tatsächlich ist dem Museum sein sozialer Träger, das Bürgertum, ebenso abhanden gekommen, wie es seine Rolle als ästhetische Kirche, Ort nationaler Bindung oder Aufklärungs- und Bildungsinstitution eingebüßt hat.
Abb. 1: Getty-Museum-Foundation. Los Angeles. Dieser Verlust von Verbindlichkeiten, die Konstitution und Geschichte des Museums mehr als ein Jahrhundert wechselhaft begleitet haben, hat zu einer Transformation geführt, die mit zwei spektakulären Neugründungen in den späten 1990er Jahren einen weiteren Höhepunkt erreicht: 2
Siehe dazu die Beiträge in Museumskunde 62 (1), 1997.
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MUSEUM UND STADT
Dem architektonisch spektakulären Guggenheim-Museum in Bilbao und der bescheidenen Filiale ‚Deutsche Guggenheim‘ in Berlin/Unter den Linden/Deutsche Bank. Marketingdenken in globalem Maßstab ist hier der treibende Motor einer Erfolge versprechenden Ausstellungsstrategie. An die Stelle eines Museums als Ortsgröße ist das Unternehmen Guggenheim getreten. Sein seinerzeit erster Angestellter, Thomas Krens, der seine Expansionsstrategie gerne „mit den Airline-Allianzen oder der NATO vergleicht“, erklärte dazu: „Es gibt zwei Museen in New York, die Peggy-Guggenheim-Sammlung in Venedig, und seit neuestem auch ein Guggenheim in Bilbao und in Berlin. Wenn man all diese Einrichtungen addiert und als ein einziges Museum betrachtet, dann kommt dabei ein Kunstinstitut heraus, das zufällig fünf verschiedene Örtlichkeiten besitzt“3. Dabei dürfte die Gründung in Berlin dem Benetton-Effekt geschuldet sein: Die Platzierung des Produkts vor allem im Sinne einer symbolischen Anwesenheit mit gerade mal 400qm Ausstellungsfläche an zentraler Stelle. Berlin ist denn auch für Krens „ein kulturelles, politisches, ökonomisches und finanzielles Metropolis des 21. Jahrhunderts. Das ist der Platz, an dem man sein muss“4. Im Gegensatz zu den erwähnten Museumsbauten einer ortsbezogenen, Maßstäbe setzenden urbanistischen Prägung ist Gehrys Museumsarchitektur für die baskische Stadt Bilbao wohl nur in den Maßstäben einer Globalkultur zu verstehen. Als Ortsgröße sprengt es die Dimensionen der Stadt, weil es räumlich über sie hinausweist – wie umgekehrt das Prestigedenken im Falle Berlins einen, bei Licht besehen, absolut unspektakulären Ort geschaffen hat, der seine Bedeutung nur dadurch erhält, weil er sich als bescheidene Ortsgröße seines Platzes im Raum globaler Vernetzung gewiss sein kann. Dass Hugo Boss, Lufthansa, Deutsche Telekom und Deutsche Bank Guggenheim mit Millionenbeträgen unterstützen, liegt, so Krens, an „unserer globalen Haltung“. Diese garantiere „große mediale Aufmerksamkeit, ein gutes Profil und Anerkennung auf einem Markt, der für sie interessant ist, z. B. New York City“.
M u s e u m a l s M ed i u m Im Bild vom Museum als Stadt oder Dependance eines global operierenden Unternehmens lesen wir die Transformation eines Ortes, die sich
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Zit. nach Frankfurter Rundschau, 7. November 1997. Ebd. 113
ÄSTHETISIERUNG, MUSEUM, SUBJEKT
auf dessen Verhältnis zu seinen Gegenständen und die Menschen, die sie wahrnehmen, gleichermaßen auswirkt. Was nun den urbanistischen Charakter der Museen und deren Hineinreichen in den Diskurs der Globalisierung der Kultur angeht, so ist die Belebung dieser Orte eindeutig raumgreifend. Das aber hält auch Neugründungen überhaupt nicht davon ab, für die Sammlungsbestände konventionelle Räume einer den Raum konzentrierenden Belebung vorzusehen, die in ihrer Wirkung gegenüber jener urbanistisch raumgreifenden Belebung Züge des Privaten annehmen. Darin zeigt sich aber nicht nur die Inkonsequenz der politischen und kulturellen Entscheidungsträger oder das mangelnde Entwurfsvermögen der Architekten, sondern auch etwas, das wir als Leistung des Museums interpretieren können. Trägt es doch einerseits einer Entwicklung zur ortsauflösenden Expansion im Sinne einer in den Raum ausgreifenden Belebung Rechnung, ohne dabei seine ortsidentischen Eigenschaften im Sinne der räumlichen Konzentration gleich aufzugeben. Es wird somit an ein und demselben Ort ein zentraler Widerspruch zur Erfahrung, nämlich der zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, den zu artikulieren und zu balancieren dem Museum aber nicht erst heute als Aufgabe zugewachsen ist. Diese Erfahrungspotenzialität wächst dem Museum auch durch eine Eigentümlichkeit zu, die außer ihm nur noch dem Archiv zukommt – und unter der Perspektive des Speichermediums ist das Museum ja auch eine besondere Art Archiv. Diese Eigentümlichkeit besteht in seiner Raum-Zeit-Axialität, indem in einem begrenzten Raum Zeit konzentriert ist, Zeit geronnen in der temporalen Entstehungsabfolge der gesammelten Artefakte. Es verhält sich damit auf den ersten Blick entgegengesetzt zu allen modernen Mediatisierungsbewegungen von der Eisenbahn bis zum Internet, die Raum wie in einem Säurebad auflösen. Und Museen konzentrieren die Zeit nicht nur im Raum sondern die historische Zeit in der Gegenwart, im Jetzt des Besuchers. Großklaus5 nennt Museen daher zu recht „zeit- und raumraffende Einrichtungen“. Aber die Sache hat noch eine andere Seite: Die aufgestaute Zeit bricht aus. Gerade die zeitliche Ordnung der Bestände weist den Besucher eines Museums auch immer über den Raum der Bestände hinaus. Gerade dies freilich ermöglicht dem kenntnisreichen Betrachter Zeitreisen in die unterschiedlichen Zeit- und Raumtiefen der versammelten Objekte. Die Welt der Kunstgeschichte, der Natur- und Technikgeschichte kann zu einer virtuellen Welt und ihrer Zeiten werden, durch die sich das Bewusstsein unter der Führung der Objekte – aber sonst völlig frei – bewegen kann. 5
Großklaus, Götz: Medien-Zeit, Medien-Raum. Zum Wandel raumzeitlicher Wahrnehmung in der Moderne, Frankfurt/M.: 1995, S. 240.
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Der Kunstwissenschaftler Max Raphael hat genau diesen, den Raum sprengenden Charakter der in den Sammlungen vergegenständlichten Zeit erkannt und dessen Bewusstmachung zum Thema seiner Museumskonzeption gemacht. Darin werden die Kunstwerke in einen Kontext anderer Artefakte gestellt, um Betrachtern, ausgehend vom Kunstwerk, eine Reflexion auf dessen historische, soziale und kulturelle Produktionsbedingungen zu ermöglichen. Das meditative Flanieren in Zeit- und Kulturräumen vor Kunstwerken sollte in einem reflexiven Akt zum bewussten Kreuzen von Zeit- und Raumgrenzen führen. Das Museum ist konstitutionell und prinzipiell ein Ort-Raum-Vermittler, indem es durch den Zeitstau am Erlebnisort dessen Grenzen zum Raum hin aufsprengt. Das bedeutet nicht, dass sich der Ort des Museums vollständig in sein Außen auflösen könnte. Aber die Grenze ist nicht fest: Sie ist generell zum Raum hin verschiebbar, wie hier an Beispielen der medialen Aufladung und der Anreicherung mit Waren dargestellt wurde. Jeder Betrachter bringt die Grenze noch einmal für sich in ein anderes Ort-RaumVerhältnis.
Das Museum Ohne dies hier näher erläutern zu können, gehe ich davon aus, dass sich die annähernde Übereinstimmung von Ort und Raum Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung und Kapitalisierung in den Städten in einem sich stetig verschärfenden Prozess der Ausdifferenzierung von Ort und Raum aufzulösen beginnt. Zwischen beiden entsteht eine Leerstelle: Ein leerer Raum, der darauf wartet, besetzt zu werden. Die These lautet, dass auch Ästhetisierung in diese Leerstelle eindringt und zunächst im vornehmen Raum- und Ortsbild des Museums gegenständliche Form annimmt. Das Museum in seiner behaupteten Idealität wird somit bereits in seiner Entstehungsphase und spätestens mit Schinkels „Altem Museum“ in Berlin sowohl eine Raum- als auch eine Ortsgröße. Auch fällt auf, dass Aura in Benjamins bekannter Formulierung vom Zugleich von Nähe und Ferne eine Raumproduktion ist. Dabei wäre für das Museum nun folgender Weg nachzuzeichnen: Der Weg vom auratischen und entfremdeten Raum der bürgerlichen Kunstautonomie über den Ästhetizismus bis hin zur versuchten Aufsprengung des kollektiven ‚Gedächtnisraums‘ Museum durch die historischen Avantgardebewegungen. Verstärkend kommt hinzu, dass die Kunst selber im Laufe dieses Prozesses den Charakter einer Ortsgröße einbüßt (etwa durch den Verlust der Zentralperspektive) und zunehmend Züge einer Raumdi-
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mension annimmt. Weiter führt der Gedanke zum Phänomen der frei im Raum zirkulierenden Zeichen, Raum für Mediatisierung. Fazit: Wo die Raum-Ort-Beziehung aufgegeben wird, können beide neu besetzt werden. Zugleich müssen sie aber auch neu vermittelt werden, wobei es nur noch subjektive Einsichtsmöglichkeiten gibt. Das Gesamte ist nicht mehr darstellbar. Die Vermittlungsleistung bestünde darin, sich zwischen der lokalen Ortsgebundenheit und ihrer Auflösung zu bewegen, zu warnen, etwas zu tun. Eine solche bewusstmachende Vermittlung findet heute tatsächlich im Museum statt, insofern es sowohl konkreter Ort als auch imaginärer Raum ist. Ich gehen davon aus, dass mit dem Zerfall der Einheit von Raum und Ort historisch die Notwendigkeit ihrer Vermittlung nachwächst. Dabei wird alles, was diese Vermittlung trägt, zu einem Medium, somit auch das Museum. Hier gilt zu berücksichtigen, dass Vermittlung nicht erst mit dem Zerfall sondern bereits mit der Notwendigkeit einsetzt, Raum und Ort in einem neuen Beziehungskontext zu imaginieren. Ästhetisierung hat hier die Aufgabe, eine neue Erfahrung zu pointieren, sichtbar zu machen, ja zu verstärken, weil sie körperlich und kognitiv zusammenführt, was in der alltäglichen Lebenspraxis als ein Zugleich von Durchdringung und Nebeneinander erfahren wird: Ästhetisierung als Vermittlung einer objektiv für möglich gehaltenen Beziehung im Sinne eines einheitlichen Erfahrungsraums und Ästhetisierung als Vermittlung einer nicht mehr möglichen Beziehung. Im bürgerlichen Bildungs- und Geschichtsverständnis ist das Museum der Ort des kollektiven Gedächtnisses, einer in Artefakten vergegenwärtigten Erinnerung, der gleichzeitig dadurch, dass die Stadt sich als Ortsgröße zunehmend auflöst, die Gegenstände gestohlen werden. Das Museum wird zu einem verdichteten Ort der Erinnerung, die sich hier in derselben Weise konzentriert, wie sie sich im städtischen Raum dissoziiert. Es ist sowohl ein Speicher-Medium, indem es die Artefakte des kollektiven Gedächtnisses aufbewahrt, als auch ein VermittlungsMedium, weil es in den Artefakten das bürgerlich-kulturelle Selbstbewusstsein mit einem Anspruch auf Verallgemeinerung vermittelt. Indem es das tut, lassen sich kompensatorische Funktionen an das Museum adressieren. Der Ort und die Gegenstände definieren sich im Museum wechselseitig. Das ändert sich erst durch die Avantgarden. Zwar bleibt das Museum ein Medium der Vermittlung, doch definieren sich Ort und Gegenstände darin nicht mehr gegenseitig. Das liegt daran, dass die Gegenstände nicht mehr allein als Ortsgrößen definiert werden, sondern sich in ihnen jetzt eine neue Raumdimension repräsentiert. Diese hängt von der Mediatisierung ab, die nicht mehr ausschließlich im Kunstwerk, das im klassisch-bürgerlichen Museum noch eine Orts- und Raumgröße 116
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war, selber begründet ist. So vermittelt Duchamps Urinoir oder sein Flaschentrockner nach wie vor eine Ortsgröße im Museum, doch verweisen beide zugleich auf die abstrakte Raumgröße des Warenuniversums. Im Grunde verkörpert sich im Museum als Ortsgröße jene Seite der Modernität, die Baudelaire im Kunstwerk als das „Ewige und Unabänderliche“ fasste. Dagegen ist durch die Raumgröße, die die Dimension des Warenuniversums repräsentiert, nun endgültig auch in das Museum jene andere Hälfte der ästhetischen Produktion eingedrungen, in der „das Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige“ (Baudelaire) zum Ausdruck kommen. Der Raum dringt in den Ort des Museums ein. Es wird jetzt Ort und Raum, bleibt aber aufgrund seiner Konkretheit vermittelnd. Es beteiligt sich weiterhin, wird Ort der Mediatisierung und muss jetzt die tradierte Funktion der Vermittlung erst richtig leisten, etwa durch neue technische Medien. Der Raum des Museums wird durch die Gesamtheit der Warenproduktion abstrakter. Durch die damit verbundene Profanierung wird er aber auch konkreter. Konkret war das Museum zuvor in Gestalt der darin versammelten Kunstwerke; abstrakt hingegen aufgrund seiner Pseudoreligiosität, der metaphysischen Seite des ins Museum verlegten Verweises auf eine Idealität und eine andere Wirklichkeit. Durch die grenzauflösenden Operationen der Avantgarden wird sich das Museum in einen Medienverbund verwandeln, in dem sich weitere und viele Mediatisierungen ereignen. Zuvor war das Museum als ‚Super-Medium‛ eine feste Ortsgröße. Diese Exklusivität hat es jetzt verloren, da alles zum Medium werden kann. Als Ort kann das Museum seitdem seine bislang klassische Medialität nunmehr nur noch simulieren und ironisieren.
M u s e u m u n d Au r a Walter Benjamin hat den Aura-Begriff kunsttheoretisch rezipiert und ihn in eine Zentralstelle der zeitgenössischen Ästhetikdiskussion eingerückt. Er charakterisiert sowohl Naturobjekte als auch Kunstwerke. In beiden Fällen sind die auszeichnenden Merkmale die Originalität des Gegenstandes und eine nicht näher gekennzeichnete Haltung dem Objekt gegenüber. Er bezeichnet sie als ein Zugleich von Ferne und Nähe in der Wahrnehmungsebene; und aufgrund dieser widersprüchlichen Wahrnehmung könnte man sie vielleicht am ehesten als eine fraglose Objekthingabe auffassen. Die Aura des Kunstwerks ist nach dieser Bestimmung in ihrer Wirkung auf das Kunst betrachtende Individuum in einer zentralen Komponente als eine fiktive Raumproduktion zu begreifen. 117
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Diese Komponente kann man entfernen und in andere kulturelle Modelle transferieren. Trotz der Autonomisierung der Künste seit der Renaissance ist Alte Kunst von der Antike bis zum Spätbarock für ihre jeweilige zeitgenössische Wahrnehmung nicht-auratisch. Sie ist es deshalb nicht, weil der Sinnzusammenhang ihrer Rezeption kontextuell hergestellt wird, in Tempeln, Kirchen, Gebäudeensembles, Palästen. Jedes Kunstwerk steht im Verweisungskontext und damit im Sinnzusammenhang anderer Kunstwerke. Dieser Sinnzusammenhang ruht in einer Werkvernetzung durch Ensemblierung, eben in Kontexten. Im Nebeneinander von Werken an einer Museumswand existiert dieser Kontext zwischen den Werken nicht. Sie stören einander allenfalls gegenseitig. Um dies zu vermeiden, werden stil- und epochengeschichtliche Reihen und sujethafte Typisierungen gebildet. Autonomisierung ist zwar eine Voraussetzung der Auratisierung. Der Zusammenhang greift aber ganz offensichtlich erst in der nachhandwerklichen Phase der Kunstautonomie, also im Zusammenwirken mit ihrer Genialisierung. Das Zusammenwirken ist zweifellos am engsten im 19. Jahrhundert, in der Ära der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Kultur. Der Aurabegriff kennzeichnet also am ehesten eine historische, eine im weitesten Sinne bürgerliche Kunstauffassung. Aber wie kommt sie in dieser spezifischen Weise zustande? Zwei historische Entwicklungen fließen zusammen und konstituieren diese Kunstauffassung. Da ist zum einen der lange Prozess der Reduktion der Aisthesis, der panästhetisch gedachten sinnlichen Erkenntnis, auf Ästhetik, auf die visuelle Wahrnehmung des Kunstschönen, die mit der Entwicklung der Ästhetik als philosophische Disziplin in der frühbürgerlichen Epoche abgeschlossen ist. Dieser Ästhetik einer hoch entwickelten Sinnlichkeit entspricht die Kunstentwicklung zur Autonomie, die konsequenterweise in der hochbürgerlichen Epoche der Jahrhundertwende zum L’art pour l’art führt. Autonomie und moderne Ästhetik in ihrer Konzentration auf das Auge schließen andererseits den historischen Prozess der Dekontextualisierung der Kunst ab und machen diese damit für die zweite angesprochene Entwicklung geeignet: für das Museum. Das isolierte, autonom bedeutungsvolle Kunstwerk als ästhetisches Objekt kann gesammelt und schließlich ins Museum gestellt oder gehängt werden. Und sobald der Prozess der Ästhetisierung der Kunst im Museum zu sich selbst gekommen ist, kann er zurückprojiziert werden auf die Alten Meister. Aus dieser Perspektive kann das Museum dann als Institution künstlerischer Traditionsbildung, der Kunstgeschichte schlechthin, ja sogar als Institution der Kunstinstitutionalisierung betrachtet werden. Und das geschieht auch in diversen Museumsgeschichten. 118
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In der hier vorgeschlagenen Sichtweise auf die Konstitutionsbedingungen der Aura sind indessen weniger die fürstlichen, mäzenatischen Sammlungen oder die Kuriositätenkabinette Vorläufer des modernen Museums als vielmehr akademische Kunstsalons gemeint. Der Salon ist die erste Institution autonomer Kunstbedeutung. Sie ist das Aura bildende Element. Das Museum – als Finish der Ästhetikentwicklung – produziert also maßgeblich die Aura des Kunstobjekts mit. Kunst, so Werner Hofmann lapidar, „ist, was ins Museum kommt“. Diese Leistung vollbringt es nicht nur im engeren Bereich der Kunst. Abgestuft überträgt das Museum Aura auf alles, was in ihm ausgestellt wird. Auch historische- und Gewerbemuseen, klassische hochbürgerliche Museumstypen, entalltäglichen die Objekte und stellen sie mit einem ihre Funktionalität, sogar ihre Existenz (beispielweise im Naturkundemuseum) transzendierenden Sinn aus. Die subjektive Haltung dem auratischen Kunstwerk gegenüber reicht von der Versenkung bis zur verehrenden Ohnmacht. Es kann hier nicht die Frage sein, ob diese Haltung vernünftig ist und dem Aufklärungsanspruch der bürgerlichen Gesellschaft entspricht. Da es um die problematische Reaktualisierung der Aura – insbesondere im Faschismus – und um die Beobachtung ihres zwar formverwandelten, aber dennoch ungebrochenen Fortwirkens geht, kann sich die Frage nur auf ihre historische Konstitution richten. Hier nun ist auf der Objektseite die dargelegte Entwicklung des Zusammenhangs von musealer Institutionalisierung und Auratisierung anzuführen.
Museum und Entfremdung Auf der subjektiven Seite fügt sich Auratisierung in die Bewegung dessen ein, was der philosophischen Selbstreflexion der bürgerlichen Gesellschaft am problematischsten erschien: in die Entfremdung. Dies zu akzeptieren, fällt nicht leicht, da ja gerade die Annahme, Kunst respektive ästhetische Erfahrung ereigne sich in einem dem Prozess anhaltender Entfremdung gegenüber autonomen Raum, eben dies widerlegen möchte. Der Doppelcharakter der Kunstautonomie kann gleichwohl nicht verdecken, dass er sich der Entfremdung verdankt und nicht aufhört, deren Spuren zu tragen. Von der Entfremdungsformel Fichtes vom Verlust der Freiheit, „von der Entfremdung und anscheinenden, täuschenden Selbständigkeit und Übermacht des von uns Erzeugten“ (in der Formulierung Arnold Gehlens) über den jungen Marx bis noch zu Simmels Überwältigung des subjektiven durch den objektiven Geist wird Produktion als Projektion 119
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der subjektiven Potenzen begriffen, die den Subjekten in ihren Produkten als objektive Macht entgegentritt. In der Aura des Kunstwerks sind es die verselbständigten geistigen Potenzen, die dem Betrachter als genialisierte Übermacht des Geistes entgegentreten.6 Er kann darum nicht den künstlerischen Prozess im Rezeptionsakt kommunikativ vollenden, wie es die moderne Rezeptionsästhetik annimmt. Er wird sich dieser Übermacht letztlich nicht entziehen können und sie akzeptieren. Aura selbst ist also eine Form kultureller Entfremdung.7 Damit ist sie aber als subjektive Potenz auch noch mehr. Entkontextualisierte, autonome Kunst wird – in einem doppelten Sinne – wertvoll: In einem weitgehend durch Zuschreibung erfolgten kunstimmanenten und in einem ökonomischen Sinne. Die Koinzidenz beider Sinndimensionen des Kunstwerks ist abhängig von der Originalität, einem Definitionsmerkmal von Kunstautonomie, das zugleich die Aura ausformt. Auch hieran ist das Museum konstitutiv beteiligt, denn der Zusammenhang zwischen Museum und Geld springt ins Auge: Das Museum ist am Wertschöpfungsprozess der Kunst – in beiden Sinndimensionen – maßgeblich und unmittelbar beteiligt. Zum einen sortiert es durch Sammelentscheidungen das Universum der Kunstobjekte in eine Werthierarchie und macht sie damit pekuniär einschätzbar. Zum anderen: Je neuer die Kunst ist, desto stärker fungiert das Museum als Definitionsamt dessen, was als Kunst zu gelten und damit Wert zu gewinnen hat. Die Kategorie der Ästhetik wird jetzt nicht mehr ex post wirksam wie in der Vergangenheit. Das wäre auch kaum noch möglich, weil das Universum dessen, was aus dem Vergangenheitsfundus als Kunst attribuiert werden kann, bis auf Exotika und seltene Zufallsfunde weitgehend abgegrast und eingelagert
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In der Kunstgeschichtsschreibung fällt auf, dass die Autonomie des Kunstwerks auf die Künstlerpersönlichkeit bezogen wird. Die Künstlermonografie ist hierfür der wissenschaftliche Prototyp. Das bedeutet zugleich auch, dass die Aura an das Genie des Künstlers gebunden wird, die so zum eigentlichen Original des Werkoriginals wird. Ernst Gombrich sagt: „Es gibt keine Kunst, es gibt nur Künstler“. Entfremdung ist hier ein changierender Begriff. Er hat einerseits die kritische – und damit im empirischen Sinne auch die kulturkritische – Dimension, wie sie bei Fichte, Hegel oder Marx zu finden ist. Andererseits folgen wir Simmel (Brücke und Tür, 1957), für den in der Moderne Freiheit nicht ohne Entfremdung zu denken ist. Die solipsistische Versunkenheit der auratischen Haltung markiert demnach die Freiheit des gebildeten bürgerlichen Individuums von den weltlichen Externalitäten des ästhetischen Erlebens. Es markiert diese Freiheit damit aber zugleich auch als eine tendenziell asoziale Haltung all den Verpflichtungen und normativen Ansprüchen gegenüber, die in diesen Externalitäten aufgehoben sind und dem gemeinen Manne vorbehalten bleiben.
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ist. Ästhetik funktioniert fürderhin als Zuschreibungskriterium typischerweise ex ante. Im Wertschöpfungsprozess wird Kunst – wie das Geld auch – eine Form der allgemeinen Äquivalenz. Sie ist geeignet zum Werttausch und zur Schatzbildung. Das geschieht im Museum, in privaten Sammlungen und im Ansammeln als gutverzinsliche Wertanlage. Die Aura wird im Museum geboren und vom Kunstwert, dem sie sich neben Museum und Entfremdung als drittem Konstitutionsfaktor verdankt, wieder herausgetragen. Dieser macht sie lauffähig, woraufhin sie sich vor den Bummlern und Gaffern zumeist in Sammlungen, Tresore und Klimakeller von Banken und Versicherungen flüchtet.
Museum und die Verallgemeinerung d e s B ew u s s t s e i n s Museen in ihrer Gesamtheit inkorporieren kulturell die bürgerliche Fortschrittserzählung und würzen sie zugleich mit auratischer Erhabenheit. Die Erzählung selbst wird jedoch materiell gehalten, und hier noch einmal ideologisch, von Politik- und Systembegründungen flankiert. Und zwar von der Ökonomie, der Sozialstruktur – vor allem in der sie herausbildenden, polar verteilten gesamtgesellschaftlichen Reichtumsentwicklung – und, vielleicht am mächtigsten, von der Technik. Die historische Entwicklung dieser Faktorenfelder differenziert also zwangsläufig die Museumstypologie weiter aus und zieht endlos neue Museumsgründungen nach sich. Man kann diese objektspezifische Ausdifferenzierung des Museums auch als Form seiner Auflösung betrachten. Dafür könnte auch ein häufiges Motiv des gegenwärtigen Museumsbooms sprechen, der die Gründungsleidenschaft bei weitem übertrifft: die lokale Tourismuswerbung, keineswegs mehr der Geist bürgerlicher Bildung und bürgerlichen Stolzes, der das 19. Jahrhundert umtrieb. Vor allem aber reduzieren die klassischen Museumstypen ihre Gegenstände nicht auf eine einzige Objektklasse: auf Korken, Kartoffeln oder Häkeleien. Zwar isolieren sie ihre Gegenstände und autonomisieren sie dadurch in ihrem künstlerischen oder allgemein gegenständlichen Sinn. Sie versuchen aber, ihre Ausstellungsstücke als Repräsentanten einer Allgemeinheit – der Kunst, der Natur, der Naturbearbeitung oder der Vielfalt des Gewerbefleißes – einzurichten, nicht der Zerstreutheit, der Diffusion, der Betonung des Besonderen, der Abwesenheit jeder Allgemeinheit. Spräche man in diesem Zusammenhang tatsächlich von Auflösung, dann meinte man die Trivialisierung einer immer nur idealisiert gedachten Museumskonzeption
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durch ihre Vervielfältigung an banalen Alltagsobjekten. In der Tat fließen in dieser Entwicklung zwei Bewegungen zusammen: Der Legitimitätsschwund der bürgerlichen Hochkultur führt zu einer neuen Wertschätzung des Banalen der Dinge des alltäglichen Lebens, in denen noch die Nostalgie untergegangener Volkskulturen nachzittert. Und der Tourismus entwickelt sich weltweit zu einer der expansivsten Serviceindustrien. Beide Bewegungen verschränken sich bedingt in einer wachsenden Heritage Industry, deren Teil die neuen Museumstypen sind und in der sie eine stilbildende, normative Rolle übernehmen. Sie schaffen außerdem dem Historismus dieser Industrie ein wirkliches historisches Unterfutter. Man kann sie in dieser Rolle in einer direkten Parallele zu den neu entstehenden Design-Museen-Sammlungen und -Ausstellungen in den etablierten Instituten sehen, die ebenfalls einen normativen Konnex zur steigenden gesellschaftlichen Wertschätzung des Designs von Gegenständen des täglichen Bedarfs bilden. Das mag peripher sogar komisch erscheinen, ist aber derzeit ein fundamentaler Vorgang. Das Bewusstsein, dessen ästhetische Institutionalisierung einmal das Museum war, löst sich auf. Es geschieht, weil die sozialen Strukturveränderungen in der Folge wirtschaftlicher Dynamiken, die heute unter dem Begriff Globalisierung zusammengefasst werden, seine Trägerschaft, das in der oben beschriebenen Weise qualifizierte Bürgertum, tendenziell beseitigt und die Qualifizierungen diffundiert und transformiert hat. Auflösung bedeutet indessen nicht Untergang. So mag es konservativer Kulturkritik zwar bisweilen erscheinen. Es bedeutet vielmehr Transformation, in unserem Zusammenhang: Verallgemeinerung, was indessen Formverwandlung nicht nur nicht ausschließt, sondern durch sie nur möglich wird. Grundlage dieser Verallgemeinerung ist zum einen die schon angesprochene Veränderung in den wirtschaftlichen und in den sozialen Zusammenhängen der Gesellschaft. Die traditionellen Strukturmerkmale der hochbürgerlichen Ära und ihrer fordistischen Nachfolger – Stand, Klasse, Schicht – greifen in den strukturellen Dauerumwälzungen seit den 1970er Jahren nicht mehr voll. Neue Bestimmungsversuche wie „Erlebnisgesellschaft“ oder „Milieu“ greifen noch nicht. Offenkundig überlagern sich ältere und neue Strukturierungsprinzipien noch sehr stark und differenzieren ein ganzes Feld sozialer und kultureller Zwischen- und Gemengelagen aus. Dies ist das weit gesteckte Feld sozialer und kultureller Distinktionen, aber auch künstlerischer oder allgemeiner: kultureller Formen und Lebenszusammenhänge. Ebenso maßgeblich sind aber auch Veränderungen und Entwicklungen in den gesellschaftlich angewendeten Technologien, denen sich 122
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im 19. Jahrhundert einmal die Absentierung der musealen Bewusstseinsform verdankt hatte. Deren Weiterentwicklung – vor allem in den Medientechnologien und ihren informations- und fernmeldetechnischen Basiselementen – nimmt jedoch seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts und heute mit verschärftem Tempo diesen selbstidentischen Solipsismus einer ausgehaltenen Mußeschicht als Stoff in sich selbst auf, transformiert und verallgemeinert ihn.
Museum als Stadt Wir bezeichnen diese Verallgemeinerung als Musealisierung. Musealisierung ist mithin der Prozess der Verallgemeinerung der ästhetischen Formbestimmung des bürgerlichen Bewusstseins. Als solche ist sie zugleich aber auch eine Strategie, in der die Interessen von kommunaler Politik und Ökonomie zusammenfließen und insbesondere Strukturierung und Ausgestaltung der urbanen Räume regulieren. Vielleicht am avanciertesten tritt Musealisierung in der Shopping Mall in Erscheinung. Diese ist nämlich nicht nur ein, je nach Größe und Konzeption, mehr oder weniger stark gegliederter Konsum- und Freizeitraum, sondern immer auch ein in Glas, Beton und Begrünung aufgezogenes Museum einer idealen Stadt, die allerdings funktional auf Konsum und Freizeit reduziert worden ist. Bei aller Formverwandlung und trotz des tief reichenden Bruchs des geschichtlichen Bewusstseins, das mit der erforderlichen Ablösung für die Auflösung verbunden ist, kann der Bezug auf die transformierten Bestände nicht ganz gekappt werden. Das wird funktional darin deutlich, dass die Form der Verallgemeinerung, wie ihr Ausgangsmaterial, das museale Bewusstsein, eine ästhetische bleibt. Stofflich bedeutet es, dass ihm stets ein Moment von Historismus anhaftet. So kann die heute vielfach beschworene Urbanität nur in diversen Vergangenheitsmodellen simuliert werden, sowohl literarisch als auch in verschiedenen Projekten der Stadtverschönerung oder der Stadtsimulation im „Netz der Netze“. Wenn Historismus aus einer bestimmten Perspektive eine wichtige Komponente postmoderner Architektur ist, dann kann man auch in ihr ein Element dieser Verallgemeinerung sehen.
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An einem Architekten und Designer, wie dem Wiener Hans Hollein, interessiert die Tatsache, dass er in eine Welt universalisierter Ästhetik seine Architektur als eine in ihrem Ausdruck besondere stellt. Aber damit nicht genug, wird sie zur Matrix dieser dominanten, der Wirklichkeit gegenüber eingenommenen ästhetischen Haltung. Im Einsatz seiner Mittel, sowohl in den Details als auch in den Räumen, ist Hollein darin nahezu unerreicht. Das gilt allerdings auch für die Widersprüche, in die eine Architektur gerät, die einerseits – im Gegensatz zu Robert Venturis legendärem „Las Vegas-Credo“ – die Besonderung der Form sucht. Und die andererseits programmatisch auf die erstarrte Metaphysik eines Ungers zugunsten eines luxurierenden Hedonismus verzichtet. Wer über Holleins Architektur spricht, der sollte mit dessen Museumsbauten beginnen. Von ihnen aus erschließt sich eine Architekturund Raumauffassung, die in ihrem Zwang zur Ästhetisierung selbst noch eine Grenze, wie die zwischen einem Museum und einem Kaufhaus, verwischt. Hollein hatte mit dem im September 1990 am Stock-im-Eisen-Platz in Wien eingeweihten Haas-Haus ein äußerst kontrovers diskutiertes Kaufhaus errichtet. Es ist natürlich sowenig Museum, wie Holleins Museen Kaufhäuser sein wollen. Aber wir werden sehen, dass sich sein Modus architektonischer Inszenierung und Ästhetisierung über diese Differenz, wie über so viele andere, spielerisch hinwegsetzt. In Deutschland verbindet sich der Name Hans Hollein ohnehin mit zwei außerordentlichen und beeindruckenden Museumsbauten: Jenem am Abteiberg in Mönchengladbach (vom Entwurf her reicht es in die späten 1970er Jahre zurück) und dem Museum für Moderne Kunst in Frankfurt/M., ein Bau der 1980er Jahre. Hans Hollein bekennt, er baue „gerne Museen“. In einem Interview für die FAZ spricht er von einem „Territorium, in dem ich mich ausken-
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ne“. Seine Annäherung an das Museum beschreibt er als „hohepriesterlichen Ansatz“1. In Gladbach hatte damals Johannes Cladders vom Museum als dem „potenziellen Gesamtkunstwerk des 20. Jahrhunderts“ gesprochen, das die Stelle von Tempelbezirk und Kathedrale eingenommen hat.2 Hollein teilt diese Überzeugung und vergegenständlicht sie. Und er tut dies mit äußerster Anstrengung und großer Hingabe. In Gladbach kann man sich davon gerade an dem Ort überzeugen, der im Museum dem Ausruhen und der (kulinarischen) Ablenkung von den Werken vorbehalten: der Caféteria. An einer ihrer Wandseiten öffnet sie sich mit einem großen quadratischen Fenster. Es gibt den Blick frei auf eine in der Tat großartige Architektur- und Naturlandschaft: Eine gotische Kirche am Hang, umstanden von alten Bäumen. Das Fenster legt sich um diesen Ausblick in die Wirklichkeit wie ein großer Bilderrahmen. Die Wahrnehmung, die an dieser Stelle wirksam wird, ist ohne jeden Zweifel die im Museum vorrangige und die hier eingeübte. Sie verwandelt die äußere Welt in eine ästhetische, die der Haltung im Museum zurückgewonnen wird. Die Wirklichkeit wird dabei selbst zu einem Versatzstück, die gotische Kirche am Hang zu einem malerischen Zitat ihrer selbst. Das von Hollein geschaffene Gesamtkunstwerk Museum bindet die Wirklichkeit ausschnitthaft mit ein in sein Konzept. Gleichzeitig will es vor Augen führen, wie die Wirklichkeit auch gesehen werden kann. Doch ist das nicht die Ästhetik jener „machtgeschützten Innerlichkeit“, wie sie die Wiener Sezessionisten als Raumästhetik 1902 mit der „Klinger-Ausstellung“ inszeniert hatten. Seit den Angriffen der Avantgarden auf diese nur sich selbst verpflichtete Sprache ist das ohnehin nicht mehr möglich. Hollein weiß das. Er ist kein Nostalgiker, der sich zurücksehnt. Aber er ist ehrgeizig und anspruchsvoll genug, um – wie er sich ausdrückt – den Ewigkeitsanspruch wiederherzustellen, den Architektur gegenüber ihren Funktionen nun mal habe, da sich diese häufiger änderten, so wie die Bilder wechseln, die ein Museum ausstellt. Erreichen kann Architektur das aber nur als Kunstwerk: Und Architektur, wenn sie gut ist, ist auch Kunst. Fragt sich nur, wann sie gut ist. Hollein gibt uns dazu aber gleich ein erfreulich alltägliches und daher umso erhellenderes Bild. Bei der Architektur und insbesondere bei einem Museumsbau sei es, „wie bei einem Weinglas: Zunächst muss das Glas für sich selbst bestehen, dann wird es gefüllt“. Kommen der Wein, respektive die Werke, hinzu, so
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„Warum sind Architekten in Museen verliebt, Herr Hollein?“ Ein Interview von Erna Lacker in: FAZ-Magazin, Heft 589, 14.6.1991, S. 66/7. Siehe „Kunst und Architektur“, in: Deutsche Bauzeitung, 1982.
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werde sich die Funktion zweifellos verstärken. Doch gelte grundsätzlich, dass man „das Gebäude allein konsumieren“ könne. Sprache ist häufig genug verräterisch. Aber ich glaube nicht, dass sie hier überhaupt etwas verheimlichen will. Hollein verbindet seine formalästhetisch hochgradig aufgewertete Baukunst sehr zielbewusst mit der Einsicht, dass sie auf der Seite der Rezeption nur dann Wirkung besitzt, wenn sie die Mechanismen der massenhaft verbreiteten Konsumhaltung verstanden hat und ästhetisch verarbeitet. Es geht dabei um nichts Geringeres, als die Zusammenführung zweier Bereiche, die sich in der Moderne immer mehr voneinander abgegrenzt haben und als unvereinbar gelten: Der ästhetische Eigensinn eines Kunstwerks und die ambivalente Sinnhaftigkeit der Massenkultur. Hollein will in beiden bestehen und beileibe nicht bloß mithalten. Dazu greift er auf das Museum zurück, das er folgerichtig neu interpretiert und verändert.
Abb. 1: Hans Hollein, Abteibergmuseum (Raumeindruck). Mönchengladbach 1980.
Entgrenzung und die Besonderung der Form In einer Gesellschaft, in der alles zur Ästhetisierung drängt und in der die von den Avantgarden ausgelöste Entgrenzung der Kunst deren Auflösung in die Banalität und Trivialität des Alltäglichen befürchten lässt, hat die Institution Kunst im Museum zweifellos ihre nach wie vor stärkste Bastion. Immerhin hat es die Readymades eines Marcel Duchamp ebenso überstanden wie alle späteren Attacken und Versuche seiner Liquidierung. Das Museum als Ort der Attraktionen und Fetische macht 127
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alles zum Objekt ästhetischer Erfahrung. Als Kunstmuseum ist es die „zur Institution geronnene ästhetische Einstellung“ (Bourdieu) schlechthin. Wir sollten uns allerdings nicht der Illusion hingeben, diese Vereinnahmung der die tabuisierten Grenzen sprengenden Kunstwerke sei für das Kunstmuseum folgenlos geblieben. Der Verlust der Eindeutigkeit ästhetischer Erfahrung, wie er für die Kunst seit Duchamp und Dada in zigfacher Variation thematisiert und wiederholt wurde, ist selber zu einer irreversiblen, im Museum zu besichtigenden Erfahrung geworden. Die Entgrenzung, die hier stattgefunden hat, wird man nicht mehr aufhalten können. Denn bekanntlich nichts mehr kann seit Duchamps Apriori als Gegenstand ästhetischer Erfahrung ausgeschlossen werden. Durch die kulturelle Heterogenität der ausgestellten Werke selber labil geworden, hat das Kunstmuseum zunehmend seine privilegierte Option auf ästhetisch eindeutige Erfahrung eingebüßt. Es charakterisiert die postmoderne Architektur, dass sie sich diese Heterogenität zueigen macht, sie aber in eine homogene ästhetische Erlebniswelt umformt. Das Kunstmuseum hat sich also durch die Werke selber so sehr geändert, dass sich diese Transformation geradezu aufdrängt. Hollein hat sehr gut begriffen, dass er bei aller Heterogenität und Uneindeutigkeit, die das Museum inzwischen kennzeichnen, von der nach wie vor ideologisch behaupteten, herausragenden Option dieser Institution aufs Ästhetische profitiert, wenn er seine Vorstellung vom Bauen mit ihr in Übereinstimmung bringt. Dabei müssen wir neidlos anerkennen, dass ihm souverän die Umkehr der Architektur zum Kunstmuseum gelungen ist. Die Architektur stellt sich in dieser postmodernen Perspektive den neuen Anforderungen des Museums zur Verfügung. Das Museum wird neu definiert, wobei die Architektur sich aber nicht mit der Rolle zufrieden gibt, bloß die Transformation jener „ästhetischen Einstellung“ des Museums in einen homogenisierten Ort unterschiedlicher Erfahrungen zu leisten. Sie will zugleich das Resultat jener modernisierten ästhetischen Erfahrungs- bzw. Erlebnisweise sein. Folglich hat es seine Logik, wenn – wie bei manch anderen seiner Architekturkollegen auch – Holleins Museumsbauten und Ausstellungsinszenierungen zur eigentlichen Attraktion der Museen und Ausstellungen werden. Hollein vereinnahmt also für seine künstlerischen Zwecke die in der Institution des Kunstmuseums exklusiv aufgehobene, doch durch Entgrenzung heterogen gewordene ästhetische Erfahrung. Indem er sie auf absichtsvoll angenehme Weise in eine der Architektur verwandelt, öffnet er diese Erfahrung für ein im Grunde unspezifisches Massenpublikum. Holleins Architektur wird dabei, unabhängig von ihrer Eigenschaft 128
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als Museumsbau, zu einem Ort, der eine Brücke schlägt zwischen einer ästhetisch verdichteten Transformation der Objekte und ihrer universellen Ästhetisierung als Gegenstände des Massenkonsums. Es entsteht so eine Besonderung des Allgemeinen, die sich nicht gegen sondern an die ästhetische Spitze des Allgemeinen stellt. Besonderung versteht Hollein nicht als Protest oder Verweigerung sondern als Bejahung.
D a s „ H a a s - H a us “ – e i n N a c h r u f Gernot Böhme 3 hat davon gesprochen, die Autonomie der Kunstwerke besitze heute ihre gesellschaftliche Funktion darin, „dass man an ihnen Atmosphären handlungsentlastend erfahren kann“. Ginge man stattdessen in ein Kaufhaus, so würde man dort natürlich auch Atmosphären empfangen, „die von ästhetischen Arbeitern produziert worden sind und die einstimmen sollen in die richtige Kaufhaltung“. Doch sei man hier gerade nicht handlungsentlastet, da man ja etwas kaufen soll.
Abb. 3: Hans Hollein, Haas-Haus. Wien 1990. Hollein ignoriert diesen Unterschied. Während bei ihm das Museum seinen schmeichelhaften Zuwachs an Akzeptanz mit dem Verlust an differenzierter ästhetischer Erfahrung bezahlt, ist es beim Haas-Haus gerade der Zwang zur Ästhetisierung, der sich hier deshalb so nachteilig aus3
Böhme, Gernot: Thesen zu einer ökologischen Naturästhetik, in: werk und zeit, 39, 1, 1991, S. 4/5. 129
ÄSTHETISIERUNG, MUSEUM, SUBJEKT
wirkt, weil er bei Hollein vom Formprimat der Architektur abgeleitet ist. Wer sich damals länger im – heute allerdings stark veränderten – HaasHaus aufhielt und dabei das Verhalten der Käufer: besser der Besucher beobachtete, konnte auch an sich selber feststellen, dass ein Zwang, etwas kaufen zu müssen, kaum auf ihm lastete. Hier haben die Waren nicht mehr uns. Stattdessen begegnen wir ihnen über eine Erfahrung, an der wir auch, ohne die Waren besitzen zu müssen, teilhaben können. Ihre „Abwesenheit“ im Haas-Haus bringt sie und die Produzenten tatsächlich in eine ähnliche Verlegenheit, wie die ausgestellten Bilder und Objekte und deren Produzenten in Holleins Museum. Noch sehr viel deutlicher als dort sind die Waren im HaasHaus räumlich (in den Museen geschieht das auf ästhetischem Wege) aus der Mitte herausgedrängt. Diese erzählt hier als „steinerne Erschliessungslandschaft“ (Hollein) ihre eigene Geschichte so ganz im Gegensatz zu den repräsentativen, die Mitte einnehmenden Treppenaufgängen der bourgeoisen Kaufhäuser der Jahrhundertwende. Was nun das Museum betrifft, so ist die darin aufgesuchte „Atmosphäre“ der Kunstautonomie zunächst alles andere als handlungsentlastend. Dagegen spricht allein die Geschichte dieser Institution als Teil der bürgerlichen Öffentlichkeit. Immerhin entsteht hier ein gesellschaftlich vermittelter Erwartungsdruck, der sich auf das Verstehen und das richtige Sehen der Kunstwerke bezieht. Sich mit den Werken auseinanderzusetzen, ist in jedem Fall als Handlung zu begreifen. Aber sowohl in Gladbach als auch jetzt in Frankfurt/M. ist es in den Museen gelungen, diesen bildungsbürgerlichen Handlungsdruck (Bildungsereignis, Kennerschaft) aufzulösen. Die ästhetischen Mittel sind mit denen des Kaufhauses durchaus vergleichbar. Nur, dass die umfassende Ästhetisierung hier weniger subtil gehandhabt werden muss, wie in einem Museum für moderne Kunst. Kunstwerke sind zwar auch Waren. Doch die Differenz zwischen Museum und Kaufhaus in ihrer architektonischen Gestaltung liegt wohl in der Ausdrucksallianz der durch die Museumsarchitektur zu einem Gesamtkunstwerk vereinten Künste. Andere Rücksichten sind dort zu nehmen, wo zwar unter dem totalisierten Blickwinkel des Museums die ästhetisch-hedonistische Einstellung dem Leben gegenüber eingeübt wird. Wo aber auch die differenzierte ästhetische Erfahrung der einzelnen Kunstwerke nicht ganz unterdrückt werden kann. Entlastet wird der Museumsbesucher, weil in der Hollein’schen Ästhetisierungsstrategie die Trennung zwischen Verstehen und NichtVerstehen aufgehoben wird. Einzig die häufig mit einer Neigung zur verkitschten Ironie präsentierte, exklusive Kostbarkeit könnte Barrieren neu aufbauen. Denn sowohl das Museum für Moderne Kunst als auch 130
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das Haas-Haus repräsentieren und kultivieren einen Lebensstil, der nicht Jedermanns Sache sein kann. Mögen sich daran die Grenzen dieser „populären Ästhetik“ des Besonderen und Aufwendigen zeigen, so fängt sie davon doch manches wieder auf, indem sie den Besuchern schmeichelt und die Teilhabe an einem unmittelbar sinnlichen Vergnügen verspricht. Ja, man gewinnt den Eindruck, hier wolle einer vermitteln zwischen der ökonomisch und kulturell dominanten Klasse und deren stilistischen Exklusivitätsbemühungen und der kleinbürgerlichen Mittelschicht, die, wenn auch letztlich hoffnungslos, in ihren stilistischen Praktiken an jene nie heranreichen wird. Diese Vermittlung – als Lüge – kaschiert an entscheidender Stelle auf hohem ästhetischen Niveau, dass im Fall des Museums Bildungswissen und beim Haas-Haus ausreichende Geldvermögen zwischen beiden stehen.
Ä s t h e t i s i e r u n g a l s Zw a n g In der wohl immer noch weit reichendsten Ästhetischen Theorie des 20. Jahrhunderts – der Adornos4 – heißt es vom Formbegriff, er markiere „die schroffe Antithese der Kunst zum empirischen Leben, in welchem ihr Daseinsrecht ungewiss ward. Kunst hat soviel Chance wie die Form, und nicht mehr“. In einer durch und durch ‚verbilderten Welt’, in der nahezu alles durchgeformt und in Zeichen und Botschaften übersetzt ist, hätte demnach auch eine Architektur, die ihre Besonderung in der Form sucht, nur noch geringe Möglichkeiten. Besaß die autonome Kunst in der bürgerlich affirmativen Kultur noch ein Formreservat, so kann sie dies spätestens seit der Avantgarde, der Entkunstung der Kunst und den Ästhetisierungen des Alltagslebens nicht mehr für sich allein reklamieren. Wo alles zur Form wird, verliert die Kunst zunächst einmal an Boden. Holleins Arbeiten sind von diesem Konflikt gezeichnet. Allerdings thematisiert er den Verlust des Formreservats nicht, wie die ästhetische Moderne es tat, durch Verdichtung, Verfremdungen und Sichtbarmachung. Hollein kompensiert ihn mit den Mitteln seiner bemerkenswerten Fähigkeit, Formen zu arrangieren. Er setzt dabei häufig genug viele Formen, Materialien und Farben ein. Zum künstlerisch-kreativen Willen zur Form gesellt sich der Zwang zur Steigerung der Menge, der Anzahl. Widersprüchlich genug sucht Hollein die Besonderung der Form dort, wo es sie eigentlich gar nicht mehr gibt. Das muss gerade in einem
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Adorno, Th. W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M.: 1970, S. 213. 131
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Kaufhaus um so mehr Erstaunen und Verwunderung auslösen. Dabei ist – besser: war – das Haas-Haus eine der elegantesten und zugleich ängstlichsten Auflösung des diskrepanten Verhältnisses von hoher und niederer Kunst. Holleins Architektur wird hier zu einer einzigen Beschwörung. Ängstlich vermeidet er es, Leerstellen zu schaffen, die von einem Schweigen als Ausdruck tatsächlicher Sprachlosigkeit und der Profanität und Banalität des Ortes erzählen könnten. Alles wird erst dadurch, dass es Form erhielt. Ohne sie ist nichts. Und deshalb ist die Architektur alles. Ihre Mitte ist der Berg, zu dessen Gipfel man hinaufsteigen, auf Rolltreppen aber auch hinauf gleiten kann. Die Architektur, die als Form, wie alle Kunst, ihr normatives ästhetisches Zentrum schon längst eingebüßt hat, schafft sich im Haas-Haus ihr eigenes als Illusion. Wer Hollein vorgeworfen hat, er missachte die Verbindung von Innen und Außen, von Inhalt und Form, hat nicht gesehen, dass die Architektur selbst zum einzigen Inhalt geworden ist. Um ihn sind, wie im Theater die Ränge und Logen zur Bühne, die Geschäfte im Halbrund angeordnet. Wer als Besucher die Mitte, über die man zu den Verkaufsrängen gelangt, verlässt, der wird selbst hier mehr zur Mitte hingezogen als zu ihren peripheren Rändern. Was man im Hinaufgleiten in Bewegung erlebt, wird von dieser Perspektive aus zur Bühne, auf der man sich gerade noch befand. Selten hat sich Architektur so auffällig thematisiert und inszeniert und sich dabei den Inhalt, die Geschäfte mit ihren Warenangeboten, vom Leibe gehalten. Beides ist zwanghaft und durch Ironie und bewusste Verhüllungen nicht zu verdecken. Deutlich wird diese Steigerung, wenn man sich Konzepte älterer Warenhäuser ansieht. Auch hier ist die Treppe die vielfach fantastisch gesteigerte, raumästhetisch überhöhte Funktion. Oft Mittelpunkt und durch eine verglaste Kuppel Licht durchflutet, bleibt sie das, was sie ist: eine Treppe. Sie ist Gelenk, auch immaterielle Achse, um die sich das Warenhaus dreht. Aber nie ist sie derart Bühne, zu dem Hollein den Aufgang macht. Seine im Grunde schwerfällig marmorierte, vielfach unterbrochene Architektur- und Berglandschaft steht ganz für sich und ist zu Recht, neben dem Ausblick auf Dom und Platz, die eigentliche Attraktion des Haas-Hauses. Die Menschen kommen hierher, um zu staunen. Das Haas-Haus bewegt sich zwischen bemühter Popularität und selbstverliebter Exklusivität. Es ist auffordernd im Ganzen und abweisend in den Details. Seine Rhetorik vereinnahmt uns, dass die Worte verstanden werden müssten. Rhetorisch ist die Inszenierung, die universelle Welt des Ästhetischen, die die Ernsthaftigkeit der Einzelformen nicht verträgt. Aber bedeutungsvoll genug treten sie uns gegenüber. 132
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Deshalb auch bleibt man stehen, berührt ein Material, testet die Kälte, die Polierung oder Wärme der Oberflächen. Aber wir haben es hier mit sinnentleerten Symbolen zu tun, die für sich allein nicht bestehen können. Auf den ‚Bildern’ die diese Architektur erzeugt, ist nichts zu sehen; ästhetisch bleiben sie folgenlos! Doch das Problem kennen wir. Die Menschen, so beklagte bereits Friedrich Nietzsche, „sind tief eingetaucht in Illusionen und Traumbilder, ihr Auge gleitet nur auf der Oberfläche der Dinge herum und sieht ‚Formen’, ihre Empfindung führt nirgends in die Wahrheit, sondern begnügt sich Reize zu empfangen und 5 gleichsam ein tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge zu spielen“ .
Die Besonderung der Form, auf die Hollein zurückgreift, gelingt ihm im Haas-Haus als die nicht enden wollende Ansammlung ästhetisch eindimensionaler Gestaltungsanlässe. Damit ist sie gescheitert. Und irgendwo spürt man das, auch wenn das Haas-Haus uns unentwegt ablenkt. Unangenehm ist seine Aufdringlichkeit. Wo immer man sich hinwendet und hinschaut: überall sieht man in die Augen des Architekten. Selbst beim erschöpften Hinuntergehen der Treppen gerät dem Besucher der Blick auf ein banales Eckarrangement zu einer weiteren Erzählung, die den Namen nicht verdient. Wie man in den Warenhäusern und Supermärkten schon lange unter der Unsitte leidet, immerzu von Musik begleitet zu werden, so ist es im Haas-Haus das Auge, dem der Angriff des Gestaltungszwangs gilt. Hier wird unentwegt monologisiert in der Angst vorm Schweigen. Oder davor, dass jemand selber unaufgefordert zu sprechen beginnen könnte. Es ist genau diese Sprache, die Hollein mit seinem Dauermonolog zudeckt, ja erschlägt, weil er ihre triviale Alltäglichkeit eben doch nicht ertragen kann. So kommt er ihr geschickt zuvor und überlistet sie. Aber er bleibt ihr mit seinen Angeboten fremd.6
Das Modell als Serie Bauten, wie Holleins Haas-Haus, sind der avancierte Ausdruck eines schon länger virulenten Gegensatzes zwischen dem, was Baudrillard7 einmal Modell und Serie für die Produktion der Gegenstände genannt hat. Für den in Serie produzierten Gegenstand sei es heutzutage typisch, 5
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Nietzsche, Friedrich, Über Wahrheit und Lüge im außerordentlichen Sinne, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Ed. Colli, Montinari, Bd. 1, München: 1980, S. 871-890, hier S. 876. Sterk, Harald: Ein Fest der Widersprüche. Wiens Zentrum und das Neue Haas-Haus von Hans Hollein, Wien: 1990. Baudrillard, Jean: Das System der Dinge, Frankfurt/M.: 1991, S. 184. 133
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dass bei ihm durch den wachsenden Druck ständig wechselnder individualistischer Stilisierungen an die Stelle des Stils eine Kombination trete: „Am Modellgegenstand gibt es keine Details, auch keine Kombination von Details: Rolls-Royce-Wagen sind alle schwarz (oder grau, was dem gleichen Paradigma entspricht). Dieses Objekt liegt außerhalb der Serie und des Spiels, es ist außer Konkurrenz. Mit dem ‚verpersönlichten‘ Gegenstand und je mehr er serienmäßigen Charakter hat weitet sich das Kombinationsspiel aus, und man findet fünfzehn oder zwanzig verschiedene Farben bei derselben Marke“.
In diesem Sinn wäre das Haas-Haus kein Modell, weil ihm Harmonie, Einheit, Homogenität und eine Kohärenz des Raums fehlen, auch der Form und der Substanz. Es ist – trotz der bemühten Originalität, i.e. in Wahrheit seine „Strategie der Verpersönlichung“ – wie ein Seriengegenstand charakterisiert durch ein bloßes Nebeneinander, eine willkürliche Kombination, ein „unartikuliertes Gerede“8. Darin aber wird das Haas-Haus selber zu einem neuartigen Typus des Modells: Es ist ein von allen Eigenschaften des Seriengegenstandes beherrschtes Modell, das sich nur noch durch die Qualität seiner Materialien, Stoffe und den Grad der bewusst inszenierten ‚Unartikuliertheit’ von anderen Bauten und Objekten unterscheidet; von solchen, die das Modell der Kombination nachahmen und so in Serie bringen, was das Modell als Serie vorgegeben hat. Damit entspricht das Haas-Haus exakt dem, was Jameson9 als Pastiche bezeichnet: eine Maske mit toten Augen. Das Haas-Haus erzählt auf diesem Wege auch, dass es im Spätkapitalismus keine Modelle als authentische, in Form und Funktion noch kontingente Gegenstände gibt. Die Modelle sind jetzt von der Serie eher durch ihr freieres Spiel unterschieden; auch dass ihr Gerede in seiner Unartikuliertheit auch ironisch gemeint sein kann. Mehr aber ist es nicht. Denn auch das Haas-Haus macht durch die Vielfalt seiner sekundären Charakterzüge den tendenziellen Verlust seiner grundlegenden Eigenschaften wett: Materialien, Formen, Linien, Farben, räumliche Effekte drängen sich in den Vordergrund. Auf den Kern gebracht: In der postmodernen Architektur sind es immerzu solche Einfälle gewesen, die die Mängel und den Verlust der Fantasie hinsichtlich der Grundrissgestaltung überdeckt haben.
8 Ebd. 9 Jameson, Frederic: Postmoderne – Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, in: Huyssen, Andreas/Scherpe, Klaus, (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek: 1986, S. 61f. 134
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Af f i r m a t i o n d e s R e i c h t u m s Das Haas-Haus ist, wie so oft bei Hans Hollein, eine Affirmation des Reichtums. Es folgt dem Gebot des wunderbaren, schmerz- und folgenlosen Konsums; dem Wunsch nach einer schönen, durch und durch gestaltbaren, weil vom Künstler-Architekten so beispielhaft gestalteten Welt. Damit unterstützt das Haas-Haus in seinem Verständnis von Architektur eine Mentalität, die mit den tatsächlichen ökonomischen, sozialen und ökologischen Problemen der Gesellschaft absolut nichts anzufangen weiß. Hier wirkt sich einmal mehr verheerend aus, dass der Großteil der den öffentlichen Diskurs beherrschenden Architektur seit gut dreißig Jahren ganz in die Hände des privatkapitalistischen und des vielfach analog verfahrenden kommunalen Städtebau- und Kulturmanagements und damit unter das Primat der Ökonomie geraten ist. Nicht weniger verhängnisvoll als unter dem der Politik hat solche Architektur ihren Narzissmus allzu bereitwillig diesmal mit der durch und durch ästhetischen Konsum- bzw. Prestigekultur verbunden. Kritische, selbstreflexive Orientierungen sind in den zurückliegenden Jahrzehnten von dieser Architektur nicht ausgegangen.
Selbstinszenierung Der Prozess der Ästhetisierung ist solange unvollständig, als er nicht den Menschen selber ergreift; erst dann wird er zu einem einheitlichen Prinzip der Welterzeugung, in dem der Mensch sich in das „ästhetische Superadditum“ seiner Schöpfung, von dem Simmel spricht, nahtlos einfügt. Oberflächliche Eindrücke bleiben zunächst disparat: Wir sehen ein inneres und äußeres Styling der Menschen allenthalben. Die kommerziellen Angebotsmaschinen überwuchern die Städte und tragen ihrerseits zu deren Ästhetisierung bei. Psycho- und Esoterik-Studios sorgen für die Harmonie der schönen Seelen; Solarien, Fitness- und BodybuildingCenter stylen die Körper, die beim Shopping in den innerstädtischen Boutiquen-Ketten ihre expressiven Bedürfnisse befriedigen, die in modischen Cafés, Bistros oder Szenekneipen erlebnishaft sich ausagieren. Die Einheit und den inneren Zusammenhang solcher scheinbar disparaten Angebote stellen aber nicht nur die zirkulierenden Leiber der zunehmend enger markierten und deshalb umso exaltierter agierenden Konkurrenzgewinnler um Arbeit, Geld und Macht her. Es hat sich gezeigt, dass die Einheit der Erscheinungsfülle des Schönen – historisch hervorgetrieben im System der kapitalistischen Massenproduktion – erst mit der Hereinnahme der Erscheinungsweisen des Individuums in den
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Prozess der Massenproduktion eine reale und durchstrukturierte Systematik erhalten hat. „Es gilt als selbstverständlich, dass der Durchschnittsbürger seinen Körper durch strenge Diät und Fitnesstraining verändern kann und soll. Auch die Vorteile des Psycho-Trainings und sogar der bewusstseinserweiternden Drogen sind bereits in weiten Kreisen anerkannt. Plastische Chirurgie wird von vielen unserer sozialen Vorbilder nicht nur akzeptiert und unterstützt, sondern enthusiastisch vorgeführt. Die Generation, die die Verwandlung der Jane Fonda miterlebt, vielleicht sogar zu imitieren versucht hat, ist sich in hohem Maße der Freiheit bewusst, den eigenen Körper kontrollieren und verändern zu können. Da immer effektivere Technologien zur Verfügung stehen werden, mag es für die Post-Fonda-Generation nur ein weiterer logischer Schritt sein, ein genetisch verbessertes Kind (er-)zeugen zu wollen, das bereits jene erweiterten körperlichen Anlagen besitzen würde, die Jahre des Fitnesstrainings, des Fettabsaugens und der Implantationschirurgie erbracht 10 haben.“
Die Entwicklung menschlicher Selbstinszenierung geht den üblichen Weg vom Außerordentlichen zur Normalität. Der Dandy ist noch der unangepasste Dissident, der sich in einer normativ überdeterminierten, das heißt sich verbürgerlichenden Welt inszenieren muss, um ihr zu entfliehen. Die ausgeschmückte und in der Öffentlichkeit selbstbewusst getragene Außerordentlichkeit, die die Wohlanständigkeit noch im Nachhinein zum numinosen Schauer hochtreibt und die wirklichen, außerordentlichen Autoritäten blass aussehen lässt, ist zugleich auch eine Flucht in die Öffentlichkeit, in der sich eine exaltierte Individualität im Angesicht der Gaffer zu isolieren vermag. Diese Form öffentlicher Selbstdarstellung des Individuums muss schon deshalb eine Ausnahme bleiben, weil sie zum einen an eine stigmatisierungsfähige Besonderheit, an ein Charisma gebunden ist, und zum anderen für ihre stilisierte Dekoration enorme materielle Ressourcen verschleißt, die im frühen 19. Jahrhundert noch keineswegs in der heutigen Grenzenlosigkeit und Wohlfeilheit zur Verfügung stehen: Der Dandy braucht Vermögen, Produktivität oder einen Mäzen. Und kaum etwas erfordert größeres Engagement, neben dem materiellen einen größeren psychischen Aufwand, als seine demonstrative Gleichgültigkeit. Die in ihrer leichten Zurschaustellung doch letztlich angestrengte Blasiertheit ist für Simmels Großstadtmenschen am Ende des Jahrhun10 Deitch, Jeffrey: Post-Human, in: Ausstellungskatalog „Post-Human“ (Hamburg Deichtorhallen 12.3.-9.5.1993), Hamburg:1993, S. 27-47, hier S. 39. 136
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derts bereits zu einer von der Heterogenität der Warenwelt erzwungenen Distanziertheit verweltlicht. Wie wir gesehen haben, manifestiert sich darin eine ästhetische Wirklichkeitsaneignung, die die anschwellende Flut der Sinneseindrücke abzuarbeiten in der Lage ist. Distanz ist hier nicht, wie siebzig Jahre früher, eine aktive Subjektleistung, sondern eher die Lähmung des Subjekts einer Objektüberwältigung gegenüber, die in der ästhetischen Haltung zwar nicht wirklich bewältigt, d. h. mit den subjektiven Kulturansprüchen zur Deckung gebracht wird, die aber immerhin damit subjektiv integrationsfähig wird und so die Lähmung tendenziell zu einer relativ komfortablen Haltung aufstockt. Die subjektive Selbstbehauptung gegenüber der objektiven Kultur von Institutionen und Artefakten erfordert allerdings mehr, ein „Äußerstes an Eigenart und Besonderung“ (Simmel), die in der Aneignung und modischen Manipulation der Dingwelt erworben werden kann. Die Welt der Bedürfnisse reift damit in der Phase des Hochkapitalismus und der beginnenden Massenproduktion zum gegenständlichen Arsenal wechselnder Selbstinszenierungen zu gemäßigten Preisen heran. An diesem Schnittpunkt der Entwicklung zeigt sich in den Beobachtungen Simmels, dass sie für die Individuen auch riskant ist, dass sie an spezifische subjektive Vermögen gebunden ist, die erst im Umgang mit den Dingen, im Versuch der Selbstbehauptung ihnen gegenüber entstehen, und dass sie auch mit erheblichen nichtpekuniären Kosten verbunden sind, mit Leiden an dem Verlust der ausgezeichneten Beziehung zu kulturellen Objektivationen. Wir sahen, dass daraus für Simmel noch eine Spannung im Verhalten der Individuen resultierte zwischen der dichten Dekoration in der heimischen Intimität und dem „interesselosen Wohlgefallen“ in der Öffentlichkeit. Diese Spannung ist heute erloschen. Die lebenspraktischen Zusammenhänge von Innen und Außen sind eingeebnet; sie werden durch ein wachsendes Warenarsenal mit wechselnden Symbolbesetzungen vermittelt. Das „Äußerste“, der von Simmel beobachtete Individualisierungsaufwand, ist zum zwar strukturell erzwungenen, jedoch über Verinnerlichungen zum zunehmend habituell gehandhabten Phänotyp geworden. „‚Individualisierung‘ heißt also: Die Normalbiografie wird zur Wahlbiografie, zur ‚Bastelbiografie‘“11. Diese Bastelei an der Erscheinungsweise des Selbst wird von vielen Autoren als Inszenierung – des Ego allgemein, der eigenen Statuszuschreibung, kultureller Attitüden oder auch fluider und oft wechselnder Gruppenzugehörigkeiten – vorgestellt und als wesentliche Dimension 11 Beck, Ulrich: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt: 1993, S. 152. 137
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der Ästhetisierung begriffen. Die Auspowerung des Alltags durch Standardisierungen, Routinisierungen und das monotone Pendeln zwischen in ihrer Legitimität erschütterten Institutionen erfährt dadurch zugleich eine Überhöhung, indem dieser Alltag zur Bühne für die Selbstdarstellung wird. Die Inszenierung lässt den Menschen nicht einfach als mit besonderen Attributen (einer sozialen Zugehörigkeit, eines Standes, eines kulturellen Habitus) ausgestatteten erscheinen: Im Gegenteil, die besonderen Weisen heutiger Ausstattungsmöglichkeiten löschen gerade diese tradierten Distinktionen aus. Sie machen ihn vielmehr zu einem Ensemble symbolischer Verweisungen, das als Inbegriff des Individuums gewissermaßen ohne jeden sozialen Zusammenhang erscheint. Man kann sagen: Die Ästhetisierung im Sinne symbolischer Aufladung von Dingen und Artefakten kommt in der Inszenierung des Menschen zu sich selbst. Menschen haben sich immer geschmückt und so der Realität ihrer optischen Erscheinung etwas auf die Sprünge geholfen. Aber die Inszenierung des Menschen verschönert nicht einfach seine naturale Realität – übrigens kann sie ihn genauso verhässlichen, auch das ist Gruppenmode –, sondern stellt ihn in eine neue, transnaturale Realität symbolischer Verweisungen, in denen allein er sich fortan als real begreift. Das hat keineswegs etwas mit Persönlichkeit oder Mut zu tun; vielmehr bringt das Auseinanderbrechen ehedem subkulturell definierter und begrenzter Optionen den Zwang mit sich, für sich selbst und für andere aus den (warenförmig organisierten) Umweltgegebenheiten in scheinbar freier Optionswahl, die tatsächlich aber wiederum, diesmal über das Warenangebot, vordefiniert ist, ein präsentables Ich zu konstruieren und zu verkörpern. Es handelt sich also um eine personale Übersetzung von Ästhetisierungsprozessen aus der menschlich erzeugten Umwelt; es handelt sich um die formübertragende Einbindung des Menschen in seine selbst geschaffene zweite Natur. In dem Sinne ist die Inszenierung auf das andere Beispiel dieses Kapitels zu beziehen, auf Holleins Warentempel: Es handelt sich in den beiden Fällen um die idealiter einheitlich strukturierte Ästhetisierung des menschlichen Innen und Außen, seines Selbst und seiner Umwelt. Wolfgang Welsch12 beschreibt diesen Zusammenhang folgendermaßen: „In der urbanen Umwelt meint Ästhetisierung das Vordringen des Schönen, Hübschen, Gestylten; in der Werbung und im Selbstverhalten meint sie das
12 Welsch, Wolfgang: Ästhetisierungsprozesse, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1993, 7-31, hier S. 14. 138
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Vordringen von Inszenierung und Lifestyle; im Blick auf die technologische Bestimmung der objektiven Welt und die mediale Vermitteltheit der sozialen Welt hat ‚ästhetisch’ vor allem die Bedeutung der Virtualisierung; und die Ästhetisierung des Bewusstseins schließlich bedeutet: Wir sehen keine ersten oder letzten Fundamente mehr, sondern Wirklichkeit nimmt für uns eine Verfassung an, wie wir sie bislang nur von der Kunst her kannten – eine Verfassung des Produziertseins, der Veränderbarkeit, der Unverbindlichkeit, des Schwebens etc. Im einzelnen also erfolgt die Ästhetisierung auf unterschiedliche Wiese, zusammengenommen aber ergibt sich ein Generalbefund von Ästhetisierung“.
Die Inszenierung ist also keineswegs eine grundständige menschliche Fähigkeit, die auch andernorts und zu anderen Zeiten hätte zum Zuge kommen können. In ihrem vorläufigen Zenith zeigt sich vielmehr, dass Ästhetisierung zwar historisch auf Dekoration fußt, logisch aber einen radikalen Entwicklungsbruch zu ihr darstellt. Sie hat als soziokulturelles Resultat einen ökonomisch und technisch voraussetzungsvollen Entwicklungsprozess durchlaufen, den man als Anhäufung und Ausgestaltung von Ressourcen auffassen kann. Inszenierung verschlingt ebenfalls Ressourcen und das umso mehr, als es sich im Prinzip um ständige Neuinszenierungen mit häufigem Identitätswechsel handelt. Die gesellschaftlich verfügbaren Ressourcen – abgesehen von den individuellen der psychischen und interaktiven Investitionen – speisen sich vor allem aus zwei Quellen: aus Konsumgütern und Medien.13 Zum ersten: Die im Prinzip arbiträre Welt luxurierender Überproduktion in den westlichen Industriegesellschaften, wie sie uns in den unverbunden und zufällig daher kommenden Warenauslagen und -katalogen entgegentritt, wird in den symbolischen Verweisungen auf den Körperoberflächen der inszenierten Persönlichkeiten sinnhaft und welthaltig konfiguriert. Nur in dem Maße, in dem eine solche Konfiguration gelingt, 13 Dennoch ist dies Verhalten deutlich von der „Conspicuous Consumption“ der Reichen und der Superreichen zu unterscheiden, über die Thorsten Veblen zu Beginn des vorigen Jahrhunderts schrieb. Sie demonstrierten mit ihrem Güterverbrauch nur Reichtum, und dafür war die Erlesenheit der Dinge, aber nicht die des Geschmacks ausschlaggebend. Vor allem fügten sich die Dinge nicht zu einem symbolischen Ensemble zusammen, in dessen Zentrum der Mensch selbst stand: Sie blieben seine Umwelt. Heute gibt es im Zeitalter massenhafter Produktion keine erlesenen Dinge mehr, dafür aber die Ubiquität der Warenwelt mit ungemein kurzer Halbwertzeit. Daraus eine signifikante und distinguierende Umwelt zu bilden, ist, unter dem Gesichtspunkt ihrer Dauer, unmöglich, wenn der Mensch sich nicht selbst als gestaltbar in sie einbezieht. Dann kann er von seiner Selbstdarstellung aus diese als der Mode unterworfen und damit verwandlungsfähig behandeln. 139
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schafft eine Inszenierung eine neue Realität soziokultureller Existenz des Menschen. Sie kann auch misslingen. Sie zu erlernen, ist eine kulturelle Kompetenz geworden, die in Jugendgruppen und Schulen längst traditionelle Fähigkeiten wie bürgerliche Tugenden, überkommene Kulturtechniken oder intellektuelle Kompetenzen in großem Umfang kompostiert haben, wie allenthalben von Wertkonservativen beklagt wird. Diese Kompetenzen beruhen also auf einer gründlichen Warenkunde und damit auf der Fähigkeit, Selektionsentscheidungen treffen zu können, die sich auf das Selbst und seine Präsentation beziehen. Das notwendige und erfolgreiche Treffen solcher Entscheidungen vermittelt den Individuen in gewissem Maße das Marlboro-Empfinden von Handlungsautonomie und von einer konstituierten Persönlichkeit, ist aber tatsächlich der oben ausgeführten Dialektik von Pluralität und Homogenität unterworfen. Zum zweiten: Darüber hinaus bedarf es zur handlungsmächtigen Verflüssigung der angesprochenen Kompetenzen der zweiten Ressourcengruppe, der Medien. Medien steuern das Handeln durch den Transfer bereits getroffener und bewährter Selektionsentscheidungen auf neue Situationen. Hier spielen vor allem die i.e.S. ästhetischen Medien Geschmack, Stil und Mode eine ausgezeichnete Rolle, die allerdings – anders bliebe die „Warenkunde“ inszenierungsunwirksam – mit klassischen Medien wie Geld oder Macht im Medienverbund auftreten. Selbstverständlich haben (manche) Menschen immer Geschmack gehabt, der in einem mehr oder minder persönlichen Stil zusammenfloss und der – mindestens im vorigen Jahrhundert – auch modebestimmt bzw. Mode bestimmend war. Aber gerade die auf das Individuum zielenden Medien – Geschmack und Stil – waren in dessen heroischer Phase bis etwa 1918 traditionell normiert und gruppen- oder klassenkulturell festgelegt, wurden also repertoiremäßig erlernt und stellten mithin kaum Anforderungen an Selektionsentscheidungen. Und die wurden in diesen Medien problemlos inter- und intragenerativ transferiert. Der Zusammenbruch dieser Normierungen, zusammen mit der affirmativen Kultur, deren Habituskorsett sie zum Teil waren, bedeutet nicht, dass auch die Leistungsfähigkeit der ästhetischen Medien zusammengebrochen wäre. Sie sind im Gegenteil lediglich pluralisiert. Damit ist zwar ihre Funktionalität riskierter, d. h. der Selektionstransfer nicht unbedingt immer prägnant, ihre Bedeutsamkeit für das Individuum indessen ist enorm gesteigert. Die dramaturgische Leistung des Individuums in seiner Selbstinszenierung besteht in der Abstimmung der beiden Ressourcengruppen im Gebrauch und am eigenen Körper, d. h. in der Ausnutzung der jeweiligen medialen Selektionskapazitäten bei ihrer Anwendung auf re140
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präsentationsfähige Konsumgüter. Ein gewisses Problem dabei stellt das komplexe Medium Mode dar, in dessen signifikative Wandlungen sich Geschmack und Stil einpassen müssen. Sie ist deshalb problematisch, weil sie vom industriellen Angebot und von den gruppenspezifischen Selektionsentscheidungen einem doppelten Wandlungsdruck ausgesetzt ist, um dem stets drohenden Verhängnis einer Nivellierung der ausstaffierten Identitäten, einem Verschwimmen der Grenzen ihrer Definitionen zu entgehen. Gerade das überwölbende ästhetische Medium, das die Inszenierung als Ästhetisierung umfassend steuert, könnte deshalb in seiner Orientierungsleistung geschwächt werden. Diese Schwächung, d. h. eine wachsende Unverbindlichkeit der medialen Leistung, wird dem Medium unter dem Label Pluralität als neue Stärke zugerechnet. Hier nun haben die Massenmedien seit Jahrzehnten eine sich mit der weiteren Ausdifferenzierung des Medienensembles verstärkende Leitfunktion übernommen. Weil ihr hauptsächlicher Stoff, ihr Unterhaltungsprogramm, Selbsterzählungen oder Biografien inszenierter Persönlichkeiten enthält, modellieren sie ununterbrochen Prototypen solcher Abstimmungsleistungen zwischen den beiden Ressourcengruppen. Sie vermitteln also orientierungsfähige Idealbilder. Die am bürgerlichen autonomen Individuum und am affirmativen Kulturverständnis orientierte Kritik an der Medienunterhaltung und der Unterhaltungsorientierung des Medienpublikums verkennt daher den hier wesentlichen Sachverhalt, nämlich, dass Medienunterhaltung nicht nur Escapismus in einem trivialisierten und profanen Leben ist, sondern unter den Bedingungen der Entautonomisierung des Individuums und des Zusammenbruchs traditioneller kultureller Normierungen eine wichtige Erkenntnisleistung hinsichtlich typisch möglicher und damit sanktionsfreier Selbstinszenierungen zu erbringen hat.
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A V AN T G AR D E , S U B J E K T
UND
M AS S E N K U L T U R
Wie in der Einleitung bereits erwähnt, handelt es sich im Falle der Massenkultur um eine Kultur, die relativ klassenunabhängig auf die Gesamtheit der Menschen eines Landes, heute in der Ära der Internationalisierung der Medien und des Weltmarkts, auf die Gesamtheit der Menschen der kapitalistischen Industriestaaten orientiert ist. Auch ist nicht mehr nur eine Klasse der Träger dieser Kultur sondern das Gesamtsystem der kapitalistischen Warenproduktion. Auch ist Massenkultur nicht nur ein Medienphänomen, sondern wird von dem gesamten Produktions- und Marktsystem kapitalistischer Gesellschaften hergestellt. Tatsächlich fließt in den Massenkonsum aber auch der zutiefst grundständige Egalitarismus ein, den die nachbürgerlichen Gesellschaften des Westens als politische, soziale und kulturelle Selbstdeutung und Selbstrechtfertigung von ihren bürgerlichen Vorgängergesellschaften übernommen haben. Die Massenkultur wird also als ein zugleich differenziertes und homogenes und eben darin im Konsum egalitäres Warenuniversum industriell produziert, kommerziell verbreitet und konsumtiv angeeignet. In ihr, so hat es ganz den Anschein, ist jetzt jener Widerspruch aufgehoben, den die Moderne als Gegensatz von Kultur und Modernisierung stets begleitet hat und dem auch die Avantgarden den wohl wichtigsten Anstoß verdankt: den zur Erzeugung einer urbanen Massenkultur als eine Kultur der Gleichzeitigkeit.
Kultur und Modernisierung Gegenüber früheren und systemimmanenten Reformen, den sich in der wilhelminischen Ära laufend verschärfenden Widerspruch zwischen Kultur und Modernisierung zu entschärfen, können wir die während und nach dem Ersten Weltkrieg zum Teil kulturrevolutionären Programman-
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MODERNE, AVANTGARDE UND ARCHITEKTUR
sprüche der Künstlergruppierungen, die wir unter dem Sammelnamen Avantgarde führen, als systemsprengende Opposition bezeichnen Bekanntlich artikulieren die Avantgarden die Widersprüche zunächst als die Kluft zwischen Kunst und Leben, eine Kluft, die aufzuheben sei. Diese Diagnose bezieht sich sowohl auf die Lebensferne der künstlerischen Produktion als auch auf den zirkelhaft-absentistischen Elitismus des kulturellen Lebens selber. Das eine schließt das große Publikum wegen fehlender ästhetischer Sonderqualifikation aus. Dieser Ausschluss verstärkt wiederum den Elitismus als soziale Form, vor allem aber als ästhetisches Selbstbewusstsein und als besondere Lebensweise. Der kulturrevolutionäre Charakter, den die frühen Avantgardebewegungen der Moderne besaßen, ist nicht nur auf ihren so gearteten Impetus zurückzuführen, sondern vor allem auch darauf, dass sie auf eine nach außen fest gefügte Trägerschicht eines traditionellen, in Deutschland überdies stark nationalistisch gefärbten Kunst- und Kulturverständnisses trafen: das sogenannte Bildungsbürgertum, das – trotz seiner sozialen Überständigkeit im Spätwilhelminismus, erst recht aber in der Weimarer Republik – mit seinem repräsentativen Kulturhabitus in praktisch allen entwickelten europäischen Staaten einen starken Rückhalt besaß. Gegen diese Träger einer traditionellen Kultur muss jede kulturelle Innovation, die auf Entsakralisierung und kulturelle Ausnüchterung, auf die Justierung der Kultur auf die Lebensbedingungen der Industriemoderne zielt, durchgefochten werden. Dass dies stets einen Schock für die ganze Gesellschaft bedeutet, liegt auf der Hand, Den stärksten Schock bedeutet es aber zweifellos für die gesellschaftliche Schicht, deren Status und Position im sozialen Feld durch Verfügung über die wichtigsten kulturellen Ressourcen der Gesellschaft – Bourdieu spricht deshalb vom kulturellen Kapital – definiert ist. Sie hat im Zweifelsfall am meisten zu verlieren. Denn kultureller Wandel bedeutet ja nicht einfach die Einführung neuer Formen – im Fall der Avantgarden etwa: abstrakte Malerei, Collagetechnik, neue literarische Methoden, Dada-Happenings oder die Verwendung von Glas, Stahl und neuartiger Montage- und Typisierungstechniken im Wohnungsbau – , sondern Veränderung bis hin zum Austausch der Trägerschichten der Kultur. Der klassische Bildungsbürger gerade in seiner europäischen Spätphase, in der seine soziale Basis spürbar erodiert, reklamiert unverdrossen und kontrafaktisch zusammen mit dem humanistischen Bildungsanspruch den Status des selbsttransparenten Subjekts für sich, als habe es die Kritik der Subjektphilosophie seit Kierkegaard und Nietzsche nicht gegeben.
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AVANTGARDE, SUBJEKT UND MASSENKULTUR
Kunst und Leben Die Überwindung der Kluft zwischen Kunst und Leben hat insofern über die diagnostische Seite der Kunstproduktion hinaus auch immer die programmatische Bedeutung, das Publikum zu erweitern und über das künstlerische Material die ästhetischen Standards im Alltagsleben der Menschen zu gewinnen. Gewiss konnte es keiner einzigen der Avantgarde-Bewegungen ernsthaft um die viel beschworene „Überführung“ der Kunst in das traditionelle bürgerliche Leben gehen. Die Entwicklung der Widersprüche zwischen Kunst und Leben hat schließlich Gründe, die in der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft der ersten Industrialisierungsepoche selber liegen. Das Programm der Verbindung der beiden Sphären setzt mit der Veränderung der Kultur zugleich eine Veränderung der Gesellschaft voraus. Hierfür nun werden gleich mehrere Wege gesehen, von denen die drei wichtigsten genannt seien. Der erste ist die Aufnahme des Alltagslebens in die Kunst. Insbesondere dieser Gesichtspunkt führt zur Destruktion des Werkbegriffs und lässt eine gesellschaftliche Veränderung im Sinne einer Ästhetisierung erwarten. Er ist programmatisch und mindestens in der destruktiven Komponente der Weg von Dada, des Futurismus und der Neuen Sachlichkeit. Der zweite Weg liegt in einer ausdrücklichen politischen Adressierung des künstlerischen Schaffens und in seiner Bindung an ein zur Veränderung fähiges Subjekt. Dieses Subjekt kann eine idealiter handlungsfähig gedachte soziale Klasse sein (also das Proletariat), für die zum Beispiel der linke Flügel von Dada optiert. Oder eine sozialrevolutionäre Partei, an die sich die Futuristen aber auch prominente rationalistische Architekten in Italien anlehnen. Oder aber politisch-administrative Größen, mit denen das Bauhaus um Walter Gropius oder „Das Neue Frankfurt“ um Ernst May kooperieren. Der dritte Weg ist der der Integration der Künste in den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess. Es ist insbesondere der Weg der Architekten, Designer, Gebrauchsgrafiker, Fotografen; wobei es auch hier selbstverständlich unterschiedliche Optionen gegeben hat.
Lebenspraxis und Gebrauchsform Im Ergebnis führen die in sich zwar sehr unterschiedlichen, kulturdiagnostisch aber ziemlich ähnlich motivierten avantgardistischen Attacken auf die Kunst durchaus zu deren Überführung in die Lebenspraxis. Dies
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geschieht allerdings unter Preisgabe des Autonomiecharakters des Kunstwerkes, durch eine grundlegende Änderung des Kunstbegriffs selber. Dessen Voraussetzung ist die Konstitution einer eigenen ästhetischen Wertsphäre, die seine Autonomie sichert. Gerade diese wird nicht nur durch den revoltischen Aktionismus der Futuristen u.ä. Strömungen zerstört, sondern vor allem durch den eher pragmatischen Zugriff einer mehr oder weniger emphatisch entworfenen Alltagswelt auf das Allerheiligste, dazu einer technisch durchdrungenen Alltagswelt voller unbefriedigter Bedürfnisse. Das Stichwort dafür ist: Mangelgesellschaft. Die bürgerliche Lebenspraxis der modernen kapitalistischen Gesellschaft, die hier gemeint ist, das ist die industrielle Arbeitswelt in städtischer Großagglomeration mit einer für damalige Verhältnisse außerordentlich rapiden Expansion. Der ästhetische Anspruch dieser Lebenspraxis ist die Gebrauchsform i.w.S. ihrer möglichen Erscheinungsweisen vom unterhaltenden und zerstreuenden Film bis zur Gebrauchswertform der Waren und der effektiven Nutzbarkeit der Wohnung. Dies in Betracht zu ziehen und zum Gegenstand künstlerischer Praxis zu machen, zerstört nachhaltiger als jede noch so vehemente Kunstaggression den Werkbegriff mit seiner Formbesonderung. Und es führt andererseits zu etwas völlig Neuen: zu einer universellen Ästhetisierung der objektivierten Lebensäußerungen der Menschen. Die Differenz zwischen hoher und niedriger, zwischen reiner und angewandter Kunst wird aufgehoben, wobei jedes normative Zentrum für Ästhetik schwindet. Zu strukturierenden Komponenten einer nunmehr verallgemeinerten ästhetischen Produktion werden die Rationalität industriellen Herstellens – sei es in Bauformen, sei es in medialen Vermittlungszusammenhängen – , und eine nicht-normative, mithin vollständig individualisierte Kreativität, welche die weiterlaufende Kunstproduktion in ihre zeitgenössischen Ismen ausdifferenziert hat.
Politisierung des Kunstbegriffs Darin enthalten ist ein Modernisierungsselbstverständnis, zu dem die „alte“ Gesellschaft mit ihrem Dualismus von ökonomisch-materiellem Fortschreiten und kultureller Rückständigkeit nicht fähig erscheint. In diesem Sinne ist zwangsläufig auch bei den Avantgarden, die sich nicht ausdrücklich politisch äußern, die Deutung der kulturellen bzw. künstlerischen Entwicklungserfordernisse mindestens implizit politisch. Denn wie sonst ließe sich das alles durchsetzen, wenn nicht durch irgendwie politisch begreifbare Subjekte, deren Position die Künstler nur vorläufig in Stellvertreterschaft wahrnehmen können? Ästhetische Universalisie146
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rung beinhaltet in jener geschichtlichen Situation die politische Verallgemeinerung des ästhetischen Programms, soll es mehr sein als eine Absichtserklärung und tatsächliche Wirklichkeit werden. Die Suche nach solchen Subjekten kennzeichnet daher die meisten Bewegungen. Sie erweist sich schon deshalb als unabdingbar, weil die verschiedenen Koalitionen des Kulturkonservatismus ja auch während der Weimarer Republik durchaus vehement aktiv bleiben, wie sich allein schon am Wanderschicksal des Bauhauses zeigt. Also: Der Kunstbegriff und seine kulturelle Einbindung werden nicht einfach zerstört oder verändert: Sie werden vor allem auch hochgradig politisiert. In diesem Zusammenhang kennzeichnet es die Avantgarden, dass sie den dauerhaft innovativen Charakter der industriekapitalistischen Gesellschaft als einen ausgesprochen schöpferischen Bruch favorisieren. Damit reflektieren sie in ihren Programmen und Werken die Krisenhaftigkeit, als welche Brüche erlebt werden. Man entscheidet sich für die Bearbeitung der Inkohärenz. Dabei ist ein Kernelement aller Avantgarde-Richtungen eindeutig die Politisierung der Kunst. Was ist damit gemeint? Nun, zunächst und vor allem: Politisierung der Kunst ist etwas anderes als ein politisches Kunstwerk. Politisierung der Kunst ist ein immanenter Vorgang des künstlerischen Prozesses selber, der von bestimmten Gegenstandsauffassungen des Künstlers im Verhältnis zur künstlerischen Tradition, zur Umwelt und zum überlieferten rezeptiven Kunstumgang abhängt, die die Werkgestalt bestimmen. Politisierung bezieht sich also auf den Gesamtprozess von Kunstproduktion und -rezeption und ist in ihrer spezifischen Qualität von historischen Bedingungen der Kunstproduktion abhängig. Dagegen entwirft der dezidiert politische Künstler ein funktionales Verhältnis zwischen seinem Werk und der Welt, bevorzugt zu politischen Kräften in seiner Welt. Und er ignoriert infolgedessen die auf die Werkimmanenz zurückgehenden Bedingungen möglicher Politisierung. Er neigt deshalb aus programmatischen Gründen zu tradierten Werkformen. Zwingend ist das allerdings nicht. Die Politisierung bleibt bei den meisten Avantgarde-Künstlern ambivalent, keineswegs jedoch bei allen. Die Ambivalenzen ergeben sich in erster Linie aus der mangelnden Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit solcher Politisierungen hinsichtlich ihrer eigenen humanistischen Intentionen. Mangelnde Reflexion aber nicht im Sinne mangelnder Fähigkeiten, sondern hervorgerufen durch Distanzlosigkeit zu den Veränderungen in der sozialen Welt, in der sie ja pausenlos selber intervenieren. Wir können nicht daran vorbeisehen, dass die künstlerischen Innovationen vielfach nur zum Experiment geraten. Das trifft – durchaus 147
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intentionsgerecht – auf den revoltisch-provokativen Aktionismus der Futuristen und Surrealisten und von Dada zu. Dabei spielen sich hier die kulturellen Transformationen, trotz größter publizistischer Resonanz, weitgehend in relativ beschränkten, auch exklusiven Zirkeln ab. Eine diffuse Politisierung des öffentlichen Kunstdiskurses ist damit für die Avantgarden konstitutiv. Nun ist die Rede von der Avantgarde oder den Avantgarden nicht zuverlässig. Es handelt sich um eine äußerst heterogene Gruppierung in sich noch einmal differenzierter Gruppen, die nur ein fundamentaler Aspekt vergleichbar macht: Alle verschiedenen Fraktionen nehmen, in Manifesten oder Werken, die reale gesellschaftliche Entwicklung, d. h. die industriekapitalistische Modernisierung und deren enorme Folgeprobleme für den großen Teil der Bevölkerung programmatisch auf. Sie wollen die Kunst an diese Entwicklung anschließen, um so die depravierten Lebenswelten der von Modernisierung geschädigten Menschen kulturell durchzuformen. Die Deutung der Entwicklung und folglich die Programmatiken der Durchformung sind aber durchaus unterschiedlich. Dies hängt mit der Flexibilität der Politisierungsvorstellungen vor allem des Verhältnisses von Kunst zum Leben zusammen. Denn das „gute Leben“, das heißt hier natürlich ein kulturell reiches Leben, ist nicht allein avantgardistischer Zielhorizont. Es ist die Legitimitätsformel aller industrieller Modernisierung und somit all derer, die am Modernisierungsprozess, insbesondere der technischen Entwicklung der Ökonomie, beteiligt sind. Die Plausibilität der Formel verwischt in der öffentlichen Meinung leicht die Differenzen, die in ihr stecken. Diese Differenzen wirken auf die Avantgarden selbst zurück. Fast alle Gruppen zerlegen sich deshalb nach anfänglichen Gemeinsamkeiten entlang der Thematisierungsmöglichkeiten der Modernisierung, also entlang der internen Verständigungslinien über das Element der Politisierung. Den spektakulären Weg schlagen ohne Zweifel diejenigen ein, die sich zu politischen Künstlern erklären, zu Parteigängern sozialer und politischer Bewegungen, etwa der Kommunisten oder Faschisten. Kultivierung von Lebenswelten ist für sie nur erreichbar durch Umwälzung der Sozialstruktur oder politische Neuorganisation der Gesellschaft. Politisierung der Kunst wird hier instrumentell im Hinblick auf eine erst noch zu bewerkstelligende, revolutionär zu gestaltende Moderne gedeutet. Eine andere Interpretation ist die Identifizierung mit dem real ablaufenden Prozess industrieller Umwälzung und der Technisierung der künstlerischen Produktion. Zu denken wäre dabei u.a. an Moholy-Nagy und Kurt Schwitters, an Künstler und Theoretiker wie Hans Richter oder Béla Balász. 148
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Abb. 1: László Moholy-Nagy Sie wollen die kulturelle Transformation als ästhetische Seite der Industrialisierung selbst durchsetzen und entwickeln die Programmatik der Universalisierung des Ästhetischen etwa als Industrie-Designer, Grafiker, Werbefilmer oder Filmdramaturgen unmittelbar künstlerisch-praktisch. Bei ihnen gelangen massenkulturelle Transformation und technisch-industrieller Modernisierungsprozess programmatisch und real zur Identität. Das künstlerische Schaffen wird vom Anspruch der Politisierung dabei tendenziell befreit und dieser damit dem sozioökonomischen Prozess und seinen Trägern direkt überantwortet.
Werk und Programm Die Avantgarden werden gewöhnlich als in sich geschlossene künstlerische Gruppierungen betrachtet. Die dargelegten Aufspaltungen signalisieren jedoch eine Doppelexistenz, deren beide Seiten mindestens perspektivisch auseinander zuhalten sind. Denn die Avantgarden sind zugleich eine soziale und eine künstlerische Bewegung. Als solche erzählen sie zwei Geschichten, die keineswegs kongruent sind, selbst wenn sie von Derselben Person stammen: Es ist die Erzählung der Programme, Manifeste und Theorien und es ist die Erzählung der Werke.
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Die Erzählung der Werke ist weit facettiert. Sie reicht von der Hermetik vor allem in Werken der Bildenden Kunst, der Neuen Musik oder in expressionistischen und dadaistischen bis hin zur Literatur der antimodernistischen Moderne, wie etwa bei Kafka. Sie reicht aber weiter bis zu der auf Massenproduktion angelegten, industriellen Normung in der Architektur, vor allem im Siedlungs- und Wohnungsbau. Dazwischen stehen die Adaptionen der neuen Medien, des Films insbesondere, aber auch – man denke an Brecht oder Bronnen – des Rundfunks. Die Erzählung hat viele Kapitel und nur ein unbestimmtes Ende, das eine kohärente Gesamtinterpretation, sachlich unmöglich macht, wenn sie noch irgend konkrete Konturen aufweisen soll. Die Erzählung der Programme und Theorien ist niedriger dimensioniert. Man kann sie auf die Destruktion des Tradierten, der affirmativen Kultur mit ihrer Lebensferne, der Vorstellung vom Schönen schlechthin und vor allem vom geschlossenen Werk konzentrieren. Und sie umfasst den Entwurf einer zeitgemäßen, einer ökologischen Ästhetik, die sich in die sinnliche Armut der industriellen Lebenswelt der modernen Massen einpasst. Diese Ästhetik ruht auf einer utopischen Antizipation von einem in einer durchindustrialisierten Welt massenhaft auftretenden Menschen, dessen Individualität sich erst auf der Grundlage standardisierter Befriedigungspotenziale für Grundbedürfnisse entfalten kann. Die Inkongruenz der Erzählungen ist evident. An Schnittpunkten tendieren sie sogar zum offenen Widerspruch. Ein solcher Schnittpunkt von zentraler Bedeutung sind der bürgerliche Individualismus und die künstlerische Subjektivität.
Subjekt Die avantgardistische Programmatik sieht unter den depravierten Lebensbedingungen urbaner Agglomerationen und industrieller Arbeit in großen Kollektiven, deren Mitglieder den selben Arbeits- und Lebensdiktaten unterworfen sind, kurz: in den Lebensbedingungen der „Masse Mensch“, wie der damalige – auch wissenschaftliche – Zeitgeist formulierte, die menschliche Individualität erloschen. Auf der Seite des Bürgertums wurde sie aus Sicht der Avantgarden bereits seit längerem nur noch als blutleere Fassade aufrechterhalten, hinter der das Räderwerk des Profits ablief. Individualität kann daher nur das Zukunftsprojekt eines „Neuen Menschen“ sein, der die Bedingungen seiner industriellen Lebenswelt in großen Städten und Fabriken und die damit gesetzte Gleichheit aller bewusst akzeptiert; eines Menschen, der dadurch in die Lage versetzt wird, diese Lebenswelt für sich und mit den Gleichen kul150
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turell zu be- und zu verarbeiten. Individualität manifestiert sich dann nicht mehr, wie noch im bürgerlichen Verständnis, als auszeichnendes Verhältnis zu Gegenständen und kulturellen Objektivationen, als Verbrauch von möglichst singulären Gütern und dichten Dekorationen, sondern ist als eine kulturelle Haltung das individuelle Resultat einer kollektiven Anstrengung. Individualität ist Resultat einer bewusst erfahrenen Vergesellschaftung, die aus der Blindheit ihres naturprozesshaften Geschehens befreit werden soll. Dem aber geht geschichtlich die Einebnung künstlicher Unterschiede, die Zerstörung der aus dem Bürgertum übernommenen Individualismus-Vorstellungen voraus. Demgegenüber ist in der Erzählung der Werke die Entfesselung der künstlerischen Subjektivität bis zu nie erreichten Grenzen vorgetrieben. Gerade die Sensibilitäten für die Brüche in der Welt und die daraus resultierenden Veränderungen der künstlerischen Produktion und die verschiedenen Verarbeitungsmöglichkeiten dieser Sensibilitäten bilden die Grundlage für diesen exzessiven Subjektivismus. Die Zerstörung einer kanonischen Werkästhetik, die bei allem L’art pour l’art noch auf werkgerechte Verbindlichkeiten rekurrierte, führt zu einer unglaublichen individuellen Stilisierung. Doch: Nicht mehr das künstlerische Subjekt konstituiert das Werk. Stattdessen ist es die Fülle realisierter wie auch verworfener Gestaltungsmöglichkeiten einer von beinahe allen Regeln entbundenen Kreativität. In der sozialen Programmatik der Avantgarden wird der Künstler als schöpferisches Individuum zugunsten der schöpferischen Kräfte aller Menschen zurückgenommen, sogar als Element, als initiatives Element bestenfalls, in die Gesamtheit dieser menschlichen Kräfte zurückgebunden. Ganz im Gegensatz dazu konstituiert sich in den Werken der Avantgarden aber die künstlerische Subjektivität. Sie erweist sich im nicht unbedingt treffenden, aber stets charakteristischen Zugriff auf die Bestände und Prozesse der modernen Welt als die angemessene, d. h. ebenfalls moderne Individualitätsform.
Utopie Die Avantgarden wollen die künstlerisch-ästhetische und insbesondere die architektonisch-städtebauliche Praxis in die Bewegungsformen gesellschaftlicher Veränderungen integrieren und sie in diesem, zunächst durchaus quantitativen, aber gleichwohl vor allem aktiven Sinn in Massenkultur transformieren. Das beinhaltet zwingend die o.a. Programmatik der utopischen Antizipation eines „Neuen Lebens“, auch eines „neu-
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en“ kulturell geprägten und kulturell aktiven, schöpferischen Menschen, für den das eigene Künstler-Individuum Modell steht. Dieser Utopismus bedingt zwangsläufig ein zweites Moment der Politisierung: Im Zusammenhang mit dem Werk wird stets die Destruktion des Werkbegriffs der autonomen Kunst und der affirmativen Kultur hervorgehoben. Das ist zweifellos ein wichtiger und ein genuin politischer Aspekt. Aber die Redeweise ist unvollständig, wenn man nicht den konstruktiven Aspekt der Sache mitberücksichtigt. Und aus ihm ist zu ersehen, dass die geschlossene Werkform nicht einfach aufgelöst, sondern der Werkbegriff als prozessualer neu gefasst wird. Das ergibt sich zwangsläufig aus der Forderung nach Gleichzeitigkeit und Niveaugleichheit der gesellschaftlichen Entwicklung und der Entwicklung der Werke. Das Werk wird in jeder Beziehung offen konzipiert, oft seriell und mechanisch, ohne definite und teleologische Sinnstrukturen. Es wird experimentell hinsichtlich der künstlerischen Materien, was ebenfalls zwangsläufig die neuen massenmedialen Möglichkeiten von illustrierter Presse, Film und Rundfunk in den Blickpunkt der Künstler rückt. Und dieses zweite Moment verweist schließlich auf ein drittes, wiederum programmatisches. Die Avantgarden betrachten sich als die künstlerische Moderne, wobei die Moderne selbst ein gesellschaftliches Faktum ist. Aber sie begreifen sie als Nicht-Festgelegtheit des Modernisierungsprozesses. Auf diese Nicht-Festgelegtheit bezieht sich der Utopismus, der infolgedessen nur als Vorgriff auf nächste Etappen, nicht als fester Zielhorizont der Entwicklung angemessen zu begreifen ist. Ebenso bezieht sich darauf der prozessuale Charakter des Werkes. Die NichtFestgelegtheit resultiert daraus, dass Modernisierung ein gesellschaftlicher Prozess ist. Als solcher ist er nicht festgelegt sondern unabgeschlossen für den Fall, dass man ihn erstmal aus den Fesseln der Tradition befreit und ihn seinem eigenen unvorhersehbaren Lauf überlässt, der von der ebenfalls endogenen Technik und nicht von den Entscheidungen eines demiurgischen Subjekts gesteuert wird.
NS-Politik und Kunst Hierzu bietet sich übrigens eine scharfe Konturierung des Primats der Politik in der Konzeption der Nationalsozialisten an. Im Gegensatz zu den Avantgarden gehen sie von einer absoluten Determiniertheit oder Festlegung des Modernisierungsbegriffs aus. Zwar ist es richtig, dass die Nationalsozialisten unter dem Begriff „Volk“ ebenfalls ideologisch von der Gesellschaft ausgehen. Hitler selbst hat dies verschiedentlich betont.
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Aber es soll ja darauf ankommen, die Zufälligkeiten des gesellschaftlichen Prozesses zu beseitigen. Das ist nach nationalsozialistischer Auffassung Aufgabe des Staates und seiner Führung. Und der Staat – und nicht etwa die Wirtschaft oder gar die Gesellschaft bzw. das Volk – legt Richtung und Rhythmus des Modernisierungsprozesses fest. Beides richtet sich – jedenfalls in der nationalsozialistischen Doktrin – nach einem politisch formulierten, in seinen imperialen und strukturellen Dimensionen einschließlich der rassistischen Zurichtung heute immer klareren Zielhorizont, der für idealiter alle, auf jeden Fall auch für kulturelles und künstlerisches Handeln pragmatische Vorgabe war. Dieses Primat der Politik realisiert sich infolgedessen keineswegs, wie bei den Avantgarden, in einer immanenten Politisierung der Kunst, welche die Abstimmung der künstlerischen und gesellschaftlichen Bewegung selbst leisten musste und wollte. Deshalb kann ein Werk im Nationalsozialismus nur explizit als Propagandawerk politisch sein, wenn der Zielhorizont selbst thematisiert wird, oder wenn es, wie in der Staatsarchitektur, Repräsentation des politischen Selbstverständnisses ist.
Einschränkungen Noch eine einschränkende Bemerkung zu dem bisher Gesagten. Wenn zuvor von Gesellschaftlichkeit und Nicht-Festgelegtheit die Rede war, so ist damit die Sicht der Avantgarden mit ihrer Technikfixierung gerade in der Bestimmung der lebensweltlichen Umwälzungen ihrer Zeit gemeint. Nur in dieser Weise als gesellschaftlicher Prozess begriffen kann die Entwicklung der Moderne als offen und flexibel erscheinen und damit Künstlern die Möglichkeit eröffnen, ihr Tun mit dieser Entwicklung in Zusammenhang zu bringen. Nur ein offener Prozess ist durch menschliches Handeln zu kultivieren und damit auch auf menschliches Maß und Niveau zu bringen. Aus heutiger Beobachterperspektive erscheinen die Bedingungen natürlich ziemlich anders. Denn vergessen wir nicht: Der gesellschaftliche Prozess, mit dem wir es in den 1920er Jahren zu tun haben, ist der einer kapitalistischen Industriegesellschaft mit tendenziell fordistischem Zuschnitt. Als solcher ist er zwar nicht voll determiniert, aber auf keinen Fall offen. Er ist eingespannt in zwei Bewegungen, deren eine den oft beschworenen Rationalismus kapitalistischer Modernisierung kennzeichnet und die andere ihr Komplement: den Irrationalismus. Wobei, anders als die Technikeuphorie der Avantgarden vermuten lässt, wohl auch der Markt in ihren lebensweltlichen Wahrnehmungen eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben muss.
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Mit anderen Worten: Die Offenheit des gesellschaftlichen Prozesses und damit die scheinbare Nichtfestgelegtheit der Modernisierung wird von zwei Seiten ökonomisch eingeschränkt: Von den Investitionsentscheidungen für Kapitalgüter und von den Regularien der Marktbewegungen. Für die Avantgarden aber ergibt sich der Schein der Offenheit und der Flexibilität aus der Tatsache, dass die Folgen einer festgelegten kapitalistischen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ihren Kristallisationskernen, den urbanen Ballungsräumen, zusammentreffen mit einer teilweisen Destruktion der beiden ökonomischen Bewegungen im und durch den Ersten Weltkrieg. Diese Erfahrung einer an die Moderne geknüpften Barbarei verstärkt ganz entscheidend aufseiten der künstlerischen Avantgarden jenes sich gleichsam erneut ins Recht gesetzt sehende radikalisierte Bewusstsein einer Modernität, das alle historischen Bezügen von sich abstreift. Offenheit wird zum Paradigma für den Wechsel und das Experiment, wobei der Wille zur unausgesetzten Steigerung in der ästhetischen Bearbeitung der kulturellen Seite des Lebens eine Modernität antizipiert, die es tatsächlich in den 1920er Jahren noch nicht gab. Es hat ganz den Anschein, als seien der Avantgarde im Nachkriegsdeutschland für Erste die vormals politisch grundierten programmatischen Erzählungen abhanden gekommen. Auch schien ein etwaiges Festhalten an der Destruktion der affirmativen Kultur völlig obsolet: Waren es doch die Nationalsozialisten, die diese Zerstörung wesentlich erfolgreicher, wenn auch mit gänzlich entgegen gesetzter Zielperspektive, betrieben hatten, als die Avantgarden vor ihnen. Aus diesem Grunde drängte es sich geradezu auf, die Restaurierung der Avantgarde über die darin erneut in Anspruch genommene Kunstautonomie zu einem Ausdruck antifaschistischer Haltung zu machen. Der von den Avantgarden geforderte Zusammenhang von Emanzipation der individuellen Subjektivität und radikaler Veränderung der Gesellschaft zerbricht jetzt ein weiteres Mal. In der Folgezeit wird sich die konservative kulturelle Position immer wieder gegen Versuche wenden, ästhetische Innovationen eng mit gesellschaftlichen Veränderungen zu verbinden. Auf die widerspenstige Zähmung folgte nach kurzem Aufflackern Ende der 1960er Jahre Anfang der 1970er Jahre die Rede vom Scheitern der Avantgarde, bevor sie sich zehn Jahre später – insbesondere in der Architektur – einer ungeheuerlichen Diffamierung ausgesetzt sah.
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D E R T R AU M
EWIGER
ORDNUNG
Im Auftrag des österreichischen Staates hat Josef Hoffmann 1934 in Venedig und im damals faschistischen Italien ein Haus gebaut. Gedacht war es als der geeignete und unverwechselbare Ort nationaler Kunstschau in internationaler Umgebung. Entstanden ist in strenger Harmonie und Proportion eines der interessantesten und zugleich rätselhaftesten Gebäude auf dem Gelände der Biennale. Seine Lage abseits vom Trubel des Kunsttourismus unterstreicht den Eindruck, man betrete hier als Abschluss und Höhepunkt eines Rundgangs eine zunächst fremd anmutende, die schon ermüdete Aufmerksamkeit neu auf sich ziehende Welt.
Abb. 1: Josef Hoffmann, Biennale-Pavillon Österreich. Venedig: 1934
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Traum Hans Hollein schrieb 1984 im Biennale-Katalog, Hoffmann habe mit diesem Pavillon „Architektur in einer Absolutheit dargestellt, reduziert auf wesentliche Elemente, nahe der Zweckfreiheit“. Vor allem aber sei es ihm gelungen, „den Traum (des Österreichers) vom Süden zu verwirklichen - den offenen, von Luft und Sonne umspülten Pavillon“1. Helmut Zilk, damals noch Österreichs Bundesminister für Unterricht und Kunst, hatte im Vorwort des gleichen Katalogs zuvor an die „dramatischen Ereignisse im Februar 1934“ erinnert, in deren Zusammenhang er diesen „Traum“ stellt: „Aufgrund der engen politischen Kooperation zwischen dem faschistischen Italien und dem Ständestaat Österreich wurde dieser großartige Pavillon nach Entwürfen von Josef Hoffmann errichtet. Nach den langen Jahren kulturpolitischer Inaktivität sah die damalige Regierung darin eine gute Gelegenheit, mit dem politisch eng befreundeten Regime in Italien zusammenzuarbeiten und mit dem schon zu dieser Zeit weit über Österreich hinaus bekannten Architek2 ten dieses Bauwerk zu errichten“ .
Damit stehen wir vor dem Problem zu begreifen, wie es möglich sein konnte, in einem sowohl für Österreich als auch ganz Europa politisch brisanten Augenblick der sich anbahnenden Katastrophe ein Traumgebilde zum Inhalt nationaler Identität werden zu lassen? Haben wir es hier wirklich nur zu tun mit dem überwältigenden Klischee des sehnsuchtsvoll verklärten Blicks aus den Kälteströmen der nordeuropäischen Zivilisation hinein ins Wärmefeld eines Italiens, das doch immerhin bereits zwölf Jahre von Faschisten regiert wurde? Und können wir bei einem offiziellen und öffentlich diskutierten Projekt überhaupt davon ausgehen, dass man an diesem künstlichen Ort die Gewalt der politischen Realitäten in einem Traum- und Wunschbild so ganz vergessen wollte? Oder verbirgt sich hinter dieser absoluten Architektur in Wahrheit nicht doch noch eine andere Antwort auf die damaligen Verhältnisse? Ich denke ja.
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Josef Hoffmann. 50 Jahre österreichischer Pavillon, - Biennale Venedig. Salzburg: 1984, S. 18. Ebd., S. 8.
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DER TRAUM EWIGER ORDNUNG
Villa Rudolf Borchardt, Mentor Hugo von Hofmannsthals und Freund Stefan Georges, schreibt in seinem 1907 verfassten kulturkonservativen Essay über die italienische Villa, dass sie den „uralten italienischen Traum vom Lande“3 verkörpere. Sie setze „geschichtlich wie absolut genommen, in der Sache und in ihrer Empfindung, […] den Herrn und immer wieder den Herrn voraus“. Deshalb sei die Villa italienischen Ursprungs ein Ort „archaisch strenger Verfassung“4. Vieles spricht dafür, dass sich Hoffmann bei seinem Entwurf für den Pavillon an der Villa sowohl als Bautypus als auch Träger jener von Borchardt gesehenen Bedeutung orientiert hat. Damit ließe sich die zunächst seltsam anmutende Verknüpfung eines offenen und von Licht umspielten Pavillons mit jener monumental gesteigerten Absolutheit in der Form erklären: Der Traum vom Süden ist so heiter und sorgenlos nicht, denn er ist durchzogen von der Sehnsucht nach Ordnung. Der Pavillon ist auf eine Mittelachse ausgerichtet, die geradewegs auf das hohe, priesterlich-weihevolle Portal aus Travertin zuführt, das an seinen Seiten von zwei horizontalen Baukörpern flankiert wird. Das erinnert an Villenbauten, die kein geringerer als Andrea Palladio in gar nicht weiter Entfernung für den venezianischen Adel im 16. Jahrhundert entworfen hatte. Wie bei der Villa Barbaro (Maser, 1557-8, Abb.2) oder der Villa Emo (Fanzolo, 1564) ein Portikus bzw. zentraler Pavillon die
Abb. 2: Andrea Palladio, Villa Barbaro Maser. Asolo 1557-8.
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Borchardt, Rudolf: Villa (1907), in: Ders.: Italienische Städte und Landschaften, Stuttgart: 1986, S.14- 48, hier S. 28. Ebd., S. 36. 157
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Mitte der Anlage beherrscht, so hier die schlichte Monumentalität des Portals die Seitenflügel. Palladio löste die tektonische Masse der horizontalen Baukörper durch Arkadenreihen auf. Hoffmann erreicht das in wesentlich reduzierter Form, in dem er an den Wänden das von ihm häufig verwendete Motiv der Kanneluren zu einer Flächengliederung aus Licht und Schatten steigert. Das Portal hätte ursprünglich eine Bronzeskulptur von Franz Santifallers überhöhen sollen. Mit der gleichfalls nicht ausgeführten Idee, das Portal mit figuralen Reliefs zu schmücken, hätte sich die Nähe zum säulengetragenen Portikus mit Figurenschmuck im Giebelfeld palladianischer Villen nur verstärkt. Das gilt auch für die von Hoffmann vorgesehene Aufstellung der übrigen Skulpturen vor dem Pavillon. Hier sind es die zur Akzentuierung des leicht getreppten Aufgangs zum Portal aufgestellten Figuren, die wir in gleicher Funktion von der Villa Maser, mehr noch von der Villa Rotonda her kennen. Die drei Arkaden einer Loggia, die Palladio insbesondere bei früheren Villen, wie z. B. der Villa Godi (Lonedo, 1538-42), als Eingangsmotiv und als Rahmung des Blicks von der Villa wieder hinaus in die Landschaft benutzt hatte, übernimmt Hoffmann als eine gegenüber dem Portal weniger monumentale, gleichwohl eindrucksvolle Einführung in die beiden großen Seiten- und Bilderräume. Man könnte sie lesen als die ursprünglich große Sala der Villa, die Hoffmann teilt und aus der Mittelachse heraus nach vorne schwenkend zu horizontalen Seitenflügel macht. Von ihnen gelangt man in zwei kleinere, gleichfalls achsensymmetrisch aufeinander bezogene Ausstellungsräume. Mit dem rückwärtigen Portal in der Mittelachse umschließen sie an drei Seiten einen Hof, zu dem sie sich an ihrer ganzen Seite wie ein einziges Fenster öffnen. Vom Hof aus geht der Blick durch das hohe Portal wieder zurück zu dem mit Bogenstellungen begleiteten Eingangsbereich hinaus auf den Rasenvorplatz – ein Durchblick, vergleichbar dem in der Mittelachse der Villa Emo. Josef Hoffmann hat auf diese Weise im Ausstellungspavillon mit seiner axial betonten Regelmäßigkeit und den in strenger Harmonie aufeinander abgestimmten Raumfolgen ein ähnlich rationales Grundrissschema entwickelt wie vormals Palladio mit seinen Villen. Somit hätte der Traum vom Süden im Typus der Villa, wie ihn im 16. Jahrhundert Palladio so unverwechselbar entwickelt hatte, einen über jeden Zweifel erhabenen Paten gefunden. Hoffmanns Ausstellungspavillon liegt auf dem Gelände der Biennale an einem Kanal, dem Canale dei Giardini, und ist dadurch über das Wasser der Lagune, die Flüsse und die unzähligen kleinen Kanäle mit den vielen Villen auf der Terraferma, dem Hinterland Venedigs, verbunden. Hoffmann gelangt so zu 158
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einer nicht nur in der bautypologischen Transformation des Villenmotivs eindrucksvollen sondern auch durch die Besonderheit des Ortes sich geradezu aufdrängenden Erinnerung und Annäherung an das große historische Vorbild. Der Traum vom Süden kommt nicht ohne die historische Projektion aus. Dadurch wird er aber konkret. Denn in ihm ist jetzt ein Verweis enthalten, der über das rein Ästhetische der Form des Pavillons das eigentlich Politische und Soziale an ihr meint: Es ist das der Villa zugrunde liegende Modell einer unverrückbaren Gesellschaftsordnung.
Ordnung Palladios Villen auf der Terraferma waren, bis auf eine Ausnahme, der jeweilige Mittelpunkt eines landwirtschaftlichen Betriebs. Die Herren dieser Villen sind Angehörige venezianischer Adelsfamilien, die ihr städtisches Kapital aufgrund drastischer Rückgänge im Außenhandelsgeschäft seit Beginn des 16. Jahrhunderts verstärkt hier auf dem Land investierten. Begleitet wurde diese zunächst aus ökonomischen Gründen ausgelöste Umorientierung von einer reichen Villenliteratur, in der nun all die Vorzüge des ländlichen Lebens gegenüber der städtischen Daseinsform beschrieben und idealisiert werden. Die neuen Herren begreifen sehr bald ihre Aufgabe der Kultivierung der Terraferma als Gottesdienst, die Landwirtschaft nobilitieren sie zur Santa Agricoltura.5 Die große Leistung Palladios besteht darin, dass der strenge Regelgeist seiner Villenarchitektur, seine Fixierung auf den Begriff der klassischen Ordo, der neuen Sozialordnung auf dem Lande eine ästhetische Rationalisierung verschafft. Die ideale Geometrie seiner Villengrundrisse und die mathematischen Proportionen, also die sich damals aus der zeitgenössischen Musiktheorie und der pythagoreischen Weltsicht herleitenden „Rationes“, denen Palladio die Raumabmessungen, die Höhenmaße und die Raumgruppierungen seiner Bauten unterwarf, garantieren die Teilhabe der Architektur an einer göttlichen Ordnungsvorstellung, die die Villa als soziales, ethisches, ökonomisches und künstlerisches Phänomen umgreift. Die Villa wird bei Palladio zu einem kosmologischen Zentrum, das den umliegenden Landbesitz, das Podere, autokratisch ordnet und beherrscht. 5
Siehe dazu Bentmann, Reinhard/Müller, Michael: Die Villa als Herrschaftsarchitektur, Frankfurt/M.:1970, 6. erweiterte Aufl. Hamburg: 1992. Sowie Ackerman, James: The Villa. Form and Ideology of Country Houses (Princeton University Press), New Jersey: 1990; Muraro, Michelangelo: Civiltà delle Ville Venete, Udine: 1986. 159
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Das Ordnungs- und Sozialmodell der Villa steht in krassem Gegensatz zur städtischen Lebensform. Gerade deshalb gilt ihm die ganze Sympathie der konservativen Feindseligkeit eines Rudolf Borchardt gegenüber den Modernisierungen seiner Zeit, wenn er von der „geheime(n) Wechselbeziehung von unausgesprochenen Verpflichtungen, Gebundensein und Binden“6 spricht. Sie erzeugten in der Villa „bei allem festgehaltenen Anschein eines aristokratischen Regimes in Wahrheit ein so demokratisches Gemeinwesen […], wie nur je ein Comune des Trecento gewesen ist“7. Aber da ist noch etwas anderes, was Borchardt in seiner konservativen Pose an der italienischen Villa so nachhaltig beeindruckt hatte: Es ist die Besonderheit ihres ästhetischen Ausdrucks. Und hier argumentiert Borchardt interessanterweise gegen die bürgerlich idealistische Auffassung von einer autonomen Ästhetik, gegen jenen von ihm so sehr verachteten bildungsbürgerlichen Italienreisenden, der an den vielfältigen Erscheinungen der Kultur immer nur das Schöne sucht und daher nichts begreift. Diesem modernen, selbstverständlich mit dem Zug reisenden Ästheten musste es weh getan haben, von Borchardt zu hören, dass die Villa „als altlateinische Lebensform durch und durch real und praktisch (ist), etwas mit Geld und Macht Zusammenhängendes, aus Geld und Macht Entstandenes, zäh festgehalten, um Macht und Geld zu steigern, zu bezeugen, zu verzinsen, zu vererben“8. Das Bemerkenswerte daran ist, dass Borchardt, indem er ein längst der Vergangenheit angehörendes Modell favorisiert, zugleich das liberale, bürgerlich subjektivistische Projekt zweckfreier Ästhetik kritisiert. Die Villa sei „geschichtlich mit ihrer Landschaft eins, und darum, nur darum, auch ästhetisch“9. Während also der liberale Tourist die Museen aufsucht, um dort Kunstwerke individueller Schöpfung bloß ihrer Schönheit willen zu bewundern, besteht Borchardt auf der Überlegenheit der Villa, weil sie die Merkmale der materialen Funktion (ihre Bedeutung für die Landwirtschaft) und der rigorosen Form (sie bemüht sich nicht, „schön“ zu sein: sie ist es) in sich vereint. Es ist insbesondere dieser zweite Aspekt, jener formale Imperativ der Villa, der Borchardt faszinierte. Ihre Gestalt ist in seinen Augen eine gesetzte Norm, die er mit Hierarchie und Ordnung zu Recht assoziiert. Es sind für ihn Maßstäbe, die im liberalen Chaos des deutschen Nordens verloren gegangen sind. Die Villa ist der Ort, wo sich Landwirtschaft
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Borchardt, Villa, S. 37. Ebd. Ebd., S. 23. Ebd., S. 24.
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(Ökonomie) und Herrschaftsarchitektur (Form) verbinden. Sie ist der Sieg der Form über das Chaos, der Herrschaft über die Natur. Die Villa beeindruckt nicht, wie der Tourist sich einbildet, wegen der in sie gelegten ästhetischen Absichten, sondern wegen ihrer organischen Verbindung mit der Landschaft und der in ihrer Form zum Ausdruck kommenden unverrückbaren Macht und Herrschaft. Borchardt hat damit gleich in zweifacher Hinsicht mit der Tradition der bourgeoisen Kultur des 19. Jahrhunderts gebrochen: Er wendet sich vom Modell der Kunstautonomie ab, um es durch eine Ästhetisierung gesellschaftlicher Verhältnisse zu ersetzen. Und er weist das liberale Modell des Fortschritts im Namen eines in die Vergangenheit projizierten Bildes gleichbleibender Stabilität und Ordnung zurück. Er hat damit seine Leser von der Qualität einer nicht-autonomen Kunst als dem praktischen Ausdruck von Macht überzeugen wollen.10 Hoffmanns Entwurf für einen Ausstellungspavillon Österreichs in Venedig war eine vergleichbare kulturkonservative Reaktion und Antwort auf damalige politische und gesellschaftliche Zustände. Nur mit dem Unterschied zu Rudolf Borchardt, dass sich Hoffmann jetzt im Jahre 1934 in die Koordinaten politischer Verhältnisse eingebunden sah, deren faschistische und nationalsozialistische Ästhetisierung die Kunst instrumentalisierte, und die dem vermeintlich „liberalen Chaos“ in Italien und Deutschland (und wohl auch in Österreich) bereits ein Ende bereitet hatten. Hoffmann hat mit seinem Pavillon zeigen wollen, dass es auch ihm auf eine sich selbst genügende Schönheit ankam, sondern um die Behauptung der Notwendigkeit der Form, die – in Anspielung an die italienische Villa – verwurzelt ist mit dem Boden und der Tradition. Er entfernt sich damit in seinem, so Hollein, „letzten Architekturwerk internationalen Formats“11 von jener subjektivistischen Kunst und Kultur, deren Träger und Produzent er ja selber lange genug war. Seine Antwort der Kunst auf die Zeit ist diesmal nicht die Ästhetisierung im Sinne des L’art pour l’art, sondern gerichtet auf die Ästhetisierung einer sozialen Ordnung. Die monumentale Geste der Form des Pavillons setzt sich autoritär und rigoros über das Individuelle hinweg. Mit der italienischen Villa greift Hoffmann auf ein Kultur- und Gesellschaftsprojekt zurück, das er aktualisiert und in deutlicher Absicht an die Gegenwart heranführen möchte. Als „typologischer Eklektiker“, wie ihn Sekler einmal bezeichnet hat, und so ohne das philologisch getreue
10 Siehe auch Berman, Russel, A.: Modern Culture and Critical Theory, London: 1989, S. 27-41. 11 Josef Hoffmann. 50 Jahre österreichischer Pavillon, S. 18. 161
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Zitat der favorisierten historischen Form auskommend, waren Hoffmann in der Vergangenheit bereits eindrucksvolle ästhetische Transformationen gelungen. Im Falle des Pavillons versuchte er jetzt eine Heranführung des Vorbilds an den autoritären Sprachgestus der Architektur des Gastgeberlandes: des faschistischen Italiens. Hoffmann fügt sich hier selbstbewusst und mit Sympathie ein. Er favorisiert und assoziiert dabei den streng hierarchisch argumentierenden Typus der italienischen Moderne, wie ihn etwa Piacentini – wenngleich in den Dimensionen wahrhaft monumentalisiert – zur gleichen Zeit mit seinem Verwaltungsgebäude der Universität in Rom (1932-35) vorführt Dieser Pavillon besitzt aber auch etwas von jener metaphysischen Stimmung, die für einige der „Città Nuove“ so charakteristisch ist. Wie Latina, Littoria und vor allem Sabaudia sind es von Mussolini zwischen 1928 und 1940 gegründete neue Städte in urbar gemachter Landschaft, den ehemals Pontinischen Sümpfen.12 Allerdings bleibt sich Hoffmann insoweit treu, als sein Angebot die elitäre Herkunft nicht verleugnen kann. Bei aller Monumentalität im Ausdruck und seiner schon fast sakralen Würde bleibt der Pavillon das Haus eines Privatmannes. Oder in den Worten Rudolf Borchardts: Ein um das Bild des Herrn zentrierter Ort „archaisch strenger Verfassung“. In seinem Traum ewiger Ordnung hat Hoffmann in großbürgerlicher Absicht dem Vorbild der Villa die Treue gehalten. Doch trägt seine Interpretation deutlich Züge der leeren Pose. Sie verweist auf einen im Grunde unbehausten Ort. 1938 schließen die Nationalsozialisten den Pavillon und stellen auch weiterhin im eigenen Repräsentationsbau aus. Hoffmanns Angebot war den Machthabern nicht zeitgemäß: Zu wenig zwingend und unterwerfend in seiner Monumentalität und viel zu wenig völkisch-populär in seiner großbürgerlichen Erzählung, in der der Eigensinn der Kultur einer Elite nicht aufgegeben ist.
Identität Schließlich die Frage nach der nationalen Identität dieses Ortes: Nach dem bisher Gesagten müsste man sie wohl verneinen. Josef Hoffmann ist zu ihrer architektonischen Festlegung nicht bereit, auch nicht fähig. Worauf, so darf man allerdings auch fragen, hätte er sich konkret einlassen sollen? Helmut Zilk, der für die Zeit zwischen 1918 und 1934 von
12 Ghirardo, Diane: Building New Communities. New Deal America and Fascist Italy, Princeton, New Jersey: 1989. 162
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„großen Problemen der Identitätsfindung einer österreichischen Nation“ sprach, erinnerte 1984 im Biennale-Katalog daran, dass es in Österreich doch immerhin eine sozialdemokratische Arbeiterkultur von nachweisbarer internationaler Bedeutung gegeben hatte.13 Davon konnte jetzt für die offizielle Identitätsfindung natürlich nicht mehr die Rede sein. So gerät die Identität, die Hoffmann anzubieten bemüht war, zu einer letztlich doch privaten Erzählung, der er durch Monumentalisierung und Wiehe allerdings Züge des Unpersönlichen und Grundsätzlichen verleiht. Darin kommt auch seine Absicht zum Ausdruck, das in die Vergangenheit gelegte Ordnungsmotiv modern und also zeitgemäß zu interpretieren. Doch bleibt das Angebot zu exklusiv, um Allgemeinerungen zuzulassen. Diesen Eindruck unterstreicht die „Höhe“ des Ortes, über den man sich als Leitmotiv jenen zynisch-herablassend gemeinten, von der Wahrheit allerdings auch so weit nicht entfernten Satz Borchardts gut vorstellen kann, den er an den Anfang seines Essays „Villa“ setzte: „Das Italien unserer Ahnen ist, wie man weiß, seit die Eisenbahnen es für den Verkehr erschlossen haben, eines der unbekanntesten Länder Europas geworden“14. Hoffmanns Pavillon-Villa ist eine nur zu trefflich geratene Manifestation dieses in konservativen Kreisen damals verbreiteten Ressentiments gegenüber den Errungenschaften des modernisierten Kulturbetriebs in Gestalt des Kulturtourismus. So wäre Österreichs Architekturbeitrag zur Biennale auch kein rechter Ort dieser massenkulturellen Veranstaltung des modernen Kulturwettbewerbs. Aber gerade das macht den im Grunde ja selber flüchtigen Pavillon - bedenkt man einmal seine Produktionszeit und die Kosten – heute so annehmbar: Ohnehin schon abseits vom hiesigen Betrieb gelegen und ganz auf sich selbst und die Überzeugungskraft seiner absolut gesetzten Form angewiesen, ist es die Verweigerung gegenüber dem Flüchtigen, dem Raschen und ästhetisch oberflächlichen Reiz – Borchardt hätte noch das Wort vom ‚Halbgebildeten‘ hinzugefügt –, die diesen ursprünglich so identitätslosen Ort jetzt so unverwechselbar macht. Heute kommt uns womöglich in souveräner, ja kontemplativ abgeklärter Ruhe daher, was in seiner Zeit nicht nur chancenlos war, sondern in seiner ideologischen Stoßrichtung auch unverkennbar Züge des gesellschaftlich Regressiven und Elitären trug. Auch verrät uns dieser Ort heute nicht mehr, dass sich die Kraft der überzeugenden Rede des Ästhetischen einer durch sie beschworenen autoritären Rede der Ordnung verdankt. Die Grenzen zwischen ästhetischem und gesellschaftlichem 13 Josef Hoffmann. 50 Jahre österreichischer Pavillon, S. 8. 14 Borchardt, Villa, S. 14. 163
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Modell haben sich in Hoffmanns Konzept eines Biennale-Pavillons aufgelöst. Im Faschismus aber sind solche Grenzverwischungen mit dem Ziel der Ästhetisierung nur unter dem Primat des Politischen möglich. Josef Hoffmann hat sich mit seiner für die Biennale in Venedig entworfenen Pavillon-Villa für einen Augenblick diesem Primat und der von ihm in Aussicht gestellten bzw. bereits praktizierten Ordnung genähert. Aber wir wissen, dass es umsonst war.
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KRITIK
VON
LINKS
Das Bauhaus: ein politisches Kulturmodell Es überrascht nicht, dass ein Projekt, wie das Bauhaus, das die Veränderung der Gesellschaft als mehr oder weniger radikalen Bruch mit den kulturellen und ästhetischen Wertvorstellungen des konservativen deutschen Bildungsbürgertums betreibt, nicht nur von dessen Repräsentanten zurückgewiesen wird, sondern gerade bei den Intellektuellen, die in der Einschätzung der Verhältnisse nicht weniger kritisch dachten und agierten, nicht nur Begeisterung sondern auch Kritik hervorrief. Zweifel vor allem in Bezug auf die tatsächliche Bereitschaft, aber auch die objektiven Möglichkeiten des Bauhauses, die antagonistische Klassengesellschaft auf formästhetischem Wege nicht nur zu modernisieren sondern auch entschieden an deren Überwindung mitzuarbeiten. Die Parole „Architektur oder Revolution“, wie wir sie von Le Corbusier kennen, bestärkte jene, denen das Formexperiment bald zum Formalismus erstarrte: Bauhausstil und gefährlicher Formalismus bei Ernst Kallai1, Flachdach-Schick bei Adolf Behne2, und die davon überzeugt waren, dass eine technisch basierte Rationalisierung des Alltagslebens der Anpassung an die Imperative einer den Menschen verfügenden kapitalistischen Gesellschaft nur zuarbeiten kann. In der Beurteilung der in der ästhetisch gestalterischen Praxis gelagerten Möglichkeiten des praktischen Eingreifens in verhärtete Zustände weichen die Meinungen vielfach voneinander ab. Ungeklärt und deshalb
1 2
Kallai, Ernst: Zehn Jahre Bauhaus, in: Die Weltbühne, 26. Jg., 1930, Nr. 4, S. 135-140. Behne, Adolf: Dammerstock, in: Die Form, 1930, S. 163-166, hier S. 166; zitiert nach Mohr, Christoph/Müller, Michael: Funktionalität und Moderne. Das Neue Frankfurt und seine Bauten 1925-1933, Köln: 1984, S. 327330. 165
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nicht wenig umstritten war, wie weit man die Politisierung der Gestaltung überhaupt vorantreiben konnte, aber auch mit Rücksicht auf ihren ästhetischen Eigensinn sollte. Wobei gerade dieser Diskurs das Bauhaus selbst als Auseinandersetzung unter seinen Mitgliedern, Studenten wie Lehrer und Meister, seit seinem Bestehen ständig begleitet hat.
Abb. 1: Bauhäusler mit Walter Gropius in ihrer Mitte. Für die Auffassung von Gestaltung lässt sich für die politisch ausgerichtete Avantgarde der Weimarer Republik verallgemeinernd sagen, dass sie ihre künstlerische Arbeit zunehmend als Arbeit an den sozialen Verhältnissen verstand. So trägt die im Bauhaus virulente Kultur auch aufgrund ihres Internationalismus deutlich Züge einer die Klassen übergreifenden und der Tendenz nach marktförmigen Kultur. Man löst sich von einer Ästhetik des Besonderen, um sie in ein Medium der Verallgemeinerung von Lebens-, Gebrauchs- und Wohnstandards zu transformieren. Deshalb sprechen die Ergebnisse des Bauhauses selbst in ihrer exklusivsten Gestalt noch die Sprache einer industriell gefertigten, typisierten und standardisierten Kultur als Massenkultur. Für die Transformation des ästhetischen Kerns bürgerlicher Hochkultur (i.e. die Verbesserung, aber auch Verschönerung des Lebens) in Massenkultur gab es in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zwei dominante Ansätze3, wobei das Bauhaus für den ersten der beiden einsteht. 3
Neben dem der Avantgarden handelt es sich um das von den Nationalsozialisten getragene faschistische Kulturprojekt. Es teilt die avantgardistische Kritik an Elitismus und Solipsismus der bürgerlichen Kultur, wobei es den Politisierungsgedanken durch ein reales, nach der Machtergreifung auch herrschaftsapparatives Primat der Politik substituiert. Siehe dazu
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1. Das avantgardistische Vorhaben sah programmatisch die Politisierung der Kunst und umgekehrt eine Kulturalisierung des Alltagslebens vor. Die für diesen wechselseitigen Zusammenhang stehende Parole, Kunst und Leben zu verbinden, signalisiert also einerseits eine Ästhetikkonzeption, die diese stark erkenntnistheoretisch, und in einigen Avantgarden explizit rationalistisch, auflädt. Andererseits wird Kultur nicht mehr als generativer Züchtungsvorgang des entfalteten Individuums, mithin als etwas Besonderes, etwas Hohes verstanden sonder als ästhetisch vermittelter, in einem außerinstitutionellen Sinne politischer Reflexionszusammenhang des Lebens. Das ist gewissermaßen ein transbürgerlicher Realisierungsversuch des bürgerlichen kulturellen Egalitätsversprechens, das die bürgerliche Gesellschaft jedoch aus strukturellen Gründen nie einhalten konnte. Dieses Projekt hat einerseits eine enorme Kunstproduktion hervorgebracht, das, was man heute – paradoxerweise – Klassische Moderne nennt. Andererseits bleibt seine Programmatik weitgehend folgenlos. Sie war auch konzeptionell insoweit (noch) unmöglich, weil sie auf Entdifferenzierung gesellschaftlicher Bereiche abzielte, deren Ausdifferenzierung zu autonomen Funktionssystemen gerade die zentrale Errungenschaft der Moderne war. 2. Das faschistische Kulturprojekt, das die avantgardistische Kritik an Elitismus und Solipsismus der bürgerlichen Kultur teilt, substituiert den Politisierungsgedanken durch ein reales, nach der Machtergreifung auch herrschaftsapparatives Primat der Politik. Kultur wird vollständig in staatliche Direktive genommen und von staatlichen Lizenznehmern – in den Mitgliederlisten der Einzelkammern der Reichskulturkammer – produziert, distribuiert und verwaltet. Es ist hinlänglich bekannt, dass ein solches politisches Kulturmodell in mehreren europäischen Ländern starke Tendenzen besaß. Vollständig durchgesetzt wurde es nur in Italien und Deutschland, wenn dort auch in jeweils unterschiedlichen Modi. In diesem Modell findet vornehmlich in Deutschland die massenkulturelle Transformation der bürgerlichen Hochkultur statt. Die Nationalsozialisten bedienen sich vor allem des ästhetischen Zentrums der Hohen Kunst und verallgemeinern es. Ästhetik verliert damit ihre erkenntniskritische Funktion und ihre außeralltägliche Formbesonderung und wird Verschönerung. Man kann auch sagen: Mimesis wird zur Mimikry.
auch ausführlich Dröge, Franz/Müller, Michael: Die Macht der Schönheit. Avantgarde und Faschismus oder die Geburt der Massenkultur, Hamburg: 1995. 167
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Die Verallgemeinerung des Ästhetischen wird vor allem durch speziell produzierte unmittelbare und durch technische Formen der Mediatisierung getragen. Mit dieser Spezifizierung des Ästhetischen und seiner Mediatisierung „gelingt“ den Nationalsozialisten eine massenkulturelle Modernisierung, die in der nachfaschistischen Ära anschlussfähig und, jetzt unter anderen Bedingungen, bruchlos weiter entwickelt wird. Mit dem Untergang seiner Herrschaftsträger ist dieses machtgestützte politische Kulturmodell vollständig kompromittiert. Ein politisches Kulturmodell, d. h. die Steuerung des gesellschaftlichen Kulturprozesses in staatlicher Regie, ist – zumindest in Westeuropa – undenkbar geworden. Andererseits scheitert das Modell nicht an den Widersprüchen, die Entdifferenzierung in funktional differenzierten Gesellschaften angeblich darstellen. Sondern es scheitert zusammen mit dem totalitären Herrschaftssystem, das ihm gerade in seinem politischen Primat Legitimität verlieh und das seinerseits durch die Effektivität der massenkulturellen Transformation Legitimität gewann.
Kritik Auch eine Kritik von Links hat sich von dieser Aporie der künstlerischen Avantgarden da, wo sie das Verhältnis von Kunst und Leben neu zu bestimmen suchen, nicht frei machen können. Diese Kritik reicht von solidarisch kritischer Haltung Gleichgesinnter, wie Adolf Behne oder Ernst Kallai, über eine ambivalente Ablehnung bei Adolf Loos und Josef Frank, hin zu dezidiert gesellschafts- und erkenntniskritisch grundierten Einwänden gegen das Bauhaus der kritischen Intelligenz, von der sich vor allem Ernst Bloch, Theodor W. Adorno, Siegfried Kracauer und Bertolt Brecht zur Sachlichkeit in der Architektur und damit auch zum Bauhaus geäußert haben. Eine Ausnahme bildet Walter Benjamin. In solchen Essays, wie „Erfahrung und Armut“4 oder „Der destruktive Charakter“5, betont er die antizipatorische Seite der neuen Architektur, die in seinen Überlegungen zu einer materialistischen Kunst- und Kulturtheorie einen wichtigen Platz einnimmt.6 Für Bloch, Brecht und Adorno spielt eine Rolle, wie sich das rationale Kalkül technisch befreiten Wohnens den Bedürfnissen des Subjekts
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Benjamin, Walter: Erfahrung und Armut, in: Ders.: Illuminationen, Frankfurt/M.: 1961, S.313-318. Benjamin, Walter: Der destruktive Charakter, in: Ders.: Illuminationen, Frankfurt/M.: 1961, S.310-312. Siehe dazu den Beitrag in diesem Buch: „Walter Benjamin: Architektur für das Schlechte Neue“.
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öffnet und wie es sich darin in seinem Gegenüber, dem Kollektiv/der Masse, behaupten kann. Wobei insbesondere bei Adorno die an das neusachliche Wohnen geknüpften Erwartungen sehr stark vor dem Hintergrund der Nazibarbarei in Minima Moralia und der Dialektik der Aufklärung entzaubert und entschieden zurückgewiesen werden. Gemeinsam ist allen Kritikern, auch den Architekturkollegen, die Skepsis gegenüber einer Tendenz des Bauhauses da, wo Modernisierung rationalistisch um ihrer selbst Willen vorangetrieben wird. Unbestritten in ihrer Berechtigung aber ist ihnen allen die auch von ihnen geteilte Absage des Bauhauses an die „infamen Stilkopien“ (Bloch) des bürgerlichen Kunst- und Kulturverständnisses und des daran geknüpften Gesellschaftsmodells eines bürgerlichen „Scheinindividualismus“7.
Ab s t r a k t i o n u n d E r f a h r u n g Adorno notierte 1944 „angesichts des Unsäglichen, das kollektiv geschah“, dass die „traditionellen Wohnungen, in denen wir groß geworden sind“, etwas Unerträgliches angenommen“ haben: „jeder Zug des Behagens darin ist mir Verrat an der Erkenntnis, jede Spur der Geborgenheit mit der muffigen Interessengemeinschaft der Familie bezahlt“8. Und „wer sich in echte, aber zusammengekaufte Stilwohnungen flüchtet, balsamiert sich bei lebendigem Leibe ein“9. Von den Wohnungen der Neuen Sachlichkeit, „die Tabula rasa gemacht haben“, heißt es nicht weniger bitter, sie seien „von Sachverständigen für Banausen angefertigte Etuis, oder Fabrikstätten, die sich in die Konsumsphäre verirrt haben, ohne alle Beziehung zum Bewohner“10. Der Sehnsucht nach Unabhängigkeit schlügen sie ins Gesicht. Und schon verwische sich der Unterschied von Wiener Werkstätte und Bauhaus, weil „die Kurven der reinen Zweckform gegen ihre Funktion sich verselbstständigt [haben] und ebenso ins Ornament über[gehen] wie die kubistischen Grundgestalten“11. Wie sehr gerade für Adorno dieser architektonische Rationalismus für die Niederlage des Subjekts im hoffnungslosen Widerstand gegen das alles mit Gleichheit schlagende Allgemeine einsteht, mag man daran ablesen, dass er in der mit Max Horkheimer verfassten Dialektik der
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Kramer, Ferdinand: Individuelle oder typisierte Möbel?, (1928), zit. nach Mohr/Müller: Funktionalität und Moderne, S. 118. 8 Adorno, Theodor, W.: Minima Moralia (1951), Frankfurt/M.: 1969, S. 11. 9 Ebd., S. 40. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 41. 169
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Aufklärung gleich an den Anfang des Kulturindustriekapitels Aussagen über die Entwicklung in Architektur und Städtebau setzt. Da ist die Rede von den „neuen Bungalows am Stadtrand“, die schon „wie die unsoliden Konstruktionen auf internationalen Messen das Lob technischen Fortschritts“ verkünden. Nach Gebrauch seien sie „wie Konservenbüchsen“ wegzuwerfen. Von den städtebaulichen Projekten der 1920er Jahre (Dessauer Törten, die Planungen des Neuen Frankfurts) heißt es weiter, dass sie in „hygienischen Kleinwohnungen das Individuum als gleichsam selbstständiges perpetuieren sollen“ und es dabei „seinem Widerpart, der totalen Kapitalmacht, nur um so gründlicher“ unterwerfen. Hier ist es die so
Abb. 2: Nachbau (Aufriss und Grundriss, 1927) einer Frankfurter Wohnung mit eingestellten Möbeln von Ferdinand Kramer anlässlich einer Ausstellung im Focke-Museum, Bremen. augenfällig zu besichtigende „Einheit von Makrokosmos und Mikrokosmos“, die den Menschen das Modell ihrer Kultur demonstriert: die für Adorno zutiefst „falsche Identität von Allgemeinem und Besonderem“12. Gemeint ist die Identität von Subjekt und Kollektiv, von privatem und öffentlichem Raum, die sich einer rationalistischen Planungslogik verdankt. Dabei verkümmert dieser „neue Menschentypus“, weil er von Dingen umgeben ist, die „unterm Gesetz ihrer reinen Zweckmäßigkeit eine Form annehmen, die den Umgang mit ihnen auf bloße Handhabung beschränkt“. Von einer Wohnumwelt, ausgestattet mit dem Charme ei12 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor, W.: Dialektik der Aufklärung, Amsterdam: 1955, S. 144. 170
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ner wegzuwerfenden Konservenbüchse, wird man schwerlich einen Überschuss erhoffen können, „sei’s an Freiheit des Verhaltens, sei’s an Selbstständigkeit des Dinges zu dulden“, ein Überschuss, „der als Erfahrungskern überlebt, weil er nicht verzehrt wird vom Augenblick der Aktion“13. Es ist diese Erfahrung, die auf der Strecke bleibt, auch eine Erfahrung, die wir als Lust im Gebrauch der Dinge empfinden.
Abb. 3: Plattenbauweise in Frankfurt/M.-Praunheim, 1927
Au t o n o m i e o d e r F u n k t i o n Gut zwanzig Jahre später, im Herbst 1965, hielt Adorno auf einer Tagung des Deutschen Werkbundes in Berlin einen Vortrag, wobei er zu Beginn seiner Ausführungen seine Nähe zur Idee der „sachlichen Zuständigkeit, im Gegensatz zu losgelassener, materialfremder Ästhetik“ betont.14 Vom eigenen Metier her, der Musik, sei ihm diese Forderung selbstverständlich, „dank einer Schule [die Arnold Schönbergs – M.M.], die sowohl zu Adolf Loos wie zum Bauhaus in nahen personellen Beziehungen stand und sich den Bestrebungen der Sachlichkeit geistig in vielem verwandt wusste“. Wohl deshalb steht jetzt ungleich differenzierter aber nicht weniger kritisch erneut der Gedanke an eine menschwürdige Architektur im Vordergrund. Wobei Adorno das Verhältnis der Architektur zum Menschen als ein widersprüchliches denkt, in dem das Recht des Menschen auf Architektur und das der Architektur auf Auto-
13 Adorno: Minima Moralia, S. 42. 14 Ebd., S. 104. 171
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nomie nicht in Übereinstimmung gebracht werden können.15 Dabei berührt Adorno auch die Frage, wieweit Gestaltung eigentlich gehen darf in ihrem Bemühen, Menschen von der Richtigkeit der in der künstlerischen Form aufbewahrten Wahrheit zu überzeugen, will sagen: zu erziehen. Zunächst lässt er keinen Zweifel daran, dass wahr ist an der „neusachlichen Askese, dass unmittelbare subjektive Expression der Architektur inadäquat wäre“. Vielmehr werde die Stelle des subjektiven Ausdrucks in der Architektur von der Funktion fürs Subjekt besetzt. Doch diese ist keine für einen allgemeinen, durch seine Physis ein für allemal bestimmten Menschen. Und hier beginnt das Problem der Sachlichkeit! Zunächst einmal: Architektur ist als zweckgebundene nicht nur autonom, weshalb sie „die Menschen, wie sie sind, nicht einfach negieren [kann], obwohl sie das, als autonome, ebenfalls muss“16. Von dieser Antinomie wird Architektur alleine sich nicht befreien können. Denn sie darf sich nicht im Interesse eines wahren, objektiven Bedürfnisses (absolute Form und erzieherische Stilbildung) über das subjektive hinwegsetzen. Überspringt sie aber den Menschen, so „bequemte sie einer fragwürdigen Anthropologie und womöglich Ontologie sich an“. Denn die „lebendigen Menschen, noch die zurückgebliebensten und konventionell befangensten, haben ein Recht auf die Erfüllung ihrer sei’s auch falschen Bedürfnisse“. Die hier ausgemachte Antinomie ist im Phänomen des Cultural Lag befangen; wobei eine menschenwürdige Architektur „besser von den Menschen [denkt], als sie sind; so, wie sie dem Stand ihrer eigenen, in der Technik verkörperten Produktivkräfte nach sein könnten“17. Mit dem Cultural Lag ist jene Ungleichzeitigkeit gemeint, die sich zwischen einer technisch avancierten Architektur und der Sehnsucht nach „dem Glück im Winkel und allem erdenklichen Muff“ auftut. Sie gilt es nach Adorno zu bearbeiten. Auf gar keinen Fall aber darf sie als bereits überwundene antizipiert werden, damit Architektur nicht „in brutale Unterdrückung“ umschlägt.18
Proletariat und Sachlichkeit Im Falle des Proletariats wird dieser Widerspruch von Geschmack und sachlicher Baukunst zu einem grandiosen Missverhältnis zwischen sei15 16 17 18
Ebd., S. 120f. Ebd., S. 212. Ebd., S. 120. Adorno, Theodor, W.: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt/M.: 1967, S. 104-127.
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nen Ansprüchen an die Ausgestaltung des Alltagslebens und einer Avantgarde, die sich in ihrer Fortschrittlichkeit subjektiv ganz der Sache des revolutionären Subjekts glaubt annehmen zu müssen. Hier ist es vor allem Bertolt Brecht19 aber auch Walter Benjamin20, die vor allzu schneller Überwindung des Cultural Lag warnen. Bereits im Exil notiert Brecht Mitte der 1930er Jahre, dass sich Arbeiter zu der von „fortgeschrittenen Architekten“ als schön empfundene Sachlichkeit, im Großen und Ganzen ablehnend verhalten. „Sie finden die linear gebauten Häuser nicht schön, nennen sie Kasernen oder Zuchthäuser und schimpfen die neuen, zweckdienlichen Möbel fade“21. Und Brecht weiß auch, warum das so ist. Die Architekten, „von denen viele, weil sie eben fortgeschritten sind, sich gerne an die Arbeiter wenden, als die fortgeschrittenste, wichtigste Klasse, vergessen, was eine Wohnung für den Arbeiter bedeutet. Sie ist nämlich keineswegs nur ein Unterschlupf, eine Maschinerie, bei der es nur darauf ankommt, dass sie alle ihre Obliegenheiten möglichst praktisch vollzieht“22. Auf die Ansprüche der Kunst übertragen, vermerkt Walter Benjamin in den Aufzeichnungen und Materialien zum Passagen-Werk, man könne die Massen zu „keinem, wenn auch noch so utopischen Zeitpunkt […] für eine höhere Kunst sondern immer nur für eine gewinnen, die ihnen näher ist“23. Es ist „etwas Wärmendes“, was die Masse verlangt, weshalb die Abstraktion für die modernsten Ausdrucksmittel [Beleuchtung, Bauweise etc.] gefährlich werden kann“. Brecht verschärft noch einmal die Kritik an der eindimensionalen Übertragung des „reinen Zwecks“ als eine der Maschine folgende Rationalität auf das Wohnen, weil er darin den Grund für die Ablehnung durch das Proletariat sieht. In einem um 1936 entstandenen Fragment, mit dem Titel „Schön ist, was nützlich ist“24, werden große Baumeister, Besitzende, Arbeiter und Maschinen in Verbindung zueinander gebracht. Wobei sich all das als kaum verhüllte, bittere Polemik gegen die Architekten des Bauhauses liest. Sie treten hier als ‚chinesische‘ Tuis auf die, mit einem „Ohr für alles Neue und Fortschrittliche“, als erste die „Schönheit der Maschine“ entdeckten. Die Maschine, so erklären sie, sei schön, weil sie „durch und durch nützlich ist“. So wird die Maschine 19 Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 19, Frankfurt/M.: 1967, S. 386f. 20 Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Bd. V,1, Frankfurt/M.: 1982, S. 500. 21 Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 19. 22 Ebd. 23 Benjamin, Gesammelte Schriften, S. 499. 24 Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 12, Frankfurt/M.: 1967, S. 657f. 173
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zum Vorbild für den Bau von Häusern und Möbeln: „schmucklos, einfach und praktisch“. Doch bald erfährt der Leser, dass die Verbindung von Schönem und Nützlichem einzig dem Profit dient, die Maschine einzig zur Verbilligung der Produktion eingesetzt wird, um Arbeitskräfte einzusparen. Deshalb gefällt die Maschine so sehr den Besitzenden. Die Arbeiter aber lehnen die Maschine, die sie ausbeutet und ihnen die Arbeit stiehlt, ab. Und solange diese entfremdete, verdinglichte Maschinenlogik das Gesicht der Wohnungen beherrscht, solange, so ist Brechts wahrnehmungspsychologische Beobachtung zu verstehen, wird der Arbeiter diese Wohnung nicht schön finden können. In ihrer Abstraktion sind sie bar jeder erkenntniskritischen Aussage.
„Hurra, es fällt uns nichts mehr ein“ Ernst Bloch war schon in seiner expressionistischen Phase davon überzeugt, dass eine Geburtszange glatt sein müsse, aber mitnichten so eine Zuckerzange.25 Und die Maschine, eine kapitalistische Erfindung, sei im gewerblichen Gebrauch doch nur „zu den Zwecken billiger Massenproduktion mit hohem Umsatz und großem Gewinn und wahrhaftig nicht zur Erleichterung der menschlichen Arbeit oder gar der Veredelung ihrer Resultate konstruiert“26. Dieses frühe Ressentiment gegenüber dem Regiment der Abwaschbarkeit, da sich der „Zauber der modernen sanitären Anlagen […] als das Apriori der Maschinenware unmerklich noch in die kostbarste Architekturgebilde“ mischt27, hat Bloch zeitlebens nicht aufgegeben, weder in „Erbschaft dieser Zeit“ noch später im „Prinzip Hoffnung“. Für Bloch hat es eine zwingende Konsequenz, dass unter Beibehaltung spätbürgerlicher Lebensverhältnisse die ursprünglich berechtigte „Reinigung vom Muff des vorigen Jahrhunderts und seinem unsäglichen Zierrat“28 zu einer Baureform erstarrt, die nur erreichen kann, nicht mehr verhüllt-, sondern dezidiert-seelenlos zu sein“. Und so musste es dazu kommen, dass die auch von Gropius bezeichnete, sich so progressiv gebende „Ingenieurkunst“29 stagnierte. Weshalb seit „über einer Generation […] darum dieses Stahlmöbel-, Betonkuben-, Flachdach-Wesen geschichtslos da(steht), hochmodern und langweilig, scheinbar
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Bloch, Ernst: Geist der Utopie (1918), Frankfurt/M.: 1971, S. 21. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M.: 1969, S. 860. Ebd.
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kühn und echt trivial, voll Hass gegen die Floskel angeblich jedes Ornaments und doch mehr im Schema festgerannt als je eine Stilkopie im schlimmen neunzehnten Jahrhunderts“30.
Für Bloch ist dies ein Beispiel für jene Rationalisierung ohne Ratio, die in der Gestaltung zwangsläufig auf bloße Weglassung hinausläuft. Weshalb denn auch „je länger, je deutlicher [..] als Inschrift über dem Bauhaus und dem, was damit zusammenhängt, die Devise hervor[tritt]: Hurra, es fällt uns nichts mehr ein“31. Bloch vermisst, dass „zwischen Plüsch und Stahlsessel, zwischen Postämtern in Renaissance und Eierkisten kein Drittes mehr in die Fantasie greift“. Es ist wohl jenes Moment an utopischem Überschuss, das auf den ästhetischen nicht verzichten kann, um darauf hinzuweisen, dass wir noch nicht angekommen sind. „Die Glasbau-Utopie braucht Gestalten, die die Durchsichtigkeit verdienen. Braucht Gestaltungen, die den Menschen als Frage behalten“32. Weniger utopisch und weniger anspruchsvoll als Bloch, dafür nüchtern das „Phantom der Neuen Sachlichkeit“ jagend, wie es Lethen einmal formuliert hat, versucht auch Siegfried Kracauer das Verhältnis von Subjekt bzw. Mensch und Rationalität zu gewichten. Die sich auch in den funktionalen Architekturen ausdrückende „Ratio des kapitalistischen Wirtschaftssystems“ sei von „getrübter Vernunft“, weil sie den Menschen nicht einbegreife.33 Doch liege die Verbesserung dieser der Abstraktion sich verdankenden Missachtung des Menschen nicht in rückwärtsgewandter Gemeinschaftstümelei. Das Problem des Kapitalismus sei nicht, so Kracauer, dass er „zu viel, sondern zu wenig“ rationalisiert. Auf die Formbildung des Bauhauses übertragen hieße das, ihre Abstraktion ist „Ausdruck einer Rationalität, die sich verstockt“34. Deshalb werde Abstraktion hier inhaltsleer: Sie „verliert sich in einem leeren Formalismus“.
S t i l b i l d u n g a l s Zw a n g – D i k t a t u r d e s W o h n e n s vs . P l u r a l i t ä t Die Kritik aus Kreisen der modernen Architekten und Architekturkritiker und -theoretiker kreist unentwegt um die Problematik, die jeder
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Ebd. Ebd. Ebd., S. 863. Kracauer, Siegfried: Das Ornament der Masse, Frankfurt/M.: 1963, S. 57. Ebd., S. 58. 175
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noch so schwachen Tendenz zur Stilbildung innewohnt: dass man sie im Grunde vermeiden sollte. Das meint der ungarische Kunstkritiker und von Hannes Meyer als Redakteur der Bauhauszeitschrift nach Dessau geholte Ernst Kallei, wenn er in seinem Rückblick auf zehn Jahre Bauhaus aufzählt: „Wohnungen mit viel Glas- und Metallglanz: Bauhausstil […], Stahlrohrsesselgerippe: Bauhausstil. Lampe mit vernickeltem Gestell und Metallglasplatte als Schirm: Bauhausstil. […] Kein Bild an der Wand: Bauhausstil“35. Schärfer fällt das Urteil des Österreichers Josef Frank aus. Er vertritt eine gemäßigte, unaufgeregte Moderne des Kompromisses. Für ihn ist die Rede von einer sachlichen Architektur, die jetzt rein „dem Bedürfnis dient“, nichts anderes als „ewig wiederholter Unsinn“36. Stattdessen werde „nun Armut repräsentiert“, ein Vorwurf, den Walter Benjamin in gleicher Weise an die Literatur der Neuen Sachlichkeit richtete, als er davon sprach, sie betreibe mit der formalen Armut einen großen Aufwand und mache aus ihrer „gähnenden Leere ein Fest“37. Das Symbol dieser Armut sei der Stahlrohrsessel38, mehr ein modischer Gegenstand zur Demonstration einer Gesinnung, ja Weltanschauung. Deutsch an ihr ist Frank, dass sie zur Predigt absoluter Moralbegriffe neigt, die aber „mit dem wirklichen Leben in Widerspruch stehen und deshalb unsere heutige Menschenfresserarchitektur zur Folge haben“39. Frank fordert die Berücksichtigung des Nebensächlichen und der Vielfältigkeit unserer Welt, da sie Grundlagen des modernen Lebens seien. Modern ist daher das Haus, „das alles in unserer Zeit Lebendige aufnehmen kann“40. Die moderne deutsche Architektur sei demgegenüber leblos, möge sie auch noch so praktisch und prinzipiell richtig sein. An seine deutschen Bauhauskollegen gerichtet, fordert er sie in einem Interview in der Baukunst 192741 dazu auf, jedem Menschen seine noch so hässliche oder geschmacklose „Sentimentalität“ (das „Glück im Winkel“ bei Adorno42) zu lassen, denn sie sei doch mindestens menschlich. Im Gegensatz dazu hinterlasse eine Umgebung nur mit schönen Dingen den Eindruck der Äußerlichkeit. Und ganz im provokanten Ton seines großen Vorbilds Adolf Loos bekennt Josef Frank: „Ich sehne mich nach Geschmacklosigkeit.“
35 36 37 38 39 40 41 42
Kallai, Ernst: Zehn Jahre Bauhaus, S. 135f. Spalt, J./Czech, H. (Hg.): Josef Frank 1885-1967, Wien: 1981, S. 129. Benjamin, Walter: Versuche über Brecht, Frankfurt/M:. 1966, S. 109. Spalt/Czech: Josef Frank, S. 131. Ebd., S. 134. Ebd., S. 135. Ebd., S. 179. Adorno: Ohne Leitbild, S. 120.
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KRITIK VON LINKS
Loos sollte übrigens wenig später im Vorwort zu seiner Frankfurter Ausstellung erklären, dass das Bauhaus seine Lehren missverstanden habe. „Unnütze Konstruktionen, Orgien in bevorzugten Materialien [Beton, Glas, Eisen], Bauhaus- und Konstruktivismusromantik seien nicht besser als Ornament-Romantik“43. In Kreisen des Neuen Frankfurts, das 1931 diese Ausstellung zu Ehren von Adolf Loos organisiert hatte, blieb diese Aussage unwidersprochen!
Doppelgesicht Zusammenfassend lässt sich sagen, dass von Kollegenseite die Kritik sich meist auf die Verengung einer ursprünglich richtigen Idee, Programmatik und Strategie zu einem erneut Distinktion erzeugenden Einheitsstil mit deutlicher Tendenz zur Intoleranz gegenüber dem Abweichenden, der Logik des zweckrational Nützlichen nicht entsprechenden Dysfunktionalen richtete. Auch wird einigen einsichtigen Protagonisten, wie Behne, Schwab, Frank, oder Kallai, mit der Zeit immer deutlicher (auch wenn nicht mit der uns heute geläufigen Begrifflichkeit), dass Sachlichkeit in der Architektur, die sich ihrer Teilhabe an jener Dialektik der Aufklärung, in dem, so Adorno, „Fortschritt und Regression ineinander sind“44, nicht hinreichend bewusst wird, Gefahr läuft, die bloße Gestalt „verdinglichten Bewusstseins“45 anzunehmen. Aber auch hier weiß die Kritik, reicht sie erst einmal über die formale Ebene hinaus, nicht, wie sie sich der eingangs von erwähnten Aporie entziehen soll: dass Entdifferenzierung im kulturellen Sektor in einer verschärft weiter ausdifferenzierenden Klassengesellschaft diesen zwangsläufig in seiner ursprünglich intendierten Absicht des kritischen Eingreifens unterläuft, und zwar immer dann, wenn Kultur sich die Logik eines anderen Sektors/Systems – im Falle des Bauhauses ist es die der ökonomisch begründeten Rationalisierung – unterwirft. So machte sich z. B. Ernst Kallai keine Illusion über die Möglichkeiten eines sozialen Bauens in einer kapitalistischen Gesellschaft. Er ging sogar soweit und warnte – nicht frei von Zynismus – vor der allzu bequemen Ausstattung der proletarischen Wohnung „mit wc, bad, licht und ein paar freundlichen wänden herum“, weil er in der damit verbundenen Zufriedenheit der Arbeiter mit ihren kleinen „wohnmaschinchen“
43 Loos, Adolf: Über Josef Hoffmann, in: Das Neue Frankfurt, 5. Jg., Februar 1931, Heft 2, S. 38. 44 Adorno, Theodor, W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M:. 1970, S. 97. 45 Ebd., S. 72. 177
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das auf lange sicht „einträgliche geschäft“ einer kapitalistischen Sozialund Kulturpolitik sah.46 Doch wie unsicher in der Einschätzung man war, mag noch einmal eine Äußerung Ernst Blochs verdeutlichen. In „Erbschaft dieser Zeit“ bestreitet er zunächst, dass die vielen technisch-kollektiven Ansätze im Spätkapitalismus „bereits unmittelbar als ‚sozialistisch’ begrüßt werden können“47. Gleichwohl spüre er aber in der Sachlichkeit des neuen Bauens „bourgeoises Gift mindestens so genau wie mögliche Zukunft“48. Da ist es wieder, das so oft beschworene „Doppelgesicht der modernen Architektur“, von dem Alexander Schwab in seinem 1930 veröffentlichten „Buch vom Bauen“ spricht. Sie sei „großbürgerlich und proletarisch, hochkapitalistisch und sozialistisch. Man kann sogar sagen: autokratisch und demokratisch“. Eins sei sie allerdings nicht mehr: „individualistisch“49.
46 Kallai, Ernst: „wir leben nicht, um zu wohnen“, in: bauhaus 1929, Heft 1, S. 10. 47 Bloch, Ernst: Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt/M:. 1973, S. 219. 48 Ebd., S. 220. 49 Schwab, Alexander: „Das Buch vom Bauen“, Gütersloh: 1973, S. 67. 178
W AL T E R B E N J AM I N : A R C H I T E K T U R F Ü R D AS
SCHLECHTE
NEUE
Die im Titel angezeigte Verbindung von Architektur und schlechtem Neuen ist dem Versuch geschuldet, im Rückgriff auf eine historische Phase programmatischer Politisierung des ästhetischen Feldes die sowohl theoretische als auch lebenspraktische Seite der Architektur erneut in das dialektische Spannungsfeld von Politik und Ästhetik zu rücken. Das „schlechte Neue“ ist dabei, in den Worten Walter Benjamins, Bestandteil und Ausdruck des „positiven Barbarentums“. Das wiederum meint einen zu Faschismus und Nationalsozialismus im Widerspruch stehenden gesellschaftlichen und kulturellen Zustand, wie ihn Benjamin zu seiner Zeit auch in den schmucklosen „Haut- und Knochenbauten“1 und den radikalen Programmen ihrer Konstrukteure bereits ausgebildet sah. In „Erfahrung und Armut“, 1933 geschrieben, lesen wir dazu: „Hier und da haben längst die besten Köpfe begonnen, sich ihren Vers auf die Dinge zu machen. Gänzliche Illusionslosigkeit über das Zeitalter und dennoch ein rückhaltloses Bekenntnis zu ihm ist ihr Kennzeichen. Es ist das gleiche, ob der Dichter Bert Brecht feststellt, Kommunismus sei nicht die gerechte Verteilung des Reichtums sondern der Armut oder ob der Vorläufer der modernen Architektur, Adolf Loos, erklärt: ‚Ich schreibe nur für Menschen, die modernes Empfinden besitzen. Für Menschen, die sich in Sehnsucht nach der Renaissance oder dem Rokoko verzehren, schreibe ich nicht‘. Ein so geschachtelter Künstler wie der Maler Paul Klee und ein so programmatischer wie Loos – beide stoßen vom hergebrachten, feierlichen, edlen, mit allen Opfergaben der Vergangenheit geschmückten Menschenbild ab, um sich dem nackten Zeitge-
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Die Formulierung hat Mies van der Rohe gebraucht. Sie taucht in seinen 1923 verfassten Thesen zu dem Entwurf für ein Bürogebäude aus Stahlbeton auf. Zit. nach Conrads, Ulrich: Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Gütersloh/ Berlin/München: 1972, S. 70. 179
MODERNE, AVANTGARDE UND ARCHITEKTUR
nossen zuzuwenden, der schreiend wie ein Neugeborenes in den schmutzigen Windeln dieser Epoche liegt“2.
Abb. 1: Paul Klee: Angelus Novus, 1920. Für Benjamin war dieser Engel auch ein Bild der dialektischen Reflexion der Zeit. Ein Bild des Ursprungs und der Zerstörung. Adolf Loos hatte das Ursprüngliche in der Zerstörung der verhassten bürgerlichen Kultur wiederherstellen wollen. Zu Benjamin, Klee und dem ‚Angelus Novus‘ äußert sich ausführlich Werckmeister, O.K.: Versuche über Paul Klee, Frankfurt/M: 1981, S. 98-123. Männer wie Loos, sagt Benjamin – und er nennt auch den Glasutopisten Paul Scheerbart und Le Corbusier –, hätten „das von Grund auf Neue zu ihrer Sache gemacht und es auf Einsicht und Verzicht begründet“. In ihren „Bauten, Bildern und Geschichten [bereite] sich die Menschheit darauf vor, die Kultur, wenn es sein muss, zu überleben“3. Mit großem
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Benjamin, (lll., S. 315). Im laufenden Text habe ich folgende Siglen für die Schriften Benjamins verwandt: GS = Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Tiedemann/Schweppenhäuser (Hg.), Frankfurt/M.: 1974ff.; Ill. = Benjamin, Walter: Illuminationen, Frankfurt/M.: 1966; VüB = Benjamin, Walter: Versuche über Brecht, Frankfurt/M.: 1966; AN = Benjamin, Walter: Angelus Novus, Frankfurt/M.: 1965. Benjamin, Ill., S. 318.
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WALTER BENJAMIN: ARCHITEKTUR FÜR DAS SCHLECHTE NEUE
Nachdruck hat Benjamin das Einstehen für die solcherart zustande kommende und verarbeitete neue Form des Barbarentums gefordert. Er tat das in der Überzeugung. dass dieses Barbarentum in jeder Hinsicht der verhängnisvollen kulturellen Barbarei vorzuziehen sei, wie sie die „wenigen Mächtigen“4 für ihre inhumanen Ziele in Dienst stellen. Denn in jener werde das offene und ehrliche Bekenntnis zu einer wirklichen und großen Armut an Menschheitserfahrung mit dem Ziel eines möglichen Neubeginns wirksam. „Erfahrungsarmut: das muss man nicht so verstehen, als ob die Menschen sich nach neuer Erfahrung sehnten. Nein, sie sehnen sich, von Erfahrungen freizukommen, sie sehnen sich nach einer Umwelt, in der sie ihre Armut, die äußere und schließlich auch die innere, so rein und deutlich zur Geltung bringen können, dass etwas Anständiges dabei herauskommt“5.
Die Armut, von der Benjamin spricht, steht in tiefem Gegensatz zu dem angehäuften und von wahrer Erfahrung längst abgeschnittenen Reichtum der von der Bourgeoisie im Laufe des vorigen Jahrhunderts als Beute und Besitz triumphal „heimgeführten“ Geschichte. Im Historismus hat dies seine geschichtsphilosophische Legitimation erfahren. Dazu heißt es an anderer Stelle bei Benjamin: „Denn was ist das ganze Bildungsgut wert, wenn uns nicht eben Erfahrung mit ihm verbindet? Wohin führt es, wenn sie geheuchelt oder erschlichen wird, das hat das grauenhafte Mischmasch der Stile und der Weltanschauungen im vorigen Jahrhundert uns zu deutlich gemacht, als dass wir unsere Armut zu bekennen nicht für ehrenwert halten müssten. – Ja, gestehen wir es ein: Diese Erfahrungsarmut ist Armut nicht an privaten, sondern an Menschheitserfahrungen überhaupt. Und damit. eine Art von neuem Barbarentum. Barbarentum?. In der Tat. Wir sagen es, um einen neuen, positiven Begriff des Barbarentums einzuführen. Denn wohin bringt die Armut an Erfahrung den Barbaren? Sie bringt ihn dahin, von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen; aus Wenigem heraus zu konstruieren und dabei weder rechts noch links zu blicken. Unter den großen Schöpfern hat es immer die Unerbittlichen gegeben, die erst einmal reinen Tisch machten. Sie wollten nämlich einen Zeichentisch haben, sie sind Konstrukteure gewesen“6.
Damit zeichnet sich der Kontext ab, innerhalb dessen ich eine wichtige Verbindung sehe zwischen gedanklichen Positionen Walter Benjamins 4 5 6
Ebd. Benjamin, Ill, S. 317. Ill., S. 314f. 181
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und jener so eigentümlichen Konstruktion einer avantgardistischen Architektur, die in ihrer unverhüllten Armut humaner sein soll, als es ihr historistischer Vorgänger je sein konnte. Es ist eine Verbindung, wie sie Benjamin im übrigen selbst herbeigeführt hat.7 Es geschieht dies im Zusammenhang mit Positionen, die er in der Konsequenz seiner Kritik am bürgerlichen Wohnen, dem bourgeoisen Interieur des späten 19. Jahrhunderts8, den Veränderungen in der bürgerlichen Architektur seiner Gegenwart gegenüber entwickelt hat und die er im Laufe der 1930er Jahre gegenüber dem Faschismus glaubte, nachhaltig behaupten zu müssen. In den Extrempunkten greift Benjamin über die praktisch eingelösten Ziele der Architektur, auf die er sich bei seinen Überlegungen gleichwohl bezieht, hinaus. Dadurch hat er dieser Architektur und nicht zu letzt auch ihrer sachorientierten Theorie so etwas wie einen dialektischen Sinngehalt verliehen, der uns heute Vieles und Entscheidendes ihrer Tendenzen begreiflicher werden lässt.
An n ä h e r u n g In einer Zeit, da – wie er selbst 1933 notierte – in der Tür „die Weltwirtschaftskrise, hinter ihr ein Schatten, der kommende Krieg“9 standen, hat sich Benjamin darum bemüht, die kritischen Inhalte der bürgerlichen Kulturindustrie und die Bewegungsformen der Avantgarde (darin eingebunden die der modern-sachlichen Architektur) aufzugreifen. Dem liegt die Absicht zugrunde, diese Inhalte bei der Entwicklung einer marxistischen Kunsttheorie produktiv zu verarbeiten. Es kommt Benjamin darauf an, die revolutionären Tendenzen dieser ästhetischen Praxisbereiche selbst dort, wo sie – wie etwa in der Architektur als Reklameschrift, die das Ornament verdrängt hat10 – in „verrufener Gestalt“11 in Erschei7
Vgl. dazu Ill., S. 313ff. und S. 374ff.; AN, S. 416ff.; GS, IV, 1, S 317ff., vor allem S. 327f. und S. 403f., sowie AN, S 360f. 8 Benjamin, Walter: Kurze Schatten (II), Spurlos wohnen, in: GS, IV, 1, S. 427f., auch Ill, S 316f. 9 Ill., S. 318. 10 Für Benjamin hat die Architektur eine zentrale .Erkenntnisfunktion bei der Vergegenwärtigung dessen, was er die „Rezeption in der Zerstreuung und durch das Kollektivum“ nennt (Ill., S. 173). In diesem Zusammenhang hat er auf etwas hingewiesen, was einmal mehr seine Entschlossenheit charakterisiert, noch und gerade an den sogenannten Zerfallserscheinungen der bürgerlichen Kultur zukunftsweisende Momente herauszupräparieren: „Von besonderer Wichtigkeit sind immer die Kunstformen gewesen, die sich eng an die Architektur angeschlossen, an. ihr sich emporgebildet haben. Wie steht es mit unseren heutigen Bauten? Sie sind, wie sich in der Großstadt erkennen lasst, zu Trägern der Reklame geworden. Die Rezep182
WALTER BENJAMIN: ARCHITEKTUR FÜR DAS SCHLECHTE NEUE
nung treten, zu erkennen, ihren gesellschaftlichen wie ästhetischen Ort zu bestimmen und aus ihnen gewisse organisierende Kräfte abzuleiten. Mit solchen Bemühungen liegt Benjamin für die aus der Kunstgeschichte hervorgegangene Architekturgeschichte am äußeren Rand, er steht außerhalb der von ihr verwalteten architekturgeschichtlichen und -theoretischen Fragestellungen. Soweit sich nämlich Benjamin für deren Inhalte interessierte, hat die Architekturgeschichte ihrerseits davon so gut wie keine Notiz genommen. Das hat seine Gründe. Einmal wird es an der fragmentarischen Art der von Benjamin geführten Auseinandersetzung mit Architekturfragen gelegen haben. Überflüssig zu sagen, dass sich Benjamin nicht als Architekturhistoriker versucht hat. Doch mehr noch als an den Schwierigkeiten, die die Texte einer ersten Annäherung bereiten, dürfte es an den von Benjamin gesehenen politischen Konsequenzen für eine über die Architektur hinausreichende Neubestimmung ästhetischer Praxis gelegen haben, weshalb die Architekturgeschichte einer Auseinandersetzung mit Benjamin bislang aus dem Weg gegangen ist. Die Gedanken über Architektur stehen zudem in methodischer Verbindung mir einer Sprache, von der Benjamin verlangte, dass sie „sich dem Augenblick wirkend gewachsen“ zeige.12 Gleichwohl kann eine Diskussion Benjamins im Zusammenhang der Architekturgeschichte eine in ihrer Fachtradition eingeschränkte Disziplin veranlassen, durch ihr „abseitig“ vorkommende Gedanken und Probleme zu neuen, gewohnte Denkmuster aufsprengenden Einstellungen zu kommen.
tion in der Zerstreuung, die sich mit unterschiedlichem Nachdruck auf nahezu allen Gebieten bemerkbar macht, hat einen ihrer wichtigsten Agenten in der Reklame. Von der Werbegrafik über das Inserat zur Rundfunkpublizität kann man die wachsende Amalgamierung wichtiger Elemente der Kunst mit den Interessen des Kapitals verfolgen. Dass es sich dabei keineswegs nur um einen bloßen Zersetzungsprozess handelt, versteht sich nach dem Gesagten von selbst. In der Reklame, welche sich an die Masse der zerstreuten einzelnen wendet, macht die Kunst die merkantile Probe auf ein Exempel, auf das sie mit der Revolution des Proletariats die menschliche machen wird: das Exempel ihrer Rezeption durch die Massen. Das schließt ein, dass grundsätzliche Grenzen zwischen Reklame und Kunst fixieren zu wollen, unfruchtbar ist“ (GS, I,3, S. 1043f.). Die Nähe der „verrufenen Gestalt“ der westlich-kapitalistischen Reklame zu sozialistischen Beispielen wird Benjamin sicherlich darin bestätigt gefunden haben, dass ein Künstler wie Lissitzky nicht nur für die Sowjetunion gearbeitet hat. So hat Lissitzky auch für die Pelikan-Werke in Hannover gearbeitet, indem er für sie eine Reklamekampagne betreute. 11 Ebd., S. 172. 12 GS, IV, 1, S. 85. 183
MODERNE, AVANTGARDE UND ARCHITEKTUR
Ort des Übergangs Das architekturgeschichtlich kontroverse Problem, mit dem wir es – über Benjamin hinaus – bei der Bewertung der historischen Avantgardebewegung und den gegenwärtigen Bedingungen ihrer Aktualisierung zu tun haben, lässt sich anhand zweier kontradiktorischer Thesen genau umschreiben. Die eine These, wie sie auch von Walter Benjamin vertreten wird, taucht bereits Ende der 1920er Jahre auf. Sie ist also noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Erfahrungen im Umgang mit den Arbeiten der modernen Architektur, ihren Produktionsbedingungen und schließlich den Bedingungen ihres sich abzeichnenden Scheiterns entstanden. Wie im Falle Benjamin, so handelt es sich um Angehörige der linken bürgerlichen Weimarer Intelligenz, die zum damaligen Zeitpunkt die Auffassung teilen, dass in der Architektur – trotz der ihr notwendig noch innewohnenden Widersprüche und Unfertigkeiten – seit Anfang des 20. Jahrhunderts damit begonnen wurde, in konstruktiver Weise einen gesellschaftlichen Zustand zu antizipieren, der den bürgerlichen Lebenszusammenhang überschreitet.13 Es sei damit zu rechnen, dass die Architektur Bruchstellen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft offenlegt; dass sie selbst eine solche Bruchstelle darstellt, die letzten Endes auf die Auflösung der widersprüchlichen sozialen Verfassung, der sie entstammt, hindrängt. Somit würde die Architektur der Avantgarde einen erst noch oder neuerlich freizulegenden Ort des Übergangs markieren. Von ihm hätte der Wandel im Sinne einer Verwirklichung humaner (das hieß auch: sozialistischer) Lebensverhältnisse auszugehen. Keineswegs dürfte der zukünftige Weg dieser Architektur auf scheinbar intakte, vergangene Zustände zurückgreifen. Diese Perspektive entspricht der Forderung Brechts, dass der Mensch nicht wieder Mensch wird, „indem er aus der Masse herausgeht, sondern indem er hineingeht in die Masse“14. Wo sich tradierte Formen in der bürgerlichen Architektur als überkommen erweisen und durch Bauten ersetzt werden, die die neuen Ansprüche der Massen nach humaneren Wohn- und Lebensverhältnissen als materiale Notwendigkeit in sich tragen, da drohe nicht zwangsläufig die gestaltlo13 Siehe dazu Schwab, Alexander: Das Buch vom Bauen.1930. Wohnungsnot, Neue Technik, Neue Baukunst, Städtebau aus sozialistischer Sicht. Erschienen 1930 unter dem Pseudonym Albert Sigrist. Neu veröffentlicht Düsseldorf: 1973. 14 Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 19, Frankfurt/M: 1973, S. 298. Benjamin meint das Gleiche, wenn er sagt: „Mag doch der Einzelne bisweilen ein wenig Menschlichkeit an jene Masse abgeben, die sie eines Tages ihm mit Zins und Zinseszinsen wiedergibt.“ (Ill., S. 318). 184
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se Vermassung, nicht der bloße Verfall bürgerlicher Kulturwerte und die Vernichtung des „typischen Individuums“ im Sinne einer missratenen Aufhebung des Bestehenden. Als ein Ort des am „schlechten Neuen“ und nicht am „guten Alten“15 anknüpfenden Übergangs setze die neue Architektur darauf, dass sie – noch ihren kapitalistischen Produktionsbedingungen verhaftet – aufgrund des veränderten Anteils der Massen notwendigerweise selbst konstruktive Veränderungen erfährt und im Dienst einer zu verwirklichenden „Selbstverständigung der Massen“16 umfunktioniert werden kann. Die sich darüber einstellende. neue rezeptive Qualität der Architektur, wie sie prinzipiell von den geänderten technisch-konstruktiven Verfahrensweisen ausgelöst wird, setzt in Verbindung mit der historischen Kraft der Anteil nehmenden proletarischen Massen zugleich all die ästhetisch eingeübten bürgerlichen Umgangsformen mit Architektur außer Kraft. Es will scheinen, als habe die bürgerliche Architektur das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der von ihr allein auf konventionell ästhetischem Weg veranschlagten Humanität verspielt. Zu sehr steht jetzt die, nach Meinung Benjamins, „schwer kontrollierbare Anwendung“ der u.a. im Umgang mit dieser Art von Architektur geschulten Begriffe – wie „Schöpfertum und Genialität, Ewigkeitswert und Geheimnis“17 – einer kritischen Aneignung im Weg, die das Ziel gehabt hätte, daran etwas für die Darstellung neuer konstruktiver Aufgabenbereiche der Architektur zu retten. Auch sei für „eine echte Überlieferung“, die auf der Erforschung der „technischen Bedingungen kulturellen Schaffens, seiner Aufnahme und seines Überdauerns“ gründet18, dort ohnehin kein Platz, 15 16 17 18
VüB, S. 135. AN, S. 509. Ill., S. 149. GS, III, S. 525. Am 12.Mai 1929 veröffentlichte ‚Die Literarische Welt’ einen Artikel Benjamins, überschrieben „Bücher, die lebendig geblieben sind“ (ebd., S. 169f.). Benjamin verband damit die Absicht, „den Blick auf einige große Werke deutscher Wissenschaft“ zu lenken. Es sind dies „gelehrte Bekenntnisschriften, deren Verborgenheit in den Fachbibliotheken nur eine besondere Spielart des Vergessenseins darstellt“. Neben Alois Riegls „Spätrömische Kunstindustrie“, Franz Rosenzweigs „Stern der Erlösung“ und Georg Lukács’ „Geschichte und Klassenbewusstsein“ erwähnt Benjamin auch Alfred Gotthold Meyers 1907 erschienene Schrift über Eisenbauten. Darin unterstreicht Benjamin einmal mehr die Korrespondenz zwischen den Gesetzlichkeiten der technischen Konstruktion und dem Leben.. Wo immer Benjamin auf die Architektur zu sprechen kommt, ist diese Verbindung das stets wiederkehrende, zentrale Theorem bei dem Versuch, den tradierten Werkbegriff ‚bequemen Übereinkommens‘ in der bürgerlichen Architektur zu überwinden und ihn 185
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wo der Wunsch nach einem „bequemen Übereinkommen“ den Konservativismus solcher Begriffe kennzeichne.19 Benjamin halte seine Abkehr von ihnen und den sie tragenden kulturellen Erscheinungen – im Wohnen ist es das bürgerliche Interieur mit seiner Gemütlichkeit und Beschaulichkeit – im „Kunstwerkaufsatz“ damit begründet, dass ihre unkontrollierte Anwendung nur noch „zur Verarbeitung des Tatsachenmaterials in faschistischem Sinn führt“20. So ist auch zu verstehen, wenn Benjamin wenig später erklärt, dass der Keim der faschistischen Barbarei in der Gründerzeit „bereits eingefaltet“ liegt.21 Die andere These, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrem ganzen Spektrum sowohl von konservativer als auch orthodox-marxistischer Seite vertreten wird, wäre etwa so zu fassen: Dass der Funktionalismus im Grunde von Anfang an nichts anderes gewesen ist als das typische Produkt einer zutiefst unheilvollen Allianz im Dienst des Monopolkapitalismus. Besiegelt habe man sie mit der Gründung des Deutschen Werkbunds im Jahr 1907 zwischen Architekten, Industriedesignern und den Zielen des wirtschaftlichen Imperialismus der seit damals expandierenden deutschen Industrie. Beweise für diese Verschmelzung kapitalistischer und formästhetischer Interessen haben einflussreiche Werkbundmitglieder in der Tat selbst zu Genüge geliefert. Sie teilten die Überzeugung, in der Gewissheit zu bauen, zu entwerfen und zu gestalten, „dass der Werkbundgedanke eines der wichtigsten Kampf- und Hilfsmittel für die Entwicklung des Deutschtums zur Weltmacht dar-
durch einen an der das Leben organisierenden Funktion der Architektur gebildeten Handlungsbegriff zu ersetzen. Die Überzeugung beginnt sich schon hier abzuzeichnen, dass der konstruktive Aufbau eines Gebäudes, die an ihm wirksam werdenden „Gesetzmäßigkeiten“, durch den Umgang der Menschen mit ihren Bauten in das Leben der Menschen eingreifen und es produktiv mit gestalten können. Dieser Auffassung von der rezeptiven Qualität der Architektur verwandt ist eine zwei Jahre vorher getroffene Feststellung Benjamins, dass jede […] gute Architektur, die den Namen verdient, […] ihr Bestes nicht bloßen Blicken, sondern dem Raumsinn zugute kommen“ lässt (GS, III, S. 82). Und mit Vorgriff auf den später verfassten Essay „Der Autor als Produzent“ will es scheinen, als habe Benjamin mit der von ihm gewählten Verbindung technische Konstruktion und Leben und dem Hinweis auf eine im Grunde erst noch darauf aufzubauende „historisch-materialistische Geschichte der Architektur“ bereits den Begriff der Technik im Sinn gehabt, der – wie die literarischen – auch die architektonischen Produkte „einer unmittelbar gesellschaftlichen, damit einer materialistischen Analyse zugänglich“ machen sollte. (VüB, S. 98). 19 GS, III, S. 525. 20 Ill., S. 149. 21 GS, III, S. 574. 186
WALTER BENJAMIN: ARCHITEKTUR FÜR DAS SCHLECHTE NEUE
stellt“22. Weiter führt die These den Gedanken von einer Architektur aus, welche – nach dem Ersten Weltkrieg und nach einer nur kurzen utopisch-sozialreformerischen Phase als das Neue Bauen23 propagiert – sich bestens eignete die von Zweckrationalität in Denken und Handeln beherrschte bürgerliche Lebenspraxis architektonisch zu vergegenständlichen. Genormte Bauelemente, der provokante Verzicht auf Einzelformen tradierter Herkunft (i.e. das Stilornament), Standardisierung und Typisierung bis in die Wohn- und Schlafzimmer hinein, das alles deute geradewegs auf die heutige Inhumanität, auf die grobe Missachtung des Individuums und seiner Sinnbedürfnisse in Architektur und Stadtplanung.
G r o ß e Ar c h i t e k t u r u n d t r a n s z e n d e n t a l e r An s p r u c h Es ist erstaunlich, dass die richtungweisende und differenzierteste Kritik am Funktionalismus alter und neuer Prägung von Autoren stammt, die von sehr unterschiedlichen geschichtstheoretischen Voraussetzungen ausgehen. Es ist dies einmal die kulturkonservative, mit großer Beobachtungsgabe verfasste Arbeit des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr über den von ihm 1947 bitter beklagten „Verlust der Mitte“24, dem er interessanterweise bereits für die Zeit des frühen 19. Jahrhunderts den „Tod des Ornaments“25 in der Baukunst anlastet. Zum anderen ist es die von reaktionärer Gesinnung gewiss freizusprechende spätere Kritik Adornos am Funktionalismus heute26, ein Vortrag, den dieser im Oktober 1965 auf einer Tagung des Deutschen Werkbunds in Berlin gehalten hat. Vor allem Adornos Kritik ist in unserem Zusammenhang wert, hinzugezogen zu werden. In ihr wird – erkennbar bereits in der 1940 verfassten Kritik Adornos an Thorstein Veblen27 – im Vergleich zu Walter Benjamin eine 22 Zit. nach Posener, Julius: Anfänge des Funktionalismus, Berlin/Frankfurt/M/Wien: 1964, S. 221. 23 Huse, Norbert: Neues Bauen, 1918-1933. Moderne Architektur in der Wiemarer Republik, München: 1975. 24 Sedlmayr, Hans: Verlust der Mitte, Salzburg: 1947. 25 Ebd., S. 90. 26 Adorno: Ohne Leitbild, S. 104-127. 27 Vgl. Adorno, Theodor W.: Veblens Angriff auf die Kultur, in: Ders.: Prismen, Frankfurt/M.: 1969, S. 82-111. „Aus der Kritik des Güterverbrauchs als bloßer Ostentation hat er (Veblen) Folgerungen abgeleitet, die ästhetisch mit denen der neuen Sachlichkeit – wie sie gleichzeitig etwa von Adolf Loos formuliert wurden – praktisch mit denen der Technokratie aufs engste sich berühren“ (ebd., S. 82). Indem Adorno Veblen vorhält, dass dieser nichts wisse von der „Moderne 187
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betont resignative, skeptische Einstellung zum Funktionalismus geäußert. Zu tage tritt dabei die Differenz Benjamins zur Fortschrittskritik der Frankfurter Schule. Sie wird in unserem Fall besonders dort deutlich, wo beide, Benjamin und Adorno, von Adolf Loos handeln, der ihnen stellvertretend das Wesen funktionalistischen Architekturbewusstseins repräsentiert. Doch wenden wir uns zunächst dem nicht minder interessanten Urteil Hans Sedlmayrs zu. Sedlmayr geht in seiner viel beachteten Kritik (Gesamtauflage 1965: 180.000) zurück bis zu den Programmen der „architektonischen Revolution“ am Ende des 18. Jahrhunderts, „die noch vor dem Ausbruch der politischen ein Ledoux angebahnt hatte“28. Es sei, wie später im Funktionalismus, bereits die Tendenz seiner und anderer Revolutionsbauten29, „alle plastischen, anthropomorphen und malerischen Werte – die im Barock eng miteinander verschmolzen waren – aus sich auszustoßen, auch das Element Farbe und das Ornament, zuletzt auch die Säulenordnungen, auf denen die Architektur seit der Renaissance beruht hatte“30. In der nachweislichen Reduzierung aller architektonischen Grundformen sieht Sedlmayr zudem die Gefahr der formalen „Gleichmacherei“ heraufkommen, die ihre „geistesgeschichtliche Analogie“ im damaligen utopischen Sozialismus eines Saint-Simon gehabt habe.31 Wo der Bau „gleichsam ein menschliches Gerät“ werde, „einem Möbel vergleichbar“, müsse die Architektur notwendig ihren bis dahin in der Geschichte unangetasteten transzendentalen Anspruch aufgeben. Als höhere Kunst – nur als solche will Sedlmayr sie bewahrt wissen – hat die Architektur demzufolge in der nach-revolutionären Geschichtszeit ihren Daseinsgrund verloren.32 Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung, der, so Sedlmayrs zutreffende Beobachtung, in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts
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der Regression“, dass ihm „die trugvollen Bilder der Einmaligkeit in der Ära der Massenproduktion bloße Rückstände, nicht aber Repliken auf die hochindustrielle Mechanisierung, die über diese selbst etwas aussagen“ (ebd., S. 97) sind, hat er Wesentliches seiner späteren Funktionalismuskritik vorweggenommen: Dass nämlich auch Loos den „Begriff des Nützlichen und Unnützen“ (ebd., S. 96) nicht analysiert habe und er deshalb – darin Veblen verwandt – dazu neigte, das Ornament im Sinne des technologischen Fortschrittprinzips als „animistischen Rückstand“ (ebd., S. 86) zu diskriminieren. Sedlmayr: Verlust der Mitte, S. 80. Siehe näher Kaufmann, Emil: Three Revolutionary Architects. Boulleé, Ledoux and Lequeu, in: Transactions of the American Philosophical Society. New Series, Vol. 42 Part 3, October 1952. Sedlmayr: Verlust der Mitte. Ebd., S. 64. Ebd., S. 65.
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erreicht wurde, hätten die „Extremisten“ sogar die Abschaffung der Architektur proklamiert. Denn nach ihnen sei es fraglich geworden, „ob der beschränkte Begriff Architektur überhaupt bestehen bleiben wird“. Und er führt Siegfried Giedion an, den „Extremisten des ‚Neuen Bauens’“33, der 1928 geschrieben hatte, dass die Architektur „aus der isolierten Stellung, die sie mit Malerei und Skulptur eingenommen hat, in den Strom gezogen“ und der Begriff der Architektur „zu eng geworden“ sei.34 Adorno hält dagegen dem Funktionalismus vor, sich in der von ihm getragenen Begriffs- und Praxiserweiterung von einem sozialen Antagonismus befreien zu wollen, „über den die stärkste Architektur keine Macht hat“35. Begründet sieht Adorno jenen Antagonismus darin, dass „die gleiche Gesellschaft, welche die menschlichen Produktivkräfte ins Unvorstellbare entwickelte, sie fesselt an die ihnen auferlegten Produktionsverhältnisse, und die Menschen, die in Wahrheit die Produktionskräfte sind, nach dem Maß der Verhältnisse deformiert“36. Funktionale Architektur bleibt als bürgerliche unrettbar in diesen spätkapitalistischen Herrschaft- und universelle Formen annehmenden Verblendungsmechanismus verstrickt. Deshalb muss der an ihr zum Ausdruck gebrachte „Gedanke an das wahre, objektive Bedürfnis“ auch notwendig „in brutale Unterdrückung“ umschlagen, da er sich nicht anders als rücksichtslos über das subjektive Bedürfnis hinwegsetzen kann. Adorno ist die Sachlichkeit der Architektur die bloße Gestalt „verdinglichten Bewusstseins“.37 Ihre Antinomie bezeuge jenes Stück Dialektik der Aufklärung, in dem Fortschritt und Regression ineinander sind.38 Und sofern es überhaupt eine Alternative geben kann, die in der Krise der Architektur sich öffnet, so einzig in der Konstruktion großer Architektur. In einer Welt, in der die „Abhängigkeit von einer dem Bewusstsein derer, die sie bedienen, entlaufenen Apparatur universal über die Menschen sich ausbreitet“39, wird allein noch einem Bauwerk, wie der von Adorno angeführten Philharmonie Scharouns, eine über das rein Funktionale reichende Sprache zuteil. Sie hat dort ihren Ausdruck gefunden, wo große Ar-
33 Ebd., S. 75. 34 Ebd., S. 107. Sedlmayr zitiert Giedions Aufsatz „Le Corbusier und das Neue Bauen“, erschienen 1930 in der Zeitschrift „Der Cicerone“. 35 Adorno: Ohne Leitbild, S. 121. 36 Ebd. 37 Adorno: Ästhetische Theorie, S. 72. 38 Ebd., S. 97. 39 Adorno, Theodor, W.: Gesammelte Schriften 8, Frankfurt/ M.: 1972, S. 360. 189
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chitektur, „rein aus ihren Zwecken heraus, diese (Sprache) als ihren Gehalt mimetisch gleichsam behandelt“40. Sowohl Sedlmayr als auch Adorno gehen – bei aller Differenz im Politischen zueinander – in ihrem Urteil über die moderne Architektur und die daran geknüpfte gesellschaftlich perspektivische Aussage noch hinter die Zeit des bürgerlich-kapitalistischen 19. Jahrhunderts zurück. Beide sehen in der Gestalt des funktionalen Bauens ein schon lang andauerndes und sich verschärfendes gesamtgesellschaftliches Elend verkörpert. In der Darlegung praktisch-konkreter Hinweise auf eine mögliche Überwindung dieses schlechten Zustandes, wie sie die Avantgarde in ihren Programmen immerhin in Angriff genommen hatte, erweist sich dieses kulturkritische Verfahren jedoch als ohnmächtig (große Architektur bei Adorno, ihr transzendentaler Anspruch bei Sedlmayr). Eine von den damaligen Zielvorstellungen geleitete, sie zumindest bewusst aufnehmende und weiterführende Entwicklung, wie sie sich z. B. in Entwürfen für den sozialen Wohnungsbau in den 1920er Jahren als Momente politisch ausgerichteter gesellschaftlicher Praxis anzudeuten begann, wird von beiden nicht in Betracht gezogen. Jedweder kollektiver Gestaltungsanspruch wird für den in Architektur zum Ausdruck zu bringenden Gehalt in Zweifel gezogen. Wie soll aber auch Architektur in dem sie am stärksten berührenden Alltagszusammenhang eine konstruktive, organisierende und handlungsorientierte Aufgabe erfüllen. wenn ihr ästhetisch-mimetisches Vermögen allein in einer Vorstellung von Kunst beheimatet ist, von deren Reinheit es in der „Dialektik der Aufklärung“ heißt, sie sei von Anbeginn „mit dem Ausschluss der Unterklasse erkauft“ worden?41 Dass die Architektur der Sache der Massen, „der richtigen Allgemeinheit die Treue“ halten kann, mag den trösten, der ohnehin von der Praxis, die zur Festigung der „richtigen Allgemeinheit“ führen könnte, überzeugt ist, dass sie auf „unabsehbare Zeit vertagt“42 ist. Und so kann in der Tat kaum Zweifel darüber bestehen, dass in dieser Perspektive „für die historische Erfahrung, in der das „Schlechte Neue“ (im Sinne Brechts und Benjamins) seine Erkenntnis findet, kein Platz ist“43.
40 Adorno: Ästhetische Theorie, S. 72. 41 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor, W.: Dialektik der Aufklärung (1944), Lichtenstein: 1955, S. 128. 42 Adorno, Theodor, W.: Negative Dialektik, Frankfurt/ M.: 1966, S. 13. 43 Lindner, Burkhardt: Herrschaft als Trauma. In: Text und Kritik. Sonderband Theodor W. Adorno, München: 1977, S. 89. 190
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Modernes Bauen und Nationalsozialismus Gegen eine Kritik, die die funktionale Barbarei in der Architektur zum Argument auch gegen die Bauten der Avantgarde vor der faschistischen Machtergreifung verlängert – und damit im Grunde so etwas wie die „Permanenz des Unheils“ auch für die gesamte nachhistoristische Architekturentwicklung behauptet – hatte Julius Posener Mitte der 1970er Jahre entschieden Position bezogen. Als Architekt war Posener mit dem Neuen Bauen in der Weimarer Zeit unmittelbar befasst. Als Architekturhistoriker war er einer ihrer besten Kenner und Kritiker. Anlässlich eines denkwürdigen Symposions, das das International Design Zentrum (IDZ) im September 1974 in Berlin zum „Pathos des Funktionalismus“ veranstaltet hatte, verwies Posener auf eine seines Erachtens notwendige Differenzierung: „Die Kritiker des Funktionalismus blicken um sich, und was sie sehen, finden sie grauenhaft. Es ist grauenhaft. Sie verfolgen diese Architektur zu ihrer Quelle zurück: zum Bauhaus, zu den CIAM, zur Charta von Athen. Sie sehen da keinen Bruch. Aber wir sehen einen: den Bruch, der durch die Verjagung eingetreten ist. Man sollte auf jeden Fall die Frage stellen, ob der auferstandene Funktionalismus der gleiche sei wie der Funktionalismus, den man aus seinem Ursprungsland verwiesen habe“44. Dabei gibt Posener zu bedenken, dass, „wer etwas angreift, was der Nationalismus angegriffen hat, […] zum mindesten ein gewisses Unbehagen verspüren“ sollte.45 Walter Benjamin hat sich gegen derartige Angriffe der Nationalsozialisten zur Wehr gesetzt, indem er u.a. in seinen Schriften versuchte, revolutionäre Energien des Neuen Bauens in einer für ihn selbst schier ausweglosen Lage gegen den Faschismus und für die Erarbeitung einer materialistischen Kunsttheorie zu aktualisieren und damit, wie er hoffte, zu retten. Was Posener den Bruch nennt, ist Benjamin im Laufe der 1930er Jahre bis zu seinem Tode 1940 Gegenstand eigener und erschütternder Erfahrungen geworden. Sie hat er in seinen Schriften verarbeitet. Soweit nun darin Gedanken, in denen sich Benjamin im weitesten Sinn mit der Architektur seiner Zeit befasst hat, eine inhaltlich bedeutsame Rolle einnehmen, sind sie die Resultate eines Denkens, welches sich vor dem Erfahrungshintergrund einer fundamentalen geschichtlichen und persönlichen Krise radikalisiert und politisiert (faschistische Machtergreifung, Zerschlagung der Organisationsformen des Proletariats und die zerstörten Hoffnungen auf eine baldige revolutionäre Veränderung 44 Posener, Julius: Kritik der Kritik des Funktionalismus, in: Das Pathos des Funktionalismus. Werk-Archithese 3. März 1977, S. 16-22. 45 Ebd., S. 17. 191
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der kapitalistischen Gesellschaft, Benjamins Exilsituation). Dies erlaubt, immerhin eine authentische, wenn auch aus der Distanz versuchte Wertschätzung der sowohl politischen als auch ästhetischen Qualität des funktionalen Bauens für die Zeit des beginnenden und sich fortschreibenden, faschistisch betriebenen Bruchs zu gewinnen. Es geht zunächst nur um diese, vor ihrem historischen Hintergrund zu begreifende Einschätzung des Funktionalismus und um das vorläufige Abschätzen der Möglichkeiten ihrer Aktualisierung für eine Auseinandersetzung mit Architektur - auch aus architekturhistorischer Sicht. Der für diese Auseinandersetzung gewiss interessante Versuch der Abgrenzung vom wieder auferstandenen Funktionalismus der 1950er und 1960er Jahre, von dem Posener sprach, muss hier unberücksichtigt bleiben. Es sind die Glas- und Stahlbauten der 1920er Jahre, die Benjamin als das fortschrittlich-positive Verfahren gegenüber der in seinen Augen „verunglückten Rezeption der Technik“46 in den historischen Architekturbeispielen des 19. Jahrhunderts verstanden hat. Und es gilt auch bei einem solchen Vorgehen zu bedenken, dass die Architektur nicht selbst zu Wort kommen wird. Soweit wir darin Benjamin folgen, ist sie der Gegenstand und nicht Ausgangs- und Endpunkt von Überlegungen, in denen er sie in einen inhaltlichen Zusammenhang mit radikal experimentierenden, gedanklichen Konstruktionen stellt.
Straße und Interieur Was hat Benjamin der modernen Architektur an fortschrittlichen Inhalten abgewonnen und wie hat er sie in eine gegen den Faschismus gerichtete kunstpolitische Frontlinie gerückt? Wo liegen die für ihn ausschlaggebenden aktuellen Bezugspunkte, die ein derartiges Vorgehen und Vorhaben gerechtfertigt und notwendig erscheinen lassen? Wir wissen, dass sich Benjamin mit der sowjetischen Avantgarde, den Bedingungen des praktisch Werdens ihrer revolutionären sozialistischen Ziele und den daraus für die bürgerliche Kunstpraxis abzuleitenden Konsequenzen befasst hat. In dieser Verbindung scheinen mir Äußerungen von ihm, die sich auf seinen Aufenthalt in Moskau 1926/2747 beziehen, erste wichtige Hinweise für derartige Übertragungen zu geben. Von der Beschreibung seines Aufenthalts hat Benjamin gesagt, er habe darin versucht, diejenigen konkreten Lebenserscheinungen, die ihn „am
46 AN, S. 309. 47 GS, IV, 1, S. 316 ff. 192
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tiefsten betroffen haben, so wie sie sind und ohne theoretische Exkurse, wenn auch nicht ohne innere Stellungnahme, aufzuzeigen“48. Ihm war dabei bewusst, dass er an dem, was er in Moskau sah und hörte, „lange zu arbeiten haben“ werde, „bis es sich in mir irgendwie formt“49. In dieser Beschreibung hat Benjamin eine Erfahrung festgehalten, die seine Eindrücke im Erleben der neuen Wohnverhältnisse und ihrer Auswirkung auf das (Privat-)Leben der Moskauer Bevölkerung wiedergibt.50 Er ist dabei zu folgender Einschätzung gekommen: „Der Bolschewismus hat das Privatleben abgeschafft. Das Ämterwesen, der politische Betrieb, die Presse sind so mächtig, dass für Interessen, die mit ihnen nicht zusammenfließen, gar keine Zeit bleibt. Es bleibt auch kein Raum. Wohnungen, die früher in ihren fünf bis acht Zimmern eine einzige Familie aufnahmen, beherbergen jetzt oft deren acht. Durch die Flurtür tritt man in eine kleine Stadt. Schon im Vorraum kann man auf Betten stoßen. Zwischen vier Wänden wird nur kampiert, und meist ist das geringe Inventar nur Restbestand kleinbürgerlicher Habseligkeiten, die noch um vieles niederschlagender wirken, weil die Zimmer so dürftig möbliert sind. Zum kleinbürgerlichen Einrichtungsstil aber gehört das Komplette: Bilder müssen die Wände bedecken, Kissen das Sofa, Decken die Kissen, Nippes die Konsolen, bunte Scheiben die Fenster. (Solche Kleinbürgerzimmer sind Schlachtfelder, über die der Ansturm des Warenkapitals siegreich dahingegangen ist; es kann nichts Menschliches mehr da gedeihen.) Von alledem ist wahllos nur das eine oder das andere erhalten. Allwöchentlich werden die Möbel in den kahlen Zimmern umgestellt – das ist der einzige Luxus, den man mit ihnen sich gestattet, zugleich ein radikales Mittel, die ‚Gemütlichkeit‘ samt der Melancholie, mit der sie bezahlt wird, aus dem Haus zu vertreiben. Darinnen halten die Menschen das Dasein aus, weil sie durch ihre Lebensweise ihm entfremdet sind. Ihr Aufenthalt ist das Büro, der Klub, die Straße“.
Benjamin hatte die Bedeutung der Erlebnisse während seines kurzen Aufenthalts in Moskau für die eigene weitere Arbeit richtig eingeschätzt. Erfahrungen, wie die hier gemachten werden, in der Folgezeit von ihm verarbeitet. Dabei ist es Benjamins Interesse, die aus diesen Erfahrungen zu ziehenden Erkenntnisse zunehmend bürgerlichen Gewohnheiten und Verhaltensweisen gegenüberzustellen. Er unternimmt es schließlich, aus diesen selbst Erscheinungsformen herauszukristallisieren, die Momente eines Veränderungsprozesses in sich tragen, wie er ihn in Moskau kennengelernt hatte. So ist es meines Erachtens zu verstehen, wenn sich Benjamin nur wenige Jahre später (1929) erneut der Bedeutung der 48 GS, IV, 2, S. 989. 49 Ebd., S. 987. 50 GS, IV, 1, S. 327f. 193
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Straße zuwendet, um daran diesmal aber einer Veränderung nachzugehen, die traditionellen bürgerlichen Sehgewohnheiten und ästhetischen Verständigungsformen zu einer unangemessenen geworden ist. Ausgehend von einem Satz aus Franz Hessels Buch „Spazierengehen in Berlin“, – der die Berliner darin auffordert, ihre Stadt noch viel mehr zu bewohnen51 – beschreibt Benjamin die Bedeutung des Straßenraums für das „Wohnen“ der Masse. „Sie, die Straßen, sind ja die Wohnungen des ewig unruhigen, ewig bewegten Wesens, das zwischen Hausmauern so viel erlebt, erfährt, erkennt und ersinnt, wie das Individuum im Schutz seiner vier Wände. Der Masse [...] sind die glänzenden, emaillierten Firmenschilder so gut und besser ein Wandschmuck wie im Salon dem Burger ein Ölgemälde, Brandmauern ihr Schreibpult, Zeitungskioske ihre Bibliotheken, Briefkästen ihre Bronzen, Bänke ihr Boudoir und die Caféterrasse ihr Erker, von wo sie auf ihr Hauswesen herabsieht. Wo am Gitter Asphaltarbeiter den Rock hängen haben, ist ihr Vestibül und die Toreinfahrt, die aus der Flucht der Höfe ins Freie leitet, der Zugang in die 52 Kammern der Stadt“ .
Die Straßen sind in dem von Benjamin entworfenen Bild unter der Hand zum Maßstab von Räumen geworden, die in seinen Augen dem neuen Bedürfnis der Massen nach Verständigung eher entsprechen. Im bürgerlichen Interieur kann dieses Bedürfnis nicht länger seine Erfüllung finden. Die Anteilnahme der Massen setzt veränderte Maßstäbe, auch fürs Wohnen. Das Neue, welches sich hier ankündigt, wird zum Feind des nur Privaten im psychologischen Schutz seiner vier Wände. Dabei ist ebenso aufschlussreich die von Benjamin vorgenommene Umfunktionierung ehemals bürgerlicher Verständigungs- und Ausschlusssymbole und deren Neubestimmung durch das Verhalten der Massen. All die warenästhetischen Attribute und fetischisierten Raumdimensionen, die für die Konstituierung der Autonomie des bürgerlichen Subjekts im Verlauf des 19. Jahrhunderts so wichtig gewesen waren, werden nun in nahezu programmatischer Weise überflüssig. An ihre Stelle treten Räume und Objekte, denen deutlich organisierende Aufgaben zufallen. Benjamin begreift die Unvereinbarkeit des vereinsamt hinterm Schreibpult sich mitteilenden Individuums mit den Organisations- und Mitteilungsformen der sich der Tendenz nach solidarisierenden Massen. Deren politische Parolen sprengen das Interieur. Ihren adäquatesten Platz im Kampf um Rechte finden diese an den Mauern der Häuser. Es sind Mauern, die in ihrem unbearbeiteten und von bürgerlicher Ästhetik unberührten Zu51 AN, S. 416-421. 52 Ebd., S. 418. 194
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stand die Möglichkeit bieten, für die Verständigungsformen der sich organisierenden Massen eingesetzt zu werden. Es sind im Grunde die freien Flächen – ganz im Sinn der von Benjamin geforderten Armut –, die die Möglichkeit des Neuanfangs nicht unnötig verstellen.
D e s t r u k t i ve M o m e n t e u n d K o n s t r u k t i o n Die Entfremdung von der mit Melancholie bitter erkauften „Gemütlichkeit“ bürgerlicher Interieurs durch ein Dasein in „kahlen Zimmern“; eine Lebensweise, in der schließlich die Verständigungs- und Bewegungsformen der Straße viel wichtiger werden als alle bürgerlichen, letztlich privat gebliebenen Kulturgüter, weil darin Menschliches nicht mehr gedeihen könne – das alles meint im Grunde schon jenes später formulierte Bekenntnis Benjamins zur Erfahrungsarmut. Und es fragt nach der Gestalt einer Architektur, in der diese Armut benannt wird. Dabei wären nicht nur mit Blick auf die damals neuen Aufgaben der Architektur in der Sowjetunion nach der Oktoberrevolution, wie sie u. a. Lissitzky beschrieben hat53, grundsätzlich am inneren wie äußeren Aufbau der Bauten die entscheidenden Einsatzstellen freizulegen, an denen Benjamin glaubte erkannt zu haben, dass zukünftig eine andere, nämlich organisierende Funktion der Architektur nötig sein werde. In ihr sollte das zur Praxis werden, was bürgerliche Architektur in der Vergangenheit weder zustande gebracht noch wirklich gewollt hatte: Dass die mit den Bauten eigentlich befassten, die in ihnen sich das Leben organisierenden Menschen darin sich in gemeinschaftlicher Aktivität selbst den Ausdruck werden verschaffen können, der ihren Lebensinteressen angemessen ist. Für den professionell mit Architektur Befassten hätte das heißen müssen, sich über seine Stellung als Architekt im Produktionsprozess ohne jedwede Illusion Klarheit zu verschaffen, um zu begreifen, wo und auf wessen Seite er im Kampf um eine menschenwürdige Architektur steht.54 Bezogen auf Benjamins Thesen über eine materialistische Kunsttheorie und deren Praxis entspräche dieser radikale Bruch mit tradierten Vorstellungen der schon im Laufe des 19. Jahrhunderts unverkennbaren Rückständigkeit der Rolle der autonom behandelten ästhetischen Form in der bürgerlichen Architektur gegenüber ihren neuen und vorrangig sozialen Aufgaben in der Massengesellschaft. Im Historismus war es die 53 EI Lissitzky: 1929 Rußland. Architektur für eine Weltrevolution, Berlin/ Frankfurt/M./Wien: 1965. 54 VüB, S. 95ff. 195
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Kunstform (vorrangig das Ornament), welche gegenüber der sogenannten Kernform (Konstruktion) in tradierter Weise den Werkcharakter der Bauten festlegte und ihn beziehungsreich nach außen trug. Die Krise, in die auch die Architektur in diesem Selbstverständnis in der Spätphase des 19. Jahrhunderts geriet, setzte diesen an der Autonomie der Form gebildeten Werkbegriff außer Kraft. Es ist die ästhetische Einzelform, die in der bürgerlichen Architektur im 19. Jahrhundert den Schein des Auratischen, des Einmaligen und Kunstschönen verkörpert. Die Zerstörung der Ornamente als Auraträger findet allerdings durch massenhafte Vervielfältigung und Verwendung (sie bricht selbst in den proletarischen Lebenszusammenhang ein) gleichzeitig statt. Die Konsequenzen, die schließlich die Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus diesem Umschlag des einmaligen in das Gleichartige zu ziehen weiß, wenden sich zunächst gegen alle Versuche einer Wiederherstellung des traditionellen Werkbegriffs. Nicht das ästhetische Einzelne und Einzigartige steht mehr zur Debatte. Weit eher gründet der neue Werkbegriff in der funktionalen Architektur auf ihren neuen technischen Verfahrensweisen und dem jetzt für möglich gehaltenen aktiven, gemeinsamen Umgang der Menschen mit ihren Bauten. Es ist eine Veränderung, die den gesamten Prozess der Planung erfasst. Und spätestens jetzt konnte der Anteil des Ästhetischen in Gestalt einer im Grunde fiktiven und von der Alltagspraxis abgehobenen Formsprache an und in der Architektur nicht länger glaubhaft als ein Apriori behauptet werden. Ich gehe davon aus, dass Benjamin in diesem Wandel der bürgerlichen Architektur innerhalb des avantgardistischen Bauens die wichtigste, weil zugleich folgenreichste Entwicklungstendenz gesehen hat. Von ihr ausgehend dachte er sich eine Architekturpraxis und ein Leben in Architektur, welche von veralteten bürgerlichen Maßstäben nichts mehr erkennen lassen. Dazu lassen sich bei ihm zwei Einschätzungen im Sinne sich ergänzender kulturpolitischer Strategien herauslesen. Benjamin hat die Bedingungen zu bestimmen versucht, unter denen der Intellektuelle, der seine Arbeit in den Dienst der Sache des Proletariats stellt, den Kampf mit diesem führen kann – er also zu einer „vermittelnden Wirksamkeit“ in seiner Tätigkeit kommt. Sie soll ihn von jener rein destruktiven Aufgabe befreien, nur Verräter an der eigenen Ursprungsklasse zu sein.55 In diesem Zusammenhang sind Ansätze bei Benjamin zu interpretieren, an der zeitgenössischen, modernen Architektur solche Gestaltungs- und Rezeptionsweisen deutlich hervorzukehren, die sie sowohl für eine weitere Verwendung im bürgerlichen Sinn unbrauchbar machen als auch für eine davon unterschiedliche Verstän55 VüB, S. 114f. 196
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digungsform brauchbar werden lassen. Dieses Verfahren wird durch Anstrengungen ergänzt, das destruktive Moment für die Dialektik in der unmittelbar geführten Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen und historisch gewordenen Architekturpraxis als ein konstruktives Moment zu retten.
R e z e p t i ve E i g e n s c h a f t e n Benjamin hat in verschiedenen Aufsätzen, in Rezensionen und Kritiken seine Erfahrungen im Umgang mit Architektur thematisiert. Er hat Architektur dabei auch in Beziehung zu den von ihm erarbeiteten „Thesen über die Entwicklungstendenzen der Kunst unter den gegenwärtigen Produktionsbedingungen“56 gestellt. Es sind dies Thesen, von denen Benjamin bekanntlich überzeugt war, dass die in ihnen eingeführten Begriffe einen Kampfwert darin besitzen, dass sie „für die Zwecke des Faschismus vollkommen unbrauchbar sind. Dagegen sind sie zur Formulierung revolutionärer Forderungen in der Kunstpolitik brauchbar“57. Suchen wir in diesem, für einen Aktualisierungsversuch zentralen Zusammenhang nach den kategorialen und thematischen Anknüpfungspunkten, von denen aus Benjamin Beziehungen zur Architektur herstellt, so ist es hier die an der Architektur sich bildende Rezeption. Von ihr sagt Benjamin, dass sie „unter gewissen Umständen kanonischen Wert“ besitzt.58 Was haben wir darunter zu verstehen und was folgt daraus für die Architektur? Benjamin hat im „Kunstwerkaufsatz“ sein besonderes Augenmerk auf die Bewegungsformen und das Zustandekommen der Kollektivrezeption gerichtet. Es ist dabei seine Absicht, jene im Zusammenhang mit einer nüchternen Einschätzung der Bedingungen zu analysieren, unter denen eine politische Selbsterfahrung der Massen im Hinblick auf das Zustandekommen revolutionärer Massenaktionen möglich wird. Benjamin scheint davon überzeugt, dass die Kollektivrezeption in der Zerstreuung – gegenüber der bürgerlichen Wahrnehmungsform des SichVersenkens, das „in der Entartung des Bürgertums eine Schule asozialen 56 Ill., S. 149. Detlev Schöttker spricht von einer bereits zur Mitte der 1920er Jahre bei Benjamin ausgeprägten „Sensibilität für den mentalen Status der Architektur“ (Schöttker, Detlev: Konstruktiver Fragmentarismus. Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins, Frankfurt/M.: 1999, S. 146). Zu Benjamins Nähe zum Konstruktivismus, auch und gerade unterm Einfluss der Architektur, ebd., S. 156ff. 57 Ill., ebd. 58 Ebd., S. 173f. 197
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Verhaltens“ geworden war59 – zu einem wichtigen Mittel werden könnte, um die Selbstkontrolle und die Selbstverständigung der Masse mit herbeizuführen und sie darüber hinaus zu stützen.60 Was nun den entscheidenden produktiven Anteil der Architekten im Rahmen dieses organisierenden Prozesses angeht, so erkennt Benjamin, dass „ihre Wirkung sich zu vergegenwärtigen, von Bedeutung für jeden Versuch [ist], vom Verhältnis der Massen zum Kunstwerk sich Rechenschaft abzulegen“. Denn die „Architektur war von jeher der Prototyp eines Kunstwerks, dessen Rezeption in der Zerstreuung und durch das Kollektiv erfolgt“61. Benjamin hatte ganz richtig gesehen, dass die Bauten „auf doppelte Art rezipiert [werden]: Durch den Gebrauch und durch Wahrnehmung. Oder besser gesagt: taktil und optisch“62. Dabei erfolge die taktile Rezeption, die die optische sogar weitgehend bestimmt, „nicht sowohl auf dem Weg der Aufmerksamkeit als auf dem der Gewohnheit“. Schließlich seien die Aufgaben, „welche in geschichtlichen Wendezeiten dem menschlichen Wahrnehmungsapparat gestellt werden, [...] auf dem Wege der bloßen Optik, also der Kontemplation, gar nicht zu lösen. Sie werden allmählich nach Anleitung der taktilen Rezeption, durch Gewöhnung, bewältigt“63. Ein in diesem Sinn wichtiges Übungsinstrument besitze die Rezeption in der Zerstreuung – neben dem Film – in der Architektur. Benjamin macht sich hier ein Begriffspaar aus der nur wenige Jahrzehnte zurückliegenden kunstwissenschaftlichen Theoriebildung zu eigen: Optisch und Taktil.64 Er tut das in der Absicht, aus den Formen und Gesetzmäßigkeiten der am Film entwickelten „simultanen Kollektivrezeption“ gewisse Ansprüche an die Kunst-, hier die Architekturpraxis abzuleiten. Sie soll – wie im Fall der Architektur die taktile – die mittlerweile bewusst gewordenen Voraussetzungen der Rezeptionsweise immer schon mitverarbeitet haben. Und zwar so, dass sie den Vorgängen der geforderten Selbstverständigung der Massen angemessen ist. Wenn wir also danach fragen, wo für Benjamin in der Architektur die besondere Bedeutung ihres „Ausstellungswerts“ (im übertragenen Sinn als
59 Ebd., S. 171. 60 Siehe dazu Lethen, Helmut: Neue Sachlichkeit 1924-1932, Stuttgart: 1970, S. 127ff. 61 Ill., S. 173. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 174. 64 Vgl. Verspohl, Franz-Joachim: „Optische“ und „taktile“ Funktion von Kunst. Der Wandel des Kunstbegriffs im Zeitalter der massenhaften Rezeption, in : Kritische Berichte. 3. Jg., Heft 1/ 1975, S. 24-43. 198
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Kampfwert) begründet liegt und wie sich dieser, und zu welchem Zweck, für die mit den Bauten umgehenden Menschen vermittelt, dann sicherlich in der Möglichkeit, unter Anleitung der Architektur zu Formen gemeinsamen Erlebens, Handelns, zu Praxis schlechthin zu kommen; und das unter bewusster Ausnutzung und Weiterführung ihrer spezifischen Wahrnehmungsqualitäten. Den architektonischen Handlungsraum müssten wir in diesem Sinn als einen in letzter Konsequenz kollektiven Erfahrungsraum begreifen. Und hier sehe ich auch eine Verbindung zu Benjamins Anspruch an den operativ eingreifenden und sich seiner vermittelnden Wirksamkeit im Klassenkampf bewussten Künstler, dessen Produkte „neben und vor ihrem Werkcharakter eine organisierende Funktion besitzen“65. In den neuen Bauten, an denen der Werkbegriff traditioneller Herkunft zerstört wurde, wird zur Voraussetzung ihrer „organisierenden Funktion“, dass an ihnen das taktile Moment zum Zweck der Selbstorganisation und Selbstverständigung der in diesen Bauten lebenden Menschen konstruktiv herausgearbeitet wird. Es ist eine neue Architektur, die wie ein neues Sinnesorgan den Menschen neue Erlebnisbereiche aufschließt; eine Architektur kollektiver Rezeption, eine Architektur, die anleitet. Indem Benjamin diese bedeutende Eigenschaft der Architektur an exponierter Stelle innerhalb des „Kunstwerkaufsatzes“ hervorhebt, radikalisiert und aktualisiert er ein bis dahin in der kunstwissenschaftlichen Forschung eher abstrakt gehandeltes Theorem. Er sprengt es gewissermaßen aus seinem kunstwissenschaftlichen Erkenntniskontinuum und setzt es in einen die architektonische Praxis mit verändernden politischen Sinnzusammenhang, der sich in seinen kunstpolitischen Zielsetzungen praktisch versteht.
Erfahrung mit Geschichte Benjamin hat einen konkreten Begriff von den praktischen und ästhetisch-gestalterischen Bedingungen und Möglichkeiten einer Architektur, die die taktile Rezeption bereits thematisiert, an den modernen Bauten seiner Zeit gewonnen, an ihren neuen Materialien und ihrer Technologie (serielle Plattenbauweise, „Frankfurter Häuserfabrik“, Stahl-Skelettkonstruktion). Benjamin hat diese Bauten äußerst ernst genommen. Und er wusste sicherlich – wie im Fall der Literatur der Neuen Sachlichkeit – zu unterscheiden, inwieweit auch in den neuen Bauten mit der formalen Armut ein „großer Aufwand“ und aus ihrer „gähnenden Leere ein Fest“ 65 VüB, S. 110. 199
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gemacht wurde.66 Ebenfalls dürfte für Benjamin auszuschließen sein, dass er einem fortschrittsgläubigen Begriff von moderner Architektur gefolgt ist. Dafür hat er zu oft davor gewarnt, „in der Entwicklung der Technik nur die Fortschritte der Naturwissenschaft, nicht die Rückschritte der Gesellschaft [zu] erkennen“67. Doch das ist es nicht, was an dieser Stelle zunächst interessiert. Es ist etwas anderes. Wenn wir uns nämlich an das zu Anfang ausgeführte Phänomen gegenwärtiger Aktualisierung des Historismus in Gestalt der Bauten und Innenräume (samt ihrem Mobiliar) erinnern, so werden wir uns bzw. Benjamin fragen müssen, wie wir uns diesen Bauten gegenüber verhalten sollen. Ginge ein neuerlicher Versuch der Anknüpfung an eine Architekturpraxis, die durch das Bekenntnis zur Erfahrungsarmut bestimmt wird, nicht notwendig einher mit der Preisgabe der kulturellen Formen, in denen seit dem Historismus die Kulturgüter als Erbe begriffen und ästhetisch angeeignet wurden, sodass ein tiefer Gegensatz zwischen Geschichtserfahrung und Erfahrungsarmut entstehen konnte? Und müsste nicht ein „musealer Bildungsbegriff“, den die Kunstgeschichte, wenn auch nach langem Zögern, nun in gleicher Weise an die Erkenntnis der historischen Kulturgüter heranträgt, aufgegeben werden? Benjamin selbst hat darauf hingewiesen, dass es nicht genügt, die Werke „im Zusammenhang ihrer Zeit darzustellen, sondern in der Zeit, da sie entstanden, die, die sie erkennt – das ist die unsere – zur Darstellung zu bringen“68. Es kommt ihm auf die „Aktualisierung der Gegenwart im Vergangenen“ an, also auf die Rettung von Geschichte im Hinblick auf gegenwärtiges Denken und Handeln. Während der Historismus „das ewige Bild der Vergangenheit“ darstellt, wird es zur Aufgabe des historischen Materialismus, die „Erfahrung mit der Geschichte ins Werk zu setzen“69. Diese Forderung Benjamins wäre für die Architektur ins Praktische zu übertragen. Die Frage würde sich dann so stellen: Wie muss eine Gesellschaft beschaffen sein, damit die Erfahrung mit der Geschichte auch in das Werk real erscheinender Architektur einfließen kann, ohne dass sie erneut Träger vergangener Bilder wird? Hat es tatsächlich in den 1920er Jahren Möglichkeiten gegeben – und gibt es sie gegenwärtig – in und an den Bauten schon etwas von jener historischen Erfahrung wirksam werden zu lassen, so dass über den alleinigen radikalen Bruch mit der Geschichte ihre Rettung als Erkenntnismedium vorbereitet würde? Bislang ungeklärt geblieben ist, ob sich – hinsichtlich
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Ebd., S. 109. AN, S. 309; vgl. auch GS, IV, S. 147 und Ill., S. 175f. GS, III, S. 290. AN, S. 304.
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der Herstellung wirksamer Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart, hier zwischen Historismus und Funktionalismus – praktisch zu beschreitende Wege eröffnen. Wohl ließ Benjamin selbst keinen Zweifel daran, dass nur der, in dem sich das Neue „sehr deutlich ankündigt“, auch einen originalen und frühen Blick auf die eben erst alten Bauformen des 19. Jahrhunderts mit seinen „letzten Denkmalen einer alten Wohnkultur“ tun kann70. Das Neue schließt demzufolge die Perspektiven der Rettung und Aktualisierung auch solcher Geschichtserfahrungen nicht aus – es wird sogar zu deren Voraussetzung. Dennoch spricht manches dafür, dass gerade in der Architektur der damalige radikale Bruch, wie ihn die Avantgarden herbeigeführt haben, auf nicht absehbare Zeit das praktische Äquivalent zu einer dialektischen Darstellung und Entschlüsselung der Bilder ihrer Vergangenheit in der Theorie bleiben wird.
Z e i t e nw e n d e Ausdrücklich begrüßt hat Benjamin die Gestalt der neuen Räume, in denen dieser radikale Bruch mit dem Vergangenen bereits realisiert schien. Benjamin spricht von ihnen als von verschiebbaren, beweglichen Glashäusern die, wie alle Dinge aus Glas, keine Aura (!) mehr besäßen.71 Von der von ihnen ausgehenden Wirkung auf die Veränderung der Lebensgewohnheiten war er überzeugt. Ein wichtiges Indiz für diese Veränderung sei darin zu sehen, dass es in den neuen, transparenten Raumgebilden – ganz im Gegensatz zum bourgeoisen Interieur der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts – schwer falle, noch „Spuren zu hinterlassen“72. Benjamin hatte schon vorher von einer Zeitwende gesprochen. In ihrer Signatur stehe, dass dem „Wohnen im alten Sinne, dem die Geborgenheit an erster Stelle stand, die Stunde geschlagen hat“73. So hätten Architekten, wie Le Corbusier und Erich Mendelsohn, „den Aufenthaltsort von Menschen vor allem zum Durchgangsraum aller erdenklichen Kräfte und Wellen von Licht und Luft“ gemacht. „Was kommt“, so Benjamins Prophezeiung 1929, „steht im Zeichen der Transparenz“74. Transparent sind die Bauten in einer Gesellschaft, die „sich anschickt, Häuser mit gläsernen Wänden zu bauen, deren Terrassen sich tief in die 70 71 72 73 74
Ebd., S. 419. Ill., S. 316. Ebd., S. 317. AN, S. 419. Ebd. 201
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Stuben hinein ziehen, die nun schon keine Stuben mehr sind“75. Überdies begreift Benjamin das Glas, das Material, das diesen Häusern ihren Charakter verleiht, als den Feind des Geheimnisses und als Feind von jeglichem Besitz.76 Diese Eigenschaft des neuen Materials steht ganz im Gegensatz zum Wesen des bürgerlichen Interieurs. Wo nämlich in ihm Spuren in reichhaltiger Menge zurückgelassen werden, da verweisen sie ausdrücklich auf den Besitz von Dingen. Sie zeigen dem, der solche Räume fremd betritt, dass er darin nichts zu suchen hat. Benjamin kann sich dieses Eindrucks nicht erwehren. Das Interieur ist ihm ein Ort, wo sich kein Fleck finden lässt, „auf dem nicht der Bewohner seine Spur schon hinterlassen hätte; „auf den Gesimsen durch Nippessachen, auf dem Polstersessel durch Deckchen, auf den Fenstern durch Transparente, vor dem Kamin durch den Ofenschirm“77. Benjamin hat einmal das „Wissen vom Wohnen“ die „vollendete Kunst des Flaneurs“ genannt.78 Er lässt dabei erkennen, wie wichtig es ist, das Gehäuse eines Menschen entziffern zu können, „von dem man genau die Figur dessen abliest, der es bewohnt“79. Zwischen dem Einzelnen und dem Raum, in dem dieser lebt, gibt es demzufolge sinnhafte Bezüge, denen Benjamin positiven Erkenntniswert beimisst. Deshalb also, und nicht aus Gründen grundsätzlicher Abneigung gegen Räume, in denen sich Spuren finden, greift Benjamin das historistische Interieur an. In ihm wenden sich die Spuren gegen den Menschen. Das Interieur nötigt seinen Bewohner, „das Höchstmaß an Gewohnheiten anzunehmen, Gewohnheiten, die mehr dem Interieur, in welchem er lebt, als ihm selber gerecht werden“80. Handlung ist hier durch das Arrangement der Möbelstücke und der Gebrauchsgegenstände den Individuen vorgeschrieben. Die Anordnung der Möbel besitzt den Charakter eines Lageplans.81 Eingreifende Veränderungen, wie sie sich am Gebrauchen orientieren, sind dann verwehrt. Dies aber fordert Benjamin vom Wohnen. Er will, dass die Gegenstände des tagtäglichen Gebrauchs „nicht allein die Stelle, die sie gerade haben, sichtbar haben, sondern Raum, die immer neuen Stellen einzunehmen, an die sie gerufen werden“82. Benjamin hatte dies im Wohnraum des süditalienischen Bauern erfahren, eine Erfahrung, die in gewisser Weise an seine Beobachtungen in Moskauer Wohnungen
75 76 77 78 79 80 81 82
Ill., S. 382. Ebd., S. 316. Ebd. AN, S. 418. Ebd. Ebd., S. 317. GS, IV, 1, S. 88. Ebd., S. 404.
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anknüpft. Er macht sie zum Maßstab seiner Charakterisierung der radikalen Änderung des bürgerlichen Wohnens, damit darin eine vom Gebrauch ausgehende Erfahrung wirksam werden kann.
Raum und Subjekt Von der damaligen Raumtheorie der Avantgarde aus betrachtet, berührt sich Benjamins Vorstellung an dieser Stelle eng mit der ästhetischen Programmatik des Raums auf der Grundlage von Konstruktion und Montage. Jene gründet zunächst auf der Tatsache, dass sich das konstruktivistische Prinzip in der Architektur historisch in dem Augenblick als die notwendige Bedingung ihrer weiteren Entwicklung bestimmen lässt, als mit Beginn des 20. Jahrhunderts die sogenannten „künstlichen Basismaterialien“83 Montageformen auch deshalb ermöglichen, weil sie eine funktionelle Natur aufweisen. In Fertigteilen nimmt diese materielle Notwendigkeit an.84 Die Architektur wird im Laufe der 1920er Jahre zu einer Montage aus Glas. Stahl und seriell gefertigten Bauteilen. Das konstruktive Prinzip der Bauten kann an ihnen zur Anschauung gebracht werden. Technisch bedingte Formen unterliegen dem konstruktiven Prinzip als der notwendigen Bedingung jeder weiteren Entwicklung. Jene sind als abhängige Variable zu verstehen. Sie zu „Konstanten zu machen“, wie es sowohl der Jugendstil als auch der Futurismus versuchten, lehnt Benjamin als „reaktionäre Versuche“85 entschieden ab. Die funktionale Natur der neuen Bauten und ihrer Materialien und beider unmittelbare Nähe zur materialen Notwendigkeit untersucht Benjamin, wenn er, Majakowski zitierend, fordert: „Der Stahl der Wolkenkratzer verlangt nicht kontemplative Versenkung, sondern entschlossene Verwertung im Wohnungsbau“86. Diese Haltung Majakowskis nennt Benjamin würdig und nüchtern. Der kenntlich gemachte Funktionscharakter der Technik ist ihm der adäquate Ausdruck einer geschichtlichen Bewegung, die die 83 Benjamin nennt das Eisen und das Glas Materialien, die das 19. Jahrhundert in den großen Passagen bauten und den Glaspalästen, den Maschinenund Bahnhofshallen kannte. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen „für deren gesteigerte Verwendung als Baustoff“ finden sich, so Benjamin, „erst hundert Jahre später“ (Ill., S. 186). 84 Vgl. Hillach, Ansgar: Allegorie, Bildraum. Montage. Versuch, einen Begriff avantgardistischer Montage aus Benjamins Schriften zu begründen, in: Lüdtke, Martin (Hg.):„Theorie der Avantgarde“. Antworten auf Peter Bürgers Bestimmung von Kunst und bürgerlicher Gesellschaft, Frankfurt/ M.: 1976, S. 140. 85 Ill., S. 260. 86 AN, S. 512. 203
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Sache des Proletariats ist. In der neuen Architektur kommt sie zum Ausdruck. Deshalb hat auch Benjamin denen, die die damalige gesellschaftliche Krise des Kapitalismus „unter Beibehaltung der Privilegien zu lösen“ gedachten, vorgehalten, sie hätten „viel Interesse daran, den Funktionscharakter der Technik so unkenntlich wie möglich zu machen“87. Am auffälligsten geschehe das im Faschismus, da man sich bemüht, den „funktionalen Charakter der Kunst derart einzuschränken, dass keine verändernde Einwirkung auf die Klassenlage des Proletariats von ihr zu befürchten ist“88. Es sei stattdessen das Bestreben des Faschismus, „der Technik einen ‚monumentalen’ Aspekt abzugewinnen“89. Auch der Innenraum erhält den außen sichtbaren Montagecharakter. Er ist, wie Lissitzky 1923 demonstriert hatte, „gestaltet mit elementaren Formen und Materialien“90. Wörtlich heißt es von der Gestaltung der Wandfläche, sie werde jetzt nur noch organisiert. Doch sei ihre Organisation nicht als „Bild-Bemalung aufzufassen“: Denn der „Raum ist nicht für die Augen da, ist kein Bild: man will darin leben“91 Deshalb wird die Wand als „Ruhebett für ihre Bilder“ zerstört. Und will man sich dennoch
Abb. 2: El Lissitzky (1890-1941) „im geschlossenen Raum die Illusion des Lebens verschaffen“, so schlägt Lissitzky vor, es folgendermaßen zu machen: 87 88 89 90 91
GS, III, S. 490. Ebd., S. 488f. AN, S. 512. EI Lissitzky: 1929, Russland, S. 119. Ebd., S. 118.
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„Ich hänge an die Wand die Glasscheibe, dahinter keine Leinwand, sondern eine periskopische Vorrichtung, die mir in jedem Augenblick die wirklichen Vorgänge in ihrer wirklichen Farbe und realen Bewegung zeigt. Das Gleichgewicht, das ich im Raum erreichen will, muss beweglich und elementar sein. Der Raum ist für den Menschen da – nicht der Mensch für den Raum“ 92.
Die praktisch-räumlichen Voraussetzungen für ein solches Leben schafft der nüchterne, in seinen Mitteln bescheiden ausgestaltete funktionale Bau. In ihm fehlt – durchaus zu vergleichen mit der Konstruktion des epischen Theaters Brechts – die Geste „weitausgreifender Handlungen“93, das Pathos historischer Bezüge, von dem das bürgerliche Interieur überzuquellen drohte. Kein Wunder, wenn deshalb die Gegenstände in den nüchternen Zimmern den Eindruck hinterlassen, als seien sie darin nur montiert. Die Stellen, die sie einnehmen, sind vorläufige, da sie an die Zwecke gebunden sind. Unterbrechungen erfahren die räumlichen Arrangements immer wieder dadurch, dass der Umgang mit den Gegenständen des Gebrauchs selbst unterbrochen und verändert werden kann. Unterbrechung, Montage und die Erneuerung des Gebrauchswerts hängen eng zusammen. Der Liebhaberwert, der den Gegenständen im historistischen Interieur anhaftet94, weicht in Benjamins Bauvorstellung dem Gebrauchswert der Dinge. So sind die Räume, wie sie in einem bestimmten Augenblick wahrgenommen werden, das „erstarrte Momentbild eines Prozesses“95. Lissitzky spricht von der RaumMontage als der jeweiligen „Haltestelle des Werdens“, die niemals das „erstarrte Ziel“ von Denken und Handeln sein könne. Demgegenüber produziert das historistische Interieur das Bild einer einmalig erstarrten Bewegung: Geschichte ist in ihm zum Stillstand gebracht. Zu Recht befürchtet Benjamin in solchen Räumen das „Erlahmen gesellschaftlicher Phantasie“96. Und es ist das Gleiche, wenn er davon spricht, dass diese Räume „adäquat allein der Leiche zur Behausung“ werden97 oder wenn Lissitzky fordert: „Wir wollen den Raum als ausgemalten Sarg für unseren lebenden Körper nicht mehr“98. Der Vergleich des neuen Wohnens mit der Darstellungsform, die Benjamin als charakteristisch für das epische Theater beschrieben hat,
92 93 94 95 96 97 98
Ebd., S. 120. VüB, S. 113. Ill., S. 194. Lissitzky: 1929, Rußland, S. 121. Ill., S. 249. GS, IV, 1, S. 89. Lissitzky: 1929, Rußland. 205
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scheint noch einmal sinnvoll. Denn wie auch hier, so sind im Wohnraum die Mittel und Zwecke „bescheidener“ geworden. Vor allem sehen es beide weniger darauf ab, den Menschen mit Gefühlen „zu erfüllen“, als ihn „auf nachhaltige Art, durch Denken, den Zuständen zu entfremden, in denen [er] lebt“99. So wird der kahle, der Erfahrungsarmut adäquat ausgestaltete Raum das – wenn auch ärmliche – Podium für Handlungen. Im Mittelpunkt dieser Handlungen steht einzig und allein der Mensch. Und Benjamin ist ohne jede Illusion darüber, dass dieser heutige Mensch „ein reduzierter in einer kalten Umwelt kaltgestellter“ Mensch ist.100
Abb. 3: Erich Consemüller: Bauhaus-Studentin mit Schlemmer-Maske in Breuer-Stuhl, um 1927.
D a s M e n s c h l i c h e i n d e r Ar c h i t e k t u r Doch können wir so ohne Weiteres davon ausgehen, dass dieser Mensch, von dem da die Rede ist, auch genügend Kraft besitzt. um in spurenlosen Räumen einer ihrer Aura beraubten Architektur sich selbst spurenlos fürs Erste neu einzurichten? Hier sind Zweifel angebracht.
99 VüB, S. 113. 100 Ebd. 206
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Doch soweit es Benjamin betrifft, hat er sich diese Frage später nicht mehr gestellt. In Moskau, wo er vergleichbare Lebensumstände vorgefunden hatte, war ihm als „Außenseiter“ noch bewusst geworden, wie schwer das Dasein dort als „Müßiggänger“ zu ertragen ist, „weil es in jedem mindesten Detail schön und verständlich nur durch Arbeit wird. Eigene Gedanken in ein vorgegebenes Kraftfeld einzutragen, ein wenn auch noch so virtuelles Mandat, organisierter, garantierter Kontakt mit Genossen – daran ist dieses Leben so sehr gebunden, dass, wer darauf verzichtet, oder es sich nicht beschaffen kann, geistig verkommt, als säße er in jahrelanger Einzelhaft“101. Jetzt aber, angesichts der faschistischen Herrschaft, gilt für Benjamin, dass es in dem besonderen Fall der Architektur und dem unter ihrer Anleitung sich formenden Dasein für den Neuanfang des Menschwerdens für die Architektur keine andere Alternative mehr gibt als einzig die: In Räumen, die gereinigt sind von den Spuren fälschlich angeeigneter Geschichte, den dialektischen Realraum zu schaffen, worin grobsinnlich eine vorurteilslose Aufarbeitung und Darstellung der Erfahrung mit der Geschichte voranschreiten könne. Dies geschieht in Räumen, in denen rückhaltlose, nüchterne Besinnung auf das noch vorhandene Erfahrungs- und Phantasiepotential des positiven Barbarentums unbehindert ablaufen kann. Es sind dabei aber auch Räume, und sie sind es im Bürgertum in erster Linie, in denen der Mensch seine Isolierung und Selbstentfremdung erfahren wird. Ersatz bieten die Räume keinen mehr. Was uns heute als Ausdruck gewollter „ästhetischer Haltung“102 erscheinen mag, wird erst verständlich, wenn wir uns erneut die Ausgangssituation vor Augen führen, von der Benjamin sich zu solch radikaler Position herausgefordert sah. Denn es gilt hier ganz besonders zu berücksichtigen, dass er hatte mit ansehen müssen, auf welche inhumane und zerstörerische Weise die Selbstzerstörung der Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft einen Grad erreichen konnte, „der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuss ersten Ranges erleben lässt“103. Unterm Faschismus war diese vom Futurismus vorbereitete Pervertierung der Beziehung der Menschen zueinander und zur Natur so weit gediehen, dass jener „die künstlerische Befriedigung der von der Technik veränderten Sinneswahrnehmung vom Kriege“104 erwartete. Angesichts dieser Katastrophe sieht Benjamin für die Rettung der unmittelbaren Vergangenheit der Inhalte des noch erlebten späten 19. Jahrhunderts,
101 102 103 104
GS, IV, 1, S. 327. GS, II, 3, S. 112. Ill., S. 176. Ebd. 207
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wie überhaupt für die Rettung tradierter Erfahrung, keinen weiteren Platz (Raum) mehr. Denn wenn „die Menschen nicht mehr den Weg zueinander finden, bilden die Unmenschen ein Kollektiv; sie geben sich ihre Verfassung, bauen sich ihre Häuser, erziehen einander ihre Kinder. Und alles, was im Einzeldasein falsche Humanität wäre, Lüge und Elend, haben in jenem Kollektiv so sehr ihren Ort, dass 105 sie richtig werden“ .
Dabei werden das Menschliche und der Mensch auch in der Architektur vernichtet, „ganz genau in dem Sinne, in welchem sie ans Ornament gebunden, in allen ihren Lebensäußerungen mit ihm verschmolzen“106 waren. Dem fügt sich bruchlos eine Erinnerung Benjamins an das für Handlung Ersatz bietende Interieur des 19. Jahrhunderts ein: Dass er darin nämlich als Kind fürchtete zu ersticken.107 Nun wissen wir gerade auch durch Benjamin von der erinnerten Besonderheit solcher Räume. Von ihr ist dort die Rede, wo er äußerst einfühlsam von dem andächtigen Staunen des Kindes angesichts eines Bücherschranks erzählt, jenem „sonderbaren Möbel“, dessen Fassade man nicht ansehen konnte, „dass es Bücher beherbergte“108. Oder: Von der Möglichkeit, sich als Kind eingeschlossen zu fühlen in die Stoffwelt dieser Räume mit ihren vielen Verstecken, wo das Kind den Esstisch, unter den es sich kauert, „zum hölzernen Idol des Tempels“ werden lässt, „wo die geschnitzten Beine die vier Säulen sind“, und wo es sich, „für immer als Gespenst in der Gardine verweben, auf Lebenszeit sich in die schwere Türe bannen“ konnte109. Wenn diesen Erinnerungen eine nicht nur besinnend zurückschauende, sondern eine sie rettende Bedeutung zufallen soll, wo wäre dann für sie in den neuen und spurenlos gewordenen Räumen ein geeigneter Platz? Was wird aus derartigen Kindererfahrun105 GS, II ,3, S. 1113. 106 Ebd., S. 1112. 107 Vgl. GS, IV, 1, S. 478. In diesem Sinn liest sich auch Benjamins Beschreibung eines Kinderbildes von Kafka, auf dem wie selten die „arme kurze Kindheit“ ergreifendes Bild geworden sei. „Es stammt wohl aus einem jener Ateliers des 19. Jahrhunderts, die mit ihren Draperien und Palmen, Gobelins und Staffeleien so zweideutig zwischen Folterkammer und Thronsaal standen. Da stellt sich in einem engen, gleichsam demütigenden, mit Posamenten überladenen Kinderanzug der ungefähr sechsjährige Knabe in einer Art von Wintergartenlandschaft dar [...]. Unermesslich traurige Augen beherrschen die ihnen vorbestimmte Landschaft [...]“. (GS, II, 2, S. 416). 108 GS, IV, 1, S. 285. 109 Ebd., S. 115f. und S. 253f. 208
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gen? Adorno hat sie in seiner Funktionalismuskritik als „die Sehnsucht nach dem Schloss mit langen Zimmerfluchten und seidenen Tapeten, der Utopie des Entronnenseins“ beschrieben. Er hat darin zugleich ein Monument des „Schauderns vor der Gewalt“ gesehen, „die eine irrationale Gesellschaft ihren Zwangsmitgliedern antut und allem, was ist“110. Von Adolf Loos, dem Wiener Architekten, Kulturkritiker und Gegner des Ornaments, sagt Adorno in diesem Zusammenhang, dass jenem solche Erfahrungen fremd gewesen zu sein“ scheinen. Was mag dann aber Benjamin, der sich immer wieder mit den Erfahrungen und Ereignissen der eigenen Berliner Kindheit erinnernd auseinandergesetzt hat, veranlasst haben, in seinen, insbesondere späteren Arbeiten (etwa seit 1931) zwischen sich und Loos eine inhaltliche durchaus enge Verwandtschaft herzustellen?111
O u t s i d e r u n d Au f w i e g l e r Ich hatte schon angedeutet, dass Benjamin an Loos Dinge interessiert und hervorgekehrt hat, die Adorno später entweder fallen gelassen oder in seiner Kritik am Funktionalismus nur beiläufig berührt hat. Adorno hat an Loos vor allem Momente der Repression im Sinne rigider Triebunterdrückung und Disziplinierung des Individuums herausgestellt. An Loos interessierte ihn dessen Hass aufs Ornament und die daraus abzuleitende neue Erkenntnis über die Ausdruckskraft des Ornaments im Zustand seiner Unterdrückung. „Sein (Loos’ – M.M.) Hass aufs Ornament wäre nicht verständlich, fühlte er nicht darin den der rationalen Vergegenständlichung konträren mimetischen Impuls; den Ausdruck, noch als Trauer und Klage verwandt dem Lustprinzip, das deren Ausdruck verneint“112.
In diesem Sinn spricht auch Alexander Mitscherlich von „pathologischen“ Zügen bei Loos.113 Klaus Horn betont dessen „Lustfeindlich-
110 Adorno, Th. W.: Ohne Leitbild, S. 109f. 111 Vgl. Benjamins beziehungsreiche Ausführungen in der Einleitung zu Carl Gustav Jochmanns Ru ckschritten der Poesie, in: AN, S. 361. 112 Adorno: Ohne Leitbild, S. 111. 113 Vgl. Mitscherlich, Alexander: Vom möglichen Nutzen der Sozialpsychologie für die Stadtplanung. Vortrag vom 10. Juni 1966 im Institut für Städtebau der TH Darmstadt; zit. nach Mitscherlich, Alexander: Thesen zur Stadt der Zukunft, Frankfurt/M.: 1971, S. 27. 209
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keit“114, und Peter Gorsen sieht im Werk von Loos einen bedeutenden Beitrag zur „Psychologie der Verdrängung“115. Es sind Äußerungen, die vor dem zeitlichen Hintergrund einer in den 1960er Jahren eingeleiteten Abrechnung mit dem Funktionalismus zu verstehen sind. Man war bemüht, für das gegenwärtige Elend der Architektur in den Anfangsjahrzehnten des vorigen Jahrhunderts erste, vor allem ideologische Anzeichen aufzuspüren. Von allen diesen Beobachtungen, die gerade in der Charakterisierung von Loos durchaus viel Zutreffendes zutage gefördert haben, findet sich bei Benjamin so gut wie gar nichts. Benjamin hat in Loos einen programmatischen Künstler gesehen und ihn als den Vorläufer der modernen Architektur verstanden116 1939, also ein Jahr vor Adornos Kritik an Veblens Fortschritts- und Rationalitätsbegriff, hat Benjamin an Loos nochmals zwei sehr wichtige Dinge hervorgehoben. Einmal, dass sich in dessen Werk ein Bewusstsein von der Problematik der Kunst vorbereitet, „das dem ästhetischen Imperialismus des vergangenen Jahrhunderts, dem Goldrausch an den ‚ewigen‘ Werten der Kunst entgegen gewirkt“ hat.117 Benjamin begreift die von Loos in „Ornament und Verbrechen“ im Jahr 1908 erstmals vorgebrachten Thesen für eine radikale Wandlung in der Architektur als die „wichtigsten Thesen“ überhaupt, die die Reaktion auf das überlieferte „Unheil“ in der Baukunst des Historismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgestellt hatte. Es sei dabei Loos in seinem „instinktiven Bestreben, um jeden Preis den Anschluss an den Rationalismus der bürgerlichen Blütezeit zurück zugewinnen“118, vor allem daran gelegen, Kunstwerk und Gebrauchsgegenstand zu trennen.119 Loos hatte gesagt, dass nur ein ganz kleiner Teil der Architektur der Kunst angehört: das Grabmal und das Denkmal. Alles andere, und so auch die Architektur, „was einem Zweck dient“, sei „aus dem Reiche der Kunst auszuschließen“120. Nun heißt es bei Benjamin weiter, dass die Lösung, die nach dem ersten Weltkrieg der von Loos aufgeworfenen Fragestellung in ihrer theoretischen Durchdringung zukam „mit neueren Versuchen einer materi114 Vgl. Horn, Klaus: Zweckrationalität in der modernen Architektur. Zur Ideologiekritik des Funktionalismus, in: Architektur als Ideologie. Frankfurt/M.: 1972, S. 112. 115 Vgl. Gorsen, Peter: Das Bild Pygmalions, Reinbek bei Hamburg:1969, S. 66 und S. 163f.; sowie Gorsen, Peter: Sexualästhetik, Reinbek bei Hamburg: 1972, S 134. 116 Ill., S. 315. 117 AN, S. 361. 118 Ebd. 119 Ill., S. 375. 120 Loos, Adolf: Architektur (1910), in: Ders.: Trotzdem 1900-1930, Wien: 1982, S. 90ff. 210
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alistischen Theorie der Kunst“ zusammenfällt.121 Mit den „neueren Versuchen“ ist ausdrücklich die eigene Arbeit über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ gemeint. Benjamin hat damit deutlich zu erkennen gegeben, dass für ihn ein direkter Weg vom Kampf gegen Historismus und veraltete bürgerliche Kunstbegriffe bis hin zur Erarbeitung einer materialistischen Kunsttheorie führt, in der die Politisierung der Kunst zum Inhalt wird. Zweifellos fällt damit auch ein neues Licht auf den politischen Gehalt der Tätigkeit von Adolf Loos. Denn Benjamin gibt sich nicht damit zufrieden, dessen Auseinandersetzung gegen den „Drachen Ornament“122 einzig im Hinblick auf ihren eigentlichen Angriffspunkt, die Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts, zu behandeln. Stattdessen rückt er Loos mit in die eigene kunstpolitische Frontlinie gegen den Faschismus.
Abb. 4: Adolf Loos, (1870-1933). Er radikalisiert und aktualisiert dadurch die im Werk von Loos, dieses „Outsiders“ und „Aufwieglers“123, gelagerte Destruktion gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Zerfallserscheinungen. In anderem Zusammenhang spricht Benjamin davon, dass die Menschen der „destruktiven Seite der Dialektik bereits entfremdet“ sind.124 Es sei darum erforderlich, das „destruktive Moment“ für das dialektische Denken und die dialektische Darstellung von Geschichte wiederzugewinnen.125 Benjamin 121 122 123 124 125
AN, S. 361. Ill., S. 407. Ebd., S. 382. AN, S. 309. Ebd., S. 312. 211
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diese Absicht auch im Falle Loos zu unterstellen, liegt nahe. Denn destruktiv gegen die Klasse, der er entstammte, war ihm – neben Karl Kraus – vor allem Loos. Auf ihn lässt sich übertragen, was Benjamin an Kraus herausgearbeitet hat.126 So hat zunächst einmal auch Loos geglaubt, die „bürgerlich-kapitalistischen Zustände zu einer Verfassung“ zurückentwickeln zu können, in welcher sie sich aber, so Benjamin, „nie befunden haben“127. Und nicht sehen wollte auch Loos, „dass es keine idealistische, sondern nur eine materialistische Befreiung vom Mythos gibt und nicht Reinheit im Ursprung der Kreatur, sondern die Reinigung“128. In diesem Sinn hat es für Loos die gleiche nicht überschreitbare Schwelle gegeben, von der Benjamin bei Kraus, deutlicher aber noch in Verbindung mit seiner Einschätzung des Werks Paul Valérys gesprochen hat.129 Diese Schwelle ist in dem Entschluss zu sehen, der radikalen Einsicht in die geänderten und zu ändernden Verhältnisse der Kunst die entsprechende politische praktisch folgen zu lassen. Im Gegensatz zu Valéry habe, so Benjamin, ein anderer, nämlich André Gide, diese Schwelle überschritten, indem er sich dem Kommunismus anschloss.130 Benjamin bringt damit eine Konsequenz mit ins Spiel, die für bürgerliche Intellektuelle, die im Laufe der 1920er und 1930er Jahre ihre Klasse, das Bürgertum, glaubten verlassen zu müssen, „um die Sache der proletarischen zu ihrer eigenen zu machen“131, zwingend war und von ihm, Benjamin, selbst in Betracht gezogen wurde. Sie ist gewissermaßen als das verspätete politische Äquivalent zu dem Kampf zu verstehen, den Loos und Kraus gegen die Bourgeoisie geführt hatten. Zwischen ihrem Kampf und dieser politischen Konsequenz stellt Benjamin einen dialektischen Bezug her. Deshalb macht er sich auch nichts vor und akzeptiert, dass beide zu ihrer Zeit einem kulturellen Zustand ein radikales und unversöhnliches Ende bereitet haben, ohne daraus je die Schlussfolgerungen zu ziehen, die Benjamin nun angesichts der geänderten gesellschaftlichen Lage unausweichlich scheinen. Vor dem bedeutsameren materialistischen Versuch der Befreiung steht der idealistische. Er ist deshalb idealistisch, weil sein eingeschlagener praktischer Weg in den Grenzen des Privaten befangen bleibt. Benjamin hat diesen entscheidenden Widerspruch an Valéry und dessen Figur des „Monsieur Teste“ bestätigt gefunden. Teste erinnert in Valérys
126 Ill., S. 374-408. 127 Siehe dazu ausführlich eine Analyse des Widerspruchs zwischen Theorie und Praxis im Werk von Loos in Müller, Michael: Die Verdrängung des Ornaments, Frankfurt/M.: 1977. 128 Ill., S. 405. 129 AN, S. 223-228 und S. 264-291. 130 Ebd., S. 283. 131 Ebd., S. 289. 212
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und Benjamins Charakterisierung stark an Adolf Loos. Begründet zu sehen ist das wohl darin, dass Valérys Begriff der Konstruktion wesentlich mit Loos’ eigenem Verständnis von Baukunst zusammenfällt. Architektur ist für Loos nicht mehr Schöpfung. Als Kunstwerk, das sie nun nicht mehr sein darf, wird Architektur – wie auch bei Valéry das Kunstwerk – zu einer „Konstruktion, in der die Analyse, die Berechnung, die Planung die Hauptrolle spielen“132. Benjamins Frage gilt allerdings dem bürgerlichen Subjekt, das diesen radikalen Wandel betreibt, ohne ihn zu Ende führen zu können. „Denn wer ist schon Monsieur Teste, wenn nicht das menschliche Subjekt, das schon bereit ist, die geschichtliche Schwelle zu überschreiten, jenseits von welcher das harmonisch durchgebildete, sich selbst genugtuende Individuum im Begriffe ist, sich in den Techniker und Spezialisten zu verwandeln, das bereit ist, an seinem Platz einer großen Planung sich einzufügen?“
Doch ist es Valéry nicht gelungen, diesen „Gedanken einer Planung aus dem Bereich des Kunstwerks in den der menschlichen Gemeinschaft zu überführen [...] Die Schwelle ist nicht überschritten, der Intellekt bleibt ein privater [...] Zwei, drei Jahrzehnte vorher hat Lautréamant gesagt: ‚Die Poesie soll von allen gemacht werden. Nicht von einem‘. Diese Worte sind zu Herrn Teste nicht gedrungen“133.
Loos hatte 1910 geschrieben: „Es ist mein größter stolz, dass die innenräume, die ich geschaffen habe, in der photographie vollständig wirkungslos sind. Dass die bewohner meiner räume im photographischen bilde ihre eigene wohnung nicht erkennen“134. Da ist wieder diese Zerstörung des an das bürgerliche Subjekt gebundenen Raums. Darin sind die klare Absage an eine bildhafte Auffassung von Architektur und der Verweis darauf enthalten, dass die Wirkung der Räume primär vom Erleben, vom sich darin bewegen herrührt. Daraus aber Folgerungen für den Einzelnen oder die „menschliche Gemeinschaft“ abzuleiten, wie Benjamin es u. a. im „Kunstwerkaufsatz“ versucht hat – davon ist Loos noch weit entfernt gewesen. Benjamin hat bei seinem Versuch, Loos und mit ihm das destruktive Moment für die Auseinandersetzung mit dem Faschismus und für die Erarbeitung einer materialistischen Theorie der Kunst zu retten, nicht an der notwendigen Kritik an der noch ganz bürgerlichen Position von Loos 132 Ebd., S. 282. 133 Ebd. 134 Loos: Architektur, S. 96. 213
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oder Karl Kraus vorbeigesehen. Er verkennt nicht, dass allein Bürgertugenden die entscheidenden Einsatzkräfte dieser Männer gewesen sind.135 Und Bezug nehmend auf deren eigentliche historische Frontlinie bemerkt Benjamin, dass diese Tugenden „nur im Handgemenge ihr streitbares Aussehen erhalten“ haben. Doch was hilft es, wenn sich Benjamin selbst einer Zeit konfrontiert sieht, in der schon niemand mehr imstande ist, diese Tugenden zu erkennen. Schon könne niemand mehr die Notwendigkeit fassen, die unbescholtene Männer, wie Kraus und Loos, „zum Berserker“ werden ließ. Dass das geschehen musste, dass man sie vergaß, ohne ihre Position überwunden zu haben, weil beide die Änderung der Welt bei ihrer Klasse, bei sich zu Hause in Wien zu beginnen dachten, ändert für Benjamin wenig an der Notwendigkeit, sich ihrer erneut zu erinnern. Schließlich sei erst zu dem Zeitpunkt, als sie sich die Vergeblichkeit ihres Unternehmens eingestehen mussten, das destruktive Moment offen zutage getreten. Zu ihm aber bekennt sich Benjamin, es ist ihm aktuell. Und er zitiert dabei Loos und dessen „denkwürdige Erklärung“136 aus dem Jahr 1926. Loos hatte da geschrieben: „Wenn die menschliche arbeit nur aus der Zerstörung besteht. dann ist es wirklich menschliche, natürliche, edle arbeit“137. Benjamin führt dazu aus: „Allzu lange lag der Akzent auf dem Schöpferischen. So schöpferisch ist nur, wer Auftrag und Kontrolle meidet. Die aufgegebene, kontrollierte Arbeit – ihr Vorbild: die politische und die technische – hat Schmutz und Abfall, greift zerstörend in den Stoff ein, verhält sich abnutzend zum Geleisteten, kritisch zu ihren Bedingungen und ist in alledem das Gegenstück zu der des Dilettanten, der im Schaffen schwelgt. Dessen Werk ist harmlos und rein; das Meisterliche verzehrend und reinigend. Und darum steht der Unmensch als der reale Bote realeren Humanismus unter uns. Er ist der Überwinder der Phrase. Er solidarisiert sich nicht mit der schlanken Tanne, sondern mit dem Hobel, der sie verzehrt, nicht mit dem edlen Erz, sondern mit dem Schmelzofen, der es läutert. Der Durchschnittseuropäer hat sein Leben mit der Technik nicht zu vereinen vermocht, weil er am Fetisch schöpferischen Daseins festhielt. Man muss schon Loos im Kampfe mit dem Drachen ‚Ornament‘ verfolgt, muss das stellare Esperanto Scheerbartscher Geschöpfe vernommen oder Klees ‚Neuen Engel‘, welcher die Menschen lieber befreite, indem er ihnen nähme, als beglückte, indem er ihnen gäbe, gesichtet haben, um eine Humanität zu fassen, 138 die sich an der Zerstörung bewährt“ . 135 Ill., S. 405. 136 Ebd., S. 406. 137 Ill., S. 406; sowie Loos, Adolf: Die moderne Siedlung (1926), in: Ders.: Trotzdem, S. 184. 138 Ill., S. 407. 214
WALTER BENJAMIN: ARCHITEKTUR FÜR DAS SCHLECHTE NEUE
Kraft der Destruktion Ich möchte an dieser für einen Aktualisierungsversuch der Auseinandersetzung Benjamins mit Architekturfragen gewiss brisanten Stelle abbrechen. Der zuletzt gezeigte Zusammenhang, den Benjamin an Loos konstruiert, lässt als Frage weiter unbeantwortet, wie historische Substanz in der kulturpolitischen Perspektive einer an der Zerstörung sich bewährenden Humanität aufbewahrt bleibt. Die Frage ist so wichtig, weil der bewusst angenommenen Erfahrungsarmut, wie Benjamin sie im Hinblick auf die humane Form des Zerstörens begreift, heute immer noch eine programmatische, aber auch sehr ambivalente Bedeutung zukommt. Benjamin hatte gefordert, „von der Vorstellung eines ein für alle Mal verfügbaren, ein für alle Mal inventarisierten Bestandes an Kulturgütern sich zu distanzieren“139. Davon konnte in der Postmoderne und ihrer Aneignung des Erbes historischer Architektur bisher nicht die Rede sein. Wo die Aneignung des Vergangenen von neueren Formen von Praxis ergänzt wird, verlassen sich gerade die global agierenden Stararchitekten auf überwältigend beeindruckende Ästhetik und die Autonomie der Form in der Baukunst. Benjamin hat dagegen noch weitaus vorsichtiger und entschieden bescheidener operiert. Architektur sieht er als Prozess, Veränderung und Ort menschlichen Handelns. In ihrer Fundierung auf den Gebrauchswert besitzt Architektur als konstruktive Montage keinen Reizcharakter, sondern eine „organisierende Funktion“. Architektur soll in der gesellschaftlichen Praxis Gebrauchswert entfalten können. Zu diesem Zweck stellt Benjamin die ästhetische Ausformung der Bauten in einen Zusammenhang mit den sich wandelnden Wahrnehmungs- und Funktionsweisen. Mit der Kollektivrezeption trägt Benjamin an die auf Konstruktion gründende neue Architektur überdies ein Wahrnehmungskonzept heran, das in seiner gesellschaftspolitischen Tragweite in der Folgezeit nicht weiter aufgegriffen und verarbeitet worden ist. Ungeklärt ist auch, wie in der humanen Architektur, in der dem Begriff der Technik eine zentrale Bedeutung beigemessen wird, die von Benjamin geforderte Eigenaktivität und die Selbstorganisation der Menschen im gemeinsamen Umgang mit diesen Bauten realisiert werden könnten. Von Benjamin wird die Kraft des Destruktiven und mit ihr das Werk von Adolf Loos in einen Wirkungszusammenhang gestellt, der uns heute fremd vorkommen muss. Loos, dem Zerstörer, dem Abräumer und galligen Feind des an erzählter Geschichte so reichen Ornaments, wird eine Bedeutung zu-
139 GS, III, S. 525. 215
MODERNE, AVANTGARDE UND ARCHITEKTUR
teil bei dem Versuch, die Auseinandersetzung mit der Erfahrung der Geschichte in der Gegenwart dialektisch zu führen. Für die Architekturgeschichte stellt sich die Frage, wie weit sie, mit Blick auf Loos und seiner historische Einordnung, nicht etwas voreilig geurteilt hat. Ist die schon früh behauptete Distanz zu ihm, in die sich der Hinweis gut einfügt, dass Loos’ Kampf einem Gegner gegolten habe, der schon zu seinen Zeiten keine gesellschaftliche Macht mehr gehabt hätte, tatsächlich noch aufrecht zu halten? Wenn wir nämlich berücksichtigen, dass die von Loos im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts aufgeworfenen und von Benjamin im Verlauf der 1930er Jahre erneut aufgegriffenen Fragen nach einer „menschlichen Gemeinschaft“, in der es die Individuen in den funktionalen Räumen noch aushalten können – vorausgesetzt, dass sie es überhaupt sollen – , immer noch ungelöst sind, wird sich diese vermeintliche Distanz sehr rasch aufheben lassen. Hier sehe ich denn auch die zu einem Großteil erst noch einzuholende Leistung Benjamins, der einen destruktiven Charakter, wie Loos140, aus den Grenzen seiner Destruktion befreit. Im Versuch um eine materialistische Theorie der Kunst hat er sich gleichzeitig um die Erarbeitung von Ansätzen bemüht, die diese destruktive Kraft produktiv verarbeiten. Von diesen Thesen eine unmittelbare Handlungsanweisung zu fordern, wie man in jedem architektonischen Einzelfall vorzugehen hätte, wäre, um ein letztes Mal Benjamin zu Worte kommen zu lassen „vielleicht unbillig“. Einer Erörterung der Architektur-Avantgarde, wie ich sie an Aussagen und Einschätzungen Benjamins entlang aufgebaut habe, wird man ohnehin nur mit Bedacht Orientierungen abgewinnen können. Bewusst habe ich darauf verzichtet, Benjamin dort zu korrigieren, wo er direkt Bezug nimmt auf Architekten und deren Bauten; oder sagen wir besser: wo er sie erwähnt. Le Corbusier, Mendelsohn und schließlich Adolf Loos in einem Atemzug zu nennen, unterschlägt natürlich die Unterschiede zwischen ihnen. Diese standen meines Erachtens aber auch in dem zurückliegenden Diskurs nicht zur Debatte. Es dürfte deutlich geworden sein, dass Benjamins Thesen zur Architektur und zum Wohnen auch durch die in den 1930er Jahren immer
140 Als destruktiver Charakter zeigt sich Loos in solchen Schriften wie „Ornament und Verbrechen“ oder „Architektur“. Seine Bauten sind es erwartungsgemäß weit weniger, oder besser: Sie sind darin destruktiv, dass sie eine neue Idee der Raumgestaltung praktisch werden lassen und Räume schaffen, die wahrhaft räumlich in drei Dimensionen entwickelt sind. Siehe dazu u.a. Worbs, D.: Der Raumplan im Wohnungsbau von Adolf Loos, in: Adolf Loos 1870-1933, Raumplan Wohnungsbau, Berlin: 1983, S. 64-77. 216
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auswegloser gewordene Situation ihrer konkreten Verwirklichung geprägt sind. Das praktische Experiment war für Benjamin als Erinnerung an Räume der Avantgarde gedanklich noch vorhanden; es hat ihn stark beschäftigt, aber nicht mehr als unmittelbare und alltägliche Erfahrung. Für den später heimatlos gewordenen Emigranten wurden die Räume, in denen er sich gezwungenermaßen aufhielt, auf bitter ironische Weise tatsächlich zu „Durchgangsräumen“. Was galt es da noch, Spuren zu hinterlassen? Das Maß an Subjektivität, das aufgrund des persönlichen Schicksals Walter Benjamins seinen Texten zu Grunde liegt, wird man nicht verkennen dürfen. Doch machte man es sich zu leicht, daraus etwa für die Begriffe „Destruktion“ und „positives Barbarentum“ zu folgern, sie seien „Ausdruck eines eher hilflosen Versuchs, der heraufziehenden faschistischen Barbarei das Bewusstsein der Notwendigkeit eines radikalen Neuanfangs entgegenzusetzen“141. Hat man sich erst einmal eingerichtet, scheut man die Aktualisierung dieser Begriffe und wehrt ab mit der bitterbösen Formulierung vom Tagtraum des einsamen Individuums, das seine Ohnmacht in Destruktionsphantasien vergisst“142. Sich gegen die „immer größere Last des Vergangenen“ (F. Nietzsche) zu stemmen, ist als Destruktion eines Verfahrens zu verstehen, das als Überlieferung des Vergangenen dieses überhaupt erst zur Last werden lässt. Nicht die Geschichte ist die Last, sondern die Tatsache, dass die geschichtliche Überlieferung in der institutionalisierten Kultur zum Instrument der Herrschaft gemacht wird.143 Die heute so traumsicher eingeübte Fähigkeit zur Ironisierung der unterschiedlichen Lebenslagen, denen man – vermeintlich überlegen – mit affirmativem Zynismus begegnet, sind eher der Beweis, dass wir nach wie vor in einer von traumatischen Gewalterlebnissen eingenommenen und erfahrungslos gewordenen Moderne leben. Von einem radikalen Neubeginn im Sinne des „positiven Barbarentums“ die Hoffnung auf eine bessere Zukunft abhängig zu machen, ist heute gewiss noch illusorischer als zu Zeiten der Avantgarden. Das aber kann uns nicht daran hindern, an Bedingungen für eine Erfahrung zu arbeiten, die frei ist von einzig ökonomisch grundierten Bedeutungszuschreibungen; Räume zu definieren und zu entwerfen, die zu sozialen Freiräumen werden, in denen aus veränderten Handlungsdispositionen heraus auch eine veränderte Relevanz der Geschichte hervorginge. 141 Bürger, Peter: Literaturwissenschaft heute, in :Habermas, Jürgen (Hg.): Stichworte zur ‚Geistigen Situation der Zeit’. 2. Bd., Politik und Kultur,. Frankfurt/ M.: 1979, S. 788. 142 Ebd. 143 GS, I, 2, S. 695. 217
MODERNE, AVANTGARDE UND ARCHITEKTUR
In seinen 1983 erschienen Erinnerungen gibt uns Luis Buñuel einen Eindruck davon, dass der Mut zur rigorosen Zurückweisung durchaus auch Züge des Spielerischen besitzen kann: „Ein Ruf, der damals zum ersten mal mit einer solchen Kraft und einem solchen Mut laut wurde und der zusammenging mit einer ungewöhnlichen Rücksichtslosigkeit, einer Lust am Spiel, einer großen Hartnäckigkeit im Kampf gegen alles, was uns verderblich schien. Von allem habe ich nichts zurückge144 nommen“ .
144 Buñuel, Luis: Mein letzter Seufzer. Erinnerungen, Königstein: 1983, S. 114. 218
METHODISCHER PERSPEKTIVWECHSEL UND Ö K O N O M I S C H E S K U L T U R M O D E L L – E I N AU S B L I C K
Halten wir fest: Die Konstitution der Gegenwartskultur ist das vorläufige Ergebnis der massenkulturellen Transformation der affirmativen Kultur der bürgerlichen Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts. Für Deutschland sind dabei die künstlerischen Avantgarden und der Faschismus exemplarische Transformationsmechanismen. Sie wollten diese Übersetzung entweder politisieren, um das gesamte Leben in der Moderne bewusst in einem kollektiven Projekt zu verändern, es gewissermaßen seiner Naturwüchsigkeit und damit der undurchschauten Unterworfenheit unter fremde Entscheidungen zu entreißen; oder sie, wie die Nationalsozialisten, dem politischen Primat machtgestützter Veränderung unterstellen. Die Konsequenzen sind nicht gleichgültig sondern hoch different. Für die kulturelle Entwicklung der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit ist es zunächst ausschlaggebend, dass das politische Kulturmodell der Nationalsozialisten die Transformation maßgeblich bestimmt hat und nicht das der Avantgarden. Unter einer bestimmten Perspektive, die sich seit den 1980er Jahren aufdrängt, werden die unterschiedlichen Entstehungsbedingungen des Transformationsprozesses gleichgültig, allerdings auch nur unter dieser und nur in einem ersten analytischen Schritt. Das ist die Perspektive der Globalisierung, unter der die weitere Entwicklung moderner Massenkultur betrachtet werden muss. Im kulturellen Sektor wird dieser Begriff zumeist an dem inzwischen global ausgeweiteten System der Massenmedien und der informationellen Vernetzung festgemacht. Und daran knüpft sich dann meist die Frage an, ob Massenkultur der Begriff für eine weltweite Einheitskultur ist bzw. sein wird, die unter der Dominanz
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der durch ihre Marktmacht besonders durchsetzungsfähigen usamerikanischen Trivialmuster – für die zumeist die Fernsehserien als Beispiele dienen – alle regionalen und nationalen Kulturtraditionen erdrückt. In vielen europäischen Staaten, allen voran in Frankreich, scheint man das für eine sichere Aussicht zu halten, wenn nicht mit politischen Mitteln eine kulturelle Schutzzone errichtet wird, bis die eigene Kultur – vorgestellt als Medienindustrie – so stark geworden ist, dass sie der drohenden Invasion aus der Neuen Welt wird widerstehen können. Eine solche, nach wie vor politisch begriffene Kulturvorstellung ist nicht nur angesichts des absehbaren Medienstrukturwandels verhältnismäßig obsolet. Angesichts der von denselben Ländern aktiv getragenen wirtschaftlichen und tendenziell auch politischen Globalisierung ist sie sogar paradox, da sie vor allem in Gleichsetzung von Medienmärkten und Kultur auf einem unzureichenden Verständnis von Kultur und auf einem unzutreffenden Modell von kultureller Globalisierung basiert. Kultur ist auch heute entschieden mehr als Fernsehen und kulturelle Globalisierung ist entsprechend sehr viel mehr als weltweites Fernsehen über Kabel oder Satelliten. Kulturelle Globalisierung beruht, wie alle gegenwärtig ablaufenden Globalisierungsprozesse, seien es wirtschaftliche, soziale oder politische, auf einem bis zur Durchdringung reichenden In-Beziehung-Setzen von Globalität und Lokalität (oder Regionalität, Ort und Raum), das allerdings Umgewichtungen an beiden Polen nach sich zieht. Diese Umgewichtungen unterliegen vermutlich keiner oder nur einer äußerst gering wirksamen nationalstaatlichen Obhut. Sie ergeben sich eher im Gefolge (globaler) ökonomischer Tendenzen und (lokaler) kultureller Traditionen. Beide Wirkungslinien können nur ortsgebunden aufeinanderprallen und führen hier zu einer Entdifferenzierung. Ein solcher Befund spricht eindeutig gegen die kulturpessimistischen, bisweilen auch nationalistischen Thesen vom Verschwinden europäischer Kulturtraditionen. Er spricht allerdings auch nicht dafür, dass sie so bleiben, wie sie sind, was immer das sein mag. Er spricht am ehesten für Durchdringungen und dadurch bewirkte wechselseitige Veränderungen, für Anpassungen, aber auch für Abstoßungen und Ausschließungen.
P e r s p e k t i vw e ch s e l Um diese Zusammenhänge analysieren und ihre Phänomenologie entwickeln zu können, wird man wohl die methodische Perspektive ändern
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METHODISCHER PERSPEKTIVWECHSEL
müssen. So haben wir in „Die Macht der Schönheit“1 die Kultur (noch) als ein autonomes System betrachtet, dessen Herausbildung zweifellos ein Charakteristikum der Moderne ist und seinen Anfang in der italienischen Renaissance nimmt. Die massenkulturellen Transformationen werden dabei als endogene Prozesse beobachtet. Auch der Wechsel vom vormals sozialen zum politischen Kulturmodell ist nicht unter der Perspektive externer Einflussnahmen auf das kulturelle System etwa durch den Machtapparat der Nationalsozialisten analysiert worden. Er gilt anhand der als Quellen verwendeten kunst- und kulturpolitischen Programmatiken als Perspektivenwechsel in der Selbstbeschreibung des Kultursystems, das einen neuen, gewaltsamen Selbststeuerungsmodus des Systems in Gang setzt. Die angesprochene Transformation ist dann das sukzessive Anschließen der Systemstrukturen an frühere Zustände unter der Wirksamkeit des neuen, politischen Selbststeuerungsmodus in der Zeitdimension. Die strukturellen Resultate dieses Prozesses sind immer wieder Anknüpfungspunkte für neue Transformationen, die sich u.a. dadurch historisch enorm beschleunigen, dass sie seit dem 16. Jahrhundert zunehmend technisiert werden und damit den Innovationsschüben der als Kapitalgüter und Waren begriffenen Technologien unterliegen. Demgegenüber macht die angesprochene neue Konstellation der Entdifferenzierung von kulturellem und ökonomischem System eine andere Argumentation analytisch fruchtbarer, wenn es darum geht, die konkrete, gegenständliche Beschaffenheit und die Entwicklungspotentiale der Massenkultur – auch in ihrem Verhältnis zu Architektur und zur Stadt – zu erkunden. Ihre Entstehung gehorcht einem Modellwechsel von Kultur, den sie selbst mitbewirkt hat. Es ist das ökonomische Kulturmodell, weil in ihm die Ökonomie Bezugshorizont und Motor kultureller Entwicklung wird. Das bedeutet beileibe nicht, dass jede kulturelle Hervorbringung ökonomisch determiniert wäre; allerdings gilt auch nicht das Gegenteil. Man muss mit wechselseitigen systemischen Abgleichungsprozessen rechnen, die über Kulturmärkte, aber auch über Produktionslogiken und Absatzstrategien für Waren laufen, die nicht als Kulturgüter im engeren Sinne gelten. Diese Prozesse privilegieren bestimmte Kulturgüter und kulturelle Haltungen, können andere, bei denen der Abgleich nicht gelingt, aber auch marginalisieren, jedoch nicht grundsätzlich beseitigen. Das ökonomische Kulturmodell setzt die Transformation der affirmativen Kultur in die mediatisierte Massenkultur bereits voraus. Denn die Universalisierung des Ästhetischen ist aus dieser Perspektive in ers1
Dröge, Franz/Müller, Michael: Die Macht der Schönheit. Avantgarde und Faschismus. Oder die Geburt der Massenkultur, Hamburg: 1995. 221
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ter Linie ein ökonomischer Sachverhalt: Er bedeutet die Hereinnahme des Ästhetischen in den wirtschaftlichen Distributionszusammenhang der Gesellschaft, der als ihre reale Synthesis erscheint. Dadurch bekommt die Gesellschaft selbst einen Schein luxurierender Üppigkeit; sie ist selbst von dem ästhetischen Überschuss ihrer zirkulierenden Warenobjekte affiziert. Ästhetik als Komponente des Zirkulationskapitals ist damit zu einer Größe geworden, welche die Auseinandersetzung mit der Welt vollständig in deren Aneignung durch genussfähigen Konsum hineinnimmt, die damit wesentlich zu einer hoch gestimmten Erlebnisqualität gerinnt. Die Deutungsbedürftigkeit einer historisch verselbständigten kulturellen Sphäre verschmilzt hier mit den Sinndefiziten einer überbordenden Ökonomie zu gegenseitiger Legitimitätsstützung, indem sie tendenziell und mit wachsender Geschwindigkeit in eben diese Ökonomie hinein genommen wird.
Widerstände Allerdings gibt es hier Widerständiges, unterschiedliche Geschwindigkeiten und Grade der Hereinnahme. Und die sind in erster Linie lokalen kulturellen Gegebenheiten geschuldet. Das bedeutet, dass die Untersuchung der konkreten kulturellen Produktion und Reproduktion „verortet“ werden muss. Die Frage ist, was das heißt. Für deren Beantwortung macht es wenig Sinn, hochgradig verallgemeinerte Begriffe zu verwenden, bei aller notwendigen Abstraktion. Wir müssen für kulturwissenschaftliche Argumentationen vielmehr davon ausgehen, dass zwischen Vormoderne und Moderne auf allen institutionellen, Handlungs- und Bewusstseinsebenen derartige Diskontinuitäten herrschen, wie wir sie historisch nachvollziehbar vordem nicht kennen. Die Evolutionstheorie läuft wohlgemut ins Leere, wenn sie davon keine Notiz nimmt und stattdessen ständig den evolutionären Prozess der Ausdifferenzierung abspult. Solche Diskontinuitäten gelten auch für Verortungen. So gibt es keine Kontinuität zwischen z.B. vormodernen und modernen Städten außer vielleicht in der Hinsicht, dass vormoderne Städte zumeist die Zentren ihrer Nachfolger geworden sind. Dies freilich nur in der meist rudimentär erhaltenen baulichen Substanz (jedenfalls bisher in Europa). Ansonsten sind sie in der Regel auf wenige Prozent, im Normalfall unter ein Prozent, des gesamten modernen Stadtareals geschrumpft und haben ihren Vorläufern gegenüber völlig andere Funktionen zu erfüllen, die sie absolut unvergleichlich machen. Das gilt auch für die norditalienischen Städte, deren historische Kerne einem romantischen Blick zurück noch immer als Muster tradierter Urbanität gelten. 222
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Rolle der Stadt Das Beispiel ist nicht beliebig gewählt. „Verortung“ kultureller Prozesse kann nämlich in der Moderne nur heißen: ihre Bindung an die Stadt. Ein zentrales Charakteristikum moderner Gesellschaften etwa seit dem achtzehnten Jahrhundert allen ihren vormodernen Vorläufern gegenüber ist die rapide Urbanisierung. Zwar kennen auch vormoderne großräumige Agrargesellschaften einzelne zentrale Orte („Königsstadt“). Diese aber sind im gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhang strukturelle Ausnahmen, oft auch Einsprengsel, die eine zukünftige Entwicklung andeuten. Auf keinen Fall charakterisieren sie die Gesellschaft als ganze. Eben das aber tun Städte in der Moderne: moderne Gesellschaften sind verstädtert, sind städtische Gesellschaften. Der allgemein bekannte Grund liegt im Wesentlichen im hohen Zentralisierungsgrad moderner Institutionen und in der räumlichen Konzentration der industrialisierten wirtschaftlichen Reproduktion dieser Gesellschaften, die Menschen als Arbeitskräfte und Kapital räumlich aggregieren. Und diese verdichteten Aggregate sind die modernen Städte. Wenn das sozialräumliche Charakteristikum moderner Gesellschaften die Stadt ist, dann ist sie es zwangsläufig auch in kultureller Hinsicht. Das Land und seine Menschen sind kultiviert im ursprünglichen Wortsinn, aber das Land ist nicht kulturproduktiv. Es wird zur materiellen Ressource städtischer Kultur, weil es zur Ressource der Stadt und ihrer Industrie insgesamt wird. Die Differenz zwischen Bodenrente und kapitalistischem Profit wird der Motor der industriellen Entwicklung und damit der städtischen Konzentration von Menschen und Produktion industriell hergestellter Artefakte. Bereits in vormodernen, agrarischen Gesellschaften ist die Herstellung kulturell bedeutsamer Gegenstände, wie Kunstwerke, Theaterstücke oder Geschichtserzählungen, Angelegenheit der Städte ebenso wie die Entfaltung symbolisch aufgeladener, verfeinerter Verkehrsformen unter den Menschen. Hier gibt es ein Publikum und materielle Lebensbedingungen für die Künstler. Die kulturelle Produktion wie auch die Vermittlung stehen aber noch in enger Beziehung zum umgebenden Land, wie die Reisebeschreibungen des Pausanias, die Schriften von Cicero oder Seneca, die römischen Landvillen und Güter zeigen. Die kulturellen Verhältnisse sind jedoch insgesamt labil und stark machtbesetzt.2 Erst die moderne Stadt monopolisiert die
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Es sprengt deshalb überhaupt nicht die Systematik der Betrachtung, dass trotz der karolingischen Renaissance mit ihren erneuten Zentralisierungsversuchen von Kunst und Wissenschaft vor allem durch die kulturellen Zentren abgelegene Klöster ohne Publikumsresonanz oder – betrachtet 223
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Kulturproduktion und zwar durch dieselben Mechanismen, denen sie sich selbst verdankt: die Industrie und die Konzentration großer Menschenmassen. Denn sie umfassen ja nicht nur die proletarischen „Arbeitskräfte“, Träger einer unterdrückten Sonderkultur, sondern auch den in sich stark differenzierten Komplex der bürgerlichen Schichten. Sie sind die potentiellen Träger der dominanten Kultur ihrer Gesellschaft und die kreativen Kräfte der Künstler und später so genannten Intellektuellen, die in Teilen, in sehr kleinen Teilen dieser bürgerlichen Schichten ihr Publikum und ihr Auskommen finden. Fortan sind kulturelle Entwicklungen nicht mehr unabhängig von ihrer städtischen Bedingtheit zu analysieren, will man nicht seinen Gegenstand unvollständig erfassen. Kultur in der Moderne ist städtisch, und erst jüngste Entwicklungen im Urbanisierungsprozess und die ortsungebundene Mediatisierung zunehmender Teile des kulturellen Lebens sprengen den städtischen Rahmen und beziehen das Land ein, allerdings ganz überwiegend nur distributiv, nicht produktiv. Das Land wird also im Zeitalter ihrer Standardisierung und Massenvervielfältigung als Abnehmer solcher Kulturwaren entdeckt, insofern ändert sich am Status des Landes in kultureller Hinsicht nicht viel. Im Gegenteil, tradierte ländliche, sonderkulturelle Formen, im allgemeinen als Volkskultur bezeichnet, werden in diesem Prozess distributiver Kultivierung trocken gelegt und verschwinden, so wie früher schon städtische Sonderkulturen, z.B. die Arbeiterkultur, massenkulturell angeeignet und zerstört worden sind. Das könnte für die Theorie der massenkulturellen Dampfwalze und der kulturellen Uniformierung sprechen. In diesen inzwischen schon historischen Vorgängen geht es jedoch um kulturelle Hegemonie im Rahmen und zur Absicherung eines harmonischen Wachstumsmodells kapitalistischer Industriegesellschaften. Dass darin Vereinheitlichungen, Standardisierungen liegen, ist nicht neu oder für die Moderne charakteristisch. Auch der hochmittelalterliche Umgang der klerikalen und städtischen Kultureliten mit der seinerzeitigen Volkskultur produzierte Standardisierungen, die wir indessen heute in der Heterogenität der erhaltenen Artefakte kaum noch als solche wahrzunehmen vermögen. Aber Hegemonie definiert Standards, verbindliche Standards und setzt sie durch, sonst ist sie keine solche. Heutzutage jedoch geht es – in einem offenbar zeitweilig abgesicherten hegemonialen Feld – um das Aufeinanderprallen solch ortsgebundener Kulturzusammenhänge mit den verschiedenen, genannten globalen Tendenzen; wobei die lokalen Kulturen ihrerseits bereits massenkulman etwa die Lyrik des Minnesangs oder der Troubadoure zweihundert Jahre später – Höfe und Burgen im Land sind. 224
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turell überformt sind. Dabei interessieren in erster Linie zwei Fragen: a) wie aus diesem Zusammenprall der Kräfte etwas (auch ästhetisch) Neues, die gegenwärtige und absehbare städtische Kultur entsteht und sich entwickelt und wie sie beschaffen ist bzw. sein wird; b) wie diese Kultur (auch und gerade als eine von der Bildproduktion und -rezeption abhängige Kultur) den Ort ihrer Entstehung, die Stadt, in ihrer absehbaren Entwicklung mit bestimmt, neben (und mit, nicht unabhängig von) den in der Literatur nahezu ausschließlich behandelten Faktoren wie globalisierte Ökonomie, zunehmende soziale Polarisierung, Migration oder Bevölkerungsexplosion. Das wären Leitfragen für eine über die hier veröffentlichten Aufsätze hinausgehende Untersuchung. Dabei setzt vor allem die Behandlung der zweiten Frage eine problematische methodische Operation voraus. Es wird annähernd eine Homologie räumlicher, sozioökonomischer und kultureller Strukturen angenommen. Diese Annahme scheint mir deshalb gerechtfertigt, weil ja der (städtische) Raum nicht an sich, sondern nur das soziale System Stadt in seiner räumlichen Verfasstheit Träger der kulturellen Reproduktion sein kann. Kultur erscheint hier als Vermittlung der Prozesse des sozial und räumlich bestimmten Systems Stadt. Das kann aber nur funktionieren, wenn alle drei Komponenten des Systemzusammenhanges – Stadtraum, Sozialität und Kultur – sich annähernd ähnlich, keineswegs rigide kongruent, strukturieren. Die beiden letzten Sätze sind zugleich zwei Basishypothesen des ökonomischen Kulturmodells. Anders formuliert: Die Kontinuität des massenkulturellen Transformationsprozesses im ökonomischen Kulturmodell vollzieht sich in einem ihm ungefähr angemessenen städtischen Raum. Zur Politik der Architektur zählt dabei, dass auch sie zwischen sozialen und räumlichen Prozessen vermittelt. Somit sind die in ihr und von ihr thematisierten ästhetische Fragen von allgemeinem Interesse und dürfen deshalb weder den Mechanismen des Marktes noch der privilegierten Rolle der Intellektuellen allein überantwortet werden. Und schon gar nicht einer Aufteilung des Sinnlichen, in der dem Ästhetischen die Besonderung einer Einzigartigkeit noch zufiele. Spätestens mit der universell durchgesetzten Dominanz des ökonomischen Kulturmodells wird dieses zentrale Versatzstück einer modernen Funktionszuweisung autonomer Ästhetik zunehmend und – wie es scheint – irreversibel marginalisiert. Es wäre falsch, diesen Prozess nur aus der Verlustperspektive zu kommentieren. Bedeutete die für die politische Praxis der Architektur im ökonomischen Kulturmodell virulente Entdifferenzierung doch ein Mehr an notwendiger und kritischer Reflexion. Und dies nicht nur der neu gewonnenen Verantwortung wegen, sondern um zu begreifen und Strate225
KULTUR DER STADT
gien zu entwickeln, das ästhetische Vermögen der Architektur in ein Differenz produktiv erzeugendes Verhältnis zum universell operierenden, ästhetisch-kulturellen Begehren des Spätkapitalismus zu setzen.
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LITERATUR
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KULTUR DER STADT
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N AC H W E I S E
Texte Stadt als Ort kultureller Produktion. In: Kittlausz, Viktor/Pauleit, Winfried (Hg.): Kunst-Museum-Kontext, Bielefeld: 2006, S. 97-111. Straße und Integration. Erstveröffentlichung. Drei Stadtmodelle. Erstveröffentlichung. „Die gesuchte Befriedigung am bloßen Sehen“. In: Krasny, Elke/Nierhaus, Irene: Urbanografien, Berlin: 2008, S. 71-80. Bild und Raum. Eine erweiterte Fassung erschien u.a. unter dem Titel „Die Vermittlung von Ort und Raum“, in: 100Prozent Stadt. Der Abschied vom NichtStädtischen, Graz: 2003, S. 131-145. Ästhetisierung, Kultur und Ökonomie. Erstveröffentlichung.
233
KULTUR DER STADT
Museum und Stadt. Erschienen unter dem Titel „Das Museum als urbaner Raumknoten“, in: Werk, Bauen+Wohnen, Heft 12, Zürich: 1997, S. 6-21 (zusammen mit Franz Dröge). Museum und Selbstinszenierung. Zuerst erschienen unter dem Titel „Das Warenhaus als Museum. Gedanken zu Hans Holleins Haas-Haus“, in: UmBau 14, Wien: 1993, S. 818. Siehe auch in: Dröge, Franz/Müller, Michael: Die Macht der Schönheit, Hamburg: 1995, S. 67-90. Avantgarde, Subjekt und Massenkultur. In: Klinger, C/Müller-Funk, W.: Das Jahrhundert der Avantgarden, München: 2004, S. 171-180. Der Traum ewiger Ordnung. In: Stellvertreter, Representatives, Rappresentanti. Österreichs Beitrag zur 45. Biennale von Venedig 1993. Katalog Wien: 1993, S 23-38. Kritik von Links. In: Bauhaus Streit 1919-2009, Ostfildern: 2009. S. 50-65. Walter Benjamin: Architektur für das schlechte Neue. Erschienen zuerst unter dem Titel „Architektur für das ‚schlechte Neue’. Zu Walter Benjamins Verarbeitung avantgardistischer Positionen in der Architektur“, in: Lindner, Burkhardt (Hg.): Walter Benjamin im Kontext, Frankfurt/M.: 1978, S. 278-323. Methodischer Perspektivwechsel und ökonomisches Kulturmodell – ein Ausblick. Erstveröffentlichung.
Ab b i l d u n g e n Die Abbildungen entstammen dem Bildarchiv des Autors.
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PERSONENREGISTER
Adorno, Theodor, W. 12, 94, 106, 131, 168-172, 177, 187-190, 209 Alexander VI 47 Baird, Georg 93 Baudelaire, Charles 117 Baudrillard, Jean 105, 133 Behne, Adolf 165, 168, 177 Balász, Béla 148 Benjamin, Walter 12, 31, 115, 117, 168, 173, 176, 179-186, 191-217 Bloch, Ernst 12, 168f., 173, 175, 178 Blumenberg, Hans 69, 72 Böhme, Gernot 129 Böhme, Hartmut 17 Borchardt, Rudolf 157, 160f., 163 Boss, Hugo 113 Bourdieu, Pierre 128 Brecht, Bert 12, 150, 168f., 173, 179, 184, 191, 205 Bronnen, Arnolt 150 Buñuel, Luis 218 Calvino, Italo 34
Campbell, Colin 34f. Castells, Manuel 66 Cicero 223 Cladders, Johann 126 Clifford, James 34, 38 Dante 72 De Certeau, Michel 74 Derrida, Jacques 94 Duchamp, Marcel 117, 127ff. Eisenman, Peter 93f. Elias, Norbert 44 Fichte, Johann Gottlieb 117 Fonda, Jane 136 Ford, Henry 60 Foucault, Michel 35 Frank, Josef 168, 176f. Frick, Henry Clay 47 Gehlen, Arnold 29, 119 Gehry, Frank 113 George, Stefan 157 Giddens, Anthony 19 Gide, André 212 Giedion, Siegfried 189 235
KULTUR DER STADT
Gorsen, Peter 210 Gramsci, Antonio 38 Gropius, Walter 174 Großklaus, Götz 114 Guggenheim, Peggy 113
Lorenzetti, Ambrogio 70-73, 79, 82-87 Lynch, Kevin 34
Harvey, David 62, 103 Haug, Wolfgang, Fritz 97 Haussmann,Georges-Eugene 42 Hays, Michael 93 Hebebrand, Werner 42 Hessel, Franz 194 Hitler, Adolf 152 Hoffmann, Josef 155-164 Hollein, Hans 125-128, 138, 156, 161 Horkheimer, Max 106, 170 Horn, Klaus 209
MacPherson, Crawford Brough 34 McCracken, Grant 34 Majakowski, Wladimir 204 Mandel, Ernest 97 Marx, Karl 22, 56, 119 May, Ernst 145 Meier, Richard 111 Mendelsohn, Erich 202, 217 Meyer, Hannes 176 Mitscherlich, Alexander 65, 209 Moholy-Nagy, László 148 Mumford, Lewis 15 Mussolini, Benito 162
Jameson, Frederic 97,102 Julius II 47
Nietzsche, Friedrich 133, 144, 217
Kafka, Franz 150 Kallai, Ernst 165, 168, 176ff. Kierkegaard, Sören 144 Klee, Paul 179f., 215 Koolhaas, Rem 94 Kracauer, Siegfried 168, 175f. Kramer, Ferdinand 65 Kraus, Karl 212, 214 Krens, Thomas 113
Palladio, Andrea 157ff. Pausanias 19, 223 Petrarca 69, 71ff., 79 Posener, Julius 191f.
Lash, Scott 66, 104 Lautréamont, Comte de 213 LeCorbusier 71, 165, 180, 201, 217 Ledoux, Claude-Nicolas 188 Le Goff, Jacques 82 Lissitzky, El 195, 204f.
Saint-Simon, Henri de 188 Sant’Elia, Antonio 65 Santifaller, Franz 158 Scharoun, Hans 190 Scheerbart, Paul 180, 215 Schönberg, Arnold 172 Schrage, Dominik 37 Schwab, Alexander 177f. Schwitters, Kurt 148 Sedlmayr, Hans 187-190
Loos, Adolf 168, 172, 177, 179f., 188, 209-216 236
Raphael, Max 115 Reckwitz, Andreas 110 Richter, Hans 148 Rockefeller 47
PERSONENREGISTER
Seneca 223 Simmel, Georg 19-22, 51, 71, 76, 85, 106f., 119, 135, 137f. Sitte, Camillo 57 Somol, Robert 93 Soja, Edward 68 Speaks, Michael 93 Speer, Albert 42 Stewart, Susan 34 Tafuri, Manfredo 93f. Ungers, O.M., 111 Urry, John 66, 104 Valéry, Paul 212f. Vanderbilt 47 Veblen, Thorstein 187, 210 Venturi, Robert 125 Welsch, Wolfgang 98, 138 Whiting, Sarah 93 Williams, Raymond 37 Zilk, Helmut 156, 163
237
Urban Studies Ralph Buchenhorst, Miguel Vedda (Hg.) Urbane Beobachtungen Walter Benjamin und die neuen Städte September 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1524-1
Thomas Dörfler Gentrification in Prenzlauer Berg? Milieuwandel eines Berliner Sozialraums seit 1989 September 2010, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1295-0
Volker Eick, Jens Sambale, Eric Töpfer (Hg.) Kontrollierte Urbanität Zur Neoliberalisierung städtischer Sicherheitspolitik 2007, 402 Seiten, kart., 21,00 €, ISBN 978-3-89942-676-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Urban Studies Martina Hessler Die kreative Stadt Zur Neuerfindung eines Topos 2007, 364 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-725-7
Stephan Lanz Berlin aufgemischt: abendländisch, multikulturell, kosmopolitisch? Die politische Konstruktion einer Einwanderungsstadt 2007, 434 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-789-9
Julia Reinecke Street-Art Eine Subkultur zwischen Kunst und Kommerz 2007, 194 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-759-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Urban Studies Peter Dirksmeier Urbanität als Habitus Zur Sozialgeographie städtischen Lebens auf dem Land 2009, 296 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1127-4
Christine Dissmann Die Gestaltung der Leere Zum Umgang mit einer neuen städtischen Wirklichkeit Oktober 2010, ca. 248 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1539-5
Ulrike Gerhard Global City Washington, D.C. Eine politische Stadtgeographie 2007, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-497-3
Katrin Grossmann Am Ende des Wachstumsparadigmas? Zum Wandel von Deutungsmustern in der Stadtentwicklung. Der Fall Chemnitz 2007, 272 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-718-9
Monika Grubbauer Die vorgestellte Stadt Globale Büroarchitektur, Stadtmarketing und politischer Wandel in Wien Oktober 2010, ca. 306 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1475-6
Simon Güntner Soziale Stadtpolitik Institutionen, Netzwerke und Diskurse in der Politikgestaltung
Susanne Heeg Von Stadtplanung und Immobilienwirtschaft Die »South Boston Waterfront« als Beispiel für eine neue Strategie städtischer Baupolitik 2008, 276 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-819-3
Bastian Lange, Ares Kalandides, Birgit Stöber, Inga Wellmann (Hg.) Governance der Kreativwirtschaft Diagnosen und Handlungsoptionen 2009, 344 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-996-1
Annika Mattissek Die neoliberale Stadt Diskursive Repräsentationen im Stadtmarketing deutscher Großstädte 2008, 298 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1096-3
Thomas Pohl Entgrenzte Stadt Räumliche Fragmentierung und zeitliche Flexibilisierung in der Spätmoderne 2009, 394 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1118-2
Gudrun Quenzel (Hg.) Entwicklungsfaktor Kultur Studien zum kulturellen und ökonomischen Potential der europäischen Stadt 2009, 246 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1353-7
2007, 406 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-89942-622-9
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